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German Pages 252 [254] Year 2016
Marko J. Fuchs Gerechtigkeit als allgemeine Tugend
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff † und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Isabelle Mandrella und Martin Thurner
Band 61
Marko J. Fuchs
Gerechtigkeit als allgemeine Tugend Die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Mittelalter und das Problem des ethischen Universalismus
ISBN 978-3-11-048085-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048480-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048417-5 ISSN 0580-2091 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dieses Buch ist meiner Frau gewidmet.
Danksagung Ich schulde vielen Menschen meinen Dank, ohne deren Unterstützung das Projekt entweder gar nicht erst zustande gekommen wäre oder wohl nicht seinen Abschluss gefunden hätte. Da ist zunächst mein Kollege und Freund Matthias Perkams, der die ursprüngliche Fassung dieses Projekts, aus dem später die vorliegende Habilitationsschrift werden sollte, entworfen hat. Das war auch die Fassung, die dann von der Fritz-Thyssen-Stiftung zur Förderung angenommen wurde. Ohne ihn, der mir dieses Projekt dann großzügig zur Bearbeitung überlassen hat, hätte meine akademische Laufbahn wohl eine gänzlich andere Richtung genommen. Zu danken habe ich weiterhin Christian Illies, Martin Thurner, Bernd Goebel und Rolf Schönberger für ihre geduldige Begutachtung der Arbeit sowie ihre äußerst instruktiven Hinweise und Korrekturvorschläge. Herrn Thurner danke ich außerdem für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe ‚Veröffentlichungen des Martin Grabmann-Instituts‘ beim Verlag de Gruyter. Hendrike Hellmann hat wichtige Stücke des Manuskripts gegengelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben, Victoria Mewis hat die Register korrigiert. Den größten Dank aber schulde ich Christian Schäfer, der die Aufgabe des Vorsitzenden der Habilitationskommission innehatte und mir in allen Situationen und in zahllosen Gesprächen beratend, inspirierend, unterstützend und aufmunternd als Freund und Kollege zur Seite stand. Die Fritz Thyssen-Stiftung hat die Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt.
Inhalt Danksagung
VII
Einleitung 1 . ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen 1 Philosophie 3 .. Angelsächsische ‚Rearistotelisierung‘ .. Kontinentale ‚Rearistotelisierung‘ 8 12 . Eudämonie und Gerechtigkeit . Die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen 14 Gerechtigkeitstheorie . Ziel und Aufbau der Arbeit 16 . Textauswahl und Methode 20
Systematischer Status der Ethik bei Aristoteles, Albertus Magnus und Tho25 mas von Aquin 25 . Philosophische Ethik bei Aristoteles . Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von 30 Aquin Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V 43 . Grundlagen aristotelischer Ethik: Eudämonie; das ergon-Argument; Natur (physis) als Quelle von Normativität 43 46 .. Vorbegriff, Arten und Erwerb der Tugend; Seelenvermögen .. Tugend und Mitte, Klugheit und Entscheidung 49 Fazit 52 . Theorie der Gerechtigkeit 53 .. Allgemeine Struktur und Arten von Gerechtigkeit 53 .. Politisches Recht, Naturrecht, positives Recht 57 Fazit 59 . Epieikie und philia 60 .. Epieikie 60 Philia (‚Freundschaft‘) 61 .. ... Arten und zugrunde liegendes Seelenvermögen der philia 62 ... Philia und das Gerechte 63 Fazit 65
X
Inhalt
Mittelalterliche Gerechtigkeitstheorien 67 . Ewiges Gesetz und Naturgesetz bzw. Naturrecht in der Stoa und bei Augustinus 68 . Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler 72 .. Begriff der Gerechtigkeit in der Summa de bono 73 .. Caritas 75 Fazit 78 . Gerechtigkeit vor und nach der Aristoteles-Rezeption: Albertus 80 Magnus .. Naturrecht, Gesetz und Gerechtigkeit in De bono von Albertus Magnus 80 81 ... Das Naturrecht (ius naturale) .... Definition des Naturrechts 81 91 .... Modi des Naturrechts 95 .... Teile des Naturrechts .... Dispens vom Naturrecht 97 Fazit 97 ... Das Gesetz (lex) 99 99 .... Definition des Gesetzes .... Unterscheidung und Arten bzw. Teile von Gesetzen 102 Fazit 104 104 ... Gerechtigkeit .... Allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) 105 109 .... Spezielle Gerechtigkeit (iustitia specialis) 113 Fazit .. Gerechtigkeit in Alberts erstem Kommentar zu EN V 115 Allgemeiner Charakter der Gerechtigkeit 115 ... ... Definitionsversuche der Gerechtigkeit 118 ... Modi der Gerechtigkeit 120 123 ... Gesetzesgerechtigkeit ... Spezielle Gerechtigkeit 126 ... Das Naturrecht 127 ... Recht, Moralität und Epieikie 132 Fazit 136 . Thomas von Aquin: Gesetzesgerechtigkeit im Kontext von Naturgesetz, Naturrecht, Klugheit und Epieikie 138 139 .. Das Naturgesetz als universaler normativer Rahmen ... Kurzer Überblick über die gegenwärtige Diskussion zum thomasischen 139 Naturgesetz 144 ... Naturgesetz und andere Gesetze Fazit 151 .. Gerechtigkeit als Tugend (virtus); das Naturrecht (ius naturale) 153 ... Tugend allgemein 153
Inhalt
XI
Arten von Gerechtigkeit; Gerechtigkeit, Naturrecht, Naturgesetz 155 .. Struktur und Bestimmungsmomente der Handlung; Rolle und Bedeutung der Umstände (circumstantia); Klugheit und Epieikie 162 ... Grundzüge der thomasischen Handlungstheorie 162 ... Klugheit (prudentia) 167 ... 170 Dispens und Epieikie Fazit 173 Gerechtigkeit, Freundschaft und die ‚Form der Tugenden (forma virtu. tum)‘: Thomas von Aquin, Jakob von Viterbo, Gottfried von 175 Fontaines .. Thomas von Aquin über Gerechtigkeit, Freundlichkeit (affabilitas), Freundschaft (amicitia) und Liebe (amor/caritas) 177 Grundlagen: Natürliche Selbst- und Nächstenliebe bei Thomas (amor ... 177 concupiscentiae und amor amicitiae) ... Erscheinungsformen von Freundschaft (amicitia) 180 .... Affabilitas als Teil der Gerechtigkeit 180 .... Vollkommene und unvollkommene ethische Freundschaft 181 (amicitia) .... Caritas als theologische amicitia bzw. Liebe zu Gott und zum Nächsten 183 ... Caritas und Gerechtigkeit als allgemeine Tugenden (virtutes generales); caritas als Form der Tugenden (forma virtutum) 187 .. Jakob von Viterbo: Gerechtigkeit und Freundschaft als ‚Form der Tu190 genden‘ (forma virtutum) .. Gottfried von Fontaines: iustitia, amicitia, caritas 199 Allgemeinheit einer allgemeinen Tugend 200 ... ... Arten von Gerechtigkeit 203 ... Freundschaft (amicitia) 209 213 Fazit ...
Ergebnisse und Ausblick
Siglen- und Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis
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Personenregister Sachregister
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215 225
1 Einleitung „Φημὶ γὰρ ἐγὼ εἶναι τὸ δίκαιον οὐκ ἄλλο τι ἢ τὸ τοῦ κρείττονος συμφέρον – ich nämlich behaupte, dass das Gerechte nichts anderes ist als das dem Überlegenen Zuträgliche.“ (Resp. 338c St.) Dies ist bekanntlich die Auffassung, die Thrasymachos gegenüber Sokrates in Platons Dialog Politeia vertritt. Das Problem, das in dieser Diskussion zur Sprache kommt, ist vor allem für tugendethische Ansätze, in denen die Eudämonie als Ziel allen menschlichen Handelns vorgestellt wird, ein zentrales: Wie lässt sich begründen, dass man gerecht handeln soll, das heißt so, dass man in seinem Handeln nicht nur unmittelbar das eigene Glück verfolgt, soweit man dazu aufgrund der eigenen überlegenen Stärke in der Lage ist, sondern dass man vielmehr fremdes Wohl verfolgen soll, und dies bisweilen sogar in einer Weise, die dem Streben nach eigenem Glück widersprechen kann? Und wie verhält es sich dann mit den Maßstäben für derartiges gerechtes Handeln? Sind diese mehr als lediglich jeweilige gesellschaftliche Konventionen, die nicht über ihre Zeit und ihre Kultur hinaus Geltung beanspruchen dürfen? Oder gibt es die Möglichkeit, kulturinvariante und überzeitliche Normen gerechten Handelns herauszustellen? Diese Fragen haben offenkundig nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. In der vorliegenden Studie soll mit Blick auf diese Probleme die These verteidigt werden, dass man einige der zentralen Fragen, die sich für die Möglichkeit und die Bestimmtheit gerechten Handelns stellen, gewinnbringend untersuchen – wenngleich vielleicht nicht endgültig beantworten – kann, wenn man sich ausgewählten mittelalterlichen Gerechtigkeitstheorien zuwendet, die vor dem Hintergrund der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts entwickelt wurden.Warum dies so ist und wie genau hier die Frage nach der Gerechtigkeit mit der nach Universalismus in der Ethik mit den Anliegen von Tugendethik verbunden ist, wird im Folgenden anhand eines Überblicks über einschlägige gegenwärtige Diskussionslinien einleitend dargestellt. Als Ausgangspunkt dient dabei eine etwas weiter ausholende Erörterung der modernen Aristoteles-Rezeption und einiger Schwierigkeiten, die sich für diese hinsichtlich des Universalismusproblems zutage fördern lassen; von dorther wird sodann zur Gerechtigkeitsproblematik übergeleitet.
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lässt sich innerhalb des akademischen philosophischen Diskurses eine Entwicklung beobachten, die Manfred Riedel schon früh unter dem Titel einer ‚Rehabilitierung der praktischen Philosophie‘ auf den Begriff gebracht hat.¹ Das Bedürfnis nach der mit dieser Rehabilitierung verbundenen Wiederaufnahme des Projekts der Begründung der „Geltung von Normen des So der Titel einer erschienenen Publikation: Riedel, Hg. ().
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1 Einleitung
menschlichen Handelns (‚was sollen wir tun‘)“ sowie des „Abwägen[s] und Wählen[s] von Handlungszielen (‚wie wir leben können‘)“ beschränkte sich hierbei nicht nur auf die kontinentale Philosophie, sondern fand seinen Niederschlag ebenso in der angelsächsischen.² Einer der allgemeinen Impulse für diese Tendenz war dabei das Bestreben, die „normativ-kritische Kompetenz“ der Philosophie zurückzuerlangen, die nivelliert worden war, nachdem die traditionellen Disziplinen praktischer Philosophie (Ethik, Ästhetik, Naturrecht, Staatsphilosophie) und deren im weiteren Sinne ‚normative‘ Gegenstände unter dem Einfluss des Positivismus „den empirischen Sozialwissenschaften ein[gegliedert]“ wurden.³ Im Zuge dieser Rehabilitierung hat neben dem kantischen vor allem der aristotelische Entwurf praktischer Philosophie eine so starke Rezeption erfahren, dass Otfried Höffe von einer ‚Rearistotelisierung der praktischen Philosophie‘ sprechen konnte.⁴ Der Rückgriff auf die aristotelische Ethik und überhaupt auf tugendethische Figuren liegt hierbei besonders aus folgenden Gründen nahe. Erstens hat Aristoteles in kritischer Abkehr von Platon als erster Philosoph überhaupt das Konzept einer eigenständigen Ethik entworfen, die gerade nicht auf andere philosophische Disziplinen wie etwa die Naturphilosophie oder die Metaphysik deduktiv gegründet oder rückführbar ist. Dieser Umstand wird weiter unten für das Verständnis des systematischen Status der mittelalterlichen Entwürfe, vor allem für das Verhältnis von ethischer und theologischer Reflexion, von Bedeutung sein und entsprechend eingehender untersucht werden. Zweitens betrachtet die aristotelische Ethik den ganzen Menschen als vernünftiges und zugleich natürliches, dabei nach seinem Glück im Sinne seiner Vervollkommnung strebendes Lebewesen in seiner Einbettung in ein historisch gewordenes soziales Umfeld und verbindet so inhaltlich konkrete Normativität mit einer Vorstellung des guten im Sinne des gelingenden menschlichen Lebens. Damit steht die Tugendethik zwischen verschiedenen alternativen modernen Ethikmodellen, insbesondere einer an der kantischen orientierten deontologischen sowie einer utilitaristischen Ethik.⁵ Hiermit versucht eine auf Aristoteles rekurrierende Tugendethik, dem Bedürfnis nach einer Ethik gerecht zu werden, die zwar Maßstäbe moralischen Sollens und sittliche Normen zu artikulieren vermag, ohne jedoch hierbei auf metaphysische Grundannahmen explizit oder implizit rekurrieren zu müssen, und die in der Lage ist, den Menschen als ein sittliches, aber eben auch natürliches, geschichtliches und soziales Wesen zu thematisieren. In Hinsicht auf die moderne Aristoteles-Rezeption lassen sich natürlich zahlreiche Unterschiede in der jeweiligen konkreten Ausformung herausstellen, was im Weiteren in einer groben Übersicht dargestellt werden soll. Dabei kann man zunächst
Riedel (, I: ). Cf. Riedel (, I: ). Cf. Höffe (a, ). Diese Unterscheidung beinhaltet keine vollständige Disjunktion; es wird, anders gesagt, hier nicht behauptet, dass sich moderne Ethik oder gar Ethik überhaupt mit dieser Unterscheidung bereits vollständig abdecken lässt. Der Fokus der vorliegenden Studie liegt nicht auf derartigen Vollständigkeitsbehauptungen, sondern lediglich auf dem Versuch, grundsätzliche systematische Probleme tugendethischen Philosophierens zu diskutieren.
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie
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zwischen der Aristoteles-Rezeption in der angelsächsischen Philosophie und derjenigen in der kontinentalen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist jedoch vorerst nicht mehr als ein äußerliches Ordnungsschema. Überdies erhebt die folgende Nachzeichnung wesentlicher Grundlinien dieser ‚Rearistotelisierung‘ anhand einiger wichtiger Vertreter keinen Anspruch auf historische Vollständigkeit, und zwar weder in dem Sinne, dass alle Positionen diskutiert, noch so, dass die jeweiligen Einzelpositionen vollumfänglich entwickelt werden würden. Das Ziel dieses abrisshaften Einstiegs besteht vielmehr lediglich darin, anhand dieser herausgehobenen Positionen einige zentrale Probleme sichtbar zu machen, die dann als Leitfaden für die Untersuchung der mittelalterlichen Positionen dienen sollen.Wie sich dabei zeigen wird und wie schon eingangs angedeutet wurde, lässt sich hierbei die grundsätzliche Schwierigkeit so formulieren: Ist Tugendethik mit moralischem Universalismus vereinbar? Im Folgenden wird diese Frage konkretisiert und gezeigt, wie das Problem der Gerechtigkeit mit ihr verbunden ist.
1.1.1 Angelsächsische ‚Rearistotelisierung‘ 1. In der angelsächsischen Philosophie hat die Aristoteles-Rezeption vor allem unter dem Titel der modernen Virtue Ethics⁶ stattgefunden. In dieser verbindet sich eine Kritik an utilitaristischen und konsequentialistischen Entwürfen mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber Versuchen, in denen die moralische Verbindlichkeit als ein Sollen im emphatischen Sinne verstanden werden soll. Das so aufgefasste Sollen nämlich, so die prominent von G. E. M. Anscombe im Jahre 1958 in ihrem Aufsatz ‚Modern Moral Philosophy‘ vertretene These, sei nur innerhalb einer auf dem Gesetzesbegriff basierenden, letztlich auf christlichen religiösen Vorstellungen gründenden Ethik sinnvoll zu verorten.⁷ Eine solche Ethik könne ihre Prinzipien entsprechend nur durch Rekurs auf einen göttlichen Gesetzgeber und somit theonom begründen. Das gilt Anscombe zufolge auch implizit für solche Ansätze, die wie der kantische explizit zurückweisen, zur Konstitution einer Gesetzesethik auf derartige Begründungsfiguren zurückgreifen zu müssen.⁸ Anstelle einer solchen Form von Moralbegründung schlägt Anscombe einen Rückgriff auf den tugendethischen Ansatz des Aristoteles vor, in dem statt einem emphatischen (kantisch-unbedingten) Verständnis von Pflicht ein am Alltagsverständnis orientiertes ‚Sollen (ought)‘ im Mittelpunkt stehe.⁹ Dieses nichtemphatische Sollen findet letztlich für Anscombe wie bei Aristoteles seine Orientierung am „Begriff der Entfaltung, des guten Lebens oder des Glücks (flourishing) des
Eine Übersicht über die wichtigsten Positionen innerhalb der Virtue Ethics bietet Crisp und Slote (). Die meisten der dort enthaltenen Texte sind in deutscher Übersetzung veröffentlicht in Rippe und Schaber, Hg., (). Anscombe (, – ). Wiederabdruck in Anscombe (, ). Cf. hierzu die Ausführungen in Ricken (, – ). Cf. Anscombe (, ). Anscombe (, ).
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1 Einleitung
Menschen als Menschen“¹⁰ und kommt ohne theologische bzw. metaphysische Begründungsfundamente aus.¹¹ Mit dieser Auffassung des Sollensbegriffs hängt zusammen, dass gutes Handeln nicht durch das durch die Handlung erreichte Ziel wie in konsequentialistischen oder utilitaristischen, aber auch nicht durch die Handlung selbst wie in kantianisch inspirierten Entwürfen bestimmt ist, sondern vielmehr davon, inwieweit die Handlung aus Tugend entspringt oder den tugendhaften Charakter des Handelnden hervorbringt bzw. fördert.¹² Tugendhaftigkeit nämlich wird von Anscombe – dies ebenfalls eine von Aristoteles entlehnte Figur – als Grundlage für ebenjenes ‚flourishing‘ aufgefasst, in dem das gute oder glückliche Leben eines Mensch besteht, sofern Tugenden nichts anderes sind als Habitus, die es einem Menschen ermöglichen, jeweils dem guten oder gelingenden Leben entsprechende Handlungen zu vollziehen. Dabei ist der Maßstab der Tugendhaftigkeit wiederum nicht in einem abstrakt-universalen und apriorischen Vernunftprinzip wie dem kantischen kategorischen Imperativ zu finden; vielmehr ist der Tugendhafte je selbst Maßstab für Tugendhaftigkeit, weshalb es dessen Handeln ist, das für den, der der Tugendhaftigkeit noch entbehrt, zum Erwerb derselben nachzuahmen ist. 2. Dieser Ansatz Anscombes hat zweifelsohne den Vorteil, bekannte problematische Grundmomente vor allem des kantischen Entwurfs zu vermeiden, etwa das Problem des Formalismus, die Reduktion des im eigentlichen Sinne Sittlichen auf das Moment des Transzendentalen und die damit einhergehende, letztlich unvermittelbare und damit systematisch unbefriedigende Dissoziation des empirischen und transzendentalen Ich als Subjekt des Handelns, also gleichsam die Durchstreichung des ‚ganzen Menschen‘ als moralischem Akteur.¹³ Die Kehrseite besteht jedoch darin, dass in Anscombes Ansatz eine gewisse partikularistische und relativistische Tendenz impliziert ist, die in dessen Weiterführung besonders durch Autoren, die gemeinhin dem Kommunitarismus zugerechnet werden, noch deutlicher wird.¹⁴ Besonders klar Ricken (, ). Die Begriffe ‚theologisch‘ und ‚metaphysisch‘ werden hier bewusst noch undifferenziert verwendet und vor allem im Kap. eingehender erläutert werden. Cf. Ricken (, ). Dies sind gängige Kritikpunkte an Kants Theorie, die bekanntlich u. a. schon bei Hegel und später, obgleich in systematischer Hinsicht aus anderer Richtung kommend, bei Scheler artikuliert worden sind. Und natürlich ist dieser Kritik von Anhängern der kantischen Philosophie bis heute widersprochen worden. Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht darum gehen, diese Diskussionen zu besprechen und zu bewerten; daher möge es genügen, die in der Regel mit tugendethischen Ansätzen verbundenen Vorbehalte gegenüber der kantischen Ethik hier kurz zu nennen, ohne deren Berechtigung oder Nichtberechtigung zu thematisieren. Zur Erläuterung der Begriffe: ‚Partikularistisch‘ meint im vorliegenden Kontext, dass die in den philosophischen Ansätze diskutierten sittlichen Maßstäbe keine überzeitliche und überkulturelle Allgemeingültigkeit beanspruchen wollen oder können, sondern bloß eine jeweils besondere, und zwar historisch und kulturell eingeschränkte Gültigkeit. In diesem Sinne sind sie dann ‚relativ‘, nämlich in ihrem Geltungsbereich auf eine jeweilige historische Kultur bezogen. Was den ‚Kommunitarismus‘ angeht, den man gemeinhin vom ‚Liberalismus‘ abgrenzt, haben sich bekanntlich am meisten diejenigen Autoren gegen diesen Titel gewehrt, deren Theorien in der Regel unter ihm subsumiert werden. In
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie
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erkennbar wird dies bei Alasdair MacIntyre. Dessen vor allem gegen Rawls’ universalistische Theorie der Gerechtigkeit¹⁵ in Stellung gebrachter Aufgriff der metaphysikkritischen Wendung moralphilosophischen Reflektierens, die er unmittelbar mit eingehenden Untersuchungen zu Aristoteles verknüpft, lässt ihn eine Position entwickeln, in der die in den Tugenden verankerten moralischen Normen nunmehr tatsächlich bloß noch einen kulturrelativen Status innerhalb jeweiliger Gemeinschaften innehaben.¹⁶ Praktische Rationalität verfügt für MacIntyre über keine Instanz universaler, die jeweilige partikuläre Kultur bzw. „tradition“ transzendierender Normativität, noch stellt sie selbst eine solche dar.¹⁷ Entsprechend kann in MacIntyres Entwurf keine Theorie universaler ethischer Normen ausgemacht werden, auf deren Grundlage etwa politische Strukturen extern hinsichtlich ihrer gerechten oder ungerechten Verfassung beurteilt werden könnten. Vielmehr sind alle Normen als konkrete Tugenden ebenso wie die praktische Vernunft selbst in ihrer Gestalt als aristotelische Klugheit (phronesis) inhaltlich durch je partikuläre Traditionen vermittelt.¹⁸ Die Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft, die MacIntyre idealtypisch in bewusst antimoderner Weise als aristotelische Polis auffasst, können nur anhand interner Kriterien entscheiden, inwieweit die Verfasstheit ihrer Polis deren Funktion entspricht, das menschliche Gut im Sinne gelingenden menschlichen Lebens zu realisieren.¹⁹ der vorliegenden Studie, in der es nicht um die Diskussion von Kommunitarismus oder Liberalismus als politischer Konzepte geht, sondern um die Frage nach der Gerechtigkeit als einer Tugend (also als Gegenstand einer ethischen Betrachtung), wird der Ausdruck ‚Kommunitarismus‘ nicht polemisch oder als pauschales Etikett verwendet, sondern soll lediglich anzeigen, dass in der entsprechend gekennzeichneten Theorie die Geltung und der Inhalt sittlicher Normen in starkem Maße von den jeweiligen Gemeinschaftsformen und weniger von davon systematisch unabhängigen Urteilskriterien des moralischen Subjekts abhängig gemacht werden. Ein kommunitaristischer Ansatz muss daher nicht partikularistisch oder relativistisch sein, was etwa die Grundlinien der Philosophie des Rechts Hegels veranschaulichen. Rawls () (ursprünglich ). Cf. MacIntyre (, ): „The conclusion of the preceding chapter was that it is an illusion to suppose that there is some neutral standing ground, some locus for rationality as such, which can afford rational resources sufficient for enquiry independent of all traditions.“ Zur Kritik an MacIntyres Ansatz cf. u. a. Habermas (, – ) MacIntyre (, ). Cf. MacIntyre (, ). MacIntyre (, – ): „Justice, both as a virtue of the individual and as an ordering of social life, is only to be achieved within the concrete institutionalized forms of some particular polis. The norms of justice have no existence apart from the actualities of each particular polis. But is does not follow that there is nothing more to the norms of justice then what they are taken to be in each particular polis at some particular time. Just because the polis is defined functionally as that form of human association whose peculiar telos is the realization of good as such, a form of association therefore inclusive of all forms of association whose telos is the realization of this or that particular good, the citizens of each polis have the rational resources to judge their own city as succeeding or failing in doing and being what a polis at its best does and is. So there is no standard external to the polis by which a polis can be rationally evaluated in respect of justice or any other good. To apprehend what a polis is, what the good is which its function is to achieve, and to what extent one’s own polis has successfully
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1 Einleitung
3. Dieser relativistischen Konsequenz hat sich im Bereich der angelsächsischen Philosophie in neuester Zeit vor allem Martha Nussbaum entgegenzustellen versucht.²⁰ Besonders auffällig ist hierbei, dass auch Nussbaum in die Entwicklung ihrer ‚Capability Approach‘ (Fähigkeiten-Ansatz) genannten Position explizit Aristoteles mit einbezieht, dies jedoch ihrer andersgelagerten Intention entsprechend in einer Weise, die dem Zugriff MacIntyres in vielerlei Hinsicht entgegengesetzt ist. Denn stellte sich in dessen Lektüren Aristoteles gleichsam als prototypischer Vertreter einer partikularistischen, an jeweilige Traditionen rückgekoppelten Ethik heraus, an die in kritischer Abkehr von der Moderne wieder anzuknüpfen sei, so dient für Nussbaum die aristotelische Ethik vielmehr als Grundlage für die Entwicklung eines ebenfalls in kritischer Einstellung gegenüber Rawls’ Gerechtigkeitstheorie entworfenen, jedoch nichtsdestotrotz durchaus universalistisch verstandenen ‚aristotelischen Sozialdemokratismus‘.²¹ Ähnlich wie in den oben beschriebenen modernen tugendethischen Ansätzen Anscombes und MacIntyres ist auch in Nussbaums Theorie das gute menschliche Leben zunächst das Kriterium moralischer Maßstäbe.²² Die Grundmomente des gelingenden menschlichen Lebens kommen hierbei jedoch nicht mehr bloß in Gestalt von Qualitäten in den Blick, die lediglich in einer jeweiligen partikulären Gemeinschaft gewürdigt werden, sondern finden ihren Ausdruck vielmehr in den genannten ‚capabilities‘. Hierunter versteht Nussbaum zu erwerbende Fähigkeiten, die für die Ausübung grundlegender menschlicher ‚Funktionsweisen (functions)‘ notwendig und für alle Menschen dieselben sind. Mit diesen capabilities wesentlich verbunden ist Nussbaums Gerechtigkeitstheorie, indem menschliche Gesellschaften gerade insoweit als gute qua gerechte beurteilt werden können, als sie sich an der Ermöglichung ebenjener capabilities grundsätzlich orientieren.²³ Da Nussbaum in der Auffassung der capabilities einen – jedoch ausdrücklich nicht-metaphysischen, sondern moralischevaluativen – Essentialismus²⁴ vertritt, ist ihre Theorie in Hinsicht auf den normativen Universalitätsanspruch der Grundmomente guten Lebens „stark [thick]“; gleichzeitig achieved that good, all require membership in a polis. Without such membership […] one is bound to lack essential elements of the education into the virtues and of the experience of the life of the virtues which is necessary for such apprehension. But more than this, one is bound also to lack the capacity to reason practically.“ Nussbaums Kritik an MacIntyre, aber auch an Philippa Foot und Bernard Williams findet sich u. a. in: Nussbaum (a, – ). Cf. zu Nussbaums Ansatz Müller (, – ) und Müller (, – ). Nussbaum (b, – ). Cf. Nussbaum (, ): „The Aristotelian essentialist claims that a life that lacks any of these, no matter what else it has, will be lacking in humanness.“ Cf. Nussbaum (, ; ): Die Liste der als essentiell aufgefassten capabilities soll für die Politik die Rolle der „guidance“ übernehmen. Eine metaphysische These hat in Nussbaums Ansatz nur als „evaluative Komponente [evaluative component]“ Relevanz, also insofern, als sie als Handlungsgrund aufgefasst wird. Cf. Nussbaum (, ). Cf. auch Nussbaum (, ): „This [i. e. Nussbaum’s Aristotelian] conception is emphatically not metaphysical; that is, it does not claim to derive from any source external to the actual self-interpretations and self-evaluations of human beings in history.“
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie
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sind die capabilities in der Allgemeinheit ihrer Formulierung „vage [vague]“; so ist etwa eine derjenigen grundlegenden menschlichen ‚functions‘, zu deren Ausübung ein Mensch ‚fähig (capable)‘ sein sollte, das Haben guter Gesundheit, wobei unbestimmt und in diesem Sinne vage bleibt, worin genau und im Einzelnen diese ‚gute Gesundheit‘ besteht.²⁵ Aufgrund dieser Momente nennt Nussbaum ihren Ansatz eine „thick vague theory“.²⁶ Bei näherer Betrachtung scheint es jedoch, dass auch Nussbaum mit ihrem Ansatz trotz ihrer auf einen ethischen Universalismus gerichteten Intentionen einem gewissen Relativismus letztlich nicht zu entkommen vermag. Einer der Gründe hierfür ist nicht zuletzt die von ihr vorgeschlagene, an Aristoteles’ eigenem Verfahren lose orientierte Methode der Gewinnung jener Liste von menschlichen Grundvermögen, die nicht geeignet zu sein scheint, die von Nussbaum behauptete Universalität der capabilities begründen zu können. Nussbaum zufolge soll nämlich eine weite Lektüre von „Mythen und Erzählungen [myths and stories]“ sowie ein letztlich intuitiv vorgenommener Herausgriff allgemeiner Charakteristika menschlicher Selbstvergewisserung bereits zur Heraushebung der Grundnormen hinreichen.²⁷ De facto aber bleibt Nussbaums Ansatz hierbei hermeneutisch unbefriedigend, wird doch an keiner Stelle klar, was erstens genau die Heraushebung ebenjener Charakteristika methodisch begründet, die Nussbaum in ihrem Capability Approach als Grundnormen hervorhebt, und wieso diese zweitens für alle Menschen universale Geltung beanspruchen können sollen. Bereits ihre Textauswahl mit ihrem häufigen Schwerpunkt auf klassischen antiken Texten erweckt den Anschein, lediglich Nussbaums persönliche und kulturell vermittelte Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen, die der westlichen als einer ihrerseits bloß partikulären Kultur entspringen und hierbei in methodisch unreflektierter Weise Nussbaums Vorgriff determinieren.²⁸ Dadurch wird die Validität von Nussbaums Normativitätsthese erschüttert, bleibt doch gerade deren behauptete überkulturelle Universalität unerwiesen.²⁹ *** Es kann also zusammengefasst werden, dass auch Nussbaums Aristoteles-Rezeption als ein Versuch, in dem bewusst auf den Entwurf einer universalistischen Ethik abgezielt wird, de facto in Hinsicht auf die Begründung von Normen über eine bloß partikularistische Figur nicht hinauskommt. Wie sich mit Blick auf die im Folgenden dargestellte Rezeption der aristotelischen Ethik besonders innerhalb der deutschen Philosophie zeigen wird, ist mit Blick auf diesen Befund zu fragen, ob der Partikularismus ein spezifisches Problem der angelsächsischen Rezeption der aristotelischen
Cf. Nussbaum (, – ). Cf. Nussbaum (, – ). Nussbaum (, – ). Cf. Müller (, – ). Cf. auch Fuchs (a, – ). Nussbaum hat versucht, sich diesen Problemen in Nussbaum () zu stellen. Ich sehe jedoch nicht, dass hier eine alternative Theorie der Begründung von Normativität angeboten werden würde.
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1 Einleitung
Philosophie oder ein spezifisches Problem der angelsächsischen Rezeption der aristotelischen Philosophie darstellt, ob also nur die Rezeptionsstrategie der angelsächsischen Philosophie in der neueren Gegenwart vor allem in ihrer antimetaphysischen, antikantianischen und antitranszendentalen Stoßrichtung zu einem Partikularismus führt, der bei Aristoteles selbst so nicht angelegt ist, oder ob nicht umgekehrt der aristotelische Ansatz selbst diese partikularistischen Tendenzen bereits beinhaltet, die dann in der Rezeption wieder wirksam werden.
1.1.2 Kontinentale ‚Rearistotelisierung‘ Innerhalb der kontinentalen Philosophie hat besonders im deutschen Sprachraum die gegenwärtige, auf Aristoteles zurückgreifende Moralphilosophie seit der eingangs erwähnten ‚Rehabilitation der praktischen Philosophie‘ verschiedene Spielarten ausgeprägt, die zum Teil auch durch die angelsächsische Aristoteles-Rezeption angeregt wurden. Hierbei kann eine hermeneutische Lektüre von Versuchen unterschieden werden, die aristotelische Ethik mit Figuren der klassischen deutschen Philosophie, namentlich Kant oder Hegel, zu vermitteln und ihr auf diese Weise eine tragfähige normative Grundlage zu verschaffen. 1. Die hermeneutische Lektüre findet sich besonders bei Hans-Georg Gadamer und steht in einigen Hinsichten der Virtue Ethics bei Anscombe nahe. So insistiert auch Gadamer gegenüber einer an Kant orientierten Figur von Ethik unter Rekurs auf Aristoteles darauf, dass in Reflexionen zur Frage der Ethik „die Bedingtheit allen menschlichen Seins und damit auch die seines Vernunftgebrauchs anzuerkennen“ sei.³⁰ Nicht nur Kants transzendentale Begründung der Sittlichkeit, die den Formalismus des kategorischen Imperativs zur Folge hat, sondern auch Versuche Max Schelers und Nicolai Hartmanns, eine apriorische materiale Wertethik zu begründen, scheitern in Gadamers Sichtweise an der bei Aristoteles artikulierten Erkenntnis, dass „alle begriffliche Bestimmung der überlieferten Tugendbegriffe nur eine schematischtypische Richtigkeit besitzt“.³¹ Konkret bedeutet dies, dass alle Auffassung des sittlich Guten und Rechten unseren allgemeinen Vorstellungen von dem [folgt], was gut und recht ist, […] aber seine eigentliche Bestimmtheit erst in der konkreten Wirklichkeit des Falles [gewinnt], der kein Fall der
Cf. Gadamer (, ); wieder abgedruckt in Gadamer (, ). – Eine ähnliche, jedoch dann in die Richtung einer Rehabilitation des hegelschen Entwurfs der Rechtsphilosophie tendierende Feststellung findet sich bei Axel Honneth, der eine „Vormachtstellung des Kantianismus auf dem Feld der Gerechtigkeitstheorie“ im Bereich der modernen Philosophie ausmacht: „Die normativen Prinzipien, an denen sich die moralische Legitimität der sozialen Ordnung bemessen sollte, durften nicht aus dem existierenden Institutionengefüge heraus, sondern nur von ihm unabhängig, freistehend, entwickelt werden – und an dieser Lage hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert.“ Honneth (, ). Gadamer (, ).
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie
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Anwendung einer allgemeinen Regel ist, sondern im Gegenteil das Eigentliche, um das es geht und für das die typischen Gestalten der Tugenden und die Struktur der ‚Mitte‘, die Aristoteles an ihnen nachweist, nur ein vages Schema darstellen.³²
Für die philosophische, sich an aristotelischen Figuren orientierende Ethik ergibt sich entsprechend, „in der gleichen Lage“ zu sein, in der sich „ein jeder befindet“;³³ sie darf nicht primär auf ein „Wissen im allgemeinen, ein Wissen auf Abstand“ abzielen, sondern muss als „menschliche Lehre über das Menschliche“ sich auf diejenigen jeweiligen sittlichen Vorstellungen einlassen, die „das ganz untheoretische, durchschnittlich-allgemeine Normbewusstsein in eines jeden praktisch-sittlicher Überlegung“ leiten.³⁴ Auch in Gadamers Sicht besteht Aristoteles’ ursprüngliche Einsicht im Bereich der Ethik somit darin, dass die ‚unmenschliche Selbstüberhebung‘, die im unbedingten Sollensanspruch des kantischen ethischen Universalismus zum Ausdruck kommt, zurücktreten muss gegenüber einer auf die jeweilige konkrete Bedingtheit des menschlichen Lebens bezogenen und in ihrem Allgemeinheitsanspruch entsprechend beschränkten Ethik.³⁵ 2. Wird in dieser Lektüre der aristotelische Ansatz erneut als Paradigma eines Philosophierens aufgefasst, das der Relativität und Situationsbezogenheit des Normativen Rechnung zu tragen beansprucht, so entwickelt etwa zeitgleich Joachim Ritter in einem seiner einflussreichsten Aufsätze einen anderen Ansatz.³⁶ Zwar vertritt auch Ritter die Auffassung, dass Aristoteles’ Entwurf keine universalistische Ethik darstellt, in der apriorische Werte oder formale Handlungsregeln artikuliert würden, die jederzeit für alle Menschen Geltung beanspruchen könnten. Zentral ist in Ritters Auffassung vielmehr die aristotelische Einsicht in die Angewiesenheit der menschlichen Natur auf die Polis und deren Institutionen, um zur Selbstentfaltung in vollkommener Weise zu gelangen: „Aristoteles fasst alles Bisherige [sc. das bisherige ethische Philosophieren] in der Einsicht zusammen, dass die Natur des Menschen als Grund und Substanz politischer und rechtlicher Satzung aktuale, in den Institutionen und im Ethos der Stadt verwirklichte Natur ist.“³⁷ Diese Verwirklichung vollzieht sich hierbei stets in Gestalt einer „konkreten geschichtlichen, ethischen Fülle des Menschseins“,³⁸ was weiterhin dazu führt, dass „für Aristoteles die Lehre vom menschlichen Handeln als praktische Philosophie nicht die Aufgabe hat, im Element des reinen Gedankens die menschliche Natur zum Prinzip einer allgemeinen Lehre vom Staat zu machen“,³⁹ sondern ein „Begreifen“ sein soll, „das sich in der Affirmation des Gewordenen noch in
Gadamer (, ). Gadamer (, ). Gadamer (, ). Cf. Gadamer (, ). Ritter (, – ). Zur Einschätzung der Bedeutung besonders dieses Textes Ritters für die eingangs genannte „Wiederbelebung der praktischen Philosophie“ cf. Riedel (, I: ). Ritter (, ). Ritter (, ). Ritter (, ).
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1 Einleitung
seiner Fragwürdigkeit zumutet, aus ihm das Wahre hervorzubringen, es in ihm aufzuweisen.“⁴⁰ Dass diese Deutung des aristotelischen ethischen Philosophierens als eines Rückbezugs auf die seinerzeit in der Polis tatsächlich gelebte Normativität Ritter nicht dazu führt, einem bloßen Historismus und damit erneut einem Relativismus das Wort zu reden, hat seinen Grund darin, dass Ritters Aristoteles-Lektüren vor dem Hintergrund der Philosophie G. W. F. Hegels stattfinden. Dieser nämlich habe „vielleicht zuerst in der Auseinandersetzung um das moderne Prinzip der Moralität und der sittlichen Bestimmung des Willens in sich die grundsätzlich von diesem verschiedene institutionelle Bedeutung des Ethischen in der griechischen und aristotelischen Philosophie geltend gemacht“, und zwar durch den Aufweis, dass „die Handlungsweise der Individuen in Sitte und Gewohnheit gegründet“, das Sittliche bei Aristoteles daher „das im Ethos vermittelte Ethische“ ist.⁴¹ Konkret steht bei Aristoteles „die ethische Bestimmung individuellen Handelns in Sitte, Brauch, Gewohnheit schon dadurch in Beziehung zur politischen und rechtlichen Ordnung, zu Politie und Gesetzessatzung, dass diese die ethischen Lebensordnungen des politischen Gemeinwesens voraussetzen und auf sie gegründet sind.“⁴² In dieser wechselseitigen Verwiesenheit von Ethos und Nomos liegt Ritter zufolge die Stärke des aristotelischen Ansatzes gegenüber modernen Dissoziationen von Ethik und Politik, zugleich aber auch die „geschichtliche und systematische Eigenart griechischer Sittlichkeit und Ethik“,⁴³ in deren Fokus entsprechend nicht der Staat im modernen Sinne, sondern die Polis „als Gemeinschaft von Bürgern und Freien […] in ihrer Herrschaftsordnung von anderen Formen der Herrschaft unterschiedene griechische Stadt“ steht.⁴⁴ Mit dem geschichtsphilosophischen Verständnis Hegels im Hintergrund kann daher die aristotelische Ethik als eine Stufe verstanden werden, die innerhalb der Entwicklung der praktischen Philosophie eine notwendige partikuläre Gestalt darstellt und ihre Notwendigkeit und ihren systematischen Gehalt genau aus dieser Stellung innerhalb der Entwicklung des Ganzen gewinnt. 3. Diesen beiden Lektüren der aristotelischen Ethik als einer partikulären Theorie ist von Otfried Höffe widersprochen worden, der den Versuch unternimmt, den aristotelischen tugendethischen Ansatz und seine Perspektive auf die eudämonische Vervollkommnung des Menschen mit dem universalistischen Ansatz Immanuel Kants insofern zu parallelisieren, als in beiden Ansätzen direkt von einem Universalismus der Ethik gesprochen werden müsse. Dieses Vermittlungsinteresse Höffes kommt programmatisch im Titel eines zuerst 1995 erschienenen Aufsatzes zum Ausdruck.⁴⁵ Höffe sieht bereits bei Aristoteles eine „dem Prinzipienuniversalismus analoge Ethik und das dazugehörige kritische Potential“, das im Leitprinzip der Eudämonie und
Ritter (, ). Ritter (, – ). Wiederabdruck in Ritter (, – ) Ritter (, ). Ritter (, ). Ritter (, ). Nämlich des schon genannten Textes Höffe (a).
1.1 ‚Rehabilitierung‘ als ‚Rearistotelisierung‘ der praktischen Philosophie
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deren materialer Bestimmung, der vernunftgemäßen Tätigkeit der Seele, zum Ausdruck komme.⁴⁶ Dem Universalismus entgegenlaufende Elemente innerhalb der aristotelischen Ethik wie etwa die Abwertung des Sklaven betreffen für Höffe konsequenterweise „nicht die Grundelemente der Aristotelischen Ethik, sondern nur deren Anwendung, genauer: deren Anwendung unter Voraussetzung gewisser empirischer Annahmen.“⁴⁷ Mit dieser Auffassung ist Höffes Ansatz deutlich gegen die oben skizzierten Positionen der Virtue Ethics und des Kommunitarismus aufgestellt, sodass Höffe sogar die Stichhaltigkeit von deren Aristoteles-Lektüren als solchen bezweifelt. Entsprechend sieht Höffe Unterschiede zwischen Kant und Aristoteles nicht mit Blick auf den Universalismus der Moral, sondern hinsichtlich eines unterschiedlichen Handlungsbegriffs: Während Aristoteles das Handeln teleologisch als „Auslangen nach einem Ziel, als Streben“ auffasse, komme es Kant stattdessen „auf seinen Anfang an“.⁴⁸ Daher gelange Aristoteles lediglich zu einer Eudämonie, Kant dagegen zu einer Autonomie als Moralprinzip, worin erst „das dem Menschen mögliche Maß“ erreicht sei.⁴⁹ Aufgrund dieser Einschätzung wird jedoch deutlich, dass, dem von ihm diagnostizierten Universalismus bei Aristoteles unbeschadet, für Höffe letztlich doch dem Entwurf Kants der Vorrang gegenüber dem aristotelischen einzuräumen ist. *** Es lässt sich für die ‚Rearistotelisierung der praktischen Philosophie‘ bisher also folgende Situation skizzieren: Die meisten Rezipienten attestieren entweder der aristotelischen Ethik hinsichtlich der Universalität ihrer Normen einen problematischen Status, oder aber stellen ebendiesen auch bei anderslautender Intention in der Durchführung der Interpretation letztlich wieder heraus, wie etwa bei Nussbaum gesehen. Dies gilt auch für die kontinentalen Lektüren, in denen der aristotelische Entwurf entweder als Bedenken der jeweiligen ethischen Bedingtheit des Menschen aufgefasst wird (Gadamer) oder einer Verkopplung mit der hegelschen Philosophie (Ritter) bedürftig zu sein scheint, um eine hinreichend universale normative Begründung aufzuweisen, oder wo er durch Höffe zwar als universalistisch gedeutet, dennoch aber durch die kantische Pflichtethik in normativer Hinsicht überboten wird. Es scheint somit, dass Aristoteles’ Ethik in Hinsicht auf die Normativitätsproblematik entweder bloß auf einen Relativismus der Moral hinausläuft oder aber gegenüber der Forderung nach einem ethischen Universalismus lediglich hinter die normativen Ansprüche, die inzwischen an eine moderne Moralphilosophie in Nachfolge der kantischen erhoben werden können, zurückfällt, statt dass der Rückgriff auf Aristoteles eine auf argumentativer Augenhöhe zu verortende Alternative zu kantischen transzendentalphilosophischen und deontologischen Begründungsfiguren freilegte.Vielmehr scheinen einerseits moderne Vertreter des aristotelisch inspirierten
Höffe (a, – ). Höffe (a, ). Höffe (a, ). Höffe (a, ).
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1 Einleitung
Ansatzes einer Tugendethik über einen Kulturalismus, das heißt eine nur in der jeweiligen partikulären Lebens- und Kulturwelt einer Gesellschaft gegründete Normativität der Schicklichkeit des Handelns, nicht hinaus kommen; andererseits scheint dies durchaus der Grundstruktur der aristotelischen Ethik geschuldet zu sein.
1.2 Eudämonie und Gerechtigkeit Wie hängen in diesem Kontext nun das Universalismusproblem und das Problem der Gerechtigkeit miteinander zusammen? Dies wird klar, wenn man folgende mögliche Reaktion auf den Befund des Relativismus annimmt. So könnte man in einer Variante der oben vorgestellten kommunitaristischen Perspektive⁵⁰ dahingehend argumentieren, dass eine Verknüpfung des aristotelischen Entwurfs mit streng universalistischen Figuren, wie sie etwa Höffe im Rückgriff auf Kant anstrebt, gar nicht nötig sei, weil nämlich die aristotelische Ethik bereits eine zutreffende Beschreibung menschlichen Strebens nach dem guten Leben darstellt. Entsprechend wäre eine kantische, das heißt strikte und unbedingte Universalität im Bereich des so verstandenen Moralischen eben weder zu begründen noch überhaupt zu fordern. Vielmehr müsse man sich damit begnügen, dass unsere moralischen Normen als jeweilige Vorstellungen dessen, was als das Gute erachtet wird, stets zeit- und kulturgebunden sind und überhaupt nur auf diese Weise konkrete sittliche Normativität beanspruchen können. Ist somit die oben für Aristoteles diagnostizierte Problemlage zutreffend, so kann ein so verstandener ethischer Aristotelismus immer noch als sachgemäße Theoretisierung moralischen Handelns oder sittlicher Normativität aufgefasst werden; ‚Rearistotelisierung praktischer Philosophie‘ wäre so mit ihrer Partikularisierung und ‚Kulturalisierung‘ identisch, die Forderung nach einem strikten, kulturinvarianten Universalismus in der Moral hingegen eine unsachgemäße Deutung des Feldes des Ethischen selbst. Ein zweiter Blick aber macht deutlich, dass auch eine solche Herangehensweise für eine kommunitaristische Position zu erheblichen Problemen führt, die nun speziell mit der Tugend der Gerechtigkeit zu tun haben. Dies wird besonders in Rücksicht auf MacIntyre erkennbar, dessen Überlegungen man durchaus in die Richtung der eben gegebenen Argumentationen deuten kann. Eine besonders gegen Rawls’ Gerechtigkeitstheorie gerichtete Pointe von MacIntyres Überlegungen liegt nämlich in Folgendem: Auch die Gerechtigkeit, die MacIntyre wie Aristoteles als „wichtigste Tugend des politischen Lebens“ auffasst, weil „einer Gemeinschaft, der die praktische Übereinstimmung über eine Vorstellung von Gerechtigkeit fehlt, auch die notwendige Grundlage einer Gemeinschaft fehlen muss“,⁵¹ gewinnt ihre inhaltliche Fassung aus dem allgemeinen menschlichen Streben nach dem gelingenden Leben und kann nicht
Auf diese Weise könnte man etwa mit Michael Walzer zu argumentieren versuchen. Walzer (), dt. Walzer (). MacIntyre. (), dt. MacIntyre (, ).
1.2 Eudämonie und Gerechtigkeit
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etwa in Absetzung zu diesem anhand von abstrakten Gerechtigkeitserwägungen bestimmt werden. Letzteres nämlich könnte nicht verständlich machen, weshalb Individuen dazu motiviert sein sollen, gerechte Handlungen auszuüben, die ihren unmittelbaren eigenen Interessen entgegenstehen können; verständlich wird dies nur dann, wenn dieses Zurückstellen eigener Interessen durch eine Auffassung des Guten in Gestalt eines Verdienstes begründet ist.⁵² Tatsächlich markiert die Gerechtigkeit als ganze oder vollkommene Tugend auch schon bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (EN) genau den Ort einer das nur eigene Glücksstreben transzendierenden Dimension des Handelns, indem es dem Gerechten Aristoteles zufolge nicht primär um das Erstreben des eigenen Wohls, sondern eines ‚fremden Guts (allotrion agathon)‘, nämlich dem Gemeinwohl geht. In dieser Weise stellt die Tugend der Gerechtigkeit, sei sie nun im Sinne eines ethischen Universalismus oder Partikularismus zu bestimmen, in jedem Fall ein fundamentales Moment der aristotelischen Ethik insofern dar, als sie das auf die Gemeinschaft bezogene Handeln des Menschen zum Gegenstand hat. Man kann daher festhalten, dass nicht nur ein dem Kommunitarismus zuzurechnender Rückgriff auf Aristoteles sich als eine aristotelische Theorie der Gerechtigkeit vollenden muss, soll sie gutes gemeinschaftliches Leben verständlich machen können. Vielmehr muss jede auf aristotelischen Grundlagen aufbauende Ethik die Tugend der Gerechtigkeit in strukturell und systematisch befriedigender Weise integrieren können, soll in ihr die Dimension des Gesellschaftlichen ihre Verortung und Klärung erfahren können.⁵³ Für diese Form von Aristoteles-Rezeption, die die grundlegende Bedeutung der Gerechtigkeit anerkennt, ist es nun äußerst schwerwiegend, dass ausgerechnet schon Aristoteles’ eigene Gerechtigkeitstheorie mit offenkundigen Unklarheiten und strukturellen Verwerfungen behaftet ist. Und dies gilt bereits unabhängig von der Frage nach einem Universalismus oder Partikularismus der Gerechtigkeit. Unklar ist hierbei vor allem, wie ein solches Streben nach fremdem Wohl innerhalb eines Ansatzes, der seinen Ausgang grundlegend beim Streben jedes Einzelnen nach seiner jeweils eigenen Vervollkommnung nimmt, begründet werden kann. Folgt man hierbei den Ansichten der Forschung, wie sie etwa von Bonnie Kent prägnant zusammengefasst worden sind,⁵⁴ so entsteht der Eindruck, dass diese Schwierigkeit nicht etwa kontingenten Faktoren wie zum Beispiel interessengeleiteten Fokussierungen des Autors geschuldet ist, sondern vielmehr auf grundlegende strukturelle Probleme verweist, die die Integrationsfähigkeit einer nicht nur das Glück des jeweils Handelnden selbst intendierenden Handlungsweise in den tugendethischen Ansatz als solchen schon bei Aristoteles selbst infrage stellen. Es wird daher klar, dass offenbar auch im Falle der Verabschiedung des Konzepts universaler Normativität in der Ethik eine ‚Rearistote Cf. MacIntyre (, – ) Sehr konzise und übersichtlich dargestellt ist diese Problematik auch in Düwell et al. (Hg.) (, ). Dies gilt freilich umso mehr für einen Ansatz wie denjenigen Nussbaums, deren Theorie ja ausdrücklich als eine Gerechtigkeitstheorie, zudem aber mit universalen Grundprinzipien aufgestellt ist. Kent (, – ).
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lisierung der praktischen Philosophie‘ vor grundlegenden Schwierigkeiten steht, sodass es zweifelhaft ist, ob sie in philosophischer Hinsicht in befriedigender Weise vollzogen werden kann.⁵⁵ *** Es stellen sich also im Zuge der ‚Rearistotelisierung der praktischen Philosophie‘ zumindest zwei grundlegende Fragen: Ist es möglich, in einem tugendethischen Ansatz das Phänomen gerechten Handelns strukturell in den Griff zu bekommen, das heißt ein Handeln um fremdes Wohl willen in eine Tugendethik zu integrieren? Und ist es überdies möglich, Gerechtigkeit oder Tugend allgemein im tugendethischen Ansatz mit einem ethischen Universalismus zu verbinden?
1.3 Die mittelalterliche Rezeption⁵⁶ der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie Die moderne Aristoteles-Rezeption scheint hinsichtlich der geschilderten Problemlage aporetisch zu sein. Nun handelt es sich hierbei aber bekanntlich nicht um die historisch erste Wiederentdeckung der aristotelischen Ethik. Vielmehr hat sich bereits im 13. Jahrhundert eine Rezeption der Ethik des Aristoteles vollzogen. Es scheint daher ein lohnendes Unterfangen zu sein, die Herangehensweise der mittelalterlichen Theologen und Philosophen an diese Problemlagen zu beschreiben und zu prüfen, ob sie eventuell zu Resultaten führt, die die systematischen und strukturellen Schwierigkeiten der gegenwärtigen Diskussionen vermeiden können. In der neueren Virtue Ethics ist diese mittelalterliche Rezeption wenig berücksichtigt worden.⁵⁷ Der Grund hierfür dürfte u. a. darin zu sehen sein, dass den mittelalterlichen Entwürfen nach wie vor der Ruch anhängt, gerade in Hinsicht auf Fragen nach dem sittlich guten Leben Auffällig und systematisch wenig befriedigend ist der Umstand, dass gerade Nussbaum sich kaum mit der Gerechtigkeitstheorie aus EN V auseinandersetzt, um ihren universalistischen aristotelischen Ansatz einer Theorie der Gerechtigkeit zu begründen, sondern eher auf Stellen aus der aristotelischen Politik zurückgreift. Es sei eigens erwähnt, dass es hier und in der gesamten Studie um die Rezeption der aristotelischen Ethik im lateinischen Mittelalter geht. MacIntyre geht zwar auf Thomas von Aquins Aristoteles-Rezeption kurz ein, verteidigt aber Aristoteles gerade gegen Thomas’ Versuch, die Tugenden in ein „umfassendes Klassifikationssytem“ zu bringen, da hierin der grundlegende empirische Gehalt der aristotelischen Tugendethik verloren gehe. Überdies sieht MacIntyre Thomas als einen genuin christlichen Denker, sodass im Hintergrund des genannten Klassifikationssystems offenbarungstheologische Grundannahmen ihr dubioses Unwesen treiben. Cf. MacIntyre (, – ). Nussbaum (, – ) versucht dagegen weniger eine Integration von mittelalterlichen Ansätzen in ihren Capability Approach, als sie diesen vielmehr mit vernunftrechtlichen Figuren der Frühneuzeit, vor allem Grotius, zu vermitteln unternimmt, was offenkundig vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden Annäherung an den liberalistischen Ansatz von John Rawls einerseits, andererseits ihrer Ablehnung metaphysischer Argumentationsfiguren im Kontext der Ethik, die sie mit den meisten Autoren der Gegenwart teilt, zu sehen ist.
1.3 Die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie
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nicht mit philosophischen, sondern mit offenbarungstheologischen Prämissen zu argumentieren, was sich übrigens äußerlich betrachtet dadurch zu bestätigen scheint, dass das Gros der Mittelalterforschung immer noch durch Vertreter aus der (zumeist katholischen) Theologie vollzogen wird. Diese äußerliche Einschätzung entspricht jedoch nicht dem Stand der modernen Debatte zur Ethik im Mittelalter, wie sie sich in ebenjener Mittelalterforschung nachweisen lässt. Vielmehr ist diese durchaus durch Versuche gekennzeichnet, die Normativitätsproblematik in den mittelalterlichen Entwürfen, die in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Ethik entstanden sind, in explizit philosophischer Weise zu rekonstruieren, wie einschlägig von Wolfgang Kluxen für die thomasische Philosophie und in dessen Nachfolge zum Beispiel von Jörn Müller für die des Albertus Magnus gezeigt worden ist.⁵⁸ Auf der Grundlage der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption kann somit eine genuin philosophische Ethik rekonstruiert werden, das heißt eine solche, die ohne offenbarungstheologische Momente in ihrer Begründung auszukommen vermag. Vor allem der Ansatz von Thomas von Aquin steht hierbei nach wie vor stark im Zentrum des Interesses.⁵⁹ Hintergrund dieses Ansatzes einer Untersuchung mittelalterlicher Figuren, der durchaus auf eine universalistische Ethik abzielt, ist eine der Virtue Ethics in einigen Grundmotiven durchaus ähnliche kritische Haltung gegenüber einer Autonomievorstellung, wie sie besonders für die kantische Philosophie kennzeichnend ist, sowie eine implizite oder explizite Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Universalisierung des aristotelischen Entwurfs.⁶⁰ Gegen eine solche Autonomiekonzeption wird auf die Bedeutung des menschlichen Strebens nach Eudämonie für moralische Problemlagen und auf die aus Leib und Seele konstituierte Person als Adressat ethischer Reflexionen und Theoriebildungen verwiesen;⁶¹ gegenüber der aristotelischen Ethik wird mit dem mittelalterlichen Naturrecht (ius naturale) bzw. dem als oberste Struktur von sittlichen Vernunftprinzipien verstandenen Naturgesetz (lex naturalis), wie es aus den Entwürfen des Albertus Magnus oder des Thomas von Aquin herausgearbeitet werden kann, eine universalistische Form von Normativität menschlichen sittlichen Handelns konstituiert, die als sowohl kultur- als auch geschichtsinvariant aufzufassen ist.⁶²
Kluxen () und Müller (). Gründlicher werden die Rekonstruktionen dieser beiden Autoren, die eine der systematischen Grundlagen der vorliegenden Studie darstellen, weiter unten diskutiert werden. Cf. Rhonheimer (). Cf. Lutz-Bachmann (, – ). Cf. besonders Rhonheimer () und (). Cf. hierzu Bormann (). Hier findet sich auf p. – auch eine sehr gute Übersichtsdarstellung der besonders innerhalb des Bereichs der katholischen Moraltheologie ausgetragenen Debatten zum thomasischen Naturrechtsverständnis. Cf. weiterhin Kissling (, – ), jedoch mit im Vergleich zu vorliegender Studie gänzlich anders gelagertem, nämlich sozialethisch fokussiertem Interessenschwerpunkt. Desweiteren Schröer (), der eine handlungstheoretisch orientierte Deutung der thomasischen Naturrechtstheorie, auf die auch Bormanns Überlegungen aufbauen, vorgelegt hat. Zum Verhältnis von Naturrecht und Geschichtlichkeit cf. Honnefelder (, – ). – Auf die hier nur kurz skizzierte Situation wird zu Beginn des Thomas-Kapitels etwas umfänglicher einzugehen sein.
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1 Einleitung
Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass es mit Blick auf die eingangs geschilderte Problemlage ein offenbar lohnendes Unterfangen ist, anhand ausgewählter mittelalterlicher Ethikentwürfe die bislang zu wenig beachtete Frage⁶³ zu prüfen, wie in diesen die aristotelische Theorie der Gerechtigkeit aufgenommen und strukturell sowie systematisch mit einer universalistischen Normativität vermittelt ist. Die genaue Vorgehensweise und die Methode der vorliegenden Studie sind hierzu im Weiteren zu entwickeln.
1.4 Ziel und Aufbau der Arbeit 1. Die vorliegende Studie hat das Ziel, die Möglichkeit einer auf aristotelischen, das heißt tugendethischen Grundlagen basierenden und mit der Forderung nach universalistischen, also für alle Menschen gültigen Prinzipien vereinbarungsfähigen Theorie der Gerechtigkeit anhand ausgewählter Positionen innerhalb der mittelalterlichen Rezeption von Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie zu untersuchen. Wie sich aus den einführenden Bemerkungen ergeben hat, sollen dabei zunächst konkret zwei Aspekte als Orientierungspunkte der Interpretationen betrachtet werden: Erstens steht die Frage nach einer strukturell konsistenten und auch phänomenologisch plausiblen anthropologischen Verankerung der Gerechtigkeit als einer Tugend innerhalb des aristotelischen teleologischen Ansatzes einer Strebensethik im Fokus, die zu verstehen erlaubt, wie Streben nach fremdem Wohl in den Rahmen einer Tugendethik integriert werden kann. Zweitens ist die Frage nach der Möglichkeit und der Bedeutung eines Universalismus unter aristotelischen Vorzeichen zu untersuchen, wobei dies im Zusammenhang mit dem methodologischen und epistemischen Status dieser Verankerung als Gegenstand einer sie thematisierenden philosophischen Ethik steht. Zum Zweck dieser Betrachtung werden die eingangs genannten mittelalterlichen Aufgriffe der aristotelischen Ethik in besonderer Hinsicht auf deren Rezeption der Gerechtigkeitstheorie hin untersucht. Denn was in oben dargestellter Weise allgemein für die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen Ethik gilt, gilt auch speziell für die Gerechtigkeitstheorie, nämlich dass hier versucht wird, die Überlegungen aus EN V einerseits mit einer Figur universaler sittlicher Normativität zu vermitteln, die in dieser Weise bei Aristoteles noch nicht zu finden ist und in den scholastischen Konzeptionen des Naturrechts als Vernunftrecht ihren Ausdruck findet, und andererseits die Tugend der Gerechtigkeit in das Gefüge einer Tugendethik bündig zu integrieren, wobei, wie sich zeigen wird, vor allem bei Thomas von Aquin das bei Aristoteles nicht in ausdrücklicher Weise thematische vernünftige Strebevermögen des Willens eine we Einzig Matthias Lutz-Bachmann () hat den Fokus seiner Überlegungen auf die aristotelische Gerechtigkeitstheorie gelegt. Zur kritischen Würdigung dieses Ansatzes cf. Fuchs (, – ). – Die wirkmächtige Wiederaufnahme, die der thomasische Ansatz, jedoch vor dem Hintergrund zahlreicher Modifikationen, innerhalb der modernen Rechtstheorie bei Finnis () erfahren hat, wird unten im Thomas-Kapitel eingehender besprochen.
1.4 Ziel und Aufbau der Arbeit
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sentliche Rolle spielt. Eine Untersuchung von Positionen, die innerhalb der mittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie für diese Fragestellung besonders einschlägig sind, kann daher wichtige systematische und strukturelle⁶⁴ Einsichten für die einleitend anhand der gegenwärtigen Debatte ermittelte Problemkonstellation der Vermittlung einer universalistischen Normativitätskonzeption mit dem tugendethischen Ansatz geben. 2. Die Studie gliedert sich wie folgt: Im ersten auf die Einleitung folgenden Kapitel der Arbeit wird zunächst der systematische Status der philosophischen Ethik bei Aristoteles und bei den mittelalterlichen Autoren, genauer bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin, in Abgrenzung zu anderen philosophischen Disziplinen sowie besonders zur christlichen Theologie erörtert werden. Es folgt ein Kapitel, in dem die aristotelische Gerechtigkeitstheorie anhand einer Betrachtung der entsprechenden Passagen aus EN und am Leitfaden der beiden eingangs dargestellten Hauptprobleme, also der Universalismusproblematik sowie der Frage nach der strukturellen Kompatibilität der Gerechtigkeitstheorie mit dem tugendethischen Ansatz, analysiert werden soll. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, die genannten Schwierigkeiten in Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie konzise und kontextuell genau herauszustellen, um damit eine Hintergrundfolie für die folgenden, am selben Leitfaden der benannten Hauptprobleme orientierten Betrachtungen der ausgewählten mittelalterlichen Entwürfe zu erarbeiten. Im Kapitel über Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie aus EN V geht es deshalb nicht darum, eine vollständige und erschöpfende Darstellung und Deutung des aristotelischen Ansatzes als solchen zu geben. Denn da der Schwerpunkt vorliegender Studie auf einigen wichtigen Gerechtigkeits- und Naturrechtstheorien des Mittelalters sowie deren Umgang mit den strukturellen Problemen einer Integration der Gerechtigkeit in die aristotelische Anthropologie liegt, ist im Weiteren diese auch lediglich mit Blick auf jene Probleme zu thematisieren. Im Vorgriff auf diese werden daher auch Phänomene wie etwa die Freundschaft im Aristoteles-Kapitel diskutiert werden, die auf den ersten Blick wenig mit der Frage nach Gerechtigkeit zu tun zu haben scheint, jedoch vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Entwürfe eine systematisch weiterreichende Rolle in Hinsicht auf die für die vorliegende Studie zentrale Frage spielen wird, was genau eigentlich unter der ‚Allgemeinheit‘ oder ‚Universalität‘ einer Tugend wie der Gerechtigkeit zu verstehen ist. Ebenfalls wird, wie sich aus den einführenden Betrachtungen ergibt, die systematische Problemstellung der Methode und Struktur der aristotelischen Ethik als einer eigenständigen, der Metaphysik und Naturphilosophie zu ihrer Begründung weitgehend unbedürftigen philosophischen Disziplin eingehender Überlegungen unterzogen. Die Darstellung der mittelalterlichen Entwürfe ist Gegenstand der hierauf folgenden Kapitel. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Theorie von Thomas von Aquin. Systematisch: sowohl in Hinsicht auf die Frage, wie eine philosophische Ethik überhaupt – etwa im Unterschied zu einer Moraltheologie – möglich ist, als auch hinsichtlich des Problems, wie die verschiedenen zu beschreibenden Strukturmomente innerhalb der Theorie zu einer Einheit zusammenstehen können.
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1 Einleitung
Dies hat sowohl systematische als auch historische Gründe. Thomas’ Entwurf gilt zurecht als einer der maßgeblichsten Versuche, Inhalte und Methodik der aristotelischen Philosophie mit Grundüberzeugungen christlicher Theologie in einer umfassenden Synthese systematisch zu vereinigen. Dies betrifft auch Thomas’ Vermittlung aristotelischer Tugendethik mit einer universalen Normativitätskonzeption unter dem Topos des Naturrechts qua Vernunftrecht. Überdies finden sich bei Thomas eingehende systematische Betrachtungen zur Frage nach der Möglichkeit einer solchen Synthese, also nach dem philosophischen Status der Ethik in Abgrenzung nicht nur zur Metaphysik, sondern überdies zur christlichen Theologie als einer Denkform, die einerseits wie die Metaphysik den Bereich des Sinnlichen überschreitet, dabei aber wie die Ethik zugleich praktische Relevanz beansprucht. Und historisch gesehen, hat wohl kaum ein anderer Entwurf eine so starke Nachwirkung erzeugt wie der thomasische. Viele Momente und Strukturen, die Thomas in seiner Synthese zusammenführt, übernimmt er jedoch von früheren Autoren. Vor allem Albertus Magnus ist hier eine entscheidende Größe, indem dieser Autor bereits vor seiner eigenen Aristoteles-Rezeption basale Prämissen der thomasischen Synthese zumindest vorbereitet. Überdies ist für Thomas besonders für die Universalismusproblematik der augustinische und stoische Gesetzesbegriff von großer Bedeutung. Um all dies klarer herauszuarbeiten, wird zunächst ein kurzer Exkurs zum stoischen Gesetzesbegriff, sodann eine ausführlichere Interpretation der Gerechtigkeitstheorien aus der Summa de bono Philipps des Kanzlers und schließlich aus dem frühen Text De bono von Albertus Magnus und danach eine Interpretation von Alberts erstem Ethikkommentar gegeben.⁶⁵ Erst hierauf erfolgt die Darstellung und Interpretation der Naturrechts- und Gerechtigkeitstheorie von Thomas von Aquin, auf die letztlich alle bisherigen Überlegungen hinauslaufen. Wie die folgende Diskussion von Thomas’ Theorie des Naturgesetzes (lex naturalis) und des Naturrechts (ius naturale)⁶⁶ sowie der Gerechtigkeit als Tugend ergeben wird, wird es weiterhin nötig sein, neben der Fokussierung auf die Struktur der Handlung auch die Tugenden Klugheit und Epieikie (‚Billigkeit‘) eingehender zu untersuchen, um zu verstehen, wie gerechtes Handeln bei Thomas strukturell zu beschreiben ist. Im Anschluss an diese Untersuchungen der thomasischen Theorie und zugleich als Abschluss der Arbeit werden sodann die kürzer gehaltene Darstellung und Diskussion der sich weiterführend und teilweise kritisch auf bestimmte Aspekte der thomasischen
Das soll nicht bedeuten, dass Philipp und Albert als bloße Vorläufer von Thomas oder gar als irgendwie systematisch ‚defizitäre‘ Theoretiker präsentiert werden sollen. Wie überzeugend Thomas’ eigene Lösung ist, soll in diesem Aufbau der Arbeit nicht implizit präjudiziert werden. Es geht lediglich darum, anhand eines Nachvollzugs wichtiger Etappen einer Rezeptionsgeschichte systematische Probleme durchaus auch als Probleme sichtbar zu machen. Entsprechend wird im Schlusskapitel auch nicht eine endgültige Lösung präsentiert, sondern vielmehr herausgestellt werden, welche Fragen bei dem Versuch, eine tugendethische Gerechtigkeitstheorie mit einem Universalismus zu vermitteln, mit Blick auf die untersuchten Positionen offen geblieben sind. Hier wird dann auch eingehender die moderne Forschungs- und Diskussionslage zu Thomas’ Naturrechtstheorie (u. a. Finnis, Westerman, Bormann etc.) zu besprechen sein.
1.4 Ziel und Aufbau der Arbeit
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Lösung beziehenden Überlegungen Jakobs von Viterbo und Gottfrieds von Fontaines stehen. Deren Betrachtungen zur Gerechtigkeitstheorie stehen hierbei vor dem Hintergrund der Frage, was überhaupt eine allgemeine Tugend (virtus generalis) auszeichnet, werfen dabei ihren Fokus insbesondere auf anthropologische und aretologische Grundprobleme und legen vor allem Fragen nach der Abgrenzung der allgemeinen, auf das Gemeinwohl bezogenen Gesetzesgerechtigkeit von der Tugend der Freundschaft sowie der theologischen caritas⁶⁷ offen. Deutlich wird anhand dieser Diskussionen werden, dass die Frage nach einem Universalismus innerhalb der Ethik allgemein und der Gerechtigkeitstheorie im Besonderen nicht nur bei Thomas selbst, sondern auch bei den übrigen untersuchten Autoren durchaus verschiedene Bedeutungsdimensionen aufweist, die sich nicht bloß auf den Aufweis einer dem Handlungssubjekt zugänglichen Prinzipienstruktur der Vernunft reduzieren lassen. Überdies wird sich vor allem in der Kontroverse zwischen Jakob und Gottfried zeigen, dass das strukturelle Problem der Möglichkeit eines Bezuges auf fremdes Wohl zugleich mit der systematischen Frage verbunden ist, in wessen Kompetenz (Ethik oder Theologie) die angemessene Diskussion dieser Struktur eigentlich fällt.⁶⁸ Obwohl daher bei den beiden letzten Autoren dieser Studie das Naturrecht bzw. das Naturgesetz anders als bei Thomas und Albert an den zu diskutierenden Stellen gar nicht thematisch wird, können hier dennoch Fragen danach untersucht werden, was man unter einem Universalismus im Bereich einer tugendethischen Theorie der Gerechtigkeit verstehen muss. Am Schluss der Arbeit werden die Ergebnisse der Untersuchungen kurz zusammengefasst und dahingehend reflektiert werden, welche Antworten die dargestellten Vermittlungsversuche der Tugend der Gerechtigkeit mit natur- bzw. vernunftrechtlichen Prinzipienstrukturen, die anhand der mittelalterlichen Entwürfe dargestellt worden sind, auf die Frage bieten können, ob und wie Tugendethik und ethischer Universalismus miteinander vermittelt werden können.
Die meisten griechischen und lateinischen Begriffe werden in deutscher Übersetzung gegeben, oftmals aber mit Angabe des Originalbegriffs in Klammern. Einige Begriffe aber bleiben in dieser Studie unübersetzt, etwa ‚caritas‘ und ‚philia‘. Denn eine deutsche Übersetzung, etwa mit ‚Liebe‘ für ‚caritas‘ und ‚Freundschaft‘ für ‚philia‘, spiegelt nicht nur bloß unangemessen wider, was mit diesen Begriffen gemeint ist, sondern transportiert wie etwa im Fall der Übersetzung von ‚philia‘ mit ‚Freundschaft‘ zudem tendenziell einseitige Assoziationen.Wird dagegen unten bei Besprechung der mittelalterlichen Theorien von ‚Freundschaft‘ (für ‚amicitia‘) gesprochen, so deshalb, weil hier bzw. an den Stellen, wo dies geschieht, mit diesem Begriff schon eher dasjenige gemeint wird, was wir unter Freundschaft verstehen. Allgemein aber ist stets im Bewusstsein zu halten, dass die Bedeutung der Begriffe durch ihren strukturellen Gebrauch bestimmt wird. Gottfried scheint nämlich zu argumentieren, dass ein Bezug auf den Anderen um dessen selbst willen, also ein solcher, der nicht ursprünglich auf mein Streben nach meinem eigenen Wohl zurückgeführt werden kann, nicht im Bereich der erworbenen ethischen Tugenden fällt, sondern ein Moment der caritas als eingegossener theologischer Tugend ist. Die Konsequenzen dieser Überlegungen werden im letzten Abschnitt der Arbeit diskutiert.
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1 Einleitung
1.5 Textauswahl und Methode 1. Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Erörterung dieser strukturellen Konstellation aus einer tugendethischen Konzeption von Gerechtigkeit als der Grundlage menschlicher Gemeinschaft und einem universalen Naturrecht sowie deren systematische Behandlung anhand der mittelalterlichen Theorien. Die Interpretation historischer Figuren und die Nachzeichnung der Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie folgt dabei einem systematischen Interesse, das aber nicht darin besteht, die mittelalterlichen Entwürfe gleichsam zu aktualisieren und, wie man sagt, ‚für moderne Diskussionen fruchtbar zu machen‘. Vielmehr sollen im Durchgang durch die ausgewählten historischen Texte philosophisch-systematische Probleme dargestellt, entschlüsselt und bewertet werden. Daher ist auch der Untertitel der Arbeit, also der Verweis auf das Problem des ethischen Universalismus, gerechtfertigt. Denn allemal sind die mittelalterlichen Versuche, die Theorie des Naturrechts mit der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie zu verknüpfen, systematischen Charakters. Man kann daher die vorliegende Arbeit entsprechend als eine historisch-systematische Studie bezeichnen. Die oben diskutierten Formen der modernen Aristoteles-Rezeption dienten daher auch nicht als verbindlicher Diskursrahmen, in den sich die mittelalterlichen Theorien einzufügen hätten, um anhand dessen ihren systematischen Status zu erweisen. Vielmehr hatten sie die Funktion, als vorausgreifende Indikatoren für bestimmte strukturelle Probleme der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie zu fungieren. 2. Die Methode besteht in der kritischen Interpretation der herangezogenen Texte der ausgewählten Autoren. Es kann hierbei aufgrund ihrer systematischen Ausrichtung und Fragestellung nicht der Zweck der vorliegenden Studie sein, eine möglichst vollständige historische Übersicht und Darstellung aller Aufgriffe der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie zu liefern. Auch geht es nirgends darum, Beiträge zur jeweiligen Fachphilologie zu leisten. Daher genügt es, nur diejenigen Texte eingehender vorzustellen, in denen die in der Einleitung aufgeworfenen systematischen Fragen zielführend und auch mit einer gewissen Ökonomie bearbeitet werden können. Diese bewusst schmal gehaltene Textbasis erlaubt eine intensive und zielstrebige Auseinandersetzung mit den Quellen. Hierbei wurden insbesondere Texte bevorzugt, in denen das Thema Gerechtigkeit und/oder Naturrecht in größerem Umfang besprochen werden. Zu den Texten im Einzelnen: Aristoteles’ EN, besonders Buch V,⁶⁹ dient als die systematische Basis und als der Grundlagentext, auf den sich die mittelalterlichen Autoren beziehen. Die Betrachtung der Gerechtigkeitstheorie von Philipp dem Kanzler,
Textgrundlage hier ist die Ausgabe Aristotelis Ethica Nicomachea. Ed. Bywater. Oxonii, Typ. Clarendonianum, . Die Übersetzungen stammen vom Verf., sind aber an die deutsche Übersetzung von Ursula Wolf () angelehnt. Auf die Angabe längerer Zitate wird verzichtet, da die EN sehr gut zugänglich ist; die wichtigsten Begriffe sowie relevante kurze Wendungen werden zur bequemeren Lektüre in transliterierter Form gebracht.
1.5 Textauswahl und Methode
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die er in seiner Summa de bono (ca. 1225 – 1228) entwickelt,⁷⁰ dient gemeinsam mit dem kurzen Exkurs zur Theorie des Gesetzes in der Stoa und bei Augustinus dazu, die nichtaristotelischen Hintergründe der später einsetzenden Rezeption von EN V sowohl zu beleuchten als auch diese Rezeption stärker zu kontrastieren. Dabei eignet sich Philipps Summe ganz besonders für diesen Zweck, weil sich hier eine der wohl umfassendesten Darstellungen einer Theorie der Gerechtigkeit vor der einsetzenden Aristoteles-Rezeption findet⁷¹ und außerdem Albertus Magnus, bekanntlich der erste Kommentator der EN, seinerseits von der Summa de bono beeinflusst war.⁷² Albert wiederum ist mit seinem ebenfalls noch kurz vor der Aristoteles-Rezeption entstandenen Text De bono (ca. 1243),⁷³ sowie dem ersten Ethikkommentar Super Ethica (ca. 1250/52), seinem „revolutionary work“,⁷⁴ vertreten, nicht aber mit dem zweiten Kommentar zur EN, der Ethica von ca. 1262.⁷⁵ Die Gründe hierfür sind folgende. Zunächst ist festzuhalten, dass der Text von Alberts Ethica bislang nur in unkritischer Ausgabe vorliegt. Natürlich hätte prinzipiell die Möglichkeit bestanden, ähnlich wie Jörn Müller in seinem Albertbuch (Müller [2001]) wenigstens einen Teil – hier besonders den Abschnitt zu EN V – kritisch zu edieren.⁷⁶ Aber es geht in der vorliegenden Studie, wie schon angemerkt, nicht um eine Albert-Philologie, sondern um das Verfolgen der Frage, wie eine tugendethische Theorie der Gerechtigkeit mit einem moralischen Universalismus vermittelt werden kann, und diese Frage lässt sich durchaus auch ohne Einbezug von Ethica entwickeln. Eine gründliche Untersuchung des Verhältnisses der beiden Ethikkommentare Alberts wäre unter anderen Vorgaben und
Ausgabe: Philippi Cancellarii Parisiensis Summa de bono. Ed. Wicki. Editiones Francke Bernae, . Zur Philosophie Philipps cf.Wicki (). Zur Datierung cf. Ernst (, ). Die Übersetzungen hier stammen vom Verf. Auch in der nicht minder einflussreichen, etwas früher (/) entstandenen Summa aurea des Wilhelm von Auxerre findet sich eine Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit (besonders in l. tr. c. – ), die allerdings wesentlich knapper gehalten ist als Philipps Darstellungen und deshalb in der vorliegenden Studie nur an passender Stelle in den Fußnoten ergänzend herangezogen wird. Cf. hierzu die Ausführungen von Bernhard Geyer: „Etiam Philippus Cancellarius antea Summam de bono item ineditam scripserat, quam Albertus in sua summa conficienda semper ante oculos habebat.“ De bono. Alberti Magni Opera Omnia, Tom. XXVIII. Ed. Kübel et al. Monasterii Westfalorum in Aedibus Aschendorff, , Prolegomena, p. XIV. Der, anders als etwa De natura boni, eine ausführliche Gerechtigkeitstheorie und vor allem eine ausdrückliche Verknüpfung der Gerechtigkeit mit dem Naturrecht (ius naturale) und dem Naturgesetz (lex naturalis) enthält. Tracey (, ). De bono und Super Ethica werden nach der Editio Coloniensis zitiert: De bono. Alberti Magni Opera Omnia, Tom. XXVIII. Ed. Kübel et al. Monasterii Westfalorum in Aedibus Aschendorff, . Super Ethica. Commentum et Quaestiones. Alberti Magni Opera Omnia, Tom. XIV – . Ed. Kübel. Monasterii Westfalorum in Aedibus Aschendorff, //. Zu den Datierungen: Für Super Ethica cf. Anzulewicz (, ). Zu De bono cf. Senner (, ). Zu Ethica cf. Anzulewicz (, ). Die Übersetzungen stammen hier, wo nicht anders angegeben, vom Verf. Auch Stammkötter () macht in seiner Dissertation Gebrauch von Alberts zweitem Ethikkommentar (in Abschn. ).
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1 Einleitung
Gesichtspunkten ein wichtiges und sicherlich lohnenswertes Projekt, das jedoch einer anderen Arbeit vorbehalten sein muss. Ein weiterer Grund für eine Restriktion auf Alberts ersten Ethikkommentar ist der Umstand, dass die Ethica als Paraphrasenkommentar ohne herausgestellte Quästionen weniger geeignet ist, die eigene Position Alberts erkennbar werden zu lassen.⁷⁷ Und schließlich diente Thomas von Aquin, dessen Überlegungen im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, insbesondere dieser erste Ethikkommentar Alberts als Vorlage für seine eigene Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie.⁷⁸ Vor allem aber soll es in der vorliegenden Studie um die Gerechtigkeit als Tugend und nicht als institutionelle Struktur gehen. Ebendiese Frage behandelt Albert aber weniger im Rahmen seines Kommentars zur aristotelischen Politik, sondern besonders in seinem Kommentar zur EN – Analoges gilt für Thomas –, und daher finden die Politikkommentare innerhalb der Arbeit keine eingehendere Berücksichtigung.⁷⁹ – Im Zentrum der Studie stehen die Überlegungen von Thomas von Aquin, dabei zunächst und vor allem zu Naturrecht, Naturgesetz und Gerechtigkeit.⁸⁰ Die Textgrundlage bildet insbesondere die Summa theologiae und weniger Thomas’ Ethikkommentar,⁸¹ da der erstgenannte Text in viel höherem Maße als der zweite Thomas’ eigene Position erkennbar werden lässt, und dies zugleich in höchst prägnanter Weise.⁸² Daher wird der Ethikkommentar nur herangezogen, um wo nötig begriffliche und strukturelle Ergänzungen und Klärungen vorzunehmen. Da jedoch, wie sich im Laufe der Studie zeigen wird, die Gerechtigkeitsproblematik schon bei Aristoteles und dann in noch verstärktem Maße bei Thomas mit dem Thema Cf. zu Alberts zweiten Ethikkommentar Cunningham (, – ). Cf. Hödl (, – ). Überdies gilt für Alberts Politikkommentar dasselbe wie für seinen zweiten Ethikkommentar: Der Text ist bislang nicht kritisch ediert, bietet also bis auf Weiteres keine sichere Textbasis für ein Unterfangen wie die vorliegende Studie. Thomas’ Kommentar zur EN ist – ähnlich wie Alberts Super Ethica – ein Literalkommentar, allerdings ohne Quästionen. Die Summa theologiae stammt aus den Jahren – , der Ethikkommentar ist von – . Ausgaben und Datierung: S. Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. – : Summa theologiae. Ex Typographia Polyglotta S. C. de Propaganda Fide, Romae, – . Zur Datierung und Entstehung cf. Weisheipl (, ). Ethikkommentar: S. Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. – : Sententia Libri Ethicorum. Romae, . Zur Datierung cf. Gauthier (). Die Übersetzungen stammen vom Verf., sind im Falle der Summa jedoch an die Übersetzungen der Deutschen Thomas-Ausgabe angelehnt. Eine Ausnahme bilden die Übersetzungen von Sth I – II q. – , die von Rolf Schönberger stammen (cf. im Siglenverzeichnis unter Sth). Cf. hierzu Perkams (, ; – ). Perkams macht klar, dass Thomas im Ethikkommentar „mostly just the structure and the formulations of Aristotle’s text“ erklärt (); wo Thomas dagegen über die aristotelische Vorlage hinausgeht (ihn beinahe ‚überinterpretiere‘, cf. ), nämlich dort,wo er eine systematisch wesentlich elaboriertere Naturrechtslehre in seinen Kommentar von EN V einbaut, als diese bei Aristoteles selbst zu finden ist, greift Thomas auf seine eigenen Theoriestücke aus Sth zurück. Für die vorliegende Studie ergibt sich hieraus, dass der Fokus auf dem letztgenannten thomasischen Text liegt. Ein eingehenderer Vergleich der Kommentarbeiten von Albert und Thomas wäre ein reizvolles Unterfangen, das jedoch am Interesse der vorliegenden Studie vorbei liefe.
1.5 Textauswahl und Methode
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Freundschaft (amicitia) und caritas in einem Zusammenhang steht, wird auch die caritas/amicitia-Problematik in einem weiteren Abschnitt erneut insbesondere anhand zentraler Stellen aus der Summa theologiae untersucht werden. Mit den Quaestiones disputatae zur Gerechtigkeit und Freundschaft bzw. caritas von Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines findet die vorliegende Studie ihren Abschluss.⁸³ Die Texte dieser beiden Autoren, deren Besprechung auf den ersten Blick den Kontext der vorliegenden Untersuchung zu überschreiten scheint, werden deshalb herangezogen, weil in ihnen die Frage, was die Universalität der Gerechtigkeit als Tugend eigentlich ausmacht, noch einmal eingehend untersucht wird – dies aber so, dass diese beiden Autoren – anders als Thomas und Albert – nicht auf das Naturrecht rekurrieren, um die Universalität der Gerechtigkeit zu untersuchen. Freundschaft und caritas dienen hierbei den beiden Autoren als Kontrastfolien, die es erlauben, die spezifische Allgemeinheit der Gerechtigkeit als Tugend schärfer herauszuheben. Zudem wird im Rahmen dieser Untersuchungen die Frage nach der Möglichkeit eines Strebens nach fremdem Wohl und dessen anthropologischer Grundlage erneut aufgegriffen. In diesen Diskussionen bezieht sich Jakob offensichtlich auf thomasische Vorlagen und führt diese konsequent weiter; Gottfried wiederum bringt diese Weiterführung in kritischem Rekurs auf Jakobs Überlegungen zum Abschluss und weist dabei schon einige Züge auf, die deutlich neuzeitlichen Charakters sind. Auch – wie schon oben bei Thomas und dem ersten Ethikkommentar von Albert – ist es dieser wechselseitige argumentative Bezug, der neben den schon genannten Gründen für die Auswahl dieser Autoren und ihrer Texte ausschlaggebend gewesen ist. 3. Die Reihenfolge der Kapitel orientiert sich an der Chronologie der besprochenen Texte, die Studie interpretiert diese Abfolge jedoch zugleich als eine Diskussion systematischer Themenkomplexe. Um die Einheit der Arbeit zu gewährleisten, tauchen in den einzelnen Kapiteln immer wieder Vorgriffe auf später erst eingehender zu diskutierende Theoriestücke auf, etwa die Untersuchung von Grundcharakteristiken der philia bei Aristoteles oder der caritas bei Philipp dem Kanzler. Diese topologische Mehrgleisigkeit ist der Komplexität der Thematik geschuldet.
Jacobi de Viterbio Disputatio Tertia de Quodlibet. Ed. Eelcko Ypma. Rom: Augustinianum, , sowie Les Philosophes Belges. Textes et Etudes. Tome V, Fascicules I – II. Les Quodlibets onze-quartorze de Godefroid de Fontaines. Ed. J. Hoffmans: Louvain, . Zur Datierung cf. Kent (, ; ). Die Übersetzungen hier stammen vom Verf.
2 Systematischer Status der Ethik bei Aristoteles, Albertus Magnus und Thomas von Aquin 2.1 Philosophische Ethik bei Aristoteles 1. Mit Aristoteles tritt philosophiehistorisch erstmals die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin in Erscheinung. Dies betrifft deren Verhältnis zur Metaphysik sowie zur Politik und beinhaltet in beiden Hinsichten eine Kritik am Entwurf Platons.¹ Dieser hatte in der Politeia mit der These der Philosophenherrschaft sowohl „die gesamte Ethik in die Politik integriert“² als auch diese wiederum vor dem Hintergrund einer Identifikation von praktischer und theoretischer Vernunft in einer Schau der metaphysischen Idee des Guten gegründet.³ Dieses Vorgehen Platons hatte für das Verhältnis von Ethik, Politik und Metaphysik weitreichende Konsequenzen, die Günther Bien wie folgt zusammenfasst: a) nur wer als Philosoph außerhalb der menschlichen Welt die Idee des Guten erblickt hat, ist überhaupt in der Lage, im Bereich der menschlichen Pragmata vernünftig zu handeln, sei es in öffentlichen oder privaten Angelegenheiten […]; b) die Philosophie trägt die totale Verantwortung für die politische sittliche Praxis; c) alle menschlichen Gegebenheiten und Lebensordnungen sind erst, wenn und sofern sie von der Philosophie begründet und entworfen sind, gut und tragfähig; d) auf diese Weise werden Theorie und Praxis, Philosophie und Politik, wissenschaftliche Erkenntnis und Ausübung weltlicher Herrschaft wie auch theoretische und praktische Philosophie aufs engste miteinander verbunden; erst wenn diese enge Verbindung als Identifikation gelingt, wird zu hoffen sein, dass das Unheil unter den Menschen aufhört, wie es im Philosophen-KönigsSatz formuliert ist.⁴
Demgegenüber vertritt Aristoteles die Auffassung einer „der Welt menschlicher Praxis immanente[n] Vernünftigkeit“,⁵ die den handelnden Subjekten auch dann zukommt, wenn diese keine Ideenschau vollzogen haben; denn „die Menschen [sind] von Natur aus hinlänglich zur Wahrheit bestimmt und treffen sie meistens auch.“⁶ 2. Die Ethik im engeren Sinne als Wissenschaft des Guten und Besten als letzten Zieles allen menschlichen Handelns ist in Aristoteles’ Auffassung Teil und zugleich Grundlage der Wissenschaft vom Politischen (politike episteme), sofern diese die „im höchsten Sinne Ich lasse die Frage hier außen vor, inwieweit Aristoteles’ Platonkritik zutreffend ist oder nicht. Mir geht es allein um die Charakterisierung der aristotelischen Idee einer Ethik als eigenständiger philosophischer Disziplin. Cf. zu Aristoteles’ Platonkritik Flashar (, –). Cf. auch Bien (, – ). Cf. Höffe (b, ). Cf. Bien (/, – ; – ). Bien (/, ). Bien (/, ). Rhet. I , a.
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2 Systematischer Status der Ethik
leitende[…] Wissenschaft“ darstellt, indem sie „die übrigen praktischen Wissenschaften“ wie zum Beispiel die Ökonomik, die Strategik und die Rhetorik „in den Dienst ihrer Zwecke nimmt“ (1094a24– 26).⁷ Bereits an dieser Charakterisierung wird hinsichtlich der in der Einleitung besprochenen Fragen deutlich, dass Aristoteles wenigstens perspektivisch mit der Ethik nicht eine Theorie im Blick hat, die lediglich das Wohl des Individuums thematisieren soll; vielmehr gilt für ihn, dass, obzwar das höchste menschliche Gut „für den Einzelnen und die Polis das gleiche ist“, jedoch die Begründung und Erhaltung des letzteren „größer und vollkommener“ ist (1094b7– 9). Es wird zu fragen sein, auf welchen Grundlagen diese Perspektivierung steht. Die veränderte Auffassung des Moralischen als etwas, das nicht erst durch die philosophische Erkenntnis hergestellt werden muss, sondern dieser eigenständig und unabhängig vorausliegt, hat methodische, systematische und strukturelle Konsequenzen für die Frage nach dessen wissenschaftlicher Thematisierung. Dies betrifft übrigens zu einem gewissen Teil nicht nur den Bereich der Ethik, sondern im Zusammenhang mit Aristoteles’ gegen Platon gerichtete Forderung einer wissenschaftlichen Erforschung der begegnenden Sinnenwelt auch andere Wissenschaften wie etwa die Physik (Naturphilosophie) oder die Biologie.⁸ a) Methodische Konsequenzen: Das moralisch Richtige/Gute wird nicht wie bei Platon in der Schau der Idee erkannt; vielmehr hebt die Ethik an mit einer Analyse der tatsächlich innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft gelebten Sitten. Entsprechend kann Aristoteles für die Gewinnung ethischen Wissens, das heißt für die reflexive und wissenschaftliche Vergewisserung des im bereits vollzogenen bzw. gelebten sittlichen Handeln implizit Gewussten als moralischer Erfahrung, eine von ihm auch in anderen Disziplinen angesetzte Methode verwenden, die er in EN VII 1 wie folgt beschreibt: Wir müssen zuerst die Phänomene vor uns bringen und sodann, nachdem wir die Aporien erörtert haben, die Wahrheit aller angesehenen Meinungen […] beweisen, oder, wo das nicht gelingt, der meisten und maßgeblichsten; denn wenn wir sowohl die Aporien auflösen wie die angesehenen Meinungen übrig behalten, werden wir den Fall hinreichend bewiesen haben (1145b2– 6).
Als die Phänomene können hier die tatsächlich gelebten Sitten als Gegenstand ethischer Reflexion aufgefasst werden; die Endoxa dagegen sind die Auffassungen von „vielen Alten“ und der „berühmten Männer“, von denen „nicht anzunehmen“ ist, dass sie „ganz und gar fehlgehen“ in der Einschätzung dessen, was das gute Leben auszeichnet, sondern die vielmehr „in je einer Beziehung, wo nicht gar in den meisten, recht haben“ werden (1098b27– 29). Sie sind diejenigen Ansichten, „die Allen oder den
Im Fließtext wird dann, wenn die Textstellen aus EN stammen, ausschließlich die Bekker-Zählung angegeben, um den Textfluss nicht durch eine unnötige Länge der Siglen zu unterbrechen. Zitate aus anderen Aristoteles-Texten werden in den Fußnoten nachgewiesen, wobei die üblichen Siglen verwendet werden. Cf. zur Frage nach der Wissenschaft bei Aristoteles – besonders in Abgrenzung zu Platon – Kullmann (, – ).
2.1 Philosophische Ethik bei Aristoteles
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Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen entweder Allen oder den meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten.“⁹ Hieraus wird klar, dass diese endoxischen Ansichten ihrerseits bereits eine gewisse Stufe von Reflexivität darstellen, das heißt eine Form menschlicher Selbstvergewisserung über die Grundlagen des Handelns sind, die jedoch noch nicht dem systematischen Niveau der Ethik als Wissenschaft entsprechen. Dieses wird erst erreicht in einem Verfahren, welches Aristoteles als ‚dialektischen Syllogismus (dialektikos syllogismos)‘¹⁰ kennzeichnet und im Rahmen der Topik untersucht. Im Bereich philosophischer Wissenschaft dient es nicht zuletzt dazu, aus den Endoxa dasjenige ausfindig zu machen, „was bei den Prinzipien der Einzelwissenschaften“ – in diesem Fall der Ethik – „das Erste“ ist und worüber „sich auf Grund der besonderen Prinzipien einer gegebenen Wissenschaft unmöglich etwas ausmachen [lässt], weil die Prinzipien das erste von allem sind“.¹¹ Deshalb kann diese Methode dialektischen Vorgehens auch als ‚ausforschende Methode oder Kunst (exetastike methodos)‘ bezeichnet werden.¹² Scheint dieser Zugriff in der Tat auf den ersten Blick eine kulturrelativistische Deutung des aristotelischen Ansatzes nahezulegen, so ist jedoch festzuhalten, dass diese ‚dialektische‘ oder ‚logische‘ Verfahrensweise (logikos) nur ein, obzwar zentrales Moment des Vorgehens Aristoteles’ in der EN darstellt. Das zweite, das für das erste gleichsam den sachlichen Rahmen abgibt, ist eine naturphilosophische Vorgehensweise (physikos), die die naturalen Grundaspekte des menschlichen Seins enthüllt, innerhalb deren sich das richtige oder gute Leben realisieren soll (EN I 6). Diese Strukturen stellen den letzten Grund der Normativität in Aristoteles’ Ethik dar und werden im zweiten Abschnitt des Kapitels über Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie dargestellt. b) Strukturelle Konsequenzen: Die innere Struktur des in Reflexion auf die tatsächlich vollzogene Praxis des Menschen sowie die darüber aufgestellten Endoxa gewonnenen philosophischen Wissens ist für Aristoteles wie alles Wissen nach der Verfasstheit seines Gegenstandes bestimmt. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass ethisches Wissen durch eine spezifische Ungenauigkeit und Schemenhaftigkeit ausgezeichnet ist. Hierbei hat diese Ungenauigkeit verschiedene Facetten. Erstens zeigt das Ethische selbst, das heißt „[d]as sittliche Gute [kalos] und das Gerechte [dikaion], das die politische Wissenschaft untersucht, […] solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit, dass es scheinen könnte, als ob es nur auf Konvention [nomo], nicht auf der Natur [physei] beruhe“ (1094b14– 16). Diese Veränderlichkeit der menschlichen Güter führt dazu, dass die Ethik in ihrer wissenschaftlichen Darstellung nur „grob und umrisshaft [pachylos kai typo]“ anstelle von „genau [akribes]“ vorgehen kann und lediglich beschreibt, was „meistens [hos epi to poly]“ – statt immer und unveränderlicherweise – der Fall ist (1094b13; 1094b19 – 22). Zweitens ist mit Blick auf den Top. I , b – . Cf. Top. I , a. Top. I , a – b. Cf. Top. I , b. Cf. zur Endoxa-Methode den Rhetorik-Kommentar von Christoph Rapp: Rapp (, I: – ; II: – ).
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2 Systematischer Status der Ethik
Bereich der Ethik auch nur diejenige Genauigkeit zu fordern, die dem „jeweiligen Vorhaben [methodos] entspricht“ (1098a26 – 29). Etwa betrachten der Geometer und der Zimmermann den rechten Winkel¹³ in unterschiedlicher Weise: Den Zimmermann interessiert er insofern, als er ihn für seine Arbeit braucht, den Geometer hingegen interessiert sein Wesen (ti estin) und seine Beschaffenheit (poion ti) (1098a30 – 31). Entsprechend gilt für die Ethik: Weil es ihr nicht prinzipiell auf das Wissen (gnosis), sondern auf das Handeln (praxis) ankommt (1095a5 – 6), also darauf, den Menschen gut zu machen, untersucht sie weniger die umrisshaften Wesensbestimmungen, innerhalb derer das menschliche Handeln sich vollzieht, in ihrer Begründung und ihrem Was (ti estin). Vielmehr weist sie diese prinzipiellen Bestimmungen in ihrer Gegebenheit bzw. ihrem Dass (to hoti) auf und fragt nach der Möglichkeit ihrer bestmöglichen Realisierung (1098a33–b3). Daher meint die Umrisshaftigkeit und Ungenauigkeit ethischen Wissens drittens das Verhältnis zwischen jenen durch den Ethiker zu umreißenden prinzipiellen Linien bzw. Vorbildern (hypotyposai) und den innerhalb derselben weiterhin einzuzeichnenden Konkretisierungen (anagraphzai), mit Blick auf welche mit der Zeit immer neue Formen nachgetragen werden können, wie etwa anhand des Fortschritts der Künste erkennbar wird (1098a21– 26).¹⁴ Mit dieser dritten Ebene tritt neben der Idee einer immer weiterschreitenden Ausarbeitung konkreter Handlungsanweisungen, die etwa in Gestalt der Weiterentwicklung politischer Verfassungen stattfinden kann, innerhalb des Rahmens durchaus feststehender natürlicher Bedingungen auch die Perspektive des Handelnden selbst in Erscheinung. Dieser Handelnde ist in der Lage, auf Grundlage seiner Klugheit (phronesis) in konkreten Situationen die jeweils richtige Einzelhandlung zu vollziehen. Hierbei dient ihm die Eudämonie als allgemeine, auch nach Maßgabe der Tugenden bloß unbestimmte Zielvorgabe, genauer als Fluchtpunkt (skopos) seiner Entscheidungen.¹⁵ c) Systematische Konsequenzen: In dieser Weise ist das ethische Wissen nicht mehr von einer Metaphysik der Ideenschau abhängig – gleichgültig, ob überhaupt die Existenz von Ideen anzunehmen ist oder nicht. Aristoteles’ Intention geht darauf, die im Höhlengleichnis ausgedrückte platonische Vorstellung der Einheit von theoretischem und praktischem Wissen in Gestalt einer Universalwissenschaft zurückzuweisen und stattdessen die Eigenständigkeit verschiedener partikulärer Wissenschaftstypen zu betonen.¹⁶ Dies führt dazu, dass das in der Ethik dargestellte Wissen intrinsisch auf das richtige Handeln selbst rückbezogen ist, um dessentwillen es gesucht und erworben wird. Zwar hat auch Platon die praktische Dimension des durch Ideenschau erworbenen Wissens im Blick, indem sein Entwurf darauf abzielt, „Theorie und Praxis, Philosophie und Politik zusammenfallen zu lassen, oder konkret: sie durch ein und dieselbe Figur realisieren zu wollen“.¹⁷ Jedoch führt diese damit ver
Cf. a: τὴν ὀρθήν; nicht, wie Rolfes in der Meiner-Ausgabe der EN übersetzt, die ‚gerade Linie‘. Cf. zu dieser Dreigliedrigkeit auch Wolf (, – ). Dieser Ausdruck taucht auf in II , b. Cf. hierzu den folgenden Abschnitt. Cf. Kullmann (, – ). Bien (/, ).
2.1 Philosophische Ethik bei Aristoteles
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bundene „gänzliche Vermittlungslosigkeit im Verhältnis von so verstandener philosophischer Existenz und politischer Praxis“ nicht zur „‚Versöhnung‘ von Theorie und Praxis“, sondern zur „Aufhebung beider“ zugunsten der Theorie.¹⁸ Dies wird im Höhlengleichnis deutlich durch das Moment des Zwangs, „der zunächst und primär gegen das Interesse des Philosophen […] und auf seine Kosten ausgeübt werden muss“, indem dieser nur gleichsam unter Zwang bereit ist, sich nach vollzogener Ideenschau wieder mit den Niederungen politischer Tätigkeit zu beschäftigen.¹⁹ Dagegen hat die aristotelische Ethik nicht das Wissen als solches zum Ziel, sondern zielt auf ein verbessertes Handeln ab, dessen Grundlagen sie reflektiert. Vor diesem Hintergrund ist auch Aristoteles’ Argument gegen Platons Vorgehen zu sehen, dass die Erkenntnis der Idee des Guten, sofern diese als ein abgetrennt für sich Seiendes aufgefasst wird, offenkundig für menschliches Handeln nichts austrägt, da dann „der Mensch dieses [sc. Gute] […] weder bewirken noch erwerben“ könnte; „gerade ein solches [sc. erwerbbares und bewirkbares] Gut [prakton agathon] wird aber gesucht“ (1096b31– 35). Die genannte Unabhängigkeit der aristotelischen Ethik von der Metaphysik gilt auch für die von Aristoteles in EN X diskutierte höchste Form der Eudämonie als dem Leben der Erkenntnis (bios theoretikos).²⁰ Denn auch wenn Aristoteles dessen herausragende Stellung damit begründet, dass in dieser Lebensform der Geist oder die Vernunft (nous) als das Göttliche in uns aktiv werde (1177b30), so wird doch weder das im engeren Sinne ethische (politische) Leben aus dem der Theorie gewidmeten abgeleitet, noch ist jenes bloße Vorbedingung von diesem.Vielmehr muss auch das betrachtende sich letztlich nach Bedingungen des ethischen Lebens richten, sofern der Mensch auch als Theorie treibender nicht aufhören kann, Mensch zu sein, also ein aus Leib und Seele zusammengesetztes, der politischen Gemeinschaft bedürftiges Lebewesen (1178b3– 6). Und schließlich lässt sich bei Aristoteles nicht der Versuch ausmachen, das am Ende von EN beschriebene betrachtende Leben rückwirkend auf die Untersuchung des ethischen in struktureller oder systematischer Hinsicht zurückzubeziehen, etwa indem eine nachträgliche metaphysische Begründung der anthropologisch-naturalen Prinzipien aus dem bios theoretikos heraus von Aristoteles unternommen würde. *** Man kann also zusammenfassen: Aristoteles etabliert historisch erstmals die Ethik als eine von der Metaphysik und der Naturphilosophie unabhängige und eigenständige philosophische Disziplin. Die Grundlage hierfür ist die Identifikation eines eigenen Gegenstandsbereichs, nämlich das Feld menschlichen Handelns und gelingenden Lebens, sowie eigener Prinzipien, und zwar der menschlichen Tugenden, als Unter-
Bien (/, ). Bien (/, ). Cf. Resp. d. Hier zeigt sich übrigens auch schon für den platonischen Entwurf das Problem der Vermittlung des Strebens nach eigenem Wohl (Ideenschau) mit dem nach fremdem Wohl (Rückgang in die Höhle). Cf. zur Stellung des bios theoretikos im Gesamtgefüge von EN und dessen Verhältnis zum bios politikos Wolf (, – ).
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2 Systematischer Status der Ethik
suchungsgegenstand der Ethik. Diese Eigenständigkeit bedeutet aber wie gesehen nicht, dass die Ethik nunmehr völlig losgelöst von und ohne jeglichen Bezug auf Metaphysik und Naturphilosophie wäre. Vielmehr bilden naturphilosophische – hier in dem Sinne, als sie die menschliche Natur (physis) betreffen – wie auch metaphysische Strukturen einen Rahmen, innerhalb dessen die Ethik verortet werden kann.²¹ Im nächsten Abschnitt wird deutlich werden, inwieweit dieser aristotelische Ansatz auch für die mittelalterliche Rezeption von entscheidender Bedeutung ist, ebenso aber auch, wie das Moment der christlichen Offenbarungsreligion in diese Struktur eine ganz neue Wendung einführt.
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin 1. Im Mittelalter wird die bereits für die aristotelische Ethik diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Ethik als von Metaphysik und Naturphilosophie relativ unabhängiger und eigenständiger Disziplin neu gestellt und diese Diskussion um die Dimension der auf Offenbarung²² fußenden christlichen Theologie erweitert. Letztere nämlich wird in den mittelalterlichen Entwürfen nicht als theoretische, sondern als praktische Wissenschaft verstanden und beansprucht darüber hinaus „die alleinige und umfassende Zuständigkeit für das Heil und Handeln des Menschen“, wodurch sich eine „Konkurrenzsituation“ zwischen philosophischer Ethik im aristotelischen Sinne, die ja wie gesehen dieselben Ansprüche vertritt, und Offenbarungstheologie einstellt.²³ Indem dieses Heil in Gott bzw. dessen im jenseitigen Leben vollzogener Kontemplation besteht, die durch entsprechendes diesseitiges Leben vorbereitet und verdient werden
Cf. hierzu insbesondere Müller (). ‚Offenbarung‘ (revelatio) wird im Weiteren zumeist im passiven Sinne verstanden, das heißt als eine die natürlichen Vermögen des Menschen überschreitende Erfassung von Sachverhalten, die auf das menschliche übernatürliche Heil bezogen sind und das menschliche Handeln darauf ausrichten, dagegen weniger aktivisch im Sinne der Selbstoffenbarung Gottes. Offenbarung hat . ihren Ursprung nicht in den Prinzipien der natürlichen Vernunft, sondern in Gott selbst, überschreitet somit die menschliche Vernunft und wird erfasst im Glauben (was nicht heißt, dass die geoffenbarten Inhalte ‚irrational‘ wären); . bezieht sich Offenbarung auf übersinnliche Gegenstände, dies aber . nicht wie die Metaphysik in bloß theoretischer, sondern in praktischer, das heißt hier: das Heil als die höchste Glückseligkeit des Menschen betreffender Weise. ‚Theologisch‘ im offenbarungstheologischen Sinne heißt dann eine Wissenschaft, die auf der Grundlage dieser geoffenbarten Sachverhalte, aber nicht notwendig ausschließlich auf dieser, versucht, in systematischer Form heilsrelevante Sachverhalte darzustellen und zu explizieren. Zur Frage, ob Theologie überhaupt eine Wissenschaft sein kann, und die Beantwortung dieser Frage durch Albertus Magnus cf. Möhle (, – ). Zum Wissenschaftsverständnis bei Albert, insbesondere auch hinsichtlich der Theologie, cf. auch Burger (, – ). Wieland (, ). Cf. zu den historischen Hintergründen, die besonders im . Jh. zu einer „Intensivierung der methodologischen Debatte“ hinsichtlich der Frage nach Status und Kompetenzen von Philosophie und christlicher Theologie führten, auch Möhle (, – ).
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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muss, stellt christliche Theologie zugleich eine Verbindung zwischen einer praktischen und einer spekulativen oder metaphysischen Dimension her, die einer philosophischen Ethik insbesondere aristotelischer Provenienz in dieser Weise nicht zukommt. Damit liegt also in Gestalt der mittelalterlichen Theologie der Anspruch einer Vermittlung von Praxis und Metaphysik vor, die Begrenzungen der philosophischen Ethik überschreitet.²⁴ Gleichzeitig aber beansprucht schon die aristotelische Ethik, das Ziel des menschlichen Lebens nicht nur angemessen reflektieren, sondern auch die Mittel zu dessen Erlangung in die Hand geben zu können, jedoch anders als die christliche Theologie ohne Rekurs auf die Offenbarung, sondern allein auf der Grundlage natürlicher Einsicht. Diese sich mit zunehmender mittelalterlicher Aristoteles-Rezeption immer stärker verschärfende Konkurrenzsituation hat verschiedene Versuche einer Klärung und Vermittlung erfahren,²⁵ sich jedoch schließlich im ausgehenden 13. Jahrhundert zu einer Krise zugespitzt, die dann zu der Pariser Verurteilung von 219 Thesen im Jahre 1277 geführt hat. Dieser Ausdruck „of an intellectual crisis in the university and of fundamental shifts in speculative thought and cultural perception“, der auch – obzwar ohne namentliche Nennung – Auffassungen von Thomas von Aquin betraf, führte nicht zuletzt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den aristotelischen Figuren sowie den von Albertus Magnus und Thomas versuchten Synthesen der aristotelischen Philosophie mit dem Christentum.²⁶ Die Quodlibeta von Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines, die unten untersucht werden, stehen unter dem Einfluss dieser Verurteilung. Was das Verhältnis von Philosophie bzw. Ethik und Offenbarungstheologie angeht, ist festzustellen, dass die besonders bei Thomas und Albert herausgearbeitete und im Weiteren genauer zu erläuternde relative Eigenständigkeit beider Disziplinen nach 1277 noch zunahm und beide eher stärker auseinanderdrifteten, wie dies etwa bei Gottfried von Fontaines beobachtet werden kann: „As regards the late thirteenth century, it is true that in his quodlibetal questions Godfrey of Fontaines expressed a sharp, nearly unbreachable gap between demonstrable philosophical and probable theological reasoning“.²⁷ 2. Diese komplizierte Konstellation von philosophischer Ethik, christlicher (Offenbarungs‐)Theologie und Metaphysik ist im Folgenden für die in der vorliegenden Studie im Zentrum stehenden Entwürfe von Albertus Magnus und Thomas von Aquin
Cf. Kluxen (, XXXIII – XXXIV). Einer der ersten findet in der Summa Halensis statt. Hier wird versucht, die Philosophie – anders als bei Thomas und Albert – als nur vorläufige Propädeutik zur Theologie als eigentlicher Wissenschaft zu konzipieren. Demgegenüber versuchen Thomas und Albert, „innerhalb eines auch für die Theologie zutreffenden Verständnisses von Wissenschaft zwischen verschiedenen Disziplinen zu differenzieren, sodass die Theologie eine Wissenschaft neben anderen wird“ (Möhle [, ]; cf. auch Möhle [, – ] zur Rolle der Summa Halensis). Emery und Speer (, ). Cf. zur Sache auch Flasch (Hg.) (). Cf. zu den Hintergründen überdies de Libera (, Kap. ). Emery und Speer (, ; ).
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2 Systematischer Status der Ethik
eingehender zu entwickeln.²⁸ Es wird sich zeigen, dass beide Autoren die Möglichkeit einer genuin philosophischen, das heißt von der Metaphysik wie auch der (Offenbarungs‐)Theologie relativ²⁹ unabhängigen Ethik annehmen; entsprechend kann diese genuine Ethik herausgearbeitet werden.³⁰ Wie sich schon angedeutet hat und sich noch genauer zeigen wird, ist diese ausdrückliche Herausarbeitung hierbei deswegen vonnöten, weil die Eigenständigkeit der philosophischen Ethik nicht schon unbedingt als solche von den mittelalterlichen Autoren präsentiert wird, sondern insbesondere bei Thomas von Aquin als ein integratives Moment einer theologischen Synthese fungiert, in der die eigentlich philosophischen Gehalte bereits durch eine theologische Perspektive transformiert sind.³¹ Ähnlich verhält sich dies bei Albert, bei dem das Bewusstsein eines unterschiedlichen systematischen Status von christlich-theologischen und philosophischen Reflexionen auch schon vor Rezeption der EN nachweisbar ist.³² Indem die vorliegende Studie sich als philosophische Arbeit versteht, ist es vor dem Einstieg in die Interpretation der mittelalterlichen Entwürfe unabdingbar, sich mit Hilfe dieser beiden Exkurse zu Albert und Thomas über den philosophischen (im Unterschied zum theologischen) Gehalt ihrer Naturrechts- und Gerechtigkeits Für Thomas hat dies bekanntlich insbesondere Wolfgang Kluxen geleistet, auf den sich das Folgende wesentlich bezieht. Cf. zur Einschätzung der Bedeutung Kluxens für die Thomasforschung Aertsen (, ). Cf. auch Bormann (, ): „Mit dem Aufweis derart irreduzibler Autonomie der ratio practica gegenüber einer offenbarungstheologisch konzipierten Gotteslehre einerseits sowie einer spekulativen Metaphysik andererseits hat Kluxen nicht nur einen gewichtigen Beitrag zur Rehabilitierung der thomanischen Lehre von der praktischen Vernunft geleistet, sondern zugleich einer Interpretation den Boden entzogen, die in Thomas den Kronzeugen einer starren Moralaxiomatik erblicken zu dürfen glaubte, deren Herzstück traditionell in einer metaphysisch begründeten Naturrechtslehre bestand.“ Cf. auch Hödl () sowie neuerdings Spindler (, – ). Eine ähnliche Sicht auf Thomas’ Ansatz vertreten u. a. McInerny () und Elders (). Für Albertus Magnus einschlägig ist insbesondere die Arbeit von Müller (). Müller (, ) etwa konstatiert der Philosophie als solcher sowie der philosophischen Ethik im Besonderen in Alberts Verständnis eine „zumindest im methodischen Sinne gegebene Autonomie“, die eine „von theologischen Bezügen und Vorgaben freigehaltene Untersuchung sowohl der natürlichen Moral als auch der philosophischen Ethik“ ermöglicht. Dies ist unterdessen Konsens innerhalb der Forschung. Cf. zu dieser Einschätzung neuerdings auch Cunningham (, ): Albert entwickelt eine „robust vision of the human being’s natural moral capacity, of our ability to attain to levels of moral perfection distinct from – but not in opposition to – man’s supernational destiny.“ Kontrovers wird dagegen die Reichweite einer solchen Ethik sowie insbesondere für Thomas diskutiert, ob denn die Theorie des Naturgesetzes (lex naturalis) zur Ethik oder zur Moraltheologie gehört. Cf. hierzu unten den Beginn des Thomas-Kapitels, wo diese Fragen besprochen werden. Cf. Kluxen (, XXX): „Der Thomismus als Ganzes ist eine ‚Synthese‘ ganz eigentümlicher Struktur, in welcher der durchgehend maßgebliche Zusammenhang der theologischen Ordnung Elemente philosophischer Herkunft in sich zieht, die doch ihren Bezug auf die eigene Sinnebene und somit Eigenrecht und Eigenbedeutung behalten.“ Grundlage hierfür ist die Parallelisierung der natürlicherweise (das heißt ohne göttliche Offenbarung) einsichtigen Prinzipien der theoretischen Vernunft mit denen der praktischen, die bereits von Wilhelm von Auxerre in der Summa aurea (l. tr. c. q., ) vorgenommen und von Albert und Thomas übernommen wurde. Cf. hierzu Ernst (, – ).
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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theorien vorab zu vergewissern.³³ Wichtig ist jedoch noch einmal der ausdrückliche Hinweis, dass im Folgenden unter ‚Theologie‘ in der Regel ‚Offenbarungstheologie‘ verstanden wird; oftmals wird daher auch der entsprechende Zusatz ‚Offenbarungs-‘ verwendet werden. Zu unterscheiden wäre diese Theologie von einer philosophischen Theologie, die auch schon in der Philosophie Aristoteles’ vorzufinden ist, jedoch nicht auf Offenbarung, sondern auf durch die natürliche Vernunft einsichtige Prinzipien rekurriert und der Metaphysik zuzurechnen ist. 3. Albertus Magnus: Albert verfolgt in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen das Ziel, die Kompetenzbereiche der verschiedenen philosophischen Disziplinen und die Theologie strikt voneinander zu trennen.³⁴ Dabei unterscheiden sich Philosophie und (Offenbarungs‐)Theologie für ihn hauptsächlich in folgenden Hinsichten:³⁵ a) Theologie und Philosophie haben ein unterschiedliches Formalobjekt:³⁶ Philosophie hat als Naturphilosophie und Mathematik das konkrete Seiende (ens particulare) oder als Metaphysik bzw. Ontologie das Seiende als Seiendes (ens inquantum ens) zum Gegenstand. Dagegen ist das zu Genießende (fruibile) Gegenstand der Theologie, das heißt diejenige Hinsicht auf die Dinge, unter der sie einen Bezug auf Gott als dem letztlich beseligenden Ziel des Lebens innehaben. Diese Unterscheidung betrachtet somit die Philosophie als theoretische, dagegen die Theologie als praktisch ausgerichtete Disziplin. b) Entsprechend unterscheiden sich Philosophie und so verstandene Theologie auch hinsichtlich ihrer Zielausrichtung. Philosophie als theoretische Disziplin sucht das Wissen um seiner selbst willen und vollendet sich in Gestalt der Metaphysik, wohingegen die Theologie auf Glückseligkeit in Gestalt der Vereinigung mit Gott abzielt.³⁷ – Diese ersten beiden Unterscheidungen aber sind noch nicht hinreichend, um Theologie und Philosophie befriedigend voneinander zu trennen. Denn erstens ist auf diese Weise die Theologie zwar von der theoretischen, aber noch nicht von der praktischen Philosophie abgegrenzt worden, die ja ebenfalls kein Wissen als Selbstzweck verfolgt. Und zweitens ist Gott auch in der Philosophie Gegenstand, nämlich in der Metaphysik, sodass also auch in dieser Hinsicht noch ein zusätzliches Differenzierungskritierium vonnöten ist. c) Ein solches weiteres Unterscheidungskriterium sind die unterschiedlichen Ausgangsprinzipien beider Disziplinen. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist Albert wie Aristoteles (und Avicenna) davon überzeugt, dass die Philosophie von natürlicherweise bekannten Prinzipien (principia per se nota) ausgeht, die die Basis ihrer Schlussfolgerungen darstellen. Diese Prinzipien sind allen
Bei Philipp dem Kanzler ist die Sachlage hier insofern anders, als zumindest seine Behandlung der Gerechtigkeit in der Summa de bono ganz ausdrücklich eine theologische ist (cf. Summa de bono : „De bono autem intendimus principaliter quoad ad theologiam pertinet.“ Cf. hierzu auch Wicki [, – ], und Ernst [, – ]). Deshalb dient seine Gerechtigkeitstheorie im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch als Kontrastfigur und hat daher eine ähnliche Funktion wie der Exkurs zur Stoa und zu Augustinus. Ernst (, ). Ich folge hier weitgehend der einschlägigen Studie von Jörn Müller (Müller []). Cf. auch Cunningham (). Möhle (, ): „Nicht als eine höhere Form des Erkennens, sondern als eine Disziplin, die einen anderen Gegenstand betrachtet, unterscheidet sich die Theologie [bei Albert] von anderen Wissenschaften.“ Müller (, ).
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2 Systematischer Status der Ethik
Vernunftwesen allgemein natürlicherweise zugänglich und, da sie ihrerseits die Grundlage aller Beweise sind, selbst unbeweisbar.³⁸ Im Bereich der Ethik sind dies, wie weiter unten noch ausführlich dargestellt werden wird, die Prinzipien des Naturrechts (ius naturale) bzw. des Naturgesetzes (lex naturalis).³⁹ Dagegen sind die Prinzipien bzw. moralischen Vorschriften der Offenbarungstheologie, wie der Name bereits sagt, geoffenbarte Prinzipien, das heißt sie werden von Gott dem menschlichen Geist durch eine übernatürliche Erleuchtung aufgrund göttlicher Gnade eingestrahlt. Hieraus ergibt sich für Albert zugleich eine grundlegende methodische Differenz beider Disziplinen. Die Philosophie, so hält Albert im Anschluss an Aristoteles’ Analytica posteriora fest, nimmt ihren Ausgang entweder von der sinnlichen Wahrnehmung (als für uns bekannterem Prinzip) und erschließt deren Ursachen (als an sich bekannteren Prinzipien) durch die Methode der Induktion; oder sie beginnt nachträglich bei jenen induktiv entdeckten Prinzipien und verwendet sie als Anfangspunkt für deduktive syllogistische Schlüsse. Albert verbindet diese Bestimmungen mit der neuplatonischen Vorstellung eines stufenweisen Aufstiegs der Erkenntnis vom Bereich des Sinnlichen bis hin zu den intelligiblen Gegenständen der Metaphysik. Auf diesem Wege besteht dann die Möglichkeit, auch das Feld der natürlichen Moral im Ausgang von deren letzten natürlichen Prinzipien systematisch nachträglich metaphysisch zu überschreiten, indem man fragt, welcher metaphysisch-ontologische Status etwa einer Handlung oder dem Guten zukommt, ohne dass dies umgekehrt bedeuten würde, dass deshalb die Ethik als philosophische Disziplin deduktiv aus der Metaphysik abgeleitet werden müsste, um für ihre Sätze und Urteile wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen zu können. Das Vorgehen der Philosophie ist also entweder induktiv oder deduktiv, in jedem Fall aber rational-diskursiv (‚ratiozinativ‘) und syllogistisch. Demgegenüber hat die Theologie für Albert,wie Jörn Müller es ausdrückt, „einen deutlich intuitiven Einschlag“, indem hier der Intellekt durch das göttliche Licht der Offenbarung gleichsam überwältigt wird, statt dass ein Prozess des Urteilens oder Abwägens vorläge.⁴⁰ Entsprechend weisen die (Offenbarungs‐)Theologie und die Philosophie unterschiedliche Geltungsreichweiten auf. Die wissenschaftlichen Beweise der Philosophie gelten aufgrund dessen, dass sie letztlich auf natürlichen Prinzipien beruhen, für alle Menschen gleichermaßen. Demgegenüber sind die geoffenbarten theologischen Glaubensprinzipien nur den Auserwählten, die sie gnadenhaft empfangen haben, einsichtig. d) Hieraus resultiert ein unterschiedlicher Gewissheitsgrad in beiden Disziplinen, wobei Albert erneut auf aristotelische Bestimmungen zurückgreift. Das philosophische Wissen bezieht sich,wie bereits erwähnt, hinsichtlich seiner materialen Erkenntnisse in seinem Ausgang von der Wahrnehmung auf das,was für uns bekannter ist (quoad nos), und versucht,von dort durch Erschließen bzw. Freilegen zu den allgemeinen Prinzipien als zu demjenigen fortzuschreiten, was an sich oder schlechthin bekannter (simpliciter) ist. Weil dieses Fortschreiten jedoch induktiv ist und somit immer zunächst des Ausgangs beim für uns Gewissen bedarf, das aber gemessen am an sich selbst Bekannten das weniger Gewisse ist – weil also für Albert nicht die an sich bekannten Prinzipien schon auch immer von uns intuitiv erfasst sind, sondern zu ihnen erst vorgedrungen werden muss,⁴¹ verbleibt die Philosophie letztlich im Bereich des nur für uns Gewissen. Anders gesagt,
Müller (, ). Diese Prinzipien werden im natürlichen Habitus der sogenannten ‚Synderesis‘ vom Handlungssubjekt gehabt. Hierzu mehr weiter unten. Wie schon oben erwähnt, rekurriert Albert bei dieser Parallelisierung von theoretischen und praktischen Vernunftprinzipien, die später Thomas aufgreifen wird, insbesondere auf die Summa aurea. Müller (, ). Dies impliziert jedoch keinen Widerspruch zwischen natürlicher Vernunft (ratio naturalis) und Glauben, indem letzteter nicht als contra rationem, sondern vielmehr als supra rationem beschrieben werden muss. Dies wird weiter unten noch eingehender für die Prinzipien des Naturrechts (ius naturale) gezeigt.
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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bleibt es für uns stets problematisch, ob das, was wir (‚für uns‘) induktiv als schlechthin Bekannteres herauspräpariert haben, auch tatsächlich das schlechthin Bekanntere ist. So bleiben philosophische Erkenntnis mit dem Makel ihres Urspungs behaftet. Da dagegen die geoffenbarten Prinzipien der Theologie direkt von Gott stammen, also nicht erst induktiv erschlossen werden müssen, sind ihre Inhalte nicht nur für uns, sondern auch schlechthin gewiss. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht weiteren Nachdenkens und zuletzt der Theologie bedürften, um hinsichtlich ihrer Inhalte einsichtiger expliziert zu werden. Aber anders als die philosophischen materialen Prinzipien ist im Glauben an die geoffenbarten Sätze die Gewissheit enthalten, dass sie nicht aus unserer Erfahrung abstrahiert worden sind, sondern direkt von Gott selbst stammen.⁴² – Wie sich unten zeigen wird, scheint Thomas hier von seinem Lehrer insofern abzuweichen, als er die These vertritt, dass die praktischen Prinzipien des Naturgesetzes (lex naturalis) sowohl Gewissheit für uns als auch schlechthinnige Gewissheit beanspruchen können, obwohl sie bloß natürlich, das heißt nicht durch göttliche Gnade geoffenbart sind.⁴³ e) Auch in vermögenspsychologischer Hinsicht, also mit Blick auf das Seelenvermögen, dem Theologie bzw. Philosophie als Habitus zugehören, gibt es signifikante Unterschiede. Dies ist für die vorliegende Studie zwar weniger von systematischer Bedeutung, sei aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt. Die theoretische Philosophie hat ihren Ort im spekulativen Intellekt. Dagegen verortet Albert die Theologie in einem Vermögen, das er ‚affektiven Intellekt‘ (intellectus affectivus) nennt und vom spekulativen praktischen Intellekt unterscheidet. Denn der affektive Intellekt ist, anders als der theoretische, auf Handlungen ausgerichtet und damit praktisch. In dieser Bezogenheit der Wahrheiten des christlichen Glaubens auf den affektiven Intellekt konstituiert sich für Albert die Einheit der Theologie als Wissenschaft.⁴⁴ Entsprechend kennzeichnet Albert die Theologie als ‚scientia affectiva‘, als ‚affektive Wissenschaft‘.⁴⁵
Kurz: Offenbarungstheologie und theoretische Philosophie unterscheiden sich a) hinsichtlich des Formalobjekts (das zu Genießende/das Seiende), b) hinsichtlich ihrer Zielperspektive (Glückseligkeit/Wissen), c) mit Blick auf die Ausgangsprinzipien (gnadenhaft eingegossene gewisse Einsichten/natürliche, durch sich bekannte Grundsätze) und d) den damit verbundenen Gewissheitsgrad (schlechthin gewiss/ [nur] für uns gewiss), und schließlich e) in Hinblick auf das zuständige Seelenvermögen (affektiver Intellekt/theoretischer Intellekt).
Cf. Müller (, ). Dies ist eine Facette des Streits, der innerhalb der Forschung um den Status des thomasischen Naturgesetzes als Prinzipienstruktur aller Sittlichkeit entbrannt ist: Handelt es sich dort, wo Thomas nicht nur offenbar rein formale Strukturen, sondern auch inhaltliche naturgesetzliche Vorschriften artikuliert – die dann etwa den Geboten des Dekalogs entsprechen –, noch um eine philosophische oder bereits um eine (offenbarungs‐)theologische Rede? Cf. hierzu unten am Beginn des ThomasKapitels. Cf. Hoye (, ).Vor diesem Hintergrund kritisiert Albert Thomas’ Auffassung, dass die Einheit der Theologie dadurch gewährleistet sein soll, dass sie sich immer mit geoffenbarten Wahrheiten, dem ‚revelabile‘, beschäftige. Cf. hierzu auch Kluxen (, – ). Eine ‚scientia affectiva‘ ist die Theologie nicht in dem Sinne, dass sie nur auf den Willen oder den Affekt statt den Intellekt bezogen wäre, was „schon lexikalisch-semantisch unsinnig [wäre], da ›scientia‹ ihren Ort notwendigerweise im ›intellectus‹ hat“; vielmehr bedeutet diese Charakterisierung „gerade die Einbeziehung des ›affectus‹ und seines höchsten Ziels, Gottes als Ziels der Liebe, in die Erkenntnisaktivität.“ Senner (, – ).
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2 Systematischer Status der Ethik
Allerdings sind mit diesen Unterscheidungskriterien noch nicht alle Probleme einer Differenzierung zwischen Philosophie und Theologie aus dem Wege geräumt. Denn zwar kann Philosophie als theoretische, insbesondere als Metaphysik, schon allein deswegen nicht in ein Konkurrenzverhältnis zur christlichen Theologie treten, weil sie mit dieser nicht den letztlich praktischen, aufs menschliche Heil bezogenen Fokus teilt.⁴⁶ Genau dies aber ist bei der Ethik als praktischer Philosophie der Fall. Da umgekehrt Theologie als Moraltheologie den Anspruch erhebt, auch schon das diesseitige Handeln des Menschen mit Blick auf jenes jenseitige Leben, das sich der Kompetenz der philosophischen Ethik entzieht, auszurichten, und dabei weiterhin beansprucht, das höhere Ziel als die Ethik zu avisieren, ergibt sich das Problem, „welche Art von Normativität die philosophische Ethik in einem solchen Modell überhaupt noch besitzen kann.“⁴⁷ Es scheint, dass in einer solchen Konstellation der philosophischen Ethik in der Konsequenz keinerlei Eigenständigkeit gegenüber der Offenbarungstheologie zukommen kann. Jedoch versucht Albert, genau diese Schlussfolgerung zu umgehen. Die wichtigsten Unterscheidungskriterien zwischen Offenbarungstheologie und Ethik, die zugleich die relative Eigenständigkeit der Ethik garantieren sollen, sind hierbei die zwischen natürlichen und eingegossenen Tugenden (virtutes naturales und virtutes infusae) sowie den beiden verschieden Arten von Glückseligkeit (diesseitig und jenseitig), die durch diese unterschiedlichen Tugenden erreicht werden können.⁴⁸ Es ergibt sich somit im Bereich der Tugendlehre eine Unterscheidung zwischen dem Ursprung und der Zielperspektive der verschiedenen Tugenden. Ursprung: Während die theologischen Tugenden durch göttliche Eingießung (infusio) gewonnen werden, werden die natürlichen bzw. ethischen Tugenden durch gewohnheitsmäßiges Handeln (assuetudo) erworben. Ziel: Die theologischen Tugenden haben Gott als höchstes und letztes Ziel der menschlichen Glückseligkeit (beatitudo) zum Ziel, während die ethischen Tugenden lediglich auf diesseitige Güter und die im hiesigen Leben zu erreichende Glückseligkeit (die dann auch terminologisch von der beatitudo unterschieden wird, indem Albert sie mit dem Ausdruck ‚felicitas‘ bezeichnet) abzielen. Darüberhinaus teilt die Ethik mit der sonstigen Philosophie das oben herausgestellte Eigenständigkeitskriterium einer spezifischen Verfahrensweise.⁴⁹ Die Ethik hat also mit dem Gebiet der diesseitigen, auf natürlichen Prinzipien beruhenden Moralität einen ihr relativ eigentümlichen Gegenstandsbereich, den sie
Entsprechend ist diesem Verständnis nach die philosophische Theologie, die man später der metaphysica specialis zurechnen wird und die ebenfalls Gott thematisiert, nur theoretischen, nicht aber praktischen Inhalts. Müller (, ). Zu den unterschiedlichen Arten von Tugenden cf. etwa De bono [], – ; zu den unterschiedlichen Arten von Glückseligkeit De bono [], – . Cf. hierzu auch die Ausführungen von Stammkötter (), bes. Abschn. und . – Diese Unterscheidung wird u. a. von Thomas von Aquin wieder mit demselben Zweck einer Trennung von Theologie und Ethik aufgegriffen. Cf. Müller (, ).
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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wissenschaftlich untersucht. Gleichzeitig weisen Offenbarungstheologie und Ethik (praktische Philosophie) starke Parallelen auf, nämlich erstens die praktische Ausrichtung (auf Handlung und gelingendes Lebens), mit der sich beide von der Metaphysik sowohl unterscheiden, als sie auch deren Ergebnisse für ihre jeweilige praktische Intention verwenden können, und zweitens eine Art epistemologischen Zwischenstatus, der daraus resultiert, dass beide Disziplinen universale Prinzipien mit der Ausrichtung auf ein besonderes Ziel, die Glückseligkeit, und jeweils konkrete Handlungen verbinden.⁵⁰ Trotz dieser Bemühungen jedoch scheint in einigen Hinsichten das Verhältnis von christlicher Theologie und philosophischer Ethik bei Albert nicht letztgültig geklärt zu sein.⁵¹ Einige Passagen sprechen dafür, dass es allein der christlichen Theologie zukommt, als scientia affectiva die Differenz von Jenseitsbezug und Handlungsleitung zu überwinden, während im Bereich der Philosophie genau jene Grenze bestehen bleibt, was sich darin ausdrückt, dass Metaphysik und Ethik zwei eigenständige Disziplinen darstellen.⁵² An anderen Stellen scheint dies jedoch weniger klar zu sein. So erwecken Alberts Ausführungen bisweilen eher den Eindruck, dass bereits die Ethik zumindest in Ansätzen die genannte Differenz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden in der Lage ist, wenn er z. B. festhält, dass auch die Ethik aufgrund ihres Bezugs auch auf die vita contemplativa in der Lage sei, Intellekt und Affekt zu vervollkommnen.⁵³ Unklarheiten blieben auch hinsichtlich der Fragen bestehen, ob die christliche Theologie die Ethik voraussetze oder nicht und wie genau der autonome Status der Ethik, so man ihn für erwiesen erachtet, und ihr Verhältnis zur Theologie zu deuten ist. Martin J. Tracey hat hierbei mit Blick auf den für vorliegende Studie ausgewählten ersten Ethikkommentar herausgearbeitet, dass beim Vergleich von „theological and philosophical doctrines“ beide sich „neither complementary nor contradictory“ zueinander verhalten, sondern „rather incommensurable“ sind, also unvermittelt nebeneinanderstehen – was, wie gesehen, den Intentionen Alberts zuwider läuft: „Philosophical discourse about human actions contradicts theological discourse at points, because its final and efficient causes – their ultimate ends and the means by which they are realized – differ.“⁵⁴ Es geht in der vorliegenden Studie nicht darum, diese Schwierigkeiten auflösen zu wollen, zumal fraglich ist, ob eine solche Auflösung gelingen kann. Zu zeigen war lediglich, dass und wie Albert den Versuch unternimmt, christliche Theologie und philosophische Ethik systematisch zu unterscheiden und zugleich aufeinander zu beziehen und dass hierbei zugleich innere Spannungen zutage treten – Spannungen,
Cf. Müller (, ). Cf. Müller (, – ). Cf. Müller (, ). Cf. SE VI lect. , , – . Siehe hierzu auch die Einschätzung von Müller (, ). Tracey (, ). Zitiert nach Müller (, ).
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2 Systematischer Status der Ethik
die sich auch bei der Behandlung der Gerechtigkeit durch Albert zeigen werden, ebenso aber auch bei Thomas’ Versuch einer Synthese von Theologie und Ethik.⁵⁵ 4. Thomas von Aquin: Thomas greift viele der von Albert entwickelten Strukturen zum wissenschaftlichen Status von Philosophie und Offenbarungstheologie und deren Unterscheidung auf und entwickelt sie weiter. Das eben Ausgeführte kann daher weitestgehend auch für Thomas vorausgesetzt werden. Seit den maßgeblichen Arbeiten von Wolfgang Kluxen hat sich innerhalb der Thomasforschung hierbei die Auffassung durchgesetzt, dass Thomas’ Entwurf als eine ‚theologische Synthese‘ beschrieben werden kann.⁵⁶ Dieser Ausdruck soll darauf hinweisen, dass zwar sehr wohl – wie in der älteren Thomasforschung angenommen – philosophische Strukturmomente innerhalb der insgesamt theologischen Perspektive des thomasischen Entwurfs auftreten, aber so, dass – wie die spätere Deutung zu zeigen versucht hat – ihr genuin philosophischer Sinn in einen theologischen Gesamtzusammenhang eingefügt und daher „nicht unmittelbar abhebbar“ ist: „Ordnungsverhältnisse in der Synthese haben zunächst eindeutig theologischen Sinn.“⁵⁷ Dies betrifft nicht nur die Metaphysik, sondern ganz besonders bzw. noch mehr die Ethik. Metaphysische (und im philosophischen Sinne theologische) Thesen lassen sich von genuin offenbarungstheologischen auch bei Thomas wie schon bei Albert nicht zuletzt so unterscheiden, dass die metaphysische Betrachtung wie alles menschliche Erkennen bei der Welt ihren Anfang nimmt und von dort aus versucht, durch Analyse der vorfindlichen Sachverhalte zur Erkenntnis Gottes als deren Prinzip vermittels Induktion und Abstraktion fortzuschreiten. Dagegen beginnt die Offenbarungstheologie bei Gott selbst und geht von dort zum Verständnis der Welt über, genauer zur Erkenntnis der konkreteren Bestimmungen und Hintergründe menschlichen Handelns, der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge und von dort aus des eigentlichen letzten Ziel des menschlichen Lebens.⁵⁸ So ist etwa die Tugend der caritas und deren Behandlung deshalb als theologisch zu kennzeichnen, weil die caritas als eingegossene Tugend in dem dreifachen Sinne von ‚Gott zum Objekt habend‘, ‚von Gott prinzipiiert‘ und von
Es waren nicht zuletzt diese Spannungen, die dann später bis zu den Verurteilungen von geführt haben. Cf. Kluxen (, XXX). Die frühere Thomasinterpretation hatte gemeint, die philosophischen Versatzstücke in Thomas’ Texten ebenso wie die Grundkomponenten zu einer Metaphysik problemlos aus den thomasischen Texten gleichsam herausklauben zu können (zu beobachten etwa in der einschlägigen Studie von Wittmann [] = unv. Nachdruck von Wittmann []). Dieses Vorgehen wurde jedoch von einer späteren Deutung in Zweifel gezogen und dagegen, insbesondere unter dem Titel ‚christliche Philosophie‘, der durchgängig (offenbarungs‐)theologische Sinn der thomasischen Erwägungen hervorgehoben (so etwa bei Etienne Gilson und im Thomismus Jacques Maritains). Für die neuere und neueste Thomasforschung ist jedoch Wolfgang Kluxens Deutung maßgeblich geworden. Kluxen (, XXXII–XXXIII). Cf. auch Hibbs (, xiii): „Aquinas distinguishes between metaphysics in its original sense, as a part of philosophy, and metaphysics as part of theology. In the latter sense, metaphysics is an ancillary discipline to theology; its principles at once aid in the articulation of theological claims and are also considerably deepened by the more penetrating insights into being provided by revealed truth.“
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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‚durch göttliche Offenbarung übermittelt‘ als theologische Tugend ausgewiesen ist.⁵⁹ Man erkennt hieran also den Einfluss Alberts auf Thomas. Dieser wird ebenfalls daran deutlich, dass auch für Thomas die Ethik mit der Offenbarungstheologie die prinzipiell praktische Stoßrichtung teilt, nämlich die Frage nach dem gelingenden Leben bzw. der Glückseligkeit. Zugleich hat auch hier die Offenbarungstheologie vor der Ethik als praktischer Philosophie den Vorzug, nicht mittels empirisch begründeter Abstraktionen vorgehen zu müssen, sondern mit dem übersinnlichen und zugleich konkreten Prinzipien beginnen zu können. Wie für Albert ergibt sich daraus für Thomas aber nicht die Konsequenz einer völligen Unterordnung der Philosophie unter die Theologie. Vielmehr ist auch Thomas der Auffassung, dass die Ethik eine relativ eigenständige Wissenschaft darstellt: relativ eigenständig deshalb, weil bereits die Ethik selbst ohne Rekurs auf offenbarungstheologische Inhalte wahre Sätze enthält; relativ eigenständig, weil diese Sätze ihrerseits, ohne zwar ihren Wahrheitswert dort zu verlieren, gänzlich in die ‚theologische Synthese‘ integriert werden können.⁶⁰ Auch in der Begründung dieser relativen Eigenständigkeit der Ethik sowie der Philosophie überhaupt als philosophischer Wissenschaft folgt Thomas weitestgehend Albert. So glaubt auch Thomas den Grund für die Eigenständigkeit der Ethik darin finden zu können, dass es neben dem vollendeten Glück (beatitudo perfecta), welches in der jenseitigen Schau Gottes besteht und Gegenstand der Theologie ist, auch das ‚irdische‘ unvollkommene Glück (beatitudo imperfecta) des Menschen gibt, dessen Prinzipien und Momente Gegenstand der Ethik sind.⁶¹ Die Unvollkommenheit dieser letztgenannten Form von Glück als eigentümlicher Vollendung menschlichen Seinkönnens im irdischen Zustand zeigt sich für Thomas hierbei bereits daran, dass irdisches menschliches Seinkönnen in zwei Lebensweisen vervollkommnet werden kann, nämlich als aktives und kontemplatives Leben, die beide jedoch einander disparat gegenüberstehen und die auch nicht zugleich realisiert werden können.⁶² Daher ist Metaphysik als einer der möglichen Gegenstände des kontemplativen Lebens auf dasjenige gerichtet, was ist, wohingegen die Ethik auf dasjenige geht, was der Mensch in seinem Handeln erst realisieren soll. Dass Metaphysik und Naturphilosophie als theoretische (spekulative) Wissenschaften und Ethik einander irreduzibel gegenüberstehen, solange sie nicht innerhalb der theologischen Synthese vermittelt werden, bedeutet aber nicht, dass Metaphysik und Naturphilosophie überhaupt keinen Bezug zur Ethik oder deren Gegenstand, der menschlichen Praxis, gewinnen könnte.Vielmehr kann einesteils diese Praxis selbst in ihrem Sein Gegenstand einer von Kluxen so genannten „Metaphysik des Handelns“
Cf. Sth I – II q. a. c. Kluxen (, XXXII). Als allgemeinste Prinzipien und damit zugleich als letzte Grundlage für die Konstitution einer philosophischen Ethik fungieren hierbei die Prinzipien des Naturgesetzes (lex naturalis). Cf. Spindler (, – ). Kluxen (, XXXVIII).
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2 Systematischer Status der Ethik
werden.⁶³ Weiterhin können naturphilosophische Grundeinsichten, etwa über die Grundverfassung der menschlichen Seele, dem Ethiker als Hintergrund seiner Bestimmungen dienen können, wie dies in gewisser Weise auch bei Aristoteles in EN I 13 zu beobachten ist. Überdies können auch metaphysische Erkenntnisse praktische Bedeutsamkeit gewinnen, ohne deswegen unmittelbar handlungsleitend zu sein, indem sie etwa die Einordnung praktischen Wissens in eine ihrerseits vom Menschen nicht bewirkbare – und eben insoweit nicht praktisch aufgegebene – Ordnung erlauben. Und drittens kann das Betreiben von Metaphysik und Naturphilosophie selbst insofern als ein Moment der Praxis betrachtet werden, als es als vita contemplativa selbst ein menschliches Verhalten bzw. eine menschliche Lebens- und somit Vervollkommnungsform (eben als vita contemplativa) darstellt und damit, obzwar die erkannte Ordnung selbst nicht auf-, sondern vorgegeben ist, seinerseits die Erfüllung eines menschlichen Seinkönnens darstellt. Wie bereits angedeutet, wird die dem ‚irdischen‘ Dasein des Menschen entsprechende Dopplung von metaphysischer und ethischer Perspektive und die Unabhängigkeit beider voneinander wiederum in der Theologie innerhalb eines einheitlichen Horizonts aufgehoben. Denn indem Theologie bei Gott auf der Grundlage geoffenbarter Glaubenswahrheiten ihren Ausgang nimmt, ist es ihr möglich, eine übernatürliche Vervollkommnung des Menschen in den Blick nehmen, die der Philosophie aufgrund ihrer Angewiesenheit auf natürliche Erkenntnisprinzipien und die ihr eigentümliche Zurückweisung von Glaubenssätzen als Grundlage der Reflexion verwehrt ist. Diese Momente natürlichen metaphysischen oder ethischen Wissens bestehen auch innerhalb der theologischen Synthese fort, können aus dieser herausgehoben und zum Gegenstand einer eigenen Betrachtung gemacht werden.⁶⁴ Diese von Thomas versuchte Synthese wurde bekanntlich bereits schon bald infrage gestellt.⁶⁵ Dies hat auch systematische Gründe, die ähnlich liegen wie bei Albert. Waren wie gesehen bei Albert die Kompetenzbereiche von christlicher Theologie und philosophischer Ethik nicht letztgültig klar abgegrenzt, so ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten auch für Thomas, hier insbesondere wie schon oben erwähnt für die Frage nach dem Status des Naturgesetzes (lex naturalis): Ist es im dargestellten Sinne (offenbarungs‐)theologisch zu deuten oder ‚natürlich‘, das heißt kann es überhaupt und wenn ja, wie weit als Basis dienen für die Konzeption einer philosophischen, von der Theologie relativ unabhängigen Ethik?⁶⁶ Im Weiteren werden diese Probleme im Blick gehalten.
Cf. Kluxen (, – ; XLII). Cf. Kluxen (, ). Cf. die obigen Anmerkungen zu den Verurteilungen von . Cf. für eine allgemeine Übersicht über die kritischen Reaktionen auf Thomas, besondere aus den Reihen der Franziskaner und hier besonders von Duns Scotus, Rohls (, – ). Kluxen selbst hat bezeichnenderweise in seiner wegweisenden Studie gerade nicht das Naturgesetz, sondern insbesondere die Tugenden als diejenigen natürlichen Grundprinzipien herausgearbeitet, die innerhalb der thomasischen theologischen Synthese als Ausgangspunkte einer genuin
2.2 Philosophische Ethik bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin
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Zugleich wird der Anspruch von Albert und Thomas ernst genommen, einer philosophischen Ethik eine relative systematische und objektive Eigenständigkeit einzuräumen, auch wenn dieser Anspruch auf lange Sicht auf Schwierigkeiten stoßen sollte.
philosophischen Ethik dienen können. Wie oben erwähnt, vertritt etwa Spindler eine andere Auffassung (Spindler [, – ]). Cf. hierzu unten die Ausführungen am Beginn des Thomas-Kapitels.
3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V Die Funktion dieses Kapitels zur Gerechtigkeitstheorie¹ des Aristoteles ist die Erarbeitung der Grundzüge und wesentlichen Strukturen und der damit verbundenen Schwierigkeiten des in der vorliegenden Studie untersuchten Problemfeldes anhand der von Aristoteles selbst entwickelten begrifflichen und systematischen Konstellation. Die folgenden Darlegungen werden daher zunächst einen stärker referierenden als problematisierenden Charakter aufweisen. Am Beginn des Kapitels wird die rudimentäre Seelenlehre der EN betrachtet, die hier als allgemeine, der aristotelischen Ethik schematisch zugrunde liegende Anthropologie gedeutet wird, und das Verhältnis von darauf basierenden anthropologischen und strebenstheoretischen Grundbegriffen wie Eudämonie und Tugend zu stärker handlungstheoretischen Momenten wie Klugheit (phronesis), Willentlichkeit (hekon) und Willenswahl oder Entscheidung (prohairesis) untersucht. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Darstellung der Tugenden und ihrer verschiedenen Arten sowie der zentralen Rolle der phronesis im Kontext der aristotelischen Handlungstheorie. Der hierauf folgende Abschnitt wendet sich der Gerechtigkeitstheorie in EN V zu und betrachtet zunächst die allgemeine Charakterisierung der Gerechtigkeit als Tugend und daraufhin Aristoteles’ Erarbeitung verschiedener Typen von Gerechtigkeit. Es folgt eine Erörterung der aristotelischen Naturrechtsauffassung. Ein Fazit fasst die bisherigen Ergebnisse zusammen und stellt die für die weiteren Untersuchungen zentralen Probleme heraus. Am Schluss des Kapitels stehen zwei Exkurse zur Epieikie (‚Billigkeit‘) sowie zum Phänomen der philia (‚Freundschaft‘) und deren Verhältnis zur Gerechtigkeit, die zu einer Vertiefung, aber auch zu einer Rekontextualisierung der von Aristoteles zugrundegelegten anthropologischen Grundmomente und des hiermit verbundenen Universalismusproblems führen.
3.1 Grundlagen aristotelischer Ethik: Eudämonie; das ergon-Argument; Natur (physis) als Quelle von Normativität Eudämonie als Gegenstand der Ethik, das heißt ‚gut leben‘ oder ‚sich gut gehaben‘ (eu zen; eu prattein – 1095a19) als letztes und höchstes Ziel des Menschen, ist zunächst vor dem Hintergrund der allgemeinen Gerichtetheit allen menschlichen wie auch natürlichen Strebens auf ein Gut (agathon) als dessen Ziel (telos) aufzufassen. Dabei ist auf
Obzwar die Bedeutung der Gerechtigkeit für die aristotelische praktische Philosophie immer wieder betont worden ist, mangelt es doch bislang an einschlägigen Gesamtdarstellungen von EN V. Im deutschen Sprachraum gibt es erst in neuester Zeit in Gestalt der Dissertation von John-Stewart Gordon (Gordon []) den Versuch einer detaillierten Rekonstruktion von EN V. Die älteren Arbeiten von Max Salomon (Salomon []), sowie von Peter Trude (Trude []) sind eher rechtsund staats- als moralphilosophisch ausgerichtet.
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
der Ebene des Menschen festzuhalten, dass Eudämonie nur angesiedelt sein kann im Bereich desjenigen Tuns, welches sein Ziel nicht in etwas hat, das vom Tun selbst nochmals unterschieden ist, sondern vielmehr in sich selbst (EN I 5). Dieses nennt Aristoteles Handeln (praxis), jenes Herstellen (poiesis). Da Eudämonie das höchste und letzte,vor dem Hintergrund der Zeitlichkeit menschlichen Lebens jedoch auch das umfassende Ziel allen menschlichen Handelns darstellt, wird deutlich, dass das so verstandene ‚Glück‘ im Blick auf das menschliche Handeln nicht als ein Ziel unter anderen fungiert, sondern vielmehr alle auf jeweilige Einzelziele ausgerichteten Handlungen in Gestalt einer Einheitsperspektive (skopos) zur Struktur gelingenden Lebens hin ausrichtet, vor deren Hintergrund je durch den Handelnden entschieden werden muss, durch welche Handlung in der konkreten Situation das Letztziel der Eudämonie verfolgt werden soll. In der Forschung hat W. F. R. Hardie eine Unterscheidung zwischen einer ‚inclusive‘ und einer ‚dominant‘ Interpretation dieses Verhältnisses von Eudämonie als Endziel und den ihr untergeordneten erstrebten Einzelzielen bzw. Einzelhandlungen getroffen. In der ersten Deutung schließt die Eudämonie alle anderen Ziele in sich ein, während sie in der zweiten ein hierarchisches Gefüge zwischen ihnen konstituiert, an dessen Spitze sie steht.² Die vorliegende Studie schließt sich jedoch der Interpretation von Ursula Wolf an, die als eine dritte Möglichkeit der Deutung dieses Verhältnisses die Auffassung der Eudämonie als eines Fluchtpunktes vorschlägt: Die mangelnde konkrete Bestimmtheit des Inhalts der eudaimonia legt nahe, dass es […] darum geht, durch einzelne Handlungen allererst zu konkretisieren oder zu artikulieren, was eudaimōn zu leben für eine bestimmte Person unter bestimmten Umständen bedeutet. Das beste Gut für ein Individuum, seine konkrete eudaimonia, würde also durch die Abfolge solcher Artikulationen bestimmt. Der skopos, der Orientierungspunkt, wäre dann die im Umriss bekannte eudaimonia, an der sich die Artikulation ausrichtet.³
Diese Deutung hat gegenüber der inklusiven und der dominanten Fassung den Vorteil, dass sie mit der genannten konstitutiven Umrisshaftigkeit und Ungenauigkeit moralischen und ethischen Wissens noch besser zu harmonieren scheint, indem die beiden letztgenannten Auffassungen ein stärker determinierendes Verhältnis zwischen der inkludierenden oder dominierenden Eudämonie mit Blick auf die inkludierten oder dominierten Einzelhandlungen nahezulegen scheinen, wohingegen die Skopos-Deutung den Einzelhandlungen in stärkerer Weise eine konstitutive konkretisierende Funktion zur Bestimmung von Eudämonie zuweisen. Formal-inhaltlich bestimmt Aristoteles die Eudämonie im Zusammenhang mit seinem bekannten ergon-Argument (EN I 6), das hier in aller Kürze dargestellt wird. Hierbei handelt es sich zudem um eine der wenigen Stellen innerhalb von EN, an denen Aristoteles wie oben angesprochen nicht die dialektische, sondern die natur-
Hardie (, – ). Cf. zur Diskussion auch Bostock (, – ). Wolf (, ).
3.1 Grundlagen aristotelischer Ethik
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wissenschaftliche bzw. anthropologische Argumentationsform verwendet. Grundlegend ist hierbei für Aristoteles die Überlegung, dass dasjenige das eigentliche Ziel (telos) einer Sache ist, worin deren eigentümliche, das heißt ihrer Natur entsprechende und entspringende Tätigkeit (energeia) besteht. Eudämonie ist somit als eine spezifische Aktivität, nicht etwa als bloßer Zustand aufzufassen. Da das Spezifikum des Menschen bzw. der menschlichen Natur seine Vernunftbegabung darstellt, das heißt in seinem Besitz einer Vernunft habenden Seele, muss es entsprechend eine der Vernunft gemäße Tätigkeit bzw. ein der Vernunft gemäßes Leben sein, in der bzw. dem das eigentliche Gut des Menschen zu suchen ist. Jedoch nicht nur dies; die genannte Tätigkeit bzw. das genannte Leben muss sich auch so vollziehen, dass die natürliche Bestimmung des Menschen in Bestform (‚tugendhaft‘: arete) verwirklicht wird. Demgemäß also wird das menschliche Gut bestimmt als der Tugend bzw. der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit der Seele (1098a16 – 18).⁴ Auf dieser Ebene lässt sich mit Blick auf die Frage nach dem Ursprung von Normativität innerhalb des aristotelischen Entwurfs sagen, dass diese prinzipiell auf einer natürlichen Bestimmtheit des Menschen gründet und keineswegs lediglich auf Gepflogenheiten, die den Rahmen der jeweiligen Kultur, der sie zukommen, nicht überschreiten. Das Problem wird sich daher mit Blick auf die Gerechtigkeit später dahingehend stellen, inwieweit Aristoteles deren Grundstrukturen auf der Basis dieser anthropologischen Verfasstheit plausibilisieren kann. Jedoch ist zu dieser auf der Natur (physis) gegründeten Normativität noch anzumerken, dass es sich bei dieser Struktur nicht um ein Beispiel für den bekannten naturalistischen Fehlschluss handelt, bei dem aus einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird.⁵ Denn erstens liegt bereits allgemein im aristotelischen Naturbegriff, dass dieser in seiner teleologischen Grundverfasstheit niemals ein pures Sein, sondern stets ein Aufgegebensein meint. Trifft dies bereits auf der Ebene des vernunftlosen Lebens zu, so kommt auf der Ebene menschlichen Lebens zweitens nochmals eine spezifische Modifikation hinzu. Aufgrund der Vernunftbegabung des Menschen und der in dieser gegründeten prinzipiellen Offenheit hinsichtlich der Art und Weise der Realisierung der natürlichen anthropologischen Anlagen⁶ nämlich ist deren Verwirklichung dem Menschen als genuin vernünftige aufgegeben, und das heißt: in Form der auf reflektierter Überlegung beruhenden Wahl und Entscheidung (prohairesis).⁷ Im Weiteren ist dies noch einge-
Dass eine Untersuchung der Seelenteilelehre aus EN I zumindest in hermeneutischer Sicht eine anthropologische Dimension beinhaltet, wird deutlich aus der Arbeit von Margot Fleischer (Fleischer [, Kap. ]). Cf. hierzu einschlägig Müller (). Cf. Met. IX , b – : Im Gegensatz zu vernunftlosen Vermögen können die Vernunft bzw. die Wesen, die über Vernunftbegabung verfügen, sich auf Gegenteiliges beziehen, sind somit nicht durch sich selbst schon auf Eines als Form ihrer Realisierung in Akten hin ausgerichtet. In der Scholastik wird Duns Scotus in seinem Kommentar zu dieser Stelle hieraus grundlegende Einsichten in das Wesen des Willens als appetitus rationalis entwickeln. Müller (, – ), unterscheidet daher zwischen Natur als Vorgabe und Natur als Aufgabe.
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
hender zu verdeutlichen, wobei zunächst auf die zentrale Rolle der Tugenden (aretai) innerhalb der benannten Struktur einzugehen ist.
3.1.2 Vorbegriff, Arten und Erwerb der Tugend; Seelenvermögen Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass der Begriff der Tugend (arete) eng mit der Konzeption der Seelenvermögen (dynamis) bzw. der natürlichen menschlichen Strebungen als der genannten natürlich-anthropologischen Anlagen und der Bestimmung des Menschen als eines Vernunftwesens verbunden ist. So fungiert auf der einen Seite ein Seelenvermögen als Zugrundeliegendes (hypokeimenon) der Tugend dergestalt, dass diese als Habitus (hexis) zu kennzeichnen ist, in dem sich das Seelenvermögen auf bestimmte, nämlich im moralischen Sinne lobenswerte Weise realisiert. Dabei ist die hier gemeinte Realisierung noch nicht die eines tatsächlichen, hier und jetzt stattfindenden Aktes (energeia); vielmehr steht der Habitus gleichsam zwischen der ontologischen Stufe der tatsächlichen Wirklichkeit (energeia) und der Potentialität des Seelenvermögens (dynamis) (EN II 4). Durch diese Rückbindung an ein natürliches Seelenvermögen ergibt sich, dass zwar keine Tugend schon natürlicherweise (physei) gegeben ist, gleichzeitig aber auch nicht gegen die oder außerhalb der Natur (para physin) sein kann (1103a19 – 26). Auf der anderen Seite aber ist dieser moralisch lobenswerte Charakter der Tugend daran bemessen, inwieweit er zur Realisierung der Vernunfthaftigkeit des Menschen beiträgt. Da nämlich die menschlichen Seelenvermögen, wie schon erwähnt, prinzipiell offen in Hinsicht auf das Wie ihrer Realisierung sind, kann diese der eudämischen Aufgabe des Menschen, ein vernunftgemäßes Leben zu führen, durchaus zuwiderlaufen. Aufgabe der Tugend ist es daher, als lobenswerter Habitus eines Selenvermögens dieses dahingehend zu disponieren, sich stets vernunftgemäß zu realisieren bzw. zu aktuieren. In dieser Form sind die Tugenden positive Charakterzüge einer Person, etwa die Fähigkeit, die eigene Angst in der Gefahr – als Aktuierung des Seelenvermögens der leidenschaftlichen Begierde (epithymetikon) – in Gestalt der Tapferkeit zu überwinden, wie umgekehrt die ‚Laster‘ (Schlechtigkeiten – kakia) negative Habitus darstellen, im genannten Beispiel etwa die Feigheit. Um die Tugenden strukturell zu bestimmen, kommt daher Aristoteles’ in EN I 13 und EN VI 2 in verkürzter Weise dargestellte Seelenlehre zum Tragen. Diese Verkürzung hat den pragmatischen Grund, dass der Zweck der Ethik wie gesehen darin besteht, den Mensch gut zu machen. In dieser Weise ist eine der Funktionen der in EN zusammengefassten Vorträge, dem Staatsmann (politikos), der mit Blick auf dieses Ziel gute Gesetze zu erlassen unternimmt, eine rudimentäre Orientierung hinsichtlich der anthropologischen Grundlagen moralischen Handelns zu geben, ohne dabei aber den genuin praktischen Blickpunkt (skopos) aus den Augen zu verlieren. Entsprechend
3.1 Grundlagen aristotelischer Ethik
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geht die Seelenlehre nur soweit ins Detail, als es der hier nötigen Struktur und Genauigkeit des Wissens entspricht.⁸ Entscheidend nun ist für die aristotelische Tugendlehre, dass nicht alle und schon gar nicht die genuin ethischen Tugenden zugleich Tugenden der Vernunft selbst sind, sondern vielmehr des von dieser verschiedenen sinnlichen Seelenvermögens. In der menschlichen Seele gibt es somit einen vernünftigen (logon echon) und einen unvernünftigen (alogon) Teil (1098a4 – 5). Innerhalb des unvernünftigen Teils ist weiter zu differenzieren. So gibt es einen Teil der unvernünftigen Seele, den der Mensch mit allen anderen Lebewesen gemeinsam hat, namentlich das ernährende Vermögen (phytikon). Mag indes auch dieses zu einer ihm eigentümlichen Vervollkommnung in der Lage sein, ist dennoch klar, dass diese nicht genuin menschlich sein kann und entsprechend kein Gegenstand moralischen Handelns ist; aus diesem Grunde ist das ernährende Vermögen kein Gegenstand ethischer Erwägungen (1102b28 – 1103a1). Der andere Teil der unvernünftigen Seele ist durch einige Ambivalenz ausgezeichnet, wobei sich diese Einschätzung zunächst auf Aristoteles’ Beschreibungen bezieht, allerdings im Weiteren als Charakteristikum der Sache erscheint. So hält Aristoteles fest, dass dieser zweite unvernünftige Teil mit der Begierde bzw. den Begierden (hormai) gleichzusetzen ist; es handelt sich hierbei um das leidenschaftlich Begehrende (epithymetikon), das auch als Streben überhaupt (orektikon holos) aufgefasst werden kann. Als solches ist dieser Teil nicht nur nicht mit der Vernunft oder dem vernünftigen Teil identisch, sondern ist zudem durch einen Antagonismus zu diesem ausgezeichnet. Die Begierde widerstreitet oder widerspricht der Vernunft (machetei kai antiteinei to logo – 1102b17– 18). So bestimmt, erscheint er als das gleichsam tierhafte Moment im Menschen. Jedoch wird im Weiteren klar, dass das Verhältnis des vernunftlosen Teiles zum vernünftigen nicht ausschließlich in einem Antagonismus besteht. So schreibt Aristoteles diesem Teil – jedenfalls im Menschen – zu, durchaus der Vernunft wie ein Kind dem Rat des Vater oder wie der Freund dem des Freundes Folge leisten zu können. Dies führt ihn sogar zu der Erwägung, ob man diesen Teil – gerade aufgrund dieser Fähigkeit zur Vernunftgemäßheit – statt zum vernunftlosen nicht doch zum vernunfthabenden Seelenteil zählen sollte, sodass nicht mehr jenes, sondern nunmehr dieses zweigeteilt wäre: „Soll man diesem [das heißt der Vernunft gehorchenden] Streben ebenfalls Vernunft zuschreiben, so ist auch das vernünftige Vermögen zweifach; das eine hat nämlich Vernunft und hat sie in sich selbst, das andere hat sie wie ein Kind, das auf seinen Vater hört“ (1103a1– 3). Aristoteles lässt diese Frage offen; es zeigt sich hieran aber, dass zum Kern der anthropologischen Fragestellung nicht nur eine fundamentale Unbestimmtheit dessen gehört, wo im Menschen das Tier endet und die Vernunft beginnt, sondern dass dies zudem in der offen gelassenen Alternative auf eine Perspektive führt, in der mit dem nunmehr möglichen Begriff eines genuin ver-
Cf. EN I , bes. a – .
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
nünftigen Strebens ein Ort für dasjenige Vermögen freigelegt wird, welches später als Wille (voluntas) bezeichnet werden wird.⁹ In Aristoteles’ Entwurf hat die genannte Struktur die Konsequenz, dass nunmehr zwei Arten von Tugenden, mit denen die Ethik sich beschäftigt, in den Blick treten. Die Tugenden, die dem per se vernünftigen Teil der Seele zukommen, nennt Aristoteles dianoetische (aretai dianoetikai); die Tugenden hingegen, die den unvernünftigen oder schon vernünftigen, in jedem Fall die Vernunft nicht in sich selbst habenden, sondern ihr wie dem Rat eines Vaters oder eines Freundes gehorchenden Seelenteil vervollkommnen, werden von Aristoteles als ethische Tugenden (aretai ethikai) bezeichnet. Zu ersteren gehören Klugheit, Weisheit, Wissen, Kunst und Einsicht (phronesis, sophia, episteme, techne, nous), wobei die Klugheit anders als die übrigen dianoetischen Tugenden eine grundlegende Rolle auch für die ethischen Tugenden spielt, zu letzteren Tugenden wie Tapferkeit (Starkmut), Mäßigung (Besonnenheit), Beherrschtheit und Gerechtigkeit (andreia, sophrosyne, enkrateia, dikaiosyne, cf. 1102b29 – 1103a7). ‚Ethische (ethikai)‘ sind diese Tugenden hierbei deswegen, weil sie durch Gewöhnung (ethos – ἔθος)¹⁰ erworben werden, während die dianoetischen sich im Zuge von ‚Unterweisung (didaskalia)‘ bilden. Beide Arten von Tugenden sind somit nicht schon von Natur aus gegeben, sondern müssen erst eigens erworben und eingeübt werden. Jedoch kann, wie Aristoteles in EN VI 2 darlegt, der per se vernünftige Seelenteil nochmals weiter differenziert werden, wobei die Unterschiedenheit seiner möglichen Gegenstände die maßgebliche Rolle spielt. Mit einem Teil der vernünftigen Seele nämlich wird jenes Seiende betrachtet, dessen Prinzipien sich nicht anders verhalten können, mit einem anderen dagegen dasjenige, dessen Prinzipien dazu sehr wohl in der Lage sind (1139a6 – 8). Beide Teile sind zwar auf Wahrheit ausgerichtet, jedoch in unterschiedlicher Weise. Der erste ist als theoretische Vernunft aufzufassen; im Gegensatz zu dem zweiten, das heißt der praktischen Vernunft, ist er nicht aufs Handeln oder Hervorbringen bezogen, da er die Wahrheit allein um ihrer Erkenntnis willen erstrebt, nicht jedoch, um sie in Bezug auf das rechte Streben zu setzen. Dementsprechend sind die genannten dianoetischen Tugenden oder Vervollkommnungen so zu verteilen, dass Wissen/Wissenschaft (episteme), Weisheit (sophia) und Vernunft (nous) zur theoretischen, dagegen Kunst (techne) im Bereich der Hervorbringung (poiesis) und Klugheit (phronesis) im Bereich der eigentlichen Praxis zur praktischen Vernunft im eigentlichen Sinne gehören. Der Erwerb der Tugend geschieht durch die Ausübung entsprechender Akte, die späterhin durch die erworbene Tugend hervorgerufen werden sollen: Tapfer wird man durch die wiederholte Ausübung tapferer Handlungen, die nach erworbener Tugendhaftigkeit aus Tugend ausgeübt werden können. Der scheinbare Widerspruch, der Dies ist hier mit Blick auf die Verortung der Gerechtigkeit sowie der Freundschaft im Willen, die Thomas von Aquin und Jakob von Viterbo vornehmen, eigens angemerkt. Zur Beziehung von ἔθος (Gewöhnung) und ἦθος (Charakter) cf. EN I , a – und II , a – .
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in dieser Beschreibung liegt, kann durch den Verweis auf das zentrale Moment der Erziehung bzw. Bildung (paideia) zum Erwerb der Tugendhaftigkeit entkräftet werden. Die damit verbundene Nachahmung tugendhafter Handlungen setzt noch nicht Tugendhaftigkeit voraus, bringt sie jedoch bei fortgesetzter Übung in Gestalt einer gewissen Habitualisierung hervor (EN II 3). Dass die Nachahmung anthropologisch möglich ist, liegt wiederum in der den natürlichen Seelenvermögen innewohnenden Tendenz, sich zu realisieren, das heißt an der natürlichen Disponiertheit des Menschen zur Tugendhaftigkeit (1103a23 – 26).¹¹ In der Einleitung ist bei Beschreibung der Standpunkts von G. E. M. Anscombe gesagt worden, dass die Rekonstruktion der aristotelischen Ethik durch die Virtue Ethics dazu führt, als normativen Maßstab für Tugendhaftigkeit den Tugendhaften anzusetzen. Wie aus dem eben Dargestellten klar wird, gilt dies durchaus für Aristoteles’ Erörterung des Erwerbs der Tugenden durch Bildung: Dem Nachahmenden, der noch nicht als Tugendhafter handelt, sondern tugendhafte Handlungen nur imitiert, ist der Tugendhafte in dessen Tun Vorbild, und in diesem kontextuellen Sinne ist die oft herangezogene Stelle zunächst zu verstehen: „Die getanen Dinge werden dann […] gerecht und mäßig genannt, wenn sie so beschaffen sind, wie sie der Gerechte und der Mäßige tun würden. Gerecht und mäßig ist aber nicht [schon], wer solche Dinge tut, sondern wer sie außerdem so tut, wie es die gerechten und mäßigen Menschen tun“ (1105b5 – 9). Diese Auffassung stellt jedoch nur eine Seite dar, wie im folgenden Abschnitt klar werden wird.
3.1.3 Tugend und Mitte, Klugheit und Entscheidung Die Funktion der Tugenden besteht darin, dem einem Seelenvermögen eigenen, prinzipiell hinsichtlich des Wie seiner Aktuierung offenen Streben nach Realisierung eine allgemeine habitualisierte, der vernünftigen Lebensgestaltung gemäß lobenswerte Ausrichtung zu geben. In diesem Sinne spricht Aristoteles davon, dass die Tugenden die allgemeinen Handlungsziele vorgeben (1144a7– 9), die ihrerseits nochmals im Horizont der Eudämonie ihre Verortung erfahren. Beim Tapferen etwa wird durch die Tugend der Tapferkeit sein Begehrungsvermögen (epithymetikon) dahingehend allgemein ausgerichtet, in vernünftiger Weise der Gefahr und der in dieser erfahrenen Furcht standzuhalten. Diese allgemeine Ausrichtung wird von Aristoteles als Mitte (mesotes) zwischen zwei ‚Lastern (kakia)‘, das heißt Neigungen zur schlechten Aktuierung des Strebevermögens – hier entweder im Sinne des Zuviel als Tollkühnheit oder des Zuwenig im Sinne der Feigheit – beschrieben, wobei die Mitte bei allen ethischen Tugenden außer der Gerechtigkeit keine arithmetische Mitte der Sache, sondern eine Mitte ‚für uns‘ darstellt (EN II 5).Was damit gemeint ist, kann anhand des bekannten Beispiels des Ringers und des Philosophen erläutert werden: Die ‚richtige
Cf. Rhonheimer (, – ).
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
Mitte‘ bzw. das richtige Maß an Nahrung, welche beiden jeweils zukommen muss, bemisst sich in Relation zu der jeweiligen Person, weshalb die rechte Nahrungsmenge für den sich körperlichen Anstrengungen aussetzenden Ringer viel größer ist als für den still am Schreibtisch arbeitenden Philosophen (1106a36–b5). Damit verbunden ist weiterhin der Umstand, dass der Mittecharakter der Tugend nicht mit ‚Mittelmäßigkeit‘ verwechselt werden darf. Als Ausrichtung auf die bestmögliche Realisierung eines Vermögens zwischen zwei möglichen negativen Extremen stellt sie vielmehr ein Optimum dar (1107a6 – 8). Mit dieser Beschreibung ist jedoch der Mittecharakter tugendhaften Handelns noch nicht hinreichend beschrieben. Die tugendhafte Ausrichtung eines Seelenvermögens sagt nämlich noch nichts darüber aus, wie in der jeweiligen Situation tatsächlich und konkret zu handeln ist, sondern gibt zunächst nur die allgemeinste Tendenz an, deren Einlösung jedoch den jeweiligen Umständen angepasst werden muss. Es genügt etwa nicht, aufgrund der Tugend der Tapferkeit allgemein tapfer handeln zu wollen; vielmehr muss hier und jetzt tapfer gehandelt werden, und dies besagt genauer: Es muss hier und jetzt entschieden werden, worin in der gegebenen Situation tapferes Handeln eigentlich konkret besteht. Eine Handlung etwa, die angesichts gewisser strategischer Umstände als tapferes Ausharren auf dem Posten beschrieben werden könnte, verliert diesen Charakter in anderen Umständen und wäre dann als tollkühn zu bestimmen. Die vernünftige ‚Mitte für uns‘, die ‚rechte Vernunft‘ (orthos logos) unseres Handelns, bemisst sich somit nicht nur an allgemeinen Bestimmungen unserer menschlichen und weiterhin persönlichen Verfassung, sondern überdies stets an unserer Stellung in der jeweiligen Handlungssituation. Die aufs Allgemeine ausgerichtete Tugend genügt daher angesichts der kontingenten Wechselfälle uns betreffender Geschicke nicht zur Bestimmung des je zu Tuenden. Es bedarf hierfür vielmehr der schon genannten dianoetischen, jedoch nicht auf das theoretische, sondern auf das praktische Erkennen bezogenen Tugend der Klugheit (phronesis).¹² Die Klugheit ist diejenige Tugend des in sich vernünftigen Seelenteils, die mit Blick auf die allgemeinen Zielvorgaben der ethischen Tugenden sowie in Hinsicht auf die konkret vorliegende Situation ihren Inhaber befähigt, wohl zu überlegen (1140a31), auf Grundlage dieser Überlegung (boule) sodann zu entscheiden (prohairesis), mittels welcher konkreter Handlungen das allgemeine tugendhafte Ziel erreicht werden kann – weshalb diese konkreten Handlungen sich zum allgemeinen Ziel wie die Mittel zu dessen Realisierung verhalten (ta pros ta tele) –, und schließlich die Umsetzung dieser konkreten Handlung zu erstreben. In dieser Bestimmtheit liegt weiterhin, dass die Klugheit zwei Pole hat, zwischen denen sie gleichsam ausgespannt ist, nämlich das Allgemeine des Zieles und der Tugend und das Einzelne der konkreten Handlungssituation; als das beide Pole Vermittelnde kann sodann drittens das Besondere der jeweiligen Person genannt werden (1141b15 – 16). In der Vermittlung dieser Momente,
Zur dieser Deutung der Klugheit und deren wesentlichen Bezug zur Kontingenz der Welt cf. Aubenque. (, – ; – ).
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die für die konkrete Handlung gleichermaßen als Prinzipien fungieren, stellt sich die Klugheit als Tugend der Vernunft (nous)¹³ dar als eines intuitiven, der Wahrnehmung (aisthesis) analogen Vermögens der Prinzipienerfassung (EN VI 12). In dieser Bestimmung der Klugheit kommt nicht zuletzt zum Ausdruck, dass Gegenstand der Klugheit je prinzipienhafte ‚Letzte (eschata)‘ sind, wovon es kein diskursives, sondern eben nur intuitives Wissen geben kann (1142a25 – 29). Auf der einen Seite unterscheidet sie sich hierdurch von der Vernunft (nous), sofern diese auf die letzten Bestimmungen (horos), jene dagegen auf jeweilige Handlungssituationen geht (ebd.). Auf der anderen Seite kann jedoch auch gesagt werden, dass diese letzten Handlungssituationen ihrerseits Gegenstand der sie erfassenden Vernunft sind (1143a35–b5). Werden diese Momente zusammengenommen, wird verständlich, inwieweit Aristoteles davon sprechen kann, dass Entscheidung (prohairesis) strebende Vernunft oder überlegendes Streben (orektikos nous e orexis dianoetike) sei, deren beider Ursprung (arche) der jeweilige individuelle Mensch ist (1139b4 – 5). In dieser Verwiesenheit der Klugheit als einer anderen Art von ‚Geschicklichkeit (deinotes)‘ auf allgemeine Tugendziele liegt zugleich deren Verschiedenheit von einer bloß instrumentellen, moralisch wertfreien Gerissenheit (panourgia) (1144a24– 27). Aus dieser doppelten Prinzipienbezogenheit der Klugheit ergibt sich, dass auch die Entscheidung bzw. Wahl als deren Ergebnis nicht nur auf die Mittel (ta pros ta tele) bezogen ist, sondern auch auf die dieser konkreten und situativen Entscheidung bereits zugrunde liegende Lebensentscheidung. Deutlich wird dies an der Figur des ‚Unbeherrschten (akrates)‘. Dieser ist nämlich in Aristoteles’ Beschreibung durch eine ‚moralisch richtige Entscheidung (prohairesis epieikes)‘ ausgezeichnet, und zwar in dem Sinne, dass der Unbeherrschte durchaus ein moralisch richtiges Leben als Grundlage des eigenen Lebensentwurfs gewählt hat. Jedoch ist er in der konkreten Situation nicht in der Lage, aus Überlegung (boule) heraus entsprechend dieses Lebensentwurfs zu handeln, das heißt so, dass er in rechter Wahl (erneut: prohairesis) die richtigen Mittel ergriffe (ta pros ta tele) (1152a15 – 18).¹⁴ Aus der Zusammenschau dieser Momente ergibt sich die aristotelische Definition der Tugend als einem „Habitus, der sich in einer Entscheidung äußert [hexis prohairetike], wobei er in einer Mitte in Bezug auf uns liegt, die durch die Vernunft [logos] bestimmt wird, das heißt so, wie der Kluge [phronimos] sie bestimmen würde“ (1106b36 – 1107a2). Sofern das in der Tugend artikulierte Streben zugleich ein solches ist, welches aufgrund seiner Verankerung in der menschlichen Strebensnatur den einzelnen Menschen als eigentümliches Prinzip hat, ist tugendhaftes Handeln als
Hier nicht wie oben verstanden als dianoetische Tugend, sondern als Seelenvermögen. Es gibt also einen doppelten Sinn von ‚prohairesis‘, nämlich einmal als Wahl konkreter Mittel, einmal als dieser zugrunde liegende Wahl des Lebensentwurfs, zu dem diese Mittel hinführen sollen. Im diesem letzteren Sinne von prohairesis ist die Auffassung einiger Stoiker zu verstehen, dass prohairesis als ‚hairesis pro haireseos‘ (Wahl vor der Wahl) verstanden werden müsse, das heißt als grundlegender Lebensentwurf, der den einzelnen Entscheidungen zugrundeliegt (SVF III ). Cf. Pohlenz (, ). Zum Problem der Akrasie cf. neuerdings Müller ().
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
willentliches (hekousion) zu bestimmen (EN III 3). Der Nachsatz mit dem Bezug auf den Klugen (phronimos) als Maßstab der Tugendhaftigkeit ist hierbei offenbar anders aufzufassen als am Ende des vorigen Abschnitts. Ging es dort um die Frage nach dem Vorbild im Prozess der Bildung zur Moralität (paideia), so ist die Aufstellung des Klugen an der vorliegenden Stelle mit Blick auf die Ausführungen zur Situationsbezogenheit tugendhaften Handelns und dessen ‚Mitte‘ zu verstehen und bedeutet, dass deren Bestimmtheit nicht abstrakt und als universal für alle möglichen Fälle gültig angegeben werden kann, sondern je konkret vermittels der Tugend der Klugheit aufgespürt werden muss. Auch dies bedeutet noch keinen ethischen Relativismus, da die auf diese Weise vorgenommene ‚Relativierung‘ der Geltung konkreter Handlungsoptionen durch Verweis auf den Klugen vor dem Hintergrund eines universalen anthropologischen Rahmengefüges stattfindet, dessen zugleich offene und begrenzte Struktur als solche weder variabel noch beliebig ist.
Fazit Aus dem Dargestellten ist mit Blick auf die anschließenden Erörterungen zur Gerechtigkeit Folgendes festzuhalten: Der universale normative Kern von Moralität ist hinsichtlich der allgemeinen Zielausrichtung menschlichen Handelns durch die natürlich-anthropologischen Grundlagen des Menschen, genauer: dessen Seelenvermögen bzw. den natürlichen Strebungen und deren Verfasstheit im Sinne einer vorgegebenen Aufgegebenheit bedingt. Diese Bedingtheit ist dabei als eine entwurfsoffene Horizontstruktur zu verstehen, in der zwar umrisshaft und nichtbeliebig die Eudämonie als allgemeiner Fluchtpunkt vorgegeben ist, deren konkrete Realisierung jedoch schon in Gestalt der Tugenden, mehr noch aber in Form einer jeweils durch eine konkrete prudente Reflexion bedingte Handlung vorgenommen werden muss. Mit Blick auf die Tugend der Gerechtigkeit ergibt sich aus diesen Vorgaben, dass innerhalb des aristotelischen Entwurfs auch für diese ein Seelenvermögen bzw. ein natürliches Streben bestimmt werden muss, welches in derjenigen Weise verfasst ist, dass es die im Weiteren zu erarbeitende Struktur der aristotelischen Gerechtigkeit überhaupt ermöglicht. Das gilt vor allem für den die Gerechtigkeit vor den anderen Tugenden auszeichnenden Bezug auf das ‚fremde Gut‘. Das Fehlen eines solchen Vermögens wäre vor allem deswegen problematisch, weil dann nicht mehr verständlich werden könnte, wie gerechtes Handeln als ein willentliches (hekousion) und nicht nur, wie der platonische Thrasymachos behauptet, als ein äußerlich forciertes Recht des Stärkeren, also als heteronom zu beschreiben wäre. Desweiteren ist nach der Art und dem Charakter des Maßstabes zu fragen, der als ‚rechte Vernunft (orthos logos)‘ gerechtes Handeln als dessen entwurfsoffener Horizont normiert. Es gilt zu untersuchen, ob er sich bei allen oder wenigstens einigen Arten der Gerechtigkeit als ein universales Maß anbietet oder von Vornherein nur im Rahmen partikulärer gesellschaftlicher Konventionen funktioniert.
3.2 Theorie der Gerechtigkeit
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3.2 Theorie der Gerechtigkeit 3.2.1 Allgemeine Struktur und Arten von Gerechtigkeit In den einschlägigen Passagen zum Gerechtigkeitsbegriff (EN V) nimmt Aristoteles die philosophiehistorisch epochale Unterscheidung zwischen einer Gerechtigkeit (dikaiosyne) vor, die er als „vollkommene“ und „ganze“ Tugend (arete teleia kai hole) bestimmt (1129b26/1130a9), und einer solchen, die als „Teil der Tugend [he en merei aretes dikaiosyne]“ (1130a16) aufzufassen ist. Letztere gliedert sich nochmals in eine Gerechtigkeit der Zuteilung (en tais dianomais) (1130b31) – die spätere distributive Gerechtigkeit (iustitia distributiva) – und eine des vertraglichen Verkehrs (en tais synallagmasi) (1131a1) – die spätere ausgleichende oder kommutative Gerechtigkeit (iustitia commutativa) –, die im Bereich freiwilligen Tauschs dem Feld des Zivilrechts, im Bereich unfreiwilliger Herstellung gerechter Verhältnisse hingegen dem Feld des Strafrechts zuzuordnen ist. Ausgang dieser Unterscheidungen ist der Versuch, das Rechte bzw. Gerechte (to dikaion) zu bestimmen, indem zunächst dessen Gegenteil, das Ungerechte (to adikon), betrachtet wird. Ungerecht handeln der Gesetzesübertreter (paranomos) sowie derjenige, der mehr zu haben begehrt, als ihm zusteht (pleonektes)¹⁵ und der deshalb „eine Einstellung der Ungleichheit hat“ (anisos) (1129a31– 33). Daraus ergibt sich umgekehrt, dass das Gerechte in „das Gesetzliche und das Gleiche [to nomimon kai to ison]“ zu unterteilen ist (1129a34). Gerecht ist somit, das Gesetzliche und Gleiche zu wollen und zu tun, Gerechtigkeit ihrerseits der Habitus, der einen Handelnden hierzu befähigt. Die beiden Bestimmungen werden von Aristoteles weiterhin so zugeordnet, dass das Gesetzliche den Gegenstand der Gerechtigkeit als ganzer und vollkommener, das Gleiche hingegen den Gegenstand der Gerechtigkeit als partikulärer bzw. als Teil der Tugend darstellt. In Bezug auf die allgemeine oder, wie es in der späteren Tradition heißen wird, Gesetzesgerechtigkeit (iustitia generalis sive legalis)¹⁶ ergibt sich hieraus ein unmittelbarer Bezug von in diesem Sinne gerechtem Handeln auf die Gesetze (nomoi) des Gemeinwesens sowie dessen allgemeines, in eben den Gesetzen zum Ausdruck gebrachtes Wohl (1129b14– 17). Im Weiteren sind zunächst die Arten der Gerechtigkeit sowie deren Verhältnis zueinander eingehender zu beschreiben, bevor eine genauere Charakterisierung der Funktion der Gesetze innerhalb der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie vorgenommen wird. Der Ausgang wird hierbei bei der Gerechtigkeit ‚als ganzer Tugend‘, das heißt der Gesetzesgerechtigkeit, genommen. 1. Gesetzesgerechtigkeit. Mit Blick auf die Gesetzesgerechtigkeit sind die Aspekte des Gegenstandes, auf den sich der Gesetzesgerechte richtet, des Maßes dieser Ausrichtung sowie der anthropologischen Disposition, die diese Ausrichtungen ermög-
Zur Kritik an der Figur der pleonexia cf. Williams (, – ). Diese Bestimmungsmomente werden, wie sich weiter unten zeigt, im scholastischen Diskurs vor dem Hintergrund einer genuin theologisch aufzufassenden iustitia generalis auseinandertreten.
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licht, wie folgt zu unterscheiden. Als den Gegenstand bestimmt Aristoteles konkret „das, was die Eudämonie und ihre Teile für die politische Gemeinschaft [politike koinonia] hervorbringt und erhält“ (1129b17– 19). Das Maß, welches diese Eudämonie regelt, sind hierbei die Gesetze (nomoi), weswegen „alles, was den Gesetzen entspricht, in gewisser Weise gerecht ist [panta ta nomima esti pos dikaia]“ (1129b12). Das ‚in gewisser Weise (pos)‘ zeigt hierbei an, dass dieses Maß in einem partikulären Sinne aufzufassen ist. Denn der eigentliche Träger der in den Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Eudämonie ist in jeweils unterschiedlichen Formen von politischer Struktur ein anderer. So kann in den Gesetzen das Gemeinwohl verfolgt werden, ebenso aber auch der Nutzen von Aristokraten oder anderen herrschenden Machthabern (1129b14– 17). Daher kann eine Diskrepanz eintreten zwischen der Eigenschaft, ein guter qua gesetzesgerechter Bürger einer Polis und der Eigenschaft, ein guter Mensch zu sein (1130b28 – 29). Nur in einer idealen Polis fallen beide Momente zusammen.¹⁷ In einer solchen würde nicht ein Mensch, sondern die Vernunft (logos) herrschen (1134a35). Aristoteles setzt dies jedoch offenkundig nicht als Bedingung für die Gesetzesgerechtigkeit an; vielmehr orientiert sich diese an dem jeweilig vorfindlichen Gesetz.¹⁸ Dieser Partikularität unbeschadet liegt der Gesetzesgerechtigkeit ein allgemeines konstitutives Moment zugrunde, nämlich das Bezogensein auf ein „fremdes Gut [allotrion agathon]“ (1130a2), das heißt das Gut oder Wohl nicht ihres Inhabers selbst, sondern eines anderen. „Sie [sc. die Gesetzesgerechtigkeit] tut nämlich das Förderliche für einen anderen, sei es für einen Herrscher oder einen Mitbürger“ (1130a4– 5).¹⁹ Wie Matthias Lutz-Bachmann gezeigt hat, besteht die Funktion dieser Wendung hierbei darin, „dass mit dem Hinweis auf das ‚fremde Gut‘, auf das die Tugend der Gerechtigkeit abzielt, der Aspekt des Nutzen für andere herausgestellt wird und damit eine Dimension des ‚objektiven‘ Geltungsanspruchs der allgemeinen Tugend der Gerech-
Pol. III , a – . Dieser Diagnose der Partikularität widerspricht nicht, dass Aristoteles als Vermögen, Gesetze zu erlassen, eine Form der Klugheit (phronesis nomothetike) ansetzt, die anders als die ‚politische‘ Klugheit (phronesis politike) nicht aufs Einzelne, sondern aufs Allgemeine (to koinon) bezogen ist (b – ). Denn auch dieses Allgemeine ist hier lediglich als ein Besonderes zu spezifizieren und meint nicht etwa einen quasi transzendentalen Maßstab universaler Normativität, sondern bloß die Organisation verschiedener innerhalb eines Staatswesens enthaltener Künste. Daher ist nicht das Ziel dieser Klugheit ein allgemeines, sondern deren Materie. Auf diese Weise passt die ‚phronesis nomothetike‘ auch in Aristoteles’ Schema; sie ist wie jede andere Form der Klugheit auf die Mittel (ta pros ta tele) ausgerichtet und damit hinsichtlich ihrer Zielvorgabe abhängig von einer sie bedingenden ethischen Tugend. Aristoteles’ Feststellung schließlich, dass Gesetze von einer gewissen Klugheit und einer gewissen Vernunft (nous) ausgehen sollen (a f.), verweist zwar durchaus auf die Leerstelle einer Vernunft, die nicht bloß wiederum als gleichsam instrumentelle gewissen Interessensetzungen gehorcht, sondern selbst als Prinzipienstruktur solche Interessen moralisch evaluiert. Jedoch handelt es sich hierbei innerhalb der aristotelischen Ethik eben auch lediglich um eine nicht ausgefüllte Leerstelle. Günther Bien hat die Nähe dieser Ausführungen Aristoteles’ zum platonischen Thrasymachos herausgestellt: Bien (, – ; – ).
3.2 Theorie der Gerechtigkeit
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tigkeit ins Spiel kommt“²⁰ – wobei wie gesehen diese Objektivität in ihrer konkreten inhaltlichen Bestimmtheit nichtsdestotrotz eine partikuläre ist. Diese Bezugnahme auf das fremde Gut und deren Konnex zu den Gesetzen führt dazu, die Allgemeinheit der Gesetzesgerechtigkeit in der oben schon kurz genannten Weise dahingehend zu konkretisieren, dass sie die vollkommene und ganze Tugend darstellt. Die ‚ganze Tugend‘ ist sie deswegen, weil die Gesetze „von allem“ handeln, indem sie die Werke aller Tugenden in Anspruch nehmen (1129b14– 15; 1129b23 – 25), ‚vollkommene Tugend‘ weiterhin aufgrund des in dieser Inanspruchnahme liegenden Bezuges der Tugenden auf das Wohl des Anderen, denn viele „können die Tugenden in den eigenen Angelegenheiten anwenden, sind aber nicht in der Lage, sie im Bereich der Dinge anzuwenden, die sich auf den anderen Menschen beziehen“ (1129b31– 1130a1). Das ontologische Verhältnis zwischen Tugend und Gesetzesgerechtigkeit bestimmt Aristoteles hierbei so, dass beide dasselbe sind, jedoch nicht ihrem Sein nach (to einai): „Sofern der Habitus auf den anderen bezogen ist, ist er Gerechtigkeit, wird er hingegen als Habitus schlechthin betrachtet, ist er Tugend“ (1130a10 – 13). Zusammenfassend ergibt sich für die Gesetzesgerechtigkeit daher zweierlei: Erstens bindet Aristoteles diese höchste und vollkommene Tugend an das jeweilige Gesetz, nicht jedoch oder jedenfalls nicht ausdrücklich an einen diesem vorausliegenden universalen Maßstab. Der normative Gehalt der Einzeltugenden wird daher nicht nochmals durch eine universale Form bestimmt, sondern nunmehr in bloß partikuläre Strukturen politischen Zusammenlebens involviert. Dies schließt freilich in systematischer Hinsicht nicht aus, dass eine solche Form universaler moralischer Bestimmtheit in den aristotelischen Entwurf integriert werden könnte; jedoch scheint nicht per se die Gesetzesgerechtigkeit der Ort solcher Integration in einem aristotelischen Entwurf zu sein. Im Weiteren wird diese Frage zunächst anhand einer Untersuchung der partikulären Gerechtigkeit, schließlich jedoch vor allem mit Blick auf Aristoteles’ Bestimmungen zum Naturrecht eingehender betrachtet. – Zweitens bleibt innerhalb der gegebenen Überlegungen unklar, ob Aristoteles die Gerechtigkeit als ganze und vollkommene Tugend als eine eigenständige Tugend ansieht und wie, sollte dies der Fall sein, dieser Ansatz strukturell erläutert werden könnte.²¹ Denn Aristoteles benennt kein eigenes Seelenvermögen als Träger der Gesetzesgerechtigkeit, wodurch die Behauptung der Freiwilligkeit gerechten Handelns als eines der konstitutiven Momente von dessen – im aristotelischen Sinne – moralischer Dimension verständlich würde.²²
Lutz-Bachmann (, ). Diese Diskussion zieht sich auch durch die scholastischen Diskurse. Besonders neuplatonisch inspirierte Autoren tendieren hierbei dazu, die allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) nicht als eine eigenständige Tugend, sondern vielmehr als Ordnungsgefüge der übrigen Tugenden bzw. der Seele und ihrer Teile anzusehen. Cf. hierzu weiter unten in vorliegender Arbeit sowie die Ausführungen bei Graf (). Zweifelsohne besteht für Aristoteles eine gerechte Handlung darin, dass nicht nur dem Gesetz gemäß, sondern zudem freiwillig gesetzmäßig gehandelt wird (a – ). Jedoch ist diese Freiwilligkeit eben nicht strukturell in den aristotelischen Entwurf eingebunden. Dass auch die Vernunft
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Jedoch scheint sich innerhalb von EN zumindest eine mögliche Spur zu finden, die zwar keine Auflösung, aber immerhin etwas Aufhellung in dieses Problemzusammenhang zu gewähren verspricht, indem nämlich das der Gesetzesgerechtigkeit wesentliche Streben nach fremdem Gut diese in eine auffällige Nähe zur philia setzt. Dem wird weiter unten nachgegangen. 2. Partikuläre Gerechtigkeit. Aristoteles’ Theorie der Gerechtigkeit als Teil der Tugend, das heißt der partikulären Gerechtigkeit, wird nicht nur in der Forschung, sondern offenbar auch von ihm selbst als die eigentliche Innovation innerhalb der Gerechtigkeitstheorie angesehen, wogegen die allgemeine Gerechtigkeit eher als platonisches Residuum innerhalb der aristotelischen Ethik erscheint.²³ Wie oben gesehen, geht diese Gerechtigkeit nicht primär auf das Gesetz, sondern vielmehr auf das Gleiche (to ison) und unterteilt sich dabei nochmals in die beiden Formen der Gerechtigkeit der Zuteilung und der des vertraglichen Verkehrs. Die Gleichheit wird hierbei von Aristoteles als ein jeweils ‚Analoges‘ im Sinne der Proportionalität beschrieben (analogon ti) (1131a29), kann hierbei aber in zweifacher Weise aufgefasst werden. Der zuteilenden oder verteilenden Gerechtigkeit entspricht eine proportionale Gleichheit, die Aristoteles als ‚geometrische‘ kennzeichnet (analogia geometrike) (1131b12 – 13). Diese stellt sich zwischen mindestens vier Gliedern ein, wobei die Gleichheit nicht zwischen diesen Gliedern als solchen, sondern vielmehr zwischen den analogen Verhältnissen besteht, in denen sie zueinander stehen (1131b9 – 12).²⁴ Demgegenüber ist das Gerechte der ausgleichenden Gerechtigkeit ein ‚arithmetisches Proportionales‘ (analogia kata ten arithmetiken) (1132a1– 2). Denn anders als in der zuteilenden Gerechtigkeit, in der die Personen durchaus nicht als Gleiche betrachtet werden, sondern das ihnen Zuzuteilende gemäß der Unterschiedenheit ihrer Würdigkeit (axia) – die in der jeweiligen Gesellschaftsform qualitativ unterschiedlich angesetzt werden kann²⁵ – ermittelt wird, wird in der ausgleichenden Gerechtigkeit auf derartige Verschiedenheit der Person nicht geachtet, sondern vielmehr die Mitte aus dem durch ein Unrecht entstandenem Nachteil des Geschädigten und dem Vorteil des Schädigers – ohne Ansehen der Person – heraus bestimmt (1132a4– 6). Die beiden Arten der partikulären Gerechtigkeit erscheinen aufgrund der formalen Proportionalität, die in ihnen auf je spezifische Weise die Gleichheit herstellen sollen, auf den ersten Blick als von partikulären kulturspezifischen Momenten unabhängige universale Vernunftstrukturen. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt und geprüft werden wird, kommt ein solches kulturinvariantes Moment bei Aristoteles unter dem Topos des
innerhalb der aristotelischen Ethik nicht als zugrunde liegendes Seelenvermögen (hypokeimenon) der Gerechtigkeit infrage kommt, wird daraus ersichtlich, dass die Gerechtigkeit eine ethische, nicht eine dianoetische Tugend sein soll. Cf. Bien (, – ). A verhält sich also zu B in gleicher Weise wie C zu D. Die Demokratie etwa sieht in ihr die Freiheit, die Oligarchie den Besitz, die Aristokratie die Tüchtigkeit (a – ).
3.2 Theorie der Gerechtigkeit
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Naturrechts zur Sprache.²⁶ Jedoch lassen sich auch stark partikuläre Aspekte der beiden Gerechtigkeitsarten benennen. Denn erstens ist das geometrische Proportionale der zuteilenden Gerechtigkeit wesentlich durch die genannte ‚Würdigkeit (axia)‘ bestimmt, die ihrerseits jeweils nur Bezug auf eine konkrete Polis aufweist. So erhellt etwa mit Hinsicht auf die Frage, wie viele Ehren dem Inhaber eines Amts im Vergleich zu einem anderen zuteil werden sollen, dass bereits vor Applikation des formalen Proportionalitätsschemas Einigkeit über den Wert gewisser Tätigkeiten bestehen muss, und erst auf der Grundlage dieser Übereinkunft kann sodann das Schema angewandt werden. Ähnliche Probleme stellen sich zweitens auf der Ebene des arithmetisch Proportionalen ein, denn auch hier muss etwa die konkrete Bemessung einer Wiedergutmachung bereits im Vorfeld geklärt sein, soll die konkrete Anwendung des arithmetischen Schemas als gerecht empfunden werden. Mit Blick auf diese Problematik wäre zu sagen, dass beide Arten von Übereinstimmung wiederum im Gesetz (nomos) geregelt sind,²⁷ sodass hier eine mögliche Universalität der Gerechtigkeit als Teil der Tugend bzw. des Gerechten als dessen Maßstab erneut auf die Betrachtung des Wesens des Gesetzes und der sich auf dieses beziehenden Gesetzesgerechtigkeit zurückverweist. Es müsste sich, anders gesagt, hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit eines inhaltlich gefüllten kulturinvarianten Universalismus der Gerechtigkeit dessen Begründung im Gesetz zeigen lassen, wobei diese erneut auf das Problem von dessen universaler Dimension verwiese. Auch diesem Problem wird der folgende Abschnitt mit Blick auf den Topos des Naturrechts (to dikaion physei) nachgehen. Es bleibt anzumerken, dass Aristoteles auch in den Kapiteln zur partikulären Gerechtigkeit in EN V nicht nur kein Seelenvermögen benennt, welches als Zugrundeliegendes (hypokeimenon) der Gerechtigkeit als Tugend fungiert, sondern dieser Frage auch an keiner Stelle überhaupt nachgeht. Somit bleibt für die partikuläre Gerechtigkeit ungeklärt, wie sie als eine Tugend möglich ist, und entsprechend bleibt die Möglichkeit ihr gemäßer freiwillig vollzogener Handlungen innerhalb der Rahmenbedingungen der aristotelischen Anthropologie dunkel.
3.2.2 Politisches Recht, Naturrecht, positives Recht Das Gerechte, das herzustellen oder einzuhalten Gegenstand der Gesetzesgerechtigkeit ist, ist das politische, also das in einer Polis bestehende Recht (politikon dikaion) (1134a26). Zugleich ist dieses das Gerechte oder das Recht schlechthin (to haplos di-
Cf. auch Otfried Höffe, der den „zweimal sieben Delikten“ des aristotelischen Strafrechts (a – ) „ein bemerkenswertes Maß an interkultureller Gültigkeit“ attestiert, ohne freilich diese Gültigkeit selbst oder deren Ursprung an dieser Stelle auszuweisen (Höffe [, ]). Cf. für die geometrische Proportionalität Aristoteles’ Ausführungen a – , für die arithmetische Proportionalität a – .
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kaion) (1134a25).²⁸ Im Blick auf dieses lässt sich jedoch ein eigentliches politisches (schlechthinniges) Recht von einem diesem bloß ähnlichen unterscheiden (1134a29 – 30), wie auch ein in rechter Weise gebietendes Gesetz von einem solchen unterschieden werden kann, das „nachlässig, wie aus dem Stegreif entworfen ist [apeschediasmenos]“ (1129b25). Wie Aristoteles’ Bemerkungen zu entnehmen ist, ist das ‚eigentliche‘ politische Recht hierbei zu verstehen als ein Herrschen (archein) der Vernunft (logos) innerhalb der Polis, ohne dass diese Unterscheidung jedoch von ihm weiter systematisch begründet werden würde (1134a35). In jeden Fall ist eine der Grundlagen für das Vorhandensein des eigentlichen politischen Rechts eine gewisse Gleichberechtigung der Bürger des Staatswesens, denn es besteht dort, „wo Menschen zur Erreichung von Autarkie ihr Leben gemeinsam leben, und zwar Menschen, die frei sind und gleich entweder im proportionalen oder arithmetischen Sinn“ (1134a26 – 28). Derartiges Recht hat daher seinen Ort in Gemeinschaften, in denen das Gesetz das Wohl aller verfolgt, nicht nur das eigene Wohl des Despoten.²⁹ Die Dichotomie von kommutativem und distributivem Gerechtem innerhalb des politischen oder schlechthinnigen Gerechten erschöpft dieses jedoch nicht. Vielmehr scheint Aristoteles eine noch grundlegendere Unterscheidung anzuführen, wenn er darauf hinweist, dass die genannten Verhältnisse bzw. das jeweilige Gerechte nochmals entweder natürliches (to physikon dikaion) oder ‚gesetzliches‘ Gerechtes im engeren Sinne, das heißt positiv als bloß konventionell (to nomikon dikaion) sein kann (1134b18 – 19). Ersteres ist dadurch gekennzeichnet, dass es überall unabhängig von der Meinung der Menschen dieselbe Geltungsmacht (dynamis) hat, letzteres hingegen bezieht sich auf Bestimmungen, die anfangs indifferent sind, diese Indifferenz jedoch verlieren, wenn sie erst einmal zum Gesetz erhoben worden sind (1134b19 – 21). Den möglichen Einwand gegen diese Unterscheidung, dass in Wahrheit alles Gerechte von letzterer Art sei, da die Natur unbeweglich bzw. unveränderlich (akineton) sei und überall dieselbe Wirkmacht aufweise, wohingegen das Gerechte sich offenkundig als beweglich oder veränderlich darstelle (1134b24– 26), weist Aristoteles dadurch zurück, dass zwar im Bereich des Göttlichen durchaus keinerlei Veränderung anzutreffen und somit, so müsste man ergänzen, dessen Natur durchaus als immutabel anzusetzen sei; indes könne man auch im Bereich des Veränderlichen durchaus zwischen dem, was zur Natur gehört, und dem, was nicht Natur ist, unterscheiden (1134b29 – 30). Somit ist im Bereich des Veränderlichen nicht nur das positive, sondern auch das natürliche Gerechte veränderlich. Die Analogien zu anderen natürlichen Verhältnissen jedoch, die Aristoteles im Rahmen seiner Erörterungen zum natürlichen Gerechten (dikaion physei) anbringt,
Hierbei ist es unwesentlich, ob es sich um geschriebene oder ungeschriebene Gesetze (nomos gegrammenos/nomos agraphos) handelt (a–b). Entsprechend stimmen die meisten Autoren miteinander überein in der Annahme, dass ‚nomos‘ insgesamt in einem weiten Sinne aufzufassen ist, mithin auch Brauchtum und Sitten meint (cf. Bien [, ]. Ähnlich Trude [, – ]. Dagegen jedoch Gordon [, – ]). Cf. Pol. III , a – .
3.2 Theorie der Gerechtigkeit
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sind wenig dazu angetan, den Bezug des Naturrechts auf das menschliche Handeln sonderlich plausibel zu machen. So parallelisiert Aristoteles das von Natur aus Gerechte in seinem zugleich bestehenden, aber auch veränderlichen Charakter mit dem Umstand, dass in der Regel der Mensch natürlicherweise Rechtshänder sei, es aber dennoch Personen geben könne, die beide Hände in gleicher Weise gebrauchen können (1134b33 – 35). In dieser Weise erscheint das Naturrecht in EN V 10 noch gleichsam als eine ethische Leerstelle, die jedoch Raum gibt für spätere Umdeutungen und Erweiterungen, wie sie die Scholastik vornehmen wird. Mit Blick auf die oben für die Gesetzesgerechtigkeit und das Gesetz und deren bzw. dessen Konnex zur inhaltlichen Bestimmtheit der partikulären Gerechtigkeit ist vorwegzunehmen, dass ein Moment der Ausfüllung dieser Leerstelle im Eintrag eines ewigen Gesetzes bestehen wird, an dem das Naturrecht partizipiert und dadurch seine inhaltliche und zugleich universale Bestimmtheit gewinnt. Dass jedoch hiermit über das natürliche Gerechte in sachlicher Hinsicht sowohl für den aristotelischen Entwurf selbst, als auch für dessen Modifikation innerhalb der Scholastik noch nicht das letzte Wort gesagt ist, wird weiter unten deutlich werden.
Fazit 1. Mit Blick auf die Fragestellung vorliegender Studie erscheinen Aristoteles’ Ausführungen somit als zumindest unvollständig: Wird auf der einen Seite die zentrale Rolle der Gerechtigkeit für das Funktionieren einer staatlichen Gemeinschaft betont, so fehlen auf der anderen sowohl grundlegende Elemente einer Anthropologie, die die Möglichkeit gerechten Handelns innerhalb des Rahmens einer aristotelischen Tugend- und Strebensethik als auch die hin und wieder durchscheinenden Versuche zu verstehen erlauben, in der höchsten Form der Gerechtigkeit mehr als lediglich gesetzeskonformes Handeln sehen zu können. Ein zugrunde liegendes Seelenvermögen der Gerechtigkeit, aufgrund dessen der Handelnde von sich aus auf das fremde Gut bezogen sein kann, wird von Aristoteles schlichtweg nicht benannt; Ansätze der rudimentären Seelenlehre aus EN I 13 und VI 2, die eine Verortung der Gerechtigkeit als Tugend in einem genuin vernünftigen Streben zumindest möglich machen könnten, bleiben im weiteren Verlauf der EN unberücksichtigt. Diese Unklarheit der anthropologischen und weiterhin handlungstheoretischen Grundlage der Gerechtigkeit hat insofern äußerst schwerwiegende Folgen, als gerechtes Handeln im Rahmen der aristotelischen Konzeption nur dann ein willentliches, das heißt ein von Akteur selbst gewähltes, nicht etwa diesem nur äußerlich aufgezwungenes sein kann, wenn es letztlich auf der reflexiv vermittelten Aktuierung eines solchen Seelenvermögens beruht. 2. Auch in Hinsicht auf die Frage nach dem Maßstab gerechten Handelns vermögen Aristoteles’ Ausführungen zum Gesetz trotz verschiedener Hinweise auf die Vernunft, die bei der Verfassung der Gesetze eine Rolle spielen soll, in systematischer Hinsicht nicht befriedigende Gründe an die Hand zu geben, weshalb die Gesetzes- und partikuläre Gerechtigkeit und deren Unterarten nicht in letztlich konventionalistischer
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
Weise zu deuten sein sollen. Immerhin wird keine Struktur benannt, die dieser Vernunft konkrete moralische Prinzipien, welche nicht lediglich der Konvention einer jeweiligen Gesellschaft entspringen, vermitteln könnte. Noch wird überhaupt geklärt, von welcher Vernunft die Rede ist. Die formalen Proportionsverhältnisse, die einen invarianten Kern der Typen partikulärer Gerechtigkeit zu markieren scheinen, zeigten sich ihrerseits als letztlich in ihrem Funktionieren abhängig von vorausliegenden, in ihrer Inhaltlichkeit jedoch erneut bloß konventionell bestimmten Momenten. Das natürliche Gerechte (Naturrecht) schließlich, das immerhin ein möglicher Kandidat für universale kulturinvariante und gleichzeitig inhaltlich bestimmte Normen sein könnte, wird von Aristoteles nur äußerst kurz benannt und überdies weder in einen erkennbaren handlungstheoretischen Konnex zum Aufriss seiner Tugendethik noch in eine engere Beziehung zur Vernunft gesetzt. Mit Blick auf die in der Einleitung dargestellten drängenden Probleme der Normbegründung und der anthropologischen Fundierung der Gerechtigkeit gibt die aristotelische Ethik daher keine klaren Antworten, bietet aber immerhin zahlreiche systematische und strukturelle Leerstellen, die in einer veränderten Ausgangskonstellation durchaus Raum für Lösungsversuche bieten können, wie dies dann in der scholastischen Rezeption der Fall sein wird. Die Funktion der beiden folgenden Exkurse zur Epieikie und zur philia besteht vor dem Hintergrund eines Vorgriffs auf diese Rezeption vor allem darin, neben den bislang erarbeiteten strukturellen Feldern noch weitere, bislang weniger berücksichtigte Aspekte herauszuarbeiten, die hinsichtlich der Gerechtigkeitsproblematik im mittelalterlichen Diskurs eine wichtige Rolle spielen werden.
3.3 Epieikie und philia 3.3.1 Epieikie 1. Das Phänomen und das mit diesem verbundene Problem der Epieikie basiert in Aristoteles’ Beschreibungen darauf, dass die gesetzlichen Bestimmungen zu den konkreten Einzelfällen als von diesem her zu Bestimmenden sich verhalten wie das Allgemeine zum Besonderen. Letzteres ist vielfältig bzw. von großer Zahl, erstere hingegen stehen jeweils für ein Eines, eben weil sie Allgemeine sind und in dieser Weise eine Vielzahl von Fällen in sich schließen (1135a5 – 8). Entsprechend ist das Gerechte oder Ungerechte als solches (dikaion kai adikon), sei es natürlich oder gemäß einer Verordnung (taxis), vom Recht oder Unrecht als Einzelfall, das heißt als gerechte oder ungerechte Handlung (dikaioma e dikaiopragma kai adikema), zu unterscheiden.³⁰ In der Regel ist das Verhältnis zwischen beiden Momenten so, dass die allge-
Genauer erörtert Aristoteles die Differenz zwischen dikaioma und dikaiopragma dabei dahingehend, dass ersteres eher die Korrektur von Unrecht meine, während das zweite der allgemeinere Begriff für das Tun von Gerechtem sei (a – ).
3.3 Epieikie und philia
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meine Gesetzesvorschrift die einzelne Handlung bestimmt. Das Gesetz gibt dem Handelnden also vor, welche Handlung eine gerechte ist; das Allgemeine wird auf die Situation und das zu Tuende angewandt und dieses durch jenes bestimmt. 2. Das Problem der Epieikie (‚Billigkeit‘) taucht dann auf, wenn die Anwendung des Gesetzes auf den vorliegenden Einzelfall nicht zu einer gerechten, sondern zu einer ungerechten Handlung führt. Dies ist unter den beschriebenen Rahmenbedingungen nur so verständlich, dass demjenigen Gerechten (dikaion), welches im Gesetz allgemein artikuliert ist, ein eine bestimmte gerechte Handlung forderndes Gerechtes als mit der Gesetzesforderung nicht identisches gegenübersteht. Dies impliziert jedoch erstens, dass die ‚billige‘ Handlung, sofern sie ein legitimes Gerechtes verfolgt, das nicht durch das bestehende Gesetz erfasst ist, eine Korrektur des Gesetzes darstellt (epanorthoma nomou) (1137b26 f.). Weiterhin bedeutet es, dass es nicht die ihrerseits lediglich am Gesetz orientierte Gesetzesgerechtigkeit sein kann, die den ‚Billigen‘ (epieikes) zur Ausübung ‚billiger‘ Handlungen befähig. Und drittens rückt mit der Epieikie die Dimension eines Gerechten in den Blick, welches offenkundig einer Sache bzw. einem Einzelfall selbst zukommt. Es liegt nahe, hierin ein ‚Naturrecht‘ (dikaion physei) zu sehen, welches der Natur der vorliegenden Sache entspringt und eine das Gesetz transzendierende Normativität für den Handelnden im konkreten Fall impliziert.³¹ Aufgrund dieser Konkretion des so verstandenen Naturrechts ist auch festzuhalten, dass nicht alles gesetzlich geregelt sein kann und einige Dinge überhaupt keiner gesetzlichen Regelung fähig sind (1137b27– 29). 3. Folgt man diesen Überlegungen, so stellen sich erneut Fragen hinsichtlich des Vermögens, das den Handelnden befähigt, ein solches ‚Naturrecht‘ als je konkretes zu erfassen, anstatt lediglich allgemeine vorfindliche Gesetzesregeln auf den Einzelfall – diesen hierbei unter jene subsumierend – zu applizieren. Dieses Vermögen müsste erstens den Handelnden in die Lage versetzen, Einzelnes unmittelbar zu erfassen, und zweitens müsste es mit dem den sonstigen Gerechtigkeitsarten zugrunde liegenden hypokeimenon die Eigenschaft teilen, den Handelnden in dieser Erfassung sich auf das fremde Gut um dessen selbst willen zu beziehen.
3.3.2 Philia (‚Freundschaft‘) 1. Im Kontext universalistischer Ethiken wird die philia-Theorie des Aristoteles in der Regel in Hinsicht auf die Frage diskutiert, inwieweit ein persönliches Verhältnis zweier Freunde überhaupt ein angemessener Gegenstand der Ethik sein könne, da ein solches Verhältnis nicht nur zu partikulär sei, um hinreichend allgemeine Strukturen moralischen Handelns zu beinhalten, sondern die Präferenz des Freundes aufgrund der darin involvierten Parteilichkeit sogar zu moralischen Schwierigkeiten, besonders in
Auf diese Weise wird weiter unten auch das Naturrecht (ius naturale) bei Thomas von Aquin gedeutet werden. Cf. hierzu auch Fuchs (, – ).
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
Hinsicht auf gerechte Verhältnisse führen kann.³² Dies übersieht jedoch einerseits, dass Aristoteles unter ‚philia‘ zwar durchaus vor allem das genannte exklusive Verhältnis zweier oder weniger tugendhafter Personen versteht, nämlich dann, wenn von philia ‚im vollkommenen Sinne‘ gesprochen wird. Nichtsdestotrotz kennt Aristoteles aber auch Formen der ‚Freundschaft‘, die, als der vollkommenen bloß ähnlich, zwar aufgrund einiger Momente auch als philia bezeichnet werden können, aber hierbei gerade nicht bloß exklusive Verhältnisse zwischen Einzelpersonen meinen müssen, sondern auch Phänomene wie etwa die Eintracht von Bürgern innerhalb eines Gemeinwesens benennen können. In dieser Verwendungsweise ist der Begriff der philia nicht etwa nur eine Marginalie innerhalb der aristotelischen Ethik, sondern stellt „a cardinal element in his ethical theory as a whole“ dar,³³ da er nunmehr auf sämtliche Formen menschlicher Vergemeinschaftung bezogen werden kann und damit die dem Menschen zentrale Bestimmung, ein geselliges Lebewesen (zoon politikon) zu sein, zu thematisieren erlaubt. Da sich philia hiermit offenbar auf ähnliche Bereiche wie die Gerechtigkeit bezieht, ist im Weiteren auf die Grundmomente der aristotelischen philia-Konzeption³⁴ einzugehen. – Andererseits ist die Freundschaftsproblematik, wie sich später in den Besprechungen der scholastischen amicitia³⁵ und besonders der caritas bei unterschiedlichen Autoren zeigen wird, auch im Fall einer vollkommenen Form der Freundschaft mit einer gewissen Art von Allgemeinheit verkoppelt, das in den späteren Debatten bisweilen unter dem Topos der ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘ bzw. der ‚allgemeinen Tugend (virtus generalis)‘ verhandelt wird. Die Untersuchungen zur Freundschaftsproblematik bei Aristoteles dienen daher auch zur Vorbereitung der späteren Besprechung dieser Art von Universalismus.
3.3.2.1 Arten und zugrunde liegendes Seelenvermögen der philia 1. Aristoteles geht in seiner Differenzierung von philia-Typen von deren jeweiligem Gegenstand aus. Da philia mit dem ‚Lieben (philein/philesis)‘ zu tun hat (1157b5– 6), geht jede Art von philia auf ein ‚Geliebtes (phileton)‘. Dieses wiederum kann entweder sittlich gut, lustbringend oder nützlich sein (agathon, hedy, chresimon), wobei das Gute und die Lust als Ziel (telos) erstrebt werden, das Nützliche dagegen als Mittel (1155b19 – 21). Von einem philia-Verhältnis zu diesen ‚Geliebten ‘ (phileta) kann jedoch erst dann die Rede sein, wenn das jeweilige Geliebte kein bloßer Gegenstand ist, sondern zwischen Lie-
Cf. von Siemens (, ). Zur Darstellung der Freundschaftsproblematik bei Aristoteles cf. auch Ricken (, – ). Weiterführende systematische Betrachtungen zur Freundschaftsthematik erbringen die Arbeiten von Sandkaulen (, – ), sowie Sandkaulen (, – ). Cf. auch Fuchs (b, – ). Cooper (, ). Wie schon öfter in der vorliegenden Studie wird hierbei keine deutsche Übersetzung des Ausdrucks ‚philia‘ angeboten, sondern vielmehr dieser selbst im Text verwendet. Auch dieser Begriff ist nicht einfach mit ‚Freundschaft‘ übersetzbar und wird daher im Text im Original belassen.
3.3 Epieikie und philia
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bendem und Geliebtem Gegenliebe (antiphilesis) und Wohlwollen (boulesis hekeino agathou) statthat (1155b28– 29). Indem das Moment hinzukommt, dass die wohlwollende Gesinnung demjenigen, dem sie gilt, nicht verborgen sein darf, ergibt sich als allgemeine Bestimmung der philia, dass die ‚Freunde‘ (philoi) „einander, ohne dass dies verborgen bleibt, wohlwollen und sich Gutes wünschen aufgrund eines der genannten Gründe“, das heißt aufgrund der sittlichen Güte, des lustbringenden oder nützlichen Charakters (1156a2– 5). Im eigentlichen und vollkommenen Sinne ist jedoch nur diejenige Beziehung als philia zu bezeichnen, in der die philoi einander jeweils um des anderen willen wohlwollen, was nur in der Freundschaft zwischen Tugendhaften bzw. der Freundschaft, die auf der Grundlage der Tugendhaftigkeit eingegangen wird (philia kat’ arethen), der Fall ist (1156b7– 12). Die anderen philia-Arten hingegen sind dieser Form nur ähnlich (homoios) (1157a2);³⁶ in ihnen will man zwar auch dem anderen auf eine diesem unverborgene Weise wohl, jedoch nicht um seiner selbst willen, sondern weil er nützlich oder lustbringend ist (1156a14– 16). 2. Das zugrunde liegende Seelenvermögem (hypokeimenon) der philia ist wie schon angedeutet ‚Lieben‘ (philesis) und damit eine ‚Leidenschaft‘ (pathe) (1157b5 – 6).³⁷ Philia selbst ist hingegen ein Habitus. Denn ‚Lieben‘ (philesis) kann auch gegenüber unbeseelten Dingen auftreten, nicht aber philia, da diese wie gesehen auf einer Wechselseitigkeit beruht, die nur durch eine Entscheidung oder Wahl (prohairesis) zustande kommen kann (1157b6 – 8). Als Leidenschaft gehört philesis, zieht man Aristoteles’ De anima zurate, zum sinnlichen Strebevermögen, also zum epithymetikon und damit zum Menschen, sofern er ein Ganzes aus Seele und Leib (synholon) ist.³⁸ Dies scheint auch für die vollkommene Freundschaft der Fall zu sein, für die, wie sich zeigen wird, in der Scholastik nicht das sinnliche, sondern das vernünftige Strebevermögen, das heißt der Wille als Zugrundeliegendes (subiectum) angesetzt werden wird. Dass später Thomas von Aquin und Jakob von Viterbo hierbei auch die Gerechtigkeit im Willen gegründet sein lassen, wofür sich wie gesehen bei Aristoteles kein Zugrundeliegendes (hypokeimenon) ausfindig machen ließ, dass also Gerechtigkeit und Freundschaft im selben Seelenvermögen verortet sind, hat im aristotelischen Entwurf immerhin insofern eine gewisse Grundlage, als die uneigentlichen Formen der philia enge Verbindungen zum Gerechtigkeitsproblem aufweisen, die im folgenden Abschnitt herausgestellt werden.
3.3.2.2 Philia und das Gerechte 1. Ihres uneigentlichen Charakters unbeschadet, spielen die philia-Arten des Nutzens und der Lust im aristotelischen Entwurf eine wichtige Rolle vor allem in Hinsicht auf Cf. hierzu Ricken (, ), sowie Sandkaulen (, ). Cf. auch Fuchs (b, ). In EN IX , a – spricht Aristoteles davon, dass philesis dem Tun (poiein), Geliebtwerden (phileisthai) dagegen dem Erleiden (paschein) entspreche. Jedoch ist philesis hier nicht als Zugrundeliegendes (hypokeimenon), sondern als Ausübung der philia zu verstehen. Cf. De an. I , a und I , b.
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3 Aristoteles’ Gerechtigkeitstheorie in EN V
die Frage nach dem Zustandekommen und dem Erhalt menschlicher Gemeinschaftsformen.³⁹ Zugleich taucht hier das Problem des Gerechten (dikaion) sowie der Gerechtigkeit wieder auf, da auch in den philiai Verhältnisse des Ausgleichs eine zentrale Rolle spielen. So stellt Aristoteles nicht nur fest, dass die philia in der Gestalt der Eintracht unter Bürgern (homonoia) „die Staaten zusammenzuhalten“ scheint, weshalb die Gesetzgeber „sich mehr um sie zu bemühen [scheinen] als um die Gerechtigkeit“ (1155a22– 25). Überdies bedarf es, „wenn Menschen Freunde sind, […] nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft, und als das Gerechteste innerhalb des Gerechten gilt das Freundschaftliche“ (1155a26 – 28). Für die Ebene der Gemeinschaft (koinonia) ist entscheidend, dass philia und Gerechtes sich „auf dieselben Dinge beziehen und zwischen denselben Menschen stattfinden“ (1159b25 – 26).⁴⁰ Dies betrifft hauptsächlich die verschiedenen Formen der Nutzenfreundschaft, die darin der politischen Gemeinschaft (politike) gleichen (1160a8 – 9), die ebenfalls „ursprünglich um des Nutzens (sympheron) willen zusammengekommen“ ist und auch seinetwegen zusammenbleibt (1160a9 – 12). Aber auch die um der Lust willen eingegangenen Freundschaften sind in der politischen Gemeinschaft integriert (1160a19 – 28), sodass „alle Gemeinschaften Teile der politischen Gemeinschaft zu sein [scheinen]“, weshalb „den Arten der Gemeinschaft […] die Arten der philia entsprechen“ (1160a28 – 30).
Ursula Wolfs Vorstellung, die ‚politische Freundschaft‘ müsse von den von Aristoteles in EN VIII – diskutierten drei Arten der Freundschaft unterschieden sein, da diese „zwischen Personen, die eine gemeinsame Lebenspraxis haben“, jene aber „zwischen allen Bürgern eines Staates bestehen soll“, entbehrt der sachlichen Grundlage (Wolf [, ]). So ist nicht zu sehen, in welcher Weise eine derartige bloß numerische Differenz innerhalb der Lust- und Nutzenfreundschaft zur spezifischen Unterscheidung von Freundschaftsarten führen soll. Einzig die vollkommene Freundschaft kann nicht mit vielen gepflegt werden, da sie allein im eigentlichen Sinne ‚persönlich‘ ist. Jedoch ist sie auch nicht die Grundlage politischer Verhältnisse im hier dargestellten Sinne.Wolfs Vorstoß scheint hierbei einem ähnlichen Missverständnis zu erliegen, das bereits bei MacIntyre zu beobachten ist. Dieser deutet Aristoteles’ Freundschaftstheorie dahingehend, dass die Polis von Aristoteles als basierend auf einem „Netzwerk aus kleinen Freundschaften“ beschrieben worden sei, und zwar im Sinne der „Teilnahme aller an dem gemeinsamen Projekt, das Leben der Stadt zu erwecken und aufrechtzuerhalten“, das heißt als „eine Teilnahme, eingegliedert in die Unmittelbarkeit der Freundschaften des einzelnen“ (MacIntyre [, – ]). Während Wolf somit eine solche Auffassung der Polis als eine Art ‚Freundesclub‘ kritisiert, übernimmt sie immerhin MacIntyres Annahme, dass die drei Typen von Freundschaft auf wenige persönliche Beziehungen beschränkt seien, was eben bei Nutzen- und Lustfreundschaft nicht zutrifft. Cf. hierzu Sandkaulen (, ) und Fuchs (b, – ). Diese Einschätzung deutet Salomon (, ) dahingehend, dass die philia in der aristotelischen Ethik die unverlierbar „irrationale Wurzel“ des Rechts und damit seine „Herkunft“ darstellt, ohne die das Recht „leer, inhaltlos, starr“ wäre. Ob man die aristotelische Theorie in der Tat auf diese Weise interpretieren muss, sei hier dahingestellt; es genüge der Hinweis, dass die philia in dem Maße, als sie eine Tugend ist, doch zumindest als eine vernünftige Mitte anzusetzen ist. In jedem Fall wird sich jedoch für die scholastischen Entwürfe zeigen, zumindest bei Thomas von Aquin und Jakob von Viterbo, dass dort durch die Verlagerung der amicitia wie der Gerechtigkeit in den Willen als genuin vernünftigem Streben (appetitus rationalis) diese vermeintliche Irrationalität aufgehoben wird.
3.3 Epieikie und philia
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2. Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen Arten der von Aristoteles vorgenommenen Parallelisierung der Arten von philia – etwa zwischen Eltern und ihren Kindern oder zwischen den Kindern untereinander – mit verschiedenen Staatsformen ausführlich darzustellen und zu diskutieren.⁴¹ Entscheidend ist lediglich die Feststellung, dass in EN VIII und IX als Grundlage menschlicher Gemeinschaft von Aristoteles das menschliche ‚Lieben‘ (philesis) angesetzt wird. Dies führt jedoch zu paradoxen Konsequenzen. Denn da die philiai, in denen sich dieses ‚Lieben‘ tugendhaft verwirklicht, je Gemeinschaftsformen bedingen, die wiederum durch eine jeweils eigentümliche Form des ihnen zukommenden Gerechten (dikaion) ausgezeichnet sind (1159b34– 1160a3), so müsste offenbar gefolgert werden, dass das anthropologische Zugrundeliegende (hypokeimenon) auch der Gerechtigkeit bei Aristoteles im ‚Lieben‘ zu suchen wäre.⁴² Dies gilt umso mehr, als auch der auszeichnende Zug der Gerechtigkeit, nämlich ihr Bezogensein auf das fremde Wohl, grundlegend im Bereich der philia anzutreffen ist. Auch dieser Struktur wird später bei Thomas von Aquin und Jakob von Viterbo nicht zuletzt durch eine Verlagerung von Freundschaft und Gerechtigkeit in den Willen Rechnung getragen werden.
Fazit Über die bereits oben im Zwischenfazit gemachten Anmerkungen zu grundsätzlichen Problemen der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie hinaus haben die beiden Exkurse folgende Resultate ergeben: Mit der Epieikie benennt Aristoteles eine Tugend, die den Handelnden dazu vermag, gerade entgegen der bislang als paradigmatisch angesetzten Gesetzesgerechtigkeit den Einzelfall zuungunsten der allgemeinen Gesetze zu berücksichtigen und diesem sein Recht zukommen zu lassen. Dies scheint auf eine naturrechtliche Dimension zu verweisen, in der gerade nicht das Allgemeine, sondern der aufkommende Einzelfall, die Situation einen an den Handelnden ergehenden Anspruch beinhaltet. Mit Blick auf diese Struktur stellt sich dabei die Frage, wie es dem Handelnden möglich ist, ein solches Gefordertes zu erfassen und entsprechend ‚billig‘ zu handeln. Dieses Problem wird auch mit Blick auf die scholastische Rezeption zu untersuchen sein. Was die aristotelische Theorie der philia betrifft, ist zunächst der
Cf. hierfür von Siemens (). Interessant wäre an dieser Stelle eine Untersuchung des Gebrauchs, den Jacques Derrida von diesen aristotelischen Grundmotiven für seinen Entwurf einer ‚Politik der Freundschaft‘ gemacht hat (Derrida []). Wie Michael Schramm in seinen Betrachtungen zu Derridas Ansatz erläutert hat, steht hier ebenfalls ein nunmehr allerdings bedingsloses ‚Lieben (aimance)‘ als Fluchtpunkt einer die Andersheit des Anderen berücksichtigenden Theorie universaler Freundschaft im Fokus (Schramm [, ]). Auf diesen Fluchtpunkt zu, so wäre festzuhalten, bewegte sich auch die sich selbst als mit Gerechtigkeit identisch verstehende Dekonstruktion selbst (cf. Derrida [, ]: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“). Grundzüge einer Kritik dieses Ansatzes finden sich bei Sandkaulen () sowie Fuchs (b).
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Konnex festzuhalten, der, trotz sonstiger Disparität, zwischen philia und Gerechtigkeit besteht. Beide bilden in gewissen ihrer Ausprägungen Aristoteles zufolge die Basis der menschlichen Gemeinschaft, beide weisen einen Bezug auf fremdes Wohl auf, beide basieren auf einer Form von Gerechtem oder ‚Recht‘ (dikaion). Wie sich mit Blick auf die scholastischen Theorien von Thomas und Jakob jedoch zeigen wird, ist es vor allem das bei Aristoteles der Gesetzesgerechtigkeit zugesprochene Moment des allgemeinen Umfassens aller anderen Tugenden und der Ausrichtung von deren Zielobjekten auf ein höheres Ziel, das in den mittelalterlichen Entwürfen, vermittelt über die Entwicklung einer spezifisch theologischen Bestimmung einer allgemeinen Gerechtigkeit, dann auch einer bestimmten Art der Freundschaft zukommt.
4 Mittelalterliche Gerechtigkeitstheorien Bereits Odon Lottin hatte in seiner umfangreichen Studie über Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siécles ¹ darauf hingewiesen, dass die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie aus EN V für den scholastischen Diskurs eine enorme Bedeutung hatte. Dies betrifft, wie von Jörn Müller auf den Punkt gebracht hat, vor allem das Problem der „Integration der verschiedenen aus der Tradition stammenden Gerechtigkeitsdefinitionen“, insbesondere der das suum-cuique-Prinzip thematisierenden Definition Ciceros² einerseits und der die Gerechtigkeit als Rechtheit des Willens auffassenden Bestimmung des Anselm von Canterbury³ andererseits.⁴ Zu dieser strukturellen Erweiterung der aristotelischen Vorlage kommt das bereits oben diskutierte komplizierte Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Philosophie bzw. Ethik hinzu, das ebenfalls seinen Ausdruck in den verschiedenen Gerechtigkeitstheorien findet. Vor einsetzender Aristoteles-Rezeption steht die sogenannte allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) klar auf dem Feld der christlichen Theologie, indem sie einen ausdrücklichen primären Gottesbezug involviert und größte Nähe zur göttlichen Gnade (nämlich als deren Wirkung) aufweist. Mit einsetzender AristotelesRezeption dagegen wird mit der Gesetzesgerechtigkeit eine für den mittelalterlichen Diskurs bis dahin neue, ebenfalls allgemeine, jedoch statt auf Gott unmittelbar auf das Gemeinwesen ausgerichtete Gerechtigkeitsform auftreten, die sich am politischen Gesetz orientiert. Umgekehrt gewinnt bei Thomas von Aquin im Aufgriff und in Weiterentwicklung von Ansätzen bei Albertus Magnus das Naturgesetz (lex naturalis), das dieser wiederum aus der stoischen und augustinischen Tradition übernommen und als natürlichen und zugleich evidenten sittlichen Handlungsrahmen des Menschen beschrieben hat, eine große Bedeutung nicht nur innerhalb der Ethik überhaupt, sondern auch für seine Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie. Denn Thomas wird diese nun mit dem Naturgesetz als universalem Rahmen ins Verhältnis zu setzen versuchen. Da die Gesetzesgerechtigkeit bei Aristoteles außerdem den Status einer Allgemeinheit in Bezug auf die übrigen Tugenden beansprucht, setzt sie dies in eine Konkurrenzsituation zur theologischen Tugend der caritas, die Thomas überdies in Anlehnung an die aristotelische Figur der Freundschaft zu bestimmen versucht. Diese komplizierte Lage wird sich mit all ihren Verwerfungen dann besonders in der kritischen Diskussion des thomasischen Ansatzes durch Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines zeigen. Die aristotelischen Hintergründe dieser Entwicklung sind im vorigen Abschnitt entwickelt worden. Bevor jedoch genauer und detaillierter in die Untersuchung der mittel-
Lottin (, – ). De inv. l. c. n.: „iustitia est habitus animi, communi utilitate conservata, suam cuique tribuens dignitatem.“ De ver. c., I, v. : „iustitia igitur est rectitudo voluntatis propter se servata.“ Müller (, – ).
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4 Mittelalterliche Gerechtigkeitstheorien
alterlichen Entwürfe eingestiegen werden kann, ist es sinnvoll, auch zum augustinischen und stoischen Naturrechts- bzw. Naturgesetzesbegriff noch einige Bemerkungen vorwegzuschicken. Denn dieses Moment ist nicht schon in der aristotelischen Vorlage enthalten, sondern wird gerade von den mittelalterlichen Autoren in innovativer Weise mit ihr verknüpft. Hierbei genügt es aber, nur einige allgemeinste und innerhalb der Forschung nicht weiter kontroverse Bestimmungen herauszugreifen.⁵
4.1 Ewiges Gesetz und Naturgesetz bzw. Naturrecht in der Stoa und bei Augustinus 1. Hatte Aristoteles wie gesehen das Moment des Naturrechts mit der in Gestalt der Polis als paradigmatischer Grundform menschlicher Gemeinschaft verknüpft, so geht die spätere Stoa andere Wege. Vor dem Hintergrund historischer Umbrüche – dem „Niedergang und Ende der griechischen Poleis als für sich selbständiger, weithin eigenbestimmter politischer Einheiten“ und dem Übergang zum Großreich als „maßgebliche[r] Herrschaftsform“ zunächst im Hellenismus und später in Gestalt des Römischen Reichs⁶ – wurde für die stoischen Denker mit Blick auf die Frage nach den Grundlagen von sittlicher Normativität nunmehr „eine Ausrichtung auf die Welt und ihre Ordnung statt auf die Polis bestimmend.“⁷ E.-W. Böckenförde sieht vor diesem Hintergrund die „besondere Leistung der stoischen Rechtsphilosophie, durch die sie das weitere Denken nachhaltig beeinflusst hat“, in drei Momenten: „in einer neuen Bestimmung des Nomosbegriffs, in der ersten Entfaltung der Lehre vom Naturgesetz […] und in einer Fortentwicklung der Lehre vom ethischen und rechtlichen Denken.“⁸ Bei Aristoteles war der Begriff des Nomos noch eng mit der jeweiligen Polis und der Vorstellung verbunden, dass das Gesetz als vermittelt über einen Prozess politischer Entscheidung eingesetzte Institution die Belange der Polis zu regeln hatte.Wie schon oben problematisiert, hat Aristoteles hierbei nicht ein über die einzelnen Poleis hinausreichendes, schon gar nicht übergeschichtlich universales Gesetz im Blick. Dies ändert sich grundlegend in der stoischen Philosophie. Orientierungspunkt für die Bestimmung des Inhalts des Nomos ist nicht mehr die Einzelpolis mit ihren konkreten, von denen anderer Poleis unterschiedenen Gesetzen, sondern der allgemeine, alle einzelnen Regierungsformen umfassende Nomos der Welt. „Allgemeinheit und die universale Geltung werden
Grundlage dieses kurzen Abrisses bilden insbesondere die Arbeiten von Ernst-Wolgang Böckenförde (Böckenförde []), Ludger Honnefelder (Honnefelder []), Karl-Heinz Ilting (Ilting []) sowie Hans Welzel (Welzel []). Da es hierbei lediglich darum geht, einige allgemeine Hintergründe für die darauffolgenden ausführlicheren Darstellungen der mittelalterlichen Gerechtigkeitstheorien anzugeben, nicht jedoch um eine eigene kritische Rekonstruktion der historischen spätantiken Theorien, genügt es, sich auf die Darstellungen aus der genannten Forschungsliteratur zu beschränken. Böckenförde (, – ). Böckenförde (, ). Böckenförde (, ).
4.1 Ewiges Gesetz und Naturgesetz bzw. Naturrecht in der Stoa und bei Augustinus
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Merkmale des Nomosbegriffs.“⁹ Die Grundlage für diese so verstandene Universalisierung des Nomos-Begriffs¹⁰ ist dabei seine in einer „Rückbesinnung auf voraristotelische Ansätze der Gründung in kosmischer Ordnung“¹¹ (besonders Heraklit) vollzogene Angleichung bzw. letztendliche Identifikation mit dem göttlichen, die gesamte Welt durchwaltenden und regierenden Welt-Logos, der sodann für alle politischen Beschlüsse als Maßstab fungieren soll. Diese göttliche Weltvernunft, die den Kosmos und damit auch die Menschen regiert, wird später das ewige Gesetz (lex aeterna) genannt. Anders aber als etwa bei Augustinus, auf dessen Konzeption gleich noch weiter eingegangen wird, ist dieses ewige Gesetz nicht aufzufassen als etwas, was im der Schöpfung transzendenten göttlichen Geist seine Grundlage hat, sondern als Gott selbst, der der Welt als sie regierendes und durchwaltendes Gesetz immanent ist. „Die Theologie ist insofern Teil und Ausfluss der stoischen Physik […], letztlich ein weltumfassender Pantheismus.“¹² An diesem ewigen Gesetz hat der Mensch Teilhabe durch seine Vernunft. Hierin besteht zugleich das Naturgesetz (lex naturalis); dieses ist „Teil des ewigen Weltgesetzes“, eben derjenige Teil, „der auf die menschliche Natur bezogen ist.“¹³ Anders als später bei Thomas von Aquin, der das Naturgesetz in das Urgewissen (Synderesis) und damit ins Innerste des Menschen selbst verlegt, bildet bei den Stoikern das Naturgesetz „für die individuelle Vernunft, den logos des Einzelmenschen, einen ihm gegenüberstehenden Erkenntnisgegenstand.“¹⁴ Wie Ludger Honnefelder bemerkt, findet hiermit zugleich „eine Universalisierung und eine Individualisierung“ des natürlichen Rechts insofern statt, als auf der einen Seite aufgrund dieser Teilhabe nunmehr auch jedem einzelnen Menschen „eine Würde“ zugesprochen werden kann, dies auf der anderen Seite jedoch nur genau insofern, als er am allgemeinen Weltgesetz durch seine Vernunft teilnimmt.¹⁵ Damit ist festzuhalten, dass das Naturgesetz „der logos der allgemeinen Menschennatur“ ist, „nicht der des Bauern, Handwerkers, Sklaven oder Freien, sondern der des Menschen, die Entfaltung der jedem Menschen eigenen Vernunftausstattung.“¹⁶ Damit ist ein erster Schritt getan hin zu der universalen Geltung,
Böckenförde (, ). In der Ilting (, ), im Übrigen eine „Entpolitisierung und Entökonomisierung des Gemeinschaftsgedankens“ am Werke sieht. Honnefelder (, ). Böckenförde (, ). Gegenüber diesem ewigen Gesetz (nomos) verlieren die menschlichen Gesetze, die sich an ihm orientieren müssen, um recht zu sein, die Bestimmung, ‚nomoi‘ zu sein, sondern werden nunmehr lediglich als ‚Setzungen‘ (theseis) aufgefasst. Böckenförde (, ). Böckenförde (, ). Honnefelder (, ). Wie Honnefelder (, ), festhält, findet hiermit eine Ablösung des Naturrechts von gesellschaftlichen Institutionen statt, die zwar einerseits den an der lex aeterna partizipierenden Einzelnen als moralische Entscheidunginstanz aufwertet, was aber andererseits dadurch konterkarriert wird, dass zugleich eine starke Betonung der animalischen Bedürfnisnatur im Naturrecht vorgenommen wird. Böckenförde (, ).
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die das Naturgesetz dann in der Scholastik besonders bei Albert und Thomas ausdrücken wird. 2. Im Christentum übernimmt Augustinus die Auffassung des ewigen Gesetzes (lex aeterna) als göttliches Gesetz, nimmt jedoch vor dem Hintergrund der christlichen Weltsicht weitreichende Modifikationen vor. Seine Definition der lex aeterna lautet: „Das ewige Gesetz ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der die natürliche Ordnung zu bewahren befiehlt und zu stören verbietet.“¹⁷ Das ewige Gesetz ist damit nicht mehr unmittelbar Gott selbst, der in Einheit mit der Welt diese regierend durchwaltet, sondern die Vernunft bzw. der Wille¹⁸ eines persönlichen Gottes. Mittels dieses ewigen, unveränderlichen und allumfassenden¹⁹ Gesetzes erhält Gott die natürliche, aber auch die heilsgeschichtliche Ordnung seiner Schöpfung aufrecht, indem er sogar die Taten des Bösen vorausschauend in den Gesamtplan seiner Schöpfungsordnung einschließt.²⁰ Damit treten tendenziell das ewige und das natürliche Gesetz auseinander, wie Böckenförde festhält: In dieser Zuweisung, die die Naturordnung mit dem sie hervorbringenden Göttlichen einerseits verbindet, zugleich aber begrifflich davon abschichtet, liegt – Augustinus selbst wohl nicht bewusst – ein Ansatzpunkt für die später in der Spätscholastik […] vorangetriebene relative Verselbständigung der natürlichen Ordnung gegenüber Offenbarung und Theologie.²¹
Das natürliche Gesetz (lex naturalis) ist hierbei zweigeteilt. Allgemein bezieht es sich auf die geschöpfliche Natur, das heißt auf die „im ordo naturalis der Schöpfung wirksame Gesetzlichkeit“, und zwar auf die Natur nicht als nach dem Sündenfall verdorbene (in statu lapsi), sondern auf die „ursprüngliche Natur, nicht die gefallene Natur, der die Vollkommenheit des Urzustands fehlt“.²² Aber als Gesetz der Natur (lex naturae) bezieht sich das Naturgesetz auf die nicht-menschliche Natur, dagegen als lex naturalis im engeren Sinne auf den Menschen. Mit dem Naturgesetz in beiderlei Sinne regiert Gott seine Schöpfung über die dieser inne liegenden „konstanten Neigungen und Triebe, die er allen Dingen, und durch die Vernunft, die er einigen Wesen anerschaffen“ hat.²³ Hiermit nimmt Augustinus eines der Kernstücke der thomasischen Naturgesetzeslehre vorweg. Die lex naturalis im engeren Sinne, das heißt mit Bezug
Contra Faustum XXII : „Lex vero aeterna est ratio divina vel voluntas Dei ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans.“ Mit dieser Unterschiedenheit legt Augustinus die Grundlage für eine der zentralen Debatten im Mittelalter, nämlich die zwischen dem Voluntarismus und dem Intellektualismus der Ethikbegründung. Besonders Welzel (, – ), betont stark den voluntaristischen Einschlag, den die Patristik und insbesondere Augustinus in ihrem Aufgriff des griechischen Denkens diesem vermitteln. Cf. Schubert (, – ). Schubert (, ). – Auch diese Verknüpfung des ewigen Gesetzes mit der göttlichen Providenz weist grundlegend auf Thomas voraus. Böckenförde (, ). Böckenförde (, ). Schubert (, ; ).
4.1 Ewiges Gesetz und Naturgesetz bzw. Naturrecht in der Stoa und bei Augustinus
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auf das vernunftbegabte Wesen, fasst Augustinus als Einschreibung (transsciptio) bzw. Einleuchtung (illuminatio) des ewigen Gesetzes (lex aeterna) in die Herzen bzw. die Vernunft der Menschen auf – auch dies ein Theoriestück, das Thomas im Wesentlichen übernehmen wird.²⁴ Diese Einleuchtung – wie die Erhellung der Dinge durch das Licht²⁵ – oder Einschreibung – wie der Abdruck eines Siegelrings im Wachs²⁶ – erfährt der Mensch in der Instanz seines Gewissens. ‚Eingeprägt‘ oder ‚eingestrahlt‘ wird ihm dabei mit der Goldenen Regel zumindest ein festes sittliches Prinzip, das glaubensunabhängig ist und nicht nur einigen Auserwählten durch göttliche Gnade vermittelt wird, sondern vielmehr eine allen Menschen bekannte universale Handlungsregel ist²⁷ und zugleich die Grundlage der Möglichkeit eines Vernunftwesens darstellt, hinsichtlich des zu Tuenden sich mit sich selbst zu beratschlagen.²⁸ Das menschliche Gesetz (lex humana) schließlich, das die Ordnungsform des Staates als vollkommener Lebensform des Menschen darstellt,²⁹ ist von der lex aeterna als seinem Maßstab vermittelt über die lex naturalis abhängig, jedoch nicht so, dass es streng aus diesem abgeleitet werden könnte, sondern so, dass das ewige Gesetz zum menschlichen lediglich in einem „Legitimationsverhältnis“ steht, das heißt grundsätzlich veränderlich ist und den historischen Umständen entsprechend erlassen werden muss.³⁰ 3. Ein letztes wichtiges Moment, das für die Fragestellung vorliegender Studie von Bedeutung ist und hier abschließend nur kurz genannt sei, ist die „Verschmelzung“ der „stoische[n] Deutung der Gerechtigkeit“ und des Naturrechts mit der „christliche[n] Auffassung von der Liebe“.³¹ Grundlage hierfür ist nicht zuletzt der Bezug auf fremdes
Cf. Böckenförde (, ). Philon von Alexandria nimmt dann die Identifizierung von stoischer lex naturalis mit dem Dekalog vor. Damit sind zwei wesentliche Momente benannt, die insbesondere bei Thomas von Aquin stark zum Tragen kommen. Hinzu kommt noch Gratians Bestimmung, dass das Naturrecht dasjenige ist, was im (Alten) Gesetz und im Evangelium als Neuem Gesetz eingeschlossen ist („ius naturale est, quod in lege et evangelio continetur“ – Decr. Grat. I di. dict. [corpus iuris canonici I]). Dies lässt sich übrigens theologisch in zweifacher Hinsicht deuten: erstens unter dem Primat der Schöpfungstheologie, was dann bedeutet, dass das, was von der Vernunft als Naturrecht erkannt wird, in der Offenbarung enthalten ist. In dieser Gestalt überbieten und vollenden das Gesetz und das Evangelium das Naturrecht und die Liebe erfüllt und überbietet die Gerechtigkeit. Unter dem Primat der Erlösungstheologie hingegen gilt unter der Voraussetzung der Insuffizienz der Vernunft hinsichtlich der Erkenntnis des Naturrechts, dass Gesetz und Evangelium sowie das sie verkündende Lehramt als „normativ maßgebliche Auslegungsgestalt des Naturrechts“, ja sogar als „‚Substitutionsprinzip‘ (Korff) der das ‚natürliche Rechte‘ erfassenden menschlichen Vernunft“ aufzufassen sind. Cf. Honnefelder (, ). Cf. Schubert (, – ). Cf. Schubert (, ). Cf. Schubert (, ). Cf. Schubert (, ). Cf. Schubert (, ). Der Mensch muss sich daher den Staatsgesetzen unterordnen, außer dort, wo dies dem göttlichen Gebot widerspricht. Insgesamt aber wird die Staatsgewalt, sogar die des Tyrannen, von Augustinus auf Gott zurückgeführt. Cf. Schubert (, – ). Böckenförde (, ). Ilting (, ).
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Wohl, der beiden Tugenden zugrundeliegt, und den etwa Augustinus im Rückgriff auf aristotelische Überlegungen im natürlichen Geselligkeitsbezug des Menschen fundiert sieht.³² Die Nächstenliebe ist, wie Ilting mit Blick auf Laktanz und Ambrosius herausstellt, in der Lage, eine Verbindung zwischen der „stoischen Humanitätsidee“ und dem „organischen Gemeinschaftsgedanken bei Platon und Aristoteles“ herzustellen.³³ Denn in dieser Figur werden die ursprünglichen Beziehungen, wie sie zwischen den Mitgliedern einer Familie bestehen, die ihrerseits als Basis für jedwede Form menschlicher Gemeinschaft angesehen wird, zusammengedacht mit dem Bezug des Menschen auf Gott auf Grundlage der menschlichen Gottesebenbildlichkeit.
4.2 Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler Es ist das Verdienst Philipps des Kanzlers, in seiner Summa de bono erstmals eine „begrifflich-systematische Darstellung [der Ethik] unter dem leitenden Begriff des bonum“ anstatt der bloßen Kommentierung einer literarischen Vorlage wie etwa der Sentenzen des Petrus Lombardus vorgelegt zu haben.³⁴ Gerade hierin wurde er zum Vorbild für Albertus Magnus in dessen Verfassung seiner Texte De natura boni und De bono. Anders aber als Albert verbleibt Philipps Summa in systematischer Hinsicht noch in einem theologischen Rahmen und enthält daher „eine vollständige Angelologie, Schöpfungslehre, Anthropologie und Erbsündenlehre“, was später bei Alberts genannten Texten zum Begriff des bonum – auch schon vor Rezeption von EN V – entfällt.³⁵ Die folgenden Betrachtungen zur Gerechtigkeitstheorie bei Philipp dem Kanzler dienen einerseits dazu, als Kontrast zu den späteren Theorien von Albert und Thomas diese stärker von der vorausliegenden Tradition abzuheben. Zugleich jedoch gibt es andererseits mit Blick auf die Gerechtigkeitstheorie selbst auch Kontinuitäten, etwa in Hinsicht auf Fragen nach dem vermögenspsychologischen Subjekt der Gerechtigkeit, ihren Status als allgemeine Tugend und den ihr eigentümlichen Akt sowie ihren Bezug auf die übrigen Tugenden – Fragen, die – wie in der Einleitung und im Aristoteles-Kapitel gesehen – in EN eher offen bleiben und auf die Albert und Thomas bei Philipp mögliche Antworten finden konnten. Ebenso entwickelt Philipp einige vorausweisende Überlegungen zum Problem des normativen Standards, welcher der Gerechtigkeit, vor allem der allgemeinen (iustitia generalis), ihre Allgemeinheit verleiht. Wie sich aber zeigen wird, ist bei aller Bedeutung dieser einzelnen Aspekte für die spätere historische Entwicklung der Gerechtigkeitsdiskussion der insgesamt eher disparate Eindruck festzuhalten, den Philipps Überlegungen zur Gerechtigkeit
Schubert (, ). Ilting (, ). Ernst (, ). Ernst (, ).
4.2 Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler
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aufweisen. Damit scheint sich O. Lottins These von der „pauvreté de la spéculation théologique“ zur Gerechtigkeitsproblematik vor der Rezeption von EN V zu bestätigen.³⁶
4.2.1 Begriff der Gerechtigkeit in der Summa de bono 1. Wie Philipp feststellt, wird der Ausdruck ‚iustitia‘ in einer Fülle von Bedeutungen verwendet, die offenbar nicht auf eine gemeinsame Grundsinneinheit verweisen. Zunächst lässt sich unterscheiden, ob Gerechtigkeit in Bezug auf Gott oder den Menschen ausgesagt wird. In Gott ist hierbei erneut eine vierfache Verwendungsweise des Ausdrucks ‚Gerechtigkeit‘ zu notieren. So heißt Gerechtigkeit einmal Gottes Essenz selbst; weiterhin das Sich-ziemen (condecentia) der göttlichen Gutheit; drittens die Wahrheit oder Zuverlässigkeit Gottes als desjenigen, der sein Versprechen hält; viertens schließlich die Bestrafung der Verdammten. Auf der Seite des Menschen dagegen stellt sich das Differenzierungsgefüge noch komplexer dar. So ist hier zunächst zwischen der Gerechtigkeit als Akt und als Habitus zu unterscheiden und bei letzterer wiederum in Hinsicht der Frage, ob es sich um einen natürlichen oder einen gnadenhaften (gratuita) Habitus handelt. Wiederum lassen sich bei der Gerechtigkeit als habitus naturalis zwei Arten differenzieren: erstens eine Gerechtigkeit der Unschuld (iustitia innocentie), die der Natur eines jeden Menschen angeboren ist,³⁷ zweitens eine natürliche Gerechtigkeit, sofern man unter ‚natürlich‘ ‚gnadenhaft (gratuitus)‘ entstehend versteht, und hier sieht Philipp den Ort der politischen Tugend. Demgegenüber kann Gerechtigkeit als gnadenhafter Habitus einmal in einem äußert allgemeinen Sinne (generalissima) aufgefasst werden und meint dann die Rechtheit des Lebens auch schon in den Kindern (rectitudo vite in parvulis), oder in einem weniger allgemeinen, nur auf die Erwachsenen bezogenen Sinne, was dann die Rechtheit des Willens (rectitudo voluntatis) bezeichnet, oder drittens noch weniger allgemein als Benennung der Rechtheit des Werks (rectitudo operis). Bei der gnadenhaften Gerechtigkeit als Rechtheit des Willens greift dann überdies die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Gerechtigkeit, indem erstere einen Bezug auf Gott und den Nächsten, letztere nur auf den Nächsten bezeichnet. Dieselbe Unterscheidung ist mit Blick auf die Rechtheit des Werkes vorzunehmen.³⁸ 2. Bereits anhand dieses Einstiegs zeigt sich der grundlegend theologische Charakter der Gerechtigkeit bei Philip.³⁹ Sowohl allgemeine als auch spezielle Gerech-
Lottin (, ). Summa de bono : „[…] iustitia innocentie, que connasci debet cum natura uniuscuiusque hominis […].“ Summa de bono – . Sehr klar wird dies schon aus der allgemeinen Verortung, die der Autor der gesamten Summa de bono im Prolog erteilt (Summa de bono : „De bono autem intendimus principaliter quod ad theologiam pertinet“), wie auch aus der Vorgehensweise, die vor allem mit biblischen und patristischen Autoritäten operiert. Cf. hierzu Wicki (, ).
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tigkeit – beide noch nicht im aristotelischen Sinne aufzufassen –, und zwar in natürlicher wie explizit gnadenhafter Bedeutung, werden rückbezogen auf die letzte Perspektive der Gnade als ihres Ursprungs. Noch deutlicher wird dies bei Philipps Untersuchung der Frage, ob die allgemeine Gerechtigkeit mit der Gnade oder, was später zu betrachten sein wird, mit der Tugend überhaupt identisch sei.⁴⁰ Dies wird von Philipp damit zurückgewiesen, dass die allgemeine Gerechtigkeit vielmehr als eine allgemeine bzw. der Gnade in allgemeiner Weise nachfolgende Wirkung (effectus generalis/effectus universaliter sequens) bestimmt wird, sofern unter dieser Gerechtigkeit die Rechtheit des Lebens (rectitudo vite) zu verstehen ist. Dies ist genauer so aufzufassen, dass die Gnade die Seele „belebt“ bzw. ihr „wahres Leben schenkt“. Allgemein gesehen, besteht der Effekt jenes Belebens der Seele durch die Gnade darin, dass die Seele Gott ‚angeformt (conformare)‘ und dadurch wiederum bewirkt wird, dass die Seele sich in rechter Weise (recte) zu Gott als ihrem Ziel verhält. Jedoch kann das Kontinuum zwischen diesem ‚Beleben (vivificare)‘ der Seele durch die Gnade und der als jenes Anformen an Gott zu verstehenden Gerechtigkeit als dessen Effekt auch in eine Mehrzahl von Einzelakten zergliedert werden, in der sich sowohl Übernahmen aus den augustinisch-patristischen Vorlagen wie auch bereits erneut Vorwegnahmen der späteren thomasischen Position zeigen. Als Gnade (ut gratia) nämlich bewirkt die Gnade das Annehmen (acceptare) Gottes, was eben jenes erwähnte ‚Beleben‘ ist. Dies führt zweitens zum ‚Erleuchten (illuminare)‘ der Seele, worin die Gnade als Licht (lux) fungiert, womit Philipp die augustinische Illuminationslehre aufgreift. Dem folgt drittens das ‚Anformen‘ oder Einen (unire) der Seele mit Gott, was Philipp als Wirkung der Gnade als allgemeiner Liebe (amor generalis) beschreibt.⁴¹ Erst nun folgt viertens die Wirkung der Gnade als allgemeiner Gerechtigkeit, die im Rechtfertigen (rectificare) oder recht in Bezug auf Gott Machen (rectum ad Deum facere) besteht. Übrigens besteht hierbei nochmals die Möglichkeit einer Unterscheidung, indem man diese iustitia generalis einmal als Habitus auffassen kann, ein andermal aber auch als Akt, was dann aber,wie Philipp erklärt, den Effekt der Gnade selbst meine.⁴² Diese Gerechtigkeit als Habitus stellt jedoch weniger einen Habitus im aristotelischen Sinne dar, sondern, wie dann bei Albertus Magnus noch detaillierter ausgearbeitet werden wird, eine Haltung oder ein Verhältnis (habitudo)⁴³ der Wohlgeordnetheit des Menschen in Bezug auf sich selbst, den Nächsten und Gott; die Handlungen als Effekt der Gnade sind dann die Wirkungen, zu denen diese habitudo befähigt. 3. Sowohl die Ursache, nämlich die göttliche Gnade, als auch das Objekt (Gott) und ihre allgemeine Wirkung (Rechtfertigen in Bezug auf Gott) der allgemeinen Gerechtigkeit stellen somit erstens den unmittelbaren Rahmen und Bezugspunkt der Ge-
Summa de bono : „utrum idem sit iustitia generalis quod gratia aut virtus.“ Dies ist ein Rückgriff auf die patristische Verbindung von Gerechtigkeit und caritas einerseits, ein Vorgriff auf die thomasische Beschreibung von Freundschaft und caritas als auf Vereinigung (unio) basierenden Phänomenen andererseits. Summa de bono . Cf. hierzu Müller (, ), sowie (ebenfalls zu Albert) Canavero (, – ).
4.2 Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler
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rechtigkeitstheorie von Philipp dem Kanzler dar. Zweitens werden diese Phänomene auch aus der Perspektive des christlichen Theologen thematisiert. Ersteres wird etwa daran erkennbar, dass die – wenn auch inklusive – Selbstzweckstruktur, die den Tugenden und damit auch der Gerechtigkeit bei Aristoteles zukommt, bei Philipp noch nicht dezidiert entwickelt ist, sondern vielmehr die Ausrichtung auf Gott als alleinige Grundlage der Beschreibung der Tugend angesehen wird. Zugleich aber ist es ebendiese theologische Ausrichtung im ersten Sinne, die die spezifische Allgemeinheit der Gerechtigkeit als iustitia generalis bedingt. Denn die allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) ist allgemein mit Blick auf die anderen Tugenden und die aus diesen entspringenden Akten, die sie innerhalb ihres Verhältnisgefüges (habitudo) verortet, was letztlich der Allgemeinheit der Gutheit ihres primären Objekts, eben Gottes, geschuldet ist. Wenn die mittelalterlichen Autoren später die Allgemeinheit der aristotelischen Gesetzesgerechtigkeit beschreiben, werden sie auf eine analoge Struktur zurückgreifen – nur, dass das allgemeine Objekt, auf das diese Gerechtigkeitsform dann bezogen sein wird, nicht Gott, sondern das Gemeinwohl (bonum commune) einer menschlichen Gemeinschaft sein wird, auf die die Gerechtigkeit als Tugend die Akte und Ziele der anderen Tugenden ausrichtet. Ebenfalls in ähnlicher Weise wird sich bei den späteren Autoren eine intrikate Nähe der beschriebenen Charakterisierung der Allgemeinheit der iustitia generalis zu der der caritas ergeben, die eine ganz ähnliche Form der Allgemeinheit wie die Gerechtigkeit aufweist. Entsprechend taucht caritas später nicht nur bei Thomas von Aquin erneut in einem systematischen Konnex mit der Gerechtigkeit als allgemeiner Tugend auf, sondern dieser Konnex wird zudem bei Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines heftig in Hinsicht auf die Möglichkeit eines Bezugs auf fremdes Wohl diskutiert. Wie caritas bereits bei Philipp dargestellt wird, ist daher im vorliegenden Kontext genauer darzustellen.⁴⁴
4.2.2 Caritas 1. Die caritas bespricht Philipp zunächst mit Blick auf die Frage,wie sie sich zu den übrigen vier Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit) sowie den zwei weiteren theologischen Tugenden (Glaube und Hoffnung) allgemein verhalte. Caritas nämlich ist Liebe (amor); diese Bestimmung kommt jedoch auch den anderen Tugenden zu, weshalb vermutet werden könnte, dass caritas als amor im Grund identisch mit allen
Bei Albert finden sich eher Ankündigungen, die caritas zu untersuchen, als die konkrete Durchführung dieses Vorhabens. Bei Thomas wiederum gibt es weitreichende Untersuchungen zur caritas, die jedoch bereits durch die Rezeption der aristotelischen Ethik und besonders der Freundschaftsabhandlungen in EN VIII und IX beeinflusst sind. Daher können Philipps Ausführungen zu diesem Thema im Zusammenhang der vorliegenden Studie auch als eine allgemeinere Hintergrundfolie für die Konzeption der caritas vor einsetzender Aristoteles-Rezeption aufgefasst werden.
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anderen Tugenden ist.⁴⁵ Jede Tugend nämlich wird Liebe mit Blick auf ihr Ziel, nämlich Gott, genannt, denn jedes Werk einer Tugend geschieht aus Liebe zu Gott. Dass jedoch diese gemeinsame Prädikation nicht dazu führt, dass substantiell alle Tugenden mit der caritas identisch sind, hat seinen Grund für Philipp darin, dass die Aussage: ‚die Tugenden sind Liebe‘ nicht im Sinne einer generischen Prädikation zu verstehen ist, da ‚caritas‘ oder ‚amor‘ nicht den Gattungsbegriff für die Tugenden angibt, wie etwa der Ausdruck ‚Lebewesen‘ für Menschen und Tiere. Auch handelt es sich hierbei nicht um eine ‚praedicatio secundum communitatem‘, das heißt um eine Aussage, die aufgrund der Gemeinsamkeit des Werks (opus) der Tugenden mit Bezug auf ihr gemeinsames Ziel vorgenommen wird. Vielmehr ist gerade für die Unterscheidung der Tugenden entscheidend, dass dieser Gemeinsamkeit des Ziels gerade nicht auch eine solche der eigentümlichen Aktivität entspricht, die durch die jeweilige Tugend hervorgerufen wird. Jede Tugend hat ihr jeweils eigenes ‚Werk‘ (opus), welches sie verrichtet und durch welches sie sich von anderen Tugenden unterscheidet. Diese Unterscheidung der Tugenden ergibt sich bei zugleich gemeinsamem Ziel daraus, dass letzteres unter verschiedenen Hinsichten (rationes), genauer in Gestalt unterschiedlicher Seligkeiten (beatitudines) erfasst und verfolgt werden kann. Entsprechend also ist die Liebe in den Tugenden eine, die jedoch in unterschiedlichen Akten ihren Ausdruck findet. Mit Blick nun auf caritas handelt es sich ebenfalls um eine Liebe, die aber ebenso wenig wie der grundlegende amor von den Einzeltugenden in der Weise einer Gattung ausgesagt wird. Vielmehr ist festzuhalten, dass caritas als Liebe zum Guten (amor bonitatis) schlechthin Liebe ist (amor simpliciter), dagegen die anderen Tugenden ‚Liebe in Bezug auf‘ (amor secundum quid) sind, etwa der Glaube Liebe zur Wahrheit. Dabei liebt die caritas nicht nur unmittelbar Gott, sondern auch die Tugenden, und zwar als dasjenige, worin die Anähnlichung (assimilatio) des Menschen in Bezug auf Gott vollzogen wird.⁴⁶ 2. Eine weitere Bestimmung der caritas, die sich bei Philipp findet und die später noch umfänglicher zu diskutieren sein wird, ist ihre Charakterisierung als eine ‚Form der Tugenden‘ (forma virtutum). Hierbei macht Philipp folgende Differenzierungen. Als Form einer anderen Tugend kann eine Tugend dabei einmal in Hinsicht darauf angesprochen werden, dass sie ein Seelenvermögen (potentia), in dem die Tugend ihren Sitz hat,vervollkommnet, zweitens mit Blick darauf, dass sie den eigentümlichen Akt einer anderen Tugend in richtiger Weise hervorbringt, und drittens dann, wenn sie andere Tugenden in richtiger Weise für das Ziel, das zu erstreben ist, disponiert. Letzteres nun ist bei der caritas der Fall, die die Tugenden auf Gott als Letztziel ausrichtet. In dieser finalen Bestimmung der caritas als Form der Tugenden (forma virtutum) steht diese Tugend hierbei zu den übrigen Tugenden in einem Verhältnis der Nachträglichkeit (posterius), da sie zwar nicht zeitlich, wohl aber der Sache nach zunächst dieser übrigen Tugenden bedarf, um diese dann auf Gott hin ausrichten zu Die Rückführung allen Strebens, das den Tugenden zugrunde liegt, auf amor spielt dann wieder in der Thomas-Interpretation sowie weiterhin bei Jakob und Gottfried eine entscheidende Rolle. Cf. hierzu unten. Cf. Summa de bono – .
4.2 Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler
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können.⁴⁷ Trotz dieser Nachordnung ist die Rolle der caritas für die anderen Tugenden jedoch zentral, denn Philipp hebt hervor, dass ohne die caritas die anderen Tugenden gar nicht als solche bezeichnet werden könnten.⁴⁸ Als Liebe zum Ziel (dilectio finis), die das Ziel als solches vorstellt, vermittelt sie nämlich dessen Gutheit auf die Tugenden, die sie auf das Ziel ausrichtet und mit ihm verbindet. Auf dieser Grundlage kann caritas überdies als ‚Band‘ (vinculum) der Tugenden aufgefasst werden, da sie alle Tugenden, die von Gott zumal eingegossen werden, gleichsam zusammenbindet.⁴⁹ Mit Blick also auf diese zusammenbindende Funktion sowie aufgrund ihres Ausrichtens auf das Ziel kommt der caritas der Name einer forma virtutum zu.⁵⁰ 3. Wie später Thomas von Aquin, spricht auch Philipp von einer ‚Ordnung der Liebe‘ (ordo dilectionis), die durch caritas konstituiert wird.⁵¹ Dieser ordo besteht darin, dass durch caritas Gott, man selbst und der Nächste zu lieben ist. Dabei ist wie dann auch bei Thomas Gott das leitende Prinzip; dieser wird um seiner selbst, der Nächste aber und man selbst um Gottes willen geliebt, das heißt insofern, als man selbst wie der Nächste ein Bild Gottes (ymago Dei) darstellt. Sich selbst soll man dabei mehr lieben als den Nächsten, denn obzwar beide darin gleich sind, Bild Gottes zu sein, besteht doch der Unterschied, dass im Fall der Nächstenliebe zwei Ursachen für eine höhere Intensität gegeben sind, nämlich der Geliebte und Gott als Prinzip der Liebe, bei der Selbstliebe dagegen noch eine dritte, nämlich der Liebende selbst, hinzukommt.⁵² – Der beschriebenen Struktur korrespondieren vier Ursachen (causae) der caritas: Materialursache ist die Ähnlichkeit zu Gott (similitudo Dei), um deren willen der Nächste und man selbst zu lieben sind, Wirkursache ist Gott als derjenige, der zu dieser Liebe durch Vorschrift hinbewegt, Finalursache schließlich ist ebenfalls Gott als dasjenige, was um seiner selbst willen zu lieben ist.⁵³ Da es jedoch wie eben angedeutet neben diesen drei eigentlichen Ursachenarten der caritas auch eine vierte Art wie etwa die familiäre Nähe gibt, die verschiedene Grade an Intensität bedingt, in der der zu Liebende dem Liebenden steht, ergeben sich diesen entsprechend auch unterschiedliche Grade der caritas.⁵⁴
Cf. Summa de bono . Cf. Summa de bono – . Hierin übernimmt sie eine Funktion, die unter den Scholastikern u. a. auch mit Blick auf die Klugheit unter dem Topos der ‚Verknüpfung der Tugenden (connexio virtutum)‘ diskutiert werden wird. Überdies kann caritas mit Blick hierauf auch als Wurzel (radix) der anderen Tugenden verstanden werden, die die Gutheit des Zieles in die Tugenden einfließen lässt, wie die Baumwurzel die Lebenskraft den Ästen vermittelt (cf. Summa de bono ). Dies wird dann etwa von Thomas von Aquin wieder übernommen (cf. Sth I – II q. a. c). Summa de bono : „[…] caritas dicitur forma aliarum virtutum comparatione ad finem, id est secundum quod virtutes ordinantur ad finem.“ Cf. Summa de bono . Cf. Summa de bono . – Auch dieses Ordnungsgefüge wird besonders unten bei Thomas wieder thematisch werden. Cf. Summa de bono . Cf. Summa de bono .
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4. Auch die Analogie zwischen caritas und der Gerechtigkeit als Tugend, die später eingehende Besprechung vor allem durch Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines erfahren wird, wird bereits bei Philipp zumindest angerissen. Beiden Tugenden ist Philipp zufolge gemeinsam, innerhalb ihrer jeweiligen Tugendsysteme, also innerhalb der theologischen bzw. ethischen (Kardinal‐)Tugenden, die Stellung einer letzten (ultima) Tugend einzunehmen, da sie die übrigen Tugenden nochmals auf ein weiteres Ziel hin ausrichten.⁵⁵ Die Nähe zwischen beiden Tugenden ist dabei so groß, dass Philipp diskutieren kann, ob nicht eigentlich die Gerechtigkeit statt – oder komplementär zu – der caritas als Form der Tugenden anzusprechen ist – was ebenfalls von Thomas aufgegriffen und später von Jakob und Gottfried diskutiert werden wird. Denn wie Philipp festhält, kann auch die Gerechtigkeit wie gesehen bestimmt werden als „Ordnung der Kräfte untereinander und in Hinsicht auf den Höhergestellten, auf den Niedrigergestellten und auf den Gleichgestellten“, und in dieser Bestimmung als „in materieller Weise jede Tugend“ auffassen.⁵⁶ Philipp räumt denn auch tatsächlich ein, dass man die Gerechtigkeit als Form der Tugenden bezeichnen kann, allerdings mit der zusätzlichen Feststellung, dass der Titel ‚forma‘ mehr der caritas zukommt als der Gerechtigkeit. Denn während die Gerechtigkeit lediglich eine Hinordnung des Handelnden zu demjenigen, dem sie das Geschuldete erstattet, leistet, vermag es dagegen die caritas, über die Hinordnung hinaus auch eine Vereinigung (unire) zwischen dem Liebenden und dem Geliebten zu konstituieren.⁵⁷ Aber dass die Gerechtigkeit überhaupt als mögliche Form der Tugenden in den Blick gerät, wird für Thomas und in dessen Nachfolge für Jakob später der Grund sein, sie in ebendieser Weise zu bestimmen – während Gottfried dies zurückweisen wird.
Fazit Folgende Momente des Ansatzes von Philipp dem Kanzler, die mit Blick auf die weiteren Untersuchungen zu Albertus Magnus,Thomas von Aquin, Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines von Bedeutung sind, lassen sich zusammenfassend benennen: 1. Philipp diskutiert die allgemeine Gerechtigkeit im Rahmen eines prinzipiell theologischen Modells. Die allgemeine Gerechtigkeit wird nicht primär verstanden als eine genuin politische, das heißt auf die menschliche staatliche Gemeinschaft bezogene Tugend, sondern eher als Beziehung oder Haltung (habitudo), die den Menschen mit Blick auf sich selbst, den Nächsten und Gott in eine rechte Ordnung versetzt und ihn dadurch befähigt, dieser Ordnung entsprechende und daher gute Handlungen zu vollziehen. ‚Theologisch‘ ist diese Gerechtigkeit vor allem in Hinsicht auf ihr primäres und direktes Ziel (= Gott). ‚Theologisch‘ ist jedoch auch die Behandlung dieser Tugend durch Philipp, Summa de bono : „Iustitia vero est ultima istarum quatuor [sc. virtutum cardinalium] quibus ordinatur homo ad proximum, caritas earum quibus ordinatur ad Deum.“ Summa de bono : „iustitia ordo est virium inter se et ad superius et ad inferius et ad par, et ad hunc ordinem rectum materialis est omnis virtus.“ Cf. Summa de bono . – Wie bereits oben erwähnt, wird Thomas hierauf zurückgreifen.
4.2 Gerechtigkeit in der Summa de bono von Philipp dem Kanzler
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indem dieser – als Theologe – den Ursprung der allgemeinen Gerechtigkeit ohne Weiteres als ein übernatürliches Gnadengeschenk benennt. Demgegenüber wird vor allem Albertus Magnus nach einsetzender Aristoteles-Rezeption ausdrücklich diese Art von theologischer von den Arten aristotelischer Gerechtigkeit unterscheiden. 2. Die Allgemeinheit (generalitas) dieser Art von Gerechtigkeit, wie Philipp sie in Anlehnung an platonische Figuren konzipiert, ist hierbei zweifach; sie betrifft einerseits die anderen Tugenden, die mit ihren konkreten Zielen und den durch sie hervorgerufenen Akten allgemein von der iustitia generalis umfasst und auf deren Primärziel, nämlich Gott als höchstes Ziel, ausgerichtet werden; andererseits aber ist diese Art von finaler und umfassender Allgemeinheit von der Allgemeinheit Gottes als Gut in dem Sinne, dass dieser alles mögliche Gut beinhaltet, abhängig. Mit Blick auf die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie, insbesondere der Gesetzesgerechtigkeit, wird die erste Form der Allgemeinheit, also die des Umfassens der Ziele der anderen Tugenden und des Ausrichtens derselben auf das Ziel der Gerechtigkeit selbst, übernommen, zugleich aber die zweite Art von Allgemeinheit, also die der Gutheit Gottes als Objekts der Tugend, zurückgestellt. Das allgemeine Ziel der Gerechtigkeit ist, wie schon oben gesagt, nicht mehr unmittelbar Gott, sondern das in den Gesetzen der Staatsgemeinschaft artikulierte Gemeinwohl (bonum commune). 3. Diese Umfassungsstruktur ist zugleich ein Moment, welches sowohl die allgemeine Gerechtigkeit im hier besprochenen Sinne, als auch die spätere Gesetzesgerechtigkeit unter dem Titel ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘ in eine gewisse Nähe zur caritas rückt. Bei Philipp sind iustitia generalis und caritas im Grunde nur durch den Modus ihres Bezugs zum anderen zu unterscheiden. Denn während bei der caritas dieses unter dem neuplatonischen Topos der Vereinigung von Liebendem und Geliebtem steht, was Thomas dann später in seiner Diskussion der Liebe wieder aufnehmen wird, ist bei der Gerechtigkeit dieser Bezug ein Erstatten von Geschuldetem. In Jakobs Diskussion, welcher Tugend in höherem Maße der Titel einer ‚forma virtutum‘ zukommt, wird genau dies das entscheidende Kriterium sein, diese Frage nach der Form der Tugenden zugunsten der caritas im Bereich der theologischen und der Freundschaft im Bereich der moralischen Tugenden zu beantworten. 4. Auffällig ist an Philipps Entwurf, dass bei diesen Bestimmungen weder das ewige Gesetz (lex aeterna), noch das Naturgesetz (lex naturalis) eine Rolle spielen. Das gilt sowohl mit Blick auf die Theorie der Gerechtigkeit als auch die der caritas. Auch die Allgemeinheit, die beiden Phänomenen bei Philipp zugesprochen werden muss, wird nicht über einen Rekurs auf diese beiden Gesetze begründet. Dies wird sich bei Albertus Magnus ändern, und zwar schon vor dessen Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie; vollends ändert sich der Befund dann bei Thomas, wo das Naturgesetz und, in theologischer Perspektive (das heißt der des Theologen sowie mit Blick auf seine Gründung in Gott), auch das ewige Gesetz als allgemeiner Rahmen für die Universalität von Tugenden fungieren. Bei Jakob und Gottfried dagegen werden die diesbezüglichen Diskussionen wieder ohne Rückbezug auf die Gesetze, sondern allein in Hinsicht auf die Bestimmung ‚forma virtutum‘ (Form der Tugenden) bzw. ‚virtus generalis‘ (allgemeine Tugend) geführt werden.
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5. Vor diesem Hintergrund wird hinsichtlich der später besprochenen Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie zu fragen sein, wie genau die Autoren, insbesondere Thomas von Aquin, die Allgemeinheit der Umfassung und Ausrichtung der Tugendziele der genuin politischen Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) verstehen und begründen, wenn Gott nicht mehr unmittelbar (obzwar mittelbar) als Grundlage hierfür fungiert.
4.3 Gerechtigkeit vor und nach der Aristoteles-Rezeption: Albertus Magnus Bei Albertus Magnus liegt wie erwähnt die bemerkenswerte Situation vor, dass hier ein Autor sowohl vor als auch nach einsetzender Aristoteles-Rezeption umfangreiche Betrachtungen zum Problem der Gerechtigkeit angestellt hat. Es lässt sich daher hier deutlicher als anderswo durch einen Vergleich erkennen, wie die einsetzende Lektüre von EN V das weitere Nachdenken über das Problem der Gerechtigkeit dahingehend beeinflusst hat, dass durch den systematisch und methodisch neuen Hintergrund der aristotelischen Ethik sich auch für das mittelalterliche Denken neue Perspektiven und Denkräume eröffnen konnten. Überdies ist schon bei Albertus Magnus vor der Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Gegensatz zu Philipp dem Kanzler eine umfangreiche Aufnahme des Naturrechts (ius naturale) sowie in geringerem Umfang auch des Naturgesetzes (lex naturalis) zu beobachten, die dann besonders für Thomas’ Verbindung von Gesetz, Recht und Gerechtigkeit Konsequenzen haben wird. Ebenfalls grundlegend für den späteren thomasischen Entwurf ist die Art und Weise, wie Albertus Magnus das Naturrecht mit den Vernunftprinzipien der theoretischen Vernunft parallelisiert. Anders als Thomas aber wird Albertus Magnus noch nicht das ewige Gesetz (lex aeterna) in die Gerechtigkeitsdiskussion integrieren. Im Folgenden wird zunächst Alberts Entwurf vor dem Beginn von dessen Aristoteles-Rezeption anhand seiner Summe De bono untersucht. In einem zweiten Abschnitt folgt die Analyse der Gerechtigkeitstheorie in Alberts erstem Ethikkommentar (Super Ethica). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und zur Theorie des Thomas von Aquin übergeleitet.
4.3.1 Naturrecht, Gesetz und Gerechtigkeit in De bono von Albertus Magnus In De bono thematisiert Albert die Gerechtigkeit traditionell als eine der Kardinaltugenden. Dabei betont er bereits am Beginn der Abhandlung über die Gerechtigkeit, dass in der Bestimmung dieser Tugend, wie in deren Definition durch Cicero erkennbar, die Momente des Rechts (ius), insbesondere des Naturrechts (ius naturale),
4.3 Gerechtigkeit vor und nach der Aristoteles-Rezeption: Albertus Magnus
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und des Gesetzes (lex) enthalten sind.⁵⁸ Im Weiteren wird dem Gang Alberts vom Recht über das Gesetz zur Gerechtigkeit gefolgt, wobei zunächst das Wesen und die allgemeine Charakterisierung des Rechts und besonders des Naturrechts, danach dessen Erkennbarkeit für das Handlungssubjekt und sodann dessen Verhältnis zur Vernunft und zu den positiven Gesetzen untersucht werden.
4.3.1.1 Das Naturrecht (ius naturale) 4.3.1.1.1 Definition des Naturrechts 1. Die Frage, mit der Albert die Diskussion des Naturrechtsbegriffs beginnt, ist die nach Definition und Substanz bzw. Wesen des Naturrechts. Zunächst verortet Albert das Naturrecht im natürlichen Urteilsvermögen der Vernunft (iudicatorium naturale). Es umfasst rechtliche Universalbestimmungen (universalia iuris), die den Menschen im Handeln leiten, indem das Urteilsvermögen der Vernunft durch diese Universalbestimmungen zweifels- und fehlerfrei ‚informiert‘ wird darüber, was zu tun und zu lassen ist.⁵⁹ Universalität ist hierbei das entscheidende Kriterium, das Albert hier anführt, um naturrechtliche Handlungsnormen als solche zu qualifizieren; so zählt er Regeln des menschlichen Rechts umso mehr zum Naturrecht, je größere Allgemeinheit sie aufweisen. Inhaltlich decken sich diese universalen Bestimmungen mit der positiven und negativen Fassung der Goldenen Regel und den Geboten des Dekalogs. „All diese universal aufgefassten [Prinzipien] nämlich gehören zum Naturrecht und sind im Menschen dadurch eingeschrieben, dass er Vernunft empfängt.“⁶⁰ Es handelt sich mithin beim Naturrecht um ein Vernunftrecht.⁶¹ Dies wird weiterhin erkennbar an der später von Thomas von Aquin wieder aufgegriffenen Parallelisierung der Prinzipienstrukturen der spekulativen und praktischen Vernunft, wobei letztere Prinzipienstruktur eben das Naturrecht ist. 2. Die Universalität des Naturrechts betrifft nicht nur die inhaltliche und formale Allgemeinheit der Vernunftprinzipien, das heißt ihre Geltungsweite, sondern auch die Allgemeinheit ihres Zukommens, das heißt den Umstand, dass alle Menschen als Vernunftwesen über dieselben praktischen Grundprinzipien verfügen. Universalität bzw. Allgemeinheit bedeutet für das Naturrecht also hier: allgemein geltend für alle Handlungssituationen; allgemein geltend für alle Menschen qua Vernunftwesen. Cf. De bono [], – ; [], – . Die Cicero-Stellen finden sich in De leg. l. c. n. : „Quodsi iustitia est obtemperatio scriptis legibus institutisque populorum“; ibid., l. c. n. : „Quodsi ius, etiam iustitia“; ebenso in De off. l. c. n. : „Quantam eius [sc. iustitiae] vim inter leges et iudicia et in constituta re publica fore putamus.“ De bono [], – : „et vocantur universalia iuris illa dirigentia nos in opere, in quibus non est error neque dubium, in quibus naturale iudicatorium rationis vel synderesis informatum accipit, quid faciendum sit vel non faciendum.“ De bono [], – : „omnia enim haec universaliter accepta sunt de iure naturali et scripta in homine per hoc quod accipit rationem.“ Cf. Müller (, ). – Erstmals das Naturrecht mit der (praktischen) Vernunft identifiziert hat offenbar Huguccio Pisanus in seiner Summa in Decretum Gratiani. Cf. hierzu Tierney (, – ).
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Daher kann Albert die Bestimmung des Naturrechts durch Isidor von Sevilla verteidigen, dem zufolge das Naturrecht allen Nationen gemeinsam ist, weil es überall aufgrund eines ‚Instinkts der Natur (instinctus naturae)‘, nicht aber aufgrund einer (durch menschliche Entscheidung herbeigeführten) Festsetzung (constitutio), mithin nicht nur aufgrund von Konvention gehabt wird.⁶² Dabei unterstreicht Albert, dass die Natur hier im spezifischen, nicht im generischen Sinne aufzufassen ist; es handelt sich mit anderen Worten um die per se immer schon auf das spezifisch sittliche Gut bezogene Natur des Menschen qua Menschen,⁶³ nicht um die auf das Gut im Allgemeinen bezogene Natur des Menschen, sofern er ein beseeltes Wesen ist.⁶⁴ In dieser Auffassung des Naturbegriffs wird dann auch der Begriff des Naturrechts Albert zufolge in einem strikten Sinne (ius naturale stricte dictum) verwendet,⁶⁵ was ihm die Möglichkeit gibt, weitere klassische Naturrechtsauffassungen zu integrieren. Dass vor dem Hintergrund des allgemeinen ‚Instinkts der menschlichen Natur (instinctus naturae humanae)‘⁶⁶ dennoch eine Diversität menschlicher Sitten zustande kommt, liegt an Folgendem: Der genannte Instinkt ist zwar bei allen Menschen hinsichtlich der universalen Bestimmungen des Rechts derselbe. Jedoch genügt dies allein noch nicht, um angesichts der Partikularität einer Handlungssituation schon zu entscheiden, was konkret zu tun oder zu lassen ist. Um hierüber ein konkretes Urteil zu fällen, muss vielmehr die betrachtende Vernunft hinzugezogen werden. Da diese Hinzunahme nun variieren kann und weil vor allem das Partikuläre, das heißt die jeweiligen Handlungs- und Lebensumstände, sich je verschieden darstellen, ist die Lebensweise nicht bei allen Menschen dieselbe.⁶⁷ Entsprechend betont Albert, dass die je aufs Konkrete bezogene Schlussfolgerung, die die allgemeinen naturrechtlichen Prinzipien als ihre Grundlage
Etym. l. c. n. und Decr. d. c. : „ius naturale est commune omnium nationum, eo quod ubique instinctu naturae, non aliqua constitutione habetur.“ Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad . Dieses ist von einem ‚Recht im weiten Sinne (ius large dictum)‘ zu unterscheiden. Unter dem ‚Recht im strikten Sinne (ius stricte dictum)‘ versteht Albert alles das, was die angesprochene natürliche Kraft uns eingeschrieben hat. In dieser Form gehören nur die universalen Bestimmungen der Sitten (universalia morum), „die das Gewissen [conscientia] aus dem Begriff des Guten selbst heraus uns vorschreibt“, zum Naturrecht (De bono [], ad , – ). Dagegen ist das Naturrecht im weiten Sinne das, „was nicht durch menschlichen Beschluss oder Vernunft, sondern durch den ersten ‚Anweiser [mandator]‘, der die Natur geschaffen hat, gemäß den Samen des Rechts, die er dem menschlichen Herzen eingeschrieben hat, promulgiert worden ist“; zu diesem Naturrecht gehören dann auch die biblischen Inhalte, das heißt das Alte Testament, das Evangelium und die Prophetien (De bono [], ad , – ). Dabei hebt Albert den theologischen Ursprung der Promulgation jenes Naturrechts im weiten Sinne einerseits, zugleich aber auch dessen Rückbezug auf das Naturrecht im strikten Sinne andererseits explizit heraus. Dadurch nämlich, dass der Schöpfer der Natur dem Menschen das ‚erste Naturrecht (ius naturale)‘ der Vernunft eingegeben hat, hat jener diesem auch das ius naturale im weiten Sinne promulgiert, nicht etwa dieser es selbst gefunden (Cf. De bono [], ad , – ). Cf. De bono [], ad , – . Cf. De bono [], ad .
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hat, in diesen nicht schon per se (substantiell), sondern bloß virtuell (virtute) enthalten ist, das heißt in Analogie zu der Weise, wie etwa ein Geometer und ein Arithmetiker vom allgemeinen Prinzip ‚jedes Ganze ist größer als sein Teil (omne totum est maius sua parte)‘ unterschiedlichen konklusiven Gebrauch machen können. So wendet auch die praktische, das Partikuläre bzw. die je unterschiedlichen Umstände (circumstantiae) betrachtende Vernunft jene kommunen Prinzipien in verschiedener Weise an.⁶⁸ – Anders verhält es sich für Albert mit der ersten Fassung des Dekalogs.⁶⁹ Obzwar es sich hierbei nämlich um geschriebenes Recht handelt, sind die Bestimmungen, die dort festgehalten sind, mit Blick auf die naturrechtliche Norm der jeweiligen Vorschrift bzw. des Präzepts nichts eigentlich Neues, sondern stellen im Konstatieren (statuendo) sich vollziehende Konkretionen bzw. Bestimmungen (determinationes) dessen dar, was in der Vorschrift eigentlich gefordert wird. Daher gehören die Gebote des Dekalogs zwar nicht zum Naturrecht im strikten, wohl aber im weiten Sinne, sind immer noch universal und sind nicht durch menschliche Setzungen, sondern durch einen den Menschen per se zukommenden Instinkt festgesetzt.⁷⁰ 3. Die Kennzeichnung des Naturrechts als ‚Instinkt‘ macht jedoch noch nicht hinreichend dessen handlungsrelevante Funktion verständlich. Denn wie schon bei Aristoteles gesehen, müssen Handlungen, um überhaupt als solche angesprochen werden zu können, vom Handelnden willentlich und mit Vernunft, damit also auch im weiteren Sinne bewusst vollzogen werden. Anders gesagt, müssen die naturrechtlichen Bestimmungen nicht nur etwas sein, was dem Handelnden oder seiner Handlung zukommt, sondern sie müssen vor allem auch etwas für den Handelnden sein. Es stellt sich somit die Frage nach der Erkennbarkeit dieser Prinzipien für ein Handlungssubjekt.⁷¹ Mit Blick hierauf entwirft Albert eine Struktur, die durch eine Art doppelter Potentialität gekennzeichnet ist. Denn im praktischen, zum Werk hinlenkenden Intellekt gibt es zwar ein potentielles Wissen um die ‚Universalien des Rechts (universalia iuris)‘. Zu diesem Wissen kann aber der Intellekt nicht vorstoßen, wenn er nicht „die Begriffe in den Befehlen erkennt, also etwa was Diebstahl und Ehebruch ist“; erst vermittelt hierüber weiß der Intellekt (bzw. man selbst als dessen Inhaber), dass nicht gestohlen oder Ehebruch begangen werden darf.⁷²
Cf. De bono [], ad . Ex , – . Cf. De bono [], – . Wie sich unten zeigen wird, lässt sich mit Blick auf Alberts Überlegungen diese Unterscheidung auch dergestalt auffassen, dass von Natur hier nicht primär im ontischen, sondern vielmehr im moralischen bzw. handlungstheoretischen Sinne die Rede ist. – Weiter unten wird ebenfalls gezeigt werden, dass dieser handlungsrelevante Sinn nicht unmittelbar ist, das heißt dass die naturrechtlichen Grundprinzipien nicht direkt als Handlungsmaximen wirksam werden, sondern vielmehr als Prinzipien, aus denen konkrete Handlungsmaximen erschlossen werden können und von denen diese ihre normative Kraft erhalten. De bono [], – : „In quibus [s. universalia iuris] non exigitur, nisi ut termini mandati cognoscantur, sicut quid sit furtum et quid moechia, et tunc sciet per seipsum, quod non est furandum vel moechandum.“
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Deshalb wird die Erkenntnis dieser Prinzipien [der universalia iuris] nur in akzidenteller Weise gewonnen, nämlich durch Kenntnis der Begriffe, und nicht durch etwas, was früher ist als sie, das heißt also nicht auf die Weise, wie die Kenntnis der Schlussfolgerungen gewonnen wird. Daher ist die Kenntnis dieser Prinzipien schlechthin durch die Natur eingegeben und wird durch die Kenntnis der Begriffe akzidentell erworben.⁷³
Es bedarf mithin in akzidenteller Weise der Erfahrung, auf dass der Handelnde zur Kenntnis jener an ihnen selbst bekannten praktischen Vernunftprinzipien gelangt; die Erkenntnis der Universalprinzipien wird a posteriori durch begegnende Einzelfälle gewonnen, anlässlich derer das Universale im Einzelnen gleichsam aufleuchtet. Dies aber – und hier kommt das zweite Moment innerhalb des zitierten Passus zu tragen – bedeutet nicht, dass die naturrechtlichen Grundprinzipien ihre Gültigkeit allein aus der Erfahrung hätten; nicht einmal kann man sagen, dass es sich bei ihnen um bloße abstrahierte Verallgemeinerungen aus begegnenden Einzelfällen handelte. Vielmehr werden umgekehrt diese Einzelfälle ihrerseits nur vermittels der allgemeinen Prinzipien in ihrer Bestimmtheit erfassbar: „Die Gerechtigkeit in etwas wird erkannt durch die Form der Gerechtigkeit, die in uns eingeprägt ist, durch die wir, wenn wir im Leben und den Sitten stehen [inhaerere], Gerechte werden“.⁷⁴ Die Vernunftseele ist daher mit Blick auf die naturrechtlichen Prinzipien keine tabula rasa, ohne deswegen immer schon aktual deren Kenntnis vollziehen bzw. vollzogen haben zu müssen. Eine ‚leere Tafel‘ ist sie vielmehr vor diesem aktualen Erkenntnisvollzug bzw. außerhalb desselben, das heißt also insofern, als sie als ‚möglicher Intellekt (intellectus possibilis)‘ das materiale Vermögen für diese Erkenntnis der ihr ‚eingeprägten‘ naturrechtlichen Grundprinzipien darstellt.⁷⁵ Auch hier also folgt Albert der Parallele von spekulativem und praktischem Intellekt. – Man könnte versucht sein, diese Unterscheidung mit den kantischen Begriffen von Genesis und Geltung zu illustrieren: Während die Genese der Erkenntnis der Naturrechtsprinzipien für den Handelnden je empirisch stattfindet, ist ihre Geltung von dieser Genese unabhängig. Jedoch ist bei aller erschließenden Kraft
De bono [], – : „Unde notitia horum principiorum non acquiritur nisi per accidens, scilicet per notitiam terminorum, et non per aliquid prius ipsis, sicut acquiritur scientia conclusionum. Et idea talium principiorum notitia est inserta per naturam simpliciter, et acquiritur per accidens notitia terminorum.“ De bono [], – : „sensus auctoritatis est, quod iustitia in aliquo cognoscitur per formam iustitiae impressam in nobis, cui si inhaeremus vita et moribus, et nos iusti efficimur.“ – Die hier angesprochene Autorität ist Augustinus, der in De trin.VIII die Frage diskutiert hatte, woher ein Geist, der selbst nicht gerecht ist, wissen könne, was das Gerechte ist. Interessanterweise verschiebt Albert bei seiner Interpretation der entsprechenden Passage den Sinn dessen, was Augustinus mit dem Hinweis auf das ‚inhaerere‘ im Blick hatte. Wohnte man diesem zufolge nämlich der geschauten Form der Gerechtigkeit ein, so wohnt man bei Albert hingegen gleichsam dem Leben und den Sitten ein, um zur Erkenntnis der Prinzipien zu gelangen. Siehe zur Sache auch De bono [], – : Die besonderen Momente des Rechts können nicht erkannt werden ohne eine Kenntnis der universalen, welche für jene die Prinzipien darstellen („particularia iuris non cognoscentur nisi universalibus scitis, quae sunt principia ‹ad› illa“). Cf. De bono [], ad .
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der Anwendung dieser Terminologie auf den vorliegenden Zusammenhang und bei der Präponderanz der moralischen vor der ontischen und ontologischen Bedeutungsebene des Naturbegriffs festzuhalten, dass Albert auch die Geltungsebene des Naturrechts in letzter Instanz nochmals ontologisch fundiert, was bei Kant nicht der Fall ist und im Weiteren herausgearbeitet wird. 4. Die aus diesen Untersuchungen sich ergebende Struktur beinhaltet eine spezifische Charakteristik der ontologischen Bestimmung des Wesens (quid) des Naturrechts einerseits und führt im Zusammenhang damit zu einer komplexen Beschreibung der Intellektmomente, die hinsichtlich des Naturrechts auftreten, andererseits. 4.1. Was das Erste betrifft, wird klar, dass es sich beim Naturrecht nicht um Vernunftseele selbst (anima rationalis) handeln kann, wie einer der Einwände behauptet. Schon aus der Parallele zum spekulativen Intellekt wird vielmehr deutlich, dass Albert das Naturrecht als Prinzipienstruktur des praktischen Intellekts ähnlich auffasst wie die Grundprinzipien des spekulativen, das heißt so, dass es sich in beiden Fällen um Habitus handelt, die der Seele angeboren (‚konnatural‘) sind und in denen diese Prinzipien ‚gehabt‘ werden. Der Name für diesen Habitus auf praktischer Ebene ist dabei traditionell ‚Synderesis‘.⁷⁶ In dieser Weise ist somit die oben gefasste Bestimmung des Naturrechts als ‚iudicatorium naturale‘, also als natürliches Urteilsvermögen der Vernunft zu präzisieren. Abgesehen aber von der bloßen Parallelstruktur beider Arten oder besser Anwendungsweisen der menschlichen Vernunft lässt sich noch ein weiterer strukturell wichtiger Grund für den Habitus-Charakter des Naturrechts angeben. Denn im Falle einer Identität des Naturrechts mit der Substanz der Seele selbst würde die eben entwickelte epistemische Struktur aus der Apriorität der naturrechtlichen Prinzipien auf der einen Seite und deren akzidenteller, durch Empirie vermittelter Erkenntnis durch das Handlungssubjekt auf der anderen nivelliert, was eine Kenntnis (notitia) des Naturrechts unmöglich machen würde und damit dessen handlungstheoretisch relevanten Sinn durchstriche. Denn eine Kenntnis entsteht nur durch Verbindung des Gekannten mit dem Kennenden. Wäre dieser also nicht mit jenem verbunden, ergäbe sich die Unmöglichkeit der Erkenntnis. Denn es würde der Artform ermangeln, welche die Grundlage des Erkennbaren ist, und entsprechend erfolgt keine Verpflichtung.⁷⁷
Hieraus wird deutlich, dass für die Erkennbarkeit der naturrechtlichen Prinzipien, die die Seele bei sich trägt, eine Verbindung notwendig ist, die zumal eine Differenz beider
Die Synderesis wird von Albert eingehender behandelt in De homine sowie in der Quaestio de Synderesi. De bono [] ad , – : „non fit notitia nisi per coniunctionem eius quod noscitur, ad noscentem. Si ergo non iungatur ei, erit impossibilitas ad cognoscendum propter privationem speciei, quae est ratio cogniscibilis, et ideo non sequitur obligatio. Unde patet, quod necesse est ponere in anima rationali habitum iuris naturalis.“
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voraussetzt, welche bei einer substantiellen Identität von Vernunftseele und Naturrecht gerade nicht gegebenen wäre.⁷⁸ 4.2. Was das Zweite betrifft, also die sich hieran anschließende Frage nach dem Konnex von Naturrecht und bestimmten Momenten der Intellekttätigkeit, so hält Albert fest, dass der natürliche Instinkt bzw. die natürliche Kraft, durch welche die Zustimmung zu den Prinzipien des Naturrechts zustande kommt, zu identifizieren ist mit dem Licht des aktiven Intellekts [intellectus agens], dessen Licht die Artform der intelligiblen Artformen ist […]. Denn dieses hinsichtlich der Artformen der Begriffe, die in den ersten Prinzipien des aktiven und praktischen Intellekts enthalten sind, unterschiedene Licht erwirkt durch sich selbst, das heißt ohne Beweis und Demonstration, dass den ersten Prinzipien des Wissens und Handelns zugestimmt wird“.⁷⁹
In diesem Sinne kann man von einer epistemischen ‚Erzeugung (generatio)‘ des Naturrechts durch das Licht des (aktiven) praktischen Intellekts sprechen⁸⁰ – dies erneut in
Dies wird erneut noch einschlägiger mit Blick auf Thomas’ Entwurf. Denn dort besteht das Problem der naturales inclinationes, das heißt der dem Menschen natürlichen Neigungen, die Thomas in einen engen Bezug zum Naturgesetz und dessen konkreteren Vorschriften setzt. Wie genauer sich die Verhältnisse dort darstellen, wird unten diskutiert; wichtig ist jedoch schon hier die Feststellung, dass ähnlich wie Albert auch Thomas nicht der Auffassung ist, diese ontologischen Neigungen wären schon das Naturgesetz selbst. Vielmehr setzt auch Thomas eine Differenz zwischen der erfassenden Vernunft und den erfassten Neigungen an, die es erst ermöglicht, hier eine für Moralität relevante Struktur zu beschreiben. – Eine derartige substantielle Identität wäre dagegen – mutatis mutandis – im Begriff des jus naturale bei Spinoza angesetzt. Dessen Theorie zufolge ist das Naturrecht nichts weiter als dasjenige, wozu jedwedes Seiende die Macht hat, es zu tun. Diese Seinsmacht seinerseits ist wiederum nichts anderes als die Essenz ebendieses Seienden. Entsprechend dieses Aufrisses ist es charakteristisch für den spinozischen Entwurf, dass in ihm das Moment der Überlegung, welches hier von Albert gerade integral mit dem Naturrecht verklammert wird, keine Bedeutung hat. Cf. Spinozas TP cap. II §. De bono [] ad , – : „Si autem quaeritur, quae sit illa vis naturae, dico, quod absque dubio illa naturae vis est lumen intellectus agentis, cuius lumen est species specierum intelligibilium […]. Illud enim lumen distinctum ad species terminorum, quae sunt in principiis primis intellectus agentis et practici, facit per se, hoc est sine probatione et demonstratione, assentire principiis primis scientiarum et operationum.“ Cf. De bono [], ad , – : „Ad aliud dicendum, quod inserit [sc. vis illa {…} communis practicae et speculativae {intellectus} – cf. De bono {}, ad , –] per se ex his quae apud se habet, per accidens autem ex his quae fuerunt ab extra, non in ipso agente, sed in anima. Per se enim consensus scientiae in principium causatur a lumine agentis, per accidens autem requiritur notitia terminorum, scilicet ut lumen agentis, quod indistinctum est, terminatum sit ad signata terminorum.“ – Die Assoziation der Tätigkeit des intellectus agens in ihrem Bezug auf die intelligiblen species mit der Aktivität des physischen Lichts mit Blick auf die Erscheinung der Farben erläutert Albert in De homine (Ed. Col. XXVII, , , – ), denn „so, wie das Licht das formale Agens der Farben hinsichtlich ihrer Wirklichkeit ist, so ist der intellectus agens das formal Bewirkende der Wirklichkeit der intelligiblen Sachverhalte [sicut lumen agens formale est colorum secundum actum, ita intellectus agens formale efficiens est intelligibilium secundum actum].“
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Analogie zu den entsprechenden Momenten beim spekulativen (aktiven) Intellekt.⁸¹ Die ontische und ontologische Erzeugung dagegen liegt aufseiten Gottes als des Schöpfers der Vernunftseele selbst, nicht hingegen auf der Seite der Natur.⁸² – Diese von Albert explizierte Unterscheidung zweier grundlegender Prinzipienbereiche bedeutet jedoch nicht das Vorhandensein von zwei Arten von aktivem Intellekt.Vielmehr geht Albert davon aus, dass es sich um eine einheitliche natürliche Kraft handelt, die sich in praktischer oder spekulativer Weise ausdrückt oder in anderen Worten: dass die beiden Intellektarten gemeinsame Kraft bzw. das natürliche Licht des aktiven Intellekts (intellectus agens) den beiden eigentümlichen Prinzipienstrukturen (dem Habitus der spekulativen Prinzipien und der Synderesis) angeglichen wird (proportionatur).⁸³ – Die Grundform, die Albert vor Augen hat, sieht also wie folgt aus: Jene natürliche Kraft, die mit dem an ihm selbst indistinkten Licht des aktiven Intellekts identisch ist, affirmiert unmittelbar aus sich heraus die Prinzipien des Naturrechts sowie die des spekulativen Denkens. Dieses Affirmieren beschreibt Albert als ein ‚Einschreiben (inserere)‘,welches dieses Licht per se mit Blick auf die Seele (anima) vornimmt. Zugleich ist der akzidentelle Aspekt, der mit diesem Einschreiben verbunden ist, als die in die Seele hinzugetretene empirische Erfassung der im Naturrecht sowie in den spekulativen Prinzipien verbundenen Grundbegriffe zu kennzeichnen. Und die Seele oder besser der Seelenteil, dem diese beiden Momente eingeschrieben werden, ist genauer als der mögliche bzw. passive Intellekt (intellectus possibilis/passivus) zu bestimmen, dem der aktive Intellekt je nach Prinzipienmaßgabe in Gestalt je konkreter Aktuierungen die Kenntnis der naturrechtlichen und spekulativen Prinzipien ‚einschreibt‘. – Man erkennt an dieser Strukturbeschreibung eine analoge Figur wieder, wie sie oben für das Verhältnis dargestellt wurde, das Augustinus zwischen ewigem und natürlichem Gesetz sieht. Aber der aktive Intellektus, den Albert an die Stelle des ewigen Gesetzes setzt, ist nicht mit diesem identisch.⁸⁴ Die Art und Weise, wie Albert an dieser Stelle die genannte Struktur des Einschreibens konstruiert, wie auch der Um Die hier verwendete Redeweise entspricht nicht ganz derjenigen Alberts an der vorliegenden Stelle, ergibt sich aber konsequent aus der von ihm entworfenen Parrallelstruktur. Denn dieser zufolge muss man evidenterweise von einem zweifachen aktiven Intellekt – oder von einer zweifachen Aktivität des intellectus agens – ausgehen wie von einem zweifachen passiven oder möglichen Intellekt – oder von einer zweifachen Weise des Bestimmtwerdens des intellectus possibilis. Entsprechend wäre entgegen der Verwendungsweise, die Albert selbst mit seiner Begrifflichkeit hier suggeriert, nicht einem aktiven ein praktischer Intellekt gegenüberzustellen, sondern entweder zwei Arten von intellectus agens oder – wie sich gleich zeigen wird eigentlicherweise – eine zweifache Betätigungsweise des einen intellectus agens, nämlich einmal in theoretischer und ein andermal in praktischer Weise. Quaestio de Synderesi , – : „synderesis non dicitur esse natura vel naturalis, quia sit solum de his quae se habent ad conservationem naturae in specie vel in individuis, sed quia habitus ille est inditus cum ipsa natura, licet non a natura, sed a deo in ipsa creatione.“ Cf. De homine , – . – Wie sich schon oben angekündigt hat, bedeutet diese Identifikation derjenigen eingeborenen Kraft, die den Habitus des Naturrechts im Menschen erzeugt, mit dem Licht des in den Arten der moralischen Prinzipien wirkenden aktiven Intellekts umgekehrt eine klare Absage Alberts an die These, dass es ein dem Menschen und den Tieren gemeinsames Naturrecht gibt (cf. De bono f. [] ad , – ). Im Übrigen ist der aktive Intellekt auch nicht derselbe für alle Menschen, wie Averroes meinte.
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stand, dass vom ewigen Gesetz hier gerade nicht die Rede ist, lässt zwar offen, welche Deutung man dem aktiven Intellekt hier angedeihen lassen möchte. Konsequent ist diese Zurückhaltung Alberts jedoch insofern, als es ihm wie gesehen an dieser Stelle nicht um eine metaphysische bzw. ontologische, sondern um eine moralphilosophische Begründung von Normativität geht. 5. Vor dem Hintergrund dieser ontologischen und epistemologischen Bestimmungen des Wesens und der Erfassung der Naturrechtsprinzipien kann auf die oben angerissene Frage nach der Aktuierung dieser Prinzipien in Gestalt konkreter Handlungen bzw. Akte weiter eingegangen werden. Dass dieses Problem überhaupt entstehen kann, liegt darin, dass die Charakterisierung der Synderesis noch nicht vollständig ist, wenn man sie bloß als natürlichen Habitus bestimmt. Es gibt nämlich durchaus auch natürliche Habitus, die im Gegensatz zur Synderesis bzw. zum Habitus der spekulativen Prinzipien zur konkreten Aktuierung keines weiteren Moments bedürfen, namentlich die sogenannten ‚habitus completa‘.⁸⁵ Diese ‚vollständigen Habitus‘ sind einem Vermögen in dem Sinne natürlich, dass sie unter dem Begriff bzw. der Wesensbeschaffenheit der Entität, der sie zugehören, immer schon enthalten sind, indem sie deren Sein mitkonstituieren. So ist etwa der Habitus des Sehens mit dem Begriff des Auges und der Sehkraft so mitgesetzt, dass Auge und Sehvermögen nur mit Blick auf diesen Habitus ihrer Bestimmung entsprechen können, und das führt wiederum dazu, dass der natürliche Habitus des Sehens allein zur konkreten Aktuierung des Sehvermögens hinreicht. Anders verhält es sich bei den Habitus der Prinzipien (habitus principiorum), die Albert deshalb auch als ‚unvollständige (incompleta)‘ bezeichnet. Diese nämlich kommen dem Begriff des entsprechenden Vermögens nicht hinsichtlich des Seins, sondern des Gutseins (bene esse) zu und werden daher erst durch den Gebrauch (assuetudo) (bei den sittlichen Tugenden) oder die Gnade (gratia) (bei den theologischen Tugenden) vervollkommnet.⁸⁶ Wie daher mit dem Habitus der spekulativen Prinzipien nicht auch schon die Konklusionen aktuell gehabt werden, sondern dieser bloß das Vermögen darstellt, jene zu erschließen, so ergibt sich aus der Habe der naturrechtlichen Prinzipien nicht per se bereits deren Aktuierung, sondern nur die Möglichkeit zu dieser. 6. Doch auch mittels dieser Bestimmungen sind noch nicht alle für die vorliegende Studie interessanten Momente des Naturrechtsverständnisses Alberts in De bono dargelegt. Es fehlt noch die Feststellung, was Albert zufolge eigentlich primär diese Aktuierung naturrechtlicher Grundprinzipien ausmacht. Hierbei ist es nur auf den ersten Blick überraschend, dass eine solche Aktuierung für Albert nicht schon die konkrete, hier und jetzt durch den Handelnden zu vollziehende Einzelhandlung eines Handlungssubjekts darstellt. Zwar ist auch für Albert die konkrete Handlung letztlich dasjenige, worin die letzte Realität der Sittlichkeit besteht und worauf sich die Tugenden und Anlagen als ihr Ziel beziehen. Und auch ein Bezug des Naturrechts auf die
Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad ., – .
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jeweilige konkrete Einzelhandlung des jeweiligen sittlichen Akteurs ist für Albert nicht ausgeschlossen, wobei auch hier eine Vermittlung durch Tugenden, insbesondere durch die Klugheit (prudentia) vonnöten ist. Trotzdem aber ist die nächste Form, die Albert hinsichtlich der Aktuierung des Naturrechts im Blick hat, und auch die wesentliche, die im Zusammenhang mit der Frage nach der Gerechtigkeit interessiert, deren – durchaus wiederum in Gestalt von durch menschliche Einzelhandlungen, dann jedoch gleichsam in ‚arbeitsteiliger Weise‘ vorgehenden – Konkretisierung in der Form positiver menschlicher Gesetze, was er mit der eben entwickelten Bestimmung der Synderesis als eines unvollständigen Habitus (habitus incompletus) verbindet: Der Habitus der Prinzipien ist nicht solcherart [sc. wie die vollständigen Habitus], denn hat man auch diese [sc. die Prinzipien], hat man deshalb nicht schon notwendig die Schlussfolgerungen, und daher folgt auch die eigentliche Handlung nicht nach einem derartigen Habitus, es sei denn in potentieller Weise, das heißt in dem Sinne, dass es möglich ist, gemäß der rechten Vernunft zu handeln, dies nämlich dann, wenn der natürliche Habitus durch die partikulären Bestimmungen des menschlichen Rechts spezifiziert wird.⁸⁷
Erst vor dem Hintergrund dieser positiv-rechtlichen Bestimmungen werden konkrete Einzelhandlungen, die diesen Prinzipien dann entspringen, thematisch.⁸⁸ Das positive Recht (ius positivum) gehört einerseits dem Bereich der Meinung (opinio) an, da angesiedelt im Bereich des Wahrscheinlichen und Nichtnotwendigen (propabilia), befindet sich damit also noch viel mehr als das Naturrecht dort, wo eigentlich menschliches Handeln stattfindet.⁸⁹ Hierin ist es als eine Art Schlussfolge, die aus dem Naturrecht gewonnen wird, „Prinzip hinsichtlich der Sitten und des menschlichen Lebens“, und vermittelt darüber auch Prinzip der einzelnen menschlichen sittlichen Handlungen.⁹⁰ Bestimmt wird es hierbei aus dem, „was dem Weisen in den Sitten aufscheint“, was dasselbe ist wie das „aus Rechtsbeschluss und Beratschlagung Bestimmte. In den Sitten nämlich verfahren wir nach Maßgabe von Beratschlagung und Auswahl“.⁹¹ Dieses Verfahren zur Gewinnung des positiven Rechts bedeutet dabei nicht, dass das dieserart gewonnene ‚Gemeinte (opinatum)‘ ambigue und dubios wäre; vielmehr ist Albert zufolge gerade das ius positivum eindeutig und
De bono [], ad , – : „Talis autem non est habitus principiorum, quia illis habitis non de necessitate habentur conclusiones, et ideo non sequitur operatio post talem habitum nisi in potentia, idest quod possibilis sit ad agendum secundum rationem rectam, et hoc cum specificabitur habitus naturalis per particularia iuris humani positivi.“ Deren Rückbezogenheit auf das Naturrecht und dessen Konsonanz mit der menschlichen Vernunftnatur erlaubt es hierbei Albert, nicht in einen bloßen Legalismus zu verfallen. Cf. Müller (), p. . Cf. De bono [], ad , – . De bono [], ad , – : „ius, quod genuit opinio, est ut conclusio respectu eius quod ex consilio sapientis est determinatum, et est ut principium ad mores et vitam humanam.“ De bono [], ad , – : „opinio dirigit non ratione eius, quod continet contradictorium, sed assumitur ex hoc quod videtur sapienti in moribus, et hoc est, inquantum ex iuris consulto et consilio est determinatum. In moribus enim procedimus ex consilio et eligentia.“
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bezieht sich prinzipiell auf das Zukünftige⁹² als dasjenige, was nicht notwendig, sondern durch eine willentliche Ursache bestimmt ist.⁹³ Aus dieser Anlage ergibt sich zweierlei: Erstens ist im hier interessierenden Bereich nicht das Naturrecht, sondern vielmehr das positive Recht unmittelbares Prinzip gerechten menschlichen Handelns;⁹⁴ die allgemeinsten Vorschriften des Naturrechts stellen lediglich einen normativen Rahmen dar, sind für sich jedoch nicht unmittelbar handlungsleitend. Kommt das Moment der konkreten Handlungsleitung dagegen dem positiven Recht zu, so gilt von diesem zweitens, dass es nicht durch das Naturrecht in unmittelbar derivativer Weise zustande kommt, denn das Naturrecht benennt die ersten Prinzipien des Rechts, die denselben Charakter haben wie die Forderungen [petitiones] und Vorrangsätze [dignitates] im Bereich der Mathematik, das geschriebene Recht hingegen ist Prinzip als dasjenige, was aus diesen ersten Prinzipien durch die den Status und die Sitten der Menschen durch Untersuchung vergleichende Vernunft gefunden worden ist.⁹⁵
Genauer kommt das positive oder geschriebene Recht, das Albert mit dem Inhalt der Gesetze und Statute (leges et statutes) eines Gemeinwesens identifiziert, durch das Zusammenspiel dreier Momente zustande, nämlich die Plebiszite, den Beschluss des Rats und die Antwort der Weisen (plebiscita, senatus consultum et responsa sapientium), wobei der Bezugspol der Tätigkeit dieser drei Institutionen nicht allein das allgemeine Naturrecht, sondern zumal das konkret historisch Geforderte der Situation darstellt, in Bezug auf welche die positiven Rechte zu erlassen sind.⁹⁶ Dabei wirken in den drei institutionellen Momenten die naturrechtlichen Bestimmungen gleichsam als ‚erste Samen (prima semina)‘ der normativen Kraft nach, stellen aber nicht die alleinigen und nächsten Prinzipien des geschriebenen Rechts dar, obgleich umgekehrt jedes Recht, um überhaupt ein solches sein zu können, dergestalt vom Naturrecht ausgehen muss, dass es ihm nicht widersprechen darf. Das solcherart Gefundene hat dann einen nicht mehr naturrechtlichen Charakter und weist eine geringere Universalität als das Naturrecht auf, sofern es zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen und Staatsgefügen sowie hinsichtlich Zeit,
Cf. hierzu auch weiter unten bei der Diskussion der Modi des Naturrechts Alberts Rede davon, dass es ein naturrechtliches providere mit Blick etwa auf das Wohl der Familie gibt. Cf. De bono [], ad , – . Cf. auch Müller (, – ): „Aus dem Vorangegangenen ist deutlich geworden, dass Albert die Prinzipien des Naturrechts keineswegs als unmittelbar handlungsleitend betrachtet, sondern von einer notwendigen Konkretisierung ihres normativen Gehalts unter historischen Bedingungen ausgeht. Dies spiegelt sich auch in seiner Zuordnung von Naturrecht und positivem bzw. geschriebenem Recht wider: Das Naturrecht bedarf einer spezifischen determinatio seiner allgemeinen Prinzipien, um konkretes Handeln normieren zu können.“ De bono f. [], ad , – : „Naturale enim ius dicit prima principia iuris, quae sunt sicut petitiones et dignitates in mathematicis, scriptum autem ius est principium sicut id quod ex his est inventum per inquisitionem rationis conferentis statum et mores hominum.“ Cf. De bono [], ad , – .
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Ort, Abkommen und Person variiert.⁹⁷ Es wird somit deutlich, dass die eigentliche oder nächste Form einer Aktuierung naturrechtlicher Prinzipien eher in jenem durch Plebiszit, Beschluss und Beratschlagung zustande kommenden Aufstellen positiver Rechte besteht als unmittelbar im Vollziehen konkreter sittlicher – etwa tapferer oder gerechter – Handlungen des Einzelakteurs.
4.3.1.1.2 Modi des Naturrechts 1. Unter dem Topos ‚Modi des Naturrechts‘ diskutiert Albert vor allem die Frage, wie die sehr unterschiedlichen traditionellen Auffassungen des Naturrechts mit den oben entwickelten Vorgaben so, dass diese insgesamt als Aspekte einer Einheit verstanden werden können,⁹⁸ integrativ zu vermitteln sind. Als Zugang wählt Albert hierfür den Begriff der Natur (natura), den er nach verschiedenen Hinsichten diskutiert. Natur nennt man erstens eine den Dingen einwohnende Kraft (vis insita), die „aus Ähnlichem Ähnliches hervorbringt“.⁹⁹ Zweitens heißt Natur „ein gewisser Stimulus oder Instinkt der Natur zum Streben oder Hervorbringen oder Herausbilden, der aus der Sinnlichkeit hervorgeht“,¹⁰⁰ das heißt allgemein das, „wozu wir neigen gemäß der den Sinnen angeborenen Begierde“.¹⁰¹ Drittens nennt man demgegenüber Natur auch einen „Instinkt der Natur, der aus der Vernunft hervorgeht“; das Recht, welches wiederum aus der Natur in diesem Sinne hervorgeht, heißt dann „natürliche Gleichheit [aequitas naturalis], und in Hinsicht auf dieses Naturrecht sagt man, dass alles zu demjenigen Zeitpunkt, in dem es notwendig ist, zu verteilen sei“.¹⁰² Viertens werden die natürlichen Vorschriften (praecepta naturalia), die sich etwa im Dekalog finden, Naturrecht genannt,¹⁰³ fünftens schließlich ist auch jedes göttliche ein natürliches Recht (omne ius divinum), und mit Blick auf dieses Naturrecht sagt man, „dass in gewisser Weise alle Güter allen gleichmäßig gehören insofern, als alles an alle gleichermaßen zu verteilen ist.“¹⁰⁴
De bono [], ad , – : „quia etiam consilium eorum assumit multa particularia loci et temporis et negotii et personarum et causarum, ideo non totum est ius naturale.“ Albert bezieht sich hierbei auf die Bestimmungen, die in den Dekreten Gratians vorfindlich sind: Decr. Grat. d. c. v. ‚Ius naturale‘ (cf. De bono [], – ). De bono [], – : „vis insita in rebus ex similibus similia procreans“. De bono [], – : „dicitur natura quidam stimulus sive instinctus naturae ex sensualitate proveniens ad appetendum vel procreandum vel educandum.“ De bono [], – : „[…] ius naturale, in quod inclinamur secundum concupiscientiam connaturalem sensibus.“ De bono [], – : „Tertio modo dicitur natura instinctus naturae ex ratione proveniens, et ius ex tali natura proveniens dicitur naturalis aequitas; et secundum hoc ius naturale omnia dicuntur esse communicanda tempore necessitatis.“ De bono [], – . Cf. De bono [], – : „secundum illud ius similiter omnia dicuntur communia, idest communicanda.“
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2. Alle diese Distinktionen innerhalb des Begriffs der Natur greifen für Albert jeweils einen Aspekt dessen heraus, was im Begriff des Naturrechts enthalten ist, wobei das zentrale interpretatorische Moment darin besteht, dass das Naturrecht einerseits als „das Recht der Vernunft bzw. das Geschuldete in Hinsicht darauf [zu begreifen ist], dass die [hier thematische] Natur die Vernunft ist“,¹⁰⁵ dass also in den genannten Auffassungen stets der Vernunftbezug des Naturaspekts im Blick zu halten ist, und dass andererseits in den verschiedenen genannten Bestimmungen entweder mehr der Natur- oder der Vernunftaspekt oder aber die Gleichzeitigkeit von Vernunft und Natur berücksichtigt wird.¹⁰⁶ (a) Betont man erstens den Naturaspekt, so wird die Natur begriffen als Handlungsprinzip und hat zunächst das eigene Wohl dessen, in dem diese Natur sich aktualisiert, zum Gegenstand. Gleichzeitig dient es auf dieser Ebene als Prinzip der Erfassung dessen, was für dieses Wohl förderlich ist. Ebenso gehört zu dieser Ebene aber auch dasjenige, was das Wohl der menschlichen Art als solcher befördert, insbesondere Familienstrukturen und Nachwuchs. Trotz der Natürlichkeit der genannten Bestimmungen sind diese, weil Momente der Struktur ‚natura est ratio‘, jedoch nicht vernunftlos; es bleibt dabei, dass das Naturrecht für Albert nicht für andere Lebewesen als den Menschen anzusetzen ist: „Denn wenn ich sage, dass die Vernunft wie Natur ist und mehr Natur als Vernunft, so schließe ich nicht die Vernunft aus“.¹⁰⁷ Durch diese Zugangsweise meint Albert, trotz der Betonung des Naturaspekts nicht die naturalistische Auffassung vertreten zu müssen, dass das offenbar natürlicherweise instigierte Streben nach Ehebruch, Diebstahl und dergleichen zum Naturrecht zu rechnen und deren Ausübung daher gleichsam geboten sei. ‚Natur‘ im Begriff des Naturrechts meint weder unmittelbares natürliches Streben, noch ist in solcher Unmittelbarkeit, wie schon oben gesehen, das Naturrecht Handlungsprinzip. Vielmehr ist das Naturrecht diejenige Prinzipienstruktur, mittels derer die Vernunft über diejenigen Momente nachdenkt, beim Menschen zur Natur gehören. Daher gelangt die Vernunft auf ebenjener naturrechtlichen Basis zu der im prohibitiven Sinne handlungsleitenden Entscheidung, dass gerade naturrechtlich verboten ist, dem natürlichen (sinnlich begehrlichen) Streben etwa nach geschlechtlichem Verkehr mit der Frau des anderen nachzugeben.¹⁰⁸ (b) Wird dagegen der Vernunftaspekt in der Struktur ‚Natur ist Vernunft (natura est ratio)‘ hervorgehoben, ergeben sich naturrechtliche Bestimmungen, die einen Bezug auf die Religion, die Gerechtigkeit und das sittlich Gute (honestum) des Menschen nicht nur in Hinsicht auf sich selbst, sondern auch auf den anderen aufweisen. Hierbei ist zu beachten, dass trotz dieser Akzentverlagerung immer noch nicht von Vernunft in
De bono [], – : „Est enim ius naturale nihil aliud quam ius rationis sive debitum, secundum quod natura est ratio.“ De bono [], – : „Cum autem dico: ‚Natura est ratio‘, [ratio] intelligi potest magis ut natura vel magis ut ratio vel aeque ut natura et ratio.“ De bono [], – : „Cum enim dicam rationem esse ut naturam et magis naturam quam rationem, non excludo rationem.“ Cf. De bono [], – .
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einem vom Naturaspekt isolierten Sinne die Rede ist, sondern nach wie vor von einer solchen, die „etwas von Natur hat“ – ‚Natur‘ hier verstanden als „zum Guten hingeordnet durch die Keimlinge des Guten, die zum Leben gehören“, wobei jene ‚Keimlinge (seminaria)‘ wie gesehen „das Naturrecht sind“ –, und in dieser Akzentsetzung gehören dann die allgemein und unbestimmt aufgefassten Weisungen (mandata) beider Tafeln des Dekalogs zum Naturrecht „und kurz alles, was seiner Gattung nach als sittlich gut anzusprechen ist“.¹⁰⁹ (c) Betont man schließlich drittens die Gleichheit von Vernunft (ratio) und Natur (natura), so gehört all das zum Naturrecht, was „aus der rechten Vernunft heraus zum Vorteil und Nutzen des Menschen mit Voraussicht besorgt wird“, wie etwa die Vorsorge für das Haus, die Verwaltung der Familie, die Wahl der Würdenträger, die Sorge ums Eigentum und dergleichen.¹¹⁰ Zu betonen ist auch hierbei jedoch der Bezug dieser Momente auf die ‚universalen Keimlinge des Rechts‘, das heißt auf die angeborenen naturrechtlichen Universalprinzipien, denen gemäß sie verfasst sein müssen, anstatt dass diese Bestimmungen ihren Geltungsgrund bloß in den jeweiligen Umständen und Beschlüssen hätten. Offenkundig hat Albert mit dieser Ebene die Dimension von Naturrecht im Blick, die oben dem Bereich des positiven Rechts zugeordnet wurde. 3. Mittels dieser grundsätzlichen Unterscheidungen versucht Albert erstens dem Problem zu begegnen, weshalb und in welcher Weise traditionell auch Momente zum Naturrecht gerechnet werden können, die nicht nur dem Menschen eigentümlich sind, wie etwa die Fortpflanzung.¹¹¹ Die Natur als ‚eingeborene Kraft‘ nämlich, von der im Falle des Naturrechts die Rede ist, ist Albert zufolge keine bloß generative, sondern zudem eine solche, die „das, was durch uns erzeugt ist, gemäß der Rechtheit der Natur ordnet“.¹¹² Jedoch muss, so betont Albert, das dieser Kraft eigentümliche Streben nach Fortpflanzung (appetitus successionis) nicht im allgemeinen, sondern vielmehr spezifischen Sinne aufgefasst werden, das heißt also als Moment der menschlichen Natur, und nur auf diese Weise gehört es zum Naturrecht. In Erwiderung auf den dritten
De bono [], – : „tunc natura accipitur ut in bonum ordinata per seminaria boni perinentis ad vitam, quae seminaria sunt ius naturale. Et sic de iure naturali sunt mandata utriusque tabulae, prout generaliter et indeterminata accipiuntur, et breviter, quidquid est honestum in suis generibus, est de iure naturali.“ De bono [], – : „pertinet ad ius naturale, quod ex ratione recta ad commodum hominis et utilitatem est provisum, et semper est in genere secundum semina iuris universalia et non secundum casus vel consulta determinata, sicut est providere domui, dispensare familiam, eligere praelatos ‚ad vindictam malorum et laudem bonorum‘ et custodire propria et huiusmodi.“ – Cf. zu einer ähnlichen Darstellung der albertinischen Naturrechtsauffassungen Müller (, – ). So der erste Einwand: De bono [], – . De bono [], – : „vis innata dicitur hic non tantum generativa, sed etiam ordinans id quod a nobis genitum est secundum rectitudinem naturae.“ – An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass der „im vorliegenden Kontext verwendete Begriff der menschlichen Natur nicht bloß im Sinne der spezifischen Differenz, also der Rationalität, verstanden werden muss, sondern dass Albert zugleich auch einen moralischen Gebrauch des Wortes ‚Natur‘ von einem ontischen abgrenzen möchte.“ (Müller [], p. ).
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Einwand, der die zweite Bedeutung des Naturbegriffs als aus der Sinnlichkeit entspringendem Naturinstinkt oder -stimulus zu Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses als mit der ersten identisch kritisiert, differenziert Albert hier noch weiter, indem er erläutert, dass in dem natürlichen Streben nach Fortpflanzung zwei Aspekte zu unterscheiden sind. Wird es als sich am Gefühl bzw. am Tastsinn (tactus) erfreuender Akt betrachtet, so gehört es zum Potential der Natur als eingeborener Kraft; betrachtet man es hingegen mit Blick auf seine Wirkung, also den Nachwuchs, so gehört die Fortpflanzung insofern zum Naturrecht, als der Empfängnisgrund im Bereich des Moralischen, nämlich der Ehe anzusiedeln ist.¹¹³ Insofern also, als Fortpflanzung und dergleichen in Hinsicht auf sie selbst allgemein dem Lebewesen und nicht spezifisch dem Menschen zukommen (animalis secundum se et non hominis), gehören sie nicht zum Naturrecht; insofern hingegen, als sie an der Vernunft teilhaben und zu tugendhaften oder lasterhaften Akten führen können, das heißt also sofern ihnen moralische Relevanz zukommen kann, gehören sie zum Naturrecht.¹¹⁴ Die Frage, in Hinsicht worauf diese Partizipation des natürlichen Strebens an der Vernunft erfasst werden kann, erläutert Albert hierbei so, dass es eine Regel in allem Derartigem gibt, mittels derer dies einfach erkannt wird, nämlich dass jene Akte und Strebevermögen dahingehend betrachtet werden, dass sie durch Gesetze geordnet und in Umstände eingebettet sind. Denn jene Gesetze beziehen sich auf ein Gemeinsames, welches allen bekannt ist, und hierdurch werden sie auf das Naturrecht hingeordnet.¹¹⁵
Letztlich also ist es ihre Unterordnung unter die allgemeinsten, durch sich bekannten naturrechtlichen Prinzipien und ihre diesen gemäße Bezogenheit auf konkrete Handlungsumstände, welche die Teilhaftigkeit natürlichen Strebens an der menschlichen Vernunft ausmacht. Im Naturrecht ist die Vernunft als Natur somit, wie Albert sich ausdrückt, „mit dem Begriffsgehalt der Natur vermischt“,¹¹⁶ und in dieser Hinsicht gehören schließlich auch die moralischen Gebote des Alten und Neuen Testaments in gewisser Weise zum Naturrecht, so jedoch, dass diese biblischen Vorschriften eine höhere Bestimmtheit und genauere Erklärung des im Naturrecht nur allgemein Angegebenen darstellen und daher bereits aufgeschriebenes Recht sind. Dennoch bringen diese genaueren Bestimmungen keine neuen und externen Inhalte ins Naturrecht, sondern konkretisieren
De bono [], – : „Ad aliud dicendum, quod procreatio potest duobus modis accipi, prout est actus delectans in tactu vel secundum effectum, scilicet prolis. Si primo modo, tunc pertinet ad primum [sc. ad naturam ut vim innatam acceptam], si secundo modo, tunc erit per rationem excipientem ipsum per honestatem nuptiarum et erit de iure naturali sic dicto.“ Cf. De bono [], – . De bono [], – : „una regula est in omnibus huiusmodi, per quam hoc facile dignoscitur, scilicet ut considerentur actus illi et appetitus, secundum quod legibus ordinantur et circumstantiis vestiuntur. Illae enim leges respiciunt aliquid commune, quod notum est omnibus, et per hoc ordinantur ad ius naturale.“ De bono [], f.: „ratio sumitur ibi ut ratio, permixta tamen intentioni naturae.“
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dieses lediglich. In diesem Sinne gibt es für Albert wie schon angedeutet keine substantielle Differenz zwischen Dekalog und Evangelium und Naturrecht, obzwar erstere, als aufgeschriebene und konkretere Rechte, dem Naturrecht im dritten Sinne, das heißt dem der Vernunft entspringenden Instinkt zuzurechnen sind.¹¹⁷
4.3.1.1.3 Teile des Naturrechts 1. Unter ‚Teilen (partes) des Naturrechts‘ sind bei Albert diejenigen menschlichen Haltungen und Verhaltungen zu verstehen, die traditionell als konkrete Ausdrucksformen des Naturrechts angesehen werden. Auch bei der Diskussion dieser ‚Teile‘ werden von Albert Fragestellungen vorweggenommen, die bereits auf Thomas, genauer auf die beinahe schon berüchtigte q. 94 a. 2c aus Sth I – II vorwegweisen. Dieser Doppelaspekt – also der Konnex von Naturrecht und allgemeiner Gerechtigkeit (iustitia generalis) einerseits, der Vorausbezug auf Sth q. 94 a. 2c andererseits – verdient daher im Rahmen der vorliegenden Studie Aufmerksamkeit. 2. Konkret handelt es sich bei der bereits auf Thomas vorausweisenden Problematik um die Frage der Vielheit innerhalb der Einheit des Naturrechts. Ähnlich wie Thomas im ersten Teil von Sth I – II q. 94 a. 2c beantwortet Albert diese Frage mit einem Hinweis auf die schon oben entwickelte Beschreibung des Naturrechts als sittlicher Prinzipienstruktur des praktischen Intellekts in Analogie zur Prinzipienstruktur des spekulativen. Hier wie dort nämlich gibt es nicht bloß ein Prinzip, durch das alles – spekulativ oder praktisch – Wissbare gewusst wird. Vielmehr variieren die Gegenstände des Wissens und des Handelns „aufgrund der verschiedenen Materien [per diversas materias]“.¹¹⁸ Diese Varianz führt zu drei möglichen Weisen, wie etwas zum Naturrecht als dessen ‚Teil‘ gehören kann: „essentialiter et suppositive et particulariter“.¹¹⁹ Essentiell (essentialiter) gehören die besprochenen obersten Prinzipien zum Naturrecht, indem sie dieses seinem Wesen nach ausmachen. ‚Suppositiv (suppositive)‘ zum Naturrecht gehörig hingegen ist „dasjenige, was diesen Prinzipien allgemein untergeordnet ist und seinen Ursprung allein aus der natürlichen Vernunft ableitet“.¹²⁰ Gemeint sind diejenigen der menschlichen Vernunft entspringenden Handlungen und Momente, auf die diese Prinzipien ihre Anwendung finden. Als Beispiele nennt Albert – hierbei seiner Absicht der Integration traditionell zum Naturrecht gezählter ‚Teile‘ desselben nachkommend – Religion, Pietät, Dank, Eigentum, Ehrerbietung und Wahrhaftigkeit (Cicero) wie auch die Verbindung von Mann und Frau, die Zeugung der Kinder, Erziehung des Nachwuchses (der Knaben), gemeinsamer Besitz aller und allen gemeinsame Freiheit, Zugriff auf die Güter der Erde, Rückerstattung des Hinterlegten oder Geborgten und das Recht zur Notwehr (Isidor).¹²¹ In partikulärer Weise
Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], . Cf. De bono [], – . De bono [], – : „Suppositive autem sunt supposita communia illorum principiorum quae non trahunt originem nisi a ratione naturali.“ Cf. De bono [], – . Belegstellen: Cicero: De inv. l. c. n.; Isidor: Etym. V cap. .
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(particulariter) schließlich ist dasjenige ein Teil des Naturrechts, was nicht gänzlich aus der Natur, sondern teilweise auch aus den menschlichen Übereinkünften seinen Ursprung und seine normative Kraft gewinnt, also das, was durch Plebiszite, den Beschluss des Rats und die Erwiderung der Weisen in Gestalt des positiven Rechts festgelegt wird. Derartiges gehört deswegen überhaupt noch zum Naturrecht, weil es, obzwar letztlich den Umständen und der Kontingenz geschuldet, dennoch nicht gänzlich eines Bezuges zur praktischen Vernunft und damit zum Naturrecht ermangeln darf, soll es geltende Kraft beanspruchen können.¹²² 3. Eine für die in der Einleitung zum gegenwärtigen Abschnitt besprochenen Problematik der Verschränkung von ethischen mit metaphysischen und theologischen Momenten nicht nur im Naturrecht selbst, sondern auch innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion desselben interessante Problemlage ergibt sich aus diesen Ausführungen mit Blick auf die Religion. Dies nämlich ist kein Gegenstand der Vernunft, sondern des Glaubens, und scheint deswegen nicht dem Natur- qua Vernunftrecht zugehörig zu sein. Alberts Antwort auf dieses Problem besteht in einer Anwendung des Unterschieds zwischen suppositiver und essentieller Zugehörigkeit von Momenten zum Naturrecht, und zwar im vorliegenden Falle nicht auf die Religion, sondern auf alle oben genannten Bestimmungen aus Cicero. So führt Albert aus, dass diese Bestimmungen einerseits zum Naturrecht in dem Sinne gehören können, dass sie den Inhalt von dessen universalen Prinzipien darstellen. In dieser Weise gefasst, ist die Religion dann Sache der Vernunft und nicht des Glaubens, nämlich in Gestalt des Grundsatzes, dass Gott zu ehren ist. Andererseits aber können sich diese Bestimmungen auch zum Naturrecht verhalten wie ein Untergeordnetes (suppositum) zum Universalen, dem es zugrunde liegt, so etwa in der Frage, welcher konkrete Ritus der Gottesverehrung zu befolgen sei. Dies ist Albert zufolge dann sowohl Sache der Vernunft als auch des Glaubens.¹²³ Hieran wird erkennbar, dass Albert durchaus die These der Natürlichkeit und entsprechend einer praktisch-philosophischen Ausweisbarkeit des Gottesbezuges des Menschen vertritt.Vertieft wird diese Ansicht Alberts durch eine andere Stelle, wo er klarstellt, dass es „mit Blick auf die Prinzipien eine und dieselbe Religion bei allen ist, wenngleich die ihr zugrundegelegten Werke nicht dieselben sind“; diese können nicht nur variieren, sondern zudem gelegentlich einem Irrtum der Vernunft verfallen.¹²⁴ Zu dieser zweiten Auffassung ist dann auch zu rechnen, dass die von Cicero genannten Bestimmungen als „Teile der Gerechtigkeit [partes iustitiae]“ und deshalb als durch Gewohnheit erworbene Tugenden anzusprechen sind.¹²⁵ Jedoch bedeutet dies nicht, wie schon oben besprochen und wie hier nochmals deutlich wird, dass Ethik theologisch begründet würde, ethische Handlungsvorschriften mithin aus
Cf. De bono [], – . Cf. zum positiven Gesetz unten. Cf. De bono [], – . De bono [], – : „quoad principia religio est una et eadem apud omnes, licet opera supposita religioni non sint eadem, quia in illis est varietas et etiam frequenter error rationis, quia supponitur principiis.“ Cf. De bono [], ad .
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der Natur Gottes und dessen Bezug zur Schöpfung abgeleitet würden. Eher scheint hier der menschliche ursprüngliche und habituell zu vervollkommnende Gottesbezug auf einer ähnlichen Ebene zu stehen wie im einleitend diskutierten Entwurf Martha Nussbaums: Der metaphysische bzw. theologische Bezug zu Gott wird nur insofern im Rahmen einer Ethik relevant, als er innerhalb des Handelns selbst als Handlungsprinzip fungiert. Aber selbst unter dieser Einschränkung ist deutlich geworden, dass Albert – wie dann später auch Thomas – die Auffassung vertritt, dass es allen Menschen natürlich ist, also bereits vor einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung, nach Gott und dessen Erkenntnis zu streben. Diese Überzeugung wird insbesondere im letzten Kapitel der vorliegenden Studie noch eingehender zu diskutieren sein.
4.3.1.1.4 Dispens vom Naturrecht Eine abschließende Bemerkung Alberts zur Frage nach dem Dispens vom Naturrecht unterstreicht dessen universale Gültigkeit für den Menschen. Überdies weist diese Betrachtung bereits voraus auf das am Schluss des vorliegenden Kapitels zu untersuchende Problem der Epieikie.¹²⁶ Albert arbeitet heraus, dass es dem Menschen – im Gegensatz zu Gott – unmöglich ist, vom Naturrecht zu dispensieren.¹²⁷ Dem Menschen kommt mit Blick auf das Naturrecht jedoch die Möglichkeit der Interpretation (interpretatio) zu, sofern er Stellvertreter Gottes „in der Autorität der Macht und der Ordnung der Weisheit und der Gutheit des Lebens“ ist.¹²⁸ Diese Interpretation besteht in der Anwendung des gemeinsamen Rechts auf die Einzelfälle vermittels der Vernunft,¹²⁹ die jedoch, auch wenn es sich hierbei um die Vernunft des Weisen handelt, häufig der Täuschung bzw. dem Irrtum unterliegt. Im Zuge dieser durch den Weisen oder Berechtigen vorgenommenen Interpretation kann dann eine Art Dispens vom Naturrecht im Sinne eines Nachlassens (relaxatio) des Rechts aufgrund der Notwendigkeit oder Nützlichkeit stattfinden. Dabei betrifft dieser Dispens jedoch keineswegs die Intention und das Ziel des Naturrechts, das heißt das moralisch Gute und Angemessene, sondern lediglich die konkrete Handhabung desselben. – Die Strukturen, die zu dieser interpretativen Form des Nachlassens in der Anwendung des Rechts gehören, werden in der Untersuchung zur Epieikie genauer betrachtet.
Fazit Die bisherigen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die universale normative Grundlage des menschlichen Handelns bildet in Alberts De bono das Na Und natürlich überdies auch wieder auf die Behandlung dieses Problems bei Thomas. Cf. De bono – [], – . De bono [], – : „ab homine, qui vicarius dei est in auctoritate potestatis et ordine sapientiae et bonitate vitae, potest recipere interpretationem.“ De bono [], – : „applicatio communis iuris ad particulares casus et opera particularia.“
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turrecht (ius naturale), das eine Struktur von allgemeinsten, intuitiv einsichtigen Vernunftprinzipien darstellt, die dem Handlungsakteur anhand empirisch auftretender Einzelfälle bewusst werden. Gehabt werden diese Prinzipien in der menschlichen Seele in Gestalt der Synderesis, die ein natürlicher, das heißt der Seele von Gott mitangeschaffener Habitus ist. Keine konkrete Handlung sowie kein positives, das heißt durch menschliche Beratschlagung mit Blick auf mehr oder minder kontingente Erfordernisse der historischen Situation aufgestelltes positive Recht darf dem Naturrecht widersprechen, soll es als moralisch gut gelten, wenngleich das Naturrecht nicht selbst unmittelbar als Handlungsprinzip fungiert. Mit Blick auf die Gerechtigkeit stellt sich heraus, dass als derartig unmittelbare Prinzipien des Handelns die positiven Rechte zu gelten haben, und dies gerade aufgrund der Tatsache, dass sie zwar das Moment vernünftiger normativer Allgemeinheit vom Naturrecht, zugleich aber auch das Moment historischer Partikularität innehaben und die konkrete Handlung, in der die Sittlichkeit sich letztlich realisiert, aufgrund ihrer Bezogenheit auf den Bereich weltlicher Kontingenz wesentlich partikulär ist. Das positive Recht steht somit gleichsam als Mittleres zwischen der naturrechtlichen Allgemeinheit der Vernunft und der Kontingenz der Welt, in der sittliches Handeln stattfindet. Aufgrund dieser so verstandenen Mittelstellung des positiven Rechts kommt ihm weiterhin nicht zu, ohne weiteres in Form von apodiktischen Schlüssen aus dem Naturrecht deduziert werden zu können. Vielmehr kommt es politisch durch Plebiszit, Beratschlagung und Rat der Weisen, also durch die Zusammenführung verschiedener Ebenen von Empirie, Bedürfnis und Interesse zustande, die ihrerseits auf die Notwendigkeit gelebter Sittlichkeit und erfahrungsgesättigter Klugheit als wichtigstem Organ der Erlassung positiver Rechte verweisen. – Es hat sich neben dem epistemischen Status des Naturrechts als Struktur moralischer Vernunftprinzipien und dem ontologischen als natürlichem Habitus der menschlichen Seele das Moment seiner metaphysischen bzw. theologischen Begründung herausgestellt. Dies gilt für den Status der ‚Eingegossenheit‘ des Naturrechts durch Gott, der damit an sich letzter Grund der Allgemeinverbindlichkeit menschlicher Sittlichkeit ist. Aber wie dann auch später bei Thomas von Aquin ist es nicht notwendig, dass der Handlungsakteur auf diese Begründung reflektiert, um die Normativität des Naturrechts zu erfassen. Wenn daher Gott einen der Inhalte des Naturrechts darstellt, so doch nicht so, dass auf ihn in der sittlichen Reflexion die Handlungsprinzipien erst zurückgeführt werden müssten, um in ihrer Normativität einsichtig zu sein.Vielmehr ist Gott Teil des Naturrechts, indem zu diesem auch das Streben nach Gott gehört. Die Universalität, die Albert diesem Streben einräumt, lässt hierbei den Eindruck entstehen, dass das so verstandene naturrechtliche Prinzip noch über den diversen historischen religiösen Ausprägungen zum Stehen kommt. Wenn dem so ist, dann ist der theologische Status des Naturrechts eher im Sinne der späteren metaphysica specialis aufzufassen, denn als offenbarungsreligiöses Moment. – Das Naturrecht stellt bei Albert somit den universalen normativen Rahmen der Gerechtigkeit dar. Das positive Recht ist dessen handlungsprinzipiierende Spezifizierung. Jedoch setzt Albert zwischen diese beiden Rechtsformen und die Gerechtigkeit das Gesetz, das im folgenden Abschnitt dargestellt wird.
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4.3.1.2 Das Gesetz (lex) Das Gesetz gehört auch schon vor der Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie aus EN V und entsprechend schon vor einem Aufgriff der aristotelischen Gesetzesgerechtigkeit für Albert zur Propädeutik einer Untersuchung der Gerechtigkeit, weil deren Gegenstand, das Gerechte (iustum), von den Gesetzen vorgeschrieben wird, sodass bisweilen die Gerechtigkeit über das Gesetz definiert wird.¹³⁰ Ähnlich wie beim Begriff des Naturrechts (ius naturale) erläutert Albert hierbei zunächst die Wesensbestimmung (quid) des Gesetzes und danach dessen Unterarten bzw. Teile. Im Zuge dessen unternimmt Albert auch den philosophiehistorisch ersten Versuch einer klareren Abgrenzung des Naturrechts vom Naturgesetz.¹³¹
4.3.1.2.1 Definition des Gesetzes 1. Albert findet zunächst zahlreiche Definitionen des Gesetzes vor, von denen er drei herausgreift: erstens eine Definition, die er Cicero zuschreibt und der gemäß das Gesetz „aufgeschriebenes Recht [ist], welches das moralisch Gute gutheißt und das Gegenteil verbietet“.¹³² Zweitens die Definition aus den Dekreten: „Das Gesetz ist eine Konstitution des Volkes, durch die die Älteren gemeinsam mit den Bürgern etwas sanktioniert haben.“¹³³ Drittens schließlich bezieht sich Albert auf eine Passage aus Augustinus, aus der er die Bestimmung des Gesetzes als eine „das Gerechte vorschreibene und das Gegenteil verbietende Konstitution, die verordnet und durch die Kraft der Übereinkunft zustande gekommen ist,“ gewinnt.¹³⁴ Diesen Momenten fügt Albert zwecks der Widerlegung einiger Einwände, auf die gleich noch einzugehen ist, die der Ethica vetus ¹³⁵ entnommene Auffassung des Aristoteles hinzu, dass es der Wille der Gesetzgeber sei, tugendhaft gute Bürger hervorzubringen.¹³⁶ Albert begründet dies damit, dass die Staatslehre (doctrina civilis) sich auf das Gesetz bezieht, das sowohl das zu Tuende gebietet als auch das zu Lassende verbietet, weshalb die Staatswissenschaft (scientia civilis) das menschliche Gut im Sinne des für den Menschen im (hießigen) Leben zu erreichenden Optimums zum Ziel hat.¹³⁷ Diese Momente fließen dann auch in
De bono [], – : „quaeritur de lege, per quam etiam diffinitur aliquando iustitia, eo quod iustum esse dicatur, quod leges praecipiunt.“ Cf. hierzu Perkams (, ). De bono [], – : „lex est ius scriptum asciscens honestum prohibensque contrarium.“ – Der Apparat der Ed. Col. merkt dazu an, dass diese Stelle bei Cicero nicht aufzufinden ist. De bono [], – : „Lex est constitutio populi, qua maiores natu simul cum plebibus aliquid sanxerunt.“ Die Stelle in Decr. Grat. ist d. c. und verweist ihrerseits aus Isidors Etym. l. c.. De bono [], – : „lex est constitutio iustum praecipiens et contrarium prohibens convenienti vigore sancita.“ Die sogenannte Ethica vetus ist ein lateinisches Fragment der EN, das seit dem Ende des elften Jahrhunderts zugänglich war und EN II und III (bis a) umfasst. Cf. hierzu Cunningham (, ). Cf. EN II , b – ; Eth. vetus I – . Albert bezieht sich hier verkürzend auf EN I , b – , wo jedoch der Argumentgang etwas klarer ist. Aristoteles nämlich schickt voraus, dass offenkundig die politike episteme erstens alle an-
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die Definition des Gesetzes als geschriebenem Recht so ein, dass dieses wesentlich durch seinen substantiellen Bezug auf das Gerechte als ein sittliches Gut (honestum) der menschlichen Gemeinschaft bestimmt ist.¹³⁸ Der Aspekt des ‚Staatlichen (civilis)‘ ist dabei hier mit Isidor im weiten, auch das kanonische Recht umfassenden Sinne als aufgeschriebenes Naturrecht (ius naturale scriptum) zu verstehen.¹³⁹ 2. Diese Bestimmungen, mittels derer der Konnex von Gesetz und Moralität im Sinne von gutem Leben geknüpft wird, sollen vor allem den Einwand zurückzuweisen erlauben, dass es Gesetze geben könne, die un- oder zumindest nichtsittlichen Charakters sind. So scheint es offenbar nicht nur dem Recht entgegengesetzte, weil unrechte Gesetze (lex iniuria) wie das sogenannte ‚Gesetz des Fleisches‘ zu geben, das später bei Thomas ‚Gesetz des Zunders‘ (lex fomitis) genannt wird und im Sündigen besteht.¹⁴⁰ Vielmehr scheinen auch im politischen Bereich die Gesetze eines Gemeinwesens nicht primär auf das sittlich Gute, sondern in erster Linie auf das Nützliche zu zielen, das dem sittlich Guten zwar nicht notwendig widersprechen, mit diesem aber offenbar auch nicht notwendig identisch sein muss.¹⁴¹ – Gegen diese Auffassung mobilisiert Albert die schon angeführten Bestimmungen aus der Ethica vetus, indem er konstatiert, dass es sich bei dem für die Gemeinschaft Nützlichem durchaus auch um ein sittlich Gutes (honestum) handelt. Das Gesetz muss daher mit Blick auf dieses sittliche Gut definiert werden, und das heißt mit Blick auf das Gerechte, das Albert hier genauer durch das ‚einem jedem Erstatten, was sein ist (reddere unicuique quod suum est)‘ bestimmt. Als sittliches Moment verbindet Albert das Gerechte mit dem Moment der Tugend (virtus) und stellt damit einen ersten, obzwar noch nicht weiter entwickelten Konnex von Gesetz und Gerechtigkeit (als Tugend) her. Der Bezug des Gesetzes und des durch dieses bestimmten gerechten Handelns hindert hier zwar nicht, dass auch im Erstatten des Geschuldeten eine gewisse Nützlichkeit (utilitas) liegen kann. Doch dieses Nützliche ist ein lediglich akzidentelles Gut, wohingegen das Gerechte, worauf das Gesetz abzielt, nämlich das Wohl der Gemeinschaft, schlechthin gut zu nennen ist und das Nützliche ihm nachfolgt.¹⁴² 3. Das Gerechte (iustum), welches nach Augustinus das Gesetz vorschreibt, ist also per se ein sittlich Gutes und hat als solches deshalb einen Bezug zur Tugend; anders jedoch als bei denjenigen Tugenden, die sich auf den Genuss des je eigenen Guts bzw. die Regelung der ihr zukommenden Leidenschaft (passio) beschränken und dadurch bestimmt werden, beziehen sich das Gesetz und die ihm korrespondierende, das Gerechte durch das Gesetz avisierende Tugend nur auf das, was gemeinsam ist und die
deren praktischen Wissenschaften umfasst, zweitens über alles Gesetze erlässt, und drittens deswegen offenbar die Ziele aller anderen Disziplinen im umfassenden Ziel der politike episteme enthalten sein werden und letzteres dann das anthropinon agathon sein wird. Cf. De bono [], – sowie Alberts Aufgriff des Aristoteles-Zitats ibid. – . Cf. De bono [], – ; die Stelle bei Isidor ist Etym. l. c.. Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], ad und ad .
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res publica betrifft.¹⁴³ Obzwar diese Formel an dieser Stelle nicht steht, könnte man bei Albert hier gleichsam schon die Rede vom Gesetz und von der auf dieses bezogenen Gerechtigkeit als Bezug auf ein fremdes Wohl einsetzen. Daher kann das Gesetz auch die Akte der nicht unmittelbar aufs Gemeinwohl bezogenen Tugenden befehlen, sofern sie dieses etwas ‚angehen (tangere)‘.¹⁴⁴ Das Gerechte – wie auch die Gerechtigkeit, die es zum Gegenstand hat – kann mithin in ein inkludierendes Verhältnis zu den Gütern der übrigen Tugenden gesetzt werden. Hier erkennt man bereits die Grundstrukturen, die oben für die allgemeine Gerechtigkeit (iustitia) generalis bei Philipp dem Kanzler ausgearbeitet wurden, in ihrer Übertragung auf das Gesetz – auch dies ein Moment, das dann später bei Thomas wieder aufgegriffen und zum integralen Bestandteil seiner Theorie der Gerechtigkeit gemacht wird. 4. Inhaltliche Konkretion und Konstitution des Gesetzes gehen bei Albert Hand in Hand, wobei verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinschaft, wie schon oben beim positiven Recht gesehen, unterschiedliche Funktionen zukommen. Das Volk etwa konstituiert das Gesetz dadurch, dass es ihm zustimmt und es befolgt, wie auch dadurch, dass das Gesetz um des Nutzens des Volkes willen überhaupt eingerichtet worden ist. Dagegen liegt die Gesetzeskonstitution hinsichtlich der Findung und Anordnung bei den Rechtsgelehrten und bei den Fürsten mit Blick auf die Sanktion durch die Autorität.¹⁴⁵ Entsprechend kommt es den Älteren als den Vertretern des Volkes auch nicht zu, das Gesetz durch Autorität, sondern nur durch Zustimmung und Ratschluss zu sanktionieren.¹⁴⁶ Vor diesem Hintergrund wird auch die Auffassung Alberts verständlich, dass keine Gemeinschaft ohne ein monarchisches Staatsoberhaupt, dem zu gehorchen ist, auskommen kann,¹⁴⁷ da eben nur bei diesem die Autorität der Durchsetzung von Gesetzen liegen kann. Aus dieser Figur gleichsam kommunikativer Gesetzeskonstitution erhellt jedoch im Rückblick auf das oben zum Naturrecht Gesagte, dass in prinzipientheoretischer Hinsicht das Gesetz seinen moralischen bzw. moralitätskonformen Status nicht schon aus diesem Modus seines konkreten Zustandekommens gewinnt, sondern dieser Status vielmehr an die naturrechtliche Vernunftstruktur der jeweilig Beteiligten, und hier konkret: das in dieser involvierte Moment des Bezugs auf ‚fremdes Wohl‘ als dem allgemeinen Wohl einer Gemeinschaft gebunden bleibt.
De bono [], – : „Lex enim de nullo est […] nisi quod secundum aliquem modum statum communem respicit, et ideo Augustinus potius ponit iustum, quod respicit commune, quam actum alterius virtutis, qui per propriam passionem determinatur.“ Cf. De bono [], – . De bono [], ad , – : „lex est constitutio populi per consensum et utilitatem et observationem, iuris consulti autem est per inventionem et ordinationem et principis per auctoritatis sanctionem.“ Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad .
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4.3.1.2.2 Unterscheidung und Arten bzw. Teile von Gesetzen 1. Alberts Bezugsstelle für die Diskussion der verschiedenen Arten von Gesetzen, die zwar in ähnlicher, jedoch nicht in genau derselben Weise und auch in einem anderem Modus der Ableitung bei Thomas wieder auftauchen wird, ist der Kommentar des Petrus Lombardus zum Römerbrief, wo dieser zwischen dem Natur-, dem mosaischen bzw. Gesetz der Furcht (lex timoris) und dem Gnadengesetz bzw. dem Gesetz Christi sowie einem ‚Gesetz der Glieder‘ unterscheidet (lex naturae, Moysi, gratiae, membrorum).¹⁴⁸ Gemeinsam ist allen Gesetzesarten Albert zufolge, vom Begriff des ‚Bindens (ligare)‘¹⁴⁹ abgeleitet zu sein. Für die Unterschiede dagegen bietet Albert mehrere Differenzierungsschemata an. So kann man im Ausgang vom Begriff ‚ligare‘ einmal festhalten, dass dieser eine Differenzierung zwischen dem ‚Gesetz der Glieder (lex membrorum)‘ und den übrigen Gesetzen dahingehend erlaubt, dass im Falle des Gesetzes der Glieder die ‚Bindung (ligatio)‘ für die Neigung eines Habitus, ein andermal bei den übrigen Gesetzen für die ‚Verbindlichkeit (ligatio)‘ einer Anweisung (mandatum) steht.¹⁵⁰ – Als eine weitere Grundlage für diese vierfache Differenzierung von Gesetzesarten kann Albert zufolge eine Struktur dreifacher Hinsichtlichkeit fungieren.¹⁵¹ [1] Erstens kann im Bereich des Handelns untersucht werden, was das zum Werk hin Bewegende (movens ad opus) jeweils ist. Hierbei ergibt sich unmittelbar eine weitere Zweiteilung. [1a] Einmal nämlich kann das Bewegende als Zielperspektive (terminus ad quem) aus der Zielsetzung des Gesetzes heraus (ex intentione legis), ein andermal [1b] als Ursprung (terminus a quo) aufgefasst werden. Für das Erste ergeben sich drei Möglichkeiten und drei entsprechende Zuordnungen von Gesetzesarten insofern, als das Bewegende oder Inklinierende entweder die Natur (lex naturalis) oder die Gnade (lex gratiae) oder aber die Sünde (lex peccati sive membrorum) sein kann. Für das zweite dagegen nennt Albert nur eine Möglichkeit, nämlich die Flucht vor der Furcht, und ordnet dieser entsprechend die lex timoris zu.¹⁵² Zweitens [2] kann die Differenzierung der Gesetze auch durch eine Hinsicht auf die bewegten Vermögen (potentias quae moventur) gewonnen werden, wobei erneut eine unmittelbare Zweiteilung vorgenommen werden kann. Einmal [2a] kann es sich bei dem besagten Vermögen um ein solches handeln, das die universalen Vorschriften des
In epist. Pauli ad Rom. ,. So auch Thomas, Sth I – II q. a. c. Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad . Die Anmerkungen zu De bono [], – im Apparat der Ed. Col.verweisen an dieser Stelle auf eine vermeintliche Korruption des albertinischen Textes, müsse doch unter die Betrachtung des terminus a quo auch das Streben nach dem Guten und entsprechend die lex amoris fallen. Mir scheint jedoch, dass eine solche Emendation unnötig ist, denn ansonsten würde sich entweder eine Dopplung in der Topographie des Gnadengesetzes oder eine Fünfzahl von Gesetzen einstellen. Überdies ist es wenig einleuchtend, das Streben nach dem Guten, welches offenkundig zur Betrachtung des terminus ad quem als eine Bewegung auf etwas zu fällt, unter die Kategorie des terminus a quo als eine Bewegung von etwas fort stellen zu wollen. Insofern also ist Alberts Schema keiner als Konjektur vollzogenen Korrektur bedürftig.
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Rechts im Blick hat (potentia respiciens universalia iuris); in diesem Fall handelt es sich um die Synderesis, in welcher, wie schon oben gesehen, das Naturgesetz situiert ist. Ein andermal [2b] kann es sich bei dem entsprechenden Vermögen um ein solches handeln, das die partikulären Aspekte der zu tuenden Werke im Blick hat (potentia respiciens particularia operum), und hier ist eine erneute Zweiteilung möglich. Erstens nämlich kann das Partikuläre ein hier und jetzt die Sinne erfreuendes Gut sein (bonum ut nunc delectans in sensu), welches durch das Werk erstrebt wird, und in diesem Fall handelt es sich bei dem Vermögen um die Sinnlichkeit (sensualitas) und bei dem Gesetz um die ‚lex peccati (Gesetz der Sünde)‘. Zweitens aber kann das durch das Werk erstrebte Gut ein schlechthinniges Gut (bonum simpliciter) und das bewegte Vermögen die Vernunft (ratio) bzw. die freie Willensentscheidung (liberum arbitrium) sein, und dann stellt eine weitere Zweiteilung sich ein. Einerseits nämlich kann das schlechthin Gute zugleich im Modus der Flucht vor dem Übel intendiert werden, und hier hat das Gesetz der Furcht (lex timoris) seinen Ort, andererseits im Modus des Erstrebens des Guten, und hier schließlich lokalisiert Albert das Gesetz der Gnade (lex gratiae). Drittens schließlich [3] kann auch die Ausrichtung der Gesetze selbst betrachtet werden, und hierbei kann zunächst zwischen einem intendierten Übel – im Falle des Gesetzes des Sünde (lex peccati) – oder einem intendiertem Gut unterschieden werden. Letzteres kann dabei ein allgemeines bzw. gemeinsames (commune) Gut sein, und dann ist das entsprechende Gesetz das Naturgesetz (lex naturalis), oder aber ein bestimmtes (determinatum), was entweder im Modus des Anzeigens (signando) im Fall des mosaischen Gesetzes (lex Moysi) oder des Verwirklichens (exhibendo) im Fall des Gesetzes Christi (lex Christi) statthat. 2. Im Rahmen dieser Diskussion entwickelt Albert wie schon oben erwähnt philosophiegeschichtlich erstmals eine Unterscheidung von Naturrecht (ius naturale) und Naturgesetz (lex naturalis), die ebenfalls für die unten zu führende Untersuchung des Ansatzes Thomas’ von Bedeutung sein wird. So hält Albert fest, dass das Naturgesetz sich eher auf die Weisung der Natur (mandatum naturae) bezieht, während das Naturrecht die Überlegungen über die durch die Natur zu vollziehenden Handlungen (cogitationes operabilium per naturam) meint, weshalb das Naturrecht „nach Weise des Urteilenden [per modum iudicantis]“ das sittlich Gute gutheißt und das Gegenteil verbietet, während das Naturgesetz beides „nach Weise der Obligation und des Befehls oder der Vorschrift [per modum obligationis et imperii sive praecepti]“ bewerkstelligt.¹⁵³ Das Naturgesetz hat somit den Charakter einer Vorschrift, das Naturrecht hingegen den einer Reflexionsgrundlage zur Beurteilung dessen, was ein von Natur aus Rechtes ist.¹⁵⁴ Die sich in dieser knappen Notiz bereits ankündigende Differenzierung, die das Recht eher auf die Seite der sachlichen Objektivität, das Gesetz hingegen eher auf die der Vernunftstruktur des Handlungssubjekts verlegt, wird bei Cf. De bono [], ad . In späteren Diskussionen, fußend auf Gregor von Rimini, wird diese Unterscheidung in Gestalt des anzeigenden und des befehlenden Gesetzes (lex indicativa und lex imperativa) abgebildet werden. Cf. Lect. super II Sent. d. q. a. , p. . Cf. hierzu Welzel (, – ).
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Thomas noch vertieft werden und daher in der vorliegenden Studie erst später eingehender dargestellt.¹⁵⁵ Jedoch lässt sich bereits anhand der vorliegenden Stelle die Überlegung anstellen, dass offenbar das Naturgesetz in Hinsicht auf seine inhaltliche Bestimmtheit am Naturrecht ausgerichtet ist, dabei jedoch den Aspekt der Selbstverpflichtung des Handlungssubjekts hinzusetzt.
Fazit Das Gesetz hat, so lässt sich aus dem Gesagten schlussfolgern, eher imperativen als indikativen Gehalt; letzterer kommt dem Recht zu. Angesiedelt im Bereich der Gemeinschaft bzw. des auf diese bezogenen Handeln kommt ihm ein sittlicher Gehalt und daher eine zuständige Tugend, nämlich die Gerechtigkeit zu. Obzwar Alberts Ausführungen hierbei nicht weiter ins Detail gehen, ist anzunehmen, dass sich die Verhältnisse im Bereich des Gesetzes ähnlich wiederholen wie in dem des Rechts, indem unmittelbares Handlungsprinzip weniger das Naturgesetz als die positiven Gesetze sind. Der konkrete Konnex des Gesetzes mit der Gerechtigkeit und deren verschiedenen Arten sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.
4.3.1.3 Gerechtigkeit Erst nach dieser umfangreichen Betrachtung zu Recht und Gesetz folgt Alberts Untersuchung der Gerechtigkeit. Hierbei liegt sein Hauptaugenmerk in Nachfolge der neuplatonischen Tradition Philipps des Kanzlers zunächst auf der allgemeinen Gerechtigkeit (iustitia generalis). Eine eigene Quaestio zur speziellen Gerechtigkeit (iustitia specialis) kommt erst in Gestalt einer Quaestio addita hinzu und trägt – im Gegensatz zur Betrachtung der allgemeinen Gerechtigkeit – bereits deutliche Züge einer Rezeption von EN V. Im Weiteren ist zunächst wie bisher der Gang der albertinischen Überlegungen insoweit, als sie für die Thematik des Vorliegenden relevant sind, zu verfolgen; danach ist zu fragen, welche grundsätzlichen Modifikationen, so diese zu registrieren sind, durch die Rezeption von EN V für den Gerechtigkeitsentwurf von De bono benannt werden können und inwieweit diese systematisch wichtige Hinsichten eröffnen.
Auch hier hält Albert erneut fest, dass es keine naturrechtlichen Vorschriften geben könne, die sich auf eine Natur bezögen, welche Mensch und Tier gemeinsam wäre, „weil die tierische Natur nicht durch eine Vorschrift geordnet werden kann“ (De bono [], ad , ). Dementsprechend ist auch die Auffassung zurückzuweisen, dass die naturrechtlichen Vorschriften durch unterschiedliche Naturbereiche differenziert werden könnten, von denen der eine – wie etwa die Fähigkeit zur Naturbeherrschung – nur dem Menschen, der andere – wie etwa Selbsterhaltung und Fortpflanzung – Mensch und Tier zukomme; vielmehr wird hier erneut der ausschließlich menschliche Charakter des Naturrechts deutlich. Thomas wird diese Struktur anders beschreiben.
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4.3.1.3.1 Allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) In der Quaestio zur allgemeinen Gerechtigkeit geht Albert erneut so vor, dass er zunächst mit der Frage nach dem Wesen (quid) des Untersuchungsgegenstandes anhebt. Der zweite Schritt besteht in einer Untersuchung des Problems, inwieweit es sich bei der allgemeinen Gerechtigkeit überhaupt um eine eigenständige Tugend handelt, und worin dann drittens ihr eigentümlicher Akt besteht. 1. Naturgemäß sind die Untersuchungen zu den ersten beiden Fragen, die das Wesen und den aretologischen Status der allgemeinen Gerechtigkeit diskutieren, am umfangreichsten. Dabei ist der Komplex der Betrachtungen in der ersten Quaestio um die schon angegebene Definition der Gerechtigkeit durch Anselm von Canterbury zentriert: Gerechtigkeit ist die um ihrer selbst willen bewahrte Rechtheit des Willens (iustitia est rectitudo voluntatis propter se servata). Alberts Versuch besteht darin, diese Definition zu übernehmen und mit einer objektiven Bestimmung der Allgemeinheit der Gerechtigkeit zu verbinden. So führt er aus, dass auch für die allgemeine Gerechtigkeit gilt, durch ihr Geschuldetes (debitum) bestimmt zu sein. Im Fall der allgemeinen Gerechtigkeit ist dieses Geschuldete ein allgemeines, nämlich „das Geschuldete der Rechtheit der gesamten Seele hinsichtlich ihrer zum Akt hingeordneten Kräfte, die in Bezug auf den Nächsten, auf sich selbst und auf Gott gemäß der Ordnung der Rechtheit, in der der Mensch geschaffen ist, geordnet sind“.¹⁵⁶ Aufgrund dieser Orientierung der Rechtheit der Ordnung an der Geschöpflichkeit des Menschen fungiert der prälapsale menschliche ‚status primus‘ vor dem Sündenfall als das Vorbild dieser Ordnung,wie Albert aus der Hl. Schrift und mit Bezug auf Bernhard von Clairveaux herausarbeitet.¹⁵⁷ Wie schon bei Philipp kommt hier auch bei Albert der theologische Charakter der allgemeinen Gerechtigkeit zum Ausdruck, das heißt ihre primäre Ausrichtung auf Gott als Ziel und Maßstab. Damit geht ebenfalls wie schon bei Philipp auch bei Albert die Totalität einher, mit der die allgemeine Gerechtigkeit den gesamten Menschen und dessen Leben sowohl im Innerlichen als auch im Äußerlichen betrifft. Ähnlich also wie für Philipp den Kanzler stellt die allgemeine Gerechtigkeit auch für Albert vor der Rezeption von EN V nicht primär eine Tugend dar, die nur äußerliche Handlungen mit Blick auf das Gemeinwohl (bonum commune) eines menschlichen Gemeinwesens ausrichtet,¹⁵⁸ sondern umfasst sämtliche Momente des äußeren Handelns sowie der inneren Gesinnung. Wie bei Philipp zeigen sich auch in Alberts Bearbeitung der verschiedenen Einwände gegen Anselms Definition Strukturen und Argumente, die auf die spätere Behandlungsart der aristotelischen Gesetzesgerechtigkeit bei Thomas von Aquin vorausweisen. So konzediert er zwar ausdrücklich die Feststellung, dass die allgemeine Gerechtigkeit, von der bei Anselm die Rede ist, nicht nur einem bestimmten Teil der Seele zugesprochen werden
De bono [], – : „Debitum autem generale est debitum rectitudinis totius animae secundum vires ordinatas ad actum et ad alterum et ad se et ad deum secundum ordinem rectitudinis, in qua creatus est homo.“ Cf. De bono [], – . Wie später bei Thomas.
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kann, sondern nur dieser als Gesamtheit.¹⁵⁹ Denn die Gerechtigkeit betrifft ja wie gesehen eine Rechtheit der Ordnung, die das ganze Leben und den ganzen Menschen betrifft, was in seiner Umfassendheit nicht von nur einer einzelnen Tugend geleistet werden kann. Jedoch widerspricht dem nicht der Umstand, dass bei Anselm eine Beziehung der Gerechtigkeit zum Willen hergestellt wird. Alberts Argument hierfür lautet, das der Wille in Anselms Definition nicht „als nächstes Subjekt der Gerechtigkeit [ut proximum subiectum iustitiae]“ angesetzt wird, sondern „als allgemeiner Beweger aller Tugenden durch Angleichung an seine Bewegung [ut generalis motor omnium virtutum per comparationem ad motum]“.¹⁶⁰ Wie Albert hierzu weiterhin ausführt,¹⁶¹ ist dieses Verhältnis so zu verstehen, dass die Rechtheit der allgemeinen Gerechtigkeit die speziellen Rechtheiten in den Akten der übrigen Tugenden zusammenführt (conducere). Das bedeutet jedoch nicht, dass die allgemeine Gerechtigkeit deshalb in essentieller Hinsicht mit diesen Tugenden identisch wäre, sondern sie ‚verortet‘ diese vielmehr in sich (locare). In ähnlicher Weise wird, wie sich unten zeigen wird, später das Verhältnis der Gesetzesgerechtigkeit zu den übrigen Tugenden von Albert beschrieben werden. Anders aber als diese später von Albert aus EN V übernommene Tugend weist die allgemeine Gerechtigkeit keinen ihr eigentümlichen Akt auf, der wie in anderen speziellen Tugenden eine Beziehung auf seine eigentümliche Materie und entsprechende Umstände hätte.Vielmehr dienen die Akte der speziellen Tugenden sowohl der speziellen als auch der allgemeinen Gerechtigkeit als ‚Materie‘, indem die allgemeine Gerechtigkeit jene speziellen Tugendakte ‚einschließt (circumeo)‘. Dieses Einschließen ist so zu beschreiben, dass die allgemeine Gerechtigkeit im Gegensatz zur speziellen die Akte der übrigen Tugenden nicht dahingehend berücksichtigt, dass sie die Akte der anderen Tugenden sind oder dass durch sie einem anderen das Seine erstattet wird. Vielmehr bezieht sich die iustitia generalis auf die anderen Tugenden in Hinsicht darauf, „dass aus einem derartigen Habitus und Akt derjenige, der handelt und den Habitus hat, in eine rechte Ordnung gesetzt wird.“¹⁶² Deshalb ist es Albert zufolge die spezielle Gerechtigkeit, die das ‚reddere unicuique quod suum est‘ als eigentümlichen Akt (actus proprius) aufweist, wohingegen die allgemeine Gerechtigkeit sich statt auf einen eigentümlichen Akt auf die Hierarchie einer Ordnung bezieht.¹⁶³ Deren theologischer Charakter ist bereits oben angesprochen worden und wird bestätigt, wenn Albert das Problem der vermeintlich mit der Rechtheit des Willens verbundenen Beziehung und Restriktion auf die sinnlichen Vermögen der Seele diskutiert. Diese These weist Albert damit zurück, dass es sich bei dem im vorliegenden Diskussionsfeld in-
Cf. De bono [], – . De bono [], – . Cf. De bono [], ad . De bono f. [], – : „Non enim respicit [iustitia generalis] actus aliarum, secundum quod aliarum sunt vel secundum quod per ipsos alii, quid suum est, restituitur [was dagegen der iustitia specialis zukommt], sed potius quod ex tali habitu et actu operans et habens habitum in recto ordine ponitur.“ Cf. De bono [], ad .
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teressierenden Rechten (rectum) nicht primär um ebendiese Vermögen, sondern vielmehr um ein solches handelt, welches „bestimmt wird in Hinordnung und Haltung [habitudo] der Seele mit Blick auf das, wozu sie geschaffen ist, sei es ein Habitus oder Akt in ihr selbst oder mit Beziehung auf Gott oder den anderen“.¹⁶⁴ Hierbei tritt der Bezug des Naturrechts und der allgemeinen Gerechtigkeit zutage, indem Albert hervorhebt, dass „dieses Recht das Rechte der Schuldigkeit ist in Gemäßheit der Haltung und der Ordnung der Natur, der gemäß die Seele zuerst verortet [instituta] ist in Bezug auf den Höhergestellten [= Gott], den Niedergestellten [= niedere Seelenvermögen] und den Gleichgestellten [= der Nächste]“.¹⁶⁵ Die allgemeine Gerechtigkeit stellt sich also eher als ‚Haltung (habitudo)‘ denn als Habitus heraus;¹⁶⁶ sie ist zwar einerseits dem Willen assoziiert, sofern dieser als ‚generalis motor‘ der anderen Tugenden betrachtet wird, hat aber keinen eigenen Akt, sondern bezieht sich auf ein metaphysisches, der Schöpfungsordnung entsprechendes Gefüge, nach dessen Maßgabe sie die Akte der speziellen Tugenden ordnet. Letztlich ist dieses Ordnungsgefüge identisch mit der Struktur des Naturrechts, nicht also lediglich mit der des Naturgesetzes, das ja, wie gesehen, seinerseits an diesem ausgerichtet ist. Es ist dieser metaphysische Rahmen der Schöpfungsordnung, der der allgemeinen Gerechtigkeit ihre Allgemeinheit erst verleiht, indem er dieser erlaubt, die Gesamtheit der Seele an ihm auszurichten, und der in dieser Weise gleichsam ein über den speziellen Rechtheiten (rectitudines) der Einzeltugenden verorteter Übermaßstab ist. 2. Der zweite Artikel untersucht die Frage nach dem ontologischen Status der allgemeinen Gerechtigkeit, das heißt also ob und inwiefern es sich bei dieser um eine eigenständige Tugend (virtus per se), etwas mit allen Tugenden Verbundenes oder einen bloßen Effekt von diesen handelt. Albert beantwortet dieses Problem klar zugunsten der Bestimmung der allgemeinen Gerechtigkeit als „Effekt der Tugend im Allgemeinen [effetus virtutis in genere]“.¹⁶⁷ In dieser Weise ist die allgemeine Gerechtigkeit unterschieden von der späteren Gesetzesgerechtigkeit, die insbesondere bei Thomas von Aquin ausdrücklich als eine spezielle Tugend (virtus specialis) aufzufassen ist. Überdies stellt Albert eine Verbindung zwischen der allgemeinen Gerechtigkeit und der göttlichen Gnade fest, indem er drei verschiedene Weisen der Gnade unterscheidet. In der ersten Auffassungsweise kann die Gnade als in sich selbst betrachtete heilig machende Gnade (gratia gratum faciens) angesprochen werden.¹⁶⁸
De bono [], ad , – : „Ad aliud dicendum, quod rectum hic non determinatur ad extrema passionis innatae vel illatae, sed potius determinatur in ordine et habitudine animae ad id ad quod facta est, sive illud sit habitus ive actus sive in se sive in deo sive in proximo.“ De bono [], ad , – : „Et ideo illud rectum est rectum debiti secundum naturae habitudinem et ordinem, secundum quod primo est instituta ad superius et inferius et aequale. De bono [], ad , – : „iustitia generalis potius sonat habitudinem quam habitum, eo quod habitus omnis pertinet ad actum, habitudo vero omnis in ordine determinatur.“ De bono [], . Cf. hierzu auch die Ausführungen von Thomas in Sth I – II q. a. c. Die gratia gratum faciens wird hier bestimmt als diejenige Gnade, mittel derer der Mensch Gott verbunden wird.
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Deren vorangehender Akt besteht im Heiligmachen dessen, der sie innehat, und ihr nachfolgendes Werk im vom Geheiligten vollzogenen Zurückerstatten der Heiligung; in ersterem ist die heiligende Gnade handelnd (operans), im zweiten dagegen ‚kooperierend (cooperans)‘.¹⁶⁹ Der Effekt dieser so aufgefassten Gnade ist die Rechtfertigung der Sünder (iustificatio impii). – Zweitens kann die Gnade aber auch in Hinsicht darauf betrachtet werden, dass sie in den Tugenden ist, die sich zu ihr als ihre Teile verhalten und die Gnade umgekehrt zu diesen als Substanz des Ganzen, in dem die Einzeltugenden zusammengegossen werden. War die Gnade ist der ersten Auffassung an die Seele als Subjekt verwiesen, so in der zweiten auf deren Vermögen, jedoch nicht mit Blick auf dieses oder jenes Seelenvermögen, sondern auf alle Seelenvermögen als solche (in se). Der Effekt der so betrachteten Gnade ist die durch die Tugenden vermittelte rechte Ordnung der Seelenkräfte und die damit einhergehende Zurückwendung zu Gott, also ebenjene allgemeine Gerechtigkeit, von der oben die Rede war. Drittens schließlich kann der Akt der Gnade im Gegensatz zur ebengenannten Auffassungsweise diese oder jene Tugend oder Seelenkraft ordnen; in dieser Auffassungsweise erwirkt sie eine spezielle eingegossene heilig machende Tugend.¹⁷⁰ Dieser Auffassungsweise der allgemeinen Gerechtigkeit als Wirkung der Gnade kann eine zweite beiseite gestellt werden, in der die allgemeine Gerechtigkeit als Habitus der gesamten in sich betrachteten Gewohnheit (habitus totius consuetudinis in se) aufgefasst wird, das heißt ohne Unterschied, ob sie dieses oder jenes konkrete Werk hervorbringt, und in dieser Weise ist die allgemeine Gerechtigkeit identisch mit allen Tugenden und unterscheidet sich von diesen nur dem Begriff nach.¹⁷¹ Drittens kann die allgemeine Gerechtigkeit als die Schuldigkeit der Wohlanständigkeit (debitum decentiae) und als Pflicht des Menschen, sofern er Mensch ist (officium hominis inquantum est homo), betrachtet werden. Der Maßstab und das allgemeine, nicht spezielle Geschuldete (debitum) dieser Gerechtigkeit sind durch die Übereinstimmung (congruitas) mit der Natur und Pflicht des Menschen bestimmt. Jedoch wird, wie Albert festhält, von den Heiligen nur die Gerechtigkeit der ersten, mit der Gnade verbundenen Auffassungsweise im eigentlichen Sinne als allgemeine bezeichnet, während die zweite eher ‚iustitia consuetudinalis (Gerechtigkeit der Gewöhnung)‘ heißt und die dritte ‚iustitia conguitatis (Gerechtigkeit der Übereinstimmung)‘ genannt werden kann. Dabei ist die allgemeine Gerechtigkeit, von der bei Albert die Rede ist, nicht die Gnade selbst und auch nicht deren nächster Effekt im Sinne der nachfolgenden Gnade, aber auch keine Tugend und nichts der Tugend Nachfolgendes, sondern „der Gnade in der in sich selbst betrachteten Tugend nachfolgender Effekt“.¹⁷² 3. Abschließend ist anzumerken, dass diese allgemeine Gerechtigkeit für Albert keinen eigentümlichen Akt im Sinne einer eigenen ‚Handlung und Tat (actio et operatio)‘ aufweist, sondern ganz auf die Akte der anderen Tugenden bezogen ist, die sie
Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . De bono [], : „effectus consequens gratiam in virtute in se considerata.“
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umfasst. In Hinsicht auf dieses ordnende Bezogensein jedoch kann man sagen, dass die allgemeine Gerechtigkeit immerhin einen den anderen Tugendakten, die sie ordnet, komplementären Akt innehat, indem sie andere Tugendakte auf das Sichrechtverhalten gemäß der Schöpfungsordnung ausrichtet.¹⁷³
4.3.1.3.2 Spezielle Gerechtigkeit (iustitia specialis) 1. Am Ende von De bono findet sich eine beigefügte Quaestio (quaestio addita), die offenkundig im Gegensatz zum übrigen Textkorpus nach Rezeption von EN V entstanden ist. Dies wird besonders in der Diskussion der Frage deutlich, ob es einen Akt der speziellen Gerechtigkeit¹⁷⁴ und eine spezielle Materie bzw. einen eigenen Gegenstandsbereich¹⁷⁵ gebe. Dieses Mal unterscheidet Albert zwischen zwei allgemeinen Formen von Gerechtigkeit [1– 2] und einer speziellen [3]. [1] Eine erste Art der allgemeinen Gerechtigkeit ist die eben diskutierte, also die ‚Haltung (habitudo)‘ als universale Rechtheit der Seele, durch die diese in die geschuldete Ordnung innerhalb des Gesamts der Schöpfung gesetzt wird. Über diese allgemeine Gerechtigkeit, so stellt Albert nun fest, haben die Philosophen nichts gesagt. [2] Zweitens taucht bei Albert erstmals eine allgemeine Gerechtigkeit auf, die in ihrer Beschreibung deutliche aristotelische Züge aufweist. So heißt es vor ihr, dass sie die Gattung der Tugenden und zugleich dasjenige sei, worauf der Gesetzgeber im Staat abziele. Sie sei nur begrifflich (ratione) von der Tugend geschieden, sofern sie deren Akte in Bezug zu einem Geschuldeten (debitum) setze, welches durch die in den Vorschriften des Gesetzes festgehaltenen Verpflichtungen bestimmt ist. Das Gesetz kann hierbei ein menschliches oder göttliches sein. Durch deren Vorschriften werden dann die schuldigen Leistungen (debita) der einzelnen Tugenden bestimmt, in Hinsicht auf die diese allgemeine Gerechtigkeit als Gattung fungiert. Etwas dunkel bleibt an dieser Stelle, ob Albert diese Gerechtigkeit und das Enthaltensein der ‚debita‘ der anderen Tugenden in ihr so auffasst, dass die Gerechtigkeit in einem essentiellen Sinne als Gattung fungiert – was Thomas von Aquin später ausdrücklich für die Gesetzesgerechtigkeit ablehnen wird.¹⁷⁶ Dass Albert in der Tat eine solche oder jedenfalls eine dieser analoge Relation im Blick zu haben scheint, wird daraus deutlich, dass die Gesetzesgerechtigkeit bei ihm in De bono noch nicht wie später bei Thomas als eine spezielle Tugend angesetzt wird. Daher weist sie in Alberts Interpretation von EN V noch stärker Züge der bis dahin paradigmatischen allgemeinen Gerechtigkeit auf, was sich später bei Thomas dann ändern wird. [3] Drittens schließlich bestimmt Albert die spezielle Gerechtigkeit als eine Rechtheit, der gemäß der Richter einen Ausgleich (aequalitas) anstrebt, wobei Albert die aus EN V bekannten Momente geometrischer bzw. arithmetischer Proportionalität als Maßgabe des
Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . Cf. De bono – [], – . Cf. Sth II – II , c.
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Ausgleichs benennt und diese der restituierenden (wiederherstellenden), jene der distribuierenden (zuteilenden) Gerechtigkeit zuweist. Diese so verstandene spezielle Gerechtigkeit ist dann, anders als die allgemeine, durchaus eine spezielle Kardinaltugend, die von den anderen Kardinaltugenden sowohl hinsichtlich ihrer speziellen ‚Materie, in Bezug worauf… (materia circa quam)‘, das heißt ihres intendierten Handlungsgegenstandes, als auch hinsichtlich ihres spezifischen Aktes unterschieden ist,wobei letzterer in nichts anderem als dem ‚jedem dasjenige Erstatten, was ihm geschuldet ist (reddere unicuique quod sibi debitur)‘ bzw. ‚was sein ist (quod suum est)‘ besteht. Auffällig ist hierbei, dass Albert als prinzipiellen Maßgeber gerechten Erstattens im Sinne der speziellen Gerechtigkeit den Richter benennt, nicht etwa das Naturrecht oder das Gesetz. Mit dieser speziellen Gerechtigkeit tritt zusammen mit der allgemeinen Gerechtigkeit [2] eine genuin politische, das heißt auf das staatliche Zusammenleben der Menschen in einer Polis bezogene Tugend auf. 2. Dass Albert bei seinem Aufgriff der aristotelischen speziellen Gerechtigkeit durchaus nicht Strukturen aus EN V einfach nur wiedergibt, sondern diese in neue, theologisch konnotierte Kontexte zu integrieren sucht, lässt sich an einer Stelle erkennen, wo sich Albert mit dem ganz unaristotelischen Problem beschäftigt, ob das ‚Erstatten, was sein ist (reddere quod suum est)‘ auch mit Blick auf Gott als Akt der speziellen Gerechtigkeit aufgefasst werden kann.¹⁷⁷ Dies scheint auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein, kann doch Gott erstens nichts entzogen worden sein, was ihm dann zurückerstattet werden müsste.¹⁷⁸ Zweitens gehören zuteilende und ausgleichende Gerechtigkeit in den Bereich der Beziehungen innerhalb eines bürgerlichen Gemeinwesens, an denen Gott keinen Anteil hat – handle es sich hierbei nun um Beziehungen der Zuteilung von Gütern und der Regelung des Verkehrs,¹⁷⁹ handle es sich um die freiwilligen oder unfreiwilligen Vorgänge des Tauschs.¹⁸⁰ Gegen diese Überlegungen scheint aber erstens zu sprechen, dass man auch Gott zukommen lassen kann, was ihm gebührt, und zwar auch dann, wenn man als heidnischer Philosoph über keine eingegossenen Tugenden verfügt. Hierbei hält es Albert offenkundig für möglich, dass schon mittels natürlicher Vernunft diese gottbezogene Schuldigkeit erkannt werden kann.¹⁸¹ Beleg hierfür ist unter anderem die Tatsache, dass der Heide Cicero die Religion, durch die Gott das ihm Geschuldete erstattet wird, als Teil der Gerechtigkeit angesetzt hat. Allgemein bestätigt Albert für hierarchische Strukturen
Diese Thematik wird hier deswegen ausgeführt, weil unten im Thomas-Kapitel und weiter in der Diskussion zwischen Jakob und Gottfried die Gerechtigkeit mit der Freundschaft sowie der caritas in einen engeren systematischen Zusammenhang gesetzt werden wird, der bei Albert – wie vieles andere auch – seine Vorbereitung findet. Cf. De bono [], obi. . Cf. De bono [], obi. . Cf. De bono [], obi. . Cf. De bono [], s. c. und sol.
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ein Gerechtigkeitsverhältnis, in dem der Untergeordnete dem Übergeordneten das Seine erstatten kann, nicht jedoch umgekehrt.¹⁸² Mit Blick auf die Einwände, die gegen die Möglichkeit eines solchen Erstattens gegenüber Gott zu sprechen scheinen, hält Albert erstens fest, dass es die Gerechtigkeit nur in akzidenteller Weise mit etwas Entzogenem zu tun hat, nämlich insofern, als dieses ein Geschuldetes (debitum) ist.¹⁸³ Anders gesagt, ist Gerechtigkeit durch ihr Geschuldetes in positiver Weise bestimmt, nicht bloß in gleichsam privativer im Sinne einer Korrektur von begangenem Unrecht. Mit Blick auf die Behauptung, dass bürgerlich-gesellschaftliche Austauschs- und Verkehrsverhältnisse nicht auf Gott bezogen werden können, antwortet Albert zweitens mit dem Hinweis, dass derartige Verhältnisse sich auf Glücksgüter sowie die natürlichen Güter der Seele und des Leibes beziehen, und sofern diese ihrerseits Gott als ihren letzten Urheber haben, sind wir diesem in Bezug auf jene etwas schuldig.¹⁸⁴ Auch den dritten Einwand gesteht Albert nicht ein, sondern behauptet die Möglichkeit, freiwillige und unfreiwillige Tauschbeziehungen in Relation zu Gott setzen zu können, sofern nämlich jemand etwas von dem, was Gottes ist, unwillentlich sich aneignen oder aber willentlich von Gott erhalten kann und in beiden Fällen diesem etwas schuldig ist.¹⁸⁵ 3. Vor diesem Hintergrund des Versuchs einer Vermittlung der aristotelischen Innovation der partikulären Gerechtigkeit mit dem traditionellen Bezug der Gerechtigkeit auf Gott, der in dieser Form bei Aristoteles gar nicht gegeben ist, kommt Albert bei einer Untersuchung der verschiedenen der Gerechtigkeit zukommenden Akte dazu, dieser Tugend einen denjenigen der sonstigen moralischen (‚politischen‘) Tugenden weit übersteigenden Fokus zuzuschreiben. Denn nach Albert kann sie sich, wie eben gezeigt, auf Gott und damit auf ein unendliches Gut beziehen, und dies zugleich so, dass das von ihr intendierte Erstatten ebenso unabschließbar unendlich für die endliche, gerechte Seele wird, wie dieses Objekt selbst. Der Grund hierfür liegt Albert zufolge darin, dass das Wollen bzw. der Wille unendlich ist und dieses Seelenvermögen sich deshalb überhaupt – im Gegensatz zu den übrigen Vermögen – auf Gott als unendliches Gut beziehen kann.¹⁸⁶ Diese besonders aus der augustinischen Tradition stammende Sonderstellung des Willens und die darauf bezogene Sonderstellung der Gerechtigkeit, insbesondere ihre Allgemeinheit in Hinsicht auf ihr Ziel und vermittelt darüber auf die anderen Tugenden, wird später von Thomas und Jakob von Viterbo aufgegriffen. Zugleich bietet Albert hiermit eine Lösung für das wie gesehen bei Aristoteles ungeklärt gebliebene Problem an, welches Seelenvermögen das Subjekt der Gerechtigkeit sein soll, dies allerdings, ohne bereits selbst den Willen ausdrücklich als Subjekt der allgemeinen Gerechtigkeit zu kennzeichnen.
Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], ad . Cf. De bono [], – .
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Trotz dieses aristotelischen Einschubs und der hohen Bewertung der speziellen Gerechtigkeit bleibt bei Albert jedoch die moralische Präponderanz der theologischen allgemeinen Gerechtigkeit bestehen, wie sich anhand der Frage nach der Verdienstlichkeit des Aktes der Gerechtigkeit zeigt. Alberts Antwort hierauf ist eindeutig: Nur die Akte der gnadenhaft eingegossenen, mithin – wie oben gesehen – allgemeinen Gerechtigkeit sind verdienstvoll,weil sie durch die Gnade ihre Form erhalten und auf Gott als ihr Ziel bezogen sind. Dagegen liegt im Erstatten desjenigen Geschuldeten, was jemandem aus einem eigentümlichen Recht (ex proprio iure) zusteht, kein Verdienst.¹⁸⁷ 4. Anders als die allgemeine Gerechtigkeit bedarf die spezielle als eine Einzeltugend eines eigenen Subjekts, das heißt eines eigenen Seelenvermögens, das Träger dieser Tugend ist, sowie einer eigenständigen Mitte, die als ihr Maßstab dient. Zu ersterem äußert sich Albert in De bono dahingehend, dass es sich hierbei um die Vernunft (ratio) handelt, nicht jedoch insofern, als sie die übrigen Seelenkräfte ordnet – vielmehr ist die die Vernunft in dieser Hinsicht vervollkommnende Tugend die Klugheit (prudentia), die aber gerade keine eigene Materie aufweist –, sondern vielmehr insofern, als sie als ein von den anderen Seelenkräften unterschiedenes, eigenständiges Vermögen angesehen wird.¹⁸⁸ Was zweitens die Mitte der speziellen Gerechtigkeit betrifft, stellt Albert fest, dass zur Bestimmung der der speziellen Gerechtigkeit eigentümlichen Mitte und zur Beantwortung der Frage, ob es sich hierbei um eine Mitte der Sache oder in Bezug auf uns handle, folgendes Schema anzuwenden ist: Die Tugenden sind zu unterteilen in [1] intellektuale wie die Klugheit, die der Kunst und der Wissenschaft darin gleichen (assimilatur), dass sie ihren Ursprung in Lehre und Erfahrung (doctrina et experimentum) haben, [2] in moralische, die durch Gewohnheit erworben, und schließlich [3] in theologische, die eingegossen werden. Was nun die moralischen oder politischen Tugenden betrifft, so lassen diese wiederum sich so unterscheiden, dass einige [2a] sich auf die Leidenschaften beziehen (Starkmut und Maßhaltung), einige hingegen [2b] auf „etwas außerhalb [aliquid extra]“, und hier hat die spezielle Gerechtigkeit ihren Ort.¹⁸⁹ Auffällig ist hierbei, dass Albert in De bono noch nicht der Auffassung ist, dass die spezielle Gerechtigkeit sich im Gegensatz zu den übrigen moralischen Tugenden nicht mit den Leidenschaften, sondern mit den Handlungen beschäftigt, was später eine Formel nicht nur bei Thomas von Aquin,¹⁹⁰ sondern auch bei Albert selbst werden wird.¹⁹¹ Vielmehr vertritt Albert in De bono die These, dass jenes ‚aliquid extra‘ als eine bestimmte Sache (genauer: ein Getanes – aliquid operatum) aufzufassen ist, die zur Sache eines anderen „gemäß mathematischer
Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . Cf. De bono [], – . Cf. SLE ., l. – ; Sth II – II q. a. c. Wenigstens teilweise scheint diese Auffassung durch Wilhelm von Auxerre vorbereitet worden zu sein, der in der Summa aurea herausstellt, dass die Gerechtigkeit allein auf das Handeln bezogen sei: „Dicimus ergo quod iusticia est in agendo tantum et est specialis virtus“ (l. tr. c.). Cf. SE .
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Proportionalität [secundum proportionem mathematicam]“ in ein Ausgleichsverhältnis gebracht werden muss. Handlungssubjekt dieser Gerechtigkeit ist erneut der Richter.¹⁹²
Fazit Die bisherigen Darlegungen haben ein weitreichendes Tableau diverser Strukturmomente ergeben, die das begriffliche Feld von (Natur‐)Recht, Gesetz und Gerechtigkeit in Alberts größtenteils vor seiner Rezeption von EN V entworfener De bono aufspannen. Dieses Tableau ist nun abschließend in Hinsicht auf seine wichtigsten systematischen und strukturellen Ergebnisse zusammenzufassen. Deutlich wurde zunächst die universalnormative Funktion des Naturrechts als einer Struktur von allgemeinsten, intuitiv einsichtigen Vernunftprinzipien, die in Gestalt des natürlichen Habitus der Synderesis gehabt wird und die als allgemeinster, weder von positiven Gesetzen noch anderweitigen unmittelbaren Handlungsprinzipien zu überschreitender Geltungsrahmen sittlichen Handelns anzusehen ist. Dabei ist, wie oben betont wurde, das Naturrecht jedoch nicht selbst unmittelbar Handlungsprinzip. Zumindest mit Blick auf die Gerechtigkeit fungieren hierfür vielmehr die positiven Rechte, da diese das Moment vernünftiger Allgemeinheit aus dem Naturrecht mit dem Moment historischer Partikularität vermitteln. Diese Vermittlungsstruktur hat auch Konsequenzen für die konkrete Gestalt der Prinzipienhaftigkeit des Naturrechts. So fungieren dessen Bestimmungen nicht ohne weiteres als Ausgangspunkt apodiktischer Schlussfolgerungen, die sodann ohne Zweifel zu entscheiden verspräche, was je im Einzelnen zu tun ist, sondern vielmehr als Rahmengefüge, innerhalb dessen konkrete Bestimmungen positiven Rechts politisch durch Plebiszit, Beratschlagung und Rat der Weisen, also durch die Zusammenführung verschiedener Ebenen von Empirie, Bedürfnis und Interesse zustande kommen. Diesen Charakter eines universalen sittlichen Rahmens, den menschliches Handeln nicht überschreiten darf,wird bei Thomas von Aquin das Naturgesetz (lex naturalis – anstelle des Naturrechts, ius naturale) innehaben. Zugleich aber haben die positiven Gesetze in Thomas’ Entwurf noch einen stärker pädagogischen bzw. sittlich-vervollkommnenden Fokus als bei Albert; überdies ist das Moment der Partikularität bei Thomas – wohl aufgrund der Rezeption der aristotelischen Handlungstheorie – noch stärker in die Einzelhandlung verlegt. Weiterhin wurde für Alberts Theorie in De bono gezeigt, dass neben dem epistemischen Status des Naturrechts als Struktur moralischer Vernunftprinzipien und dem ontologischen als natürlichem Habitus (Synderesis) der menschlichen Seele auch dessen metaphysische, genauer theologische Grundform herauszustellen ist. Dies hat wie gesehen zwei Dimensionen. Auf der einen Seite ist das Naturrecht zunächst als Vernunftrecht anzusprechen, das gleichsam in erster Instanz den Handelnden als solche unmittelbar angeht, sodass die theologische und metaphysische Grundlage des Naturrechts nicht unmittelbarer Aspekt von dessen moralischer Funktion ist; dass die
De bono [], – .
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Gottesverehrung selbst einer der Inhalte des Naturrechts ist, betrifft nur dessen handlungsleitenden Charakter, nicht aber die Frage nach dessen systematischer Begründung. Auf der anderen Seite zeigt eine weitergehende, diese moralische Funktion des Naturrechts nochmals in ihren Gründen thematisierende Betrachtung, dass dieses ihren letzten Grund und damit auch die letzte Bedingung von dessen universaler Verbindlichkeit für alle Vernunftwesen in Gott als Schöpfer aller kreatürlichen Ordnung hat. Man sieht hieran für Albert – wie dann auch für Thomas – die im zweiten Kapitel dargestellten Grundannahmen zum systematischen Status von Ethik, Offenbarungstheologie und philosophischer Theologie/Metaphysik bestätigt: Als intuitive Grundprinzipien sind die universalen naturrechtlichen Rahmen keiner metaphysischen Letztbegründung wie auch keiner Offenbarung bedürftig, um vom Handlungssubjekt erfasst und als verbindlich anerkannt zu werden. In diesem Sinne also kann eine relativ eigenständige Ethik entwickelt werden. Gleichzeitig aber ist es wie gesehen möglich, die Ethik und das Feld des sittlichen Lebens hin zu Gott als dem letzten Ursprung und zugleich dem letzten Ziel hin zu überschreiten, sei es in metaphysischer, sei es in offenbarungstheologischer Hinsicht. Dem entspricht auf der Ebene des Sittlichen und der Ethik, dass auch hier bereits ein natürlicher Bezug auf Gott als dem Erstrebten von Albert festgestellt wird. Über diese Zusammenhänge werden im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit noch weiterreichende Überlegungen angestellt werden. Das Gesetz hat gegenüber dem Recht wie gezeigt eher imperativen als indikativen Gehalt, stellt also den Anordnungs- bzw. Befehlsaspekt des Gebotenen und damit das Moment der Verbindlichkeit für den Handelnden heraus. Als zuständige Tugend kommt ihm die Gerechtigkeit zu. Obzwar Albert hierbei zu dieser Frage keine genaueren Ausführungen vornimmt, lässt sich mutmaßen, dass sich im Bereich des Naturgesetzes hierbei alle inhaltlichen Momente des Naturrechts, nur eben in imperativer Form, wiederfinden. Hier ist sodann gleichzeitig der Ort für die allgemeine Gerechtigkeit. Diese hat in De bono noch den Charakter einer umfassenden, das Ganze des Menschen betreffenden Haltung und Verortung im Gesamt der Schöpfung. Als ihr Rahmenwerk fungiert offenkundig das Naturgesetz in imperativer sowie das Naturrecht in indikativer Hinsicht. Wie oben gesehen und wieder besonders bei Thomas noch deutlicher auszuarbeiten, betrifft demgegenüber die aristotelische Gesetzesgerechtigkeit, ihrer Allgemeinheit unbeschadet, nicht mehr den ganzen Menschen und seine Ausrichtung insgesamt, sondern nur noch seine äußeren Handlungen, sofern diese aufs Gemeinwohl bezogen werden. Man kann daher sagen, dass die traditionelle allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) einen schöpfungskosmologisch und theologisch gegründeten und auch fokussierten Universalismus impliziert,wohingegen die Gesetzesgerechtigkeit eher eine ‚politische‘ Tugend zu nennen wäre. Dies wird sich auch schon in den Untersuchungen zu Alberts Kommentar zu EN Vdeutlicher herausstellen. Anders als die gnadenhafte allgemeine Gerechtigkeit ist die erworbene Gesetzesgerechtigkeit eine auf ein bestimmtes Seelenvermögen, nämlich Albert zufolge die Vernunft (ratio), verweisende Einzeltugend. Die Gerechtigkeit ist somit nicht nur vernunftkonform, sondern wesentlich vernünftig. Die Universalität oder Allgemeinheit, die diese Tugend beansprucht, ist eine geringere als die der iustitia generalis,
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richtet sich nach den positiven Gesetzen und hängt mithin in letzter Instanz wie diese vom Naturrecht bzw. vom Naturgesetz ab. Auch hierin antizipiert Albert Thomas. Andererseits aber hat sich auch immer wieder gezeigt, dass das Naturrecht bzw. Naturgesetz allein keinen handlungsrelevanten Sinn hat. Es wird somit deutlich, dass schon für Albert – wie dann auch für Thomas – die Frage nach dem konkreten Handeln nicht mit dem Verweis auf die naturrechtliche Norm allein zu beantworten ist.
4.3.2 Gerechtigkeit in Alberts erstem Kommentar zu EN V Der Kommentar Alberts zum fünften Buch der EN gliedert sich in 17 sich grob an die Kapiteleinteilung des kommentierten Textes anlehnende Lectiones; hierbei stellt Albert in der Regel eine kurze Einführung an den Beginn, der eine Anzahl von den betreffenden Abschnitt hinsichtlich diverser Streitfragen diskutierenden Disputationen folgt, wobei auch diese schematisch am Aufbau des Textes der EN-Passage orientiert sind. Am Schluss jeder Lectio steht sodann eine die Ergebnisse der Disputationen integrierende Paraphrase des betreffenden Textabschnitts der EN. Die wichtigsten dieser Lectiones werden im Weiteren dargestellt und interpretiert werden.
4.3.2.1 Allgemeiner Charakter der Gerechtigkeit Zu Beginn seiner Kommentierung betrachtet Albert ganz allgemein den Charakter der Gerechtigkeit als einer Tugend und daher als Gegenstand der Ethik sowie deren formale Unterschiedenheit von anderen Tugenden. 1. Zunächst untersucht Albert die Frage, ob es denn überhaupt zur Ethik gehöre, einen Gegenstand wie die Gerechtigkeit zu untersuchen. Da Albert dies bejahen möchte, bringt er das Argument,¹⁹³ dass von der Gerechtigkeit in zweifacher Weise gehandelt werden muss; einmal insofern, als sie darin besteht, jedem das ihm Zukommende zu erstatten, was durch das Recht (ius) bestimmt wird. Die so betrachtete Gerechtigkeit, so führt Albert weiter aus, sei nicht Gegenstand der Ethik als Wissenschaft von der Moral (scientia moralis), sondern der Wissenschaft von Gesetzgebung und bürgerlicher Gemeinschaft (scientia legispositiva et civilis), die somit von der Ethik im engeren Sinne abzugrenzen ist. Diese Wissenschaft betrachtet die Gerechtigkeit dahingehend, dass jemand auch ohne ohne die Aufstellung eines Gesetzes (lex) bzw. eines so verstandenen (positiven) Rechts (ius) wollen kann, jemandem das zu erstatten, was ihm zukommt. Grundlage hierfür ist der Wille bzw. eine Neigung (inclinare), die der Gerechtigkeit als Tugend, also als einem durch mehrere ähnliche Handlungen erzeugten Habitus entspringt. Mit dieser zweiten Perspektive auf Gerechtigkeit ist aufgrund dieser habituellen und voluntativen Innerlichkeit des Handlungsprinzips im Handelnden zugleich die Freiwilligkeit gerechten Handelns impli-
Cf. SE V lect. , [].
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ziert. Es wird deutlich, dass zumal unter aristotelischen Prämissen diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeit der Ethik als ‚Wissenschaft von der Moral (scientia moralis)‘ zuzurechnen ist. Überdies wird ersichtlich, dass Albert auch in seinem Ethikkommentar die iustinianische Formel, der zufolge Gerechtigkeit der „feste und dauerhafte Wille, jedem das Seine zu erstatten [constans et perpetua voluntas ius suum tribuens unicuique]“ sei,¹⁹⁴ beibehält und nunmehr mit den aristotelischen Vorgaben zu synthetisieren versucht. 2. Gegen andere Tugenden ist die Gerechtigkeit in verschiedenen Hinsichten abzugrenzen, weswegen ihr auch eine eigentümliche Behandlungsweise innerhalb des ethischen Diskurses eignet.¹⁹⁵ Denn zwar sind alle Tugenden dem Handelnden eigentümlich (propria) und gehören ihm daher als (charakterliche) Bestimmungen zu. Jedoch kann dies in unterschiedlicher Weise der Fall sein. Einmal nämlich kann die Tugend dem Handelnden eigentümlich sowohl in Hinsicht auf diesen selbst als ihren Inhaber als auch auf dasjenige sein, in Bezug worauf gehandelt wird, also in Hinsicht auf die Materie des Handelns (materia circa quam). So ist etwa bei der Mäßigung als einem „mit Willen und Wahl zum Werk sich neigenden Habitus“¹⁹⁶ sowohl diese Tugend selbst dem Handelnden eigentümlich als auch die Materie, auf die sie bezogen ist, sofern es sich hierbei nämlich um die dem Handelnden eingeborene Freude (delectatio innata) handelt. Ein andermal aber kann der Fall auftreten, dass zwar die Tugend dem Handelnden eigentümlich ist, die Handlungsmaterie jedoch nicht, sofern es sich hierbei nunmehr um etwas handelt, welches einem anderen übermittelt (communicare) wird, nämlich die „äußerlichen Güter, die in die bürgerlichen Interaktionen eingehen“.¹⁹⁷ Entsprechend lautet eine Grundunterscheidung zwischen der Gerechtigkeit und den meisten anderen Tugenden in anderer, bei Thomas dann immer wieder auftretender Formulierung dahingehend, dass die übrigen Tugenden auf die ‚Leidenschaften (passiones)‘ gerichtet sind, dagegen die Gerechtigkeit auf die äußeren Handlungen (operationes) bezogen ist,was Albert zugleich mit der aristotelischen Bestimmung verbindet, dass die Mitte der Gerechtigkeit keine ‚in Bezug auf uns (quoad nos)‘, sondern eine ‚in Bezug auf die Sache (quoad res)‘ sei.¹⁹⁸ Jedoch ist die Gerechtigkeit nicht die einzige Tugend, die nicht primär mit den Leidenschaften, sondern mit einem Übermitteln als Handlungsmaterie zu tun hat. So gibt es etwa die Tugend der Freigebigkeit (liberalitas), bei der die Dinge ähnlich liegen. Um hier schärfer zu trennen, nimmt Albert eine erneute Unterscheidung vor. Erstens nämlich kann der Grund der Übermittlung (ratio communicationis) allein im Handelnden selbst liegen, wie dies bei der eben genannten Freigebigkeit der Fall ist, da hier auf der Seite dessen, dem gegeben wird, keine reale Grundlage (ratio) des Gegebenwerdens in Gestalt eines Geschuldeten (debitum) vorhanden ist, aufgrund dessen als einem objektiven Grund gegeben wird. Zweitens aber kann dieser Grund in beiden
Inst. l. , tr. , pr. Cf. SE V lect. , – []. SE V lect. , [], – : „habitus inclinans ad opus cum voluntate et electione.“ SE V lect. , [], – : „exteriora quae veniunt in communicationes civiles.“ Cf. SE V lect. , [], – .
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liegen, also dem Gebenden und dem, dem gegeben wird, und dies ist der Fall bei der Gerechtigkeit. Konkretisiert wird diese Distinktion zwischen dem Übermittlungsgrund und der Determinante dieser Übermittlung, die in dem Geschuldeten (debitum) als dem, was erstattet werden soll, besteht, dadurch, dass dieses Geschuldete wiederum seine Bestimmung durch das Gesetz (lex) erfährt. Bleibt hierbei zwar offen, um welche Art von Gesetz es sich handelt, so lautet dennoch in jedem Fall Alberts These, dass der Anspruch auf Erstattung real¹⁹⁹ in dem, dem erstattet wird (in illo cui datur), selbst liegt. Dieses Verhältnis von Gesetz und realem Grund in dem, dem gegeben wird (ratio in illo cui datur), wird nicht nur bei Albert, sondern auch unten bei Thomas von weiterer Bedeutung sein. Gerechtigkeit und Freigebigkeit sind also von den übrigen Tugenden dadurch unterschieden, dass beide im Gegensatz zu diesen eine Handlungsmaterie (materia circa quam) aufweisen, die nicht dem Handelnden selbst zugehört. Aufgrund dieser Bestimmungen im Gegensatz zu anderen Tugenden sind sie ‚gemeinsamer‘ oder ‚allgemeiner‘ (communior) bzw. weniger ‚eigentümlich‘. Jedoch unterscheidet sich die Gerechtigkeit von der Freigebigkeit nochmals darin, dass bei ihr auch der Grund des Handelns zu einem Teil außerhalb des Handelnden liegt, was bei der Freigebigkeit nicht der Fall ist. Alle Tugenden aber sind insofern eigentümlich (propriae), als sie einem Handelnden zukommen.²⁰⁰ 3. Auch Alberts Ausführungen zum spezifischen Charakter der ‚Mittehaftigkeit‘ der speziellen Gerechtigkeit grenzen diese noch stärker von den übrigen Tugenden ab. Die Ausgangsfrage lautet, ob es sinnvoll sei zu sagen, die Gerechtigkeit sei oder habe keine Mitte (medietas) wie die anderen Tugenden, sondern sei eine Mitte, weil sie sich auf Mitte beziehe (medii), wohingegen die Ungerechtigkeit auf die Extreme gehe.²⁰¹ Albert erläutert diese Problematik, der referierten These des Aristoteles zustimmend, dahingehend, dass in den übrigen Tugenden die Mitte darin bestehe, zwischen zwei Schlechtigkeiten (malitia) als Extremen zu stehen, die mit dieser Mitte und miteinander dieselbe Artbestimmtheit teilen, nämlich moralische Habitus zu sein. Bei der der Gerechtigkeit entgegenstehenden Ungerechtigkeit verhält es sich nun so, dass sie in zweifacher Weise betrachtet werden kann, nämlich einmal in Hinsicht auf sich selbst (secundum se), wobei es dann zwei Extreme gibt, die als Ungerechtigkeit aufzufassen sind – das ‚Mehr‘ als Zuviel-haben-wollen nämlich als aktive, das ‚Weniger‘ als We-
‚Real‘ meint hier und im Weiteren, wie unten noch genauer anhand der Rekonstruktion des thomasischen Entwurfs ausgeführt werden wird, dass der Anspruch aufs Erstatten nicht bloß ‚objektiv‘ in einem kantischen Sinne besteht, also so, dass sich ein Handlungssubjekt auf der Grundlage seiner ihm wesentlichen normativen Handlungsprinzipien selbst dazu bestimmt, etwa einer Person das ihr Geschuldete zukommen zu lassen, sondern dass logisch vor und unabhängig von einer derartigen Selbstbestimmung des Subjekts dieser Anspruch schon in der Person oder einer Situation liegt, gleichgültig, ob das Handlungssubjekt ihn vermittels seiner ihm eingeborenen Handlungsprinzipien anerkennt und erfüllt oder nicht. Cf. SE V lect. , – [], – . Cf. SE V lect. , [], – .
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niger-bekommen dagegen als passive Ungerechtigkeit. Oder die Ungerechtigkeit kann betrachtet werden „im Vergleich zu ihrer Gattung“, das heißt der ‚Schlechtigkeit (malitia)‘ im Allgemeinen, und in diesem Fall kann nur davon gesprochen werden, dass in einem der Extreme das Laster zu verorten sei, nämlich auf der Seite des Unrechttuns, während das Unrechtleiden nicht als Laster aufzufassen ist, wohl aber als Übel (malum), nämlich das der Strafe oder Unbill (poena).²⁰² Mit Blick auf diese zweite Betrachtungsweise kann gesagt werden, dass die Gerechtigkeit bzw. deren Mitte nicht zwischen zwei Extremen angesiedelt ist, was bedeutet, dass die Gerechtigkeit „nicht in substantieller Weise eine Mitte genannt wird“.²⁰³ ‚Auf die Mitte bezogen (medii)‘ jedoch wird sie genannt, weil sie mit Blick auf die Ungerechtigkeit im ersten Sinne „auf etwas hin ausrichtet, was eine Mitte zwischen einem Mehr und einem Weniger ist.“²⁰⁴ Die Gerechtigkeit hat die Perspektive auf eine Mitte somit nicht inne zwischen zwei Lastern, also Habitus, die zu jeweiligem Schlechttun instigieren, sondern zwischen zwei Übeln bzw. einem Laster und einem Erleiden.
4.3.2.2 Definitionsversuche der Gerechtigkeit 1. Hinsichtlich der Frage nach einer sachgerechten Definition der Gerechtigkeit ist Albert der Auffassung, dass sich in Ciceros De inventione „beste von allen“ finde.²⁰⁵ Cicero definiert die Gerechtigkeit als „jedem die ihm zukommende Ehre zuweisenden Habitus der Geistseele zur Wahrung der gemeinschaftlichen Wohlfahrt“.²⁰⁶ An dieser Definition hebt Albert hervor, dass in ihr alle Momente enthalten sind, die eine gute Definition auszeichnen. So wird mit dem Ausdruck ‚Habitus‘ das Genus der Gerechtigkeit angezeigt; dagegen bezeichnet der Begriff ‚Geistseele (animus)‘ das Subjekt dieser Tugend.²⁰⁷ Das Moment der ‚Wahrung der gemeinschaftlichen Wohlfahrt‘ gibt die ‚Materie mit dem Ziel (materia cum fine)‘ an, nämlich das ‚fremde Wohl (bonum alienum)‘, auf das die spezielle Gerechtigkeit geht. Mit dem ‚Zuweisen des dem Jeweiligen Zukommenden‘ wird der eigentümliche Akt bzw. die eigentümliche Handlung (proprius actus) der Gerechtigkeit bezeichnet, mit der ‚Ehre (dignitas)‘ selbst schließlich, sofern man dies als Geschuldetes betrachtet, die Regel (ratio) dieses Aktes. Wie Albert hierbei erneut wie schon in De bono betont, ist es durchaus nicht der eigentümliche Akt der Gesetzesgerechtigkeit, jedem das Seine nach Schuldigkeit des Rechts (ius) zu erstatten (reddere quod suum est per debitum
Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], – : „iustitia non dicitur substantialiter medium.“ SE V lect. , [], – .: „quia dirigit ad aliquid quod est medium inter plus et minus, ideo dicitur ‚medii‘ quasi factiva.“ SE V lect. , [], – : „prima diffinitio Tullii data est de iustitia, quae est specialis virtus, secundum quod consideratur in communi, et est optima inter alias, quia plura comprehendit.“ SE V lect. , [], – : „habitus animi communi utilitate servata suam cuique tribuens dignitatem.“ Cf. De inv. l. c. n. . Auf diese Definition ist bereits oben zu Beginn dieses vierten Kapitels hingewiesen worden. Somit auch hier nicht der Wille als einzelnes Seelenvermögen, sondern die Geistseele als ganze.
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iuris), sondern allein der speziellen Gerechtigkeit; der Gesetzesgerechtigkeit hingegen kommt es zu, „in schicklicher Weise gemäß aller Tugenden und gemäß der Angeglichenheit ans Gesetz zu handeln“.²⁰⁸ Diese Unterscheidung erweckt zumal durch die unterschiedliche Regel (ratio), denen die beiden Gerechtigkeitsarten obliegen, nämlich das Gesetz (lex) im Falle der Gesetzesgerechtigkeit und das Recht (ius) im Falle der speziellen Gerechtigkeit, den Eindruck, als ob die Gesetzesgerechtigkeit eher durch das positive Gesetz, dagegen die spezielle Gerechtigkeit eher durch das Naturrecht bestimmt wäre. Jedoch ist diese Verwendung unterschiedlicher Begriffe, berücksichtigt man die obigen Darlegungen zu Alberts De bono, wohl eher so aufzufassen, dass mit Blick auf die spezielle Gerechtigkeit der Aspekt des Erstattens eines objektiv Geschuldeten im Vordergrund steht, wohingegen die Gesetzeskonformität des Handelns bei der Gesetzesgerechtigkeit berücksichtigt wird. Ganz klar jedoch ist es nicht, ob Albert hier in der Tat auf die Distinktion zwischen ius und lex, die er in De bono umrissen hatte, abzielt. 2. Aristoteles’ Auffassung der Gerechtigkeit versucht Albert mit einer (leicht umgedeuteten) zweiten Definition der Gerechtigkeit von Cicero aus De officiis zu synthetisieren. Die Definition lautet: „Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, die sich auf die gemeinsame menschliche Gemeinschaft bezieht, indem sie jedem erstattet, was ihm zukommt, oder auf die Gewissenhaftigkeit mit den in Verkehr gebrachten Dingen“.²⁰⁹ In Alberts Auffassung bestimmt diese Definition ebenjene spezielle Gerechtigkeit, die laut Aristoteles in zwei unterschiedlichen Arten auftritt,²¹⁰ und zwar so, dass der erste Teil die distributive, der zweite hingegen die kommutative Gerechtigkeit meint. Hierbei macht Albert zunächst deutlich, dass er die kommutative Gerechtigkeit wesentlich als vertraglich geregelt betrachtet.²¹¹ Weiterhin stellt er klar, dass von ‚Verträgen (contractus)‘ hier in einem weiten Sinne die Rede sei, nämlich so, dass hierunter im vorliegenden Kontext „jede Form von Verkehr [pro omni communicatione]“ gemeint sei, wodurch „jemand Schuldner eines anderen [qua aliquis debitor efficitus alteri]“ wird, sodass auf diese Weise „auch in Diebstahl und Vergewaltigung eine gewisse Form von ‚Vertrag‘ liegt und nicht bloß in den willentlichen Formen des Verkehrs, woher dieser Begriff im eigentlichen Sinne genommen wird“.²¹² 3. Aber auch eine andere, dieses Mal ganz auf Aristoteles zurückgehende Definition der Gerechtigkeit wird von Albert als ‚optimal (optima)‘ bezeichnet: „Gerechtigkeit ist ein Habitus, dem gemäß der Handelnde gerecht genannt wird, indem er das SE V lect. , – [], – : „decenter operari secundum omnes virtutes secundum conformitatem ad legem.“ SE V lect. , [], – : „Iustitia est virtus, quae ‚versatur in communi hominum societate tribuendo unicuique, quod suum est, aut in rerum communicatarum fide‘.“ – Tatsächlich lautet die Definition bei Cicero: „[…] versatur […] in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide.“ De off. l. c. . n. . Cf. SE V lect. , [], ad , – . Damit holt er gewissermaßen die ‚res contracta‘ nach, die er in der Wiedergabe der ciceronischen Definition durch die ‚res communicata‘ ersetzt hatte. SE V lect. , [], ad , – : „sic etiam in furtis at rapinis est quidam contractus et non tantum in communcationibus voluntariis, secundum quod proprie sumitur contractus.“
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Gerechte wählt, und zwar sowohl in Hinsicht auf sein Verhältnis zu anderen als auch in Hinsicht auf deren Verhältnis zueinander.“²¹³ Optimal sei diese Begriffsbestimmung, weil sie erneut all das umfasse, was die Gerechtigkeit ausmacht: Die Gattung wird als ‚Habitus‘ bestimmt, der eigentümliche Akt in der Bestimmung angeführt, nämlich dass ‚gemäß der Gerechtigkeit gerecht genannt wird, wer nach Wahl ihm gemäß handelt‘, ebenso wird die ‚Materie‘, also der Gegenstandsbereich der Gerechtigkeit, als Feld der Distribution und Kommutation durch die Formulierung ‚das Gerechte wählend und zuteilend‘, und schließlich sogar die der Gerechtigkeit eigentümliche Ordnung bestimmt, nämlich nicht auf den Gerechten in sich selbst, sondern dessen Verhältnis zu anderen bezogen zu sein. Zentral und die eingangs besprochene Frage nach dem systematischen Status der Gerechtigkeitsdiskussion vertiefend ist vor diesem Hintergrund Alberts Feststellung, dass die Gerechtigkeit in dieser Definition, die sie als Habitus qualifiziert, im Bereich der Ethik verordnet werde, wohingegen die Bestimmung Ulpians – „Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren“²¹⁴ – nicht ethischer, sondern staatswissenschaftlicher Natur (civilis) sei.²¹⁵ Im ad 7 führt Albert hierzu genauer aus, dass diese Zuordnung der genannten Definition dadurch zustande komme, dass hier mehr der Bezug der Gerechtigkeit zum Recht, von dem sie ausgeht, als – wie in der Bestimmung des Aristoteles – zur Handlung bzw. zum Werk im Betracht stehe. Trotz dieser Verortung im Bereich zivilrechtlicher wissenschaftlicher Untersuchung kann Albert in Ulpians Definition auch theologische Bezüge erkennen. So komme die Bestimmung ‚dauerhaft (perpetua)‘ dem Moment des Willens in Hinsicht auf das göttliche Recht, die Bestimmung ‚unwandelbar (constans)‘ dagegen hinsichtlich des menschlichen Rechts zu. Auffällig ist hierbei auch die Funktion eines Paradigmas, welche Albert dem göttlichen Recht in Hinsicht auf das menschliche zuspricht; so ist die ‚Festigkeit‘ des Willens eben das Abbild des ‚Sichdurchhaltens‘ des göttlichen Rechts, das sich im Willen exemplarisch ausdrückt.²¹⁶
4.3.2.3 Modi der Gerechtigkeit In einem zweiten Schritt betrachtet Albert die drei Weisen, in denen Aristoteles zu Beginn seiner Untersuchungen zur Gerechtigkeit vom Gerechten spricht. Im Zuge dessen versucht Albert auch, diese drei Weisen oder Modi auf eine Hauptform zu zurückzuführen (reductio), die er in der Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) sieht. 1. Die drei Modi der Gerechtigkeit, die Albert diskutiert, gehen von Aristoteles’ Analyse des Ungerechten aus. In EN V 1 hatte Aristoteles wie oben gesehen als Un-
SE l. V lect. , [], – : „iustitia est habitus, secundum quem iustus dicitur operativus secundum electionem iusti et distributivus et ipsi ad alium et alteri ad alterum.“ Inst. l. tr. prooem.: „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens.“ Cf. SE V lect. , [], ad , – . Cf. SE V lect. , [], ad , – . – Im ad (SE V lect. , [], – ) verwendet Albert in diesem Zusammenhang daher auch den Ausdruck ‚imago‘.
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gerechte den Gesetzesübertreter, den Habsüchtigen und den Feind der Gleichheit genannt und hierbei letztere auf den einheitlichen Typ des ‚Ungleichen‘ zurückgeführt (‚reduziert‘), wodurch sich umgekehrt zwei Hauptarten von Gerechtigkeit ergaben, nämlich die Gesetzesgerechtigkeit und die partikuläre Gerechtigkeit. Albert fasst Aristoteles’ Ausführungen hingegen nicht nur so auf, dass in EN V eine Reduktion auf eine paradigmatische Form der Gerechtigkeit vollzogen werde, sondern stellt zudem sowohl diese Reduktionsbewegung als auch die innere Differenzierung hin zu den genannten Modi als sich aus dem Begriff der Gerechtigkeit mit Notwendigkeit ergebende Struktur dar. Die Differenz entspringt für Albert aus folgender Betrachtung: Bestimmt man die Gerechtigkeit im Rückgriff auf Aristoteles als „Rechtheit hinsichtlich der Gleichheit, die im Bereich von Verlust und Gewinn“²¹⁷ zu beobachten ist, so kann diese Rechtheit in zweifacher Weise aufgefasst werden: einmal nämlich in Hinsicht auf ihre Bestimmtheit durch die Handlungsmaterie (materia circa quam), das heißt die äußeren Güter, in Bezug auf die von Gewinn oder Verlust gesprochen werden kann, ein andermal in abstrakter, das heißt von eben dieser materialen Bestimmtheit abstrahierender Weise. Im ersten Fall handelt es sich um die Rechtheit der Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne und damit um den ersten Modus, dem die Habsucht (avaritia) entgegengesetzt ist, im zweiten dagegen ist erneut eine Zweiteilung vorzunehmen. Entweder nämlich wird die abstrakt betrachtete Essenz der Rechtheit in Hinsicht auf sich selbst untersucht. Da diese in der Gleichheit (aequalitas) besteht, tritt hiermit der genannte zweite Gerechtigkeitsmodus in den Blick, aufgrund dessen der ‚Gleiche (aequalis)‘ als derjenige, der die Gleichheit wahrt, gerecht und der Ungleiche ungerecht genannt wird. Oder aber diese Rechtheit wird lediglich in ihrem Bezug auf ein anderes (respectum ad aliud) betrachtet, womit Albert meint: Rechtheit, sofern ‚regulierend‘ bzw. lenkend (regulans). Da nun dies ‚Regulieren‘ dem Gesetz (lex) zukommt, ist der dritte Modus der Gerechtigkeit die Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis). Diese Reduktion, so stellt Albert hierbei in seiner Antwort auf den ersten Einwand dar, ist nicht eine solche, in der Arten auf ihre Gattung zurückgeführt werden, sondern eine „Reduktion gemäß der Weise der Gerechtigkeit oder der Rechtheit [reductio secundum modum iustitiae vel rectitudinis]“, wobei die reduktiblen Hinsichten „eigen und gemeinsam und bestimmt und abstrakt [proprium et commune et determinatum et abstractum]“ darstellen.²¹⁸ Wie sich im folgenden Absatz klarer zeigen wird, stellen die Aspekte ‚proprium‘ und ‚commune‘ dabei Modi des Moments ‚determinatum‘ dar, also der Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne als durch ihre Handlungsmaterie (materia circa quam) bestimmter. Eine Variante dieser Reduktionsstruktur ergibt sich aus Alberts Erwiderung auf den fünften Einwand der vorliegenden Frage. Dort hatte es geheißen, dass es nur zwei Modi der Gerechtigkeit geben könne, weil es in dieser Tugend wie in allen anderen nur
SE V lect. , [], – : „iustitia […] [est] rectitudo quaedam quoad aequalitatem, quae attenditur in damnis et lucris.“ SE V lect. , [], – .
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zwei essentielle Momente gebe, nämlich Mitte und Ziel. Albert reagiert hierauf mit dem Hinweis, dass drittens die Handlungsmaterie (materia circa quam) hinzuzuzählen sei, die durch das Ziel des Willens hervorgebracht werde und daher auf gewisse Weise Formalprinzip im Bereich der Sitten ist. Entsprechend wird gemäß Materie, Form und Ziel eine dreifache Gerechtigkeit konstituiert: gemäß der Bestimmung der Materie nämlich jene der Habgier entgegengesetztes Gerechtigkeit, gemäß der Mitte, die als Form und Essenz der Tugend fungiert, die Gerechtigkeit als Gleichheit, und schließlich gemäß dem Ziel die Gesetzesgerechtigkeit, da das Gesetzmäßige, wie Aristoteles festhält, das Glück erzeugt und bewahrt.²¹⁹ 2. Wie erwähnt, spielt sich diese Vielfältigkeit (multiplicitas) der Gerechtigkeitsmodi vor allem innerhalb des Verhältnisses von Eigenem und Gemeinsamem (proprium et commune) ab. Albert führt hierzu aus,²²⁰ dass beide Momente hier insofern von Bedeutung sind, als einerseits das vermittelbare Gut (communicabile), um das es der Gerechtigkeit geht, sich in jemandes Besitz befindet oder durch das Recht in jemandes Besitz (possessio) übergehen kann und damit dessen Eigentum (proprium) darstellt, andererseits als vermittelbares durch die Gerechtigkeit in einen Bezug zur auf jener Vermittelbarkeit, nämlich den gemeinsamen Gebrauch dieser Güter, basierenden Gemeinschaft (communitas) gesetzt wird. Der eigentliche Grund für diese Vermittlungsstruktur liegt hierbei für Albert wie für Aristoteles in der wesentlichen Insuffizienz des Einzelnen, für alle seine Belange allein aufkommen zu können. Die Basis dieser Gemeinsamkeit bzw. Allgemeinheit bildet somit die Notwendigkeit für den Einzelnen, das Seine (proprium) zum Zweck der Akquise dessen, wessen er darüber hinaus bedarf, das sich jedoch nicht in seinem, sondern im Besitz (als proprium) eines anderen findet, zu tauschen (commutare). Hieran zeigt sich, dass für Albert in SE im Gefüge der partikulären als eigentlicher Gerechtigkeit das eigene Wohl des gerecht Handelnden offenkundig keineswegs völlig außen vor bleibt, sondern in den Bezug aufs fremde Wohl (bonum alienum) eingeschlossen ist.²²¹ Der auf diese Weise gegründete Austausch von Eigentum im Allgemeinen der Gemeinschaft, so führt Albert weiter aus, bedarf einer Regel (ratio), welche als das die Gleichheit bestimmendes Recht (ius determinans aequalitatem) die Austauschs- und Verteilungsbewegungen (communicationes et distributiones) regelt. In der Antwort auf den vierten Einwand benennt er dieses Recht auch als Gesetz (lex) und stellt klar, dass hierunter nicht eine allgemeine Rechtheit (rectitudo communis) in dem Sinne, dass sie die Mitten aller anderen Tugenden bestimmte, sondern vielmehr die spezielle Rechtheit der Gerechtigkeit zu verstehen ist. Dies hindert indes nicht, dass diese spezielle Rechtheit eine gewisse Kommunität aufweist, da nämlich das Gesetz als Regel der übrigen Tugenden fungiert; nicht aber ist diese Kommunität eine den übrigen Tugenden essentielle, sondern eine ihnen nur insofern zukommende, als sie als gesetzliche betrachtet werden. Denn
Cf. SE V lect. , [], – Cf. SE V lect. , [], – . Bonnie Kent hat diesen Aspekt bei Gottfried von Fontaines hervorgehoben. Cf. Kent (, ).
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Albert macht klar: Auch wenn es kein Gesetz gäbe, hätte jede Tugend ihre ihr essentiell zukommende und ihr Sein bestimmende Rechtheit. 3. Scheinen die bisherigen Ausführungen eine gewisse Priorität der speziellen Gerechtigkeit nahezulegen, sofern diese als eigentliche und inhaltlich konkrete, die Gesetzesgerechtigkeit dagegen bloß als abstrakte bestimmt worden ist, so ändert sich dieses Bild alsbald. So führt Albert in der fünften Frage der zweiten Lectio eine erneute Reduktionsbewegung der verschiedenen Gerechtigkeitsmodi vor, die er als eine Abstraktionsbewegung vorgestellt, die bei der speziellen, hinsichtlich der Materie determinierten Gerechtigkeit über die Gerechtigkeit der Gleichheit (aequalitas) zur Allgemeinheit der abstrakten Gesetzesgerechtigkeit verläuft. Letzterer dagegen kommt nunmehr sowohl die eigentlich regulierende Funktion insofern zu, als ihr auch der grundlegende Bezug auf das höhere (divinius) Ziel entspricht.²²² Ausdrücklich unterstreicht Albert hierbei den nicht-formalen im Sinne des nicht-essentiellen Charakters der in der Reduktion erreichten Gesetzesgerechtigkeit in Hinsicht auf das auf sie Reduzierte. Die Gesetzesgerechtigkeit ist somit in Hinsicht auf die anderen, ihr letztlich zugrunde liegenden Gerechtigkeitstypen zu bestimmen als „ein Eines, das regulierend wirkt [unum regulans],“ nach Maßgabe des Gesetzes dagegen als „Eines gemäß dem gemeinsamen Sein [unum secundum esse commune]“, nicht aber, wie der erste Einwand will, „einem Prinzip nach [uno principio]“ im essentiell-prinzipiierenden Sinne.²²³ Ist jedoch die dargestellte Reduktion dementsprechend eine ‚Reduktion auf ein Akzidens (reductio ad accidens)‘, so bedeutet dies jedoch in Alberts Augen nicht, dass deshalb die Reduktion auf die Gesetzesgerechtigkeit bzw. das Gesetz nicht etwas enthüllt, was „immer ist [semper est]“.²²⁴ Denn auch wenn das Gesetz nicht positiv gesetzt würde, könnte es doch gesetzt werden, sofern es im menschlichen oder göttlichen Geist (mens humana vel divina) gleichsam ‚immer‘ präexistiert. Dies deutet an, dass die Gesetzesgerechtigkeit auch einen Bezug auf das göttliche und natürliche, mithin nicht lediglich das positive Gesetz aufweist. Hierzu wird weiter unten noch mehr zu sagen sein.
4.3.2.4 Gesetzesgerechtigkeit 1. Am Beginn von Alberts Untersuchung der Gesetzesgerechtigkeit steht das Problem, ob es sich bei der Gesetzesgerechtigkeit um eine spezielle Tugend handelt.²²⁵ Diese Frage ergibt sich für Albert in ähnlicher Weise wie oben für Philipp daraus, dass die Gesetzesgerechtigkeit alle anderen Tugenden in gewisser Weise ‚umfassen (circuire)‘ soll. In seiner Lösung dieses Problems argumentiert Albert unter erneuter Perspektive auch auf die spezielle Gerechtigkeit wie folgt: In einer Tugend können entweder die Handlungs Cf. SE V lect. , [], – . Hierbei wird auch deutlich, dass für Albert die Gerechtigkeit nicht bloß in einem Subsumieren des Eigenen unter das Allgemeine besteht. SE V lect. , [], ad , – . SE V lect. , [], ad , – . Cf. SE V lect. , – [ – ].
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materie bzw. der Handlungsgegenstand (materia circa quam) als Gegenstandsbereich oder die Form bzw. Regel der Handlung (forma vel ratio secundum quam) als wesenhafte Bestimmtheit des Handelns in Betracht gezogen werden. Im Fall der Gerechtigkeit besteht die Handlungsmaterie wie gesehen in demjenigen Gut, welches in die Austauschverhältnisse der Gemeinschaft eingeführt wird. Soll dieses Einführen von Gütern aber ein gerechtes sein, dann muss es,wie Albert nun hinzufügt, nach Maßgabe der geometrischen oder arithmetischen Proportion geschehen, und dies stellt die Form oder Regel (forma vel ratio) der Gerechtigkeit dar. Beide Momente bestimmen jene spezielle oder partikuläre Gerechtigkeit, der die Habgier entgegengesetzt wird; in ihr sind sowohl Materie als auch Form ihrerseits spezielle.²²⁶ Gleichzeitig aber kann der Gerechtigkeit genau aufgrund dieser Form auch ein allgemeiner Aspekt zukommen. Das hängt, wie Albert argumentiert, damit zusammen, dass die Gerechtigkeit als Vervollkommnung der Vernunftseele (ratio) aufzufassen und diese ihrerseits das universal alle anderen Vermögen Regierende (regens)²²⁷ ist. Daraus ergibt sich die bereits angesprochene Struktur, dass die Gerechtigkeit, ihrer speziellen Form unbeschadet, nicht bloß auf die Güter, die in den gesellschaftlichen Verteilungs- und Tauschverkehr eingehen, als bestimmte Materie beschränkt ist. Vielmehr kann sie auch in den Akten aller anderen Tugenden anpassend realisiert werden in Hinsicht darauf, dass sie [das heißt die Tugenden ihrerseits] auf die Gemeinschaft bezogen werden, wie etwa die Schlachtreihe nicht zu verlassen und dergleichen, was die Elemente der bürgerlichen Gemeinschaft [civilitas] ausmacht, und dann gibt es eine gewisse spezielle Form der Gerechtigkeit und eine allgemeine Materie.²²⁸
Man sieht, dass sich im Gang von Alberts Überlegung diese spezielle Form nunmehr gewandelt hat: Handelte es sich eben noch um das geometrische oder arithmetische Proportionalitätsverhältnis, so heißt es nun, die spezielle Form der Gerechtigkeit, aufgrund derer die Gesetzesgerechtigkeit eine eigenständige, spezielle Tugend ist, sei die „Konformität hin zum Gesetz [per conformitatem ad legem]“; ihren zugleich allgemeinen Charakter gewinne diese Tugend „aufgrund ihrer allgemeinen Materie“, die ihr die anderen Tugenden bereitstellen.²²⁹ Die Situation stellt sich somit wie folgt dar: Die spezielle Gerechtigkeit ist eine sowohl hinsichtlich der Materie als auch hinsichtlich der Form spezielle Tugend, Cf. SE V lect. , [], sol., – . Nicht aber, sofern sie das die übrigen Seelenkräfte bewegende Vermögen (motor) ist, denn dann ist die sie vervollkommnende Tugend die Klugheit (cf. SE V lect. , [], sol., – ). Bei Thomas wird sich dies anders verhalten, und diese Frage wird schließlich noch heftig zwischen Gottfried und Jakob diskutiert. SE V lect. , [], – : „haec forma poterit adaptari in omnibus actibus aliarum virtutum, secundum quod referuntur in communitatem, u non relinquere aciem et huiusmodi, quae sunt elementa civilitatis, et tunc erit quaedam specialis forma iustitiae et materia generalis.“ SE V lect. , [], – : „Et sic erit iustitia legalis per conformitatem ad legem specialis quaedam virtus propter formam iustitiae specialem, sed erit iustitia generalis propter materiam generalem.“
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sofern ihre Form ein bestimmtes Proportionsverhältnis darstellt, in das die in den gesellschaftlichen Verkehr tretenden Güter gesetzt werden. Dieses Proportionalitätsverhältnis aber ist offenkundig primär in den Gesetzen geregelt. Betrachtet man die Gerechtigkeit nun dahingehend, dass ihre spezielle Form nicht nur auf die Einzelgüter als ‚Materie‘, sondern auf jedwede Tugend angewandt werden kann, so erscheint sie als Tugend der Gesetzesgerechtigkeit mit nach wie vor spezieller Form und allgemeiner Materie. Aufgrund dieser Formbestimmtheit nun kann gesagt werden, die Gesetzesgerechtigkeit sei eine spezielle und gleichzeitig wegen ihrer allgemeinen ‚Materie‘ allgemeine Tugend. 2. Diese Beschreibungen führen jedoch unmittelbar das Problem des Verhältnisses der Gesetzesgerechtigkeit zu der oben betrachteten allgemeinen Gerechtigkeit (iustitia generalis) mit sich. Es scheint, so Albert, die Auffassung der ‚Alten (Antiqui)‘ gewesen zu sein, dass beide Arten der allgemeinen Gerechtigkeit identisch seien.²³⁰ Die ‚Modernen (Moderni)‘ hingegen, deren Meinung Albert teilt und zu denen er sich damit selbst zählt, vertreten eine ‚subtilere (subtilius)‘ Anschauung. Ihnen zufolge nämlich ist die Gesetzesgerechtigkeit so zu charakterisieren, dass sie den Handlungen des Menschen eine gemäß den oben genannten Proportionalitätsverhältnissen bemessene Rechtheit in Bezug auf den anderen verleiht, wobei diese wie gesehen die eigentümliche Form der Gerechtigkeit ist. Jedoch hatte Albert bereits darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass es die Aufgabe der Gesetzesgerechtigkeit ist, überhaupt und im Allgemeinen allen Tugenden ihre jeweiligen Mitten durch eine Bestimmung der Vernunft zuzuweisen. Sie hat lediglich die Funktion, die übrigen Tugendmitten gemäß der der Gesetzesgerechtigkeit eigentümlichen Mitte auszurichten. In diesem Sinne kann daher gesagt werden, dass die Allgemeinheit der Gesetzesgerechtigkeit gleichsam noch beschränkt ist. Dagegen eignet gerade der allgemeinen theologischen Gerechtigkeit, in der die niedrigeren Seelenvermögen des Menschen der Vernunft und diese wiederum Gott unterstellt werden, die umfassendere Allgemeinheit des Bestimmens aller Tugendmitten. Und aus diesem Grund bezieht sich die Rechtheit dieser Gerechtigkeit, wie Albert im Aufgriff der oben im ersten Abschnitt dargestellten Überlegungen aus De bono erläutert, auch nicht auf die menschlichen Handlungen, sondern setzt gleichsam grundlegender an dessen wesentlicher Verfassung (status) an. Der Maßstab ihrer Rechtheit ist auch nicht das Verhältnis geometrischer oder arithmetischer Proportionalität, sondern das ‚erste Vorbild (primum exemplar)‘ des ersten Menschen vor dem Sündenfall. Sie ist deshalb auch nicht als Habitus, sondern wie in De bono ausgeführt als ‚habitudo‘, also als Haltung zu bestimmen und nicht eigentlich eine Tugend, sondern als Rechtfertigung (iustificatio) „erster Effekt der Gnade [primus effectus gratiae]“.²³¹
Cf. SE V lect. , [], . Der Index fontium zur Stelle verweist auf Wilhelm von Auxerre und Alexander von Hales. Cf. SE V lect. , [], – .
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3. Jedoch bedeutet diese so vorgenommene Unterscheidung von Gesetzes- und allgemeiner Gerechtigkeit im theologischen Sinne für Albert offenkundig nicht, dass nunmehr die aristotelische These von der Vollkommenheit der Gesetzesgerechtigkeit zugunsten der theologischen allgemeinen Gerechtigkeit revidiert werden müsste. Vielmehr stellt Albert im Rückgriff auf den Bezug der Gesetzesgerechtigkeit auf das Wohl der Gemeinschaft (bonum communitatis) als Wohl des Volks oder der Bürgerschaft (bonum gentis vel civitatis) sicher, dass es sich bei ihr um die vollkommene Tugend handelt. Wie gesehen nämlich, ist dieses Gut „besser […] als das Gut des Einzelnen, weil es das größere Gut [maius bonum] ist, und göttlicher [divinius], weil es dauerhafter und allgemeiner und einfacher und deshalb gottähnlicher ist.“²³² Dies impliziert jedoch, dass in der Ausrichtung auf das Wohl der Gemeinschaft auch eine Vervollkommnung des Menschen enthalten ist – insofern nämlich, als er ein ‚bürgerliches (civilis)‘ Wesen ist –, die seine Vervollkommnung hinsichtlich seines Seins als partikuläres Wesen übersteigt.²³³
4.3.2.5 Spezielle Gerechtigkeit 1. Die bisherigen Beschreibungen, die eine gewisse Präponderanz der Gesetzesgerechtigkeit vor der speziellen nahelegen, hindern jedoch nicht, dass in SE wie in deren Vorlage der eingehenden Betrachtung der speziellen Gerechtigkeit der weitaus größere Umfang eingeräumt wird. Im Kontext der vorliegenden Studie ist sie jedoch von geringerer Bedeutung und soll deshalb hier nur kurz der Vollständigkeit halber besprochen werden. Dass es eine solche Gerechtigkeit überhaupt gibt, erweist Albert dabei recht rasch in direktem Rückgriff auf die Argumente des Aristoteles: Man kann erstens ungerecht im Sinne der Gesetzesgerechtigkeit handeln, ohne deswegen habgierig handeln zu müssen; somit gibt es eine Gerechtigkeit, die der speziellen Ungerechtigkeit der Habsucht entgegengesetzt ist. Zweitens kann nur das dem anderen geschuldet sein, was diesem übertragbar ist. Da letzteres nun nicht der Leidenschaft (passio) zukommen kann – die ja die Materie der anderen ethischen Tugenden ist –, die Gerechtigkeit aber eben jenes Geschuldete im Blick hat, ergibt sich, dass sie hinsichtlich ihrer Materie von den anderen Tugenden unterschieden sein muss. Drittens ist festzuhalten, dass in dem, was die Natur als Eigentümliches erzeugt, nichts Allgemeines ist. Da aber das, was eine bestimmte Materie betrifft, dieser Materie gemäß als Eigentümliches von der Natur hervorgebracht
SE V lect. , . [], – : „bonum communitatis, quod est bonum gentis vel civitatis, est melius quam bonum unius, secundum quod est maius bonum, et est divinius, secundum quod est magis perpetuum et communius et simplicius, unde deo similius.“ – SE V lect. , [], – , hält Albert hierzu weiterhin fest: „Diese Tugend wird ‚bezogen auf fremdes Gut‘ genannt, sofern sie den Menschen nicht nur in sich, sondern zum anderen hinordnet, je nachdem er sich zur bürgerlichen Gesellschaft verhält [Dicendum, quod virtus ista dicitur circa alienum bonum, inquantum ordinat hominem non solum in se, sed ad alium, prout se habet ad civilitatem].“ Cf. SE V lect. , – [], – . – Hierbei ist diese Art der Vervollkommnung in dem Sinne ebenfalls individuell, als sie ein einzelner Mensch vollzieht.
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wird, muss es in diesem Eigentümlichen keine allgemeine Form, sondern eine in Blick auf jene Materie hin bestimmte Form geben. „Weil also die Gerechtigkeit eine bestimmte Materie hat, auf die sie sich bezieht, wie im Text des Aristoteles bewiesen wird, ist es notwendig, dass diese Gerechtigkeit in Blick auf diese Materie bestimmt ist, wie dies bei jeder anderen Tugend der Fall ist.“²³⁴ 2. Die aristotelische Unterscheidung der partikulären Gerechtigkeit in eine distributive und eine kommutative versucht Albert direkt durch eine Widerlegung von gegen sie aufgestellten Einwänden, das heißt ohne eine eigenständige Responsio, zu beweisen.²³⁵ Der erste Einwand lautet, dass das der Würdigkeit gemäße Distribuieren von Gütern einem Zitat Ciceros zufolge der Gerechtigkeit im universalen Sinne zukommt und deshalb nicht als Definiens der distributiven Gerechtigkeit anzusetzen ist. Darauf erwidernd, verweist Albert zunächst auf die weitere Sprachverwendung Ciceros im entsprechenden Zitat und stellt sodann die These auf, dass Aristoteles mit Blick auf die distributive Gerechtigkeit einen engeren Wortsinn der Ausdrücke Würdigkeit (dignitas) und Distribution (distributio) verwendet. In Gestalt dieser Problematik steht entweder die Einheit der Gerechtigkeit oder die kanonische Vierzahl der Kardinaltugenden auf dem Spiel. Denn der prägnanteste Einwand gegen die Unterscheidung von distributiver und kommutativer Gerechtigkeit lautet, dass, wo zwei wesentliche Akte auftreten, auch zwei Tugenden vorhanden sein müssen.²³⁶ Entweder also ist die aristotelische Unterteilung unhaltbar, oder man muss statt von vier von fünf Kardinaltugenden sprechen, sofern dann jede der beiden Gerechtigkeitsarten eine eigene Kardinaltugend darstellte. Um dieser Konsequenz zu begegnen, argumentiert Albert für eine nicht arthafte Interpretation der Differenzierung von Gerechtigkeitstypen. Vielmehr handelt es sich im vorliegenden Fall um eine Unterscheidung von Modi, denn die Differenzierung liegt nicht in der Formbestimmtheit der durch sie erzeugten Handlungen, die bei beiden Gerechtigkeitstypen vielmehr gerade identisch ist – Hervorbringen von Gleichheit –, sondern nur in der Materie, also einmal der Zuteilung (Distribution), ein andermal dem Ausgleich im Verkehr (‚Kommutation‘) als Handlungsgegenständen.
4.3.2.6 Das Naturrecht Wichtiger als die spezielle Gerechtigkeit ist im Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung das Problem des Naturrechts, das als allgemeiner normativer Rahmen der Gesetzesgerechtigkeit fungieren zu können scheint. Deshalb sind Alberts Überle-
SE V lect. , [], – : „in eis quae natura fecit propria, nihil est commune; sed ea quae concernunt materiam, proferuntur a natura ut propria secundum materiam; ergo in eis non est forma communis, sed determinata ad materiam illam; cum igitur iustitia habeat determinatam materiam, quam concernit, ut probatur in littera, oportet, quod ipsa sit determinata ad illam materiam sicutr quaelibet alia virtus.“ Cf. SE V lect. , [], – . Cf. SE V lect. , [], obi. , – .
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gungen zu diesem bei Aristoteles selbst ja wie gesehen eher unterbelichtetem Stück von größtem Interesse und sollen deswegen eingehender interpretiert werden. 1. Zunächst untersucht Albert die Frage, ob die aristotelische Unterteilung des politischen Rechts (iustum politicum) in das gesetzliche und das natürliche Recht (ius legale et ius naturale) sachgemäß ist. Um dies zu bejahen, identifiziert Albert das politische mit dem schlechthinnigen Recht (iustum simpliciter), welches seinerseits das Recht im Sinne der beiden Arten der partikulären Gerechtigkeit beinhaltet, das heißt die die Verteilung und die Lenkung betreffenden Rechte (iustum distributivum – iustum directivum). Dieses schlechthinnige, entweder distributive oder lenkende Recht nun kann den Maßstab der durch es herzustellenden Gleichheit und seiner Gesetzesfähigkeit (aequitas et legitimitabilitas) entweder „aus seiner Substanz und Natur [ex sua substantia et natura]“ haben, in welchem Fall es zum natürlichen Recht (iustum naturale), oder aber „seine Kraft aus der Institution [habet virtutem ex institutione]“ gewinnen, weshalb es dann zum gesetzlichen Recht (iustum legale) gehört. Im Recht bzw. Gerechten des ersten Typs ist dann etwas verboten, weil es schlecht ist, im Recht bzw. Gerechten des zweiten hingegen ist etwas schlecht, weil es verboten ist.²³⁷ Die Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem (hier: ‚legalem‘ Recht)²³⁸ steht also quer zur Differenz von distributiver und direktiver Gerechtigkeit; beide Gerechtigkeitsarten können offenkundig ihren Maßstab bzw. ihre Regel durch positive oder naturrechtliche Hinsichten erhalten. 2. In seiner Betrachtung der aristotelischen Ausführungen zum Naturrecht als solchem diskutiert Albert größtenteils Schwierigkeiten und Probleme, die er bereits vor seiner Kenntnis von EN V an entsprechender Stelle in De bono abgehandelt hatte und die deshalb hier nicht wiederholt werden müssen.²³⁹ So sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass Albert zufolge das von Aristoteles besprochene Naturrecht von der dem Menschen spezifischen Vernunftnatur her benannt wird, sofern man diese nicht als seinsgebende Form, sondern als Prinzip des menschlichen Handelns als solchem betrachtet.²⁴⁰ Einige Nuancen jedoch kommen in Alberts Diskussionen der Einwände zum
Cf. SE V lect. , f. [], – . Im ad (SE V lect. , [], – ) stellt Albert hierzu klar, dass das Zivilrecht in der vorliegenden Distinktion nicht mit Blick auf diejenige Allgemeinheit betrachtet wird, die ihm dann zukommt, wenn man es als bezogen auf das moralisch oder sittlich Gute (honestum) auffasst, das eine Hinordnung zum Anderen involviert; in dieser Weise nämlich ist es allgemeiner als das politische Recht. Dagegen ist hier von Zivilrecht insofern als Teil des politischen Rechts die Rede, als damit der nicht-natürliche, sondern positive bzw. konventionelle Charakter desselben herausgehoben wird. – Das Problem, ob denn derartige Betrachtungen zum gesetzlichen oder positiven Recht überhaupt zum Bereich ethischer Reflexion gehören, erübrigt sich für Albert im ad (SE V lect. , [], – ) daraus, dass der Ethiker ja ebenso wie diese auch Naturprinzipien innerhalb seiner Wissenschaft betrachten kann, solange sie handlungsrelevant sind. Cf. zur weitestgehenden Übereinstimmung der Naturrechtsauffassungen Alberts in De bono und in SE auch Müller (, ). Damit verbinden sich die schon bekannten Bestimmungen, dass das Naturrecht wie ein Habitus der Prinzipien allgemein von allen gehabt werde (SE V lect. , [], – ), dass es nicht von
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Vorschein. So unterscheidet Albert mit dem Ziel, die Verbindung des natürlichen Bereichs mit dem des Moralischen zu erläutern, eine zweifache natürliche Gerechtigkeit (iustitia naturalis). Einerseits kann man von einer natürlichen Gerechtigkeit in den natürlichen Dingen sprechen, die die Rechtheit dieser in Hinsicht auf ihr Urbild darstellt und deshalb zur natürlichen und metaphysischen Reflexion gehört. Andererseits gibt es eine natürliche Gerechtigkeit, die aus der dem Menschen eigentümlichen Natur als ihrem Prinzip hervorgeht, sofern durch diese die menschlichen Handlungen bestimmt werden. Diese Gerechtigkeit ist in materialer Hinsicht moralisch und gehört zur Ethik und ist eben dasjenige, wovon in EN V die Rede ist.²⁴¹ Aufschlussreich ist diese Bemerkung deshalb, weil hier erneut die Unterscheidung zwischen einem natürlichen Recht, welches als subjektives Handlungsprinzip fungiert, und einem Naturrecht als eines objektiv bzw. ‚real‘ in den Dingen liegenden Anspruchs aufscheint, wobei letzteres nunmehr von Albert explizit in den Bereich der Metaphysik verlagert wird. Von dieser Zuordnung wird in den weiteren Rekonstruktionen und vor allem auch im Schlusskapitel zu dieser Arbeit noch die Rede sein. 3. Auch mit Rücksicht auf das Problem, wie das sowohl auf subjektiver als auch auf objektiver Seite höchst allgemeine Naturrecht spezifiziert werden kann und wie daher die Vielfalt tatsächlicher Rechtsauffassungen zu verstehen ist, äußert sich Albert in einer umfangreichen Solutio unter Rückgriff auf Strukturen aus De bono. So hebt er mit der Bestimmung des Naturrechts an, dasjenige zu sein, „was aus seiner Substanz heraus Kraft und Billigkeit hat, und dies sind diejenigen Bestimmungen, die in Hinsicht auf sich selbst mit der Vernunft übereinstimmen, sofern diese darüber Überlegungen anstellt, was in absoluter Weise das menschliche Gut hervorbringt oder bewahrt“.²⁴² Dieses Naturrecht nun wird durch die Gewohnheit und Anwendung des Gesetzes weiterbestimmt und spezifiziert, und diese Weiterbestimmungen haben dann nicht mehr jene ursprüngliche Rechtskraft wie diejenigen des ersten Naturrechts, mögen sie auch durchaus mit der Vernunft übereinstimmen. Es ist dieses zweite Naturrecht, von dem es – so Albert – bei Cicero heißt, es sei aus der Natur hervorgegangen. In Alberts Lektüre meint Aristoteles diese beiden Arten oder Auffassungsweisen von Naturrecht, wenn er in seiner Dichotomie ein nicht spezifiziertes Naturrecht gegen das gesetzliche oder positive Recht abgrenzt. Es ergibt sich somit mit Blick auf die Frage nach der Allgemeinheit des Rechts folgende Stufung: An der Spitze
der bloßen Meinung abhänge – für Albert eine Gelegenheit, Aristoteles’ Naturrechtsauffassung mit derjenigen Ciceros für identisch zu erklären (SE V lect. [], – ) –, dass es im strengen Sinne eigentlich bloß beim Menschen als Vernunftwesen vorkomme (SE V lect. , [], – ), dass es jedoch in Hinsicht darauf, dass beim Menschen auch ‚Akte der [mit anderen Lebewesen] gemeinsamen Natur‘ auftreten, auch auf Handlungen wie die der Fortpflanzung bezogen sein kann (SE V lect. , [], – ). Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , – [], – : „iustum naturale […] est illud quod ex substantia sua habet vigorem et aequitatem, et haec sunt illa quae secundum se sunt consentanea rationi, prout deliberat de his quae sunt absolute humani boni effectiva vel conservativa.“
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steht der höchst allgemeine (communissimus) Charakter desjenigen Naturrechts, welches sich in großer Nähe zur gemeinsamen menschlichen Natur befindet.²⁴³ Ist dagegen vom Naturrecht im zweiten Sinne die Rede, so ist dieses zwar immer noch allgemein, jedoch auch schon konkret bestimmt, weil ein Teil seiner verpflichtenden Kraft aus einem Gesetzesedikt entstammt. Die dritte Art des Rechts schließlich ist am meisten partikulär, da es seine Kraft nur aus dem Willen des es Einsetzenden gewinnt, mag es auch allgemein in Hinsicht auf alle Werke sein, die unter dessen Edikte fallen. 4. Mit Blick auf diese Struktur lässt sich die Frage nach der Abhängigkeit des positiven Rechts vom Naturrecht stellen. Insgesamt bleibt es für Albert natürlich auch hier dabei, dass jedes Recht, um ein solches zu sein, aus dem Naturrecht in irgendeiner Weise hervorgehen müsse. Es fragt sich jedoch, wie dieses Hervorgehen genauer zu verstehen ist. In der Untersuchung dieser Frage unterscheidet Albert daher verschiedene Weisen des Hervorgehens von etwas aus der Vernunft und aus der Natur. Hierbei bezieht sich Albert auf seine schon aus De bono bekannte Auffassung der Vernunft als Natur oder als Vernunft, die er hier wie folgt darstellt. Wird die Vernunft als Natur des Menschen betrachtet, so im vorliegenden Fall nicht insofern, als sie die seinsgebende Form des Menschen ist, da aus einer in dieser Weise aufgefassten Natur kein Recht hervorgeht. Vernunft als Natur des Menschen ist vielmehr rechtsgründend, sofern sie Prinzip derjenigen menschlichen Handlungen ist, die zum menschlichen Gut beitragen, indem sie den Mensch in Hinsicht auf sich selbst vervollkommnen. Mit Blick auf diese Auffassung der menschlichen Vernunft als menschlicher Natur kann dann Albert zufolge gesagt werden, dass von dieser als Natur des Menschen das Naturrecht sowohl im ersten Sinne, das heißt als natürlicher Habitus der praktischen Prinzipien, wie auch das Naturrecht im zweiten Sinne hervorgeht, das nach Cicero durch „Anwendung der Gewohnheit wie durch die Sanktion göttlichen und menschlichen Gesetzes“²⁴⁴ entsteht. Einige Handlungen des Menschen jedoch betreffen nicht primär die Hinsicht auf diesen jeweils selbst, sondern seine ‚bürgerliche (civilis)‘ Existenz, das heißt sein Handeln in Hinordnung zum anderen, und hierbei kann es vorkommen, dass die entsprechenden Handlungen nicht nur dem Handelnden nicht zuträglich sind, sondern ihm sogar schaden. Als Beispiel wählt Albert den Fall einer Tötung aus Notwehr, wobei das Töten auch für den in Notwehr Handelnden eine schlechte Handlung darstellt, auch wenn sie ihm insofern nützt, als sie sein Leben rettet. Auch dieses Feld bedarf einer Regelung durch Vernunft, die in so einem Fall das weniger Schlechte zur Verhinderung größeren Übels wählt. Ein solches Regeln gehört nun Albert zufolge zur Vernunft, nicht sofern sie Natur, sondern sofern sie Vernunft ist, was mit der Bestimmung aus Aristoteles’ Ausführungen aus Met. IX 2 1046a36-b7 heißt, dass sie sich zu Gegensätzen verhalten kann, und das Resultat derartigen Regelns ist das bloß aus
Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], – : „per approbationem consuetudinis et sanctionem legis divinae vel humanae.“
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dem Gesetz heraus seine Kraft habende Recht. Hierzu gehört für Albert übrigens auch die Einführung des Privateigentums zur Verhinderung von Blutbad und Unrecht, das seiner Auffassung nach aus gemeinsamem Besitz resultiert.²⁴⁵ Man sieht, dass diese Überlegungen zu etwas anderen Strukturen führen als die Bestimmungen der Naturrechtsmodi, die Albert in De bono vorgenommen hatte. Dort war der Aspekt der Schädigung und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer einschränkenden Kontrolle der Individuen einer Gemeinschaft noch stark vor den eher positiven Aspekten der Nützlichkeit und des Strebens nach Vervollkommnung in den Hintergrund getreten. Das positive, in den Gesetzen niedergeschriebene Recht erscheint nunmehr stärker in seiner politisch-ordinativen als in seiner moralisch-vervollkommnenden Dimension. Dies führt zugleich dazu, dass dem positiven Recht eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem natürlichen eingeräumt wird, die sogar eine Einschränkung von letzterem involvieren kann, wie aus dem Folgenden klar werden wird. 5. Die genannte stärkere Rolle, die dem positiven Recht gegenüber dem natürlichen zukommt, wird anhand einer Überlegung erkennbar, die Albert in Verbindung mit der Frage anstellt, ob es überhaupt ein Naturrecht gebe, wenn man doch die allgemeine Wandelbarkeit des Rechts zugestehen müsse,wogegen das Moment der Natur doch gerade Wandel auszuschließen scheint. Zunächst lässt Albert keinen Zweifel daran, dass das Leugnen der Existenz eines Naturrechts auf einer (Selbst‐)Täuschung beruht. Es entspringe nämlich lediglich der Unfähigkeit des Leugners, zwischen den natürlichen Prinzipien (naturalia) und deren Gebrauch (usus) zu unterscheiden. In Wahrheit nämlich verhält es sich so, dass die natürlichen Prinzipien in essentieller Hinsicht sich niemals verändern, wohl aber deren Gebrauch; denn manchmal wird das unterlassen, was der Natur gemäß recht ist, und es ist nötig das zu tun, was einer schwachen Natur entspricht. Das wird etwa anhand der Medizin klar, die manchmal dem Schwachen ein Zuviel an Kälte wegen eines Zuviel an Wärme verabreicht, was in schlechthinniger Hinsicht nicht gesund ist. Daher ist es notwendig, dass die natürlichen Prinzipien aufgrund verschiedener Akzidenzien manchmal verändert werden müssen, auf dass größeres Übel vermieden werde.²⁴⁶
Zwar also wird das positive Recht unter dem Topos des Gebrauchs oder der Anwendung (usus) naturrechtlicher Prinzipien unter den Vorzeichen einer schwachen Natur (natura infirma) verhandelt, so wird dieser schwachen Natur dennoch eine so große Rolle zugesprochen, dass sogar vom Naturrecht im eigentlichen Sinne bisweilen dispensiert werden muss, wenn die Situation es erfordert. Die hierin lauernde Gefahr einer allgemeinen Dispensabilität vom Naturrecht, was wohl dessen Anspruch auf universale Gel-
Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], – : „Verum est enim, quod naturalia quantum ad essentialia numquam variantur, sed usus eorum variatur, quia aliquando relinquitur id quod est secundum naturam rectam, et expedit facere id quod est secundum naturam infirmam, ut patet in medicina, quae aiquando dat infirmis secundum excessum caloris excedentia in frigiditate, quae simpliciter non sana sunt. Ita etiam oportet aliquando mutari ipsa naturalia propter diversa accidentia, ut evitetur maius malum.“
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tung letztlich zugunsten einer allgemeinen Kasuistik nivellieren würde, versucht Albert erneut mit einer Unterscheidung zu entgehen, nämlich der zwischen einem Naturrecht, das in absoluter Hinsicht sich auf die Natur bezieht und aus dieser allein, mithin aus keinerlei Setzung, seine verbindliche Kraft hat, und einem Naturrecht,welches sich auf die Natur „mit einer gewissen Disposition [cum aliquia dispositione]“ bezieht, worunter durchaus widersprüchliche (contraria) Veranlagungen verschiedener Menschen zu verstehen sind, denen gemäß in verschiedenen Weisen die naturrechtlichen Prinzipien im ersten Sinne zu speziellen Vorschriften modifiziert werden müssen.²⁴⁷ Das erstgenannte Naturrecht, zu dem Albert die auch bei Thomas wieder auftauchenden sogenannten ‚dignitates in moribus‘, das heißt die allgemein bekannten inhaltlichen Prinzipien²⁴⁸ rechnet, „wie etwa dass niemandem Unrecht zu tun sei, dass Gott zu ehren sei und dergleichen“, ist völlig indispensabel, „weil diese höchsten Prinzipien zur Wahrheit des Lebens gehören und für keinerlei Verführung oder Schaden aufgegeben werden dürfen.“²⁴⁹ Dagegen gehören zum Naturrecht im zweiten Sinne Vorschriften wie die, dass „Eine zu Einem²⁵⁰ gehöre oder dass eine bestimmte Ehre den Eltern zu erweisen sei“; dies bleibt zwar seiner Substanz nach immer bestehen, jedoch kann hiervon zwecks der Vermeidung größeren Übels dispensiert werden.²⁵¹ Das Beispiel, das Albert lapidar an dieser Stelle für diesen Sachverhalt notiert, ist das Gebot der Monogamie, das zu einer Zeit, als durch Polygamie die geringe Anzahl von Rechtgläubigen vermehrt werden musste, außer Kraft war. Es erhellt, dass diese Art des Dispens vom Naturrecht durch ein höheres Gesetz, nämlich das göttliche der Vermehrung des rechten Glaubens, legitimiert wird; jedoch kann hier auch das obige Beispiel der Notwendigkeit des Eigentums eingetragen werden, und dann wird deutlich, dass der Sphäre des gesetzten Rechts eine neue Bedeutung zukommt.
4.3.2.7 Recht, Moralität und Epieikie 1. Kann wie gesehen in gewisser Weise das positive Recht vom natürlichen dispensieren, so stellt sich umgekehrt die Frage,wie es mit dem Dispens vom positiven Recht oder Gesetz aussieht. Anhand dieser Fragestellung deutet sich die Disjunktion zwischen dem Recht und der Moralität an, die Albert ausführlicher unter dem aristotelischen Topos untersucht,
Cf. SE V lect. , [], – ; – . Cf. Sth I – II q. a. c. SE V lect. , [], – : „est quoddam iustum naturale, quod respicit naturam absolute, et illud ex ea solum habet vigorem, et non ex aliqua institutione determinatum, sicut dignitates in moribus, ut non esse alicui iniuriandum, deum esse honorandum et huiusmodi; et haec nullam dispensationem recipiunt, quia pertinent ad veritatem vitae, quae pro nullo scandalo vel nocumento sunt deseranda.“ Wie sich gleich zeigen wird, ist hiermit die Monogamie gemeint. SE V lect. , [], – : „Est aliud iustum naturale, quod respicit naturam cum aliqua dispositione, et sic secundum aliquas diversas hominum dispositiones huiusmodi contraria sunt praecepta determinata ad speciales quosdam modos, sicut quod una unius sit et quod aliquis determinatus honor detur parentibus.“
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ob der gute Mann mit dem guten Bürger identisch ist. Alberts Antwort hierauf fällt negativ aus. Auffallend ist hierbei jedoch, dass Albert in der Solutio die Möglichkeit, dass diese Divergenz aus einer mangelhaften Verfassung des Staates resultieren könnte, der zu gehorchen zwar gesetzesgerecht wäre, jedoch schlechthin nicht tugendhaft, nicht berücksichtigt.²⁵² Die Problematik des schlechten Staates wird von ihm nur in der Erwiderung auf den vierten Einwand diskutiert. In der Solutio argumentiert Albert dagegen mit dem aristotelischen Gedanken, dass es vorkommen kann, dass jemand, der in Bezug auf seine Privatangelegenheiten wohl zu handeln versteht und daher ein ‚guter Mann (bonus vir)‘ ist, unfähig zum angemessenen Handeln in Bezug auf den Anderen und somit ein schlechter Bürger ist. Im Bereich der politischen Tugenden sei es nämlich – jedenfalls prinzipiell – möglich, dass eine Tugend ohne eine andere gehabt werden kann, wenn es auch eine vollkommene Gutheit (bonitas perfecta) darstellt, beide Gutheiten zu besitzen (ad 1). Alberts Gedanke ist somit, dass derjenige, der in Hinsicht auf seine eigenen Belange gut zu handeln vermag, ein guter Mensch sein kann, wenngleich er aufgrund seiner Unfähigkeit zu gutem Handeln dem anderen gegenüber kein guter Bürger ist. Dem scheint jedoch die Bestimmung des Menschen als eines ‚politischen Lebewesen (animal politicum)‘ von Natur aus zu widersprechen (ad 2); es scheint nämlich, dass aufgrund dieser natürlichen Bestimmung der gute Mensch und der gute Bürger notwendigerweise identische Begriffe sind. Dem hält Albert aber entgegen, dass die essentielle ‚politische‘ (gemeinschaftliche) Bezogenheit des Menschen darauf zielt, dass der Mensch nicht ohne Gemeinschaft (communicatio) gut zu leben in der Lage ist, da er nicht „selbstgenügsam in seinen Verrichtungen ist [non est sufficiens sibi in suis operibus]“.²⁵³ Das bedeutet für Albert aber nicht, dass der Mensch auch stets in Bezug auf das Gemeinschaftliche zu handeln genötigt wäre; vielmehr darf er auch in bloßem Bezug auf das handeln, was ihm in Hinsicht auf sich selbst zukommt. Es bleibt somit bei Alberts Einschätzung, dass ein gutes Handeln bloß in Bezug auf das eigene Wohl nicht nur möglich ist, sondern sogar den so Handelnden bzw. denjenigen, der mit entsprechenden Tugenden ausgestattet ist, als guten Menschen charakterisiert, sollte dieser auch unfähig sein, mit Blick auf das Gemeinwohl zu handeln. In welchem Maße Albert die Möglichkeit aus dem Blick rückt, dass es einen moralisch schlechten Staat geben könnte, dessen Gesetze Folge zu leisten dennoch einen guten Bürger, jedoch nicht einen guten Menschen charakterisiere, wird vor allem im ad 4 deutlich. Albert verwendet hierbei die Darstellung eines anonymen Kommentators dieser Stelle bei Aristoteles, dessen Auffassung er so wiedergibt, dass der, welcher um die Wahrung einer schlechten Bürgerschaft (civilitas) bemüht ist, zwar ein guter Bürger (bonus cives), wohl aber – weil Schlechtes wahrend – kein guter Mann (bonus vir) sein könne.²⁵⁴ Hierzu hält Albert zunächst fest, dass die Darstellung des Kommentators ‚ungenügend (insufficiens)‘ sei. Vielmehr müsse der Sachverhalt so
Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], – . Cf. SE V lect. , [], – .
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ausgedeutet werden, dass hier die Rede von einer zwar schlechthin schlechten, für ihre Zeit und ihren Ort jedoch guten Bürgerschaft (civilitas) sei. Das sei so zu verstehen, dass etwa in einer Bürgergemeinschaft ein bestimmtes Laster überhandnehme und dann vom Gesetz strenger als üblich bestraft werde. Für eine solche Bürgergemeinschaft kann es daher (schlechthin) ungerechte Gesetze geben, und der sie anwendet, wäre dieser Auffassung zufolge zwar nicht schlechthin gut, wohl aber ein guter Bürger.²⁵⁵ Wie der Hinweis auf das Laster als Grundlage der strengeren, an sich ungerechten Gesetze zeigt, hält Albert einerseits tendenziell einen Staat schon aufgrund seiner Existenz im Prinzip als gerechtfertigt; andererseits aber wird auch deutlich, dass Albert immerhin einen von den konkreten und ungerechten Staatsverfassungen unabhängigen Maßstab für Gerechtigkeit wenigstens prinzipiell annimmt, wenn die Aussage möglich sein soll, dass ein Staat schlechthin ungerechte Gesetze, die bloß ihren Zeitumständen angemessen sind, aufweisen kann. 2. Wie schon bei Aristoteles gesehen, ist eine weitere Stelle, an der die Differenz von Moralität und Recht traditionell aufbricht, das Phänomen der Epieikie. In Alberts Deutung ist diese eine Form der Gerechtigkeit „durch Ähnlichkeit und Nachahmung [per similitudinem et imitationem]“.²⁵⁶ Genauer gesprochen, ‚imitiert‘ der Inhaber der Epieikie (eipeikes) die Gesetzesgerechtigkeit dahingehend, dass sie dort, wo das die Handlungen der Gesetzesgerechtigkeit vorschreibende Gesetz versagt, das heißt in den Einzelfällen, die nicht unter das Gesetz fallen, den Mangel des Gesetzes (defectus legis) von sich aus (per seipsum) korrigiert.²⁵⁷ Die Epieikie – bzw. der Epieikes – also „hebt die Leitung des Gesetzes auf und lenkt durch sich selbst“.²⁵⁸ Aus dieser Bestimmung ergibt sich laut Albert auch der Name der Epieikie, der letztlich nichts anders besagt als ‚Über-Gerechtigkeit (supra iustitiam)‘ bzw. ‚wesentliche Gerechtigkeit (per se iustitia)‘.²⁵⁹ Hieraus ergibt sich die Frage, wie das ordinative Verhältnis zwischen Gesetzesgerechtigkeit und Epieikie zu bestimmen ist. So scheint es vor allem, dass nach der gegebenen Bestimmung der Epieikie im Grunde diese die Gesetzesgerechtigkeit dirigiere und deshalb deren eigentliche Grundlage ist. Ein anderer Einwand könnte dagegen gerade umgekehrt dahingehend gemacht werden, dass es der Epieikie als Direktivum der Gesetzesgerechtigkeit überhaupt nicht bedürfe, da hierfür bereits die ‚natürliche Gerechtigkeit (iustitia naturalis)‘ als erster Maßstab aller folgenden Gerechtigkeit hinreiche. Auf das Erste reagiert Albert, indem er zwischen zwei Weisen unterscheidet, wie etwas ‚dirigierend‘ für ein anderes sein kann. Entweder nämlich lenkt etwas ein anderes ‚der Essenz nach (secundum essentiam)‘, das heißt dergestalt, dass die Natur des Geleiteten zuerst und schlechthin in dem es Leitenden enthalten ist,
Cf. SE V lect. , [], – . Cf. SE V lect. , [], . Cf. auch SE V lect. , [], – : Die Epieikie ahmt das universale Recht nach („epieikia, quae imitatur universale iustum“). Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], – : „dimittit regimen legis et diriget per seipsum.“ SE V lect. , [], – : „epieikia dicitur ab ‚epi‘, quod est ‚supra‘ et ‚dicaion‘, quod est ‚iustitia‘, quasi ‚supra iustitiam‘; et virtus nominis est ‚quasi per se iustitia‘.“
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sodass dieses jenem vorausgeht. Dies ist der Fall im Verhältnis zwischen natürlichem Recht (iustum naturale) als leitendem und positivem bzw. ‚legalem‘ Recht (iustum legale) als geleitetem. Oder etwas ist ‚dem Sein nach (secundum esse)‘, das heißt genauer ‚dem konkreten Dasein nach‘ Leitendes eines anderen, und zwar in der Weise der Anwendung bzw. Applikation einer allgemeinen Form auf die Materie mit Blick auf alle besonderen Bestandteile. Genauer ist dies so zu beschreiben, dass das Leitende etwas der allgemeinen Form gemäß bildet, die hierbei als Richtschnur dient, wobei das Leitende auch all das noch beifügt, was in der universalen Natur gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit noch fehlt, indem es diese allgemeine Natur auf alle partikularen Bestimmungen anwendet. Ein solches Leitendes ist dann Albert zufolge notwendig konkreter als das, was es leitet, und folgt diesem nach. Dieser Fall nun tritt genau beim Verhältnis zwischen Epieikie und Gesetzesgerechtem ein. Letzteres ist hierbei das vorausgehende, jedoch weniger konkrete Moment, dessen Ziel, nämlich die Wahrung und Förderung des Gemeinwohls, bisweilen gerade nicht in der Weise verfolgt werden kann, wie die Gesetzesgerechtigkeit es vorsieht, nämlich als Befolgung bzw. Applikation des allgemeinen Gesetzes, sondern vielmehr im Dispens oder Nichtbefolgen von diesem. Daher kann Albert auch sagen, dass die Epieikie die Gesetzesgerechtigkeit bzw. das Gesetz in Hinsicht auf das Ziel imitiere, nicht aber in Hinsicht auf die Handlung.²⁶⁰ Hieraus ergibt sich dann auch die Antwort auf den zweiten genannten Einwand. Anders formuliert, erstreckt sich die Epieikie bei gleichzeitigem Verfolgen desselben Zieles wie die Gesetzesgerechtigkeit auf einen anderen Bereich (ambitus) im Sinne von anderen Handlungen zur Erreichung des Zieles als denen, die das Gesetz vorschreibt.²⁶¹ Es widerspricht daher dem Gesetz in Hinsicht auf die konkrete Handlung, nicht aber in Hinsicht auf das Ziel,²⁶² sondern verfolgt ebendieses Ziel gleichsam in Stellvertretung der „Intention des Gesetzgebers [intentio legislatoris]“.²⁶³ In diesem Sinne steht die Epieikie dem Naturrecht näher als die Gesetzesgerechtigkeit. Der Mangel (defectus) jedoch, der Epieikie überhaupt nötig macht, liegt hierbei Albert – und übrigens auch Thomas – zufolge nicht etwa im bloß allgemeinen Charakter menschlichen Gesetzes, sondern vielmehr in der Natur der Sache, sofern nämlich die Natur dessen, was getan werden kann, variabel ist und sich darin wie die widerspenstige Materie der Bestimmung durch die Form der Determination durch die Allgemeinheit des Gesetzes widersetzt.²⁶⁴ Die Definition des ‚Billigen‘ (epieikes) lautet entsprechend, eine Lenkung des Gesetzes zu sein im Blick auf das, wo dieses aufgrund seiner Allgemeinheit versagt (directio legis in illis in quibus lex deficit propter uni-
Cf. SE V lect. , [], – . Cf. SE V lect. , [], – . SE V lect. , [], ad , – : „contrariatur legi quantum ad actum, sed non quantum ad finem.“ SE V lect. , [], . Cf. SE V lect. , [], – .
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versale). Der Akteur dieser Tugend ist daher auch nicht der Gesetzesgerechte, sondern es sind die Weisen (sapientes).²⁶⁵
Fazit Aus dieser umfangreichen Darstellung der Gerechtigkeits- und Naturrechtstheorie bei Albertus Magnus, zumal vor und nach dessen Rezeption von EN V, lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen. 1. Auffällig ist in Hinsicht auf die Gerechtigkeit als eine allgemeine Tugend (virtus generalis) zunächst, dass die schon bei Philipp beschriebene und bei Albert wieder aufgegriffene allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) als richtige Haltung (habitudo) des Menschen sich selbst, dem anderen und vor allem Gott gegenüber in Alberts Ethikkommentar etwas unverbunden neben der ebenfalls allgemeinen Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) aus EN V steht. Dies gilt für den Bereich, auf den diese beiden Tugenden bezogen sind, wie auch für die sie hervorbringenden Ursachen. Mit Blick auf den Handlungsbereich ist die theologische allgemeine Gerechtigkeit wie gesehen dadurch gekennzeichnet, primär den Selbstbezug sowie das Verhalten dem Nächsten gegenüber aus der Perspektive auf Gott zu gewinnen. Demgegenüber hat die Gesetzesgerechtigkeit in Alberts Aufgriff von EN V, stellenweise aber auch schon in De bono unter Bezug auf Vorgaben aus Cicero, einen viel stärker ‚politischen‘ Bezug, das heißt einen solchen, in dem der Mensch nicht in seinem Bezug zu Gott und auch nicht zu einem konkreten Nächsten im Fokus steht, sondern zur Gemeinschaft im allgemeinen, deren Teil er ist. Diese allgemeine Gerechtigkeit kommt dem Menschen daher nicht wie die theologische ‚iustitia generalis‘ deshalb zu, weil er in einem teleologischen und abbildhaften Verhältnis zu Gott als dem Schöpfer aller Dinge und höchstem Gut steht, sondern weil er ein geselliges Lebewesen (animal social/civile) ist. Hier lässt sich dann auch das große Interesse einordnen, das Albert an der speziellen Gerechtigkeit im aristotelischen Sinne – das heißt nicht mehr im Sinne von einzelnen Tugenden wie Pietät oder Demut, sondern als kommutative und distributive Gerechtigkeit – hat. Diese speziellen Formen von Gerechtigkeit sind ebenfalls dem Menschen spezifisch, sofern er innerhalb gemeinschaftlicher Zusammenhänge steht, die fundamental durch einen Austausch von lebensnotwenigen Gütern charakterisiert sind. Der Differenz der Handlungsbereiche entspricht die der Ursachen beider Tugenden. Die theologische allgemeine Gerechtigkeit ist, wie besonders bei Philipp erkennbar, als Wirkung der göttlichen Gnade und damit als eingegossene Tugend zu beschreiben. Dagegen übernimmt Albert die aristotelische Auffassung, dass die Gesetzesgerechtigkeit wie auch die partikuläre Gerechtigkeit durch Gewöhnung und häufiges Ausüben gerechter Handlung erworben werden. Bei Thomas wird die Situation eintreten, dass – vor allem in Sth – die theologische Gerechtigkeit kaum noch
Cf. SE V lect. , [], – und – .
4.3 Gerechtigkeit vor und nach der Aristoteles-Rezeption: Albertus Magnus
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eine nennenswerte Rolle spielt,²⁶⁶ wohingegen besonders die Gesetzesgerechtigkeit als allgemeine und gleichzeitig spezielle Tugend eine zentrale Bedeutung gewinnen wird. 2. Mit Blick auf diese beiden allgemeinen Tugenden, also die theologische allgemeine Gerechtigkeit und die aristotelische Gesetzesgerechtigkeit, ist weiterhin auffällig, dass bei Albert letztere in ihrer Strukturbeschreibung hinsichtlich der Bestimmung ihrer Universalität (generalitas) deutliche Anleihen bei der theologischen allgemeinen Gerechtigkeit – wie auch bei der caritas als weiterer allgemeinen Tugend (virtus generalis), wie Philipp sie umrissen hatte –, erfährt. Dies betrifft insbesondere das ‚Umfassen‘ der anderen Tugenden, ihrer Ziele und Akte, und das Ausrichten derselben auf das der allgemeinen Gerechtigkeit eigene Ziel. Diese Momente, die ursprünglich der theologischen allgemeinen Gerechtigkeit sowie der caritas zugeschrieben werden, überträgt Albert auch auf die Gesetzesgerechtigkeit. Anders aber als die theologische allgemeine Gerechtigkeit charakterisiert Albert die Gesetzesgerechtigkeit als eine eigenständige, zwar allgemeine, aber dennoch spezielle Tugend mit eigener Mitte. Auch dies wird Thomas übernehmen. 3. Für die Frage nach der Allgemeinheit der Gerechtigkeit als einer Tugend ist ebenfalls – zumal für die spätere Arbeit an dieser Struktur bei Thomas – der naturrechtliche Rahmen zentral, den Albert sowohl in De bono als auch – in Anlehnung an dort von ihm entwickelte Strukturen – in Super Ethica entwickelt. Auf der einen Seite führen die Naturrechtsanteile innerhalb der Bestimmung des Gesetzes, die Albert konsequent in Aristoteles’ Vorgaben einbaut, dazu, dass die Gesetzesgerechtigkeit zumindest mittelbar einen ‚überpositiven‘ Charakter und damit zugleich ein höheres Maß an Universalität gewinnt, indem das Naturrecht als universaler Rahmen der Tugenden fungiert. Auf der anderen Seite zeigt sich im Ethikkommentar im Gegensatz zu De bono erneut, dass Albert die Gerechtigkeitsproblematik fast ausschließlich auf den Bereich des ‚politischen‘ Rechts bezogen sein lässt, das heißt auf das Gebiet des irdischen Zusammenlebens der Menschen in einer rechtlich (wie auch politisch und ökonomisch) organisierten Gemeinschaft, was gleichzeitig dazu führt, dass dieses Gebiet nunmehr in viel stärkerer Eigenständigkeit konzipiert wird. Dies korreliert mit der bereits erwähnten Bestimmung der Gesetzesgerechtigkeit als ‚politischer‘ Tugend. Ähnlich komplex ist das Moment der Universalität oder Allgemeingültigkeit, das sich innerhalb der Theorie Alberts lokalisieren lässt. Universalität nämlich betrifft einerseits die Vernunftprinzipien selbst, die jedoch gerade aufgrund dieser Allgemeinheit nicht unmittelbar handlungsleitend sind. Andererseits sind auch die Anforderungen der Handlungssituation allgemein, und zwar so, dass zwar jede einzelne Situation an ihr selbst unwiederbringlich ist, aber im Moment ihres Eintretens an jeden Handelnden mit demselben Anspruch an Erfüllung tritt, egal wer er sei (‚Mitte der Sache‘) – ein Moment, das Thomas in Gestalt des vom Naturgesetz unterschiedenen Naturrechts aufgreift.
Erwähnung findet sie etwa in Super I Sent. d. q. a. exp.: „iustitia hic sumitur pro iustitia generali, quae est rectitudo animae in comparatione ad Deum et ad proximum et unius potentiae ad aliam, et dicitur iustitia fidei, quia in iustificatione primus motus est fidei.“
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4. Es ist festzuhalten, dass bei aller Übermittlung und Übertragung von Strukturen der theologischen allgemeinen Gerechtigkeit auf die Gesetzesgerechtigkeit ein gewisser Hiatus zwischen beiden Tugenden sowie der sie betreffenden Ebenen bei Albert erkennbar ist, der in den Diskussionen der späteren Autoren noch stärker zutagetreten wird. Weiterhin trägt Alberts Synthese bei aller Systematizität aus mittelalterlichen Vorlagen und antiker (aristotelischer wie anderer) Philosophie insgesamt auch stark kumulative Züge, die Alberts Bestreben nach einer möglichst viele der mit dem Gegenstand verbundenen Fragen, Positionen und Argumente erfassenden Diskussion geschuldet ist. Bei Thomas wird dagegen in der Summa theologiae eine größere Übersichtlichkeit insgesamt und auch speziell mit Blick auf die Theorie der Gerechtigkeit erreicht. Dies ist natürlich nicht zuletzt dem propädeutischen Charakter dieses Textes und der damit verbundenen Notwendigkeit einer thematischen Auswahl und Straffung geschuldet. Hierbei spielt nicht zuletzt Thomas’ zwar wie auch bei anderen Fragen auf Albert zurückgreifende, jedoch das dort vorfindliche Material stark reduzierende Theorie des Gesetzes (lex) eine entscheidende Rolle. Auch die anderen bei Albert und teilweise auch Philipp dargestellten Theoriestücke, insbesondere die Bedeutung der Epieikie sowie der Bezug auf die Situation, werden bei Thomas stärker in den Aufbau des Gesamten integriert.
4.4 Thomas von Aquin: Gesetzesgerechtigkeit im Kontext von Naturgesetz, Naturrecht, Klugheit und Epieikie Die bisherigen Darlegungen dienten vor allem dem Ziel, die historisch-systematische Ausgangssituation zur Frage nach einem Universalismus der Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der einsetzenden Aristoteles-Rezeption umfänglich herauszuarbeiten und damit die Diskussion des thomasischen Entwurfs vorzubereiten, die Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist. Bei Thomas laufen die bislang skizzierten Argumentationslinien zusammen, werden gebündelt und noch stärker strukturiert und dadurch in die Gestalt einer Konzeption gebracht, die wie schon in der Einleitung bemerkt für zahlreiche später folgende Deutungen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein die Funktion einer durchaus belastbaren, da für Modifikationen offenen Hintergrundfolie bildet. Dies gilt insbesondere für Thomas’ stark rezipierte Theorie des Naturgesetzes (lex naturalis) als eines obersten Rahmengefüges von allgemeingültigen, das heißt für alle Handlungssubjekte verbindlichen Regeln oder Vorschriften der praktischen Vernunft. Der folgende Abschnitt stellt die moderne Rezeption dieses Kernstücks der thomasischen Ethik kurz dar und führt diese hierbei auf drei prinzipielle Formen zurück, bevor dann eine eigene Deutung der thomasischen Naturgesetzeslehre gegeben wird. Jedoch wird sich im Zuge dieser Ausarbeitungen zeigen, dass auch bei Thomas mit dem Naturgesetz noch längst nicht alle Fragen, die mit dem Problem der Universalität von Gerechtigkeit innerhalb dieses aristotelisch-scholastischen Kontextes verbunden sind, beantwortet oder in den Blick gebracht werden können. So wird sich ergeben, dass die allgemeinsten Normen aus Prinzipien allein wie schon bei
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Albert nicht unmittelbar handlungsleitend sind. Ihre Universalität ist vielmehr die eines allgemeinen Entwurfsrahmens. Daher bedürfen sie, um handlungsleitend werden zu können, einer Applikation auf die Situation, die nicht schon analytisch in den Normen des Naturgesetzes enthalten ist und entsprechend nicht ohne Weiteres aus diesen folgt. Dies wird nicht nur daran deutlich, dass die positiven Gesetze auch bei Thomas eine wichtige Rolle spielen, sich jedoch nicht unmittelbar aus dem Naturgesetz herleiten lassen. Vielmehr wird dies auch erkennbar, wenn man die Bedeutung reflektiert, die der Gerechtigkeit als einer Tugend bei Thomas im Rahmen der Handlungstheorie zukommt. Um dies klarer zu sehen und den aretologischen Hintergrund für die thomasische Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, werden in einem weiteren Abschnitt zunächst allgemein Thomas’ Begriff der Tugend, sodann die verschiedenen Arten von Gerechtigkeit und schließlich das Recht (ius) als Objekt dieser Tugend, insbesondere das Naturrecht (ius naturale) untersucht. Als Ergebnis dieses Abschnitts wird herausgestellt werden, dass man auch bei Thomas, jedoch noch deutlicher als bei Albert, hinsichtlich der Frage nach universaler Normativität der Gerechtigkeit nicht nur das Naturgesetz im Blick haben darf. Vielmehr muss man ebenso die das Naturgesetz überschreitende Dimension eines real in einer Situation naturrechtlich Gebotenen berücksichtigen, dessen Realität nicht dem Naturgesetz entspringt, sondern das vielmehr dessen Applikation normativ wie epistemisch vorausliegt. Im dritten Teil wird sodann in drei Abschnitten zu einigen Aspekten der Handlung, zur Tugend der Klugheit sowie zu den Spezialfällen von Dispens vom Tötungsverbot und Epieikie diese Dimension der Bezugs auf das Konkrete der begegnenden Situation eingehender beschrieben werden.
4.4.1 Das Naturgesetz als universaler normativer Rahmen 4.4.1.1 Kurzer Überblick über die gegenwärtige Diskussion zum thomasischen Naturgesetz Die thomasische Naturgesetzestheorie ist zweifelsohne eines der in der neueren und neuesten Forschung am häufigsten diskutierten Stücke der thomasischen Ethik.²⁶⁷ Im Weiteren soll eine eigene Deutung dieser intrikaten Struktur versucht werden, ohne Die Literatur zur thomasischen Naturrechtslehre ist längst unüberschaubar geworden. Hier seien nur wenige einschlägige Titel genannt: Kluxen (). Zur Einordnung der thomasischen Naturrechtstheorie siehe u. a. Ludger Honnefelders schon oben zitierten Aufsatz über ‚Naturrecht und Geschichte‘ (Honnefelder []). Weiterhin einschlägig Franz Böckle (Böckle []), Eberhard Schockenhoff (Schockenhoff [, – ]), Franz-Josef Bormann (Bormann []), ebenso Martin Rhonheimer (Rhonheimer []), Jean Porter (Porter []), sowie Rebecca Konyndyk De Young/ Colleen McCluskey/Christina van Dyke (De Young, McCluyksey und van Dyke [, Kap. ]). Eine aufschlussreiche Aufsatzsammlung ist der Band von John Goyette/Mark Latkovic/Richard S. Myers (Goyette, Latkovic und Myers [Hg.] []). – Für eine allgemeinere Übersicht über die Naturrechtsproblematik nach wie vor instruktiv sind auch die älteren, zum Teil ebenfalls schon oben angegebenen Arbeiten von Ilting (), Rainer Specht (Specht []), sowie Welzel ().
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dass diese dabei freilich dieselbe Umfassendheit beanspruchen kann wie in denjenigen Arbeiten, die allein dem Naturgesetz bei Thomas gewidmet sind. Die Auseinandersetzung mit der Forschung wird sich auf die für die vorliegende Studie wichtigsten Fragen bei Thomas beschränken müssen. Dass dabei das Naturgesetz, nicht dagegen die Tugend der Gerechtigkeit eher selten Gegenstand gegenwärtiger Arbeiten zu Thomas’ Ethik gewesen ist, ²⁶⁸ scheint einen seiner Gründe nicht zuletzt mit einer gewissen Differenz der Interpreten hinsichtlich der Frage zu haben, worin überhaupt die eigentlich basale normative Dimension des thomasischen Ethikentwurfs besteht und woraufhin man denselben mithin lesen sollte. Mit Blick auf die Interessen der vorliegenden Studie kann man dabei folgende Sortierung innerhalb der Forschungsund Diskussionslage vornehmen. 1. So gibt es eine sehr häufig vertretene Auslegungstendenz, die den Schwerpunkt ihrer Interpretationen auf das thomasische Konzept des Naturgesetzes legt, sofern unter diesem die höchste, philosophisch explizierbare Prinzipienstruktur der praktischen Vernunft zu verstehen ist. Den Tugenden und damit auch der Gerechtigkeit wird dagegen innerhalb dieser Tendenz zwar ebenfalls ethische Relevanz, aber hierbei trotzdem eine eher sekundäre Rolle zugesprochen; sie stellen als Realisierungen naturgesetzlicher Normen lediglich deren Kehrseite dar, weisen jedoch an ihnen selbst in systematischer und normativer Hinsicht kaum ein eigentliches eigenständiges Gewicht auf.²⁶⁹ Für G. Wieland ist es sogar äußerst fraglich, ob „eine philosophische Ethik thomasischer Gestalt“, die sich konsequent „vom ersten Gebot des natürlichen Sittengesetzes her“ aufbaut, überhaupt „den Charakter einer Tugendethik haben könnte.“²⁷⁰ Der Hintergrund dieser Auffassung ist in dem in der Einleitung genannten Interesse zu suchen, nicht nur überhaupt eine gewisse Normativität menschlichen Handelns zu begründen, sondern vielmehr eine streng universalistische Normativität, die formal und inhaltlich für alle Menschen Gültigkeit beanspruchen darf, unabhängig von der Diversität der Zeiten und Kulturen.²⁷¹ Dass man sich vor dem Hintergrund eines Einschlägig ist immerhin die Studie von Stefan Lippert (Lippert []). Die vorliegende Arbeit verwendet einige der Ergebnisse von Lipperts Arbeit, stellt diese jedoch in einen systematisch nochmals anders gelagerten Kontext. Cf. etwa symptomatisch die äußerst spärlichen Bemerkungen Martin Rhonheimers (Rhonheimer [, ]), zu den Tugenden und deren Verbindung mit dem Naturgesetz. Wieland (, ). In diesem Sinne hat John Finnis (Finnis [, Kap. IV.]) die thomasische Naturgesetzeslehre aufgefasst. So rekonstruiert er das thomasische Naturgesetz als basale normativ-universalistische Struktur naturgesetzlicher Vernunftprinzipien sittlichen Handelns, die als ‚basic goods‘ insbesondere durch das Merkmal der ‚self evidence‘ ausgezeichnet seien. Durch diese Selbstevidenz ist Finnis zufolge gesichert, dass die naturgesetzlichen Grundinhalte auch tatsächlich für alle Personen universale Geltung beanspruchen können. Dem hat Pauline Westerman (Westerman []) unter teilweisem Rückgriff auf Argumente von Lloyd L. Weinreb (Weinreb []) vehement widersprochen. Westerman zeigt, dass Finnis zwei Argumente für die Selbstevidenz der ‚basic goods‘ zu bringen versucht, nämlich erstens, dass sie nicht argumentativ beweisbar sein können, weil sie eben dann aus höheren Prinzipien abzuleiten wären, und zweitens, dass sie eine Erweiterung (extension) des thomasischen naturgesetzlichen Fundamentalprinzips (Gutes ist zu tun, Schlechtes zu meiden) darstellen, das selbst ein
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solchen Interesses jedoch nicht sogleich direkt an Kant wendet, sondern sich auf Thomas von Aquin bezieht, liegt – wie in der Einleitung bemerkt – nicht zuletzt darin, dass man den als unbefriedigend empfundenen kantischen Dualismus zwischen der natürlichen und empirischen und der transzendentalen und eigentlich normativen Ebene von Subjektivität im auf aristotelischen strebensteleologischen Grundannahmen basierenden Ansatz des Thomas von Aquin bereits unterlaufen glaubt. Dieser nämlich habe durch diesen Rückgriff auf Aristoteles eine Perspektive auf den ganzen Menschen, das heißt die Person, anzubieten, deren Ort man innerhalb der genannten Auslegungstendenz dann konsequenterweise im Naturgesetz selbst sieht, welches seinerseits ‚personal‘ sei.²⁷² 2. Dem steht eine Deutung gegenüber, in der die Gewichtung von Tugend und Naturgesetz – jedenfalls mit Blick auf genuin moralphilosophische Fragestellungen – eher umgekehrt gelagert ist. Diese Interpretationstendenz weist darauf hin, dass die inhaltliche Ausprägung des Naturgesetzes bei Thomas sich letztlich theologischen und nicht philosophischen Momenten verdanke,²⁷³ und insistiert zudem darauf, dass das Naturgesetz selbstevidentes Prinzip ist und ihnen dadurch über seine eigene Selbstevidenz die ihre vermittelt (cf. Westerman [, – ]). Während Westerman ersteres schlicht für unbefriedigend hält, argumentiert sie gegen das zweite, dass Finnis und seine Anhänger Thomas an dieser Stelle falsch interpretieren. Denn die Selbstevidenz, die tatsächlich dem naturgesetzlichen Fundamentalprinzip entspricht, ist laut Westerman gleichsam bloß formal und beruht auf dem Widerspruchsprinzip, während die konkrete inhaltliche Bestimmung dessen, was denn nun tatsächlich als Gut zu erstreben ist, bei Thomas nur vermittelt über eine Einsicht in Gottes ewiges Gesetz möglich ist (cf. Westerman [, – ]), die sich jedoch die modernen Naturrechtstheoretiker um Finnis ebenso aufgrund ihrer Ablehnung ‚metaphysischer‘ (bzw. richtiger theologischer) Begründungen ihrer ‚basic goods‘ als Theoriestück versagen, wie den thomasischen Rückgriff auf die Natur über die inclinationes naturales, die für Finnis als Bestimmungsgrundlage in Moralfragen schlicht irrelevant sind (cf.Westerman [, ]). So schwebt Finnis’ auf seiner Thomas-Rezeption basierender Naturrechtsentwurf in Westermans Einschätzung letztlich gleichsam im leeren Raum. Cf. hierzu Rhonheimer (). So hat etwa Jean Porter im Zuge ihrer Rekonstruktion des thomasischen Naturgesetzes, welche sie als theologische versteht, darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mit Blick auf die scholastischen Diskussionen von der Vorstellung verabschieden sollten, „that the natural law comprises a universally valid set of moral norms, accessible to all rational persons“ (Porter [, ]); vielmehr sei das Naturgesetz in den Augen der Scholastiker „in its primary sense“ zu verstehen als „fundamental capacities for moral discernment and action, rather than moral rules“ (Porter [, ]). Dies lässt sich erneut als eine Kritik an John Finnis’ prominenten Versuch lesen, auf der Grundlage der thomasischen Naturgesetzestheorie eine strikte, zugleich nicht theologisch, sondern philosophisch gegründete Systematik von moralischen Normen bzw. ‚basic goods‘ zu entwickeln. Zugleich kann diese Perspektive mit derjenigen Otto Peschs in Verbindung gebracht werden, von der oben einführend die Rede war. So bestehen die konkreten Regeln des Handelns im Dekalog, der aber seinerseits zum Bereich der geoffenbarten Theologie gehört. All dies konzediert, schließt sich der Verf. in der vorliegenden Studie nichtsdestotrotz einer Lektüre der thomasischen Naturgesetzestheorie an, in der wenigstens das ppp sowie einige allgemeinste Vorschriften – mögen sie auch in der Tat, wie Porter zeigt, eher den Charakter eines moralischen Urteilsvermögens als eines Sets universaler inhaltlicher Vorschriften haben – einen nicht-theologischen (weder im Sinne der christlichen, noch in dem der philosophischen Theologie), sondern primär ethischen, dabei aber inhaltlichen und universalen Status innehaben können.Wie man anhand der Überlegungen Kluxens – auf die sich Porter im Übrigen so gut wie
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lediglich in Form einer nachträglichen reflexiven Abstraktion von den konkreten Bedingungen und Prinzipien menschlichen Handelns gewonnen wird. Da letztgenannte, also die konkreten Handlungsprinzipien, nun ihrerseits gerade in den Tugenden bestehen, stellen somit diese den eigentlichen Kern der thomasischen Ethik dar, zumal dann, wenn man den genuin philosophischen Gehalt dieser Ethik auffassen möchte.²⁷⁴ Im Hintergrund dieser Auffassung steht der Gedanke, dass der eigentliche Endpunkt der sittlichen Reflexion eines Akteurs die konkrete Einzelhandlung darstellt, die zwar einerseits gerade aufgrund dieser Einzelheit nicht unmittelbar Gegenstand der ethischen, das heißt wissenschaftlichen und damit auf allgemeine Begriffe angewiesenen Reflexion sein kann, andererseits aber im Rahmen dieser zumindest insofern in deren Blick zu rücken vermag,
gar nicht und wenn, dann nur am Rande (Porter [, , FN ]) bezieht – festhalten kann, schließt das ja gerade nicht aus, dass man das Naturgesetz auch in einem theologischen Sinne deuten kann. Wolfgang Kluxen spricht hierbei von zwei Stilen von Ethik (Tugend- und Gesetzesethik), die sich seiner Auffassung nach bei Thomas unterscheiden lassen, wobei die Tugendethik „eine Vorzugsstellung“ innehabe. Denn erstens ermögliche sie „die größte Nähe zum Einzelfall bei gleichzeitiger Wahrung des wissenschaftlichen Charakters der Ethik“, indem die Tugend als Objekt dieser Ethik das „nächste, unmittelbare Prinzip“ des Aktes als Einzelhandlung fungiert, zugleich aber als Prinzip verschiedener jeweiliger tugendhafter Akte zugleich hinreichend allgemein ist, um überhaupt Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses zu werden (Kluxen [, ]). Zweitens stellen die Tugenden als Handlungsprinzipien das Gesamt der moralischen Materie dar; so lasse sich „der gesamte Stoff der Ethik einem vollständigen System der Tugenden einfügen“ (Kluxen [, ]). Daher könne man vom thomasischen Entwurf sagen, dass hier „[n]och mehr als in der Theologie […] in der Philosophie die Tugendlehre das Kernstück der moralischen Betrachtung [ist]; sie ist es so sehr, dass man – vielleicht etwas überspitzt – sagen darf, im thomistischen Verständnis ‚sei‘ die Ethik überhaupt Tugendlehre“ (Kluxen [, ]). Die Gesetzesethik als weiterer ‚Stil‘ thomasischer Ethik kommt dagegen deshalb zur Erscheinung, weil das Gesetz neben der Tugend ein weiteres Prinzip darstellt, das gute Handlungen konstituiert. Deshalb ist es Kluxen zufolge „eine Entscheidung“, die Tugend ins Zentrum der Ethik zu stellen, weshalb „der Aufbau einer Ethik auf Erkenntnis der Tugend hin eine Stilisierung“ bedeute, die Gestalt der thomasischen als einer Tugendethik mithin einen ‚Stil‘ wissenschaftlicher Ethik ausmache (Kluxen [, ]).Von Gesetz und Tugend hält Kluxen hierbei fest, dass beide „zwei Arten von konkreten Prinzipien des Handelns bezeichnen, die ihre besonderen Funktionen haben und nicht aufeinander rückführbar sind, wenngleich ein gemeinsamer Ursprung sie miteinander in Beziehung setzt“ (Kluxen [, ]). Der Grund des Vorranges der Tugend- vor der Gesetzesethik liegt dabei in der größeren Nähe der Tugend zur Einzelhandlung als eigentlichem Zielpunkt der Moral als gelebter Sittlichkeit und der Ethik als deren wissenschaftlicher Reflexion. Dagegen ist es der eigentümliche Aspekt „des Sollens und der Pflicht“ als einer Forderung der Vernunft, der eher in der Gesetzes- als in der Tugendethik ausgedrückt wird, obgleich auch die Tugenden innerhalb des strebensteleologischen Grundmodells eine Art von Normativität und in diesem weiteren Sinne eine Art des ‚Sollens‘ implizieren (cf. Kluxen [, ; ). – In einem anderen Sinn spricht Pauline Westerman davon, dass das ewige und das natürliche Gesetz bei Thomas weniger als ‚law‘ „in the ordinary contemporary sense of the word“ denn als ‚style‘ aufzufassen ist (cf. Westerman [, ; ). Westerman möchte damit den gleichsam künstlerischen Aspekt (cf. Sth I – II q. a. c und I q. a. c), den der Gesetzesbegriff bei Thomas beinhalte, herausstellen und damit zugleich die Auffassung zurückweisen, das Gesetz habe bei Thomas den Charakter einer zwingenden Vorschrift. Cf. Westerman (, – ; ). Der Stilbegriff kann in diesem Kontext auch die Entwurfsoffenheit des Naturgesetzes angesichts von dessen Bestimmung als Teilhabe am ewigen Gesetz unterstreichen.
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als die Tugenden als allgemeinere und zugleich inhaltlich konkrete Prinzipien der Handlung zu ihrem Gegenstand werden.²⁷⁵ 3. Eine dritte Variante findet sich vertreten in einem Aufsatz von Matthias LutzBachmann, in dem dieser zwischen beiden Haltungen eine Art Vermittlungsstellung einnimmt.²⁷⁶ Dieser Text ist auch einer der wenigen, in denen die Tugend der Gerechtigkeit zur Sprache kommt. Die besagte Vermittlungsstellung ist dabei Lutz-Bachmann zufolge in der grundlegenden Unterscheidung von zwei Arten von Tugenden begründet, und zwar zwischen solchen, die ihren Inhaber in Hinsicht auf das eigene, und solchen, die ihn in Hinsicht auf fremdes Wohl ausrichten. Lutz-Bachmann deutet dies dahingehend, dass zwar nicht alle Tugenden mit dem Naturgesetz in einen unmittelbaren Bezug zu setzen sind, wohl aber die universale Tugend der Gesetzesgerechtigkeit. Denn im Gegensatz zu den übrigen Tugenden, die ihren Inhaber oder Träger bloß in Hinsicht auf sich selbst und sein eigenes Wohl ordnen und deswegen eine bloß ‚eudämische‘ Dimension menschlichen Handelns einschließen, nicht aber unmittelbar aufs bonum commune bezogen sind, eigne umgekehrt gerade der Gesetzesgerechtigkeit die Qualität, ihren Träger primär auf das Wohl des Anderen hin auszurichten und insofern eine ‚moralische‘ Dimension des Handelns zu eröffnen. Mit Blick auf Letztere diene daher das Naturgesetz gleichsam als Richtmaß. Denn das Naturgesetz bestimme die Mitte im Handeln in Hinsicht auf den Anderen und das ihm objektiv zukommende Wohl, und dies insbesondere mit Blick auf das Gemeinwohl. Daher ist die Gesetzesgerechtigkeit für LutzBachmann im eigentlichen Sinne ‚vernunftnormativ‘ verfasst, da das Naturgesetz bei Thomas als Vernunftgesetz aufzufassen ist. 4. Dieser schablonenhafte Abriss macht deutlich, dass die weitere Untersuchung der thomasischen Gerechtigkeitstheorie einige grundlegende Fragen nach dem Status von Tugenden in Relation zum Naturgesetz überhaupt, damit aber auch nach dem
Pesch (, – ). Bei Pesch ist dabei hier deshalb nicht von der Gesetzesgerechtigkeit die Rede, weil diese im Kontext des Lex-Traktats, den Pesch in dieser Publikation kommentiert, außer in q. a. c nicht weiter thematisch wird. Cf. aber zur iustificatio Pesch (, – ). Zu Sth I – II q. a. c cf. weiter unten in vorliegendem Kapitel. – Wolfgang Kluxen scheint in dieser Hinsicht eine eher schwankende Meinung zu haben. Ähnlich wie Pesch argumentiert er in Kluxen (, ); cf. dagegen Kluxen (/, – ). – Peschs Haltung schließt sich an Bormann (, , FN ). Ähnlich auch Nelson (, ): „Focussing on the ‘Treatise of Law’ as the primary source for understanding Thomas’s ethics not only fails to attend to what he says about prudence and the virtues, making it appear that he is mainly concerned to convey an ethics of law, but also tends to distord his teaching about natural law itself.“ Cf. auch Nelson (, ). Bei diesem Autor fällt übrigens auf, dass die sachlich zutreffende Einschätzung genau des systematischen Problembewusstseins ermangelt, welches Kluxen in seinen Arbeiten entwickelt, indem Nelson nämlich nicht klar unterscheidet, ob er sich mit seinen Ausführungen auf dem Boden eines moralphilosophischen oder eines moraltheologischen Diskurses befindet. Lutz-Bachmann (). – Dementsprechend wären auch nur die Tugenden im eigentlichen Sinne als Ort der Personalität zu bestimmen, wohingegen das Naturgesetz gerade von dieser ‚Persönlichkeit‘ und der damit verbundenen unhintergehbaren Konkretion zwecks der Konstatierung universaler, aber bloß formaler Handlungsprinzipien absehen müsse. Die Frage nach der Person kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht eingehender untersucht werden.
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konkreten Charakter des thomasischen Ethikentwurfs zu klären hat. Um das zu klären, wird im Weiteren zunächst der thomasische Naturgesetzestraktat eingehend analysiert. Im darauf folgenden zweiten und dritten Abschnitt werden sodann wie einleitend bereits angekündigt die Ergebnisse dieser Untersuchung mit Thomas’ Theorie des Naturrechts (ius naturale) verglichen und hierbei deutlicher herausgestellt, dass und inwieweit bei Thomas die Tugenden vonnöten sind, um die moralische Prinzipienstruktur sittlichen Handelns zu beschreiben. Hier wird sodann auch die Theorie der Gerechtigkeit bei Thomas herausgearbeitet, insbesondere der iustitia legalis. Zudem wird das Verhältnis von Gerechtigkeit zur Klugheit diskutiert werden.
4.4.1.2 Naturgesetz und andere Gesetze 1. Das Naturgesetz wird von Thomas eingebettet in eine komplexe Struktur aus verschiedenen Gesetzesarten. Für jede Art von Gesetz gilt Thomas zufolge, dass es „eine Anordnung der Vernunft [ist] im Hinblick auf das Gemeinwohl, erlassen und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat“.²⁷⁷ Jedes Gesetz hat dabei, wie auch die Tugenden, die menschliche Glückseligkeit im Sinne des guten Lebens zu seinem Ziel, dies jedoch stets unter der Perspektive auf das Gemeinwohl (bonum commune), denn da „jeder Mensch Teil des bürgerlichen Gemeinwesens ist, kann der Mensch unmöglich gut sein, wenn er nicht dem Gemeinwohl gerecht wird“.²⁷⁸ Das Spezifische des Naturgesetzes kann durch dessen Abgrenzung von den anderen Arten von Gesetzen bei Thomas, nämlich dem ewigen und dem menschlichen (positiven) Gesetz, herausgestellt werden. Das göttliche positive Gesetz, das heißt die in der Bibel geoffenbarten besonderen Gebote Gottes, sei aufgrund seines gänzlich und ausdrücklich theologischen Charakters hier beiseite gelassen. 2. Das ewige Gesetz (lex aeterna) ist Thomas zufolge die vernünftige Ordnung (ratio) der göttlichen Vorsehung (providentia). Diese bestimmt die gesamte Schöpfung (als vollkommene Gemeinschaft verstanden) und richtet sie auf Gott als ihr Ziel und höchstes Gut aus (Sth I – II q. 91 a. 1c). Bereits an dieser Bestimmung wird erkennbar, dass Thomas mit diesem Theoriestück eine metaphysisch-theologische Perspektive einnimmt.²⁷⁹ Die lex aeterna ist dabei zwar einerseits ewig, sofern man sie als göttliche Vernunft selbst ansieht, andererseits aber hat sie auch einen engen Bezug auf die zeitlichen und geschichtlichen Abläufe, indem sie nicht nur die Ordnungsstruktur der göttlichen Ideen und der Essenzen der endlichen Dinge beinhaltet, sondern auch existenziell das aktuale Streben der Geschöpfe beeinflusst (Sth I – II q. 93 a. 1c).²⁸⁰ Dass die lex aeterna hierbei als Gesetz auch in Hinsicht darauf anzusprechen ist, dass es sich bei ihr um eine den
Sth I – II q. a. c: „quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata.“ Sth I – II q. a. ad : „cum igitur quilibet homo sit pars civitatis, impossibilie est quod aliquis homo sit bonus, nisi sit bene proportionatus bono communi.“ Cf. hierzu erneut Kluxen (, ). Cf. auch Sth I q. a. c.
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Handlungen auferlegte Vernunftregel handelt, liegt daran, dass Gott vermittelt über das ewige Gesetz als Herrscher bzw. Lenker (gubernator) seiner Schöpfung bestimmt werden kann. Bekannt gegeben (promulgiert) wird das ewige Gesetz auf doppelte Weise. Das Vernunftgeschöpf erfasst es einerseits im Glauben durch das ‚ewige Wort‘, andererseits aber in Form „einer gewissen Einstrahlung [irradiatio] und Teilhabe am ewigen Gesetz [quaedam irradiatio et participatio legis aeternae]“, das heißt – wie schon bei Augustinus, den Thomas hier aufgreift – in Gestalt des allen vernünftigen Wesen gemeinsamen Naturgesetzes (lex naturalis) (Sth I – II q. 93 a. 2c). In dieser ‚Einstrahlung‘ wird das ewige Gesetz allerdings vom vernünftigen Geschöpf nicht so erkannt, wie es in und an ihm selbst ist, was nur den Seligen und Gott selbst zukommt. Denn Thomas zufolge ist es der natürlichen menschlichen Vernunft nicht möglich, „die eigentümliche Kenntnis jeder Wahrheit, die in Gottes Weisheit beschlossen ist [cuiuslibet veritatis propria cognitio, sicut in divina sapientia continetur]“, zu erlangen (Sth I – II q. 91 a. 3 ad 1). Als Naturgesetz besteht die natürliche Teilhabe des Vernunftgeschöpfs am ewigen Gesetz nur in der Kenntnis allgemeiner Prinzipien, mittels derer der Mensch jedoch immerhin eine Regel (regula)²⁸¹ zur Hand hat, die ihn in die Lage versetzt, sowohl „für sich und andere ‚vorsehen‘ [providere]“ zu können als auch zu „unterscheiden,was gut und böse ist“ (Sth I – II q. 91 a. 2c). Diese Unvollkommenheit qua Allgemeinheit ist auch der Grund dafür, weshalb die lex aeterna nicht unmittelbar handlungsleitend ist, sondern eine metaphysisch-theologische Ausdeutung der Erfahrung moralischen Handelns darstellt.²⁸² Übrigens hat auch das unvernünftige Geschöpf durch die in diesem eingeschriebenen und es in seinem Streben bestimmenden natürlichen Neigungen (naturales inclinationes) am ewigen Gesetz teil, durch die es von Gott regiert wird (Sth I – II q. 93 a. 5c).²⁸³ 3. Das Naturgesetz als Teilhabe am ewigen Gesetz ist somit dem Menschen als Vernunftwesen spezifisch und umfasst die allgemeinsten Handlungsprinzipien²⁸⁴ der menschlichen praktischen Vernunft.Wie schon Albertus Magnus konzipiert Thomas diese Prinzipienstruktur der praktischen Vernunft in direkter Analogie zu derjenigen der theoretischen Vernunft,²⁸⁵ denn wie dieser ist auch Thomas der Ansicht, dass sich „Gebote des Naturgesetzes […] zu der praktischen Vernunft ebenso [verhalten], wie die ersten Prinzipien der Demonstrationen sich zur spekulativen Vernunft verhalten; beide nämlich sind gewisse durch sich selbst bekannte Prinzipien“.²⁸⁶ In Analogie zum Widerspruchs-
Cf. zum Regel-Charakter des Gesetzes und speziell des Naturgesetzes Schröer (, ). Cf. Kluxen (, ). Man erkennt hier die metaphysisch-theologische Figur wieder, die bei Philipp und Albert den normativen Rahmen gebildet hatte. Die jedoch, wie sich unten zeigen wird, deshalb noch nicht unmittelbar konkret handlungsleitend sind. Hierin liegt überdies eine gegen Averroes und dessen These, dass die Vernunft des Einzelmenschen lediglich eine Instantiierung der allen gemeinsamen Allvernunft wäre, gerichtete Spitze. Sth I – II q. a. c: „Praecepta legis naturae hoc modo se habent ad rationem practicam, sicut principia prima demonstrationum se habent ad rationem speculativam, utraque enim sunt quaedam principia per se nota.“ – Die gesamten folgenden Interpretationen beziehen sich auf diesen in der Forschung sehr häufig diskutierten Passus.
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prinzip der theoretischen Vernunft, das deren ersten Grundsatz darstellt, lautet daher das erste und höchste Grundprinzip der praktischen Vernunft (primum principium practicum),²⁸⁷ dass das Gute zu tun, das Schlechte hingegen zu meiden ist (bonum est faciendum, malum est vitandum).²⁸⁸ Gehabt werden das ppp sowie gewisse weitere natürliche praktische Prinzipien, deren Bestimmtheit und Bestimmungsgrund weiter unten deutlicher herausgearbeitet wird, vom Handelnden im natürlichen Habitus der Synderesis, wie auch umgekehrt der intellectus principiorum die letzten unbeweisbaren Prinzipien der theoretischen Vernunft enthält, und wie dieser mehrere Momente umfasst, so auch jene. Die Unbeweisbarkeit und Unhintergehbarkeit dieser rationalen Prinzipien – im praktischen wie spekulativen Sinne – wird von Thomas mittels einer zentralen aristotelischen Unterscheidung erläutert, die sich auf die ‚Durch-sich-selbst-Bekanntheit‘ von Prinzipien bezieht; so gibt es ‚durch sich selbst bekannte‘ Prinzipien (principia per se nota), die schlechthin durch sich bekannt (simpliciter per se nota) sind, und zwar insofern, als bei diesen Prinzipien innerhalb ihrer Urteilsstruktur das Prädikat der Aussage im Subjekt enthalten ist. Andererseits können solcherart schlechthin durch sich bekannte Prinzipien auch für uns (quoad nos) bekannt sein, sofern im entsprechenden Fall die Subjekt- und Prädikatstermini jedermann bekannt sind,was jedoch nicht mit Blick auf alle schlechthin bekannten Prinzipien der Fall sein muss. In jedem Fall jedoch enthält das Naturgesetz, zumindest auf seiner höchsten und allgemeinsten Ebene, Prinzipien, die sowohl an sich als auch für uns bekannt sind. Derartige Prinzipien, die Thomas mit Boethius ‚dignitates (Vorrangsätze)‘ oder ‚propositiones per se notae (durch sich bekannte Sätze)‘ nennt, sind somit hinsichtlich ihrer ‚Durch-sich-Bekanntheit‘ doppelt gegründet: Objektiv (schlechthin) sind sie aufgrund der Analytizität des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat, subjektiv (quoad nos) hingegen durch die unmittelbare und allgemeine (kommune) Erfasstheit der analytischen Termini durch sich bekannt. Es erhellt, dass es vor allem der subjektive Charakter dieser durch sich bekannten Propositionen ist, der weiterer Erläuterungen bedarf.²⁸⁹ 4. Diese subjektive Dimension, welche dem ppp sowie den ‚dignitates‘ zukommt, wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass Thomas im vorliegenden Kontext mit dem Begriff der Erfassung (apprehensio) operiert. So argumentiert Thomas mit Blick auf die spekulative Vernunft mit der ersten und schlechthinnigen Erfassung (apprehensio simpliciter), die allen anderen apprehensiones zugrunde liegt, indem ihr Gegenstand das Seiende (ens) ist. Daraus folgert er unter Auslassung eines bei Aristoteles vorgenommenen Zwischenschritts – dass sich nämlich aus der Erfassung des Seienden die
Im Weiteren abgekürzt als ppp. Hier und im Folgenden schließt sich der Verf.weitestgehend der einschlägigen Rekonstruktion des Naturgesetzes durch Kluxen an, die dieser vor allem in Kluxen (, – ), sowie in Kluxen () gegeben hat. Es ist diese Durch-sich-Bekanntheit, die die Allgemeingültigkeit der sittlichen Grundprinzipien unabhängig von spezifischen religiösen Überzeugungen und ebenso die Möglichkeit einer eigenständigen wissenschaftlichen Ethik eröffnet und zugleich die Autonomie des auf sie gegründeten Handelns bedingt.
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Unmöglichkeit ergebe, dass etwas zugleich sein und nicht sein könne (Met. III 1005b 29) – weiter auf das erste Prinzip der theoretischen Vernunft, welches darin besteht, dass man nicht dasselbe zugleich affirmieren und negieren könne. Es handelt sich hierbei um ein universales, aber zugleich auch abstraktes Prinzip, welches jedoch die jeweilige Einzelerfassung von konkretem Seienden erst ermöglicht. Analog²⁹⁰ verhält es sich nun im Bereich der praktischen Erfassung (apprehensio practica). Hier ist es das schon genannte abstrakte und universale ppp, über das alle anderen Prinzipien oder ‚praecepta‘ der praktischen Vernunft ihre – noch genauer zu analysierende – normative Fundierung erfahren und das das jeweiliges Streben nach einem konkreten Guten erst ermöglicht.²⁹¹ 5. Das Bisherige hat eine Antwort auf die Frage nach der Einheit der lex naturalis entwickelt: Das Naturgesetz ist eines in dem Maße, wie jede konkrete Vorschrift (praeceptum) unter der Einheit des ppp enthalten ist, indem es durch dieses seine normative Fundierung erfährt. Indes bleibt die Frage nach der Pluralität bzw. der Vielheit der in dieser allgemeinsten Struktur enthaltenen durch sich bekannten Prinzipien bislang unbeantwortet. Die Wendung hin zu dieser Problematik stellt eines der schwierigsten und am meisten diskutierten Stücke der thomasischen Lehre von der lex naturalis dar.²⁹² Thomas stellt zunächst fest, dass aus dem Gesagten sich ergebe, dass – sofern dem Guten der Begriff des Zieles (ratio finis) entspreche – all das, wozu der Mensch eine natürliche Neigung (naturalis inclinatio) aufweist, das heißt was als finis einer solchen zu begreifen ist, von der praktischen Vernunft in natürlicher Weise als ein Gut (ut bonum) und folglich als zu Verfolgendes oder zu Tuendes, mithin als Vorschrift (praeceptum) erfasst wird. Da innerhalb dieser inclinationes naturales eine gewisse Ordnung festzustellen ist, entspricht dieser auch die Ordnung der Gebote des Naturgesetzes. Die genannte Ordnung der inclinationes entspringt dabei der Stufenfolge innerhalb der allgemeinen Seinsordnung, an der der Mensch teilhat. So gibt es in ihm eine Ebene natürlichen Strebens, die er mit jedweder Substanz teilt und die sich im Streben nach Erhaltung im Sein artikuliert. Desweiteren teilt der Mensch mit den vernunftlosen Wesen das Streben nach Erhaltung der Art, das heißt nach Paarung und Fortpflanzung. Schließlich gibt es eine genuin
Mit dem Folgenden nimmt der Verf. etwas andere Akzentuierungen als Kluxen in dessen Lektüren vor, um stärker als dieser das Moment subjektiver Erfassung der Handlungsprinzipien, auf das noch im Schlusskapitel zu vorliegender Studie einzugehen sein wird, zu betonen. Die folgenden Lektüren stellen auch eine Kritik am Vorgehen Wilhelm Korffs und Franz-Josef Bormanns dar. Diese haben Thomas vorgeworfen, seine naturgesetzlichen Prinzipien in einem bloß ‚intuitionistischen‘ und damit ‚obsoleten Modell‘ (cf. Bormann [, ]) aufgefunden zu haben; die Prinzipien stellten bloße „Urevidenzen“ (Korff [, ]) dar und müssten deshalb um die „ethisch relevanten anthropologischen Einsichten, wie sie die modernen Humanwissenschaften mehr und mehr bereitstellen“, erweitert werden.Wie im Folgenden und auch im Schlusskapitel zur vorliegenden Arbeit dagegen gezeigt werden soll, verliert das thomasische Naturgesetz genau dann seine handlungstheoretische Bedeutung als universales Grundprinzip von sittlicher Normativität, wenn ihm sein Charakter der recht verstandenen ‚Urevidenz‘ genommen wird. Cf. Kluxen (, ). Cf. zur Übersicht Bormann (, – ).
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menschliche, das heißt vernünftige Grundstrebung nach Erkenntnis sowie nach einem Leben in menschlicher Gemeinschaft. 6. Mit Blick auf diese Grundstrebungen im Menschen und die entsprechenden naturgesetzlichen Prinzipien ist erstens festzuhalten, dass sie ihrerseits nochmals für eine gewisse Pluralität offen sind; auch sie sind noch ganz allgemein, nicht unmittelbar handlungsleitend und bedürfen daher der Konkretion.²⁹³ Diese Konkretion, so wird sich im Weiteren noch deutlicher zeigen, wird hauptsächlich von den Tugenden als inneren, aber auch von den positiven menschlichen Gesetzen als äußeren Handlungsprinzipien geleistet. Zweitens ist zu sagen, dass es sich mit den auf die verschiedenen Lagen natürlicher Neigungen bezogenen Prinzipien der ‚Selbstgesetzgebungsstruktur‘ der menschlichen praktischen Vernunft²⁹⁴ ähnlich verhält wie oben mit Blick auf das ppp selbst: Bezieht dieses sich auf das allgemeine Streben des Wesens nach dem Guten überhaupt,²⁹⁵ so handelt es sich bei den partikulären naturgesetzlichen Vorschriften um natürlicherweise gehabte Prinzipien, die nochmals auf eine grundlegende ontologische Struktur, eben die seinsmäßigen natürlichen Neigungen, verweisen und auf diese in ihrer Konstitution auch angewiesen sind. In ihrer Konkretion weisen sie dabei zwar nicht mehr diejenige Allgemeinheit auf, die dem ppp eignete; dennoch partizipieren sie an diesem hinsichtlich ihrer Normativität. Drittens kann noch folgende Beobachtung notiert werden: Indem einerseits dem Menschen eine eigentümlich vernünftige Strebung nach Erkenntnis und Geselligkeit zukommt, andererseits aber das Naturgesetz als Ganzes eine Struktur der Vernunft ist, die somit das Ziel der erstgenannten spezifischen Neigung nochmals ut bonum, also als Vernunftprinzip, erfasst, kann in gewissem Sinne von einer ‚doppelten Vernünftigkeit‘ des Menschen bei Thomas gesprochen werden. 7. Eigens zu betonen ist der universale Charakter der naturgesetzlichen Normen für alle Menschen in dem Sinne, dass, wie Thomas im vierten Artikel derselben Quaestio (Sth I – II q. 94 a. 4c) herausstellt, in der Tat auch jeder Mensch als handlungsfähiges Vernunftwesen über diese Grundstruktur verfügt und sie auch prinzipiell einzusehen in der Lage ist, wenngleich auch schlechte Umgangsformen und mangelnde Bildung dieser Einsicht erschwerend und sie hindernd entgegenstehen können. Zugleich gelten die dargestellten obersten naturgesetzlichen Prinzipien in jedem Fall. Nicht so verhält es sich Thomas zufolge jedoch mit den allgemeinen Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Naturgesetzesprinzipien ergeben. Diese sind in dem Sinne nicht allgemein,
Cf. Pesch (, ). Cf. auch Virt (, ): „Es hat sich gezeigt, dass nach Thomas das natürliche Gesetz ohne conclusio oder determinatio überhaupt keine vollständige Handlungsregel darstellt, sondern eher ein Regulativ für die Gewinnung von Handlungsregeln oder, mit anderen Worten, eine superior regula humanorum actuum […].“ Cf. dort auf p. auch das thomasische Normbegründungsmodell. Cf. zu dieser Begrifflichkeit im vorliegenden Kontext etwa Merks (, ). Cf. auch Sth I , ad : Thomas erwähnt hier, dass das grundlegende natürliche Streben eines Wesens nicht primär bloß die Befriedigung partikulärer inclinationes avisiert, sondern vermittelt über diese unmittelbar das dem Wesen als ganzen Zuträgliche.
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dass sie nicht immer schon von allen Menschen gezogen worden sind, und überdies gelten sie auch als gezogene nur ‚ut in pluribus‘, das heißt in den meisten, nicht aber allen konkreten Fällen.²⁹⁶ Der Grund hierfür liegt jedoch ähnlich wie bei Albert nicht in der Schlussfolgerungsstruktur als solcher, sondern in der Tatsache, dass die Fälle, auf die die allgemeinen Konklusionen anzuwenden sind, also die jeweiligen Handlungssituationen,²⁹⁷ aufgrund ihrer Konkretheit dieser Allgemeinheit sich verweigern. Was Thomas hier als ‚defectus‘, also als ein Nicht-vorhanden-sein im weitesten Sinne von natürlichen Bestimmungen bezeichnet, kann man jedoch auch als eine Notwendigkeit der Sache deuten, sofern die Konkretheit der jeweiligen Handlungssituation per se die Allgemeinheit der genannten Handlungsprinzipien in ihrer Anwendbarkeit gleichsam unterminiert.²⁹⁸ Dies wird weiter unten im Abschnitt über die Umstände der Handlung (circumstantia) noch näher zu untersuchen sein. 8. Die Grundlagenebene des Naturgesetzes, welches in epistemischer Hinsicht die prinzipielle Grundstruktur der praktischen Vernunft ist, beruht somit in ontologischer Hinsicht auf den dem Menschen jeweils, das heißt als je einzeln Existierendem, zu Cf. Sth I – II q. a. c und c. – Ein Beispiel für diese Sachlage ist etwa der Dispens vom Tötungsverbot in dem Fall, dass eine Person der Gemeinschaft, als deren natürlichen Teil Thomas sie auffasst, gefährlich wird. Cf. Sth II – II q. a. c sowie die Ausführungen weiter unten. Wolfgang Kluxen (Kluxen [, – ]), hat in Nachfolge zu Dietrich von Hildebrand (von Hildebrand []) eine knappe, aber markige Kritik an einer „reinen Situationsethik“ geübt: „Den Einzelfall selbst, der sich dem Zugriff der wissenschaftlichen Erkenntnis wesentlich entzieht, so sehr zum Angelpunkt der moralischen Betrachtung zu machen, dass seine in der Allgemeinheit wissenschaftlichen Verstehens unfassbare Einmaligkeit zur Negation der Bedeutung des Allgemeinverstehens überhaupt ausgemünzt wird – das heißt nicht mehr, einen besonderen Stil der Ethik entwickeln, sondern Ethik überhaupt verneinen.“ Immerhin gesteht Kluxen dem „situationsethischen Hinweis auf die letzte Maßgeblichkeit der wirklichen Einzelheit des zu Tuenden“ insofern eine Berechtigung zu, als sie als Regulativ gegen eine Vorgehensweise fungieren kann, „die das im Praktischen anwesende Gemeinsame, das sich als Allgemeines in der Wissenschaft Zeigende, derart ausschließlich für das Maßgebliche und Bestimmende hielte, dass die Individualität des Einzelnen nur noch als ‚Fall‘ des Allgemeinen übrigbliebe.“ Abgesehen einmal davon jedoch, inwieweit sich überhaupt ein Vertreten einer so verstandenen reinen Situationsethik finden ließe, ist hierauf zu erwidern, dass – wie in diesem Kapitel noch eingehender zu zeigen sein wird – in der Gestalt des Naturrechts oder des Phänomens der Epieikia durchaus Beispiele auftreten, wo gerade der Einzelfall als solcher eine Normativität beansprucht, die ihm gerade nicht vom ‚Gemeinsamen‘ her, sondern in Absetzung zu diesem eignet. Überdies gibt es in der hier untersuchten Struktur insgesamt die Stelle dessen, was man die ‚Normativität der Situation‘ nennen könnte, und zwar in dem Maße, als der Tugend der Klugheit mehr Aufgaben als das bloße Subsumieren der konkreten Handlungssituation unter das Allgemeine zukommen sollen. – Cf. zum dargestellten Problem auch den Beitrag von Heinrich Beck (Beck [], – ); dieser Autor schlägt vor, beide Hinsichten, also den normethischen Bezug aufs Allgemeine auf der einen Seite und den situationsethischen aufs Besondere auf der anderen, unter der Perspektive einer ‚Seinsethik‘ zu synthetisieren. Cf. Sth I – II q. a. c. – Cf. hierzu auch Virt (, ): „Die Fehlerquelle liegt einmal im Gegenstand der praktischen Vernunft selbst, nämlich dem Handeln, das sich auf das Besondere in ganzer Konkretheit bezieht. Die Handlungsbedingungen in ihrer Gänze sind für die Vernunft unabsehbar. Sie unterliegen darüber hinaus auf Grund des Entstehens und Vergehens der Naturen Störungen, die den normalen Lauf der Dinge hemmen und unvorhergesehene Reaktionen nötig machen.“
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kommenden und ihn natürlicherweise konstituierenden natürlichen Neigungen oder Strebungen. Diese sind wie das Naturgesetz selbst einerseits allen Menschen natürlicherweise gemeinsam (commune); andererseits aber sind sie und die entsprechenden naturgesetzlichen Prinzipien zwar nicht in der ‚Kommunität‘ ihres Zukommens, wohl aber der ihres Anwendungsbereichs unterbestimmt (obzwar schon konkreter als das ppp) und bedürfen weiterer Konkretisierung, um überhaupt eine handlungsrelevante Normativität innehaben zu können. Im vorliegenden Kontext des Gesetzesbegriffs benennt Thomas als eine Art dieser Konkretisierung in Anlehnung an Albert das menschliche (positive) Gesetz. Aber etwas anders als bei Albert besteht die Funktion des positiven Gesetzes für Thomas vor allem darin, die dem Menschen natürliche Veranlagung zur Tugend durch „disciplina“, was man mit ‚Bildung‘ übersetzen kann, durch die allein diese Anlage auch vollendet werden kann, zu realisieren.²⁹⁹ Hierbei ist auch Thomas der Auffassung, dass es ein ungerechtes, das heißt dem Naturgesetz widersprechendes positives Gesetz nicht geben kann, weil in diesem Fall das Gesetz seinen Gesetzescharakter verliert, ein ungerechtes Gesetz mithin überhaupt kein Gesetz ist. Die Kraft des menschlichen Gesetzes (virtus legis), das heißt dessen normative Kraft, hängt von dessen Teilhabe am Naturgesetz ab; es ist daher durch dieses bedingt bzw. von diesem ‚abgeleitet‘ (derivari). Dies kann jedoch in zweifacher Weise verstanden werden: als Ableitung einmal per modum conclusionis, das heißt „wie die Konklusionen aus den Prinzipien“, ein andermal per modum determinationis, das heißt „wie eine nähere Bestimmung gewisser allgemeiner Sätze [sicut determinationes quaedam aliquorum communium]“.³⁰⁰ Beim modus conclusionis handelt es sich somit um streng notwendige, deduktiv gewonnene und daher letztlich in den allgemeinsten Prinzipien analytisch eingeschlossene Folgerungen der Art, wie „in den Wissenschaften die streng erwiesenen Folgesätze aus den Grundsätzen gezogen werden“, obgleich sie als Folgerungen erst gezogen werden müssen und daher nicht in der selben Weise durch sich bekannt sind wie die ihrerseits wie gesehen analytischen ersten Prinzipien selbst. Ein Beispiel für eine solche conclusio wäre etwa Thomas zufolge das Verbot: ‚Du sollst nicht töten‘, was sich aus dem Prinzip: ‚Du darfst niemandem ein Leid antun‘ ergibt.³⁰¹ Beim modus determinationis hingegen ähnelt das Verhältnis zwischen Grundprinzip und Folge eher der Struktur der Umsetzung einer allgemeinen Idee zu einem konkreten Objekt im Bereich der Kunst (ars); „so muss der Künstler die allgemeine Form ‚Haus‘ zu dieser oder jener Form des Hauses hin bestimmen [sicut artifex formam com Cf. Sth I – II q. a. c. – Man erkennt hieran, dass bei Thomas in der Tat von einer moralischen und ethischen Präponderanz der Tugend gesprochen werden kann. Die positiven Gesetze stehen ausdrücklich im Dienst der Ausbildung der Tugendhaftigkeit des Menschen und haben damit dessen gutes Leben im Blick. Cf. Sth I – II q. a. c. Dies resultiert für Thomas aus der natürlichen Neigung des Menschen, in Gemeinschaft zu leben. – Thomas gibt insgesamt nur wenige Beispiele für derartige strenge Schlussfolgerungen. Autoren wie Pesch () und Porter () haben dies darauf zurückgeführt, dass die eigentlich inhaltlichen Vorschriften des Naturgesetzes allesamt – theologisch – dem Dekalog entspringen und der göttlichen Offenbarung bedürfen, das Naturgesetz auf seiner inhaltlichen Ebene mithin moraltheologisch statt moralphilosophisch zu verstehen sei.
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munem domus necesse est quod determinet ad hanc vel illam domus figuram]“. Daher wäre ein Beispiel für diese Art des Abgeleitetseins eines positiven aus dem natürlichen Gesetz nicht zwar die (für sich selbst naturgesetzliche) Forderung nach einer Bestrafung eines Übeltäters, wohl aber die Frage nach dem jeweiligen angemessenen Strafmaß. Da nicht unmittelbar durch Konklusion aus dem Naturgesetz gewonnen, hat ein derartiges positives Gesetz seine verpflichtende Kraft (vigor), wie Thomas darlegt, allein aus menschlicher Setzung, das heißt aus Konvention, und nicht aus dem Naturgesetz. Beide Weisen der Ableitung obliegen aus handlungstheoretischer Sicht der Klugheit, die im dritten Teil des vorliegenden Kapitels eingehender untersucht werden wird. – Werden die beiden Modi als eine der Möglichkeiten aufgefasst, Arten des positiven Gesetzes zu unterscheiden, so entspricht aus dieser Perspektive das per modum conclusionis gewonnene positive Gesetz dem Völkerrecht (ius gentium), das unter anderem im Dekalog enthalten ist. Das per modum determinationis gewonnene positive Gesetz hingegen entspricht dem bürgerlichen Recht (ius civile).³⁰² Da das menschliche Gesetz sich in jedem Fall auf die bürgerliche Gemeinschaft bezieht, in der die Menschen durch äußerliche Akte aufeinander bezogen sind, nicht jedoch auf seine inneren Regungen, deren Lenkung vielmehr dem ewigen Gesetz obliegt, kommt dem Gesetz auch lediglich die Regelung dieser Akte und als Ziel bloß die Erlangung einer irdischen, unvollkommenen Glückseligkeit zu.³⁰³
Fazit 1. Aus dem Bisherigen hat sich das thomasische Naturgesetz als allgemeinste Prinzipienstruktur herausgestellt, innerhalb dessen der Mensch sein ‚Seinkönnen‘³⁰⁴ realisieren kann. Auf der einen Seite ist die lex naturalis eine im natürlichen Habitus der Synderesis von allen Menschen gehabte, inhaltlich höchst allgemeine Struktur von Vernunftgrundsätzen. Auf der anderen Seite, nämlich in ontologischer Hinsicht, ist sie ein System von Grundneigungen, die ebenfalls allen Menschen gemeinsam sind und deren natürlichen Strebensziele sich die Vernunft im Naturgesetz als Güter vorsetzt. Dieses Sich-vorsetzen der Strebensziele kann als ein Akt der Selbstbestimmung der praktischen Vernunft beschrieben werden. Dass diese hiermit nicht zu einem bloßen ‚Ableseorgan‘ degradiert wird, das gleichsam bloß noch deduktiv auf Einzelfälle appliziert,³⁰⁵ was ihm durch die Natur vorgegeben wird, liegt vor allem daran, dass die natürlichen Neigungen sowie die ihnen entsprechenden naturgesetzlichen Grundprinzipien viel zu allgemein sind, um eine derartige ‚Ablesung‘ und Applikation zu ermöglichen. Menschliche positive Gesetze haben auf der Ebene der Gemeinschaft und die Tugenden auf der Ebene des Handlungssubjekts daher bei Thomas ähnlich wie
Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. zu diesem Begriff etwa Kluxen (, ). Cf. zu dieser Diskussion auch Bormann (, – ).
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schon bei Albertus Magnus die Funktion, dieses Defizit zu kompensieren und die nur ganz allgemeine und abstrakte Normativität des Naturgesetzes zu konkretisieren.³⁰⁶ 2. Weiterhin lässt sich feststellen, dass das Naturgesetz sich nur bedingt in den Kanon von Gesetzen einfügen lässt, den Thomas im Lex-Traktat aufstellt.³⁰⁷ So fällt auf, dass man es – jedenfalls innerhalb des philosophischen Diskurses³⁰⁸ – nicht wie die übrigen Gesetze in sinnvoller Weise als ein dem Handlungssubjekt äußerliches Prinzip aufstellen kann. Ebenso wenig ist es sinnvoll, von einem allgemeinen und ausschließlichen Bezug des Naturgesetzes auf das bonum commune zu sprechen, sofern dieser Bezug nur auf einer der drei Inklinationsebenen, nämlich der spezifisch menschlichen, und entsprechend auch nur in einem der drei grundlegenden Prinzipien anzutreffen ist.³⁰⁹ Das Letztgesagte positiv gewendet, ist es das spezifisch vernünftige Streben des Menschen, welches Thomas zufolge ihn befähigt, fremdes Wohl zu besorgen. Diese Struktur wird sich, wie unten gezeigt wird, so bei Thomas konsequent fortsetzen, dass er als Seelenvermögen, welches der Gerechtigkeit als auf fremdes Wohl bezogenen Tugend zugrundeliegt, den Willen als vernünftiges Strebevermögen (appetitus rationalis) benennt und damit zugleich die vermögenspsychologische Leerstelle füllt, die im aristotelischen Entwurf offen geblieben war.³¹⁰ *** Im Folgenden werden vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen die Gerechtigkeit als Tugend und die Tugend im Allgemeinen und daraufhin das Recht (ius) – insbesondere das Naturrecht (ius naturale) – als Objekt, von dem her die Gerechtigkeit ihre Spezifik erhält, untersucht.
Anzumerken ist eine stärkere Betonung des ‚pädagogischen‘ Charakters der positiven Gesetze bei Thomas, als dies bei Albert der Fall ist. Während, wie oben gesehen, die positiven Gesetze bei Albert eher die Funktion eines Regelwerks für den äußeren zwischenmenschlichen Umgang haben, orientiert sich Thomas mehr an ihrer ihnen schon von Aristoteles vindizierten Funktion, ‚die Bürger gut zu machen‘. In den Thomaskommentierungen der spanischen Spätscholastiker, am deutlichsten bei Gabriel Vázquez, wird sich dies dann dergestalt auswirken, dass das Naturgesetz zwar immer noch im Zusammenhang mit den anderen Gesetzen genannt, jedoch seinem Wesen nach deutlich von diesen abgehoben wird. ComSTh I – II (II), d. c.. Kluxen (, ), stellt dazu treffend fest, dass sich der Charakter des natürlichen Gesetzes als eines äußerlichen Prinzips, das dem Handelnden gleichsam gegenübersteht, „erst eigentlich aus der theologischen Einstellung [ergibt], in der die Gründung des Sittlichen in Gott und die über die Gründung hinausgehende, fortdauernde Leitung alles Tuns durch Gott bedacht wird“. Es bestünde jedoch die Möglichkeit, hier nicht ein bonum commune im Sinne des Gemeinwohls einer menschlichen Gemeinschaft anzusetzen, sondern – etwa vermittelt über die dritte Inklinationsebene – einen Bezug auf das universale Wohl der Schöpfung. Dieser metaphysische Aspekt könnte weiterhin in Bezug mit dem Teilhabecharakter des Naturgesetzes am ewigen Gesetz in Verbindung gesetzt werden. Ebenso konsequent wird später Jacob von Viterbo aus dieser Ausgangssituation folgern, dass auch die Freundschaft (amicitia), die – als vollkommene – ja ebenfalls auf fremdes Wohl geht, im Willen ihr subiectum findet.
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4.4.2 Gerechtigkeit als Tugend (virtus); das Naturrecht (ius naturale) 4.4.2.1 Tugend allgemein 1. Es hat sich gezeigt, dass zwar einerseits das Naturgesetz innerhalb des thomasischen Entwurfs als normative Grundstruktur der Sittlichkeit fungiert, jedoch an ihm selbst noch nicht hinreichend ist, um konkrete Handlungen in positiver Hinsicht sittlich zu qualifizieren. Auf handlungstheoretischer Ebene kommt die Funktion einer Vermittlung zwischen allgemeinsten naturgesetzlichen Prinzipien sowie der Einzelhandlung vielmehr den Tugenden zu, weshalb im vorliegenden Abschnitt genauer darauf einzugehen ist, wie Thomas die Tugenden in ihrer qualitativen Bestimmtheit und ihren Funktionen erläutert. 2. Wie Aristoteles ist Thomas der Ansicht, dass eine Tugend als guter Habitus im Sinne eines dem Handelnden innerlichen Prinzips guten Handelns aufzufassen ist.³¹¹ Ontologisch sind die Tugenden damit wie auch bei Aristoteles verortet zwischen dem Seelenvermögen (potentia animae) einerseits und der tatsächlichen Handlung (actus) andererseits. Die Funktion von Tugenden bestimmt Thomas, hierin von Aristoteles abweichend, dahingehend, menschliche Handlungen dadurch ‚recht (rectus)‘ zu machen bzw. ihnen ‚Rechtheit‘ (rectitudo) zu verleihen, dass sie diese, das heißt die Handlungen, an eine Regel (regula) der praktischen Vernunft und damit letztlich an das Rahmengefüge des Naturgesetzes angleicht.³¹² Zugleich besteht in dieser Perspektive bereits ein erster von mehreren Aspekten, die die Tugenden bestimmen und zugleich voneinander zu unterscheiden erlauben. Wie schon Albert spricht Thomas dabei zunächst davon, dass Tugenden verschiedene ‚Objekte‘ haben, das heißt unterschiedliche Artbestimmtheiten von ‚Rechtheit‘, die sie den konkreten Handlungen verleihen, die durch die jeweiligen Tugenden in Gestalt ihrer besonderen Tugendmitten anvisiert und diesen gemäß hervorgebracht werden.³¹³ Thomas nennt diese Bestimmtheitshinsicht auf Tugenden auch deren ‚materia circa quam‘, das heißt den Stoff, in Bezug worauf die Handlung erfolgt.³¹⁴ Auf dieser so verstandenen ‚objektiven‘ Ebene kommt dann jene Unterscheidung zwischen dem Bezug auf eigenes und auf fremdes Wohl zum Tragen. So führt Thomas aus, dass einige Tugenden, etwa die Mäßigung (temperantia), ihren Inhaber in Bezug auf die ihn selbst betreffenden Leidenschaften ordnen, wobei der Fokus darauf liegt, was im Umgang mit diesen für diesen Inhaber selbst gut ist, das heißt ein nach der Tugendmitte als der genannten
Sth II – II q. a. c: „Omnis virtus sit habitus qui est principium boni actus.“ – Zur Charakterisierung des Habitus im Allgemeinen und speziell innerhalb der Struktur der moralischen Handlung bei Thomas cf. Darge (). Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. mit Blick auf die objektive Bestimmung der Handlungen auch Sth I – II q. a. c: „Sicut autem res naturalis habet speciem ex sua forma, ita actio habet speciem ex obiecto; sicut et motus ex termino.“ Cf. Sth I – II q. a. ad .
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objektiven Rechtheit ausgeglichenes Selbstverhältnis.³¹⁵ Dem stehen Tugenden gegenüber, die ihren Inhaber primär und prinzipiell auf das Gut des Anderen (fremdes Wohl, das heißt anderes Wohl als das des Handelnden selbst) beziehen. Dies ist unter anderem bei der Gerechtigkeit der Fall, welche auf einen Ausgleich zwischen jemandem und dem, was ihm zukommt, abzielt.³¹⁶ 3. Ein weiteres Moment, in Hinsicht worauf die Tugenden voneinander unterschieden werden können, sind ihre jeweiligen Träger bzw. ihre ‚Subjekte‘ (subiecta), also die unterschiedlichen Seelenvermögen, in denen die Tugenden ihre Substanz oder ‚materia in qua‘ finden.³¹⁷ In Bezug auf diese spielen die Tugenden wie die Habitus allgemein die Rolle einer teilweisen Vervollkommnung im Sinne einer ersten Verwirklichung (actus primus).³¹⁸ Wie Aristoteles betont Thomas dabei, dass, da im vorliegenden Kontext die Frage nach den menschlichen Tugenden steht, als deren im Rahmen von Ethik und Moraltheologie interessierende Träger entsprechend auch bloß spezifisch menschliche subiecta in Betracht kommen, das heißt das genuin rationale Seelenvermögen selbst sowie solche, die, obzwar nicht an ihnen selbst ratio, so doch der Vernunft Folge zu leisten in der Lage sind. Sofern diese keine primär auf das Sein (ad esse), sondern auf das Handeln (ad agere) ausgerichtete Vermögen sind, handelt es sich umgekehrt bei den diese vervollkommnenden Tugenden um habitus operativi, also um handlungsbezogene Habitus.³¹⁹ Funktion der Tugend ist es somit, das an ihm selbst aufgrund seines vernünftigen Charakters nicht schon auf eine bestimmte Handlungsrealisierung festgelegte Seelenvermögen auf eine gute Handlung (als Objekt) hin auszurichten.³²⁰ Als verschiedene Arten von subiecta nennt Thomas 1. den appetitus sensibilis, also das sinnliche Strebevermögen, das durch sittliche Tugenden wie Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia) vervollkommnet wird, 2. die praktische Vernunft (ratio practica), in der die Klugheit (prudentia) ihren Sitz hat, 3. die spekulative Vernunft (ratio speculativa) als Träger der intellektuellen Tugenden Weisheit (sapientia), Wissen (scientia) und Einsicht (intellectus), und schließlich 4. den Willen (voluntas) als appetitus rationalis oder genuin rationales Streben; dieser ist wie bereits erwähnt Subjekt der Gerechtigkeit. Die Teilhabe des Willens an der Rationalität ist hierbei Thomas zufolge die Grundlage dafür, dass die Gerechtigkeit einen Bezug auf fremdes Wohl herzustellen in der Lage ist. Dies nämlich setzt eine Erfassung von Proportionalitäten voraus, in denen Menschen zueinander stehen können und in Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. zudem Sth II – II q. a. c: „iustitiae proprium est inter alias virtutes ut ordinet hominem in his quae sunt ad alterum.“ Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. Sth I – II q. a. c. – Die Deutung der Tugend qua operativem Habitus (habitus operativus) als einem ersten Akt bzw. einer ersten Verwirklichung (actus primus) ergibt sich durch einen Vergleich von Thomas’ Ausführungen zum Verhältnis des Habitus des Wissens (scientia) zum möglichen Intellekt (intellectus possibilis) in De unitate intellectus, cap. : „habitus scientiae est actus primus ipsius intellectus possibilis, qui secundum hunc fit actu et potest per seipsum operari.“ Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. Sth I – II q. a. c.
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Bezug auf die Ausgleichsverhältnisse etabliert werden müssen, welche Erfassung eben der Vernunft – im Gegensatz zum sinnlichen Streben – eigentümlich ist.³²¹ Deshalb und weil überdies, wie Thomas mit Albert festhält, der Wille zugleich dasjenige Vermögen ist, das die anderen Seelenvermögen und Tugenden im Sinne einer effizienten Ursache dem Befehl (imperium) der Vernunft folgend bewegen kann,³²² kann diejenige Gerechtigkeit, die den Einzelnen auf das Gemeinwohl bezieht und im Kontext der vorliegenden Studie von besonderem Interesse ist, nämlich die Gesetzesgerechtigkeit (iusitia legalis), die Vermögen und Tugenden für ihre eigenen Zwecke einsetzen und auf diese hin ausrichten (ordinare), und zwar sowohl dergestalt, dass der Fürst seine Untergebenen lenkt, als auch so, dass diese solcher Lenkung Folge leisten.³²³ 4. Als weiterer Aspekt der Bestimmtheit der Tugenden tritt deren Ziel (finis) in den Blick, welches die Tugenden als operative Habitus avisieren und in dessen Realisierung ihre jeweilige Bestimmung ihren Abschluss findet. Dieses Ziel ist einerseits nichts anderes als die jeweils konkrete gute und tugendhafte Handlung; andererseits ist das letztliche Endziel allen Handelns und daher auch der Tugenden das gute Leben selbst, zu dem gute Handlungen führen. Die Einzelhandlung, die sich hier und jetzt innerhalb des vorgegebenen objektiven Tugendrahmens vollzieht, aber auch das gute Leben als ganzes stellt dabei für die Seelenvermögen, in denen die Tugenden als Habitus und erste Vervollkommnungen ihren Sitz haben, als deren über die Tugend vermittelten ‚zweiten Akte‘ (actus secundus) die endgültige Vervollkommnung dar. Mit Blick vor allem auf die Einzelhandlung jedoch ist festzuhalten, dass die Tugend für diese und die Frage nach ihrer guten oder schlechten Bestimmtheit zwar ‚objektiv‘, das heißt im spezifischen Sinne notwendig bestimmend ist, diese spezifische Bestimmtheit jedoch erneut noch nicht hinreicht, um die sittliche Qualität der konkreten Einzelhandlung im Vollsinn zu charakterisieren, und zwar deshalb, weil innerhalb der thomasischen Handlungstheorie hierfür auch die Umstände der Handlung (circumstantiae) eine entscheidende Rolle spielen.³²⁴ Auf diese wird in einem späteren Abschnitt, in dem zugleich die Charakteristik und Funktion der Klugheit (prudentia) untersucht wird, eingegangen werden.
4.4.2.2 Arten von Gerechtigkeit; Gerechtigkeit, Naturrecht, Naturgesetz 1. Nach diesen allgemeinen Anmerkungen zur thomasischen Tugendlehre sowie ersten Vorgriffen auf Thomas’ Handlungstheorie kann nunmehr zunächst detaillierter auf Thomas’ Gerechtigkeitstheorie eingegangen werden. Als Ausgang sollen dabei die verschiedenen Gerechtigkeitsarten dienen, die Thomas aus Aristoteles übernimmt und die durch die jeweilige Bestimmtheit des fremden Guts (bonum alienum) unterschieden werden, auf das der jeweilige Gerechtigkeitstyp abzielt, also nicht durch Ziel oder su
Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth I q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. . Cf. Sth I – II q. a. c.
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biectum, sondern durch die unterschiedliche Bestimmtheit des objektiven Moments. Hierbei ist es für Thomas gleichgültig, ob der Inhaber der Gerechtigkeit selbst oder ein Dritter diesem Anderen angeglichen werden soll. Das fremde Wohl kann in zweifacher Weise verstanden werden. [1] Zunächst als das fremde Wohl einer Einzelperson, was wiederum zweierlei Möglichkeiten beinhaltet. (a) Das gerechte Ausgleichsverhältnis kann zwischen einzelnen Menschen als Teilen einer Gemeinschaft herzustellen sein. Die entsprechende Gerechtigkeitsform ist dann die kommutative (iustitia commutativa). Oder (b) ein einzelner Mensch wird in ein ausgeglichenes Verhältnis zum Gemeinwohl (bonum commune) einer Gemeinschaft, deren Teil er ist, gesetzt, und zwar so, dass diesem einzelnen Menschen als Teil einer bestimmten Gemeinschaft derjenige Anteil am Gemeinwohl zugeteilt wird, der ihm gemäß seinem Rang (principalitas) zukommt, den er innerhalb dieser Gemeinschaft innehat. Der entsprechende Gerechtigkeitstyp ist die zuteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva).³²⁵ Beide bilden Arten patikulärer Gerechtigkeit (iustitia particularis). 2. Liegt der Fokus bei diesen beiden Arten von partikulärer Gerechtigkeit jeweils auf Einzel- oder Privatpersonen als Teilen einer Gemeinschaft und deren Verhältnis zueinander oder dem ihnen vom Gemeinwohl zukommenden Anteil, so kann [2] der Einzelmensch auch insofern als Gegenstand der Gerechtigkeit betrachtet werden, als er als Teil eines Gemeinwesens diesem mit seinen Fähigkeiten und Kräften zu- und untergeordnet wird. Das fremde Gut, um das es hierbei nunmehr geht, ist nicht mehr primär ein partikuläres einer Einzelperson, auf die hin der Gerechte so ausgerichtet ist, dass er es dieser Einzelperson als ihr Geschuldetes erstattet, sondern das allgemeine einer Gemeinschaft, der der Einzelne zugehört. Die entsprechend hierzu befähigende Tugend ist die allgemeine bzw. Gesetzesgerechtigkeit (iustitia generalis sive legalis).³²⁶ Gesetzesgerechtigkeit heißt diese Gerechtigkeit deswegen, weil es die Aufgabe und Funktion des Gesetzes (lex) ist, genauer zu regeln, wie die Ausgleichung mit dem bzw. die Hinordnung auf das Gemeinwohl, also die integrative Unterordnung des Konkreten unter dieses, genauer zu bestimmen und vorzunehmen ist. Bei diesem Gesetz handelt es sich jedoch nicht um das oben besprochene Naturgesetz; vielmehr hält Thomas explizit fest, dass das die Gesetzesgerechtigkeit regelnde Gesetz in jedem Fall positives (menschliches oder göttliches) Gesetz ist.³²⁷ Dies ist auch nach allem, was oben gesagt wurde, nachzuvollziehen, ist doch die lex naturalis – jedenfalls auf ihrer universalen Ebene – nicht unmittelbar handlungsleitend, sondern bildet eher einen allgemeinen normativen Rahmen, der nicht überschritten werden darf, sollen Gesetze nicht ungerecht und Handlungen nicht unmoralisch werden. – Im Gegensatz zur partikulären Gerechtigkeit, jedoch auch im Gegensatz zur traditionellen (theologischen) iustitia generalis, die oben bei Philipp und Albert herausgearbeitet wurde, ist die Gesetzesgerechtigkeit bei Thomas nicht deshalb eine allgemeine (generalis) Tugend, weil sie Cf. Sth II – II q. a. c und c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. – Honnefelder (, ) stellt wie auch andere Autoren heraus, dass es sich beim göttlichen Gesetz selbst um eine Art positives Gesetz handelt.
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‚alle Tugenden‘ (in Hinsicht auf ihr Subjekt) wäre. Allgemein ist sie hingegen, weil sie als selbst durchaus spezielle Tugend ähnlich wie die theologische iustitia generalis sich aller Tugenden bedient und deren jeweilige konkrete Strebensziele auf ihr eigenes Ziel, sie diesem unterordnend, bezieht.³²⁸ Die Allgemeinheit der iustitia legalis liegt somit wie schon bei der oben herausgearbeiteten theologischen iustitia generalis auf der Seite des Objekts, anders aber als bei dieser nicht überdies auf der Seite des Seelensubjekts. Und ebenfalls im Unterschied zur theologischen iustitia generalis, das sei hier nochmals eigens angemerkt, ist das allgemeine Ziel der iustitia legalis nicht Gott, sondern das Gemeinwohl (bonum commune) einer Gemeinschaft. Jedoch lehnt sich Thomas wiederum an Albertus Magnus an, wenn er die ausrichtende Allgemeinheit der Gesetzesgerechtigkeit in einem weiteren Schritt mit dem Moment des Befehls begründet, welchen diese Tugend in Bezug auf die anderen Tugendakte ausübt. Und wichtig ist zuletzt, dass Thomas sich dann, wenn er das Verhältnis des Ziels der Gesetzesgerechtigkeit, nämlich des bonum commune, zu den Zielen der anderen Tugenden als eins der Inklusion und Hinordnung beschreibt, der Beschreibung der caritas bei Philipp annähert. 3. Obzwar es zwischen Gesetzesgerechtigkeit und positivem Gesetz somit enge Bezüge gibt, ist – zumal mit Blick auf das Objekt – jedoch festzuhalten, dass nicht das Gesetz der Gegenstand oder das Objekt (obiectum) der Gesetzesgerechtigkeit ist, also das Gesetz nicht schon dasjenige ist,was die jeweilige Rechtheit (rectitudo) des von der Gerechtigkeit verursachten realen Aktes ausmacht.Vielmehr stellt Thomas in Sth II – II q. 57 a. 1c heraus, dass Objekt der Gerechtigkeit generell – und damit auch speziell bei der Gesetzesgerechtigkeit – das Gerechte bzw. des Recht (iustum/ius) ist. Dieses ist dasjenige innerhalb einer Handlung, „was dem anderen aufgrund eines bestimmten Ausgleichs entspricht [iustum {est} quod respondet secundum aliquam aequalitatem alteri]“, was daher bestimmt, ob ein einen Ausgleich mit anderen und damit dessen Wohl intendierender Akt in der Tat die Rechtheit der Gerechtigkeit aufweist oder nicht, wobei es hier nicht primär – wie bei den übrigen Tugenden – für diese Beurteilung der realen Handlung von Interesse ist, auf welche Weise (qualiter) dieser Akt durch den Handelnden vollzogen worden ist.³²⁹ Dies wirft natürlich die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Recht bei Thomas auf. Im vorliegenden Kontext von Sth II – II q. 57 a. 1 ad 2 äußert sich Thomas dazu etwas kryptisch unter Rückgriff auf eine Stelle aus Isidor, wo dieser das Gesetz als eine ‚Art des Rechts (species iuris)‘ bestimmt hatte, dahingehend, dass im Geist (mens) eines Gerechten ein gewisser Begriff (ratio) des zu tuenden rechten Werks als Regel der Klugheit präexistiere, welcher Begriff bzw. welche Regel ‚Gesetz‘ genannt werde, wenn sie niedergeschrieben worden ist. Daraus werde erkennbar, dass „das Gesetz nicht eigentlich das Recht selbst, sondern Rechtsregel Cf. Sth II – II q. a. c. Sth II – II q. a. c. Dies ist wiederum eine Konsequenz der schon genannten Formel, die Thomas aus seiner Kommentierung von EN V gewinnt, dass es bei der Gerechtigkeit nicht oder nicht primär um innere Leidenschaften (passiones), sondern äußere Handlungen (operationes) gehe. Cf. SLE ., l. – .
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[oder Rechtsgrund: ratio iuris]“ ist.³³⁰ Offenkundig bezieht sich diese Bestimmung auf das positive Gesetz, welches für konkrete Handlungen des Ausgleichens festlegt, was etwa wem zu erstatten oder zuzuteilen ist. Das Recht selbst ist dagegen das, „worauf hin die Handlung der Gerechtigkeit geordnet ist“.³³¹ Diese Auffassung des Rechts ist im Blick zu behalten, wenn gleich auf das Verhältnis von Naturrecht (ius naturale) und positivem Gesetz näher eingegangen wird. 4. Die Komplexität des hier eröffneten Begriffsfeldes aus Gesetz und Recht erhöht sich weiter, wenn Thomas an der vorliegenden Stelle die Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem Recht (ius naturale et ius positivum) einführt. ‚Ius naturale‘ bestimmt Thomas als „ein dem anderen angeglichenes Werk“, das „in der Natur der Sache [ex ipsa natura]“ gegründet ist.³³² Dies kann nach dem eben Gesagten nicht bedeuten, dass das ‚Naturrecht‘ gleichsam ‚in der Natur‘ einfach faktisch vorhanden wäre. Das Recht wurde ja vielmehr bestimmt als die Rechtheit einer konkret durch die Tugend der Gerechtigkeit aktuell stattfindenden gerechten Handlung des Ausgleichens und ist als ‚opus‘ einer Handlung nicht ein ‚natural‘ Vorhandenes, sondern ein erst Herzustellendes und zu Erstattendes (reddendum). Dennoch wird an dieser Strukturbeschreibung ein Aspekt erkennbar, auf den oben im Abschnitt zum Naturgesetz vorausgegriffen worden war und außerdem auf Elemente verweist, die oben im Albert-Kapitel herausgearbeitet wurden. Denn Thomas’ Verweis auf die Natur der Sache als Maßstab naturrechtlich gerechten Handelns als dem eigentlichen Rechtsgrund oder der spezifischen Regel (ratio) lässt sich im Anschluss an die oben bei Albert diskutierte ‚Realität des naturrechtlichen Anspruchs‘ dahingehend deuten, dass dieser Rechtsgrund naturrechtlichen Handelns nicht nur im Handelnden und seiner Strebensstruktur zu suchen ist, sondern vielmehr gleichsam ‚in den Dingen selbst‘, das heißt in der konkreten Situation. Anders gesagt, scheint die ‚Objektivität‘ oder ‚Realität‘ der naturrechtlichen Handlung, also dasjenige Moment, was diese zu einer im naturrechtlichen Sinne richtigen (‚rechten‘) macht, bei Thomas wie schon bei Albert nicht ausschließlich subjektiv vermittelt zu sein, gleichsam durch Reflexion, Applikation und Projektion zwar allgemeiner, aber dennoch lediglich subjektiver Momente auf die begegnenden Handlungssituationen. Zwar kommt sie als Handlung gewiss nur
Sth II – II q. a. obi. : „Lex iuris est species“; cf. auch ad . Sth II – II q. a. c: „[…] ad quod terminatur actio iustitiae […]“. Sth II – II q. a. c: „opus adaequatum alteri secundum aliquem aequalitatis modum.“ – Die Frage danach, inwieweit zumal mit Blick auf das Naturrecht eine prinzipielle Differenz oder Identität oder ein eher unklares und veränderliches Verhältnis zwischen Naturrecht und Naturgesetz bei Thomas auszumachen ist, hat immer wieder zu Diskussionen innerhalb der Forschung geführt. In Anlehnung an Überlegungen von John Finnis kommt Stefan Lippert in seiner ausführlichen Studie hierbei zu dem Resultat, dass Naturrecht (ius naturale) und Naturgesetz (lex naturalis), werden die Begriffe ‚ius‘ und ‚lex‘ im weiteren Sinne aufgefasst, „praktisch synonym“ sind (Lippert [, ; Anm. ]. Cf. weiterhin Finnis [, – ] sowie Bormann [, ]). Eine Gegenposition hingegen vertritt Gelinas, indem er feststellt, dass „[w]e have seen when we consulted the texts in their chronological order,we found him [sc.Thomas Aquinas] distinguishing right from law more and more clearly.“ Gelinas (, ).
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durch den Handelnden ‚in die Welt‘, nicht aber gilt dies für den Anspruch auf Erstattung eines Naturrechts bzw. auf den Vollzug einer naturrechtlich gerechten Handlung. Andernfalls hinge die Rechtheit einer solchen Handlung lediglich davon ab, ob der Handelnde sich selbst dazu verpflichtet. Man kann also sagen, dass wie Albert auch Thomas annimmt oder in jedem Fall dafür die systematische Stelle schafft, dass in der naturrechtlichen Handlung eine Dimension von ‚objektiver‘ Rechtheit anzutreffen ist, die gleichsam über sich hinaus auf die ‚Realität‘ eines Anspruchs ihres Erstattens in dem Sinne verweist, dass dieser Anspruch unabhängig vom Handelnden existiert und ein so verstandenes fundamentum in re besitzt.³³³ 5. Was diese eben vorgeschlagene Deutung auch für den thomasischen Entwurf erhärtet, ist der Umstand, dass Thomas zufolge der Anspruch auf das Erstatten einer naturrechtlichen Handlung sich auch auf unvernünftige Wesen bezieht.³³⁴ Für Thomas nämlich gehört zum ius naturale im weitesten Sinne das (jedoch anders als oben aufzufassende) Völkerrecht (ius gentium) – dies erneut vermittelt unter anderem über Isidor im Bezug auf antike Rechtsvorstellungen – und ein Naturrecht im engeren Sinne. Bei letzterem verhält es sich dabei so, dass hier die natürliche Angemessenheit (convenientia) ‚absolut‘ betrachtet wird, das heißt ohne Beziehung auf etwas, was aus dieser absoluten Betrachtung als deren Folge sich ergibt. Als Beispiel, bei dem wie schon oben bei Albertus Magnus das im mittelalterlichen ius-Begriff implizierte ‚Pflicht‘-Moment erkennbar wird, dient Thomas traditionell das natürliche Recht des Mannes auf die Frau zum Zweck der Zeugung von Kindern und das natürliche Recht bzw. die natürliche Pflicht der Eltern, die Kinder zu ernähren. Eine solche Betrachtungs- oder Erfassungsweise kommt nun auch den unvernünftigen beseelten Wesen zu; also gibt es auch für sie diese Art von Naturrecht. Dagegen wird im Naturrecht als Völkerrecht anders als im Naturrecht ‚absoluter Betrachtung‘ die aus diesem sich ergebende Folge thematisch. Zum Beispiel kann auf der Grundlage eines so verstandenen Völkerrechts qua Naturrecht festgestellt werden, dass ein bestimmtes Stück Boden, welches landwirtschaftlich zu bestellen ist, eher jemandem zuzuteilen ist, der über landwirtschaftliche Erfahrungen verfügt, als jemandem, bei dem dies nicht der
Dies geht noch über Thomas’ These hinaus, dass bei allen Arten von Gerechtigkeit die Tugendmitte eine Sachmitte sei, sofern der Handelnde hier nicht in sich selbst, sondern in Bezug auf eine andere Sache geordnet werde (cf. Sth II – II q. a. c). Denn dies kann, wie für den Fall der Gesetzesgerechtigkeit gezeigt, auch dann eintreten, wenn die herzustellende Mitte nicht die Natur der Sache berücksichtigt, sondern lediglich eine (positiv-gesetzliche) konventionelle Vereinbarung betrifft. Dies stellt natürlich auch Thomas’ Versuch einer Integration der unterschiedlichen überlieferten Definitionsversuche des Naturrechts dar. Es wird überdies klar, dass sich hieraus für tierethische Fragestellungen Konsequenzen ergeben. Außerdem wird deutlich, dass im thomasischen Entwurf auf keinen Fall das Naturgesetz, das wie gesehen ja bloß Vernunftwesen eignet, mit dem Naturrecht identifiziert werden darf. Cf. auch Pesch (, – ). – Übrigens ergibt sich die Differenz von Naturrecht und Naturgesetz überdies daraus, dass es sich bei ersterem letztlich um die Rechtheit konkreter Handlungen als konkreter, das heißt auch in Handlungssituationen eingebetteter, bei letzterem dagegen um höchst allgemeine Handlungsprinzipien handelt. Cf. hierzu Sth II – II q. a. c und Utz (, – ).
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Fall ist. Diese Bestimmung, eher dem einen oder dem anderen zu gehören, eignet nicht dem Boden als solchem, sondern kommt ihm erst dann zu, wenn er in Hinsicht auf die Möglichkeit der Bebauung betrachtet wird. Da nun vernunftlose Wesen keine derartigen Schlussfolgerungen zu ziehen vermögen, kommt ein solches ius naturale qua ius gentium bloß bei Vernunftwesen vor.³³⁵ – Das ius positivum schließlich ist als ein Ausgleich aufzufassen, der auf menschlicher Konvention beruht, nämlich entweder einer Vereinbarung zwischen Einzelnen oder auf öffentlichem Konsens. Damit ist das positive Recht eine durch den Willen des Menschen vorgenommene Festlegung; ähnlich aber wie das positive Gesetz nicht dem Naturgesetz, darf das positive Recht nicht dem Naturrecht widersprechen.³³⁶ 6. Man kann das Gesagte wie folgt zusammenfassen: [1] Es gibt innerhalb des thomasischen Entwurfs zwar durchaus einen Konnex, aber keine Identität von Naturrecht und Naturgesetz. Dieser Konnex ist strukturell so zu bestimmen, dass das Recht als Objekt der Tugend der Gerechtigkeit zugleich diejenige Bestimmung innerhalb einer konkreten Handlung darstellt, welche deren Rechtheit gerade ausmacht; dagegen bezeichnet das Gesetz die Regel, gemäß derer eine gerechte Handlung zu erfolgen hat. Kann man sich dieses (Ausgleichs‐)Verhältnis im Falle des positiven Gesetzes und Rechts durchaus als ein in seinen Ansprüchen und in ihrer Legitimation weitestgehend durch die menschliche Subjektivität vermitteltes denken, in der die Gemeinschaft als eine Art Kollektivsubjekt fungiert – wobei immer noch zu bedenken ist, dass auch hier das Naturgesetz als allgemeinster sittlich-normativer Rahmen nicht überschritten werden darf, was aber seinerseits, weil Vernunftstruktur, eine Struktur der Subjektivität darstellt –, so ist dies beim naturrechtlichen Handeln nur bedingt der Fall. Vielmehr haben die Darstellungen und Interpretationen des thomasischen Entwurfs ergeben, dass zwar die Handlung in ihrer Hervorbringung freilich des Handlungssubjekts und dessen Vermögens- und Tugendausstattung bedarf, aber in ihrem Gesollten auf ein von dieser Ausstattung unabhängiges Moment, eben die Natur der Sache oder der Situation und des in dieser Geforderten verweist. Für das Weitere stellt sich angesichts dieses Befundes wie schon für die Prinzipien des Naturgesetzes die Frage nach der Erfassung dessen, was im dargestellten Sinne naturrechtlich gesollt ist. Dies wird im Folgenden im Zusammenhang mit der Untersuchung der Klugheit und deren Bezug auf die Umstände des Handelns zu besprechen sein. [2] Mit Blick auf die innerhalb der Forschung durch Lutz-Bachmann vorgetragene These, dass die Gesetzesgerechtigkeit aufgrund ihres Normiertseins durch das Naturgesetz einen Anspruch auf moralische (statt nur eudämische) Normativität erheben dürfe, ist nach dem Bisherigen darauf zu verweisen, dass für Thomas mitnichten das Naturgesetz in höherem Maße an die Gesetzesgerechtigkeit als an die übrigen Tugenden gebunden und entsprechend für diese normierend ist. Die Gesetzesgerechtigkeit gewinnt ihre Regel vielmehr aus dem positiven Gesetz und ist entsprechend auch auf positives Recht in der Bestimmung ihres Objekts bezogen. Das wird auch daran erkennbar, dass Thomas, ob-
Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. ad .
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zwar erneut äußerst kryptisch, dem Naturrecht eine natürliche Gerechtigkeit (iustitia naturalis) beiordnet.³³⁷ Beide Gerechtigkeitsarten sind offenkundig nicht dasselbe. Jedoch ist auch die wie immer genauer zu bestimmende iustitia naturalis auf das ius naturale, nicht aber unmittelbar auf die lex naturalis zu beziehen, welche letztere vielmehr Gegenstand einer prudentia zu sein scheint, die mittels ihrer und diese konkretisierend zur Einzelhandlung fortschreitet.³³⁸ [3] Es ist somit festzuhalten, dass das Normierungsgefüge aus Naturrecht, positivem und Naturgesetz sowie den unterschiedlichen Gerechtigkeitsarten, allen voran der als genuin moralischen Tugend diskutierten Gesetzesgerechtigkeit bei Thomas, eine komplexe und durchaus auch nicht ganz eindeutige Struktur darstellt. Besonders auffällig ist der Umstand, dass die normative Kraft im Bereich des Sittlichen allgemein und daher auch speziell mit Blick auf die Gerechtigkeit nicht ausschließlich dem Naturgesetz oder – unter Rückbezug auf dieses – dem positiven Gesetz und damit nicht lediglich der allgemeinen, im Subjekt verankerten Prinzipienstruktur entspringt, sondern dass es auch für Thomas wie schon für Albert zudem eine Normativität der Situation zu geben scheint, die nicht ausschließlich aus dem Gesetz selbst erschlossen oder begründet werden kann. Wenn im Folgenden der Grundintention der vorliegenden Studie entsprechend das Problem der Gerechtigkeit im Rahmen der Tugendethik untersucht wird und dieses ohne genauere Einblicke in die Handlungstheorie nicht verständlich wird, ist daher auch gerade auf die Frage der Struktur und Singularität einer gerechten Handlung näher einzugehen. Das weitere Vorgehen gestaltet sich so, dass zunächst kurz auf die Grundstruktur und die wesentlichen Bestimmungsmomente der Handlung bei Thomas eingegangen wird; vor diesem Hintergrund wird dann genauer die Funktion von Gerechtigkeit und besonders der Klugheit im Konnex des Handlungsgefüges mit Blick auf das Problem der situativen Normativität verständlich zu machen versucht. Abschließend wird mit einer kurzen Darstellung der thomasischen Lehre von der Epieikie – wie schon bei Aristoteles und Albertus Magnus – der locus classicus diskutiert, an dem traditionell das Verhältnis des Einzelfalls gegenüber dem allgemeinen Gesetz besprochen werden kann. Auch diese folgenden Erörterungen können wieder nur eine gewisse, am Kontext der vorliegenden Studie orientierte Abrisshaftigkeit gewährleisten und erheben somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit.³³⁹ Methodisch wird zunächst im folgenden Passus zur Sittlichkeit der Cf. Sth II – II , ad . Dies deckt sich übrigens auch in gewisser Weise mit den thomasischen Beschreibungen aus Sth II – II q. a. c, denen zufolge die ‚Ziele‘ der moralischen Tugenden, das heißt im Allgemeinen ein rechtes Handeln, in der Synderesis zu finden sind und damit mit den allgemeinen Vorschriften des Naturgesetzes übereinstimmen, während die prudentia ihrerseits die Aufgabe hat, die Umsetzung dieser Ziele im Bereich dessen, was zum menschlichen Handeln gehört, zu realisieren. Zur thomasischen Handlungstheorie cf. u. a. Rhonheimer (); Bradley (). Eine hervorragende Übersicht bietet neuerdings auch der Exkurs zur Handlungstheorie von Christian Schäfer (Schäfer [, – ]). Einschlägig für die Frage nach den Umständen der Handlung, die in der vorliegenden Arbeit eine besondere Rolle spielt, ist immer noch die Übersicht von Johannes Gründel (Gründel [, – ]); cf. auch Nisters ().
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Handlung so vorgegangen, dass das Problem, wie für Thomas eine menschliche Handlung strukturiert ist, anhand des Leitfadens der Frage untersucht wird, was die Gutheit (bonitas) oder Schlechtigkeit (malitia) menschlicher Handlungen ausmacht, was Thomas besonders in Sth I – II qq. 18 – 21 entwickelt.
4.4.3 Struktur und Bestimmungsmomente der Handlung; Rolle und Bedeutung der Umstände (circumstantia); Klugheit und Epieikie 4.4.3.1 Grundzüge der thomasischen Handlungstheorie 1. Einer der Ausgangspunkte von Thomas’ Überlegungen zur Frage nach der moralischen Qualität menschlicher Handlungen ist die Grundannahme, dass es sich bei Handlungen wie bei sonstigen Dingen mit ihrer Güte analog verhalte wie mit deren Sein, und dies in dem Maße, wie beide als konvertibel, mithin als (im nicht-kantischen Sinne) transzendentale Bestimmungen aufzufassen sind: „Soviel also etwas an Sein hat, soviel hat es an Gutheit.“ Eine Gesamtfülle an Sein (plenitudo essendi) und entsprechende Fülle der Gutheit, das heißt ein mangelfreies Vorkommen aller seinssmäßigen und guten Qualitäten kommt in einfacher und einheitlicher Weise jedoch nur Gott zu, der das Sein selbst und daher alle Gutheit ist. Dagegen ist Seinsfülle bei den geschaffenen Dingen zwar ebenfalls möglich, jedoch nicht als einfache, sondern als komplexe Struktur zu beschreiben, und zwar so, dass diese Dinge die Totalität ihrer Gutheit nur als Zusammenkommen von Momenten erlangen, welche nicht von vornherein zusammen auftreten müssen. Dies erläutert Thomas wie folgt: „Die Fülle des menschlichen Seins erfordert es beispielsweise, dass es eine Art Ganzes aus Seele und Leib ist, welches über alle Vermögen und Mittel der Erkenntnis und der Bewegung verfügt; wenn daher einem Menschen davon etwas fehlt, mangelt ihm auch etwas von der Fülle des Seins.“³⁴⁰ Wenn also etwas dieser Seinsfülle ermangelt, ist es in dieser Hinsicht als schlecht oder mangelhaft (malum) anzusprechen, sodass mit Blick auf eine Sache oder eine Handlung hinsichtlich ihrer evaluativen Qualifizierung unterschiedliche Perspektiven möglich sind.³⁴¹ „[S]o hat etwa ein blinder Mensch das an Gutsein, dass er lebt, aber das Schlechte ist für ihn, dass ihm das Augenlicht fehlt“.³⁴² Allgemeiner gesagt und anders gewendet, ist etwas, dem „etwas an der angemessenen Seinsfülle fehlt, nicht schlechthin gut, sondern in bestimmter Hinsicht, nämlich insofern, als es ein Seiendes ist“.³⁴³ Dies bedeutet aller-
Sth I – II q. a. c: „Sicut ad plenitudinem esse humani requiritur quod sit quoddam compositum ex anima et corpore, habens omnes potentias et instrumenta cognitionis et motus, unde si aliquid horum deficiat alicui homini deficit ei aliquid de plenitudine sui esse.“ Zur thomasischen Auffassung des ‚Übels‘ (malum) als Mangel oder Privation cf. einschlägig Schäfer (, – ; – ). Sth I – II q. a. c: „sicut homo caecus habet de bonitate quod vivit, et malum est ei quod caret visu.“ Sth I – II q. a. c: „alicui aliquid defuerit de debita essendi plenitudine, non dicetur simpliciter bonum, sed secundum quid, inquantum est ens.“
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dings nicht, dass das pure Existieren bereits eine positive Qualität für Thomas darstellte, oder anders: Ein solches pures Existieren ist für Thomas nicht denkbar. Vielmehr heißt ein Seiendes sein bereits, eine bestimmte essentielle Qualität aufweisen. Mit Blick auf die menschliche Handlung ist daher festzuhalten, dass „jede Handlung soviel an Gutheit besitzt, wie sie an Sein hat. Insofern ihr aber etwas an der Seinsfülle mangelt, welcher einer menschlichen Handlung zukommt, insoweit mangelt ihr das Gutsein, und sie wird demzufolge ‚schlecht‘ genannt“.³⁴⁴ 2. Die Bestimmungsmomente, die die Fülle des Seins (plenitudo essendi) der konkreten menschlichen Handlung ausmachen, sind das Handlungsobjekt, das Handlungsziel und die Handlungsumstände. Das Handlungsobjekt wird, wie schon oben angesprochen, von Thomas als ‚materia circa quam‘ – in Abgrenzung zur ‚materia ex qua‘, das heißt zum Stoff, woraus etwas besteht – bestimmt, also als „Stoff, mit Bezug worauf“ die Handlung ausgeführt wird, und bestimmt damit die Art („dat speciem“) einer Handlung.³⁴⁵ Es wird somit deutlich, dass im thomasischen Entwurf Handlungen auf der Ebene ihres Objekts, also hinsichtlich ihrer spezifischen Bestimmtheit, an ihnen selbst gut oder schlecht sein können, nicht nur also in Hinsicht auf die mit ihnen verbundene Intention oder ihre Konsequenzen.³⁴⁶ Spezifische Gutheit und Schlechtheit von menschlichen Handlungen richtet sich hierbei nach deren Übereinstimmung mit der Vernunft, das heißt mit einer Vernunftregel (regula rationis) bzw. -anordnung (ordinatio rationis) als dem Prinzip menschlichen Handelns.³⁴⁷ Eine weitere wichtige Unterscheidung, die mit Blick auf eine willentliche Handlung zu berücksichtigen ist, ist die zwischen dem äußerlichen Akt, das heißt der eigentlichen Tat und dem inneren Akt des Wollens, der diese hervorbringt.³⁴⁸ Das Objekt der Handlung im Sinne der artmäßigen Bestimmtheit bezieht sich auf den äußeren Akt; das eigentümliche Objekt hingegen, das auch dem inneren Akt des Willens zukommt, bestimmt Thomas als das Ziel (finis),³⁴⁹ genauer: als das entfernte Ziel (finis remotus – im Gegensatz zum nächstliegenden Ziel [finis proximus], das „mit dem Objekt der Handlung zusammenfällt“).³⁵⁰ Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung kann Thomas herausstellen, dass die spezifische Bestimmtheit der äußeren Handlung nicht notwendig mit dem Handlungsziel zusammenfällt, aber mit ihm zusammenfallen kann. So ist es etwa möglich, eine der Art nach gute Handlung mit einem schlechten Ziel zu verbinden, zum Beispiel Almosen zu geben, um dadurch Ansehen zu gewinnen; hingegen fallen in diesem Beispiel Objekt und Ziel in eins, wenn die Almosen
Sth I – II q. a. c: „omnis actio, inquantum habet aliquid de esse, intantum habet de bonitate, inquantum vero deficit ei aliquid de plenitudine essendi quae debetur actioni humanae, intantum deficit a bonitate, et sic dicitur mala.“ Sth I – II q. a. ad : „obiectum non est materia ex qua, sed materia circa quam, et habet quodammodo rationem formae, inquantum dat speciem.“ Cf. hierzu auch Spaemann (). Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. hierzu die Rekonstruktionen von Darge (, – ). Cf. Sth I – II q. a. c. Gründel (, ).
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um des Almosengebens willen gegeben werden, also das Objekt der äußeren Handlung zugleich zum Objekt der inneren, also zum Ziel des Willens gemacht wird. Im ersten Fall ist das Objekt der äußeren Handlung bloß in akzidenteller Weise mit dem Zweck verbunden, im zweiten hingegen essentiell. Da nun in der thomasischen Theorie der Zweck innerhalb dieser komplexen Struktur im Gegensatz zum Objekt der äußeren Handlung das universalere Moment darstellt, weil der Wille, der sich auf das Ziel als sein Objekt bezieht, als appetitus rationalis das aufgrund seiner vernünftigen Natur universale Seelenvermögen ist,³⁵¹ wird die moralische Qualität einer Handlung in letzter Hinsicht durch die Ausrichtung des Willens bestimmt.³⁵² Es ist offenkundig diese Struktur, die es dem Handelnden ermöglicht, im gerechten Handeln die Ziele und Akte der anderen Tugenden auf das Ziel der Gerechtigkeit (die ja im Willen ist) auszurichten. Es ist aber gerade anhand des genannten Beispiels des Almosengebens auch deutlich geworden, dass bei einer solchen Handlung, die ja für Thomas naturrechtlichen Charakters ist, die willentliche Zielsetzung nicht gleichsam freischwebend aus sich allein heraus die sittliche Qualität der Handlung definieren kann, sondern sich vielmehr nach deren Objekt richten muss – so wie meine Willensentscheidung ja nur dann meine Handlung gerecht macht, wenn ich Almosen eben mit dem Ziel gebe, dem Bedürftigen zu helfen. Die folgende Untersuchung der Umstände der Handlung wird das noch klarer machen. 3. Die Umstände der Handlung (circumstantia) stellen ein besonderes Problem für die thomasische Handlungstheorie – und nicht nur für diese – dar. Dass sie überhaupt für die moralische Qualität einer Handlung für Thomas eine Rolle spielen – nicht etwa wie bei Kant,wo der kategorische Imperativ auf die Umstände keine Rücksicht nimmt – hat seinen Grund darin, dass sich für Thomas die plenitudo bonitatis einer Handlung, sofern diese aktual vollzogen wird, gerade noch nicht in ihrer bloßen Artbestimmtheit durch ihr Objekt erfüllt (Sth I – II q. 18 a. 3c).³⁵³ Vielmehr müssen die für diese Handlung in Hinsicht auf ihre Artbestimmung gleichsam als außersubstantielle Akzidenzien³⁵⁴ fungierenden Umstände noch hinzukommen und berücksichtigt werden, wenn es um die Frage nach der sittlichen Qualität einer tatsächlich vollzogenen oder zu vollziehenden Handlung geht.³⁵⁵ Und hier tritt nun der bemerkenswerte Fall ein, dass diese so verstandenen akzidentellen Umstände die aktual vollzogene Handlung in ihrer sittlichen Qualität modifizieren können, auch wenn diese in artspezifischer Hinsicht eine sittlich gute Bestimmtheit aufweist. Ähnliches war schon oben mit Blick auf das Ziel
Cf. Sth I – II q. a. c. Hier greift Thomas’ Lehre vom irrenden Gewissen und dessen Verpflichtungsgehalt, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Cf. Hoye (, – ). Deshalb kann es nicht nur ihrer Art nach gute oder schlechte, sondern auch indifferente Handlungen geben, nicht aber indifferente individuelle, mithin konkret und aktual ausgeführte Handlungen (cf. Sth I – II q. a. c und a. c). Diese Unterscheidung ist auch die Grundlage dafür, weshalb Umstände, obzwar mit Blick auf das Objekt der Handlung bloß akzidentell, dennoch mit Blick auf die aktuale Handlung zu wesentlichen Unterschieden hinsichtlich deren sittlicher Qualität führen können. Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. hierzu auch Schröer (, – ).
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der Handlung³⁵⁶ angerissen worden und hat seinen Grund in folgender Struktur: Da der Prozess des vernünftigen Überlegens, der jeder konkreten menschlichen Handlung vorangeht und dieser ihre Richtung vorgibt, nicht wie ein Naturprozess schon auf Eines festgelegt ist, sondern diskursive Offenheit aufweist und damit auf Gegenteiliges gehen kann, kann es vorkommen, dass ein bestimmter Umstand in unterschiedlichen Situationen von der praktischen Vernunft einmal als bloßes zum spezifischen Handlungsobjekt hinzutretendes Akzidenz, ein andermal dagegen als für die aktuale Handlung artbestimmende „prinzipielle Bedingung [principalis conditio]“ aufgefasst werden kann. Ausschlaggebend ist die Vernunftordnung (ordo rationis), in die die Vernunft Umstände und Handlung stellt. Als Beispiel nennt Thomas den Diebstahl, dem der Ort, an dem er geschieht, auf bloß artspezifischer Ebene als bloßes Akzidens zukommt, der jedoch dann, wenn er die Qualität der Heiligkeit aufweist, die konkrete und aktuelle Diebstahlhandlung nochmals spezifisch modifiziert, sodass es sich hierbei nunmehr nicht mehr bloß um eine sittlich schlechte Handlung, sondern nunmehr sogar um ein Sakrileg handelt.³⁵⁷ 4. Als weitere Arten von Umständen neben den schon genannten Bestimmungen des Ortes (ubi) und des Ziel oder Warums (cur) nennt Thomas im Rückgriff auf die traditionelle Rhetorik³⁵⁸ die Person (quis) und das Was der Handlung (quid), die Mittel (quibus auxiliis), die Art und Weise (quomodo) und die Zeit (quando). Als achtes Moment führt Thomas noch das ‚in Hinsicht worauf‘ (circa quid) an, das bei Cicero unter das ‚quid‘ subsumiert werde, aber bei Aristoteles als eigene Bestimmung vorfindlich ist. Diese Distinktion hat für Thomas eine systematische Grundlage, die er wie folgt entwickelt: Umstand wird das genannt, was als außerhalb des Aktes existierend diesen auf irgendeine Weise angeht. Dies aber kann auf dreifache Weise geschehen: erstens, sofern der Umstand den Akt selbst betrifft; zweitens, sofern er die Ursache des Aktes betrifft; drittens, sofern die Wirkung. Den Akt selbst kann der Umstand aber entweder in der Weise des Maßes betreffen wie im Falle der Zeit und des Ortes oder in der Weise der Qualität des Akts wie im Falle der Handlungsweise. Mit Blick auf die Wirkung hingegen kann der Umstand den Akt betreffen insofern, als berücksichtigt wird, was jemand getan hat. Mit Blick auf die Ursache schließlich wird erstens in Bezug auf die Finalursache die Frage nach dem Worumwillen aufgefasst, zweitens in Bezug auf die Materialursache bzw. das Objekt die Frage nach dem ‚in Hinsicht worauf‘, drittens in Bezug auf die prinzipielle Hand-
Wenn Gründel (, ) meint, man werde „den in der Summe vorliegenden Ausführungen besser gerecht, wenn man Objekt und Zweck nicht zu den Umständen zählt, sondern sie als eigene zur Substanz der Handlung gehörende Faktoren gelten lässt“, so entspricht diese Deutung einerseits nicht dem vorliegenden Textbefund und scheint andererseits den grundlegenden Unterschied zwischen der essentiellen Qualität einer Handlung auf der einen Seite und deren sittlicher Bestimmtheit, sofern sie überdies eine aktual vollzogene ist, zu wenig zu berücksichtigen. Cf. Sth I – II q. a. c. An dieser Stelle wird die bekannte Formel von Thomas Cicero zugeschrieben, bei dem sie sich jedoch in dieser Form nicht findet. Cf. hierzu Nisters (, , FN ).
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lungsursache die Frage danach, wer es getan hat, und viertens in Bezug auf die instrumentelle Handlungsursache die Frage, mit welchen Mitteln.³⁵⁹
Die Qualität des Akts selbst wird mithin durch Ort (ubi), Zeit (quando) und Handlungsweise (quomodo) modifiziert, seine Ursache durch die handelnde Person (quis), den Zweck (cur), das Objekt (circa quid) und die Mittel (quibus auxiliis), die Wirkung schließlich durch die Bestimmtheit des Getanen (quid).³⁶⁰ 5. Wenn man diese Überlegungen zur Sittlichkeit der Handlung auf die Gerechtigkeit bezieht, so ergibt sich folgende Lage: Auch die gerechte Handlung wird als sittlich gute allgemein durch Objekt (= positives und natürliches Recht), Ziel (= Handeln um des fremden Wohls willen) und Umstände konstituiert. Betrachtet man aber die gerechte Handlung nicht bloß abstrakt und im Allgemeinen, sondern als tatsächlich und aktuell vollzogene, dann gilt, dass auch Objekt und Ziel zu ihren Umständen zu rechnen sind. Gerecht ist die tatsächlich vollzogene Handlung entsprechend nur dann, wenn ich als Handelnder meine Zielsetzung mit dem Objekt und den übrigen Umständen in Übereinstimmung bringe. Mit Blick auf die obige Beobachtung hinsichtlich des Almosengebens bestätigt sich daher nach der hier vorgelegten Interpretation, dass Naturrecht und Naturgesetz nicht zusammenfallen. Die naturrechtliche Handlung, wo mir das Objekt (Naturrecht) als real an mich gestellte Forderung nach einer Handlung begegnet, die ich vollziehen soll, kann nicht aus meiner Zielsetzung allein abgeleitet werden. Vielmehr bin ich aufgefordert, meine allgemeine Zielsetzung dem Objekt wie den übrigen Umständen entsprechend anzugleichen. – Deren Erfassung erfolgt nun für Thomas bei gerechten Handlungen vor allem über die Tugenden der Klugheit und der Epieikie. Diese Tugenden sind im Folgenden zu untersuchen.
Sth I – II q. a. c: „circumstantia dicitur quod, extra substantiam actus existens, aliquo modo attingit ipsum. Contingit autem hoc fieri tripliciter, uno modo, inquantum attingit ipsum actum; alio modo, inquantum attingit causam actus; tertio modo, inquantum attingit effectum. Ipsum autem actum attingit, vel per modum mensurae, sicut tempus et locus; vel per modum qualitatis actus, sicut modus agendi. Ex parte autem effectus, ut cum consideratur quid aliquis fecerit. Ex parte vero causae actus, quantum ad causam finalem, accipitur propter quid; ex parte autem causae materialis, sive obiecti, accipitur circa quid; ex parte vero causae agentis principalis, accipitur quis egerit; ex parte vero causae agentis instrumentalis, accipitur quibus auxiliis.“ Bemerkenswert ist an dieser Struktur, dass für Thomas unter Rückbezug auf Ciceros und Aristoteles’ Unterteilungen auch der Akteur der Handlung als einer ihrer Umstände, mithin als Akzidens der Handlung aufgefasst werden kann. Jedoch verhält es sich hierbei genauer so, dass die Person (quis) dann kein ‚Umstand‘ der Handlung ist, wenn sie mit der Handlung eben das Ziel verfolgt, welches zugleich Objekt der Handlung ist, aber kein anderes, jemand also beispielsweise tapfer kämpfen will um der Tapferkeit willen, nicht aber, um überdies die Stadt zu retten. Cf. Sth I – II q. a. ad ; cf. auch Sth I – II q. a. ad .
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4.4.3.2 Klugheit (prudentia) 1. Die Klugheit ist für Thomas wie für Aristoteles eine zentrale Tugend, ohne die keinerlei sittliche Handlung zustande kommen könnte. Thomas verortet sie, hierin ebenfalls Aristoteles folgend, in der Vernunft, verstanden als ‚Erkenntniskraft (vis cognoscitiva)‘, statt im Willen als Strebevermögen.³⁶¹ Ihr wesentlich und ihren genuin praxisbezogenen Status ausweisend ist dabei ein Bezug auf das Zukünftige, welches sie den Handelnden aus dem Gegenwärtigen oder Vergangenem zu erschließen befähigt. Hiermit holt Thomas zugleich die Bestimmung ein, dass der Mensch am ewigen Gesetz durch das Naturgesetz in der Form teilhabe, für sich und andere vorsehen (providere) zu können. Ebenso essentiell ist der Klugheit im Gegensatz zu den übrigen Tugenden, nicht bloß einen Bezug auf die allgemeinen Handlungsprinzipien, sondern zugleich auch auf das Einzelne zu beinhalten, auf das sie dies Allgemeine anwendet (appliziert).³⁶² In dieser Weise steht die Klugheit gleichsam vermittelnd zwischen den allgemeinsten und höchsten Prinzipien sowohl des Naturgesetzes als auch – obzwar geringer universal und nicht mehr a priori mitgegeben – den empirischen, die unendliche Zahl des endlich Begegnenden typologisch (ut in pluribus) zusammenfassenden Erfahrungsprinzipien und den positiven Gesetzen,³⁶³ den die Leidenschaften ausrichtenden ethischen Tugenden und den einzelnen Situationen, auf die diese angewendet (applicare) werden sollen.³⁶⁴ Geben die Tugenden die Ziele der Klugheit vor, so ist diese ihrerseits darauf aus, für die Tugendziele, die ihrerseits noch zu allgemein sind, um unmittelbar in Handlungen umgesetzt zu werden, mit Blick auf die konkret begegnende Situation zu bestimmen, wie genau sie zu realisieren sind – anders formuliert: Die Klugheit versucht in Gestalt derjenigen Bestimmungen, die zum Ziel hinführen, das heißt in der konkreten Situation eine angemessene Realisierung des Zieles beinhalten (ea quae sunt ad finem – Sth II – II q. 47 6c), die konkrete Form einer aktual zu vollziehenden tugendhaften Handlung zu ermitteln.³⁶⁵ – Aus diesen wenigen Bemerkungen und in Verbindung mit dem oben Gesagten wird klar, dass die Klugheit für Thomas nicht nur als eine im Wesentlichen den Einzelfall unter das Allgemeine eines Gesetzes, einer Vorschrift oder einer tugendhaften Zielvorgabe subsumierende, mithin in kantischen Termini als bestimmende Urteilskraft aufgefasst werden kann. Vielmehr ist es die wesentlich basalere Aufgabe der Klugheit, konkrete Situationen – die „Dinge selbst [res ipsas]“³⁶⁶ – in Hinblick auf allgemeine Vorgaben auszudeuten. Dies gilt auch für die hier interessierende Tugend der Gerechtigkeit und die gerechte Handlung: Auch hier kommt es wesentlich der Klugheit zu, im Einzelfall abwägend zu bestimmen, wie genau das Gesetz –
Cf. Sth II – II q. a. . Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. ad . Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. auch Sth II – II q. a. c und Sth II – II q. a. c. Diese Funktion kommt ihr, wie im Kap. gesehen, auch schon bei Aristoteles zu. Cf. Sth I – II q. a. ad : „mensura et regula intellectualis virtutis non est aliquod aliud genus virtutis, sed ipsa res.“ – Cf. hierzu Pieper (, – ). Wieder abgedruckt in Pieper (). Cf. weiterhin Mager (, – ).
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das natürliche wie das positive – konkret auszulegen und in Gestalt welcher aktualen Handlung zu erfüllen ist. Dass die Klugheit überdies im Verbund mit der Epieikie als höherer Gerechtigkeit in der Lage ist, von der Erfüllung von Gesetzen zu dispensieren, wird weiter unten eingehender dargestellt. 2. Als solcherart auf Einzelnes bezogene Tugend bedarf die Klugheit diverser Momente, von denen einige sie insofern in eine gewisse Ähnlichkeit zu den Sinnen setzen, als auch letztere wie die Klugheit für die Erfassung der ‚particularia‘ zuständig ist. Genauer handelt es sich hierbei nicht um den äußeren (sensus exterioris), sondern den inneren Sinn (sensus interioris), der „per memoriam et experimentum“, also durch die Momente Erinnerung und Erfahrung vervollkommnet wird und den Handelnden dazu vermag, hinsichtlich der erfahrenen besonderen Situationen „prompt zu urteilen [ad prompte iudicandum]“.³⁶⁷ Zwar ist dieser innere Sinn wie gesehen nicht das eigentliche Seelensubjekt der Klugheit, sondern die Vernunft, die jedoch diesen Sinn mit einbezieht, um ihre konkreten Urteile zu fällen. Erfahrung also und Erinnerung bzw. Gedächtnis sind zwei der notwendigen Momente dafür, auf dass die Klugheit ihre applikative Funktion, das heißt die auf einer Erfassung der Situation basierende und in Angemessenheit zu dieser urteilend vollzogene Bestimmung der konkret zu tuenden Handlung umsetzen kann. 3. Jedoch sind Erinnerung und Erfahrung nicht die einzigen Momente bzw. sogenannten ‚Teile der Klugheit (partes prudentiae)‘.³⁶⁸ Unter diesem Titel geht es insgesamt um verschiedene in der Tradition genannte Momente, die in irgendeiner Weise zur Klugheit gerechnet werden. Um hier Klarheit herzustellen, unterscheidet Thomas zwischen einer integralen, subjektiven und potentiellen Auffassung des Begriffs ‚Teil der Tugend‘ – eine Unterscheidung, die nicht nur hier bei der Untersuchung der Klugheit, sondern auch weiter unten bei der Charakterisierung der Epieikie Verwendung findet und deshalb hier kurz dargestellt wird. (a) Integrale Teile einer Tugend sind als Momente aufzufassen, die zur Vervollkommnung des dieser Tugend eigentümlichen Akts notwendig sind. Dieser besteht für Thomas bei der Klugheit im Vorschreiben (praecipere – Sth II – II q. 48c) dessen, was konkret zu tun ist. Als integrale Teile der Klugheit sind daher anzusprechen: Verstand (ratio), Einsicht (intellectus), Umsicht (circumspectio), Vorausschau (providentia), Sich-Auskennen (docilitas) und Vorsicht (cautio); diese Bestimmungen entnimmt Thomas aus Macrobius’ Kommentar zu Ciceros De re publica (zum ‚Traum des Scipio‘).³⁶⁹ Es kommt die bei Cicero und bereits oben genannte Erinnerung bzw. das Gedächtnis (memoria) hinzu. Desweiteren kann man aus Aristoteles (EN 1142a24-b35) die Bestimmung der Treffsicherheit (eustochia) hinzunehmen. Von diesen acht Momenten oder Teilen hält Thomas fest, dass fünf von ihnen (memoria, ratio, intellectus, docilitas, eustochia) als Teile der Klugheit insofern aufzuführen sind, als diese eine
Sth II – II q. a. ad . Die folgende Ausführung bezieht sich auf die umfangreiche Responsio in Sth II – II q. . Cf. In somn. Scip. I .
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Tugend der Vernunft, mithin des Erkenntnisvermögens (cognoscitiva) darstellt; dagegen gehören providentia, circumspectio und cautio insofern dazu, als die Klugheit eine vorschreibende (praeceptiva) und das Erkannte aufs Werk bzw. die Handlung applizierende Tugend (applicando cognitionem ad opus) ist. (b) Subjektive Teile einer Tugend sind die unterschiedlichen Arten oder Erscheinungsweisen (species), in denen sie auftreten kann. Dabei kann man einmal die Klugheit im eigentümlichen oder in einem weiten Sinne auffassen. Was das erste betrifft, so gehört hierher die Unterscheidung einer Klugheit, mittels derer jemand sich selbst ‚regiert (regere)‘, von einer solchen, mittels derer eine Menge (multitudo) regiert wird, und in Bezug auf letztere ergeben sich erneut spezifische Unterschiede gemäß der diversen Arten von multitudines.³⁷⁰ Was dagegen das zweite betrifft, kann man hier als Teile der Klugheit die Dialektik, Rhetorik und ‚Physik‘, das heißt die drei unterschiedlichen Weisen des Vorgehens in den Wissenschaften ansprechen. Die ‚Physik‘ gehört dann hierher, wenn man unter diesem Ausdruck „alle demonstrativen Wissenschaften“ versteht, wohingegen das Vorgehen in der Dialektik nicht im strengen demonstrativen Syllogismus, sondern im Bilden einer Ansicht (opinio) im Ausgang von wahrscheinlichen Annahmen besteht. In der Rhetorik schließlich ist das Vorgehen entweder als ein Vermuten (suspicio) im Ausgang von Mutmaßungen (coniectura) oder als ein anderweitiges Überzeugen (persuasio) zu beschreiben. (c) Potentielle Teile schließlich werden diejenigen Tugenden genannt, die mit einer prinzipiellen oder Kardinaltugend verbunden (adiuncta) sind und zu gewissen sekundären Akten oder Materien hingeordnet werden, ohne dabei die volle Bestimmtheit der Haupttugend, der sie beigeordnet sind, innezuhaben. Im Falle der Klugheit mit ihrem prinzipiellen Akt des Vorschreibens (praecipere) gehören als adjunkte potentielle Teile oder Tugenden: Wohlberatenheit (euboulia), die das SichBeratschlagen angeht, Auffassungskraft (Synesis), die das richtige Urteil hinsichtlich des häufiger zusammen Eintreffenden umfasst, und schließlich Einsicht (gnome), die das richtige Urteil hinsichtlich dessen beinhaltet, in Bezug worauf bisweilen vom allgemeinen Gesetz abzuweichen vonnöten ist; hier ist dann offenkundig auch das Phänomen der Epieikie anzutreffen. *** Es wird somit klar, dass es besonders die integralen Teile memoria, ratio, intellectus, docilitas, eustochia, providentia, circumspectio und cautio sind, die die Klugheit dazu vermögen, durch Erfassung der vorliegenden Situation zu entscheiden, wie eine allgemeine Regel beispielsweise der Gerechtigkeit konkret in Gestalt einer aktualen gerechten Handlung umzusetzen ist. Überdies ist der potentielle Teil gnome von großer Bedeutung, da Thomas dieser wie gesehen zuschreibt, die Klugheit dazu zu befähigen, gegebenenfalls gegen die Einhaltung eines allgemeinen Gesetzes und für den Ein-
Als Beispiele nennt Thomas die militärsiche, ökonomische, regierende und politische Klugheit (prudentia militaris, oeconomica, regnativa, politica). Cf. hierzu auch Sth II – II q. a. c.
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zelfall zu entscheiden. Für eine solche Entscheidung gibt es nun auch bei Thomas mit dem Dispens vom Naturgesetz einerseits, mit der Epieikie andererseits zwei besonders herausragende Fälle.
4.4.3.3 Dispens und Epieikie 1. Dispens: Der Dispens ist eine grundlegende Weise, wie die Klugheit ihre applikative Rolle erfüllt, den allgemeinen naturgesetzlichen Rahmen auf den Einzelfall anzuwenden. Dieses Phänomen behandelt Thomas in unterschiedlichen Kontexten, wobei im vorliegenden Abschnitt der Fokus auf den besonders intrikaten Fall des Dispens vom fünften naturrechtlichen Gebot des Dekalogs, also vom Tötungsverbot, gelegt werden soll. Thomas verhandelt dieses Problem in unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa dem Tyrannenmord, der Hinrichtung des Verbrechers oder dem göttlichen Befehl an Abraham, Isaak zu opfern. Die Strategie, die Thomas hierbei verfolgt, ist jedoch prinzipiell in allen Fällen dieselbe: Sie besteht darin, den Einzelfall als einen solchen auszuweisen, der nicht tatsächlich den Sachbestand des Mordes (homicidium) und damit eines Verstoßes gegen das Naturgesetz erfüllt. Unter einem ‚homicidium‘ ist hierbei eine sündhafte Handlung im Bereich des unwillentlichen menschlichen Verkehrs, also eine Handlung wider die kommutative Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Nächste in persona geschädigt wird.³⁷¹ Seine Argumentation lautet etwa mit Blick auf den Tyrannenmord so: Der Aufruhr (seditio) ist eine Todsünde (peccatum mortale) und damit auch gegen das Naturgesetz. Der Tyrannenmord nun scheint eine seditio zu sein und damit naturgesetzlich verboten. Jedoch ist er tatsächlich erlaubt, weil er bei näherer Betrachtung gar keine todessündliche seditio darstellt, sondern dies vielmehr der Tyrannis selbst zukommt. Denn der Tyrann verstößt gegen das Naturgesetz, indem er seine Position, die er nur innehat, um dem Gemeinwohl zu dienen, dazu missbraucht, sein Privatwohl zu verfolgen. Die Tötung des Tyrannen wird also dadurch gerechtfertigt, dass bereits ein anderes – und durch Bezug aufs Gemeinwohl größeres – Vergehen gegen das Naturgesetz verübt worden ist und deshalb nicht von einem Mord im Sinne einer unrechtmäßigen Tötung eines Unschuldigen die Rede sein kann.³⁷² Im strengen Sinne also gibt es für Thomas keinen
Cf. Sth II – II q. prooem. Cf. Sth II – II q. a. ad . Cf. hierzu auch De regno I , Super II Sent. d. q. – , sowie Sententia Politic. II . – Cf. zur Sache auch Klautke (, I: – ), sowie Spindelböck (, ). – Wie u. a. Martin Honecker (Honecker [, ]) festhält, besteht für Thomas kein Recht zum Tyrannenmord im Falle der tyrannischen Ausübung legitimer Herrschaft, sondern nur dann, wenn die Herrschaft illegitim usurpiert wurde. Außerdem kann nicht jedweder aus eigener Entschlusskraft ohne Weiteres den Tyrannen umbringen, sondern der Beschluss zu solcher Tat – ähnlich wie der Dispens von nicht zwar allgemeinen, überall geltenden Regeln des Naturgesetzes, aber bei positiven Gesetzen, wenn dies dem Gemeinwohl dient (Sth I – II q. a. c) – obliegt den Vertretern des Volkes. Allgemein ist festzuhalten: „Ein Widerstandsrecht ist bei Thomas nur als eine Gehorsamspflicht höherer Ordnung vorstellbar“ (Städtler [, ]). Zu den theologischen Hintergründen und Thomas’ uneindeutiger
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Dispens vom Naturgesetz, etwa vom Tötungsverbot, sondern nur den Aufweis, dass die etwa von Gott im Falle Isaaks oder von den Volksvorstehern im Falle des Tyrannenmords befohlene Tötung kein Mord ist und deshalb nicht unter das fünfte Gebot fällt.³⁷³ Die Klugheit geht in diesen Fällen so vor, dass sie subsumptiv entscheidet, ob ein Einzelfall tatsächlich unter das allgemeine naturgesetzliche Ge- oder Verbot fällt oder nicht. Nicht dagegen wird für den Einzelfall gegen die Einhaltung der gesetzlichen Norm entschieden. Die Darlegungen haben überdies deutlich gemacht, dass Thomas dies mit Blick auf das Naturgesetz auch nicht für möglich hält: Kein Einzelfall darf dem Naturgesetz widersprechen; höchstens kann es vorkommen, dass der Einzelfall so zu deuten ist, dass er bloß scheinbar dem Naturgesetz zuwider läuft, tatsächlich aber unter eine andere Bestimmung fällt. Anders aber verhält es sich bei den positiven Gesetzen. Hier nämlich ist nicht nur Dispens im Sinne der Auslegung möglich, indem ein Einzelfall nicht als unter das allgemeine Gesetz gehörig betrachtet wird, sondern auch ein tatsächlicher Dispens von letzterem; diesen leistet, wie schon an anderen Stellen gezeigt, so auch bei Thomas die Epieikie. 2. Epieikie: Wie Aristoteles und Albertus Magnus erläutert Thomas die Notwendigkeit der Epieikie daraus, dass sich die Gesetze einer Gemeinschaft zwar auf die menschlichen Handlungen beziehen, jedoch so, dass diese im unendlichen Bereich des kontingenten Einzelnen sich abspielen, wohingegen die Gesetze, die hierin gerechte Ausgleichsverhältnisse herzustellen intendieren, nur dasjenige berücksichtigen und vorschreiben können, was ‚ut in pluribus‘ vorkommt. Daher besteht die Möglichkeit, dass das Befolgen des Wortlauts eines Gesetzes, welches der Gesetzesgerechtigkeit zukommt, im Einzelfall nicht zu einer gerechten, sondern zu einer ungerechten Handlung führt. Die Epieikie hat daher die Funktion, gerade gegen diese Tendenz zugunsten des Einzelfalles Einspruch einzulegen.³⁷⁴ In dieser Funktion ist die Epieikie jedoch auch für Thomas nicht der Gerechtigkeit schlechthin entgegengesetzt, wie es anhand dieser Phänomenbeschreibung den Anschein haben könnte, sondern vielmehr als Teil der Gerechtigkeit (pars iustitiae) anzusetzen. Thomas erklärt dies wie folgt: Von einem Teil der Tugend kann, wie schon oben bei der Besprechung der Klugheit gesehen, in dreifacher, nämlich in subjektiver, integraler und potentieller Hinsicht gesprochen werden. Bei der Epieikie nun handelt es sich in Thomas’ Augen um einen subjektiven Teil der Gerechtigkeit. Dazu ist jedoch noch genauer auszuführen, dass ein ‚subjektiver Teil‘ im Allgemeinen dasjenige ist, „über das in essen-
Haltung zu der Frage, inwieweit Gott selbst von den naturgesetzlichen Vorgaben des Dekalogs dispensieren kann, cf. Mandrella (, Kap. II ). Cf. Sth I – II q. a. c; vor allem aber ibid. ad . Cf. auch Sth I – II q. a. ad ; Sth II – II q. a. ad . – Cf. auch Kuhn (, – ). – Zum allgemeinen Kontext der Todesstrafe und der Todsünde (peccatum mortale) bei Thomas cf. Sth I – II q. a. c; Sth II – II q. a. ad ; q. a. c; SLE .. Cf. hierzu auch Forschner (, – ). Cf. überdies Rhonheimer (, – ). Cf. Sth II – II q. a. c.
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tieller Weise das Ganze prädiziert werden kann und was auch im Geringeren ist.“³⁷⁵ Dies kann nun einmal so vorkommen, dass eine essentielle Bestimmung mehreren Einzelerscheinungen aufgrund einer einheitlichen Grundstruktur (ratio) zugesprochen wird, wie dies etwa beim Begriff ‚Lebewesen‘ der Fall ist, wenn dieser von Pferd und Rind prädiziert wird; Pferd und Rind wären hier als subjektive Teile der Gattung ‚Lebewesen‘ anzusprechen, das heißt als bestimmte Arten, in denen sich die Gattung instantiiert. Eine andere Form liegt dann vor, wenn die Prädikation sich auf Erscheinungen bezieht, die zueinander im Verhältnis von früher und später stehen; in dieser Weise wird etwa der Ausdruck ‚ens‘ von Substanz und Akzidens ausgesagt, die dann ihrerseits subjektive Teile dieser Tranzendentalie sind. In dieser zweiten Weise nun ist die Epieikie ein subjektiver Teil der Gerechtigkeit. Denn erstens ist sie überhaupt im allgemeinen Sinne als Gerechtigkeit zu bestimmen, zweitens aber geht sie der Gesetzesgerechtigkeit voran, ist also ‚früher‘ als diese, wie die Substanz früher ist als das Akzidens, weil die Gesetzesgerechtigkeit an der Epieikie ihre höhere Regel der menschlichen Handlungen findet. Allerdings ist hier noch weiter zu differenzieren, und zwar dieses Mal mit Blick auf den Begriff der Gesetzesgerechtigkeit. Denn je nachdem, wie man diese auffasst, ist entweder zu sagen, dass die Epieikie ein Teil von dieser ist, oder aber ihr – wie eben beschrieben – vorangeht, somit eher beide, also Epieikie und Gesetzesgerechtigkeit, Teile einer Gerechtigkeit im noch allgemeineren Sinne sind.Wie Thomas dazu ausführt, kann man die Gesetzesgerechtigkeit einmal als eine Gerechtigkeit auffassen, die sich bloß am Wortlaut des Gesetzes orientiert, oder aber als eine solche, die überdies die Intention des Gesetzgebers verfolgt. Wenn man unter der Gesetzesgerechtigkeit die umfänglichere versteht, also diejenige, die auch die Intention des Gesetzesgebers einschließt, so ist die Epieikie „eher ein Teil der Gesetzesgerechtigkeit“.³⁷⁶ Versteht man darunter stattdessen bloß diejenige Gesetzesgerechtigkeit, die allein dem Wortlaut des Gesetzes folgt, dann ist die Epieikie ein Teil einer Gerechtigkeit im allgemeineren Sinne (iustitia communiter dictae), ist von der so verstandenen Gesetzesgerechtigkeit unterschieden und übersteigt sie, indem sie ihr wie gesehen vorangeht.³⁷⁷ Anhand dieser Beschreibung der Epieikie und ihrem Verhältnis zur Gesetzesgerechtigkeit durch Thomas gewinnt man den Eindruck, dass im Grunde die Idee der adäquaten Behandlung des Einzelfalls das Vorbild darstellt für die Bestimmung
Sth II – II q. a. c: „Pars autem subiectiva est de qua essentialiter praedicatur totum, et est in minus.“ Sth II – II q. a. ad : „Si enim iustitia legalis dicatur quae obtemperat legi sive quantum ad verba legis sive quantum ad intentionem legislatoris, quae potior est, sic epieikeia est pars potior legalis iustitiae.“ Sth II – II q. a. ad : „Si vero iustitia legalis dicatur solum quae obtemperat legi secundum verba legis, sic epieikeia non est pars legalis iustitiae, sed est pars iustitiae communiter dictae, contra iustitiam legalem divisa sicut excedens ipsam.“ – Im Grunde wäre zu sagen, dass in diesem Falle beide, also die Epieikie und die Gesetzesgerechtigkeit, nach Analogie der Verhältnisses von Substanz und Akzidens zum ‚ens‘ als Teile der ‚iustitia communiter dicta‘ aufzufassen wären.
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dessen, was Gerechtigkeit ausmacht. Denn eben hierauf scheint die Intention des Gesetzgebers (intentio legislatoris) zu gehen, denn dieser verfolgt ja nicht etwa bloß das höchst allgemeine Naturgesetz, sondern möchte durch das Erlassen von positiven Gesetzen letztlich eine möglichst jedem Einzelfall gerecht werdende und dabei zugleich aufs Gemeinwohl bezogene Ordnung herstellen. Idealerweise gerecht wäre also ein Handeln, das nicht die Einzelfälle abstrakt einem bloß verständigen allgemeinen Gesetz unterwirft, sondern jedem in dem, was er oder es fordert, gerecht wird. Epieikie ist in diesem Sinne, sollte diese Deutung zutreffen, die höhere und für die Gesetzesgerechtigkeit im engeren Sinne auch paradigmatische Tugend, und das Naturrecht noch vor dem Naturgesetz Richtmaß gerechten Handelns.³⁷⁸
Fazit 1. Es gibt somit verschiedene Dimensionen von Allgemeinheit im normativen Gefüge der Gerechtigkeit, die bislang herausgearbeitet worden sind. Für die Fragestellung der vorliegenden Studie von Interesse sind vor allem die Allgemeinheit der Prinzipien des Naturgesetzes sowie der positiven Gesetze und die Allgemeinheit des Anspruchs der naturrechtlichen situativen Forderung. Beide Momente finden ihre handlungstheoretische Vermittlung, nicht jedoch wechselseitige Reduktion im Moment der Tugend, und zwar einesteils der Gesetzesgerechtigkeit im engeren Sinne, die stärker auf der Seite der allgemeinen gesetzlichen Prinzipienstruktur, andernteils der Epieikie, die auf der Seite des Einzelfalles steht. Wie gesehen, ist es aber für Thomas auch möglich, beide Momente als Teile einer Gesetzesgerechtigkeit im weiteren Sinne aufzufassen, das heißt einer solchen, die neben der Wahrung des Gesetzes auch die Intention des Gesetzgebers verfolgt, dem Einzelfall gerecht zu werden. Die Klugheit schließlich hat nicht zuletzt die Aufgabe, die konkrete Vermittlung zwischen dieser Gesetzesgerechtigkeit und der Einzelsituation herzustellen. Das Naturgesetz fungiert als selbst nicht bereits unmittelbar handlungsleitender, jedoch prinzipielle normative Grundlinien vorgebender Rahmen, innerhalb dessen der Mensch das, was er jeweils sein kann, entwurfsoffen realisieren muss. Positive Bestimmungen dieser Entwurfsoffenheit werden auf institutioneller Ebene durch die positiven Gesetze und auf der Ebene der Handlung durch die Mitten der Tugenden
Dies spiegelt sich auch wider in den von Thomas gegebenen – und wiederum dem Aristoteles entnommenen – Beschreibungen der Tätigkeit eines guten Richters als ‚lebendigem‘ oder ‚beseeltem Recht (iustum animatum)‘; cf. Sth II – II q. a. ad . Für Aristoteles cf. EN V a – : „dikaion empsychon“. – Wie Günter Virt (Virt [, – ]) zusammenfasst, steht hierbei bei Thomas eine Umwandlung der Epieikie als Fallgerechtigkeit (bei Albertus Magnus und Aristoteles) zu einer letztlich theologisch, das heißt in der Gottesebenbildlichkeit gegründeten „Menschengerechtigkeit“ () im Hintergrund. Dem wäre hinzuzufügen, dass diese theologische Dimension auch der Einzelfallgerechtigkeit bei Thomas zuteil wird. Denn dem Einzelfall – und dies nicht nur in Bezug auf menschliche Verhältnisse – gerecht wird letztlich nur das ewige Gesetz.
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bestimmt. Die konkrete Handlung jedoch bedarf darüber hinaus einer Einschätzung des situativen Einzelfalles, der als Prinzip sui generis für die jeweilige Handlung durch die Klugheit erkannt und dessen Forderung entsprechend die Frage nach dem Wie und Was der Einzelhandlung entschieden werden muss. 2. Eine weitere Form von Allgemeinheit, die innerhalb des beschriebenen Gefüges zu kennzeichnen ist, ist die, die der Gerechtigkeit mit Blick auf die übrigen Tugenden zukommt und die sie als eine allgemeine Tugend (virtus generalis) charakterisiert. Diese Allgemeinheit wird bei Thomas ähnlich wie bei der allgemeinen Gerechtigkeit (iustitia generalis) bei Philipp und Albert, ähnlich aber auch wie bei der caritas bei Philipp als eine des ‚Umfassens‘ oder Beinhaltens der Ziele der übrigen Tugenden in dem der Gesetzesgerechtigkeit beschrieben. Zugleich verbindet Thomas dieses eher ‚intellektualistische‘ Moment mit dem ‚voluntaristischen‘ des Ausrichtens bzw. Hinordnens (ordinare) der Tugenden auf das Gemeinwohl. Deshalb verortet Thomas die Gerechtigkeit im Willen, der als vernünftiges Streben (appetitus rationalis) beide Momente vereinigt. Die Gesetzesgerechtigkeit kann nunmehr als eindeutig eigenständige, spezielle Tugend (virtus specialis) gekennzeichnet werden und wird nicht mehr tendenziell mit dem Besitz aller anderen Tugenden konfundiert. 3. In der Frage nach der Begründung der verschiedenen Aspekte von allgemeiner Normativität sind verschiedene Momente zu unterscheiden. Was das Naturgesetz anbetrifft, so ist Thomas’ Theorie offenbar so aufzufassen, dass zumindest dessen höchstes Prinzip (ppp) sowie diejenigen Prinzipien, die sich auf die natürlichen Inklinationen beziehen, dem Handelnden selbstevident (per se nota) sind. Dem entspricht auch die Parallelisierung der Synderesis mit dem Habitus der Prinzipien der theoretischen Vernunft. Dies garantiert sowohl die Allgemeingültigkeit der Naturgesetzesprinzipien für jeden Handelnden als auch die Eigenständigkeit des Ethischen wie der Ethik als diesen Bereich untersuchenden Wissenschaft. Für uns also ist das Naturgesetz evidenterweise allgemeingültig. An sich dagegen ist das Naturgesetz begründet sowohl in der Ontologie der natürlichen Neigungen wie auch in unserer Teilhabe am ewigen Gesetz. Beide Momente – das heißt die sittliche Qualität, die den Neigungen aufgrund der ihren Zielen immanenten Gutheit (bonitas) zukommen kann, sowie natürlich auch die Gründung im ewigen Gesetz – übersteigen die ethische Betrachtung hin zu einer metaphysischen, denn letztes Prinzip für beides ist jeweils Gott, sei es als Schöpfer der endlichen Wesen, sei es als Inhaber des ewigen Gesetzes. Dies gilt offenbar auch für die sittliche Allgemeinheit des naturrechtlichen Anspruchs der Situation, die zwar nicht in ihrer Erfassung für uns, jedoch an sich nur von dem Prinzip stammen kann, was sie hervorgebracht hat. Es fragt sich aber überdies, ob beide Formen von Gründung nicht nur metaphysisch bzw. theologisch im philosophischen, sondern überdies theologisch im offenbarungsreligiösen Sinne zu verstehen sind, das heißt so, dass nur dem Theologen, der über den christlichen Glauben verfügt, diese Begründung evident sein kann, oder aber ob es auch der Philosophie möglich oder vielleicht sogar notwendig ist, das Ethische zum Bereich der Metaphysik hin zu überschreiten. Diese Fragen werden im Schlusskapitel wieder aufgegriffen werden.
4.5 Gerechtigkeit, Freundschaft und die ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘
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4.5 Gerechtigkeit, Freundschaft und die ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘: Thomas von Aquin, Jakob von Viterbo, Gottfried von Fontaines 1. Das Kapitel zu Thomas’ Gerechtigkeitstheorie verfolgte eine Linie, die von der Allgemeinheit des Naturgesetzes über die Gesetzesgerechtigkeit als allgemeiner Tugend sowie die Klugheit, die handlungstheoretische Beschreibung der Umstände und die Tugend der Epieikie bis hin zur unter dem Namen ‚Naturrecht (ius naturale)‘ topologisch festgestellten Einzelsituation führte. Das Moment des Universalen lag innerhalb dieser Linienführung einerseits auf der Seite der allgemeinsten Prinzipien des Naturgesetzes als Struktur oberster handlungsnormativer Bestimmungen, die jedem Menschen bzw. jedem ‚Handlungssubjekt‘ als Grundform von dessen praktischer Vernunft innewohnen und die deshalb beanspruchen können, für alle Handelnden dieselbe allgemeine Geltung zu beanspruchen.Von dieser universalen Struktur her, so wurde gezeigt, gewinnen die Gesetzesgerechtigkeit und die anderen Gerechtigkeitsarten innerhalb des thomasischen Entwurfs wie die anderen Tugenden auch die Ausrichtung an einer nicht-kontigenten Normativität, wenngleich schon nicht an konkreten Normen. Andererseits wurde im Moment des Naturrechts und in Verbindung damit in Gestalt der Epieikie der Ort für eine Allgemeinheit aufgezeigt, die so gedeutet wurde, dass sie im Gegensatz zur Universalität der naturgesetzlichen Bestimmung, die nur bloß als subjektive Prinzipienstruktur fungiert, die real in der Situation liegende Forderung des vom jeweiligen Akteur zu Tuenden meint. Auch hier stellt sich eine für alle Handelnden geltende Normativität ein, indem die Situation von jedem Handelnden ideell dieselbe naturrechtliche Handlung fordert. Inwieweit jedoch der Handelnde in der Lage ist, sowohl die naturrechtliche situative Forderung angemessen zu erfassen als auch den allgemeinen naturgesetzlichen Rahmen angemessen auszudeuten, sodass er in der Lage ist, eine gute Handlung zu vollziehen, hängt letztlich davon ab, inwieweit der Handelnde über die hierfür notwendigen Tugenden verfügt – eine Bedingung, die durch kein allgemeines Prinzip der Anwendung von Normen ersetzt werden kann. – Etwas unterbelichtet blieb dagegen bisher diejenige Dimension von Allgemeinheit der Gerechtigkeit in dem Sinne, dass diese Tugend in der Lage ist, die den anderen Tugenden eigenen Zielausrichtungen nochmals unter den Fokus ihres eigenen Ziels und damit die Unterordnung der Einzeltugenden unter das Gemeinwohl zu leisten. Um diese Art von Allgemeinheit soll es in den folgenden Abschnitten etwas ausführlicher gehen. 2. Diese Perspektive auf Allgemeinheit wird, wie bereits bei Philipp und Albertus Magnus gezeigt, von unterschiedlichen scholastischen Autoren unter dem Topos der ‚allgemeinen Tugend (virtus generalis)‘ oder dem der ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘ diskutiert. Und wie ebenfalls schon oben besonders bei Philipp dargelegt, ergibt sich aus dieser Charakterisierung der Gerechtigkeit als allgemeiner Tugend für diese eine Nähe nicht nur zur intellektuellen Tugend Klugheit, sondern gerade auch unter dem Aspekt der Initiierung und Ausrichtung von konkreten Tugendakten eine Affinität zur voluntativen Tugend caritas. Zentral für diese Art von Allgemeinheit ist
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der Bezug auf fremdes Wohl, der sowohl der caritas bzw. Freundschaft als auch der Gerechtigkeit zukommt und der ja mit Blick auf letztere einleitend als eins der großen Probleme tugendethischer Ansätze angesprochen wurde, die eine Theorie der Gerechtigkeit als Tugend zu bewältigen hat. Diese Problemlage, die bislang zwar stets mitgeführt, jedoch bislang eher nur angerissen wurde, wird nun ebenfalls abschließend vor dem Hintergrund der Untersuchung des Verhältnisses von caritas/amicitia und Gerechtigkeit zu diskutieren sein. Waren allgemeine Gerechtigkeit und caritas hierbei besonders bei Philipp noch sehr eng aufeinander bezogen, so treten diese schon bei Thomas in systematischer Hinsicht stärker auseinander, indem die allgemeine Gerechtigkeit im Sinne der Gesetzesgerechtigkeit erkennbar als moralphilosophisches, die caritas dagegen als moraltheologisches Problem verhandelt wird. Moraltheologisch ist dieses Thema hierbei wie schon oben gesagt deshalb, weil die caritas als eingegossene Tugend selbst ‚theologisch‘ ist, und zwar in dem schon oben genannten dreifachen Sinne von ‚Gott zum Objekt habend‘, ‚von Gott prinzipiiert‘ und von ‚durch göttliche Offenbarung übermittelt‘.³⁷⁹ Dieses Auseinandertreten entwickelt sich aus der Spannung zwischen der scholastischen caritas und der Gerechtigkeitstheorie der aristotelischen Ethik. Hinzu kommt aber weiterhin die Konfrontation der mittelalterlichen caritas mit der aristotelischen philia aus den Freundschaftsabhandlungen in EN VIII und IX. Diese stellt gleichsam neben der Gesetzesgerechtigkeit eine weitere Konkurrenz mit Blick auf die Frage dar, welcher von diesen drei Tugenden der Status einer allgemeinen Tugend oder ‚Form der Tugenden‘ (forma virtutum) zukommt und welche von ihnen entsprechend tatsächlich auf fremdes Wohl auszurichten vermag.³⁸⁰ Dies gilt umso mehr, als Thomas die aristotelische philia verwendet, um die Struktur und das Wesen der caritas zu erläutern. Die Weiterentwicklung der bei Thomas gelegten Grundstrukturen wird in der vorliegenden Studie wie angekündigt anhand einer Darstellung und Interpretation der Beiträge von Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines untersucht, die sich genau mit Blick auf die Frage nach dem Status einer all Cf. Sth I – II q. a. c. In gegenwärtigen Diskussionen findet sich eine ähnliche Problemlage, die insbesondere durch den Einfluss der Virtue Ethics in Gestalt der Frage besprochen wird, ob man Gerechtigkeit (justice) oder Liebe bzw. Freundschaft (love/friendship) einen sittlich höherwertigen Status einräumen soll. Cf. hierzu einschlägig Krebs (). – Mit Blick auf das Folgende kommt hierbei im Übrigen, obzwar eher implizit, auch ein Aspekt in den Blick, der bei der Fokussierung, die zuletzt aufs Naturrecht vorgenommen wurde, noch nicht ausdrücklich geworden ist. Denn das Naturrecht ist wie gesehen an ihm selbst indifferent hinsichtlich der Frage, ob sich das, was in der jeweils konkreten Situation als das zu Tuende erscheint, ein Anspruch einer sachlichen Lage oder einer personalen Anerkennungsforderung ist. Das Naturrecht ist anders gesagt indifferent mit Blick darauf, ob der ‚Adressat‘ der entsprechenden Handlung vernunftbegabt ist oder nicht. Mit Blick auf die Freundschaft jedoch kommt eben diese Dimension des Adressaten in den Blick, wie erneut insbesondere in der Diskussion der Kritik Gottfrieds an Jakob deutlich werden wird. – Der Konnex von Gerechtigkeit und Anerkennung, also die Problematik, dass man Gerechtigkeit nicht nur sozusagen von oben her durch Zuteilung herstellen kann, sondern dass der, dem zugeteilt wird, auch das Recht haben muss, zu sagen, was er für gerecht hält, wird auch in gegenwärtigen Diskursen diskutiert. A. Krebs etwa entwickelt in dem eben schon erwähnten Test eine dialogische Theorie der Gerechtigkeit.
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gemeinen Tugend und nach den Kandidaten, die für einen solchen Titel infrage kommen, in eine sehr kontroverse Diskussion verstricken. Die nachfolgenden Abschnitte werden methodisch zunächst Thomas’ eigenen Ansatz auf die Problematik darstellen und sodann ebendiese Diskussion zwischen Jakob und Gottfried betrachten.
4.5.1 Thomas von Aquin über Gerechtigkeit, Freundlichkeit (affabilitas), Freundschaft (amicitia) und Liebe (amor/caritas)³⁸¹ Im Folgenden werden unter dem Topos ‚amor‘ zunächst die ontologischen Grundlagen herausgearbeitet, auf die Thomas seine Theorie der Freundschaft und der caritas aufbaut. Hierbei wird sich zeigen, dass Thomas ähnlich wie dann auch Gottfried, aber anders als Aristoteles das der Freundschaft – wie der Gerechtigkeit – eigentümliche Moment des Strebens nach fremdem Wohl aus der einheitlichen Bestimmung des allgemeinen Strebens nach dem eigenen Glück, das heißt aus der natürlichen Selbstliebe, in geradezu neuplatonischer Weise gleichsam abzuleiten bzw. das Streben nach fremdem Wohl auf das Streben nach dem eigenen zurückzuführen versucht. Es wird zudem zu diskutieren sein, inwieweit Thomas’ Ansatz zu überzeugen vermag. In einem zweiten Schritt werden sodann die unterschiedlichen tugendmäßigen Ausformungen, die ‚Liebe‘ bei Thomas annehmen kann, dargestellt. Den Anfang macht dabei eine knappe Darstellung der sogenannten ‚affabilitas‘ (angenehmer Umgang, ‚Leutseligkeit‘), die Thomas als einen Teil der Tugend der Gerechtigkeit herausstellt. Es folgt eine Untersuchung der uneigentlichen Formen der Nutzen- und Lustfreundschaft sowie der politischen Freundschaft und deren Bezug zur Gerechtigkeit. Drittens wird die eingegossene Tugend der caritas in ihren beiden Erscheinungsformen als Gottesund Nächstenliebe besprochen. Die schon genannte Parallelisierung von Gerechtigkeit und caritas unter dem Topos der ‚Form der Tugenden‘ (forma virtutum) wird,wie schon im obigen Abschnitt darstellt, von Thomas angedeutet, aber noch nicht vollzogen; dies geschieht erst im Weiteren bei Jakob von Viterbo, was in einem weiteren Hauptabschnitt eingehender untersucht wird.
4.5.1.1 Grundlagen: Natürliche Selbst- und Nächstenliebe bei Thomas (amor concupiscentiae und amor amicitiae) 1. Den besten Einstieg in die folgenden Erörterungen kann man durch eine Erinnerung an eine These finden, die, wie oben gezeigt, mit Blick auf die Freundschaft von Aristoteles vertreten wird. Dieser meint, dass die Freundschaft zu anderen nur auf Grundlage der
Zur Rezeption der aristotelischen Freundschaftstheorie durch Thomas und zu einigen Schwierigkeiten, die diese für die Beschreibung der Freundschaft im thomasischen Entwurf mit Blick auf die caritas mit sich bringt, cf. Fuchs (, – ). Die hier folgenden Darlegungen werden dort zum Teil vollständiger entwickelt. Cf. dort auch für weiterführende Literaturangaben.
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Liebe bzw. Freundschaft zu sich selbst möglich ist.³⁸² Wie ebenfalls bereits herausgestellt, heißt das nicht, dass Aristoteles damit den Anspruch verfolgte, Freundschaft zu anderen aus der Freundschaft zu sich selbst gleichsam abzuleiten. Vielmehr ist sein Gedanke offenbar, dass man nicht mit anderen befreundet sein kann, wenn man zu sich selbst kein geordnetes, wohlwollendes und in diesem Sinne freundschaftliches Verhältnis pflegt; der innerlich durch seine Ausschweifungen Zerrissene weist nicht die Solidität und Vertrauenswürdigkeit auf, die es ihm ermöglichte, in freundschaftlichen und stabilen Verhältnissen zu anderen zu leben. Überdies bezieht sich die aristotelische Rede vom Verhältnis von Freundschaft zu sich selbst und anderen auch darauf, dass man dem anderen dieselben Güter wünscht, die man auch für sich selbst will. Mit sich befreundet zu sein ist somit für Aristoteles eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Freundschaft zu anderen. 2. David Gallagher hat nun in zwei überaus luziden Aufsätzen gezeigt, dass Thomas in dieser Frage einen anderen Ansatz verfolgt, indem er darzulegen unternimmt, dass alle Liebe auf einer natürlichen Selbstliebe basiert und die Liebe zu anderen dieser Selbstliebe bzw. einer bestimmten Art derselben entspringt.³⁸³ Bei dieser natürlichen Selbstliebe, die Thomas als Grundinklination des Willens ansieht, handelt es sich um nichts anderes als das natürliche Streben nach Glückseligkeit (felicitas bzw. beatitudo), das allem sonstigen Streben zugrunde liegt. Mit Blick hierauf unterscheidet Thomas weiter traditionell zwischen einer Liebe, mit der wir in der Freundschaft die Glückseligkeit oder andere Güter für uns oder den Freund begehren (amor concupiscentiae), und einer Liebe, mit der wir den Freund oder – auf der Ebene der natürlichen Selbstliebe – uns selbst um des Freundes bzw. unserer selbst willen lieben (amor amicitiae). Zu zeigen ist in dieser Konstellation von Thomas, dass der amor amicitiae, mit dem wir den Freund lieben, dem amor amicitiae entspringt, mit dem wir uns selbst lieben. Hier also liegt die eingangs angesprochene Parallele zwischen Freundschaft und Gerechtigkeit, denn in beiden Fällen wird ja einem anderen ein Gut gewünscht. So stellt sich wie für die Freundschaft auch für die Gerechtigkeit also die Frage, inwieweit Thomas zeigen kann, dass das beiden Tugenden innewohnende Streben des Willens dem natürlichen Streben nach dem eigenen Glück entspringt. 3. Geführt wird dieser Nachweis von Thomas für die Freundschaft. Die Grundlage der Überlegungen bildet eine Struktur, die Thomas – wie gesehen ähnlich wie Philipp bei der caritas – ‚Einheit der Liebe (unio amoris)‘ nennt (Sth II – II 17 q. 3c). In dieser Einheit der Liebe verfolgt der Freund bzw. der Liebende das Wohl einer anderen Person als sein eigenes, was, wie Gallagher zeigt, für Thomas eine notwendige Bedingung der Freundschaft ist.³⁸⁴ Der Liebende verfolgt in anderen Worten das Wohl (Glück) des Freundes mit einem amor concupiscentiae, wie er sein eigenes Glück mit einem amor concupiscentiae verfolgt. Indem er sich aber erstens als mit dem Freund in einer Cf. oben Kap. .... sowie EN VIII , b – . Cf. Gallagher (, – ) und Gallagher (, – ). Siehe dort auch die Rekonstruktion der Positionen innerhalb der Forschung. Cf. hierzu und zum Folgenden Gallagher (, – ).
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Einheit der Liebe befindlich empfindet, und indem er zweitens sein eigenes mittels eines amor concupiscentiae verfolgtes Glück vor dem Hintergrund einer als amor amicitiae zu kennzeichnenden Selbstliebe verfolgt, verfolgt er somit Thomas zufolge auch das Glück des Freundes mit einem amor amicitiae, nämlich als sein eigenes. Die Grundprinzipien dieser Struktur bilden hierbei Einheit (unitas) im Allgemeinen und Ähnlichkeit (similitudo) als spezielle Form der Einheit. Einheit kann wie etwa im Falle der ‚Freundschaft‘ von Eltern und deren Kindern im mereologischen Sinne, mithin als Teil-Ganzes-Relation angesehen werden. Ähnlichkeit hingegen entspringt einer formalen Gleichheit und Vollkommenheit, die, wie Gallagher dies deutet, für Thomas im Falle ihres Wahrgenommenwerdens als Basis der unterschiedlichen Formen von Freundschaft dient.³⁸⁵ Das fremde Wohl wird also mit amor amicitiae (um seiner selbst willen) verfolgt, weil es im Grunde ein Teil des eigenen ist. In dem Maße, wie der Freund erfasst wird als in Einheit mit mir als den ihn Liebenden stehend, verfolge ich dessen Wohl als mein eigenes. In diesem Sinne also kann man mit Thomas sagen, dass die Freundschaft zu mir selbst die Grundform für die zu einem anderen darstellt. Diese Struktur wird in modifizierter Form bei Gottfried in seiner Erklärung nicht der Freundschaft, sondern der Gerechtigkeit, aber auch bei Jakob wieder auftauchen. 4. Soll diese Struktur bei Thomas Freundesliebe, das heißt das Verfolgen von fremdem Wohl, aus der Selbstliebe erklärbar machen, so wird bei genauerer Betrachtung zweierlei deutlich. Erstens nämlich bietet Thomas’ Einheitskonzeption offenbar einen durchaus diskutablen Ansatz, um zu erklären, wieso wir im Fall von Freundschaft im uneigentlichen Sinne (Nutzen- und Lustfreundschaft) das Wohl des Freundes suchen. Und aufgrund der großen Nähe der uneigentlichen Freundschaft zur Gerechtigkeit könnte man auf dieser Basis versuchen, auch die Möglichkeit der Gesetzesgerechtigkeit als Streben nach fremdem Wohl aus der Selbstliebe zumindest teilweise zu erklären. Denn man könnte argumentieren, dass ich das fremde Wohl im Sinne des Gemeinwohls (bonum commune) in gesetzesgerechten Handlungen deshalb erstrebe,weil ich mein eigenes Wohl als Teil dieses Gemeinwohls und mich selbst als in einer Einheit mit der Gemeinschaft stehend begreife. In diese Richtung wird Gottfried von Fontaines weiter argumentieren. Schwierigkeiten mit dieser Erklärung würden jedoch dann auftreten, wenn gesetzesgerechtes Handeln bedeuten würde, das eigene Wohl zurückzustellen.³⁸⁶ Und auch der Aspekt des Naturrechts (ius naturale) im mit Blick auf Thomas besprochenen Sinne, also als ein Handeln in Bezug auf ein real durch die Situation Gefordertes, scheint auf diese Weise nicht recht in den Blick zu kommen. Gänzlich fraglich ist schließlich, ob dieses Modell zur Beschreibung der Freundschaft im eigentlichen Sinne taugt, wo das Gut des Freundes ja gerade nicht als eigenes Gut, sondern als ein Gut um des Freundes selbst willen verfolgt wird. Genau dieser Aspekt bleibt auch im thomasischen Modell der erweiterten Selbstliebe unterbelichtet. Cf. Gallagher (, ). Eine dritte Form der Einheit ist die Liebe zu Gott, erneut ein Teil-GanzesVerhältnis, wobei jedoch anders als im ersten Fall der Eltern, die das Ganze und die geliebten Kinder der Teil waren, hier der Liebende sich als Teil eines Ganzen, dem er einzuwohnen wünscht, versteht. Wie etwa beim ‚pro patria mori‘.
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4.5.1.2 Erscheinungsformen von Freundschaft (amicitia) 4.5.1.2.1 Affabilitas als Teil der Gerechtigkeit 1. Eine erste Erscheinungsweise der Freundschaft, die Thomas bespricht, ist die sogenannte ‚affabilitas‘, das heißt der angenehme und geziemende Umgang mit anderen. Thomas betrachtet diese Tugend bezeichnenderweise als Teil der Gerechtigkeit, was erneut deren Nähe zur amicitia im weitesten Sinne zeigt. Was dabei unter einem ‚Teil der Tugend‘ zu verstehen ist, ist bereits oben bei der Diskussion der Klugheit und der Epieikie untersucht worden. Wenn hier jedoch die affabilitas als Art der Freundschaft und zugleich als Teil der Gerechtigkeit von Thomas thematisiert wird, so räumt Thomas selbst schon am Beginn und unter Rückgriff auf Aristoteles ein, dass es sich hierbei bloß um eine uneigentliche Form der Freundschaft handelt, der, da sie lediglich auf äußere Taten und Äußerungen, nicht dagegen auf den inneren Affekt der Liebe bezogen ist, der wahre Begriff der Freundschaft (vera ratio amicitiae) nicht zukommt.³⁸⁷ Dass es sich dennoch um eine spezielle Tugend handelt, liegt für Thomas darin, dass sie auf ein spezielles Gut als ihr Objekt bezogen ist, nämlich die Ordnung im allgemeinen zwischenmenschlichen Umgang (conversatio communis), und den Menschen entsprechend befähigt, innerhalb dieses Umgangs zu tun und zu sagen, was sich schickt (decet).³⁸⁸ Als Teil der Gerechtigkeit ist diese Tugend dabei deshalb aufzufassen, weil sie an diese als an ihre Haupttugend (virtus principalis) gebunden ist. Dabei kommt sie mit der Gerechtigkeit darin überein, dass sie auf den anderen bezogen ist; der Unterschied zwischen beiden ergibt sich jedoch daraus, dass nur die Gerechtigkeit den Begriff des Geschuldeten im Vollsinn erfüllt, indem sie den gerecht Handelnden nämlich entweder durch ein gesetzlich gefordertes Geschuldetes (debitum legale) oder aber ein solches, das sich aus empfangener Wohltat ergibt (debitum proveniens ex aliquo beneficio suscepto), also entweder aus positiv-rechtlicher oder aus naturrechtlicher sowie naturgesetzlicher Verpflichtung heraus bindet. Dagegen ist das Geschuldete, das der ‚Affabilis‘ erstattet, in Thomas’ Augen zwar ein solches der Ehrhaftigkeit (debitum honestatis), das sich allerdings weniger auf ein objektives Gesetz oder einen objektiv in dem, dem erstattet wird, liegenden Grund richtet; vielmehr hat es seinen Ursprung in der Tugendhaftigkeit des ‚Affabilis‘ selbst.³⁸⁹ Immerhin ist Thomas der Auffassung, dass diese Tugend aus einer gewissen natürlichen Schuldigkeit zur Ehrhaftigkeit (ex quodam naturali debito honestatis) heraus gehalten ist, die Freundlichkeit im Umgang zu pflegen, wofür die natürliche Grundlage die Natur des Menschen als eines Gemeinschaftswesens darstellt.³⁹⁰ 2.Überraschend mag an letzterer Einschätzung erscheinen, dass ausgerechnet die in ihrem Geschuldeten (debitum) liegende naturrechtliche und naturgesetzliche Grundlage der affabilitas deren defizitären Charakter gegenüber der Gerechtigkeit auszumachen scheint. Einer der Gründe hierfür liegt offenkundig darin, dass Thomas hier die
Cf. Sth II – II q. a. ad . Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. ad .
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Gesetzesgerechtigkeit mit ihrem gesetzlich Geschuldeten (debitum legale) als paradigmatische Form ansieht. Jedoch wird klarer, was Thomas hier vor Augen hat, wenn man berücksichtigt, dass Thomas als Vollsinn des Geschuldeten (plena ratio debiti) neben dem gesetzlich Geforderten wie gesehen auch dasjenige Geschuldete benennt, das sich aus empfangener Wohltat ergibt, was offenbar eher Statthalter für ein naturrechtliches oder naturgesetzliches Moment – nämlich das Gebot, empfangene Wohltat zu vergelten – zu dienen scheint. Dagegen scheint im Geschuldeten der affabilitas, seiner natürlichen Grundlage unbeschadet, deswegen nicht der Vollsinn eines Geschuldeten erreicht zu sein, weil es seine Basis bloß im Akteur, nicht in der Sache hat. Auch wenn es heißt, affabilitas habe ihre Grundlage in der geselligen Natur des Menschen, so bezieht sich dies doch auf die Seite des Inhabers dieser Tugend (den affabilis), nicht auf die ‚objektive‘ der Forderung. Die affabilitas scheint daher für Thomas eher in einer Reihe mit Tugenden wie etwa der Freigebigkeit (liberalitas) zu sehen, die wenige Quästionen später diskutiert wird (Sth II – II q. 117). In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass Thomas mit dieser Art von ‚Freundschaft‘, obzwar sie im geselligen Umgang der Menschen untereinander sicherlich eine wichtige Rolle spielt, offenkundig lediglich eine Nebentugend thematisiert – im Gegensatz zur caritas.
4.5.1.2.2 Vollkommene und unvollkommene ethische Freundschaft (amicitia) 1. Vor genauerer Beschreibung der grundlegenden Modifikationen, die Thomas mit dem aristotelischen Ansatz vor allem in Hinsicht auf die theologische Tugend der caritas vornimmt, seien an dieser Stelle noch die Momente benannt, die Thomas von Aristoteles mit Blick auf die Freundschaft als eine ethische Tugend übernimmt. Da Thomas hierzu jedoch nicht viel in Sth sagt, ist sein Ethikkommentar kurz heranzuziehen, wo Thomas Aristoteles weitestgehend folgt. So übernimmt er die Dreiteilung von Freundschaftstypen, die durch die unterschiedliche Art und Weise zustande kommt, in der in ihnen jeweils das ‚Liebenswerte‘ avisiert wird. Bei Thomas heißen diese Typen: amicitia propter honestum, amicitia propter delectabile, and amicitia propter utile.³⁹¹ ‚Amicitia propter honestum‘ bedeutet, dass der Freund um seiner sittlichen Tugendhaftigkeit willen geliebt wird (propter bonum virtutis).³⁹² Die ‚amicitia propter delectabile‘ hat den Freund zum Gegenstand insofern, als er bei uns angenehme Leidenschaften/Gefühle (passiones) hervorruft.³⁹³ ‚Amicitia propter utile‘ schließlich bezieht sich auf den Freund deshalb, weil dieser uns nützlich ist (propter utilitatem).³⁹⁴ Allein die erste Art der Freundschaft ist dabei für Thomas wie für Aristoteles Freundschaft im eigentlichen Sinne (amicitia per se); dagegen sind die anderen beiden zu bestimmen als ‚Freundschaften in beiläufiger Weise‘ (amicitiae per
SLE . l. – . SLE . l. – . Cf. SLE .. l. – . Cf. SLE . l. – .
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accidens).³⁹⁵ Weiterhin ist Thomas wie Aristoteles der Auffassung, dass diese drei Typen von amicitia letztlich auf eine Dichotomie zurückgeführt werden können, sofern man allein ihr ‚propter quid‘ berücksichtigt, also ihr Worumwillen, das sie darin bedingt, weshalb sie dem anderen Gutes wollen. Denn lediglich in der vollkommenen Freundschaft (amicitia propter honestum/amicitia honesti) wünschen sich die Freunde das Gute um ihrer selbst willen.³⁹⁶ Dagegen wünscht man dem Freund in den anderen beiden Freundschaftstypen nicht um seiner selbst willen Gutes, sondern nur deshalb, weil er in angenehmer oder nützlicher Weise gut für uns ist.³⁹⁷ Die amicitia propter honestum als amicitia im eigentlichen Sinne, so stimmt schließlich Thomas mit Aristoteles überein, ist letztlich in der Tat die höchste Form von Freundschaft (maxima amicitia), die sich mit dieser Freundschaft liebenden Freunde sind Freunde im höchsten Grade (maxime amici)³⁹⁸ – allerdings nur solange, wie man sich auf dem Boden nicht-theologischer Ethik befindet. 2. Ebenfalls wie Aristoteles ist Thomas der Auffassung, dass sich die ethischen, jedoch nicht vollkommenen Arten von Freundschaft auf denselben Bereich beziehen wie das Recht (iustum) und die Gerechtigkeit und überhaupt die verschiedenen Arten der politischen Gemeinschaften und Austauschverhältnisse (communicationes politicae). Und wie innerhalb dieser Gemeinschaften das Gerechte (iustum) je ein anderes ist, so gilt dies auch für die jeweils spezifische Form der Freundschaft. Dabei spezifiziert Thomas jedoch, dass es sich bei den fraglichen Freundschaften nicht nur um uneigentliche, sondern zudem um solche unter Ungleichen handelt.³⁹⁹ Überdies unternimmt Thomas im Ethikkommentar den Versuch, all diese Freundschaften letztlich als Nutzenfreundschaften herauszustellen.⁴⁰⁰ Dies gilt sowohl für Verhältnisse, die eher an die partikuläre Gerechtigkeit angelehnt zu sein scheinen, als auch für solche, die man der Gesetzesgerechtigkeit zuordnen würde.⁴⁰¹ Ist Letzteres durchaus nachvollziehbar, so bleibt Thomas’ Reduktion aller politischen Verhältnisse auf ungleiche Freundschaften jedoch irritierend. Denn nicht nur scheint Thomas damit in systematischer Hinsicht Regierungsformen, die auf Gleichheit ihrer Bürger beruhen, von vornherein auszusondern. Auch in textexegetischer Hinsicht ist Thomas’ Deutung eigenwillig. Denn Aristoteles beschreibt an einschlägiger Stelle in EN VIII 12 (1160b18 f. und 1161a2– 5) die politische Form der Timokratie durch einen Bezug auf die Freundschaft der Brüder und kennzeichnet sowohl Freundschaft als auch Gesellschaftsform als eine solche von Gleichen (isoi) – im Gegensatz etwa Cf. SLE . l. – . Dies aber wie oben gesehen auf Grundlage der freundschaftlichen Liebe zu sich selbst. Cf. SLE . l. – . Cf. SLE . l. – . Cf. SLE ., l. – . Dies mit Bezug auf EN VIII a – ; SLE ., l. – . Cf. für das Erste etwa die Beschreibung der Timokratie in SLE ., l. – („in hac politia pretia dantur pauperibus, et damna inferuntur divitibus si non conveniant ad publicas congregationes“); für das Zweite dagegen SLE ., l. – („omnes communicationes continentur sub politica sicut quaedam partes eius, in quantum aliae ordinantur ad quaedam particularia commoda, politica autem ad communem utilitatem“).
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zum monarchischen Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern. Dass Thomas in seiner Kommentierung dieser Stelle aus EN mit dieser These durchaus d’accord zu gehen scheint, ist angesichts seiner kurz vorher allgemein aufgestellten Ungleichheitsbehauptung befremdlich.⁴⁰² Durch diese Lektüre wird überdies die als durchgängig behauptete Parallele von Freundschaftsart und politischer Form mit Blick auf die Gesetzesgerechtigkeit brüchig, die es ja gerade nicht mit Ausgleichsverhältnissen unter Ungleichen zu tun hat.Wenn aber die Gesetzesgerechtigkeit aus dieser Parallelisierung mit Formen von politischer Freundschaft, die ja allesamt als uneigentliche Freundschaften gekennzeichnet worden sind, tatsächlich herausfällt, zugleich aber die Ähnlichkeit zwischen Freundschaft und Gerechtigkeit dahingehend bestehen bleibt, dass beide mit einem Verhältnis zum fremden Wohl zu tun haben, so wird umgekehrt die Parallelisierung von Gesetzesgerechtigkeit und vollkommener Freundschaft und insbesondere im thomasischen Kontext ein Vergleich mit der caritas umso naheliegender.
4.5.1.2.3 Caritas als theologische amicitia bzw. Liebe zu Gott und zum Nächsten 4.5.1.2.3.1 Caritas als Liebe zu Gott 1. Eine zentrale Modifikation, die Thomas mit Aristoteles’ Begriff der philia vornimmt, ist die Übertragung der aristotelischen Freundschaft unter Ungleichen auf das Verhältnis der caritas zwischen Mensch und Gott. Anders als Aristoteles, der derartige Freundschaftsformen für unvollkommen erachtet, erklärt Thomas überdies, dass in der so verstandenen Freundschaft als caritas die vollkommenste Form von Freundschaft besteht. Gleichzeitig jedoch hält Thomas das aristotelische Argument, dass eine zu große Ungleichheit oder Distanz eine Freundschaft unmöglich macht, für überzeugend. Im Ethikkommentar bestätigt Thomas daher, dass eine gewisse Form der Gleichheit (aequalitas) als Grundlage (primum) gegeben sein müsse, soll eine freundschaftliche Relation möglich sein, und dass die Freundschaft, ist diese Gleichheit aufgehoben, sich auflöst.⁴⁰³ Mit Blick auf Aristoteles’ These, dass aus eben diesem Grunde eine Freundschaft zwischen Göttern und Menschen möglich sei, reagiert Thomas vor dem Hintergrund, seine moraltheologische These von der caritas als Freundschaft zwischen Gott und Mensch zu ermöglichen, indem er die aristotelischen Götter zunächst mit den getrennten Substanzen (substantiae separatae)⁴⁰⁴ identifiziert, das heißt den Engel/Intelligenzen und Gott. Weiterhin räumt Thomas im Ethikkommentar ein, dass man mit Gott und den Engeln nicht befreundet sein könne, bezieht dies jedoch auf die Freundschaft im ethischen Sinne, das heißt eine solche, die auf den natürlichen Grundlagen der menschlichen Grundverfassung basiert.⁴⁰⁵ Hieran wird indes lediglich manifest, dass es sich bei caritas als Gottes-, aber auch Nächstenliebe nicht um eine erworbene ethische Tugend handeln kann, sondern es sich
Cf. SLE ., l. – . Cf. SLE ., l. – . Cf. SLE ., l. . Cf. SLE ., l. – .
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hierbei um eine eingegossene theologische Tugend handeln muss.⁴⁰⁶ Diese ermöglicht es dem Menschen, sein höchstes Ziel, nämlich die Schau Gottes, zu verfolgen. 2. Jedoch ändert auch der Wechsel von der moralphilosophischen zur moraltheologischen Perspektive bei Thomas nichts daran, dass Gott keinerlei Ähnlichkeit mit den Menschen aufweist. Nichtsdestotrotz glaubt Thomas, dass caritas, verstanden als eine Form von Freundschaft, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu beschreiben geeignet ist. Denn der großen Differenz zwischen Mensch und Gott unerachtet, kann es für Thomas eine Vermittlung (communicatio) geben, nämlich das Geschenk der Glückseligkeit, das Gott dem Menschen macht und das als Grundlage für das wechselseitige Wohlwollen fungiert, welches das Fundament für Freundschaft ist.⁴⁰⁷ Wir lieben Gott mit ‚caritativer‘ Freundschaft, weil in dessen Schau wie gesehen unsere Glückseligkeit besteht.⁴⁰⁸ Gleichzeitig lieben wir Gott auch um seiner selbst willen, und zwar als Endziel, das nicht wiederum um eines anderen willen gewollt und erstrebt werden kann.⁴⁰⁹ Gott ist daher das eigentliche und hauptsächliche Objekt der caritas, mit der wir ihn lieben.⁴¹⁰ Die für Freundschaft notwendige Wechselseitigkeit wird hierbei dadurch garantiert, dass Gottes Vermittlung der Glückseligkeit an uns zugleich Ausdruck der Liebe ist, mit der er uns liebt.⁴¹¹ 3. Gott als höchstes Prinzip unserer Glückseligkeit und daher am meisten liebenswertes Objekt fungiert für Thomas – ähnlich wie für Philipp und Albert – zugleich als Strukturprinzip des ordo caritatis,⁴¹² in dem Gott selbst als Gegenstand der caritas als höchster Liebe bzw. Freundschaft die Grundlage darstellt, nicht jedoch das einzige Objekt. Vielmehr involviert caritas als rechte Gottesliebe auch eine richtige Liebe zu uns selbst und zu unseren Nächsten.Und innerhalb dieser Ordnung wird durch Gott als ihr Prinzip die Art und Weise bestimmt, wie wir uns selbst und den Nächsten zu lieben haben, wobei Gott an erster, wir selbst an zweiter und der Nächste erst an dritter Stelle steht.⁴¹³ Uns selbst und den Nächsten lieben wir hierbei in rechter Ordnung nicht primär um unserer oder seiner selbst, sondern um Gottes willen, das heißt insofern, als wir selbst bzw. der Nächste zu Gott gehören. Soweit wir ‚Gott gehören‘ bedeutet hierbei, soweit wir oder der Nächste in der Lage sind, Glückseligkeit qua Gottesschau zu erreichen.⁴¹⁴ Je näher der Geliebte hierbei Gott steht, umso mehr ist er zu lieben.⁴¹⁵ Aus diesem Grund sind wir für Thomas auch gehalten, uns selbst mehr zu lieben als den Nächsten.⁴¹⁶
Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth I – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Super Rom. . n. . Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c, a. c und a. c.
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4. Innerhalb des ordo caritatis ist Gott als unser Endziel um seiner selbst willen bzw. wegen seiner selbst (propter seipsum) zu lieben.⁴¹⁷ ‚Propter‘ kann insgesamt in vierfacher Weise aufgefasst werden – im Sinne nämlich der Formal-, Zweck-,Wirk- oder Materialursache (causa formalis, finalis, efficiens, materialis) –, wobei im vorliegenden Fall vor allem die ersten drei Bedeutungen zentral sind. Denn Gott wird geliebt als Endziel, indem er bzw. seine Schau nur um seiner selbst willen erstrebt wird (causa finalis); er wird weiterhin geliebt als Formalursache alles existierenden Guten (causa formalis), da sein Wesen die Gutheit selbst ist, die für alles andere als Paradigma gilt. Im Sinne der causa efficiens schließlich wird Gott um seiner selbst willen geliebt, da er sein Gutsein nicht von einer anderen Ursache empfängt, sondern umgekehrt Ursache alles von ihm verschiedenen Gutseins ist. Allerdings kann man auch Gott im Sinne der Materialursache lieben, jedoch dann nicht um seiner selbst, sondern um eines anderen willen (propter aliud), und zwar dann, wenn wir Gott anderer Dinge wegen lieben, etwa aufgrund von Wohltaten, die wir erwarten oder erhalten haben, oder wegen Bestrafungen, die wir zu vermeiden suchen. 5. Man kann Thomas’ Lehre von der caritas als Gottesliebe wie folgt zusammenfassen: Im Gegensatz zu Aristoteles ist Thomas der Auffassung, dass die höchste Form von Freundschaft nicht zwischen Gleichen, sondern zwischen höchst Ungleichen, nämlich Mensch und Gott besteht. Gott selbst ist das nächste und unmittelbare Objekt dieser Liebe oder Freundschaft; uns selbst und den Nächsten lieben wir dagegen caritativ insofern, als wir oder er in der Lage sind, der Glückseligkeit, das heißt der Schau Gottes teilhaftig zu werden.⁴¹⁸ Im Abgleich zu den Charakteristika, die Aristoteles als konstitutiv für das Phänomen der Freundschaft ansieht – also wechselseitiges Wohlwollen, das den Freunden nicht unbekannt ist und in der Gutheit, Nützlichkeit oder Angenehmheit des geliebten Partners gründet –, kann zu Thomas’ Entwurf der caritas Folgendes festgehalten werden: Das Worum-willen (propter quid) der caritas ist die Gutheit des Geliebten, im Falle Gottes die Gutheit selbst (bonum ipsum). Die göttliche Benevolenz wird hierbei Thomas zufolge durch den christlichen Glauben offenbar.⁴¹⁹ Die Wechselseitigkeit der Liebe ist dadurch gewährleistet, dass uns Gott wohlwill, indem er uns um unserer selbst willen liebt, und wir umgekehrt ihm Ehrerbietung zuteil werden lassen.⁴²⁰ Dagegen ist es uns unmöglich, Gott im Sinne des Wohltuns (beneficere) wohlzuwollen, da es kein Gut gibt, dessen Gott ermangelte und das ihm von unserer Seite aus getan werden könnte.
Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. Sth II – II q. a. ad .
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4.5.1.2.3.2 Caritas als Nächstenliebe 1. Caritas als Nächstenliebe lässt sich am besten anhand von Thomas’ Quaestio disputata de caritate untersuchen, genauer anhand des vierten Artikels,⁴²¹ wo die Frage diskutiert wird, ob die beiden Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe in der caritas als einer einzelnen Tugend (una virtus) vereinigt sein können. Diese Frage hat ihre Grundlage darin, dass es mit Gottes- und Nächstenliebe nicht nur eine, sondern zwei Arten von caritas zu geben scheint. Um dagegen die Einheit der caritas zu zeigen, argumentiert Thomas zunächst, dass ein Vermögen (potentia) oder ein Habitus seine Einheit durch das Objekt empfängt, auf das es oder er bezogen ist. Am Objekt jedoch können zwei Hinsichten unterschieden werden, nämlich dessen formaler und materialer Aspekt. Das Vermögen oder der Habitus werden in seiner Einheit hierbei nur vom formalen, nicht aber vom materialen Aspekt des Objekts bestimmt. Um dies zu illustrieren, bringt Thomas folgendes Beispiel: Das Sehvermögen etwa ist an und für sich (per se) bezogen auf die Farbe als der formalen Hinsicht ihres Objekts, aber nur akzidentell (per accidens) auf den Körper (= materiale Hinsicht), dem die Farbe inhäriert. Ähnlich nun verhält es sich Thomas zufolge mit der caritas, wobei noch eine weitere Unterscheidung vorauszuschicken ist, um die Verhältnisse im Bereich dieser Tugend klarer zu erfassen. Betrachtet man beim der caritas zugrunde liegenden Phänomen des Liebens (diligere) nämlich die formale Seite, also den Bezug aufs eigentümliche Objekt, so lassen sich auch hier wiederum zwei Hinsichten unterscheiden. Einmal nämlich können wir jemanden aufgrund seiner selbst lieben (ratione sui ipsius), was dann der Fall ist, wenn wir ihn aufgrund eines eigentümlichem Guts lieben (ratione boni proprii), das ihm zukommt, also deswegen, weil er moralisch gut, uns angenehm oder nützlich ist (in se honestus, nobis delectabilis, nobis utilis).Wir können jemanden aber auch wegen eines anderen lieben (ratione alterius), nämlich eines anderen wegen, den wir um seiner selbst willen lieben. Ein Beispiel hierfür wäre die Liebe, die wir für die Familienmitglieder von jemandem empfinden, den wir um seiner selbst willen lieben. Wichtig ist aber, dass wir sowohl im Fall ratione sui ipsius als auch im Fall ratione alterius dasselbe Formalobjekt vorliegen haben, das heißt das Gute, Nützliche oder Lustbringende, das wir im einen ratione sui ipsius, im anderen ratione alterius lieben. Bezogen auf Gott und den Nächsten bedeutet dies, dass wir Gott ratione sui ipsius als höchstes Gut lieben, den Nächsten dagegen ratione alterius, nämlich ratione Dei, das heißt deshalb, weil Gott in ihm ist oder auf dass er in ihm sei, was bedeutet, dass wir dem anderen Glückseligkeit wünschen. Diesen Bezug auf den anderen aber grenzt Thomas deutlich von den Formen des Wohlwollens ab, die den drei anderen aristotelischen Arten der Freundschaft eignen; diese werden von Thomas als Freundschaften gekennzeichnet, in denen der Nächste ratione sui ipsius geliebt wird. 2. Obwohl sich Nächstenliebe prinzipiell auf alle Menschen beziehen soll, räumt Thomas dennoch ein, dass es hierbei Unterschiede hinsichtlich der Intensität des
Ausnahmeweise findet hier ein Text Verwendung, der bislang nicht kritisch ediert ist. Zu rechtfertigen ist dies vor allem damit, dass dieser Text nur zu Erläuterung herangezogen wird.
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Liebens geben darf. Diese Intensität, mit der wir im Rahmen des ordo caritatis den Nächsten wegen Gott (ratione Dei) lieben, variiert dabei trotz der Identität dessen, was dem Nächsten je caritativ liebend gewünscht wird – nämlich Glückseligkeit – und hängt auf der Seite des Nächsten als geliebtem Objekt davon ab, wie nahe oder fern er Gott als dem Primärobjekt ist, wobei Gott als eines der beiden Grundprinzipien des Akts des caritativen Liebens aufgefasst werden muss.⁴²² Auf der Seite des Liebenden als des zweiten Grundprinzips des Liebens dagegen ist die Intensität umso größer, je näher der Nächste dem Liebenden steht. Während die Intensität also in objektiver Hinsicht davon abhängt, wie gut der Nächste ist – wobei er umso besser ist, je näher er Gott steht –, ist diese objektive Gutheit nicht das ausschlaggebende Kriterium für die Intensität auf seiten des liebenden Subjekts. Daher ist es möglich, dass wir jemandem in höherem Grade eine größere Nähe zu Gott wünschen, der uns natürlicherweise nahesteht, als jemandem, der dies nicht tut, und dass wir entsprechend etwa dem Freund oder Lebenspartner ex caritate in höherem Grade Glückseligkeit wünschen als einem Fremden. 3. Der für die vollkommene Freundschaft bei Aristoteles herausgestellte genuin ‚persönliche‘ Sinn des Worumwillen – das heißt, dass es mit um diesen konkreten Freund selbst geht – erscheint in der thomasischen Beschreibung der caritas als Nächstenliebe daher weniger auf der Ebene des Freundes als geliebten ‚Objekts‘; eher entsteht der Eindruck, dass hier die jedem Menschen zukommende allgemeine Bestimmung der Gottesebenbildlichkeit ausschlaggebend ist. Vielmehr kommt das genuin persönliche Moment erst auf der gleichsam sekundären Ebene der Intensität der Nächstenliebe zum Tragen. Wird hierdurch einerseits fraglich, wie aristotelische vollkommene Freundschaft und caritas als Nächstenliebe miteinander zu vermitteln wären, ohne dass erstere auf Kosten von letzterer unterginge, so wird anhand dieses Befundes erneut deutlich, wie stark sich caritas und Gerechtigkeit ähneln, besonders die Gesetzesgerechtigkeit, da ja bei dieser wie bei jener ebenfalls zunächst allgemeine Hinsichten im Mittelpunkt stehen. Der folgende Abschnitt wird diese Parallelen zwischen den beiden Tugenden wie eingangs angekündigt unter den Topoi ‚virtus generalis‘ und ‚forma virtutum‘ eingehender untersuchen.
4.5.1.3 Caritas und Gerechtigkeit als allgemeine Tugenden (virtutes generales); caritas als Form der Tugenden (forma virtutum) 1.Wie bereits erwähnt, gibt es neben dem Bezug auf fremdes Wohl, das bei Thomas wie der Gesetzesgerechtigkeit, so auch der caritas eignet, zwischen beiden Tugenden noch eine weitere Ähnlichkeit, die mit dem allgemeinen Charakter beider Tugenden in Bezug auf die übrigen Tugenden zusammenhängt und aufgrund derer Jakob von Viterbo, wie unten zu zeigen sein wird, caritas wie Gerechtigkeit als ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘ anspricht. Thomas liefert für Jakobs Auffassung zwar bereits die
Cf. Sth II – II q. a. c. Cf. auch Sth II – II a. a. c.
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Grundlage, geht jedoch noch nicht ganz so weit wie dieser. Die Parallele zwischen caritas und iustitia legalis, die Thomas in Sth II – II q. 58 a. 6 eröffnet, spricht beide Tugenden zunächst lediglich als ‚generelle Tugenden (virtutes generales)‘, nicht aber als ‚formae virtutum‘ an: Auf diese Weise wird die Gesetzesgerechtigkeit eine allgemeine Tugend genannt, nämlich sofern sie die Akte der anderen Tugenden zu ihrem eigenen Ziel hinordnet, was bedeutet, dass sie alle anderen Tugenden durch ihren Befehl bewegt. So nämlich, wie die caritas eine allgemeine Tugend genannt werden kann, sofern sie die Akte aller Tugenden zum göttlichen Gut hinordnet, so nämlich kann man auch die Gesetzesgerechtigkeit als allgemeine Tugend bezeichnen, sofern sie nämlich die Akte aller Tugenden zum Gemeinwohl hinordnet. So also, wie die caritas, die sich auf das göttliche Gut als eigentümliches Objekt bezieht, hinsichtlich ihrer Essenz eine spezielle Tugend ist, so ist auch die Gesetzesgerechtigkeit eine spezielle Tugend in Hinsicht auf ihre Essenz, der gemäß sie sich auf das Gemeinwohl als eigentümliches Objekt bezieht.⁴²³
Obgleich aber bei Thomas noch nicht davon die Rede ist, dass wie caritas auch die Gesetzesgerechtigkeit eine forma virtutum zu nennen sei, es ist ebendiese Allgemeinheit von caritas und iustitia legalis, genauer die ihnen beiden von Thomas zugesprochene Fähigkeit, die Akte aller übrigen Tugenden auf das übergeordnete Objekt entweder der caritas (Gott als summum bonum) oder der iustitia legalis (das bonum commune) auszurichten, was diese Benennung später für Jakob nahelegen wird.⁴²⁴ 2. Inwieweit Thomas selbst dem bereits vorgreift, wird daran deutlich, dass caritas für Thomas deswegen als forma virtutum zu bezeichnen ist, weil sie den Akten der übrigen Tugenden ihre Form aufprägt, indem sie diese auf ihr Ziel hin ausrichtet, was für Thomas wiederum seine Grundlage darin hat, dass das psychische subiectum der caritas der Wille ist (was Gottfried von Fontaines später vehement bestreiten wird): Im Bereich der Sitten wird die Form eines Akts prinzipiell von seiten des Ziels her betrachtet, wofür der Grund darin liegt, dass das Prinzip der moralischen Akte der Wille ist, dessen Objekt und gleichsam Form das Ziel ist. Stets aber folgt die Form des Akts der des Agierenden. Daher ist es notwendig, dass im Bereich der Sitten dasjenige, was dem Akt eine Ordnung hin zum Ziel vermittelt, ihm auch die Form vermittelt. Es ist aber nach dem Gesagten offenkundig, dass durch die caritas die Akte aller anderen Tugenden zum letzten Ziel hin geordnet werden. Und mit Blick hierauf verleiht diese Tugend allen anderen Tugendakten ihre Form. Und insoweit sagt man, dass
Sth II – II q. a. : „Hoc autem modo, secundum praedicta, iustitia legalis dicitur esse virtus generalis, inquantum scilicet ordinat actus aliarum virtutum ad suum finem, quod est movere per imperium omnes alias virtutes. Sicut enim caritas potest dici virtus generalis inquantum ordinat actus omnium virtutum ad bonum divinum, ita etiam iustitia legalis inquantum ordinat actus omnium virtutum ad bonum commune. Sicut ergo caritas, quae respicit bonum divinum ut proprium obiectum, est quaedam specialis virtus secundum suam essentiam; ita etiam iustitia legalis est specialis virtus secundum suam essentiam, secundum quod respicit commune bonum ut proprium obiectum.“ Im Grunde steht vor dem Hintergrund der Kriterien, die Thomas entwickelt, nichts dem entgegen, dass er auch die Gesetzesgerechtigkeit als forma virtutum im ethischen Bereich kennzeichnen könnte. Die beiden kriteriellen Momente zur Bestimmung einer solchen – das ‚intellektualistische‘ Integrationsund Inklusionsverhältnis auf der einen Seite, das ‚voluntaristische‘ Bewegungs- und Affektionsverhältnis auf der anderen – sind in der Gesetzesgerechtigkeit bei Thomas verbunden.
4.5 Gerechtigkeit, Freundschaft und die ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘
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caritas die Form der Tugenden ist, denn man sagt auch von diesen Tugenden selbst, dass sie in Hinordnung zum Akt geformt sind.⁴²⁵
Es erhellt, dass eine analoge Beschreibung auch der Gesetzesgerechtigkeit zukommen kann, von der Thomas, wie eben gesehen, ebenfalls – allerdings noch unter dem Topos ‚virtus generalis‘ – festhält, dass sie die Akte der übrigen Tugenden auf das bonum commune als ihr eigenes Ziel ausrichten kann. Es liegt daher nahe, nicht nur den Titel ‚virtus generalis‘, sondern auch den Namen ‚forma virtutum‘ von der caritas auf die Gesetzesgerechtigkeit zu übertragen. Thomas selbst jedoch zieht nicht diese Konsequenz; vielmehr nennt er als Kandidatin für eine ‚forma virtutum‘ im Bereich der erworbenen Tugenden die Klugheit.⁴²⁶ Diese Ambivalenz wird sich auch bei Jakob wiederfinden.⁴²⁷
Sth II – II q. a. c: „in moralibus forma actus attenditur principaliter ex parte finis, cuius ratio est quia principium moralium actuum est voluntas, cuius obiectum et quasi forma est finis. Semper autem forma actus consequitur formam agentis. Unde oportet quod in moralibus id quod dat actui ordinem ad finem, det ei et formam. Manifestum est autem secundum praedicta quod per caritatem ordinantur actus omnium aliarum virtutum ad ultimum finem. Et secundum hoc ipsa dat formam actibus omnium aliarum virtutum. Et pro tanto dicitur esse forma virtutum, nam et ipsae virtutes dicuntur in ordine ad actus formatos.“ – Ausführlicher erläutert Thomas diese Zusammenhänge in Quaest. disp. de caritate a. . Cf. Quaest. disp. de veritate q. c. ad : „Die Gnade [wird] nicht Form der Tugenden im Sinne eines gleichsam essentiellen Teils der Tugenden genannt […], denn auf diese Weise wäre es notwendig, dass, wenn die Tugenden vervielfältigt werden, auch die Gnade vervielfältigt werden würde. Vielmehr wird sie insofern Form der Tugenden genannt, als sie den Akt der Tugend formal vervollständigt. Ein Akt der Tugend kann aber auf dreifache Weise formal bestimmt werden: einmal insofern, als in Bezug auf die Substanz des Aktes die geschuldeten Bedingungen erbracht werden, durch deren Eingrenzung der Akt in der Mitte der Tugend konstituiert wird. Und dies hat der Akt der Tugend von der Klugheit, denn die Mitte der Tugend wird gemäß der rechten Vernunft aufgefasst, wie in EN II gesagt wird. Und so wird die Klugheit Form aller moralischen Tugenden genannt. Der solchermaßen in der Tugendmitte konstituierte Akt aber ist gleichsam der Stoff in Hinsicht auf die Hinordnung zum letzten Ziel. Diese Ordnung wird dem Tugendakt durch den Befehl der caritas aufgeprägt, und so wird die caritas Form aller anderen Tugenden genannt. Weiterhin verleiht die Gnade die Wirksamkeit des Verdienstes, denn keines unserer Werke kann als der ewigen Herrlichkeit würdig erachtet werden,wenn nicht die göttliche Aufnahme vorausgesetzt ist, und so wird die Gnade Form sowohl der caritas als auch der anderen Tugenden genannt. [gratia non dicitur forma virtutum quasi pars essentialis virtutum: sic enim oporteret quod multiplicatis virtutibus multiplicaretur gratia; sed dicitur forma virtutis, in quantum formaliter actum virtutis complet. Informatur autem actus virtutis tripliciter. Uno modo in quantum circa substantiam actus apponuntur debitae conditiones, per quarum limitationem in medio virtutis constituitur. Et hoc habet actus virtutis a prudentia; nam medium virtutis accipitur secundum rationem rectam, ut dicitur in libro II Ethic. Et sic prudentia dicitur forma omnium virtutum moralium. Actus autem virtutis sic constitutus in medio, est quasi materialis respectu ordinis in finem ultimum, qui quidem ordo apponitur actui virtutis ex imperio caritatis; et sic caritas dicitur esse forma omnium aliarum virtutum. Ulterius vero efficaciam merendi adhibet gratia: nullus enim operum nostrorum valor reputatur dignus aeternae gloriae, nisi praesupposita acceptatione divina; et sic gratia dicitur esse forma et caritatis et aliarum virtutum].“
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4.5.2 Jakob von Viterbo: Gerechtigkeit und Freundschaft als ‚Form der Tugenden‘ (forma virtutum)⁴²⁸ 1. Jakobs Überlegungen zur Gerechtigkeitsproblematik finden sich in bemerkenswert knapper Form in der 21. Quaestio des dritten Quodlibetums dargestellt. Eigentlicher Ausgangspunkt der Untersuchungen ist dabei für Jakob die Frage, „ob man innerhalb der erworbenen Tugenden eine im Vermögen des Willens ansetzen müsse, die Form der Tugenden ist, wie auch innerhalb der eingegossenen Tugenden eine im Willen anzusetzen ist, nämlich die caritas, die Form der Tugenden ist“.⁴²⁹ Wie eben gesehen, kann vor dem Hintergrund der thomasischen Vorgaben tatsächlich eine solche Parallele zwischen eingegossenen und erworbenen Tugenden vermutet werden, solange man annimmt, dass auf beiden Ebenen Tugenden des Willens anzusetzen sind, die analoge Funktionen erfüllen. Dass Jakob genau diese Struktur im Blick hat, wird daran deutlich, dass er die thomasische Definition einer Form der Tugenden als einer Tugend übernimmt, „die die anderen Tugenden zum Letztziel hinbewegt, indem sie sie leitet und ordnet“.⁴³⁰ Um nun die Frage nach der Form der Tugenden zu beantworten, geht Jakob in drei Schritten vor. Erstens ist zunächst einmal zu untersuchen, was die Rede von einer Tugend als Form der Tugenden überhaupt bedeutet. Zweitens ist zu fragen, ob es im Willen eine erworbene Tugend geben kann. Ist dies der Fall, so ist konsequenterweise drittens zu fragen, ob eine dieser im Willen anzusetzenden erworbenen Tugenden als Form der anderen erworbenen Tugenden beschrieben werden kann. 2. Jakob hält zunächst wie Thomas fest, dass eine Form der Tugenden durch zwei miteinander verschränkte Momente gekennzeichnet ist: erstens durch die Bestimmung, dass diese Tugend die anderen zu ihrem eigenen Ziel hinbewegt und hinordnet, was man als den kausaleffizienten und formalen Aspekt bezeichnen könnte; zweitens durch die Bestimmung, dass das Ziel dieser Tugend sich nicht beliebig zu den Zielen der anderen Tugenden verhält, sondern diesen übergeordnet ist (finis superior). Diese Überordnung ist dabei, wie Jakob anhand der caritas – deren Charakter als einer Form der Tugenden er voraussetzt – ausführt, eine solche „gemäß der Sache oder gemäß
Dieses Vorgehen ist etwas inkonsequent; möglicherweise entspringt es Thomas’ Bedürfnis, den Bereich der theologischen Tugenden von dem der moralischen stärker abzugrenzen. Zu Jakob gibt es nach wie vor recht wenig Forschungsliteratur. Einschlägig für die vorliegende Fragestellung ist der schon genannte Aufsatz von Kent (). Da Jakob wie auch Gottfried weniger bekannt ist, hier einige kurze biographische Stichpunkte: Jakob von Viterbo wurde um geboren und starb um . Er gilt zusammen mit Gottfried von Fontaines, Heinrich von Gent und Aegidius Romanus als einflussreicher Denker seiner Zeit. oder wurde er Magister in Paris. Jakob war in seiner Theologie stark beeinflusst von Augustinus (cf. hierzu und zu weiteren Informationen Côté []). Quodl. III q. , , – : „Utrum inter virtutes morales acquisitas sit ponere unam in voluntate quae sit forma omnium earum, sicut inter virtutes infusas ponitur una in voluntate, scilicet caritas, quae est forma omnium earum.“ Quodl. III q. , , – : „virtus est aliarum forma quae movet alias ad finem ultimum, dirigendo et ordinando.“
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dem Begriff“.⁴³¹ Bei der caritas fallen dabei höchster Begriff und höchste Sache in der Zielbestimmung zusammen, denn das Ziel der caritas ist „die höchste Sache, die Gott ist, und dies gemäß dem höchsten Begriff, welcher der Begriff des Guten ist“, und insofern, als die caritas die anderen Tugenden auf dieses Ziel ausrichtet und hinbewegt, kommt ihr der Charakter einer Form der Tugenden zu.⁴³² Dass hierbei von einer ‚Form‘ gesprochen wird, führt auch Jakob wie schon Philipp und Thomas darauf zurück, dass für jedwede Tugend ihr Ziel bzw. Objekt als ihre Form angesprochen werden kann in dem Sinne, dass eine Tugend von ihrem Objekt her die Artbestimmtheit empfängt. Da nun das Ziel der übergeordneten Tugend in gewissem Sinne auch Ziel und Objekt der untergeordneten Tugend ist, kann man die höherstehende als Form der niedrigerstehenden Tugend bezeichnen. Auch für Jakob also wie letztlich schon für Aristoteles entspringt der Charakter der Überordnung primär der inhaltlich-begrifflichen (‚rationalen‘) Bestimmtheit des höher stehenden Zieles. Jakob verweist entsprechend zur Erläuterung dieser Überordnungsstruktur auch auf jene Stelle aus EN I 1 (1094a28-b2), wo Aristoteles die architektonische Ordnung verschiedener Künste unter die leitende Staatskunst erwähnt. – Aus diesem objektiven Charakter der Überordnung ergibt sich, dass die als Form der Tugenden angesetzte Tugend „‚Form‘ und ‚den [andern Tugenden] gemeinsam‘ genannt wird in Hinsicht auf den Begriff der Kausalität“; denn die Form der Tugenden ist „Ursache der anderen Tugenden als deren Ziel und als deren Form aufgrund ihres Objekts oder Ziels; und in Folge dessen ist sie auch deren Bewegungsursache, da sie die anderen bewegt und ordnet.“⁴³³ Jakob übernimmt also zur Charakterisierung einer Form der Tugenden Thomas’ bereits bei der Gesetzesgerechtigkeit angewandte Kombination des Aspekts der Zielbestimmtheit und Zielausrichtung mit dem begrifflich-rationalen Inklusionsverhältnis. 3. Entsprechend wird die zweite Frage danach, ob es überhaupt erworbene Tugenden im Willen geben kann, von Jakob dadurch recht umstandslos bejaht, dass er die Gerechtigkeitstheorie von Thomas von Aquin aufgreift. So führt Jakob aus, dass, „wie von vielen behauptet wird“ – etwa eben von Thomas von Aquin –, „die Gerechtigkeit im Willen ist“.⁴³⁴ Wie Thomas begründet Jakob dies damit, dass „die Gerechtigkeit eine Tugend ist, die die menschlichen Handlungen lenkt, besonders sofern sie auf den anderen bezogen sind. Prinzip derartiger Handlungen aber ist am meisten der Wille, wenngleich nicht ohne den vorstellenden Intellekt“.⁴³⁵ Auch übernimmt
Quodl. III q. , , – : „secundum rem vel secundum rationem.“ Quodl. III q. , , – : „finis eius {sc. caritatis} est summa res, quae Deus est, et secundum summam rationem, quae est ratio boni.“ Quodl. III q. , , – : „dicitur [sc. forma virtutum] esse forma et dicitur esse communis eis [sc. allis virtutibus] secundum rationem causalitatis. est enim aliarum causa ut finis et ut forma ratione sui obiecti sive finis; et per consequens etiam est causa ut movens, quia movet et ordinat alias.“ Quodl. III q. , , : „ut a pluribus dicitur, iustitia in voluntate est.“ Quodl. III q. , , – : „iustitia est virtus directiva humanarum operationum, praecipue ut sunt ad alterum. Talium autem operationum principium est voluntas maxime, licet non sine intellectu ostendente.“
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Jakob von Thomas (bzw. von Aristoteles) die traditionelle Unterteilung der Arten von Gerechtigkeit, indem er von einer Gleichheitsgerechtigkeit (iustitia aequalis) und der Gesetzesgerechtigkeit spricht. Die erstgenannte bezieht sich wie bei Thomas auf den anderen Menschen als Einzelperson und unterteilt sich in kommutative und distributive Gerechtigkeit, die zweite „lenkt die Handlungen, die sich auf den anderen beziehen, sofern er zur Gemeinschaft gehört, weil sie in Hinordnung zum Gemeinwohl handelt“.⁴³⁶ Und da das Gemeinwohl zugleich Gegenstand des Gesetzes ist, handelt die Gesetzesgerechtigkeit diesem und dessen Vorschriften gemäß. Wiederum Thomas folgend, hält Jakob weiter fest, dass die erste Art der Gerechtigkeit eine spezielle, die zweite dagegen eine allgemeine Tugend ist, „nicht zwar gemäß der Prädikation“ – das heißt so, dass sie allgemein von den anderen Tugenden als deren Gattungsbegriff prädiziert werden würde –, „und nicht gemäß dem Begriff des Objekts; in dieser Hinsicht ist sie vielmehr speziell. Sondern sie wird allgemein genannt mit Blick auf die Materie, weil sie mit Bezug auf die Materie jedweder Tugend operiert“.⁴³⁷ Und wie Thomas erläutert Jakob dies wie folgt: Wie nämlich gesagt, tut die [Gesetztes‐]Gerechtigkeit etwas insofern, als es durch das Gesetz aufgestellt ist. Das Gesetz aber schreibt die Werke jedweder Tugend vor in Hinordnung auf das Gemeinwohl. Deshalb realisiert diese Gerechtigkeit auch alle Objekte der Tugenden gemäß diesem Begriff, das heißt als vom Gesetz vorgeschriebene und aufs Gemeinwohl bezogene. Hieraus folgt, dass diese Gerechtigkeit hinsichtlich der Kausalität allgemein ist, denn ihr kommt es zu, die Akte der anderen Tugenden zu ihrem Ziel hinzuordnen, welches das Gemeinwohl ist. Beide Arten von Gerechtigkeit aber sind im Willen.⁴³⁸
Mit diesem Thomasreferat jedoch erschöpft sich weitestgehend bereits Jakobs Interesse am Phänomen der Gerechtigkeit. 4. Wesentlich wichtiger ist dagegen für Jakob das Phänomen der Freundschaft (amicitia). Und auch hier folgt Jakob zumindest anfangs weitestgehend den thomasischen Vorgaben. So verortet er die Freundschaft ebenfalls im Willen als ihrem Subjekt und bezieht dies in zweifacher Weise auf die Wendung des Aristoteles, dass Freundschaft eine Tugend oder mit Tugend verbunden sei (EN VIII 1 1155a3 – 4). [a] Als eigenständige Tugend ist Freundschaft für Jakob so zu beschreiben, dass sie nicht etwa mit der natürlichen Liebe, mit der man sich selbst und den anderen liebt (dilectio Quodl. III q. , , – : „haec [sc. iustitia legalis] est directiva operationum quae sunt ad alterum ut ad communitatem pertinet, quia operatur in ordine ad commune bonum.“ Quodl. III q. , – , – : „Iustitia legalis est virtus generalis, non quidem secundum praedicationem neque secundum rationem obiecti, immo est specialis hoc modo. Sed dicitur generalis quantum ad materiam, quia operatur circa materiam cuiuslibet virtutis.“ Quodl. III q. , , – : „Ut enim dictum est iustitia operatur aliquid in quantum est lege positum. Lex autem praecipit cuiuslibet opera virtutis in ordine ad bonum commune. Quare et haec iustitia operatur omnia obiecta virtutum secundum hanc rationem, scilicet ut lege posita et ad bonum commune relata. Et ex hoc sequitur quod huiusmodi iustitia sit generalis secundum causalitatem, quia eius est ordinare actus aliarum virtutum ad suum finem, quae est commune bonum. Utraque autem iustitia est in voluntate.“
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naturalis vel sui vel alterius) und von der wie gesehen auch Thomas den Ausgang seiner Überlegungen zu Freundschaft und caritas nimmt, gleichzusetzen ist, sondern vielmehr in einer solchen Selbst- und Nächstenliebe, die mit Wahl (electio) verbunden ist, da, wie Jakob im Anschluss an Aristoteles und Thomas betont, nur ein Habitus der Wahl bzw. ein wählender Habitus (habitus electivus) als Tugend angesprochen werden kann. Darüber hinaus kann das Sich- und das Nächstenlieben in guter wie in schlechter Weise vollzogen werden, weshalb eine Tugend, eben die Freundschaft, notwendig ist, das entsprechende natürliche Handeln (= Lieben) in guter, das heißt rechter und geordneter Weise auszurichten: „Quare oportet esse aliquam virtutem per quam quis recte et ordinate se et alios amet“.⁴³⁹ – [b] Die Freundschaft hingegen als etwas, was ‚mit der Tugend‘ ist, wird von Jakob auf der Grundlage einer Unterscheidung der zwei ebenfalls schon oben bei Thomas herausgestellten Arten von ‚Liebe‘ (amor) thematisiert, nämlich erstens dem amor benevolentiae, „mit dem jemand jemanden liebt, dem er ein Gut will“, zweitens dem amor concupiscentiae, „mit dem jemand ein Gut liebt, das er für sich oder einen anderen will“.⁴⁴⁰ Die Jakob hier interessierende Freundschaft nun ist kein amor concupiscentiae, wenngleich nicht ohne diesen, sondern ein amor benevolentiae. Und deshalb bezieht sie sich nur auf diejenigen, welche wir so lieben, dass wir ihnen ein Gutes wollen; auf solche Art sind die rationalen Wesen [rationalia] beschaffen: Für diese wollen wir ein Gut entweder mit begehrendem Willen, indem wir für sie ein Gutes begehren, das sie aktuell nicht haben, aber wozu sie bestimmt sind, es zu haben, oder wir wollen für sie ein Gut mit miterfreuendem Willen, indem uns ein Gut erfreut, das aktuell in ihnen ist.⁴⁴¹
Und auch Jakob ist der Auffassung, dass amor benevolentiae sich nicht auf jedwedes, sondern nur auf das wahre Gut, das heißt das moralische Gut (bonum honestum), nicht aber das nützliche oder erfreuende Gut (bonum utile et delectabile) bezieht; letzteres kann nur so zur Freundschaft gehören, dass es mit dem moralischen Gut zusammengeht (concurrere), sofern dieses zugleich nützlich und erfreuend ist. Hieran wird erkennbar, dass Jakob noch stärker als Thomas auch im Bereich der moralischen erworbenen Tugenden die Freundschaft als eine Tugend beschreiben möchte, die um des anderen selbst willen diesem Gutes will, während Thomas dieses Moment wie gesehen eher in Gestalt der eingegossenen Tugend der caritas zu fokussieren versucht, dabei aber zugleich mit der Zentrierung der Nächsten- um die Gottesliebe Schwierigkeiten bekommt. Mit Blick auf diese Situation kann man sagen, dass Jakob hier eine
Quodl. III q. , , – . Quodl. III q. , , – : „est duplex amor. Unus quidem qui dicitur benevolentiae, quo quis amat aliquem qui vult ei aliquod bonum; alius autem qui dicitur concupiscentiae, quo quis amat bonum aliquod quod vult sibi vel alii.“ Quodl. III q. , , – : „ideo non est nisi ad ea quae sic amamus quod eis aliquod bonum volumus, cuiusmodi sunt rationalia, sive ipsis velimus bonum voluntate desiderati, dum desideramus eis aliquod bonum quod non habent actu sed nata sunt habere, sive voluntate complaciti, dum nobis placet bonum quod est actu in ipsis.“
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aristotelische Intuition gegen Thomas, der diese tendenziell abgeblendet hatte, wieder stärker macht.⁴⁴² 5. Für die so verstandene Freundschaft gilt Jakob zufolge, dass insofern, als alles moralische Gut zur Tugend gehört, keine Freundschaft, die ja auf eben dieses Gut bezogen ist, ohne Tugend ist. „Vielmehr ist sie immer mit Tugend, indem sie gleichsam auf das Gut der Tugend und das mit der Tugend verbundene Gut hinblickt, und dies nicht nur im Geliebten, sondern auch im Liebenden, da nämlich die Freundschaft aufs Ähnliche geht und wechselseitige Liebe ist“.⁴⁴³ Mit dieser Auffassung steht Jakob wie gesehen noch durchaus in der Tradition von Aristoteles und Thomas. Dies ändert sich jedoch dann,wenn Jakob in einem zweiten Schritt noch weiter geht und nun umgekehrt behauptet, dass das ‚cum virtute‘ bei der Freundschaft ebenso bedeutet, dass keine Tugend ohne Freundschaft ist:⁴⁴⁴ „Est etiam cum virtute quia nulla virtus est sine amicitia“.⁴⁴⁵ Denn dies bedeutet nunmehr, dass alle Tugenden als ein freundschaftliches Selbst- und Nächstenverhältnis aufzufassen sind bzw. auf einem solchen basieren. Grundlage für diese These ist für Jakob folgende Überlegung: Diejenige moralische Tugend nämlich, die dem Menschen in sich selbst zugehört, wie die, die sich auf die Leidenschaften bezieht, ist nicht ohne eine solche Freundschaft, die dem Menschen im Bezug auf sich selbst zukommt und durch die er in geordneter Weise sich selbst liebt. Diejenige moralische Tugend hingegen, die dem Menschen im Bezug auf den anderen zukommt, ist nicht ohne Freundschaft, die in Hinsicht auf den anderen besteht und durch die er in geordneter Weise einen anderen liebt.⁴⁴⁶
Damit wird Freundschaft zu sich und zu anderen zur Grundform des ethischen Charakters einer Person schlechthin. 6. Bislang hat sich gezeigt, dass es Jakob zufolge erworbene Tugenden des Willens gibt und dass unter einer Form der Tugenden eine solche Tugend zu verstehen ist, deren Ziel oder Objekt eine derartige Beschaffenheit aufweist, dass die Ziele der anderen Tugenden auf es bezogen werden und daher ihre Akte durch die Form der Tugenden effizient auf dieses übergeordnete Ziel hinbewegt werden können. Um jedoch zu zeigen, ob es eine erworbene Tugend es Willens gibt, die als Form der (erworbenen) Tugenden aufgefasst werden kann, muss Jakob die auf Thomas zurückgehende These entkräften, dass diejenige
Wie sich unten zeigen wird, heißt dies jedoch nicht, dass nicht auch Jakob versuchen wird, die Sorge um fremdes Wohl aus der Selbstliebe zu begründen. Quodl. III q. , , – : „semper [amicitia] est cum virtute tamquam respiciens bonum virtutis et virtuti coniunctum, et non solum in amato sed etiam in amante, cum amicitia sit ad similem et sit amor mutuus.“ Bonnie Kent (Kent [, ]) weist darauf hin, dass der Augustinermönch Jakob hierin stark Vorgaben aus Augustins De civ. Dei XIV und XV folgt. Quodl. III q. , , . Quodl. III q. , , – : „Nam virtus moralis quae est hominis in se, ut ea quae est circa passiones, non est sine amicitia, qualis est hominis ad se ipsum, per quam quis ordinate amat se ipsum. Virtus vero moralis, quae est hominis ad alterum, non est sine amicitia, quae est respectu alterius, per quam ordinate amat quis alterum.“
4.5 Gerechtigkeit, Freundschaft und die ‚Form der Tugenden (forma virtutum)‘
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Tugend, die im Bereich der erworbenen Tugenden in Frage käme, Form der Tugenden zu sein, die Klugheit ist. Denn sollte Thomas’ Behauptung zutreffen, ergäbe sich entgegen dem bislang Erwiesenen, dass eine ethische Form der Tugenden im Intellekt ihren Sitz haben kann. Als Argument gegen die Klugheit als Form der Tugenden führt Jakob daher an, dass jedwede Tugend an der rechten Vernunft ausgerichtet ist, diese aber durch die Klugheit bestimmt wird, sodass „die Klugheit jede einzelne Tugend zu ihrem jeweils eigentümlichen Ziel hinlenkt und auch zum Ziel des gesamten menschlichen Lebens, welches die Glückseligkeit ist; sie bewegt jede einzelne Tugend durch Befehl hin zu ihrem je eigenen Akt“.⁴⁴⁷ Bei Jakobs Versuch, diese Argumentation zu entkräften, fällt seine etwas tentative Ausdrucksweise ins Auge; Jakob möchte „eher zweifelnd als unüberlegt behauptend“ (magis dubitando quam temere asserendo – Quodl. III q. 21, 256, 132 f) der Auffassung Ausdruck verleihen, dass keine Tugend des Intellekts – wie eben die Klugheit – prinzipiell und schlechthin Form der Tugenden sein kann, sondern diese notwendig eine Tugend des Willens sein muss. Das Argument hierfür lautet wie folgt: Derjenigen Tugend nämlich kommt die begriffliche Bestimmung zu, Form [der Tugenden] zu sein, die andere Tugenden ins Ziel bewegt. Die Klugheit aber, obzwar sie die anderen Tugenden leitet, bewegt sie dennoch nicht ins Ziel, und zwar teils deshalb, weil der Intellekt, der Subjekt der Klugheit ist, nicht ohne den Willen bewegen kann, welcher das hauptsächliche Bewegende ist, teils deshalb, weil sich der Intellekt nicht auf das Ziel unter dem Aspekt des Ziel bezieht, sondern der Wille.⁴⁴⁸
Es ist mithin die letztlich enge Verklammerung des effizient-kausalen (‚movere‘) mit dem finalursächlichen Moment (‚finis sub ratione finem‘) im Vermögen des Willens, welche für Jakob das Kriterium darstellt, weshalb nur eine Tugend des Willens und nicht des Intellekts als Form der Tugenden angesprochen werden kann. Und dieses Moment überbietet noch die eher intellektualistische Bestimmung eines Inklusionsund Hinordnungsverhältnisses, wenn auch dieses für jenes eine conditio sine qua non darstellt. Denn dass der Wille allein als bloßes Vermögen nicht hinreichend ist, sondern es zur Ausübung dieser lenkenden und bewegenden Funktion einer Tugend bedarf, ergibt sich aus dem objektiven Bezug aufs Gute, der dem Willen noch nicht notwendigerweise aktual eignet. Denn der Wille, obzwar immer auf ein Etwas unter Hinsicht des Guten (ratione boni) bezogen, kann aktual in rechter oder unrechter Weise etwas wollen. Daher benötigt er zum rechten Wollen (ad recte volendum) und auch zur richtigen Lenkung der anderen Tugenden einen tugendhaften Habitus.⁴⁴⁹
Quodl. III q. , – , – : „prudentia unamquamque virtutem dirigit in proprium finem unicuiusque et etiam in finem totius humanae vitae, quae est felicitas; et unamquamque movet per imperium ad proprium actum.“ Quodl. III q. , , – : „Illa enim virtus habet rationem formae quae movet alias in finem. Sed prudentia, licet alias dirigat, non tamen movet in finem, tum quia intellectus, qui est eius subiectum, non movet sine voluntate, quae est principale movens, tum quia intellectus non respicit finem sub rationem finis, sed voluntas.“ Cf. Quodl. III q. , , – .
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7. Die Klugheit kommt also für Jakob deshalb nicht als Form der Tugenden infrage, weil sie als Tugend des Intellekts „allein den Intellekt und nicht den Willen vervollkommnet, mag sie auch eine Hinordnung zum Willen und zu dessen Vervollkommnung haben“.⁴⁵⁰ Zwar ist einzuräumen, dass der Intellekt bzw. die ihn vervollkommnende Klugheit den Willen „nach Weise des Lenkenden [per modum dirigentis]“ zu einem rechten Willen macht. Entscheidend aber ist für Jakob, dass dieses Rechtmachen des Willens durch die Klugheit nicht „nach Weise des Strebenden [per modum inclinantis]“ statthat.⁴⁵¹ Dieser Strebensaspekt ist somit in Jakobs Augen notwendig, dass bei einer Tugend von einer forma virtutum gesprochen werden kann. Damit ist der Wille als Träger einer Form der erwobenen moralischen Tugenden prädestiniert, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass auch die caritas als Form der eingegossenen Tugenden im Willen als ihrem Träger ist. Jakob kann daher die Präponderanz (principalitas) der Klugheit in Hinsicht auf das Moment der Ordnung einräumen,⁴⁵² da diese Tugend vermittelt über die Vorstellung des Ziels die Tugenden lenkt, und zugleich der Freundschaft und der Gerechtigkeit als Tugenden des Willens die Präponderanz hinsichtlich des Bewegens und Befehlens zusprechen, „denn sie erwirken eine rechte Affektion, wie die Klugheit eine rechte Vernunft erwirkt“.⁴⁵³ Der Wille ist deshalb „höher stehend als alle anderen Seelenvermögen“.⁴⁵⁴ 8. Indem nun mit Gerechtigkeit und Freundschaft zwei Tugenden des Willens herausgestellt sind, bleibt abschließend zu klären, welcher der beiden der Titel zukommt, Form der erworbenen Tugenden zu sein. Jakob ist mit Blick auf diese Frage der Auffassung, dass beide Tugenden Form der moralischen Tugenden genannt werden können. Dies gilt einerseits für die Gesetzesgerechtigkeit, die die anderen Tugenden zum Gemeinwohl als ihrem Ziel hinbewegt; andererseits aber gilt dies auch für die Freundschaft, was Jakob dadurch begründet, dass es „zur Freundschaft gehört, für jemanden ein moralisches Gut zu wollen, und besonders das höchste und letzte, das
Quodl. III q. , , – : „prudentia, cum est in intellectu, perficit intellectum solum et non voluntatem, licet habeat ordinem ad voluntatem et ad eius perfectionem.“ Quodl. III q. , , – . Hierdurch kann Jakob sogar Thomas’ These von der Klugheit als Form der Tugenden wieder integrieren, indem er feststellt, dass auch die Klugheit als Form der Tugenden angesprochen werden kann, jedoch nicht per se, sondern nur secundum quid, das heißt insofern, als sie eine nur ordnende, prinzipiell auf das Vermögen des Willens ausgerichtete Funktion innerhalb der Handlungsstruktur einnimmt. Cf. Quodl. III q. , , . Quodl. III q. , , – : „iustitia et amicitia principalitatem habent in movendo et imperando, quia faciunt rectam affectionem, sicut prudentia facit rectam rationem.“ Quodl. III q. , , –: „Forma igitur virtutum moralium principaliter et simpliciter non est prudenia, sed aliqua virtus existens in voluntate quae superior est omnibus aliis potentiis animae.“ – Im Zusammenhang mit dieser Struktur steht die im Mittelalter häufig diskutierte Frage nach der connexio virtutum, die Jakob in Quodl. II q. diskutiert. An der vorliegenden Stelle kann darauf nicht näher eingegangen werden. Cf.Wolbert (, ). – Die genannte Höherstellung des Willens über den Intellekt kennzeichnet den starken Augustinus-Hintergund bei Jakob. Cf. zur sich anschließenden Problematik von ‚Voluntarismus‘ und ‚Intellektualismus‘ im Hochmittelalter einschlägig Kent ().
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heißt die Glückseligkeit, zu der das Ziel jeder anderen Tugend hingeordnet ist“.⁴⁵⁵ Freundschaft als Form der Tugenden weist somit den Doppelaspekt auf, alle Tugenden auf die Glückseligkeit hin auszurichten und diese zugleich für einen anderen als für den Inhaber der Tugend der Freundschaft selbst zu wollen. Der Charakter, Form der Tugenden zu sein, kommt Gesetzesgerechtigkeit und Freundschaft jedoch nicht im selben Maße zu; vielmehr ist „die Freundschaft mehr Form der Tugenden zu nennen als die Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit bewegt die Tugenden zu ihren [sc. der Tugenden] Akten, damit sie mit Blick auf sich selbst ein Gutes sind; und auf diese Weise bewegt sie gemäß der Kategorie des Freiwilligen und Wohlgefälligen [ratio spontanei et beneplaciti].“⁴⁵⁶ Demgegenüber bewegt die Freundschaft in „freierer und ergötzenderer Weise [liberabilius et delectabilius]“.⁴⁵⁷ Der Bezug der Gerechtigkeit nämlich erfolgt unter der Hinsicht des ‚gesetzlich Geschuldeten (debitum legalis)‘, der der Freundschaft dagegen unter der Hinsicht des ‚freundschaftlich oder moralisch Geschuldeten (debitum amicalis vel moralis)‘, „oder noch eher unter der Hinsicht der unentgeltlichen Wohltat [beneficium gratuitum]“.⁴⁵⁸ Da nun Jakob zufolge demjenigen mehr der Begriff ‚Tugend‘ zukommt, was in ‚freierer und ergötzenderer Weise‘ geschieht, kommt es der Freundschaft in stärkerem Maße zu, zu tugendhaften Handlungen zu bewegen, als dies bei der Gerechtigkeit der Fall ist, und deshalb ist sie ‚mehr‘ als Form der Tugenden anzusprechen. Dass für diese Höherstellung der Freundschaft gegenüber der Gesetzesgerechtigkeit bei Jakob letztlich der paradigmatische Charakter der caritas Vorbild ist,wird am Ende aus folgender Feststellung deutlich:Wird die caritas wie bei Thomas als ‚eingegossene Freundschaft (amicitia infusa)‘ bestimmt, so wird erkennbar, dass so, wie die eingegossene Freundschaft, die man caritas nennt, die Form aller gnadenhaft geschenkten Tugenden ist, so ist die Freundschaft, die eine erworbene Tugend ist, Form aller erworbenen moralischen Tugenden; denn wie jemand vermittels der caritas sich selbst und den anderen in Hinsicht auf das Gut der übernatürlichen Glückseligkeit liebt, so vermittels der erworbenen Freundschaft sich selbst und den anderen in Hinsicht auf das Gut der natürlichen Glückseligkeit.⁴⁵⁹
Quodl. III q. , – , – : „ad amicitiam pertinet velle alicui bonum honestum, et praecipue illud quod est maximum et ultimum, scilicet beatitudinem ad qua ordinatur finis unicuiusque virtutis.“ Quodl. III q. , , – : „Harum autem duarum amicitia magis dicitur forma virtutum quam iustitia. Nam iustitia movet virtutes ad suos actus ut sint secundum se aliquod bonum; et sic movet secundum rationem spontanei et beneplaciti.“ Quodl. III q. , , – : „Unde, licet utraque voluntatem moveat, amicitia tamen magis liberaliter et delectabiliter.“ Quodl. III q. , , – : „Iustitia enim est ad alterum sub ratione debiti legalis; amicitia vero est ad alterum sub ratione debiti amicalis vel moralis, aut magis sub ratione beneficii gratuiti.“ Quodl. III q. , , – : „Unde sicut amicitia infusa, quae caritas dicitur, est forma omnium virtutum gratuitarum, sic amicitia, quae est virtus acquisa, est forma omnium virtutum moralium acquisitarum; quia sicut per caritatem quis diligit se et alium quantum ad bonum beatitudinis supernaturalis, per se amicitiam acquisitam diligit quis se et alium ad bonum beatitudinis naturalis.“
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9. Es wird an diesen Ausführungen erkennbar, in welchem Maße Jakob die Rolle der erworbenen Freundschaft im Vergleich zu Thomas verschiebt. War bei Thomas die Freundschaft als erworbene Tugend einerseits in Gestalt der ‚affabilitas‘ von eher marginaler Bedeutung und trat sie deutlich hinter der Klugheit und der Gerechtigkeit zurück, war sie andererseits als vollkommene Freundschaft zwar aufgeführt, jedoch zugunsten der caritas innerhalb der thomasischen Moraltheologie kaum thematisch und überdies mit systematisch prekärem Status, so wird sie nunmehr bei Jakob gleichsam zur Grundlage von Tugendhaftigkeit überhaupt. Als Resultat von Quodl. III q. 21 steht daher die These, dass ohne ausgewogenes Selbst- und Fremdverhältnis überhaupt kein sittliches Handeln möglich ist, wobei in impliziter Auslegung der Aristotelesstelle dem geordneten Selbstverhältnis erneut eine gewisse Präponderanz⁴⁶⁰ eingeräumt wird; „die geordnete Selbstliebe, die zur Freundschaft gehört, ist Prinzip und Ursache aller Tugenden“.⁴⁶¹ Es lässt sich somit festhalten, dass Jakob wie Thomas unter dem Begriff der Form der Tugenden eine Hinsicht auf Universalität begreift, bei der die Ziele der übrigen moralischen Tugenden nochmals auf ein einzelnes Ziel ausgerichtet werden. Auffällig ist jedoch gegenüber Thomas, dass Jakob nicht eine allgemeine Gesetzesstruktur als höchste Zielperspektive im Bereich der erworbenen Tugenden und entsprechend nicht die Gesetzesgerechtigkeit mit ihrem Bezug aufs Gemeinwohl als höchste Form der Tugenden im Bereich der erworbenen moralischen Tugenden ansiedelt, sondern die auf die eigene Glückseligkeit sowie die Glückseligkeit eines einzelnen Anderen gerichtete Freundschaft, hierbei mit Orientierung an der caritas, die die Funktion der Form der Tugenden als eine eingegossene Tugend innehat. Die Gesetzesgerechtigkeit kann sich für Jakob somit nur deswegen auf fremdes Wohl richten, weil ihr Inhaber über die Tugend der Freundschaft verfügt, deren konkreter Bezug auf die eigene Person des Inhabers sowie die des be-
An anderer Stelle, nämlich in Quodl. II q. , , – , führt Jakob dies noch eingehender aus, indem er sich Thomas’ Vorstellung anschließt (sowie der thomasischen Deutung des Verhältnisses von Selbstliebe und Liebe zum Freund, wie sie von Aristoteles dargestellt wird), dass „man auf solche Weise auch von jemandem sagt, dass er einen Freund wegen seiner selbst liebt, weil die Liebe des Freundes ihren Ursprung hat aus [seiner] Liebe zu sich selbst [Sic etiam dicitur aliquis diligere amicum propter se, quia dilectio amici originem habet ex dilectione sui]“ ( – ). Die Stelle steht im Kontext von Jakobs Diskussion der Frage, ob der Mensch natürlicherweise sich selbst mehr liebe als Gott und erst durch die caritas in die Lage versetzt werde, Gott mehr als sich selbst zu lieben, was Jakob „against the overwhelming consensus of theologians“ bejaht (Côté []). Quodl. III q. , , – : „amor sui ordinatus, qui ad amicitiam pertinet, principium et causa est omnium virtutum.“ – Diese unterschiedliche Auffassung findet auch Niederschlag in dem ganz anderen Gebrauch, den Jakob im Vergleich zu Thomas von EN macht. Denn einen autoritativen Beleg für die Richtigkeit seiner Interpretation entnimmt Jakob dem Umstand, dass Aristoteles erst nach allen anderen Tugenden über die Freundschaft handelt, was dieser einen übergeordneten Charakter in Bezug auf jene zuzuschreiben scheint (Quodl. III q. , , – : „Ad huius autem confirmitatem, scilicet quod amicitia sit forma virtutum moralium, sicut caritas gratuitarum, videtur facere quod Philosophus, post omnes alias virtutes, diligenter et diffuse de amicitia tractavit“). Dagegen versteht Thomas von Aquin die nach EN V und VI folgenden Bücher eher als Korollarien, in denen bloß von den eigentlichen Tugenden abgeleitete bzw. diesen nachfolgende ethische Phänomene als zentrale Fragen der Ethik diskutiert werden (cf. SLE ., l. – ).
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stimmten Freundes dem abstrakten allgemeinen Gesetz, das Maß der Gesetzesgerechtigkeit ist,vorausliegt. Gottfried wird,wie sich gleich zeigen soll, gegen diese Auffassungen heftig protestieren.
4.5.3 Gottfried von Fontaines:⁴⁶² iustitia, amicitia, caritas Gottfried entwickelt seine Überlegungen zu Gerechtigkeit und Freundschaft hauptsächlich in seinem vierzehnten Quodlibetum. Hierbei lesen sich diese Betrachtungen wie eine direkte kritische Replik Gottfrieds auf die oben vorgestellten Ausführungen Jakobs.⁴⁶³ Dies gilt einerseits für Gottfrieds Konzentration auf die Gesetzesgerechtigkeit als allgemeine Tugend und andererseits für die vehemente Kritik an den Thesen, dass die Freundschaft eine allgemeine Tugend darstellen und überhaupt eine Tugend im Willen als ihrem Subjekt sein könne. Indem Gottfried den Blick wieder von der Frage nach der Form der Tugenden auf das Problem richtet, wie die Allgemeinheit einer Tugend bestimmt werden muss und welcher Tugend Allgemeinheit zukommt, lassen sich seine Ausführungen wie eine Zurücknahme der starken Parallelisierung von erworbenen und eingegossenen Tugenden lesen, die Jakob mit seiner Gerechtigkeits- und Freundschaftstheorie vorgenommen hat. Allerdings wird auch Gottfried, jedoch in anderer Stoßrichtung als Jakob, den thomasischen Ansatz über sich hinaus führen und radikalisieren. Im Folgenden werden insbesondere die ersten beiden Fragen aus Quodl. XIV untersucht, wo Gottfried seine Position ausführlich entwickelt.⁴⁶⁴ Gottfrieds Vorgehen gestaltet sich hierbei wie folgt: Zunächst wird das Problem diskutiert, inwieweit es überhaupt eine allgemeine Tugend innerhalb der erworbenen moralischen bzw. „politischen“ Tugenden gibt, die den „Menschen zu gutem Umgang in Hinsicht auf sich selbst und die anderen führt, soweit
Gottfried von Fontaines (geb. vor , gest. um ), war von – / Magister regens an der Universität Paris. Gottfried war stark beeinflusst von Thomas von Aquin und Siger von Brabant, zugleich weniger als andere mittelalterliche Autoren vom Neuplatonismus, dafür umso mehr von Aristoteles. Seine eigenen Hauptverdienste liegen besonders auf dem Feld der Metaphysik (cf. hierzu und zu weiteren Informationen Wippel []). Cf. hierzu auch Kent (, ). Wie Thomas M. Osborne in seiner Arbeit Love of Self and Love of God in Thirteenth-Century Ethics (Osborne []) deutlich gemacht hat, entwickelt Gottfried in dieser Quaestio eine Theorie, mit der er eigenen Überlegungen an anderen Stellen seiner Quaestiones quodlibetales direkt widerspricht – möglicherweise, weil „he was worried about the necessity of grace“, welche Notwendigkeit für der Bezug des Menschen auf Gott er retten wollte (Osborne [, ]; cf. dort auch die sehr aufschlussreichen Darstellungen der Diskussionen zum Status der Ethik zwischen Gottfried und Jacob, [ – ]). Wenn ich recht sehe, ist Osborne etwas ratlos, wie diese Diskrepanzen in den Überlegungen Gottfrieds zu erklären sein sollen. Da es in der vorliegenden Studie jedoch um die Entwicklung eines systematischen Gedankens und nicht um Gottfried-Philologie geht, kann diese Frage hier unberücksichtigt bleiben.
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ihm dies aus natürlichen Grundlagen heraus möglich und zuträglich ist“.⁴⁶⁵ Daraufhin versucht Gottfried zu zeigen, dass diese allgemeine Tugend „eine gewisse Gerechtigkeit“ ist.⁴⁶⁶ Im Anschluss daran erläutert er die Art und Weise (qualis) der Allgemeinheit (generalitas) dieser Tugend und erklärt, wie diese allgemeine Tugend von den anderen speziellen Tugenden unterschieden ist.⁴⁶⁷ Erst auf dieser Grundlage geht Gottfried sodann das Problem an, ob es in Gestalt der Freundschaft neben der Gerechtigkeit eine weitere allgemeine strebende (appetitive) Tugend gibt – was er zurückweist. Am Ende von Gottfrieds Überlegungen steht schließlich die These, dass auch in der Gerechtigkeit kein primärer Bezug auf fremdes Wohl zu finden sei, sondern diese Tugend sich vielmehr als Streben nach dem eigenen Wohl erklären lasse. Hiermit übernimmt Gottfried also die Figur der Begründung des Strebens nach fremdem Wohl in dem Streben nach dem eigenen, die schon oben bei Thomas analysiert und diskutiert wurde.
4.5.3.1 Allgemeinheit einer allgemeinen Tugend 1. Für den Aufweis der Existenz einer allgemeinen Tugend im Bereich der ethischen (politischen) Tugenden bewegt sich auch Gottfried innerhalb der bekannten aristotelischthomasischen Rahmenbedingungen. So hält Gottfried gleich zu Beginn seiner Überlegungen fest, dass der hauptsächliche Gegenstand ethischer Betrachtungen die Leidenschaften des Menschen sind, die ihm zukommen und ihn zu den Handlungen antreiben, die der Mensch entweder in Bezug auf sich selbst oder in Hinsicht auf den anderen vollzieht. Nun sind die Leidenschaften nicht schon von sich bzw. von ihrer Natur aus maßvoll und geregelt und können daher nicht per se garantieren, in den durch sie hervorgerufenen Handlungen Übermaß oder Fehler zu vermeiden. Daher ist zu einer derartigen Regelung eine Regel der Vernunft (regula rationis) vonnöten, die den Leidenschaften auferlegt werden soll und durch die „der Mensch Mensch [ist] und sein Handeln geregelt und recht [wird]“.⁴⁶⁸ Damit jedoch eine solche Applikation der Vernunftregel auf die Leidenschaften bzw. auf die durch diese erzeugten Handlungen nicht nur punktuell, sondern „in einfacher und fester Weise“ geschehen kann, ist es notwendig, dass im (sinnlichen) Streben ein Habitus existiert. Dieser hat die Funktion, dieses Streben dahingehend zu disponieren, „dass es sich nun gemäß der Erfassung und des Urteils der rechten Vernunft verhält, damit sich in geschuldeter Weise bemessene Leidenschaften erheben und diese Handlungen hervorrufen, die mit der rechten Regel der Vernunft
Quodl. XIV q. , p. : „primo est declarandum […] quod inter virtutes acquisitas politicas, id est ad bonam conversationem hominis in ordine ad se ipsum et in ordine ad alios, prout est sibi possibile et conveniens ex naturalibus pertinentes, ponenda est virtus aliqua generalis.“ Quodl. XIV q. , p. : „Secundo quod huiusmodi virtus est iustitia quaedam.“ Quodl. XIV q. , p. : „Tertio est declarandum qualis est generalitas talis virtutuis. Quarto quomodo est distincta ab aliis virtutibus specialibus.“ Quodl. XIV q. , : „[…] attingit regulam rectae rationis per quam homo est homo et secundum quam humani actus regulantur et rectificantur.“
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übereinstimmen“.⁴⁶⁹ Ein solcherart disponierender Habitus ist, wie Gottfried in Übereinstimmung mit Aristoteles bemerkt, lobenswert und also eine Tugend. 2. In einem zweiten Schritt auf dem Weg hin zur Beschreibung einer allgemeinen Tugend – bzw. hin zur Klärung der Frage, was unter dieser Allgemeinheit zu verstehen ist – greift Gottfried auf Thomas’ Argument zurück, dass das Gut (bonum) eines Teiles auf das des Ganzen bezogen sei und von diesem her bestimmt wird. Übertragen auf den Menschen in der Gesellschaft ist auch für Gottfried diese mereologische Struktur die Grundlage dafür, dass der einzelne Mensch nicht nur mit Blick auf sich selbst eine Ordnung und habituelle Disposition aufweist, sondern auch mit Blick auf sein Verhalten gegenüber den anderen. Eine spezielle Tugend ist eine solche habituelle Disposition dann, wenn sie den Menschen in Hinsicht auf sich selbst – wie etwa die Maßhaltung – oder in Hinsicht auf den anderen, sofern dieser ein Einzelner ist, für die Ordnung der rechten Vernunft disponieren. Dagegen ist eine Tugend, die eine Disposition für eine Hinordnung des Menschen darstellt, sofern dieser zu einer Gemeinschaft gehört, eine allgemeine. Diese Allgemeinheit betrifft hierbei sowohl das Ziel als auch die Materie (das Objekt) dieser Tugend. Mit Blick auf Letzteres bedeutet dies bei Gottfried wie schon bei Thomas, dass die Materie einer generellen Tugend nicht wie bei speziellen Tugenden eine ebenfalls spezielle ist, sondern vielmehr darin besteht, die Materien und Akte von speziellen Tugenden zu umfassen. Die Allgemeinheit des Zieles dagegen fasst Gottfried so auf, dass dieses „auf solche Weise allgemein [communis] ist, dass es das Wohl der gesamten Gemeinschaft oder jedes einzelnen in der Gemeinschaft in sich fasst und auf ebendieses alle Akte der anderen Tugenden bezogen werden“.⁴⁷⁰ Es ist somit nicht mehr nur die Allgemeinheit der auf die soziale Natur des Menschen gegründeten Tugend in dem Sinne, dass die Ziele aller anderen Tugenden auf das Ziel dieser virtus generalis bezogen werden können, was deren Allgemeinheit (generalitas) ausmacht. Vielmehr ist es hier nun auch die Allgemeinheit der Personen, auf die diese Akte bezogen werden. 3. Materie und Ziel stellen also in weiter unten noch genauer darzustellender Weise für Gottfried die Grundlage dafür dar, ob eine Tugend als allgemeine oder spezielle zu bestimmen ist. Zugleich streicht Gottfried ein Bestimmungsmoment, das von Thomas und dann, wie gesehen, auch von Jakob als ausschlaggebend angesehen wurde, nämlich das des Seelensubjekts. So stellt Gottfried heraus, dass Tugenden wie Starkmut oder Maßhaltung keine generellen Tugenden sein können. Das liege aber
Quodl. XIV q. , : „Hoc autem non potest fieri faciliter et firmiter nisi sit in appetitu habitus sic disponens ipsum nunc secundum apprehensionem et iudicum rectae rationis ut insurgant passiones debite mensuratae et eliciciant [sic] operationes regulae rectae rationis convenientes.“ – Damit steht der ‚radikale Aristoteliker‘ (Graf [, II: ]) zugleich schon der – kaum aristotelischen – Auffassung einer eher die sittliche Vernunft in ihrer Ausführung unterstützenden als unmittelbar selbst moralisch qualifizierenden Funktion der Tugenden (also gerade entgegen Aristoteles) nahe, die später von Duns Scotus entwickelt wird. Quodl. XIV q. , : „est finis suus sic communis quod bonum totius communitatir sive omnie de communitate comprehendit et ad ipsum omnes actus aliarum virtutum referuntur.“
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nicht daran, dass diese beiden Kardinaltugenden im sinnlichen Streben als ihrem Subjekt begründet sind und dieses – anders als der Wille als vernünftiges Streben – kein universales, sondern nur ein partikuläres Gut erstreben kann. Vielmehr können beide Gottfried zufolge ihres Charakters als spezielle Tugenden unbeschadet durchaus ein allgemeines bzw. gemeinsames Gut haben. Das Argument hierfür lautet, dass „das Gut der Maßhaltung […] nicht irgendein vom Sinn erfasstes einzelnes Gut [ist], sondern ein universales, das ein Objekt des Intellekts ist“.⁴⁷¹ Dabei ist es auch in Gottfrieds Augen die Klugheit als vierte Kardinaltugend, die diesen Bezug der speziellen Maßhaltung auf ein allgemeines Ziel ermöglicht. Denn die Klugheit als „Regel, durch die die Handlungen der moralischen Tugenden recht gemacht werden, ist eine intellektuelle Tugend, die sowohl die universalen Prinzipien betrachtet, die vom Universalziel her genommen sind, als auch die partikulären Schlussfolgerungen, die den Handlungen unterliegen“.⁴⁷² Vermittelt über eine allgemeine Tugend also können auch spezielle Tugenden insofern ‚allgemein‘ werden, als sie durch die Klugheit direkt auf ein allgemeines Ziel als auf ihr Ziel bezogen werden. – In der Kritik am Ansatz Jakobs und damit auch an denjenigen thomasischen Momenten, die diesem zugrunde liegen, geht Gottfried jedoch noch weiter. Denn nicht nur ist er der Auffassung, dass das Seelensubjekt prinzipiell nichts in Hinsicht auf die Frage austrägt, ob eine Tugend allgemein zu nennen ist oder nicht. Vielmehr attackiert er überdies die Vorstellung, dass der Wille als rationales Streben überhaupt als Subjekt einer Tugend anzusetzen sei, was ja wie oben gezeigt bei Thomas als Argument für die These gebracht wurde, dass etwa die Gerechtigkeit, die im Willen ihren Träger habe, eine allgemeine Tugend ist. Gottfried ist dagegen davon überzeugt, dass überhaupt keine politische Tugend im Willen als ihren Subjekt ist: „nulla virtus politica moralis ponenda est in voluntate“.⁴⁷³ Das Argument hierfür lautet, dass zwar der Wille das durch Vernunft erfasste Ziel oder hauptsächliche Objekt einer allgemeinen Tugend in irgendeiner Weise erstreben kann, also das Gemeinwohl oder das universale Gut (bonum commune sive universale), sofern er nicht durch das sinnliche Streben daran gehindert wird. Dass das sinnliche Streben selbst aber für ein solches Streben nach dem Gemeinwohl disponiert wird, erfordert für Gottfried auch eine Tugend, die nicht im Willen oder sonst wo, sondern in ebendiesem sinnlichen Vermögen ihren Träger haben muss.
Quodl. XIV q. , : „Bonum enim temperantiae non est bonum aliquod singulare a sensu apprehensum, sed universale quod est obiectum intellectus.“ Quodl. XIV q. , – : „Est enim prudentia, quae est regula qua rectificantur operationes virtutum moralium,virtus intellectualis considerativa et universalium principiorum, scilicet quae a fine universali sumuntur, et particularium conclusionum quae operationi subduntur.“ Quodl. XIV q. , ; das im Text wiedergegebene Argument im Original: „quia etiam non obstante quod finis vel obiectum principale virtutis generalis est bonum commune sive universale quod apprehenditur a ratione et in quod inclinat voluntas si non fuerit impedimentium ex parte appetitus sensitivi, tamen virtus quae disponit appetitum ad hoc quod prompte et firmiter eliciantur operationes per quas bonum huiusmodi attingitur erit in appetitu sensitivo, quia ex parte eius contingit huiusmodi impedimentium ne voluntas in illud secundum quod dictat recta ratio prompte et firmiter inclinetur.“
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4. Der Grund dafür, dass eine Tugend eine allgemeine Tugend ist, liegt also nicht in ihrem Seelensubjekt, in dem sie ist, sondern in ihrem Objekt, auf das sie sich bezieht, und in ihrem Ziel, in Bezug auf welches sie konkrete Handlungen aktuiert. Mit Blick auf das Objekt wird ein Handelnder durch eine allgemeine Tugend nicht in Hinsicht auf sich selbst, sondern zum anderen hin geordnet, da es einer solchen Tugend für Gottfried ihrem Begriff nach zukommt, „dass sie nicht nur für sich selbst, sondern für den Anderen das Gute und Nützliche will und tut“.⁴⁷⁴ Aber auch diese Bestimmung, die man bereits bei Thomas finden kann, wird von Gottfried in eigentümlicher und neuer Weise spezifiziert. Denn Gottfried hält fest, dass die allgemeine Tugend sich auf diesen Anderen nicht mit Blick darauf bezieht, dass er sich in einem bestimmten Verhältnis (habitudo determinata) zum Inhaber dieser allgemeinen Tugend befindet, das heißt sofern er als Person in einer bestimmten Hinsicht betrachtet wird, sondern sofern es sich hierbei um jedweden Anderen handelt.⁴⁷⁵ Dass und wieso dies der Gerechtigkeit, genauer der Gesetzesgerechtigkeit – und nicht der partikulären Gerechtigkeit – zukommt und wie diese ‚Allgemeinheit des anderen‘ von Gottfried genauer konzipiert wird, wird im folgenden Abschnitt diskutiert. Klar wird jedoch schon jetzt: Wenn diese genannte Allgemeinheit eine notwendige Bedingung dafür ist, dass eine bestimmte Tugend eine allgemeine genannt werden kann, dann kann die vollkommene aristotelische Freundschaft, die sich ja stets auf den konkreten Freund bezieht, für Gottfried keinesfalls mehr wie für Jakob als Kandidat für eine allgemeine Tugend infrage kommen.
4.5.3.2 Arten von Gerechtigkeit 1. Dem Aufweis, dass die Gesetzesgerechtigkeit eine allgemeine Tugend ist, schickt Gottfried eine Unterscheidung verschiedener Arten von Gerechtigkeit voraus. Dabei hebt er mit der theologischen iustitia generalis an, wie sie schon bei Philipp und Albert dargestellt worden ist. Wie diese beiden Autoren hält Gottfried dabei fest, dass diese Gerechtigkeit nicht eigentlich ein „Habitus in essentieller Hinsicht“ ist.⁴⁷⁶ Außerdem handelt es sich bei ihr nicht um einen Habitus, „der den Menschen mit Blick auf Handlungen vervollkommnet, die sich auf den Anderen beziehen, sondern der ihn vervollkommnet in Hinsicht darauf, dass er alle Handlungen des Menschen, die er schuldig ist und die ihm angemessen sind, sofern er Mensch ist, in angemessener Weise vollzieht“.⁴⁷⁷ Diese Ge Quodl. XIVq. , : „de ratione eius est quod non solum sibi sed alteri velit et operetur bona et utilia.“ Quodl. XIV q. , – : „virtus quae proprie generalis dicitur est non solum ad alterum ut aliquam determinatam habitudinem ad ipsum habentem, sed ad alterum quantumcumque extraneum in quantum sub communitate eius bonum per se intendit, comprehenditur.“ Hervorh. v. Verf. – Im Grunde kann man hierzu, vgl. auch die Übersetzungen von p. – , sagen, dass Gottfried den Ausdruck ‚alienum‘ beim ‚bonum alienum‘ der Gesetzesgerechtigkeit so streng wie möglich aufzufassen versucht. Quodl. XIV q. , : „iustitia non dicit habitum unum secundum essentiam.“ Quodl. XIV q. , : „nec dicit determinate habitum perficientem hominem circa operationes quae sunt ad alterum, sed perficientem ipsum ad agendum convenienter operationes quaecumque homini secundum quod homo debitas et convenientes.“
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rechtigkeit ist allgemein mit Blick auf die anderen Tugenden durch Aussage bzw. Prädikation, das heißt sie ist in der Essenz identisch mit jeder speziellen Tugend „auf dieselbe Weise,wie das Genus mit jeder einzelnen Spezies essentiell identisch ist“; deshalb wird sie in derselben Weise von allen Tugenden ausgesagt, wie ein Genus von allen Arten ausgesagt wird, die unter es fallen.⁴⁷⁸ Als zur Moraltheologie gehörige Tugend sei sie an dieser Stelle nicht eingehender behandelt. 2. Dieser Gerechtigkeit, die man mit dem frühen Albert als Verhältnis oder Haltung (habitudo) kennzeichnen kann, stellt Gottfried in Nachfolge zu dem späteren Albert und Thomas die Gerechtigkeit als Habitus gegenüber, welchem gemäß – wie Gottfried im Aufgriff der aristotelischen Formel artikuliert – „der Mensch in bestimmter Weise zum angemessenen Ausüben von Handlungen hin vervollkommnet wird, welche ihm in Hinordnung zum anderen zukommen“.⁴⁷⁹ Mit Gesetzesgerechtigkeit und partikulärer Gerechtigkeit zerfällt die Habitus-Gerechtigkeit in zwei Arten, bei denen allerdings der identische Ausdruck zur Benennung – eben ‚Gerechtigkeit‘ – nicht in univoker, sondern in analoger Weise Verwendung findet. Denn zwar stimmen diese beiden Arten der HabitusGerechtigkeit in der genannten Bestimmung, den Menschen zu Handlungen zu disponieren, die einem in Hinordnung zum Anderen zukommen, miteinander überein. Jedoch sind ihre Materien grundlegend verschieden. 2.1. Gottfried bestimmt die partikuläre Gerechtigkeit als Habitus, der den Inhaber zum angemessenen Handeln in Hinordnung zum anderen hin vervollkommnet, sofern dieser „eine einzelne Person ist und eine bestimmte Haltung hat mit Blick auf das, was getan wird, und zwar hinsichtlich des allgemeinen Austauschs oder der Zuteilung“.⁴⁸⁰ Sie ist wie Starkmut und Maßhaltung eine spezielle Tugend und „hat keine Allgemeinheit mit Blick auf die anderen Tugenden“.⁴⁸¹ Ihre Materie ist daher eine bestimmte (determinata), sofern sie sich auf Dinge bezieht, „die ihrer Substanz gemäß in den Gebrauch der Menschen“ übergehen;⁴⁸² ebenso hat sie ein bestimmtes Gut als Ziel, nämlich ein bestimmtes Ausgleichsverhältnis. 2.2. Die Gesetzesgerechtigkeit bezieht sich dagegen „auf die gesamte moralische Materie und alle moralischen Tugenden und überdies auf ein gemeinsames Ziel, auf
Quodl. XIV q. , : „[iustitia] est generalis per praedicationem et est eadem in essentia cum omni virtute speciali, sicut genus cum unaquaque specie est idem essentialiter.“ Quodl. XIV q. , : „habitus secundum quem homo perficitur ad convenienter agendum operationes quae sunt in ordine ad alterum non quemcumque, sed ut est quaedam persona singularis et determinatam habitudinem habens ad illud quod agitur vel secundum commutationem vel secundum distributionem.“ Quodl. XIV q. , : „[…] alterum non quemcumque, sed ut est quaedam persona singularis et determinatam habitudinem habens ad illud quod agitur vel secundum commutationem vel secundum distributionem.“ Quodl. XIV q. , : „sic est iustitia virtus una secundum essentiam, non quidem unitate singularis individui sed unitate speciei, et est una virtus specialis, sicut fortitudo et temperantia, non habens generalitatem respectu aliarum.“ Quodl. XIV q. , : „res quae secundum suam substantiam veniunt in usum hominum.“
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das alle anderen Tugenden zurückbezogen werden“.⁴⁸³ Zwar ist sie auch für Gottfried eine essentiell eine und von allen anderen geschiedene Tugend. Dennoch ist sie zugleich – wie schon für Thomas und Jakob – eine allgemeine Tugend. Ihre Allgemeinheit ist dabei keine der Prädikation wie bei der theologischen Gerechtigkeit, aber auch nicht bzw. nicht nur eine der Wirksamkeit, das heißt in dem Sinne, „wie eine universale Ursache, die ihrer Essenz nach eine ist, allgemein genannt wird mit Blick auf zahlreiche Wirkungen, die sie dem Vermögen nach enthält“, worin wie gesehen Jakob und zum Teil auch Thomas ein wesentliches Moment der Allgemeinheit einer allgemeinen Tugend gesehen hatten.⁴⁸⁴ Thomas hatte dieses Moment ja mit der These, dass die Gerechtigkeit im Willen ihr Subjekt habe, verbunden und geglaubt, die Gerechtigkeit sei deshalb allgemein, weil sie die Akte aller anderen Tugenden auf ihr Ziel durch den Befehl hinbewegt und darin analog der Sonne wirkt, die, als eine universale Ursache mit Blick auf alle Wirkungen, die Körper illuminiert und sich verändern lässt (Sth II – II 58, 6c). Und obwohl Gottfried wie gesehen die Vorstellung, dass der Wille Subjekt einer (politischen) Tugend sein könne, verabschiedet, leugnet er dennoch eine solche Art der Allgemeinheit keineswegs, sondern schreibt sie wie Thomas und Jakob der caritas zu, die, obzwar essentiell eine einzelne Tugend, zugleich eben deshalb eine allgemeine Tugend ist, weil sie jenes Hinordnen der Akte der anderen Tugenden auf ihr – der caritas – eigenes Ziel (das göttliche Gut) zustande bringt. Mit Blick auf die Gesetzesgerechtigkeit aber hält Gottfried fest, dass diese Art der Allgemeinheit ihr zwar auch zukommen mag, dass aber hierin nicht der eigentlich wesentliche Grund liegt, warum die Gesetzesgerechtigkeit eine allgemeine Tugend ist. Wie vielmehr schon angedeutet, liegt dies an ihrem Objekt, das nun genauer zu betrachten ist. Das Objekt der Gesetzesgerechtigkeit, also das Gemeinwohl (bonum commune), fasst die Gemeinschaft der Menschen in sich, für die diese Tugend das Gute will und tut, wie auch die Vielheit der verschiedenen Güter, die sie für diese Menschen erstrebt. Gemeint sind mit letzterem nicht primär materielle Güter, sondern die Objekte der in der allgemeinen Tugend enthaltenen speziellen Tugenden. Dieses Insichfassen der verschiedenen Tugendobjekte beschreibt Gottfried dabei als „Allgemeinheit einer Aggregation und eines Umfassens nach Weise eines integralen Ganzen“.⁴⁸⁵ Intern ist dieses ‚integrale Ganze (totum integrale)‘ als ein Verhältnis ‚natürlicher Unterordnung (naturali ordine subsunt)‘ strukturiert, welche seine Grundlage im Wesen (ratio) des Formalobjekts der Gesetzesgerechtigkeit, eben dem Gemeinwohl hat. Ist dieses integrale Ganze von Gemeinwohl und speziellem Objekt der Einzeltugenden gegeben, werden sodann auch die Akte aller anderen Tugenden auf das Gemeinwohl als Objekt der Gesetzesge-
Quodl. XIV q. , : „respicit pro materia totam materiam moralem et omnes virtutes morales, et respicit finem communem in quem omnes alii referuntur.“ Quodl. XIV q. , – : „Est [iustitia] tamen generalis respectu aliarum non praedicatione nec solum efficacia et virtute, sicut causa universalis quae est una secundum essentiam dicitur generalis ad multos effectus quos virtute continet.“ Quodl. XIV q. , : „est etiam generalis generalitate cuiusdam aggregationis et continentiae multorum per modum cuiusdam totius integralis.“
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rechtigkeit bezogen. Daher sind nicht nur die Objekte der Einzeltugenden und diese selbst virtuell in der Gesetzesgerechtigkeit enthalten, sondern auch die vollzogenen Akte der Einzeltugenden im Akt der Gesetzesgerechtigkeit, und zwar in Gestalt eines „realen und substantiellen Enthaltenseins“.⁴⁸⁶ Betrachtet man daher den konkreten Akt eines gesetzesgerechten Handelns, so ist dieser einerseits in formaler Hinsicht ein einheitlicher Akt einer einzigen Tugend; andererseits schließt er jedoch in materialer Hinsicht die Akte zweier Tugenden – eben den der Gesetzesgerechtigkeit und den der Einzeltugend – in sich. Das Ganze aus diesen zwei Akten zweier Tugenden aber gehört aufgrund des angesprochenen Unterordnungs- und Integrationsverhältnisses nur einer Tugend zu, nämlich der Gesetzesgerechtigkeit als allgemeiner Tugend. Ein aus Gesetzesgerechtigkeit in zum Beispiel maßvoller Weise Handelnder ist daher, wie Gottfried erläutert, eher gerecht als maßvoll; philosophisch gesprochen wäre er „gerecht im formalen, […] maßvoll im materialen Sinne“ zu nennen.⁴⁸⁷ Analog ließe sich der Fall des Lasters konstruieren. Innerhalb dieser Struktur wechselseitiger Bezogenheit sind einerseits die speziellen Akte der Einzeltugenden für die allgemeine Gesetzesgerechtigkeit insofern grundlegend, als die Gesetzesgerechtigkeit ihr eigenes Ziel nicht ohne diese Einzeltugenden und deren Akte verfolgen kann. Es gibt also keinen Akt, der allein für sich als rein gesetzesgerechter ohne einen diesem integrativ verbundenen Akt einer Einzeltugend vollzogen werden könnte. Gleichzeitig aber gehen deshalb nicht allgemeine und spezielle Tugend und deren Akte ununterscheidbar ineinander auf, sondern sind dadurch noch hinreichend voneinander geschieden, dass das Gemeinwohl als Objekt unmittelbar nur der Gesetzesgerechtigkeit eignet, während die Einzeltugenden je eigene, mit dem Gemeinwohl nicht per se identische, sondern auch unabhängig von diesem verfolgbare Formalobjekte aufweisen.⁴⁸⁸ Gleichzeitig aber heißt dies auch nicht, dass man nunmehr das gesetzesgerechte Handeln wie ein Verhältnis beschreiben müsste, in dem die Akte zweier spezieller Tugenden zueinander stehen. Denn dann wäre zu sagen, dass hier zwei Akte vorliegen, die voneinander real und essentiell geschieden wären. Ebendies aber ist beim gesetzesgerechtem Handeln nicht der Fall. Denn da die Gesetzesgerechtigkeit in ihrem eigentümlichen Akt gerade den Akt der anderen Tugend zu ihrer Materie hat, die bzw. den sie auf das Gemeinwohl als auf ihr Objekt bezieht, kann im vorliegenden Fall nur von „einem und demselben Akt hinsichtlich der Sache und der Substanz“ gesprochen werden.⁴⁸⁹ Dagegen können in einem Konglomerat der Akte zweier spezieller Tugenden diese deswegen als realiter distinkt voneinander betrachtet werden, da beide ihre je eigene Materie aufweisen. Der Akt der Gesetzesgerechtigkeit ist somit ein der Sache und Substanz nach einheitlicher
Quodl. XIV q. , : „quadam continentia reali et substantiali.“ Quodl. XIV q. , : „dicitur iustus formaliter, […] temperatus materialiter.“ Cf. Quodl. XIV q. , . Quodl. XIV q. , : „unus et idem actus secundum rem et substantiam.“
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Akt, in dem verschiedene Akte nur dem Begriff nach (ratione), nicht aber reell voneinander geschieden sind.⁴⁹⁰ 3. Umdeutungen oder Präzisierungen nimmt Gottfried ebenfalls in der Bestimmung des Bezugs auf fremdes Wohl vor, der der Gerechtigkeit eignet. Denn den eigentümlichen Bezug, den die Einzeltugenden auf das ihrem Inhaber eigene Gut haben, sieht Gottfried durchaus auch bei der Gerechtigkeit gegeben, jedoch so, dass hier das dem Inhaber der Tugend Zugehörige nicht allein in Hinsicht auf sich selbst (‚absolut‘) betrachtet wird, sondern in dessen Hinordnung zum anderen. 3.1. Dies gilt zunächst für die partikuläre Gerechtigkeit. Deren Bezug auf den anderen wurde schon angesprochen und besteht mit Blick auf eine bestimmte Einzelperson, die „durch eine spezielle Relation und ein spezielles Verhältnis, die bzw. das diese Person zum Handelnden und zur Materie der Handlung hat,“ bestimmt ist.⁴⁹¹ Eine solche Handlung findet etwa im Fall einer Erstattung von Geschuldetem statt. Dennoch besteht in der partikulär-gerechten Handlung eben sowohl ein Bezug auf das eigene Gut. Denn im gerechten Handeln intendiert der Handelnde nicht per se und direkt das Gut desjenigen, auf den dieser Akt hingeordnet ist, wenn man im eigentümlichen Sinne vom moralischen Gut spricht, weshalb gesagt wurde, dass der Handelnde in Hinordnung auf sich selbst handelt, das heißt in Hinordnung auf sein eigenes moralisches Gut, aber dennoch nicht in Hinordnung auf sich im absoluten Sinne, da ihm dieses Gut nur so zukommt, dass er durch ein derartiges Werk in angemessener Weise sich zum anderen verhält.⁴⁹²
Dies bedeutet einerseits, dass es das eigene Gut ist, welches einem anderen erstattet werden muss. Es bedeutet andererseits aber auch, dass dieses Erstatten für Gottfried nicht um des anderen willen geschieht. Denn der partikulären Gerechtigkeit kommt es für Gottfried nicht zu, „fremdes Gut [bonum alienum]“ genannt zu werden.⁴⁹³ Zwar also zielt diese Tugend auf „ein moralisches Gut“ ab, jedoch nicht dasjenige „dessen, auf den als auf einen anderen sie bezogen ist, weil sie bloß intendiert, dass die Gleichheit und die Mitte der Güter zwischen gewissen Akteuren, die diese Güter miteinander austauschen, in realer Weise gewahrt wird“.⁴⁹⁴
Cf. Quodl. XIV q. , . Quodl. XIV q. , : „aliqua persona singularis secundum aliquam specialem rationem et habitudinem quam habet ad agentem et ad materiam actionis.“ Quodl. XIV q. , : „agens agit id quod agit in ordine ad se ipsum, id est in ordine ad bonum suum morale, non tamen in ordine ad se ipsu absolute, quia hoc bonum convenit ei nisi secundum per tale opus convenienter se habet ad alium.“ Quodl. XIVq. , : „propter quod etiam licet huiusmodi iustitia sit ad alterum non dicitur tamen bonum alienum.“ Quodl. XIV q. , : „Item licet iustitia particularis intendit bonum morale in eo quod agit, tamen per se non intendit bonum morale illius ad quem est ut ad alterum, quia solum intendit quod servetur aequalitas et medium realiter inter aliquos in bonis quibus ad invicem communicant.“
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3.2. Ähnlich verhält es sich auch bei der Gesetzesgerechtigkeit. Deren Gut besteht wie gesehen darin, „dass sich jemand in angemessener Weise mit Blick auf dasjenige verhält, was zur gesamten moralischen Materie gehört“, und zwar in Hinordnung auf sich selbst, das heißt auf sein je eigenes Gut, nicht aber in absoluter Weise, sondern im Verhältnis zum anderen, und zwar so, dass in Hinordnung auf dessen Gut nicht eine Hinordnung zu irgendeinem Bestimmten gemeint ist, wie dies im Fall der im eigentümlichen Sinne so genannten Gerechtigkeit auftritt, sondern in Hinordnung zu jedwedem anderen, sofern dieser der Gemeinschaft zugehörig ist, deren Gut er [sc. der gesetzesgerecht Handelnde] an sich intendiert.⁴⁹⁵
Auch in der Gesetzesgerechtigkeit findet somit eine Hinordnung zum eigenen Gut des Handelnden statt, und zwar erneut so, dass dieses auf den anderen, anders als bei der partikulären Gerechtigkeit nun aber nicht auf einen bestimmten, sondern auf jedweden anderen bezogen wird. Dieser Bezug ist dabei vermittelt über das Wohl der Gemeinschaft. Denn obzwar der gesetzesgerecht Handelnde „auch zum Vorteil des Anderen handelt“, intendiert er in seinem Handeln doch primär „die zeitliche Eintracht und Ruhe in der Gemeinschaft“ und erst darüber vermittelt „sowohl das zeitliche als auch das moralische Gut jedes Einzelnen der Gemeinschaft“.⁴⁹⁶ Dies ist die Grundlage für Gottfrieds Insistenz darauf, dass der andere, in Bezug auf den der Gesetzesgerechte handelt, keine bestimmte Person sein dürfe, sondern als ein dem Handelnden gleichsam persönlich unbekannter (extraneus, ignotus) Teilnehmer einer Gemeinschaft anzusetzen ist. Gesetzesgerechtigkeit zeichnet sich in dieser Hinsicht somit für Gottfried durch das buchstäbliche ‚Absehen von der Person‘ aus. Indem Gottfried nicht weiter bestimmt, welche Art der Gemeinschaft ihm hierbei vor Augen schwebt, und indem er auch den Aspekt des Gesetzes in der Bestimmung der Gesetzesgerechtigkeit nicht eindeutig auf ein bestimmtes positives Gesetz einer bestimmten Gemeinschaft festlegt, ergibt sich die Perspektive auf ein gesetzesgerechtes Handeln, dessen Gesetz das Naturgesetz und dessen über das Wohl der gesamten Menschheit vermittelter Adressat jedweder Mensch ist.⁴⁹⁷ Man kann zusammenfassend festhalten: Allgemein ist die Gesetzesgerechtigkeit für Gottfried in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens mit Blick darauf, dass sie unterschiedslos allen anderen Gutes will, zweitens darauf, dass dieses Gut alle tugendhaften Güter integrativ umfasst, und drittens und prinzipiell hinsichtlich dessen, Quodl. XIV q. , – : „Bonum autem generalis iustitiae consistit in convenienter aliquem se habere in his quae pertinent ad tota materiam moralem non solum in ordine ad se ipsum absolute vel etiam in habitudine ad aliquem alium ut quaedam determinata persona, sed in ordine ad se ipsum, id est ad bonum suum non absolute sed in habitudine ad alium, sic quod in ordine ad bonum ipsius non quidem in ordine ad aliquem unum determinatum, sicut contingit in iustitia proprie dicta, sed in ordine ad quemcumque alium in quantum est aliquid communitatis cuius bonum per se intendit.“ Quodl. XIV q. , : „agens secundum iustitiam legalem, licet operetur bonum morale sibi, operatur etiam ad profectum alterius; nam in hoc intendit concordiam et tranquilitatem temporalem in communitate propter bonum virtutis principaliter.“ Ob Gottfried tatsächlich selbst so weit gehen würde, ist unklar; deutlich ist jedoch, dass in seinen Ausführungen die Stelle für einen solchen Universalismus gegeben ist.
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dass die Grundlage der ersten beiden Aspekte im primären Objekt der Gesetzesgerechtigkeit liegt, nämlich dem Gemeinwohl einer Gemeinschaft. Dagegen spielt die für Thomas und Jakob so bedeutsame voluntative Komponente des Hinordnens und vor allem Bewegens der Tugenden und Akte aufs Gemeinwohl hin für die Bestimmung einer allgemeinen Tugend keine Rolle. Die partikuläre Gerechtigkeit schließlich ist deswegen keine allgemeine Tugend, weil ihr aufgrund ihres bloß partikulären Objekts (= drittes Moment) auch die ersten beiden genannten Perspektiven auf Allgemeinheit, die der Gesetzesgerechtigkeit eignen, abgehen.
4.5.3.3 Freundschaft (amicitia) 1. Aus dem Bisherigen ergibt sich für Gottfried, dass es neben der Gesetzesgerechtigkeit nicht überdies eine Form der Freundschaft geben kann, die im Bereich der moralischen Tugenden als allgemeine Tugend anzusprechen ist. Zwar ist Gottfried wie die anderen diskutierten Autoren der Auffassung, dass es sich bei der Freundschaft durchaus um eine eigenständige Tugend und nicht bloß um eine bloß mitfolgende Qualität handelt, die andere Tugenden begleitet.⁴⁹⁸ Dafür sprechen nicht nur autoritative Quellen.⁴⁹⁹ Auch Gottfried identifiziert dabei – wie schon Thomas und Jakob – ein grundlegendes Streben, das einer tugendhaften, das heißt auf die rechte Mitte zwischen Übermaß und Mangel zielenden Regelung bedarf, nämlich das Lieben (amare). Die Freundschaft ist ebendieser lobenswerte Habitus. Dass sie aber nicht durch die Allgemeinheit ihres Objekts und hauptsächlichen Zieles allgemein sein kann, liegt daran, „dass sie sich nicht auf das Gut der Menge oder der Gemeinschaft, sondern lediglich auf das Gut eines oder weniger bezieht“.⁵⁰⁰ Dies ergibt sich schon aus Aristoteles’ Feststellung, dass man nicht mit vielen im Sinne vollkommener Freundschaft befreundet sein kann. Gottfried erläutert hierzu, dass diejenige Freundschaft vollkommen und gleichsam am meisten Freundschaft ist, die „zwischen Menschen gemäß einem natürlichen Verlauf [cursus naturalis]“, also nicht durch übernatürliche ‚Eingießung (infusio)‘ entstehen kann und in einem „gewissen Überfluss im Lieben [superabundantia in amando]“ besteht; eine solche Superabundanz aber kann nicht vielen gegenüber aufgebracht werden.⁵⁰¹ Immerhin räumt Gottfried der Freundschaft eine Art der Allgemeinheit ein, die bereits Jakob geltend gemacht hatte und die die Freundschaft in Ähnlichkeit zur Selbstliebe aufweist, die ja wie gesehen ihrerseits eine Art der Freundschaft ist. Denn zwar avisiert die Selbstliebe kein allgemeines Ziel, „weil sie den Menschen nicht disponiert oder vervollkommnet in Hinordnung zur Vielheit,
Dies in Diskussion der Frage, wie die aristotelische Formel auszudeuten sei, dass Freundschaft eine Tugend oder mit Tugend verbunden ist. Cf. Quodl. XIV q. , . Quodl. XIV q. , : „non respicit bonum multitudinis sive communitatis, sed tantum bonum unius vel paucorum.“ Quodl. XIV q. , : „ipsa [sc. amicitia] enim est perfecta et quasi maxima quae potest esse inter homines secundum cursum naturalem et cuidam superabundantiae in amando assimilatur; superabundans autem amor non est natus fieri ad multos.“
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deren Teil er ist, sondern in Hinordnung auf sich selbst und so in Hinordnung auf das Wohl bloß eines Einzelnen“.⁵⁰² Aber dieses Wohl oder Gut, das der sich selbst Liebende für sich will, besteht nicht nur im Gut bloß einer Tugend, „sondern schließt unter einer gewissen Allgemeinheit in unbestimmter Weise jedes mögliche Gut ein“.⁵⁰³ Daher kann von dieser Selbstliebe gesagt werden: Die derartige Tugend ist allgemein durch eine gewisse Allgemeinheit eines gleichsam integralen und vieles in sich aggregierenden Ganzen, und zwar nicht hinsichtlich ihrer Essenz und Natur, sondern hinsichtlich ihres materialen Objekts, auf das sie sich bezieht, nämlich hinsichtlich des Guten, das der Liebende demjenigen will, der per se und um seiner willen geliebt wird.⁵⁰⁴
Ähnlich also, wie in der Selbstliebe jemand für sich selbst – übrigens auch für Gottfried mit einem amor concupiscentiae – allgemein alle möglichen Güter und nicht nur ein einzelnes Gut wünscht, so wünscht der, der mit jemandem in vollkommener Weise um dessen selbst willen mit einem amor benevolentiae befreundet ist, diesem allgemein alle Güter. Dies unterscheidet die Freundschaft von allen anderen Einzeltugenden. Doch diese Form von Allgemeinheit, die Gottfried Jakob offenkundig einräumt, genügt in Gottfrieds Augen nicht, um die Freundschaft eine allgemeine Tugend (geschweige denn eine Form der Tugenden) zu nennen. 2. Warum das so ist, wird klar, wenn Gottfried die Freundschaft im eigentlichen oder vollkommenen Sinne mit der Gesetzesgerechtigkeit mit Blick auf ihre Allgemeinheit vergleicht. Wie gesehen, ist die Gesetzesgerechtigkeit in dreifachem Sinne allgemein zu nennen: Allgemein ist ihr Objekt, das heißt das Gemeinwohl, vermittelt darüber der Adressat ihrer Handlungen, nämlich der unbestimmt andere, und drittens das Gute, das getan oder intendiert wird, nämlich die Objekte aller Einzeltugenden. Dagegen hat die Freundschaft zwar wie gesehen ein ebenso allgemeines Sekundärobjekt, das heißt ein ebenso umfassendes gewolltes Gut, nicht jedoch ein entsprechendes Primärobjekt (obiectum primum).⁵⁰⁵ Denn der Adressat freundschaftlichen Handelns ist eben nicht die (‚allgemeine‘) Gemeinschaft bzw. vermittelt hierüber unbestimmt jeder andere, sondern eine bestimmte Person. Ähnlich wie Jakob, jedoch nicht zuletzt mit dem Zweck der letztendlichen Zurückweisung von dessen Thesen, stellt Gottfried daher fest, dass die Vervollkommnung, die die Freundschaft dem Menschen in Hinsicht auf einen bestimmten anderen zuteilwerden lässt, nicht „aus dem Geschuldeten der Gerechtigkeit [ex debito iustitiae]“ erstrebt wird, sondern indem dieser, sich „aus Gefallen an der Sittlichkeit [ex
Quodl. XIV q. , : „Est tamen sic generalis, sicut amor quo aliquis amat se ipsum dici potest generalis non generalitat finis communis, ut dictum est; quia non disponit vel perficit hominem in ordine ad multitudinem cuius sit pars, sed in ordine ad se ipsum et sic in ordine ad bonum unius tantum.“ Quodl. XIV q. , : „sub quadam generalitate indeterminate includit one bonum possibile.“ Quodl. XIV q. , : „quadam generalitate alicuius totius quasi integralis multa in se agretantis est huiusmodi virtus generalis non secundum suam essentiam et naturam sed quantum ad obiectum materiale quod respicit, scilicet quantum ad bonum quod amans vult illi qui per se et propter se amatur.“ Cf. Quodl. XIV q. , – .
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complacentia honestatis]“ selbst in freier Weise hinneigend, dem anderen jegliches ihm zuträgliches Gut wünscht und tut.⁵⁰⁶ 3. Allerdings gibt es freilich neben der Freundschaft im eigentümlichsten Sinne (amicitia propriissime dicta) noch die weiteren Freundschaftsformen, von denen Aristoteles ja gesagt hatte, dass sie jener nur ähnlich seien. Diese nun stehen in Gottfrieds Auffassung der Gerechtigkeit näher als jene, weil sie aufgrund ihrer Fundierung in menschlichen Verhältnissen (communicationes) zwischen den ‚Liebenden‘ Relationen des Geschuldeten und Gerechten konstituieren und sich daher „mehr in eigentümlicher Weise auf die Gerechtigkeit zurückführen lassen als die oben besprochene Freundschaft“.⁵⁰⁷ Aber dieser Nähe unbeschadet, sind diese Arten oder, wie Gottfried sagt, Modi der Freundschaften (modi amicitiarum) keinesfalls mögliche Kandidaten für die hier diskutierte Problematik einer allgemeinen moralischen Tugend. Denn jede von ihnen hat ein bestimmtes Objekt, das heißt ein eingeschränktes und von anderen unterschiedenes, nicht etwa ein universales und integratives wie die Gesetzesgerechtigkeit.⁵⁰⁸ Überdies wird in ihnen nicht einmal jene der Freundschaft im eigentlichen Sinne immerhin noch zukommende Allgemeinheit des Sekundärobjekts (obiectum secundarium) angetroffen. Gottfried unterstreicht hierbei, dass anders als in der vollkommenen Freundschaft in den uneigentlichen Formen „der Freund den anderen in Hinsicht auf diese Modi der Freundschaft nicht wie sich selbst liebt oder wie den anderen sich selbst“.⁵⁰⁹ Stattdessen will der auf diese Weise den anderen Liebende diesem zwar auch Wohl, aber keineswegs das Wohl in der unbegrenzten Weise, in der er es für sich selbst wünscht, sondern lediglich insoweit, als sich die konkrete Bestimmtheit des Freundschaftsmodus, in dem der eine dem anderen verbunden ist, erstreckt. Hierbei hat Gottfried offenbar im Blick, dass die uneigentliche Freundschaft den anderen als „irgendeinen anderen liebt [amat alium sicut quendam alterum]“, dieser also hier gerade nicht wie bei der eigentlichen Freundschaft das Primärobjekt als eine bestimmte Person aufzufassen ist, und dennoch dieser uneigentlichen Freundschaft deshalb noch nicht die Allgemeinheit der Gesetzesgerechtigkeit zukommt, weil eben das Sekundärobjekt hier als eine nicht-allgemeine ‚bestimmte Haltung (habitudo determinata)‘ der Verbindung zwischen Liebendem und Geliebtem beschrieben werden muss.⁵¹⁰ In dem Maße also, wie die Spezifizität des Primärobjekts, nämlich des konkreten Freundes, in den Modi uneigentlicher Freundschaft aufgegeben ist, ist auch die Allgemeinheit oder Unbegrenztheit des dem Freund gewünschten und diesem getanen Guten aufgehoben: Die Allgemeinheit des
Cf. Quodl. XIV q. , . Quodl. XIV q. , – : „magis proprie ad iustitiam reducuntur quam praedicta amicitia.W Cf. Quodl. XIV q. , . Quodl. XIV q. , : „Item nec in eis invenitur etiam illa generalitas quae est in amicitia praedicta magis proprie dicta, quia amicus alterius secundum illos modos amicitiae non amat alium sicut se ipsum sive sicut alterum se.“ Cf. Quodl. XIV q. , .
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einen Objekts geht somit in allen Arten von Freundschaft stets auf Kosten der Allgemeinheit des anderen. 4. Gottfried also kennt nur zwei allgemeine Tugenden im Bereich des Strebens: Gesetzesgerechtigkeit und caritas.⁵¹¹ Und mit Blick auf das Erstreben fremden Wohls um seiner selbst willen kommt es nur der caritas zu, zugleich eine allgemeine Tugend und amor amicitiae zu sein. Denn für die Gerechtigkeit und für die uneigentlichen Formen der Nutzen- und politischen Freundschaft, die letztlich auch zur Gerechtigkeit zu zählen sind,⁵¹² ist mit Rekurs auf aristotelische Figuren und Argumente⁵¹³ für Gottfried klar, dass sie zwar solange, wie sie mit der Gesetzesgerechtigkeit das Gemeinwohl intendieren, als allgemeine Tugend aufzufassen sind, dabei dies Gut aber wie gesehen mit Blick auf das eigene Wohl, daher als amor concupiscentiae erstreben.⁵¹⁴ Nur bei caritas sind sowohl das (als amor amicitiae) Erstrebte – Gott – und diejenigen, für die es (als amor amicitiae) erstrebt wird, nämlich die Nächsten, allgemein.⁵¹⁵ Demgegenüber erstrebt die vollkommene ethische Freundschaft das Wohl des Freundes tatsächlich als amor amicitiae, ist aber aufgrund dessen, dass zwar das für den Freund mit amor concupiscentiae erstrebte Gut allgemein, die mit amor amicitiae geliebten Freunde oder der Freund aber immer bloß besondere Personen sind, eine spezielle und nicht eine allgemeine Tugend.⁵¹⁶ Aber auch die eigentliche bzw. vollkommene ethische Freundschaft gerät in Hinsicht ihres Bezugs auf fremdes Wohl bei Gottfried wie schon bei Thomas in eine eigentümliche Schräglage. Denn auch Gottfried ist der Auffassung, dass ich dem Freund nur deswegen um seiner selbst willen ein Gutes will, weil er mit mir eine gewisse Einheit bildet und mit mir verbunden ist.⁵¹⁷ Wie für Thomas, ist auch für Gottfried unter Einbezug des Aristoteles-Zitats, dass die Liebe zum Freund mit der Freundschaft zu sich selbst verkoppelt ist, die Vorstellung im Hintergrund, dass das Streben nach fremdem Wohl auch in der vollkommenen ethischen Freundschaft vermittelt über den Einheitsgedanken als der Selbstliebe entsprungen zu denken ist. Damit aber stellen sich mit Blick auf Gottfrieds Beschreibung der vollkommenen Freundschaft und deren Verhältnis zur caritas analoge Bedenken ein, wie oben für Thomas.
Cf. Quodl. XIV q. , p. ; cf. auch q. , und . Cf. Quodl. XIV q. , p. – . Cf. Quodl. XIV q. , p. . Cf. Quodl. XIV q. , p. . Cf. Quodl. XIV q. , p. . Cf. Quodl. XIV q. , p. . Cf. Quodl.VI q. , p. : „Cum […] voluntas inclinatur amore rationali qui dicitur amor amicitiae et benevolentiae ad bonum alterius, ist inclinatio non est bonum principale ipsius in quod inclinatur vel ipsius inclinati […] Cum enim volo amico hoc maximum bonum quod est esse perfectum secundum intellectum [d. h. nach Aristoteles Erkenntnis als bios theoretikos bzw. nach christlicher Auffassung Gottesschau als Glückseligkeit], illud volo sibi in quantum est mihi aliquo modo coniunctus, et quia illud quod maxime mihi volo est esse sic perfectum in eo quod amicus est sic perfectus sive aliquo modo perfectus […]. Et sicut amans vere se ipsum vult se esse perfectum principaliter virtutibus, et exercere actus virtuosos, ita etiam vult in amato.“
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Fazit 1. Es hat sich in den Interpretationen von Gerechtigkeit, Freundschaft und caritas hinsichtlich der Fragen nach ihrem Status als allgemeine Tugenden, als Formen der Tugenden sowie mit Blick auf ihren Bezug auf fremdes Wohl gezeigt, dass Jakob und Gottfried auf je eigene Weise thomasische Figuren aufnehmen und diese in durchaus verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Gemeinsam ist den drei Autoren die Vorstellung, dass das Streben nach fremdem Wohl in der natürlichen Liebe zu sich selbst gegründet sein muss, wobei alle drei Autoren auf die entsprechende Aristoteles-Stelle aus EN VIII 4 verweisen und sie in diesem Sinne auslegen. Bereits für Thomas wurde angesprochen, dass diese Deutung als eine Exegese der aristotelischen Theorie zumindest problematisch und auch abgesehen davon systematisch nicht überzeugend ist, scheint es doch, dass die thomasische ‚Extension‘ des Sichliebens auf den Freund, in der dieser durch seine Einheit mit dem Liebenden gleichsam zu einem Teil von diesem selbst und das Wohl des Freundes vom Liebenden daher als sein eigenes erstrebt wird, genau jenes Moment der Persönlichkeit, Unvertauschbarkeit und Alterität des Freundes nivelliert, das Aristoteles in der vollkommenen Freundschaft offenbar auch im Blick hatte.⁵¹⁸ Dieses Problem überträgt sich sodann auch auf die Ansätze von Gottfried und Jakob. Gottfried zieht im Anschluss an diese thomasischen und jakobischen Versuche, das Streben nach fremdem Wohl in der natürlichen Selbstliebe zu gründen, immerhin die Konsequenz, die Existenz einer auf natürlichen Prinzipien basierenden Tugend des Menschen, die sich im eigentlichen Sinne auf fremdes Wohl bezieht, zu leugnen,⁵¹⁹ während Jakob noch nicht soweit geht. Damit weist Gottfried, wie einige andere Autoren in ihrer Reaktion auf die Verurteilungen 1277, mit einem seiner Theoriestücke bereits in die Richtung neuzeitlicher Ethiken und politischer Theorien wie etwa derjenigen von Thomas Hobbes.⁵²⁰ 2. Hinsichtlich der Diskussion, welcher Tugend der Status der Allgemeinheit zukommt oder sogar derjenige, Form der Tugenden zu sein, ist Gottfried ebenfalls derjenige der drei hier besprochenen Autoren, der am weitesten in die Richtung neuzeitlicher und moderner Theorielagen geht, wenngleich er den letzten Schritt hier noch nicht vollzieht. Dabei bereitet Thomas unmittelbar Gottfrieds Position dahingehend vor, dass er die Allgemeinheit der Gesetzesgerechtigkeit bereits mit der integrativen Struktur des Gemeinwohls in Verbindung setzt, aufgrund derer die Ziele und Akte der anderen Tugenden durch die Gesetzesgerechtigkeit auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden können. Gottfried aber deutet dies dann dahingehend, dass die Charakteristik der Gesetzesgerechtigkeit, allgemeine Tugend zu sein, nicht primär darin ihren Grund hat, dass sie die Gesamtheit von Gütern auf das Gemeinwohl bezieht – eine Vorstel-
An diesem Moment wäre der Sache nach zur Beschreibung von vollkommener Freundschaft übrigens auch festzuhalten, wenn die hier vorgelegte Aristoteles-Deutung nicht haltbar sein sollte. Cf. Kent (, ). Im abschließenden Ausblickskapitel dieser Arbeit wird dafür plädiert, derartige Versuche einer reduktiven Systematisierung zugunsten einer angemesseneren Phänomenbeschreibung, hier konkret also des Phänomens vollkommener Freundschaft im aristotelischen Sinne, zurückzustellen.
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lung, die ja wie gesehen bei Jakob dazu geführt hatte, die Freundschaft ebenfalls als allgemeine Tugend und, in Zusammenhang mit Thomas’ Lokalisation der Gerechtigkeit im Willen aufgrund ihres effizient-kausalen Charakters, als Form der Tugenden anzusetzen. Vielmehr ist die Gerechtigkeit für Gottfried deswegen allgemein, weil im intendierten Gemeinwohl alle Menschen unterschiedslos enthalten sind. Obzwar Gottfried selbst wohl noch nicht so weit geht, wäre es durchaus möglich, hier unter Rekurs auf stoische Figuren auch die Gemeinschaft aller Menschen anstatt der einer bestimmten Nation einzutragen. 3. In Hinsicht auf die Frage nach der Grunddisposition für tugendhaftes und speziell gerechtes Handeln schließlich ist an Jakobs Zugriff hervorzuheben, dass seine Einsicht, dass ohne ein geordnetes Selbst- und Nächstenverhältnis tugendhaftes Handeln als solches kaum möglich ist, durchaus nicht unplausibel erscheint, ohne dass es notwendig zu sein scheint, deswegen schon seinen Schritt der Ableitung des Bezugs auf fremdes Wohl aus der natürlichen Selbstliebe mitgehen zu müssen. Man gewinnt vielmehr fast umgekehrt den Eindruck, als handelte es sich bei diesem Ableitungsversuch um eine Konstruktion, die der genannten phänomenologischen Einsicht eher nachträglich auferlegt wird.Wenn man annimmt, dass Jakob ähnlich wie Thomas oder später Duns Scotus im Rückgriff auf die aristotelische Epistemologie davon ausgeht, dass das Ersterkannte ohnehin die Handlungen sind und erst vermittels über diese die ihnen zugrunde liegenden Habitus und schließlich die Vermögen erschlossen werden, so wird dieser Eindruck sogar noch erhärtet. Eine allgemeine, noch den jeweiligen habituellen Ausprägungen und erst recht den einzelnen Handlungen zugrunde liegende Selbstliebe wäre mithin ein Erklärungskonstrukt, das dazu dient, mittels eines Modells phänomenal erfassbare Strukturen zu erklären (statt zu beschreiben). Im Übrigen würde auch schon bei Thomas selbst strukturell gesehen das Einräumen einer Nichtreduzibilität von Selbst- und Fremdbezug sehr viel besser mit der internen nichtreduziblen Prinzipienpluralität des Naturgesetzes (lex naturalis) übereinstimmen, wo ja das Streben nach dem eigenen Wohl auf der ersten, das Streben nach fremdem dagegen – sofern es sich hierbei um das Wohl von Vernunftwesen handelt – auf der dritten Inklinationsebene angesiedelt ist.
5 Ergebnisse und Ausblick Die vorliegende Studie hat anhand ausgewählter Positionen aus der lateinischen mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption die Frage untersucht, ob und wie eine tugendethische Theorie der Gerechtigkeit¹ mit einem moralischen Universalismus verbunden werden kann. Das Problem hatte sich, wie in der Einleitung und vor allem im dritten Kapitel gezeigt, bereits für die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles so gestellt: Einerseits wurde die (allgemeine) Gerechtigkeit mit ihrem Bezug auf fremdes Wohl von Aristoteles als höchste und vollkommenste Tugend gekennzeichnet, weshalb oben formuliert wurde, dass die Gesetzesgerechtigkeit gleichsam als eigentlicher Ort von Moralität innerhalb der EN beschrieben werden kann. Andererseits sind es jedoch am Ende bei Aristoteles lediglich die in einer jeweiligen Polis geltenden Gesetze, zu deren Befolgung die Gerechtigkeit, genauer die allgemeine oder Gesetzesgerechtigkeit als höchste Tugend befähigt. Die Frage stellte sich daher, ob diese jeweiligen, historisch und kulturell kontingenten Gesetze den letzten Rahmen darstellen, hinter den in der Sittlichkeit nicht mehr zurückgegangen werden kann, oder ob es eine überpositive und kulturinvariante Struktur gibt – etwa das Naturgesetz/Naturrecht –, die als ein universaler Rahmen für die Sittlichkeit fungiert und die zugleich mit einem tugendethischen Ansatz des Strebens nach Eudämonie vermittelt werden kann. Weiterhin wurde innerhalb dieser Konstellation das Problem virulent, welches Seelenvermögen als anthropologische Grundlage herausgestellt werden kann, die es dem Menschen ermöglicht, eine solche Universalität zu erfassen und sein Handeln ihr gemäß auszurichten. Die konkreten Ergebnisse der Untersuchungen wurden im Verlauf der Studie am Ende der jeweiligen Abschnitte zusammengefasst. Im vorliegenden Schlusskapitel soll daher weniger um eine die einzelnen Resultate nochmals im Detail sichtende Betrachtung als vielmehr um einen Ausblick gehen, bei dem folgende Hauptfragen im Zentrum stehen: 1) Was genau kann es vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Studie gewonnenen Ergebnisse bedeuten, von einem Universalismus in der Tugendethik zu sprechen? Anders und genauer gefragt:Welche Formen von ‚Allgemeinheit‘ lassen sich mit tugendethischen Theorien und besonders mit Blick auf die Gerechtigkeit als Tugend verbinden? Im Zusammenhang hiermit stellt sich zudem die Frage, wie das Streben nach eigenem und das Streben nach fremdem Wohl in einer Tugendethik zusammen bestehen können, was auf das angesprochene Problem der Benennung und Beschreibung eines Seelenvermögens als anthropologischer Grundlage tugendethischer Universalität verweist. 2) Was ist mit Blick auf diese Arten von Universalität und auch darüber hinaus der systematische Status der Tugendethik? Diese Frage hatte wie gesehen besonders mit
‚Tugendethisch‘, ‚eine‘ oder ‚die Tugendethik‘ meint hier und im gesamten Schlusskapitel: im Sinne einer aristotelisch-thomasischen Tugendethik, wie sie in der vorliegenden Studie Hauptgegenstand war.
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5 Ergebnisse und Ausblick
Blick auf die mittelalterlichen Entwürfe unterschiedliche Dimensionen. Einerseits nämlich kann man fragen, wie die Tugendethik in Bezug auf die Theologie sowohl als philosophisch-metaphysische als auch als auf Offenbarung fußende Gotteslehre zu setzen ist, zumal dann, wenn man in die Tugendethik ein Naturgesetz als universale ethische Prinzipienstruktur integriert und dieses zugleich als Teilhabe des Menschen am ewigen göttlichen Heilsplan beschreibt. Andererseits ist zu klären, wie genau der relative Eigenstand der Ethik, den sowohl Aristoteles als auch die mittelalterlichen Rezipienten bekräftigen, in systematischer Hinsicht zu deuten ist. Im Folgenden sollen diese Fragen abschließend in Grundzügen erörtert werden, ohne dass damit beansprucht würde, sie letztgültig zu beantworten. Ad 1) Was die erste Frage nach den Bedeutungsebenen von Allgemeinheit innerhalb einer Tugendethik und speziell mit Blick auf die Gerechtigkeit als Tugend anbetrifft, lassen sich vor allem vier unterschiedliche, dabei durchaus miteinander verbundene Aspekte unterscheiden, die im Weiteren zunächst getrennt aufgeführt und anschließend in ihrer Verbindung betrachtet werden: [I] Erstens nämlich können die – aristotelisch-thomasisch verstandene – naturale Grundverfasstheit des Menschen und die dieser gemäßen natürlichen Neigungen als universale Rahmenbestimmungen angesehen werden, innerhalb derer je konkret das menschliche Leben und partikuläre Handlungen durch den Einzelnen zu vollziehen sind. Universal sind diese Verfasstheit und diese Strebungen hierbei deswegen, weil sie allen Menschen zukommen und aus diesem Grund auch für alle Menschen Gültigkeit beanspruchen können. Auf ihrer Grundlage ist es den Menschen eigentümlich, ein Leben in Gemeinschaft leben zu sollen und dies auch allgemein sowie in Gestalt konkreter Handlungen zu erstreben. Dabei war in den mittelalterlichen Entwürfen wie gesehen kontrovers diskutiert worden, a) wie genau jenes natürliche Streben nach einem Leben nach Gemeinschaft, das sich dann in Gestalt der Gesetzesgerechtigkeit habitualisiert,vermögenspsychologisch lokalisiert werden soll, und inwieweit es b) als ein genuines Streben nach fremdem Wohl – wie dies Aristoteles selbst aufgefasst hatte – zu bestimmen ist. Nach Thomas und Jakob war es der Wille als genuin rationales Seelenvermögen, welches aufgrund seiner Teilhabe an der menschlichen Vernunft ein Streben nach Leben in Gemeinschaft qua Streben nach fremdem Wohl ermöglicht; Gottfried dagegen hatte ein sinnliches Streben als anthropologische Basis für menschliches Gemeinschaftsleben aufgefasst. Dazu wird unter [IV] noch mehr zu sagen sein, wo der Konnex der unterschiedlichen Hinsichten auf Allgemeinheit innerhalb der Tugendethik besprochen wird. [II] Weiterhin hat sich vor allem anhand des thomasischen Ansatzes ebenfalls gezeigt, dass über diese natürlichen Strebungen hinaus eine reflexive oder quasi-reflexive² Erfassung der Ziele dieser Neigungen durch die menschliche Vernunft anzusetzen ist, soll
‚Quasi-reflexiv‘ soll anzeigen, dass hier nicht bzw. nicht lediglich die Ebene bewussten Reflektierens anzusetzen ist, dass aber prinzipiell eine irreduzible Differenz zwischen den natürlichen Strebezielen selbst und deren Erfassung durch die praktische Vernunft besteht.
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auch der epistemische – und nicht bloß der ‚mitangeborene‘ (konnaturale) – Status der inklinierten, nunmehr als Naturgesetz (lex naturalis) zu verstehenden Letztbestimmungen begründet sein. Nur so ist zu verstehen, wie diese natürlichen Ziele nicht bloß überhaupt erstrebt werden, sondern vernünftige Prinzipien oder Rahmenbedingungen für die konkrete sittliche Überlegung darstellen können, ohne welches deliberative Moment menschliches Handeln und entsprechend eine philosophische Ethik kaum denkbar ist.³ Anders gesagt, müssen sich dann, wenn es nicht nur um Fragen des natürlichen Strebens, das man auch anderen Lebewesen als dem Menschen zuschreiben kann, sondern um solche sittlicher, das heißt auf vernünftiger und willentlicher Wahl basierender Handlungen gehen soll, die sittlichen Letztbestimmungen als genuin vernünftige und selbstbestimmte ausweisen lassen. Das Seelenvermögen, das allgemein als der anthropologische ‚Ort‘ dieser Prinzipien anzusehen ist, galt allgemein als der natürliche (nicht-erworbene) Habitus der Synderesis, in der die naturgesetzlichen Prinzipien der praktischen Vernunft vorliegen. Die Allgemeinheit des so verstandenen Naturgesetzes ist hierbei einerseits der Allgemeinheit der natürlichen Strebungen analog, auf deren Ziele sich die praktische Vernunft im Naturgesetz bezieht. Andererseits aber ist, wie insbesondere bei Thomas klar geworden ist, überdies eine prinzipielle epistemisch-reflexive Allgemeinheit anzunehmen, in der die naturgesetzlichen Prinzipen in der Synderesis nicht bloß gehabt, sondern auch prinzipiell⁴ gewusst werden. In beiderlei Hinsicht jedoch gilt: Allgemein sind Strebungen und reflexiv-epistemisches Naturgesetz, weil alle Menschen sie bzw. es natürlicherweise haben und davon auch prinzipiell wissen können.⁵ [III] Ein drittes Moment oder eine dritte Weise von Allgemeinheit, die im Laufe der Untersuchungen immer stärker hervorgetreten ist, ist diejenige, die dem begegnenden Einzelfall bzw. der konkreten Situation, in der und in Bezug auf die Handeln sich abspielt, zukommt und die ihrerseits eine allgemeine, in dieser Studie in Anlehnung an Thomas ‚naturrechtlich‘ (ius naturale – statt ‚naturgesetzlich [lex naturalis]) genannte Forderung an den Handelnden in Gestalt des Zu-Tuenden stellt. Diese Art der Allgemeinheit hatte sich als besonders intrikat erwiesen und hat mindestens zwei wichtige Facetten. [IIIa] Erstens beinhaltet sie in ihrer spezifischen Struktur den Grund dafür, weshalb die untersuchten Entwürfe sich überhaupt als Tugendethiken darstellten, das
Treffend formuliert hat diesen Zusammenhang etwa Nikolai Hartmann (Hartmann [, ]): „Was ich tun soll, kann ich nur ermessen, wenn ich ‚sehe‘, was überhaupt wertvoll ist im Leben. Und ‚sehen‘, was wertvoll ist, kann ich nur, wenn ich dieses Sehen selbst als wertvolles Verhalten, als Aufgabe, als inneres Tunsollen empfinde.“ Das heißt wie oben gesehen nicht, dass man sie gleichsam ‚immer präsent‘ im Bewusstsein haben müsste. Es ist ähnlich wie mit der sogenannten ‚angeborenen Idee‘ (idea innata) Gottes bei Descartes: Sie ist nicht stets unmittelbares Objekt unseres Bewusstseins, sondern beständiger unthematischer Hintergrund, kann aber als solcher auch eigens zum Gegenstand des Bewusstseins werden. Übrigens heißt das nicht, dass diese Prinzipien im Modus einer philosophischen Letztbegründung gewusst werden müssten; cf. hierzu den Schluss des vorliegenden letzten Kapitels. Hierauf basiert, wie ebenfalls oben schon besprochen, auch die Möglichkeit einer philosophischen Ethik.
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heißt als Ethiken, die einerseits dem Umstand Rechnung zu tragen versuchen, dass menschliches Handeln sich stets in einer kontingenten und geschichtlichen Welt abspielt, und andererseits trotzdem etwas Allgemeines und über die Situation Hinausgehendes hierüber auszusagen versuchen. Denn die Kontingenz der Welt bedeutet, dass sich dieselbe Situation nie genauso wiederholt und dass auch verschiedene Situationen nie miteinander strikt identisch sind, sondern eine jede – zumindest bis zu einem gewissen Grad – einmalig ist. Zugleich aber erfordert menschliches Handeln, vor dem Hintergrund allgemeiner Auffassungen im Einzelfall zu entscheiden, was zu tun oder zu lassen ist. Und es sind wie gezeigt genau die Tugenden, die als schon konkretere, obzwar immer noch allgemeine Handlungsgrundlagen das Handlungssubjekt vermögen, jenen Brückenschlag zwischen der Einzelheit der Situation und der Allgemeinheit der obersten Handlungsprinzipien der praktischen Vernunft zu schlagen. Auf der einen Seite ist die Allgemeinheit der Tugenden hinreichend vage, um mit Blick auf den begegnenden Fall einen Spielraum zu vernünftiger Handlungsabwägung zu gewährleisten, was gerade nötig ist, um dem Fall in seiner Eigenbestimmtheit in Gestalt einer konkret angemessenen Handlung gerecht zu werden. Auf der anderen Seite können die Tugenden als selbst allgemeine Handlungsprinzipien zugleich Gegenstand der Ethik als einer ihrerseits allgemeinen Wissenschaft sein. – Diese Strukturen gelten auch für das gerechte, insbesondere das gesetzesgerechte Handeln: Auch hier muss es ein Zusammenspiel von Gesetzesgerechtigkeit und Klugheit als abwägender und reflektierender Urteilskraft geben, wenn dem Einzelfall gegenüber gerecht gehandelt werden soll. Das kann wie gesehen auch bedeuten, dass die gesetzesgerechte Anwendung eines Gesetzes ‚billig‘ (also im Sinne der Epieikie) ausgesetzt werden muss. All dies führt dazu, dass die Allgemeinheit ethischer Prinzipien – sei es in gelebter Moral, sei es in der philosophischen Theoretisierung – nicht schlechthin univok, sondern eine Allgemeinheit im Modus des ‚Zumeist‘ und ‚Umrisshaften‘ darstellt. [IIIb] Zweitens aber ist die naturrechtliche Verfassung des Einzelfalles bzw. der Situation trotz seiner bzw. ihrer Einmaligkeit eben nicht eine pure Kontingenz, sondern hat vielmehr ebenfalls eine eigene Form spezifischer Allgemeinheit. Allgemein ist der Einzelfall bzw. die Situation dabei nicht primär mit Blick auf andere Handlungssituationen, sondern in Hinsicht auf die verschiedenen Handlungssubjekte, die ihr begegnen können. Denkbar ist es, dass eine bestimmte Situation sich von allen anderen unterscheidet und doch von jedem Handlungssubjekt dieselbe Handlung fordert, also in diesem Sinne allgemein ist, auch wenn die verschiedenen Subjekte aufgrund ihrer unterschiedlichen Dispositionen eventuell nicht in der Lage sind, dies zu erfassen oder das Gebotene zu tun. Anhand dieser Überlegungen, die auf der Grundlage von Thomas’ Theorie der Umstände (circumstantia) entwickelt wurden, hatte sich gezeigt, dass das Naturrecht in diesem Verständnis das Naturgesetz als subjektive Rahmenstruktur der praktischen Vernunft übersteigt und auf eine subjektunabhängige und dennoch für das Handlungssubjekt bzw. für die handelnde Person – sollte der Ausdruck ‚Handlungssubjekt‘ zu starke neuzeitliche Assoziationen evozieren – relevante Dimension von Ethikbegründung verweist.
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[IV] Ein vierter Aspekt der Allgemeinheit schließlich kommt der Gesetzesgerechtigkeit einmal als Tugend überhaupt und weiterhin als allgemeiner Tugend mit Blick auf die übrigen Tugenden und deren Ziele und Handlungen zu. [IVa] Erstens ist die Gerechtigkeit wie jede Tugend in dem Sinne allgemein, als sie wie schon in [IIIa] erwähnt mit Blick auf konkret auszuübende Handlungen die generell anzustrebende und einzuhaltende jeweilige Mitte vorgibt. In dieser Allgemeinheit sind die Tugenden bereits konkreter als das Naturgesetz, in dem als ihrem Rahmen sie ihre Begründung haben, und vermitteln so zwischen der naturgesetzlichen Universalität und der einzelnen Handlung, die auf die innerhalb der kontingenten Welt auftretende Situation bezogen ist. [IVb] Zweitens ist die Gesetzesgerechtigkeit als allgemeine Tugend wie dargestellt in dem Sinne hinsichtlich der anderen moralischen Tugenden allgemein, dass sie deren Ziele und entsprechenden Handlungen potenziell auf ihr eigenes Ziel, nämlich das Gemeinwohl, auszurichten in der Lage ist und in konkreten Fällen de facto auch ausrichtet. Hier traf sich die Gesetzesgerechtigkeit, jedenfalls nach Auffassung von Thomas und besonders von Jakob, mit caritas und Freundschaft einerseits, mit der Klugheit andererseits. Letzteres ist deshalb der Fall, weil die Gesetzesgerechtigkeit die Ziele aller anderen Tugenden ‚intellektualistisch‘, das heißt mit Blick auf ihre sachlichinhaltliche Bestimmtheit, in ihr allgemeines Ziel integrieren kann, ersteres deshalb, weil sie als Tugend des Willens zugleich in der Lage ist, die Tugenden und deren Akte ‚voluntaristisch‘ auf ihr allgemeines Gut aktiv hinzubewegen und so einen Bezug auf fremdes Wohl herzustellen. Wie hängen nun diese Aspekte von Allgemeinheit untereinander zusammen? Offenkundig lässt sich zumindest zwischen den Allgemeinheitsformen I, II und IV zunächst eine Art Analogiegefüge herausstellen. Denn es sind zunächst die natürlichen Grundanlagen bzw. Strebungen [I], die als allgemeinster Rahmen menschlicher Vervollkommnung bzw. Selbstvervollkommnung die Basis dafür darstellen, dass es das Naturgesetz als reflexive Erfassung der Ziele dieser Neigungen gibt [II]. Dass aber hier kein univoker Sinn von Allgemeinheit vorliegt, lässt sich daran erkennen, dass die Allgemeinheit der naturgesetzlichen Vernunftprinzipien zwar in der der natürlichen Strebungen gründet, aber nicht mit dieser identisch ist. Sonst träte u. a. der oben diskutierte Fall ein, dass die Vernunft ein bloßes ‚Ableseorgan‘ wäre. Vielmehr stellen die naturgesetzlichen, aufeinander bezogenen Prinzipien einen einheitlichen, aber dennoch intern komplexen Rahmen dar, der die Grundlage für moralische Erwägungen bildet. Die Allgemeinheit im Sinne der Gesetzesgerechtigkeit als allgemeiner Tugend [IV] schließlich ist in zweifacher Weise in der Allgemeinheit des Naturgesetzes gegründet: Erstens so, wie die Allgemeinheit aller Tugenden in Hinsicht auf die durch sie hervorzubringenden Handlungen im Naturgesetz als deren Rahmen und allgemeinste Zielausrichtung ihre Begründung haben. Zweitens gibt es noch eine speziell für die Gesetzesgerechtigkeit greifende Begründung, nämlich dergestalt, dass die die Ziele der anderen Tugenden übergreifende und aufs Gemeinwohl ausrichtende Tätigkeit dieser allgemeinen Tugend ihre Fundierung in der dritten naturgesetzlichen Dimension, dem Leben in Gemeinschaft, und deren Überordnung über die anderen Ebenen (Selbst- und Arterhaltung) hat. Auch hier aber handelt es sich nicht um ein
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univokes, sondern eher ein analoges Verhältnis, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die dritte naturgesetzliche Ebene nicht unmittelbar als direkte Prinzipienstruktur für die Gesetzesgerechtigkeit fungiert, sondern erneut als ein Entwurfsrahmen, der der Spezifikation durch positive Gesetze bedarf, die zwar auch allgemein sind, aber unmittelbar nunmehr nur noch Allgemeinheit für die Mitglieder einer bestimmten partikulären menschlichen Gemeinschaft in einer bestimmten historischen Epoche, jedoch nicht mehr a priori für alle Menschen beanspruchen können. Die Allgemeinheit der Situation [III] aber, die oben als vom Naturgesetz unterschiedenes Naturrecht gekennzeichnet wurde, übersteigt diese Allgemeinheit des Naturgesetzes und ist auch von anderer Art. Hier wird die handelnde Person mit einer Allgemeinheit konfrontiert, die nicht der des Naturgesetzes entspringt. Deshalb gibt es auch keine stringente Ableitung, was zu tun ist, in Hinsicht auf den begegnenden Fall, und eben dies wiederum ist der Grund dafür, dass der Mensch Tugenden ausprägt. Heißt das nun aber, dass die so verstandene Allgemeinheit der Situation ‚bloß empirisch‘ wäre? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Sicher sind die Situationen und deren Anspruch an uns als Handelnde für uns nur empirisch zugänglich.⁶ Aber die beschriebene Struktur bei Thomas und auch schon bei Albert implizierte ja gerade, dass die Situation ihren Anspruch an uns als Handelnde nicht von unserer Erfassung ihrer empfängt, sondern unsere Erfassung umgekehrt sich nach der Situation und dem, was sie von sich aus erfordert, richten muss, wenn unser Handeln ein angemessenes (eben gerechtes) sein soll. Die Allgemeinheit des Einzelfalls, die dieser in sich selbst trägt, ist in ihrer Begründung somit einerseits genauso apriorisch und für alle Menschen gültig wie die des Naturgesetzes und dennoch andererseits von gänzlich anderer Struktur. Alle diese Aspekte von Allgemeinheit spielen für eine konkrete gerechte Handlung eine Rolle. Zunächst muss eine gerechte Handlung wie jede andere auch innerhalb des Rahmens des Naturgesetzes vollzogen werden, soll sie überhaupt der Möglichkeit nach eine sittlich gute Handlung sein. Weiterhin muss die gerechte Handlung in einer der Situation angemessenen (‚naturrechtlichen‘) Weise vollzogen werden, was bisweilen bedeuten kann, dass die Gesetzesgerechtigkeit in ihrer primären Orientierung am bestehenden positiven Gesetz durch eine konkrete, durch Klugheit und Epieikie hervorgebrachte Handlung eingeschränkt werden muss. Überdies wird dies im hier besonders interessierenden Fall einer gesetzesgerechten Handlung bedeuten, dass die Gesetzesgerechtigkeit als Tugend in ihrer Allgemeinheit die für die konkrete Situation erforderlichen Tugenden auf ihre eigene Zielperspektive, eben das Gemeinwohl, ausrichtet.⁷
Wie bei Albertus Magnus gesehen, gilt dies in ähnlicher Weise auch für die naturrechtlichen (in Alberts Sinne) bzw. naturgesetzlichen (in Thomas’ Sinne) Vernunftprinzipien, die ihre Begründung nicht in der Empirie haben, aber für die handelnde Person in gewisser Weise ‚erfahrbar‘ sein müssen, um überhaupt etwas für diese zu sein. Dabei müssen in einer konkreten Situation natürlich nicht immer alle Tugenden auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden, sondern jeweils nur diejenigen, die für den auftretenden Fall geboten sind. Dazu aber in der Lage zu sein, ist wie gesehen deshalb der Gesetzesgerechtigkeit eigen, weil sie eine allgemeine Tugend ist.
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Ad 2) Es bleibt abschließend die Frage nach dem systematischen Status und in Verbindung damit nach der Methodologie einer Tugendethik, die mit der Figur des Naturrechts und des Naturgesetzes eine universalistische Prinzipienstruktur enthält. Auch dies kann nur in Gestalt eines allgemeinen Ausblicks knapp angerissen werden. Schon in der Besprechung des aristotelischen Ansatzes und dann weiterhin der scholastischen Theorien wurde gezeigt, dass diese nicht zuletzt auf der Überzeugung basieren, dass philosophische Tugendethik keiner ihr systematisch vorangehenden Begründung in einer anderen philosophischen (metaphysischen oder naturphilosophischen) oder auf offenbarungstheologischen Inhalten basierenden Disziplin bedarf, sondern vielmehr über eigene Prinzipien verfügt. Als diese stellten sich zunächst (insbesondere bei Thomas und analog bei Albertus Magnus) die naturgesetzlichen Prinzipien heraus. Auch wenn diese eher als ein allgemeiner Handlungsrahmen denn als Set konkreter Handlungsvorschriften und -verbote zu charakterisieren sind, können sie doch als ein solcher Rahmen die Grundlage für allgemeingültige Bestimmungen gelingenden menschlichen Lebens in Gestalt einer tugendethischen Theorie darstellen. Weiterhin wurden die Tugenden selbst als ebenfalls nur ‚vage‘, im aristotelischen Sinne ‚typo‘-hafte und zugleich allgemeine Prinzipien des menschlichen Handelns herausgestellt, die gerade aufgrund der Vagheit des Naturgesetzes auf der einen Seite und der Kontingenz der Welt als Ort des Handelns auf der anderen notwendig sind, um zwischen beidem zu vermitteln. Als solche Prinzipien können sie ebenfalls Gegenstand einer Ethik werden, die sie in ihrer Struktur, Funktion und Wirksamkeit bestimmt und untersucht. Andererseits wurde aber besonders in der Untersuchung der thomasischen Theorie deutlich, dass eine Tugendethik auch die prinzipielle Eigenständigkeit der begegnenden Situation berücksichtigen muss, das heißt deren Eigenständigkeit als ein die sittliche Qualität einer konkreten Handlung mitbestimmendes Prinzip. Eigenständigkeit heißt hier wie gesehen auch, dass aus der Perspektive einer Tugendethik thomasischen Zuschnitts der Prinzipiencharakter, der der Situation zukommt, nicht auf die Prinzipialität des Naturgesetzes oder der Tugenden zurückgeführt werden kann. Was bedeutet dies für das Problem der Ausweisung der tugendethischen Prinzipien und damit für deren Methode? Offenkundig muss eine Tugendethik vor allem in der Lage sein zu zeigen, wie diese Prinzipien dem Handlungsakteur selbst in seinen deliberativen Akten gegeben sind und wie er sich ihrer vergewissern kann, und zwar als Prämissen mit jeweils allgemeinem Anspruch, der zwar ignoriert, aber nicht negiert werden kann. Denn insbesondere in dieser Funktion werden sie innerhalb einer Tugendethik thematisch. Dies betrifft sowohl die naturgesetzlichen Prinzipien – einschließlich der, wenn man will, ‚metaphysischen‘ Ausrichtung des Menschen auf Gott oder etwas Göttliches, die dem Menschen nach Auffassung der besprochenen Tugendethiker ja genauso natürlich ist wie das Streben nach Selbsterhaltung – als auch die Tugenden und die Situation.Wie gesehen, wurde diese Frage von Thomas selbst insbesondere in Hinsicht auf das Naturgesetz nicht eingehender thematisiert, sondern der evidente Charakter der naturgesetzlichen, ‚für uns durch sich selbst bekannten‘ Prinzipien in Sth I – II q. 94 a. 2c vorausgesetzt bzw., wenn man den dortigen Hinweis auf Boethius hierfür nimmt, im Rückgriff auf ein Endoxon
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belegt. Gewiss ist die aristotelische Endoxa-Methode ein probates Mittel, um tugendethische Prinzipien freizulegen. Aber gerade in Hinsicht auf die These, dass die obersten Handlungsprinzipien ‚für uns durch sich selbst bekannt‘ – anders gesagt: evident – sind, wäre zu überlegen, ob an dieser Stelle nicht eventuell auch moderne Ansätze und Methoden aus dem Bereich der Moralphänomenologie und Subjektphilosophie weiterführen könnten, die zumindest teilweise ebenfalls mit dem Grundkonzept der Evidenz operiert. Ähnliches gilt auch für die Herausarbeitung und Beschreibung der Tugenden und für eine angemessene Würdigung der Prinzipienhaftigkeit der Situation im Rahmen einer Tugendethik. Ein solcher methodisch offener Zugriff kann auch dazu dienen, die philosophische Theoriebildung weniger an den Bedürfnissen des systematisierenden Denkens als an den Phänomenen zu orientieren. Die Diskussion der kritischen Überlegungen Gottfrieds hatte ja zutage befördert, dass die einem solchen Systematisierungsinteresse entspringenden Versuche von Thomas und Jakob, den Bezug auf fremdes Wohl in der allgemeinen natürlichen Selbstliebe zu begründen, zu Ende gedacht zu der Konsequenz führen, dass im Bereich der ethischen Tugenden gar kein Streben nach fremdem Wohl anzutreffen ist. Gottfried folgerte daraus wie gesehen, dass deshalb auch Gerechtigkeit und Freundschaft – nicht aber caritas – zunächst das eigene Wohl verfolgen. Es lässt sich aber fragen, ob nicht umgekehrt eben sowohl die Schlussfolgerung gezogen werden könnte, dass das auch auf natürlicher Ebene anzutreffende Streben nach fremdem Wohl, das ja zumindest in Aristoteles’ Beschreibungen der vollkommenen Freundschaft deutlich genug zum Ausdruck kommt, aus dem natürlichen Streben nach dem eigenen Wohl gerade nicht ableitbar ist, ohne dass es deswegen geleugnet oder gleichsam wegerklärt werden müsste. Aufgabe einer philosophischen Tugendethik wäre es dann, zur Wahrung dieses Phänomenbestands eine alternative und angemessene Methode der Ausweisung zu entwickeln, ohne deshalb an philosophischer Stringenz nachzulassen. Als eine Stärke erscheint auch die begründungstheoretische Offenheit, die ein solcher tugendethischer Ansatz aristotelischer, albertinischer und thomasischer Prägung aufweist. Denn wie schon in den Untersuchungen zu Aristoteles, noch deutlicher und komplexer aber bei den Betrachtungen zu Albert und besonders zu Thomas gesehen, können deren Tugendethiken auf der einen Seite aufgrund ihrer genuin philosophischen Prinzipien durchaus beanspruchen, über philosophischsystematische Grundlagen zu verfügen, die nicht ihrerseits einer weiteren Begründung bedürfen. Auf der anderen Seite aber heißt das nicht, dass diese Prinzipien bei den untersuchten Autoren und besonders bei Thomas nicht ihrerseits begründungsfähig wären. Nur findet diese weitere Begründung oder sogar Letztbegründung, so sie denn gelingt, dann außerhalb des genuin ethischen Diskurses statt und wäre Gegenstand der Metaphysik. In diesem genau so verstandenen Sinne könnte man daher sagen, dass Tugendethik keine philosophische (metaphysische) Letztbegründung der ethischen Prinzipien bietet, aber dies auch gar nicht nötig ist, um die systematische Funktionalität der tugendethischen Prinzipien zu gewährleisten. Sollten daher die Versuche philosophisch-metaphysischer Letztbegründung faktisch scheitern oder gar per se
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unmöglich sein – falls es sich etwa herausstellen sollte, dass die menschliche Vernunft zu einer derartigen Leistung nicht in der Lage ist –, so würde dies die Geltung der Tugendethik nicht affizieren. Man kann somit zusammenfassen, dass unter den verschiedenen genannten Vorzeichen eine Verbindung des tugendethischen Ansatzes mit einem ethischen Universalismus, der die herausgestellten diversen Dimensionen von Allgemeinheit und deren Verknüpfung sowie die entwickelten methodischen und systematischen Grundstrukturen im Blick behält, nicht nur als prinzipiell möglich erscheint, sondern ein solcher Ansatz zudem eine vielversprechende philosophische Option darstellt.
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2 Platon Resp. Platonis Rempublicam. Ed. Slings. Oxonii, Typ. Clarendonianum, 2003.
3 Philipp der Kanzler Summa de bono Philippi Cancellarii Parisiensis Summa de bono. Ed. Wicki. Editiones Francke Bernae, 1985.
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De ver.
De regno Sententia Politic. De unitate intellectus
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6 Jakob von Viterbo Quodl. III, q. xx Iacobi de Viterbio Disputatio Tertia de Quolibet. Ed. Eelcko Ypma. Rom: Augustinianum, 1973.
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7 Gottfried von Fontaines Quodl. XIV, q. xx Les Philosophes Belges. Textes et Etudes. Tome V, Fascicules I – II. Les Quodlibets onze-quartorze de Godefroid de Fontaines. Ed. J. Hoffmans: Louvain, 1932. Quodl. VI, q. xx Les Philosophes Belges. Textes et Etudes. Tome III. Les Quodlibets cinq, six et sept de Godefroid de Fontaines. Ed. Wulf/Hoffmans: Louvain, 1914.
8 Anselm von Canterbury De veritate Anselm von Canterbury. De veritate. Ed. Schmitt. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1966.
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10 Augustinus Contra Faustum Sancti Aureli Augustini Opera: De utilitate credendi; De duabus animabus; Contra Fortunatum; Contra Adimantum; Contra epistulam fundamenti; Contra Faustum. Ed. Zycha. CSEL, tom. 25/1. Turnholti, 1972. De trin. Sancti Aureli De Trinitate Libri XV. Ed. Mountain. CCSL, tom. 16/1– 2. Turnholti, 1963. De ver. rel. Sancti Aureli Augustini Opera: De vera religione. Ed. Green. CSEL, tom. 77/2. Vindobonae, 1961.
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14 Gregor von Rimini Lect. super II Sent. Gregorii Ariminensis Lectura Super Primum et Secundum Sententiarum, Bd. VIII. Ed. Marcolino. Berlin u. a.: de Gryter, 1980.
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139
Elders, Leo J. 32 Emery, Kent 31 Ernst, Stephan 21, 32 f., 72 Finnis, John M. 16, 18, 140 f., 158 Flashar, Hellmut. 2010. 25 Fleischer, Margot 45 Forschner, Maximilian 171 Fuchs, Marko J. 7, 16, 61 – 65, 177
Gadamer, Hans-Georg 8 f., 11 Gallagher, David M. 178 f. Gauthier, René Antoine 22 Gelinas, Elmer T. 158 Gordon, John-Stewart 43, 58 Gottfried von Fontaines 19, 23, 31, 67, 75, 78, 122, 175 f., 179, 188, 190, 199, 227 Graf, Thomas 55, 201 Gregor von Rimini 103, 228 Gründel, Johannes 161, 163, 165 Habermas, Jürgen 5 Hardie, William Francis Ross 44 Hartmann, Nikolai 8, 217 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4 f., 8, 10 Hibbs, Thomas 38 Hödl, Ludwig 22, 32 Höffe, Otfried 2, 10 – 12, 25, 57 Honecker, Martin 170 Honnefelder, Ludger 15, 68 f., 71, 139, 156 Honneth, Axel 8 Hoye, William J. 35, 164 Ilting, Karl-Heinz 68 f., 71 f., 139 Isidor von Sevilla 82, 228 Jakob von Viterbo 19, 23, 31, 48, 63 – 65, 67, 75, 78, 111, 175 – 177, 187, 190, 226 Kant, Immanuel 4, 8, 10 – 12, 85, 141, 164 Kent, Bonnie 13, 23, 122, 190, 194, 196, 199, 213 Kissling, Christian 15 Klautke, Jürgen-Burkhard 170 Kluxen, Wolfgang 15, 31 f., 35, 38 – 40, 139, 141 – 147, 149, 151 f. Korff, Wilhelm 71, 147 Krebs, Angelika 176 Kuhn, Fridolin 171 Kullmann, Wolfgang 26, 28 Lippert, Stefan 140, 158 Lottin, Odon 67, 73 Lutz-Bachmann, Matthias 15 f., 54 f., 143, 160 MacIntyre, Alasdair 5 f., 12 – 14, 64 Mager, Michael 167
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Personenregister
Mandrella, Isabelle 171 McCluskey, Colleen 139 McInerny, Ralph 32 Merks, Karl-Wilhelm 148 Möhle, Hannes 30 f., 33 Müller, Jörn 6 f., 15, 21, 30, 32 – 37, 45, 51, 67, 74, 81, 89 f., 93, 128, 228 Nelson, Daniel Mark 143 Nisters, Thomas 161, 165 Nussbaum, Martha 6 f., 11, 13 f., 97 Osborne, Thomas M.
199
Perkams, Matthias 22, 99 Pesch, Otto 141, 143, 148, 150, 159 Petrus Lombardus 72, 102, 228 Philipp der Kanzler 18, 20 f., 23, 33, 72 – 80, 101, 104 f., 123, 136 – 138, 145,156 f., 174 – 176, 178, 184, 191, 203, Pieper, Josef 167 Platon 1 f., 25 f., 28 f., 72 Pohlenz, Max 51 Porter, Jean 139, 141 f., 150 Rapp, Christoph 27 Rawls, John 5 f., 12, 14 Rhonheimer, Martin 15, 49, 139 – 141, 161, 171 Ricken, Friedo 3 f., 62 f. Riedel, Manfred 1 f., 9 Ritter, Joachim 9 – 11 Rohls, Jan 40 Salomon, Max 43, 64 Sandkaulen, Birgit 62 – 65 Schäfer, Christian 161 f. Schockenhoff, Eberhard 139 Schramm, Michael 65 Schröer, Christian 15, 145, 164 Schubert, Alois 70 – 72
Senner, Walter 21, 35 Spaemann, Robert 163 Specht, Rainer 139 Speer, Albert 31 Spindelböck, Josef 170 Spindler, Anselm 32, 39, 41 Spinoza, Baruch 86, 227 Städtler, Michael 170 Stammkötter, Franz-Bernhard 21, 36 Tarabochia Canavero, Alessandra 74 Thomas von Aquin 14 – 18, 22, 25, 30 – 32, 36, 38, 48, 61, 63 – 65, 67, 69, 71, 75, 77 f., 80 f., 98, 105, 107, 109, 112 f., 138, 141, 175, 177, 191, 198 f., 226 Tierney, Brian 81 Tracey, Martin J. 21, 37 Trude, Peter 43, 58 Utz, Arthur Fridolin
159
van Dyke, Christina 139 Vázquez, Gabriel 152, 228 Virt, Günter 148 f., 173 von Hildebrand, Dietrich 149 von Siemens, Nathalie 62, 65 Walzer, Michael 12 Weinreb, Lloyd 140 Weisheipl, James A. 22 Welzel, Hans 68, 70, 103, 139 Westerman, Pauline 18, 140 – 142 Wicki, Norbert 21, 33, 73 Wieland, Georg 30, 140 Wilhelm von Auxerre 21, 32, 112, 125, 228 Williams, Bernard 6, 53 Wippel, John 199 Wittmann, Michael 38 Wolbert, Werner 196 Wolf, Ursula 20, 28 f., 44, 64
Sachregister allgemein/Allgemeinheit 2, 7 – 9, 12, 14, 16 f., 19, 23, 28, 34, 40, 43, 45, 49 – 55, 60 – 63, 65 – 70, 72 – 75, 79 – 84, 90 f., 93 – 95, 98, 101, 103, 105 – 111, 113 – 115, 117 f., 122 – 132, 135 – 137, 139, 142, 145 – 159, 161 f., 166 f., 169 – 175, 177, 179 f., 183, 187 f., 192, 198 – 206, 208 – 223 angemessen/Angemessenheit/convenientia/ convenire 19, 31, 61, 97, 133 f., 151, 159, 162, 167 f., 175, 203 f., 207 f., 218, 220, 222 caritas/Gottes- und Nächstenliebe 19, 23, 38, 62, 67, 72, 74 – 79, 110, 137, 157, 174 – 178, 181, 183 – 191, 193, 196 – 199, 205, 212 f., 219, 222 Epieikie/epieikia/Billigkeit 18, 43, 60 f., 65, 97, 129, 132, 134 f., 138 f., 149, 161 f., 166, 168 – 173, 175, 180, 218, 220 Eudämonie/eudaimonia 1, 10 – 12, 15, 28 f., 43 – 45, 49, 52, 54, 215 Form der Tugenden/forma virtutum 62, 76 – 79, 175 – 177, 187 – 191, 194 – 199, 210, 213 f. Freundschaft (amicitia/philia) 17, 19, 23, 43, 48, 56, 60 – 67, 74, 79, 110, 152, 175 – 187, 190, 192 – 194, 196 – 200, 203, 209 – 214, 219, 222, 227 Gemeingut/bonum commune 75, 79, 105, 143 f., 152, 156 f., 179, 188 f., 192, 202, 205 Gemeinschaft 5 f., 10, 12 f., 20, 26, 29, 54, 58 f., 64 – 66, 68, 72, 75, 78, 100 f., 104, 115, 119, 122, 124, 126, 131, 133, 136 f., 144, 148 – 152, 156 f., 160, 171, 179, 182, 192, 201, 205, 208 – 210, 214, 216, 219 f. Gerechtigkeit/iustitia/dikaiosyne 1, 3, 5, 12 – 14, 16 – 23, 33, 38, 43, 45, 48 f., 52 – 57, 59 f., 62 – 67, 71 – 75, 78 – 81, 84, 89, 92, 96, 98 – 101, 104 – 106, 108 – 129, 134, 136 – 140, 143 f., 152 – 161, 164, 166 – 169, 171 – 180, 182 f., 187, 190 – 192, 196 – 200, 202 – 205, 207 f., 210 – 216, 219, 222 – allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) 53, 55 f., 66 f., 72, 74 f., 78 f., 95, 101, 104 –
112, 114, 124 – 126, 136 – 138, 156 f., 174, 176, 203 – distributive Gerechtigkeit (iustitia distributiva) 53, 127, 136, 156, 192 – Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) 19, 53 – 57, 59, 61, 65 – 67, 75, 79 f., 99, 105 – 107, 109, 114, 118 – 127, 134 – 138, 143 f., 155 – 157, 159 – 161, 171 – 176, 179, 181 – 183, 187 – 189, 191 f., 196 – 199, 203 – 206, 208 – 213, 215 f., 218 – 220 – kommutative Gerechtigkeit (iustitia commutativa) 53, 119, 127, 156, 170 – partikuläre Gerechtigkeit (iustitia particularis) 55 – 57, 59 f., 111, 121, 124, 127 f., 136, 156, 182, 203 f., 207 – 209 – spezielle Gerechtigkeit (iustitia specialis) 73 f., 104, 106, 109 f., 112, 117 – 119, 123 f., 126 f., 136 Geschuldetes/Schuldigkeit/debitum 92, 105, 107 – 111, 116 – 118, 156, 180 f., 197 Gesetz/lex/nomos 10, 21, 46, 53 – 59, 61, 65, 67 – 71, 79 – 81, 87 – 90, 94, 96, 98 – 104, 109 f., 113 – 115, 117, 119, 121 – 126, 129 – 135, 137 – 139, 142 – 145, 148, 150 – 152, 156 – 158, 160 f., 167 – 174, 180, 192, 199, 208, 215, 218, 220 – ewiges Gesetz (lex aeterna) 68 – 71, 79 f., 141, 144 f. – göttliches Gesetz (lex divina) 70 – Naturgesetz (lex naturalis) 15, 18 f., 21 f., 32, 34 f., 39 f., 67 – 71, 79 f., 86, 99, 102 – 104, 107, 113 – 115, 137 – 153, 155 f., 158 – 161, 166 f., 170 f., 173 – 175, 208, 214 – 221 – positives Gesetz (lex positiva) 150 f., 156, 208 Glaube/fides 30, 34 f., 75 f., 145, 174, 185 Gott 30, 33 – 36, 38 – 40, 67, 69 – 80, 87, 96 – 98, 105, 107 f., 110 – 112, 114, 125, 132, 136, 141, 144 f., 152, 157, 162, 171, 174, 176 f., 179, 183 – 188, 191, 198 f., 212, 217, 221 Haltung/habitudo 15, 74 f., 78, 95, 107, 109, 112, 114, 125, 136, 143, 171, 201 – 204, 211 Handlung 4, 13, 18, 34 f., 37, 44, 48 – 52, 55, 57, 60 f., 74, 78, 82 f., 88 f., 91, 95, 98, 103, 105, 108, 112, 114 – 116, 118, 120, 124 f., 127, 129 f., 134 – 136, 139, 142 f., 145, 149,
240
Sachregister
153 – 176, 179, 191 f., 197, 200, 202 – 204, 207, 210, 214, 216 – 221, 226 Hinordnung/Ordnung/ordinatio 8, 10, 32, 40, 68 – 70, 77 f., 97, 105 – 109, 114, 120, 128, 130, 144, 147, 156 f., 170, 173, 180, 184, 188 f., 191 f., 196, 201, 204, 207 – 210 Hinordnung/Ordnung/ordinatio 144, 163 Intellekt/intellectus 34 f., 37, 83 – 88, 95, 146, 154, 168 f., 191, 195 f., 202, 226
119, 127 – 132, 135, 137 – 139, 144, 149, 152 f., 155, 158 – 161, 166, 173, 175 f., 179, 215, 217 f., 220 f. – politisches Recht (politikon dikaion) 57 – positives Recht (ius positivum) 57, 89, 158, 160 Regel/regula 4, 9, 33, 59 – 61, 68, 71, 81, 94, 115, 118 f., 122, 124, 128, 130, 138, 141, 145, 148, 153, 156 – 158, 160, 163, 167, 169 f., 172, 200 – 202
Klugheit/prudentia/phronesis 5, 18, 28, 43, 48 – 52, 54, 75, 77, 89, 98, 112, 124, 138 f., 144, 149, 151, 154 f., 157, 160 – 162, 166 – 171, 173 – 175, 180, 189, 195 f., 198, 202, 218 – 220
Staat/polis 5 f., 9 f., 26, 43, 54, 57 f., 64, 68, 71, 109 f., 133 f., 215 Subjekt/subiectum 4 f., 25, 63, 72, 106, 108, 111 f., 117 f., 146, 152, 154, 156 f., 161, 187 f., 192, 195, 199, 202, 205, 218
Materie/materia 54, 95, 106, 109 f., 112, 116 – 118, 120 – 127, 135, 142, 153 f., 163, 169, 192, 201, 204 – 208 Mittel 31, 39, 50 f., 54, 62, 70, 88, 92 – 94, 100, 107, 110, 145 f., 161 f., 165 f., 169, 179, 214, 222
Teilhabe/participatio 69, 94, 142, 145, 150, 154, 167, 174, 216 Theologie/theologisch 2, 4, 15, 17 – 19, 30 – 40, 53, 66 f., 69 – 73, 75, 78 f., 82, 88, 96 – 98, 105 f., 110, 112 – 114, 120, 125 f., 136 – 138, 141 f., 144 f., 150, 152, 156 f., 170, 173 f., 176, 181 – 184, 190, 203, 205, 216 Tugend/virtus/arete 4 f., 9, 12 – 14, 16 – 19, 22 f., 28 f., 36, 38 – 40, 43, 45 – 57, 59, 64 – 67, 72 – 80, 88 f., 96, 100 f., 104 – 112, 114 – 119, 121 – 127, 133 f., 136 – 144, 148 – 158, 160 f., 164, 166 – 169, 171, 173 – 178, 180 f., 183 f., 186 – 207, 209 – 211, 213, 215 f., 218 – 222 – allgemeine Tugend (virtus generalis) 19, 54, 62, 72, 75, 79, 125, 136 f., 174 – 177, 187 – 189, 192, 199 – 203, 205 f., 209 f., 212 – 214, 219 f. – spezielle Tugend (virtus specialis) 106 f., 109, 123 f., 137, 157, 174, 180, 188, 200 – 202, 204 – 206
Objekt/obiectum 38, 74 f., 79, 111, 139, 142, 150, 152 – 154, 157, 160, 163 – 166, 176, 180, 184 – 189, 191 f., 194, 201 – 203, 205 f., 209 – 212, 217 partikulär 5 – 7, 10, 12, 28, 52 – 57, 61, 82 f., 89, 95, 98, 103, 122, 126, 130, 148, 156, 202, 207, 209, 216, 220 Person 15, 44, 46, 50, 56, 59, 62, 64, 91, 117, 140 f., 143, 149, 165 f., 178, 194, 198, 201, 203 f., 207 f., 210 – 212, 218, 220 Philosophie/philosophisch 1 – 12, 14 – 18, 20 f., 25 – 41, 43, 67 f., 96, 114, 138, 140 – 142, 152, 174, 206, 216 – 218, 221 – 223 Rechtfertigung/iustificatio 108, 125, 143 Recht/ius/dikaion 5, 8, 26 – 28, 43, 48, 50 – 53, 57 f., 60 f., 64 – 66, 69, 71, 74, 78, 80 – 84, 89 – 101, 103 f., 106 – 108, 112 – 116, 118 – 120, 122, 126, 128 – 132, 134 f., 137, 139, 147, 151 – 153, 157 – 161, 166, 170, 173, 176, 179, 182, 184, 190 f., 193, 195 f., 199 f., 202, 209, 214 – Naturrecht (ius naturale/dikaion physei) 2, 15 f., 18 – 23, 32, 34, 55, 57 – 61, 68 f., 71, 80 – 83, 85 – 101, 103 f., 107, 110, 113 – 115,
Umstände/circumstantia 44, 50, 71, 83, 93 f., 96, 106, 149, 155, 160 – 162, 164 – 166, 175, 218 universal/Universalismus 1, 3 – 5, 7, 9 – 14, 16, 18 – 21, 37, 52, 54 – 57, 59 f., 62, 65, 67 – 69, 71, 81 – 84, 93, 96 – 98, 102, 109, 113 f., 124, 127, 131, 134 – 141, 143, 147 f., 152, 156, 164, 167, 175, 202, 205, 208, 211, 215 f., 223
Sachregister
Vernunft/ratio/logos 19, 25, 29 f., 32, 45, 47 f., 51, 54 f., 58 – 60, 69 – 71, 80 – 83, 85 f., 90 – 98, 103, 112, 114, 116 – 119, 122, 124 f., 129 f., 142, 144 – 149, 151, 154 f., 157 f., 163, 165, 167 – 169, 172, 174, 180 f., 189, 191, 197, 200 – 202, 205, 216, 219, 223 – natürliche Vernunft (ratio naturalis) 30, 33 f., 95, 110 – praktische Vernunft (ratio practica) 5, 32, 48, 81, 96, 138, 140, 145 – 149, 151, 153 f., 165, 175, 216 – 218 – rechte Vernunft (recta ratio/orthos logos) 50, 52, 89, 93, 189, 195 f., 200 – 202 – spekulative Vernunft (ratio speculativa) 145 f., 154 Vorsehung/Providenz/providentia 70, 144, 168 f.
241
Weisheit/sophia/sapientia 48, 97, 145, 154 Wille/voluntas 14, 19, 33, 35, 48, 61, 63 – 65, 70, 77, 99, 101, 105 – 107, 111, 115 f., 118, 120, 130, 152, 154 f., 160, 164, 166 f., 174, 178 f., 181 f., 184 – 186, 188 – 193, 195 f., 199, 202, 205, 207, 210, 212, 214, 216 Ziel/Zweck 1, 3 f., 11, 16 f., 20 f., 25 f., 29, 31, 33, 35 – 38, 43 – 46, 50, 54, 62, 66, 74 – 79, 88, 97, 99 f., 105, 111 f., 114, 118, 122 f., 129, 132, 135, 137 f., 143 f., 147 f., 151, 155, 157, 159, 161, 163 – 167, 174 f., 184 f., 188 – 192, 194 – 198, 201 – 206, 209 f., 213, 216 f., 219