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German Pages 168 Year 1999
Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung
Beiträge zur Politischen Wissenschaft
Band 105
Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung Die Tugend der Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung
Herausgegeben von
Rudolf Weiler und Akira Mizunami
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Verkehr in Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung : die Tugend der Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung I hrsg. von Rudolf Weiler und Akira Mizunami. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. I 05) ISBN 3-428-09554-5
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09554-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Das vierte internationale Symposium der Johannes-Messner-Gesellschaft, die sich seit 1991 um die Entwicklung der Naturrechtslehre nach dem Neuansatz von Johannes Messner bemüht, konnte in Verbindung mit der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen und in Zusammenarbeit mit der gleichnamigen Gesellschaft in Japan mit der Unterstützung des Österreichischen Kulturinstituts in Mailand am ehemaligen Studienort des Priesterstudenten Johannes Messner vom 16. bis 20. September 1997 in Brixen abgehalten werden. Neun Referenten und weitere 20 Teilnehmer aus Deutschland, Italien, Japan, Österreich, der Schweiz und der Slowakei waren nach Brixen gekommen. Die japanische Schwestergesellschaft mit Sitz an der Nanzan-Universität in Nagoya wirkte schon bei der Planung des Themas und der Gestaltung des Symposiums mit und stellte vier Referenten und einen Kovorsitzenden. Die zwei an der Teilnahme verhinderten Referenten, Prof. Dr. Akira Mizunami und Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck, reichten ihre Referate anschließend schriftlich ein. Das Symposium erfreute sich der besonderen Förderung durch die Landesregierung von Südtirol und das Südtiroler Heimatwerk. Der Herr Landeshauptmann Dr. Luis Durnwalder und die Stadt Brixen hatten die Teilnehmer zu einem Empfang eingeladen. Der Ortsordinarius von Brixen, BischofWilhelm Egger, nahm als Gastreferent an der Veranstaltung teil. Die Dichte des dreitägigen Tagungsprogrammes erlaubte nach dem Vortrag der Referate nur Anfragediskussionen, jedoch keine Generaldiskussion des Gesamtthemas und folglich auch kein abschließendes Resumee. Für die Herausgeber zeigte das Symposium, daß die Sprache der Ethik sich durch Festhalten an Metaphysik und Philosophie bei der Ausbildung der Sozialethik und ebenso der Soziallehre der Kirche und die Sprache der empirischen Sozialwissenschaften durch ihre systemisch-empirische Ausrichtung so weit voneinander getrennt haben, daß die Gefahr entsteht, aneinander vorbeizureden und in Verständigungsprobleme zu geraten. Entweder hält man am Naturrecht und an einer eigenen Erkenntniskraft der menschlichen sittlichen Vernunft fest, oder man drückt sich als Sozialwissenschafter in Verbindung mit angewandter Ethik einfach systemlogisch unter Verzicht auf Rückbindung an sittliche Wahrheit und Tugenden des Menschen aus. Zu finden wäre daher nach dem Vorbild des Ethikers und Sozialwissenschafters Johannes Messner eine Überprüfung der jeweiligen wissenschaftlichen Methoden und Prinzipien, um den respektvollen Dialog zwischen Sozialethik und Sozialwissenschaften in ihren Teilbereichen zu entwickeln; dieses in Anbetracht dessen, daß
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Vorwort
sich diese Wissenschaften jeweils auf den Menschen und seine Erfahrung beziehen, also nach Seinsgerechtigkeit und Sachrichtigkeit. Das Maß für Gerechtigkeit ist dann nämlich mehr, als mit der Normativität des Meßbaren ausgedrückt werden kann. Tugend ist es, ,jedem das Seine zu geben", bezogen auf das Individuum als Person wie auf die Gesellschaft als personale Einheit, universell und in empirischer Anwendung. Nachstehend werden-die Referate in der Reihenfolge der Vorträge beim Symposium wiedergegeben. Anschließend folgen die beiden nachgereichten Referate. Einige Referenten haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Langfassung ihres Vortrages zur Publikation einzureichen. Akira Mizunami und Rudolf Weiler
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Teilnehmer
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Wolfgang Schmitz
Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit nicht durch Tugendhaftigkeit, sondern durch Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Friedrich Romig
Gemeinwohlgerechtigkeit - Illusion oder Realität?
35
Hideshi Yamada
Gemeinwohl und Gerechtigkeit in der Entwicklung. Auf der Suche nach einer integralen Lehre vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Johannes Michael Schnarrer
Theologische Grundlegung der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Hans Joachim Türk
Prozedurale Gerechtigkeit versus substantielle Gerechtigkeit. Für welche Gerechtigkeit ist der Staat zuständig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Rudolf Weiler
Sozial- und Rechtsgewissen als Wegweisung und Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Hisao Kuriki
Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Erhalter des Grundkonsenses des Volkes . . . . . . . . . 121 Hiroshi Takahashi
Die Ontologische Begründung der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Inhaltsverzeichnis
Alfred Klose Soziale Gerechtigkeit als eigene Unterteilung der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Herbert Schamheck Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner . . . . . 153
Akira Mizunami Massengesellschaft aus der Sicht von Johannes Messner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Verzeichnis der Autoren.... . .... . .. . .. .. ................. .. . .. .................. . . . . . .. 167
Verzeichnis der Teilnehmer
Teilnehmer aus Japan Prof. Dr. Hisao Kuriki (Sophia University, Tokyo, Japan) Prof. Dr. Hiroshi Takahashi (Nanzan University, Nagoya, Japan) a. Prof. Dr. Hideshi Yamada (Nanzan University, Nagoya, Japan) Prof. Dr. Shoichi Hashimoto (Kansai University, Osaka)
Teilnehmer aus Europa Dipl.-lng. Roman Behuf, Abteilungsleiter bei der Handelsbank (Obhodna Banca), Mamateyova 3, SK-851 04 Bratislava, Slowakei Dr. Annemarie Buchholz, Susenbergstr. 53, CH-8044 Zürich, Schweiz Dr. Wilhelm Egger; Bischof der Diözese Bozen-Brixen, Domplatz 5, 1-39100 Bozen, Italien Mag. Thomas Figl, Oratorium des hl. Phitipp Neri, Pfarrhofgasse 1, A-1030 Wien, Österreich Dr. Franz Helbich, Honorar-Professor (Finanzwissenschaft) c/o Kunz, Schima & Wallentin Rechtsanwälte, Porzellangasse 4 - 6, A-1090 Wien, Österreich Univ.-Prof. DDDr. Alfred Klose, Stark:friedgasse 11, A-1180 Wien, Österreich, und Gattin Annemarie Klose, Religionslehrerin DDr. Heinrich Kofler; Oberschuldirektor i. R., Franziskusstr. 9, 1-39028 Schlanders, Italien
Willibert Kurth, Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer, Köln, Voccartstraße 1, D-52134 Herzogenreth-Straß, Deutschland Prof. Dr. Johannes Meßner; Philosophisch-Theologische Hochschule Brixen, Seminarplatz 4, 1-39042 Brixen, Italien
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Verzeichnis der Teilnehmer
Prof. Dr. Rudolf Messner, Gesamthochschule Kassel- Universität, Fachbereich 1: Erziehungswissenschaften, Heinrich-Plett-Straße 40, D-34132 Kassel. Deutschland Prof. Dr. Josef Michaeler, Alt-Generalvikar der Diözese Bozen-Brixen, Hofburgplatz 1, 1-39042 Brixen, Italien Prof. Dr. lvo Muser, Regens des Priesterseminars, Seminarplatz 4, 1-39042 Brixen, Italien Kar! Pobitzer, Lehrer, Sonnenpromenade 1, 1-39028 Schlanders, Italien
Mag. Hemma Poledna, Untere Augartenstraße 36/17, A-1020 Wien, Österreich Univ.-Doz. Dr. Friedrich Romig, Schloßgasse 5, A-3422 Hadersfeld, Österreich und Gattin Annemarie Romig Finanzminister a. D., Prasident der OeNB a. D. Dr. Wolfgang Schmitz, Obmann der Johannes-Messner-Gesellschaft, Gustav-Tschermak-Gasse 3/2, A-1180 Wien, Österreich, und Gattin Dr. Ingrid Schmitz Lic. Dipl. theol. Dr. J. Michael Schnarrer, Herbeckstraße 75113/4, A-1180 Wien, Österreich Dr. Micheie Tomasi, Stud. theol., Diakon, Horazstr. 1717, 1-39100 Bozen,ltalien Ema Traxler, Dipl.-Krankenschwester, Bauernfeldgasse 9/2/5, A-1190 Wien, Österreich
Prof. Dr. Hans Joachim Türk, em. Professor für Philosophie und Sozialethik an der Fachhochschule Nürnberg, Josef-Simon-Straße 145, D-90473 Nürnberg, Deutschland Mag. Christian Vurglics, Pfarrer, Haniflgasse 10, A-7161 St. Andrä am Zicksee, Österreich Michael M. Weber, Lehrer und Publizist, Susenbergstr. 75, CH-8044 Zürich, Schweiz
Prälat em. Prof. DDr. Rudolf Weiler, Präsident der Johannes-Messner-Gesellschaft, Bauernfeldgasse 9/2/5, A-1190 Wien, Österreich
Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit nicht durch Thgendhaftigkeit, sondern durch Institutionen 1 Von Wolfgang Schmitz
I. Soziale Gerechtigkeit - Tautologie oder sinnvolle Unterscheidung?
Unter dem Wort "sozial"- als Attribut oder Adverb gebraucht- wird heute sehr Verschiedenes verstanden. Es wird als Gegenpol zu "asozial" bzw. als Synonym von "gerecht" im Gegensatz zu "ungerecht" gebraucht, z. B. wenn von einem asozialen Menschen oder von asozialen Zuständen gesprochen wird. "Sozial" bedeutet dann lexikal "gemeinschaftsfördemd"2 und ist damit - wie das Wort "gerecht" ethisch positiv besetzt. An dieses Spannungsverhältnis kann beim Begriff "soziale Gerechtigkeit" nicht gedacht sein, da es eine asoziale Gerechtigkeit genauso wenig gibt wie eine gemeinschaftswidrige Gerechtigkeit. Der Begriff "soziale Gerechtigkeit" wäre dann eine Tautologie wie ein weißer Schimmel. Das Wort "sozial" muß daher, um als Attribut zur Gerechtigkeit als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Formen der Gerechtigkeit dienen zu können, etwas ganz anderes bedeuten. Etwas ganz anderes bedeutet es im Spannungsverhältnis zu "individual". Es heißt dann "die Ordnung der menschlichen Gesellschaft betreffend"3 und ist dann ethisch neutral. Dem Thema des Symposiums "Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung" möchte ich daher unter dem Aspekt "Die soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit durch Institutionen" gerecht werden. Dem vom Herausgeber gewählten Untertitel dieses Sammelbandes "Die Tugend der Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung" möchte ich dadurch gerecht werden, daß ich mich mit seinem Gegenpol beschäftige, nämlich mit der Meinung, daß die soziale Gerechtigkeit eine Gerechtigkeit ist, die nicht durch Tugendhaftigkeit, sondern durch Institutionen verwirklicht wird.
' Dieser Beitrag wurde gegenüber dem, der dem Symposium vorlag, unter Berücksichtigung der Diskussion verändert (wie es eigentlich der Sinn eines wissenschaftlichen Symposiums ist), um sein Verständnis zu erleichtern. Die positive Zitierung eines Autors darf nicht von vomherein als eine positive Beurteilung seines gesamten Werkes verstanden werden. 2 Brockhaus Enzyklopädie (1973), Siebzehnter Band, Stichwort "sozia12", S. 612. 3 Brockhaus Enzyklopädie (1973), Siebzehnter Band, Stichwort "sozial!", S. 612.
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Wolfgang Schmitz
II. Soziale Gerechtigkeit durch Thgendhaftigkeit oder durch Institutionen? Unter Tugend wird die dauernde innere Einstellung eines Menschen verstanden, die eine konstante Haltung zu Gütern und Werten erfordert. 4 Der Mensch ist tugendhaft, der seine einzelnen Handlungen auf Tugend hin orientiert. Die menschlichen Tugenden sind feste (persönliche!) Neigungen des Verstandes und des Willens, die unsere Handlungen regeln, unsere Leidenschaften ordnen und unser Verhalten der Vernunft und dem Glauben entsprechend leiten. Sie lassen sich nach vier Kardinaltugenden ordnen: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Die Gerechtigkeit besteht im beständigen festen Willen, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen zusteht. 5 Für die Verwirklichung der Gerechtigkeit genügt aber nicht, den festen Willen zu haben, z. B. dem Nächsten das zu geben, was ihm zusteht. Der tugendhaft sein wollende Mensch muß auch wissen, was dem Nächsten im konkreten Konfliktfall zusteht: der Produzent z. B. muß wissen, wo, wann, wieviel und zu welchem Preis ein Gut angeboten werden muß, um die Nachfrage eines Konsumenten zu befriedigen, der ein Gut an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu einem Preis erwerben möchte, der ihm zusteht. Keine noch so perfekte Tugendhaftigkeit beider- des Produzenten und des Konsumenten - gibt jedem von ihnen die notwendigen Informationen, die jedem Gerechtigkeit auch nur möglich macht. In einer komplexen (insbesondere arbeitsteiligen) Wirtschaft mit souveränen Konsumenten bedarf es geeigneter Institutionen (d. h. konkreter Regeln) vor allem des Wettbewerbsmarktes, um nicht nur die notwendigen Anreize zu einem gerechten Verhalten zu geben, sondern auch nur die nötigen Informationen zu erhalten, was zum konkreten Zeitpunkt und am konkreten Ort der jeweils gerechte Preis, der gerechte Lohn, der gerechte Zins usw. ist. Die individuale Tugend der Gerechtigkeit, d. h. die Tugend eines Menschen, ist nicht nur zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit unzulänglich, sie ist oft auch entbehrlich. Es gehört zur Funktionsfähigkeit einer wettbewerbsgeregelten Wirtschaft, daß die Motivation ihrer Teilnehmer, auf einen Tausch einzugehen, nicht entscheidend ist. Seine Handlungsmotivation entspringt einem weiten Spektrum, vom in Geld ausgedrückten Gewinn, in bloßem Erwerb eines nutzbringenden Gutes, in der Erfüllung familiärer oder beruflicher Verpflichtungen, in der Herbeiführung eines für ihn wünschenswerten Zustandes oder auch bloß im Erwerb von Respekt und Ansehen. Es ist nicht einmal notwendig, daß der einzelne Teilnehmer das Wettbewerbssystem als sittlich notwendig und damit freiwillig akzeptiert. In vielen Fällen würden Produzenten z. B. geschützte, d. h. im Wettbewerb beschränkte Märkte vorziehen. 4 G.Teichtweier, Stichwort "Tugend" in: A.Klose u. a. (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, 2. Auflage Innsbruck, Wien, München 1980, Spalte 3091. 5 Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, Ziff. 1834 und 1836 (Kurztexte).
Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit durch Institutionen
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Die Wettbewerbsmärkte haben als Institution auch das Charakteristikum, daß die Motivation derjenigen, die an ihnen teilnehmen, (allgemein) ohne Bedeutung ist. Die Tugend der Gerechtigkeit beweist allenfalls der Politiker, der durch politische Maßnahmen, d. h. durch Maßnahmen, zu deren Durchsetzung das legitime staatliche Gewaltmonopol dient, alle Beteiligten zum Wettbewerb zwingt (z. B. durch Öffnen der Grenzen zur Liberalisierung des Waren- und Geldverkehrs). Die konkrete Quelle der sozialen Gerechtigkeit ist dann aber nicht die Tugend des Politikers (sie ist seine Motivation), sondern die soziale Gerechtigkeit entsteht aus der von ihm gewählten Institution. Das Eintreten für die Schaffung wettbewerbsförderlicher Institutionen (z. B. Aufhebung einer Preisregelung, Schaffung eines Kartellgerichtes) kann auf sehr verschiedenen Motivationen beruhen. Diese Motivationen sind für die Effizienz der dann geschaffenen Institution ohne Belang. Dieser Beitrag will daher zum Untertitel dieses Bandes "Die Tugend der Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung" aufzeigen, daß im Zeitalter der Globalisierung die individuale Tugend der Gerechtigkeit weder die Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung herstellen kann, noch zu ihrer Herstellung letztlich wirklich für alle Teilnehmer notwendig ist. Das heißt nicht, daß individuale Tugenden für die soziale Ordnung gänzlich belanglos sind. Wenn zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit auch die Tugend der Gerechtigkeit eine eher beschränkte Rolle zu spielen hat, so sind doch die anderen Tugenden wie z. B. die Klugheit und das Maßhalten auch für die Effizienz einer Ordnung von Bedeutung. Der katholische Sozialethiker Lothar Roos spricht hier von einer ",eingebauten Moral' der gesellschaftlichen Strukturen", die "nicht weniger wichtig (ist) als die Gesinnungen, die uns die heutige Institutionenökonomik lehrt". Eine solche "moralische" Institution, "die Solidarität staatlich erzwingt", sieht er z. B. im Sozialversicherungssystem.6- Was der Staat erzwingt, kann doch wohl nicht eine Tugend sein! Die vielen einzelnen Menschen leben - in welcher Gesellschaft immer - nicht in einer strukturlosen Masse zusammen, sondern in zahlreichen interdependenten Institutionen und Systemen. Deren Zusammenwirken macht die soziale, d. h. die auf Menschen Bezug habende Ordnung aus. Diese Sicht von sozialer Ordnung als das Zusammenwirken der Menschen in Institutionen und das Zusammenwirken der Institutionen und Systeme ist heute eine für die Formulierung ethischer Erkenntnisse - analytische oder normative - eine sehr ertragreiche. Darauf konzentriert, kann die Institutionen- und Systemethik als der Zweig der Ethik verstanden werden, der jene wünschenswerten gesellschaftlichen Zustände zum Forschungsgegenstand hat, die nicht durch eine andauernde, noch so hohe Tugendhaftigkeit aller beteiligten Einzelnen erreicht werden können, sondern die funktionsfähige Institutionen und Systeme braucht, die das Verhalten der teilnehmenden Menschen regeln. 6
L. Roos, Das Wort der Kirchen, in: Die neue Ordnung, Heft 2, April 1997, S. 107.
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Wolfgang Schmitz
111. Individualethik und Sozialethik zwei unterschiedliche Grunddimensionen
Tatsächlich unterscheidet sich die Theorie einer "Gerechtigkeit in der sozialen
(= menschlichen) Ordnung" als Sozialethik sehr wesentlich von der Individual-
ethik. Das sind die beiden unterschiedlichen Grunddimensionen in der Wissenschaft um die menschliche Sollensordnung. Unter ,.Individualethik" verstehe ich die wissenschaftliche Ergrundung der Probleme, die sich für den einzelnen Menschen aus seiner eigenen Persönlichkeit sich selbst gegenüber ergeben und von diesem Menschen selbst gelöst werden müssen. Die wissenschaftliche Ergrundung der Probleme, die sich aus den Interaktionen im Zusammenleben der Menschen ergeben, und daher (zwar) auch für den Einzelnen wichtig (aber doch ein anderes Forschungsobjekt) sind, ist die Sozialethik. 7 Zu einer noch präziseren Unterscheidung zwingt die enzyklopädisch gebotene Kürze. Dieser zu Folge wird Individualethik sehr sinnvoll als jene Ethik bezeichnet, die das sittliche Handeln, auch wenn seine Rücksichten oder Ziele die Gemeinschaft oder einzelne Mitmenschen betreffen, unter dem Gesichtspunkt seiner Verwirklichung im Einzelsubjekt betrachtet. 8 Die Sozialethik ist dann das andere Gebiet der Ethik, welches sich mit der sittlichen Ordnung der Gesellschaft befaßt. Im Unterschied zur Individualethik, die die Werte und Normen für das Verhalten der Einzelnen untersucht, will die Sozialethik die Grundsätze und Leitbilder für eine menschengerechte Gesellschaft ermitteln, die sich aus dem sozialen Wesen des Menschen unter steter Berücksichtigung der gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Wandlungen herleiten.9 Mein Thema "Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung" kann in dieser Sicht als die Frage verstanden werden: Was kann unter dem Begriff "Gerechtigkeit" bzw. "gerecht handeln" vernünftigerweise, d. h. als Beitrag zum Auffinden von Wegen zur Lösung sozialer Probleme (Konflikte) verstanden werden? Johannes Messner stellt diese Unterscheidung in Individualethik und Sozialethik an den Anfang seiner wissenschaftlichen Bemühungen um die Grundlegung einer systematischen Sozialethik, die er von der Individualethik präzise abgrenzt. Sein wissenschaftliches Interesse galt in seiner Habilitationsschrift vor allem der Sozialethik. Gegenüber der Lehre von den "verhältnismäßig einfachen Pflichten in bezug auf die eigene Persönlichkeit (und die Pflichten des religiösen Lebens)" bewirken die ,,komplizierteren bürgerlich-sozialen Pflichten und Aufgaben ... , daß die Sozialethik überhaupt in viel höherem Maße von Problemen überlastet ist als die Individualethik. " 10 7 Ähnlich: Meyers kleines Lexikon Philosophie (1987), hrsg. und bearbeitet von Meyers Lexikonredaktion mit einem Essay von Prof. Dr. Kuno Lorenz, Meyers Lexikonverlag, Mannheim u. a. 1987, Stichwort "Ethik", S. 130. s Brockhaus Enzyklopädie (1970), Neunter Band, Stichwort "lndividualethik", S. 76. 9 Brockhaus Enzyklopädie (1973), Siebzehnter Band, Stichwort "Sozialethik", S. 624. to J. Messner (1927), S. 31 unter Berufung auf Wendland (1916), Hervorheb. im Original.
Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit durch Institutionen
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Es ist sicherlich richtig: Die moderne Netzwerk-Gesellschaft, d. h. die Gesellschaft, die auf Grund problemlösender Institutionen und sich gegenseitig kontrollierender Systeme von Institutionen funktioniert, kann dies nicht ohne Verantwortungsbewußtsein tun. 11 Eine persönliche Bekehrung zur Tugendhaftigkeit eines agierenden Ich ist zwar (zur Veränderung der eigenen Persönlichkeit) unentbehrlich, wenn damit aber eine Veränderung der Gesellschaft bewirkt werden soll, bedarf es dazu des Einsatzes von Institutionen, die dies bei ausreichend vielen Einzelnen bewirken (wie z. B. funktionierende Familien, erfolgreiche Schulen und vor allem der christlichen Kirchen). ;zur Verwirklichung des sozialen Katalysators "Verantwortung" ist auch nicht die Tugendhaftigkeit aller Akteure notwendig, es müssen nur ausreichend viele, wenn auch u. U. eine ausreichend starke Minderheit sein. Die klare Unterscheidung der beiden ethischen Dimensionen "Persönlichkeitsentwicklung durch Tugendhaftigkeit als Individualethik" und "Gesellschaftsgestaltung durch Institutionen als Sozialethik" ist der Ausgangspunkt der systematischen Grundlegung in der "Studie zur Grundlegung einer systematischen Wirtschaftsethik", wie sie Johannes Messner in seiner Habilitationsschrift richtungsweisend vertritt. Die Wirtschaftsethik ist die Sozialethik des Kulturbereiches "Wirtschaft". "Die Sozialethik ist in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse von größter Bedeutung. Dies bleibt richtig, wenn man auch zugibt, daß die innersten Kräfte dieser Gestaltung aus der lebendigen Verwirklichung der sittlichen Ideen in den einzelnen Menschen kommen müssen. Denn Möglichkeit und Formen der Verwirklichung der überzeitlichen Ideale und absoluten Werte in der historischen Situation sozialer Gestaltung zu zeigen, scheint zu den ersten Aufgaben der Sozialethik zu gehören. Daß im Rahmen der Sozialethik dem Wirtschaftlichen und der Wirtschaftsethik eine besondere Bedeutung zukommt, ergibt sich schon daraus, daß vom Wirtschaftlichen her die soziale Ordnung heute am tiefsten unterwühlt ist." 12 Dies geschieht auf Grund der Eigengesetzlichkeit der Kulturbereiche, d. h. auf Grund der Ergebnisse der Sozialwissenschaften in der Erforschung sozialer Erscheinungen. Diese ,,komplizierten bürgerlich-sozialen Pflichten und Aufgaben" bewirken, wie Messner besonders hervorhebt, daß "die Sozialethik überhaupt in viel höherem Maße von Problemen überlastet ist als die Individualethik", verstanden als die "verhältnismäßig einfachen Pflichten in bezug auf die eigene Persönlichkeit (und die Pflichten des religiösen Lebens)". 13 Diese Unterscheidung (nicht Trennung!) ist für die Lösung ethischer Probleme hilfreich, wenn nicht absolut notwendig: Die Individualethik hat dann die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zum Gegenstand, die Sozialethik die Gestaltung 11 12
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Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992. Johannes Messner, S. 10. Ebd. S. 31.
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Wolfgang Schmitz
der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der Vervollkommnung der Persönlichkeit liegt die Tugendhaftigkeit des Einzelnen. Zur Lösung gesellschaftlicher Probleme aber sind Verhaltensregeln notwendig, auf die sich die teilnehmenden Menschen (auf welche Weise immer) einigen. Diese Regeln werden seit James M. Buchanan generalisierend als "Institutionen" bezeichnet. Ich halte daher die Unterscheidung von individualer Gerechtigkeit eines Menschen auf seinem Weg zur Tugendhaftigkeit und der sozialen Gerechtigkeit mehrerer Menschen auf dem Weg zu einer gerechteren Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch Institutionen für einen methodisch-systematisch erfolgreichen Zugang zur Lösung der menschlichen Probleme auf beiden Ebenen. Ich möchte daher die Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung nicht als die Gerechtigkeit behandeln, die auf mehr individualer Tugendhaftigkeit beruht, sondern als die Gerechtigkeit, die durch soziale (d. h. gesellschaftliche) Institutionen verwirklicht werden soll. Ich folge damit der grundsätzlichen Systematik Johannes Messners seit seiner Habilitationsarbeit. Unter Systematik wird die Anordnung von Aussagen über einen bestimmten Gegenstandsbereich oder von solchen Gegenständen nach einem leitenden Gesichtspunkt oder nach bestimmten Relationen verstanden. 14 Über die Relation (Dimension) .,Gestaltung der Gesellschaft" zu sprechen, heißt nicht, die Dimension der .,Gestaltung der Persönlichkeit" ignorieren! Beide sind notwendige, aber unterschiedliche Zielsetzungen.
IV. Weitere verwendete BegritTe Die wissenschaftliche Befassung mit allen Problemen der menschlichen Ordnung des Sein-Sollens bezeichne ich als Ethik zum Unterschied des tatsächlichen Zustandes der Menschen in der Gesellschaft als Ethos oder Moral. Die Begriffe " Ethos" und " Moral" sowie .,ethisch" und .,moralisch" oder .,Moraltheologie" und .,Theologische Ethik" sowie .,Moralphilosophie" oder .,Philosophische Ethik" unterscheiden sich (Albert Schweitzer folgend) nur aufgrund ihrer sprachlichen Herkunft aus dem Griechischen oder Lateinischen, d. h., sie sind für mich identisch. "Der Mensch" ist das einzelne, unwiederholbare Individuum, mit seinem für jeden Menschen einmaligen existentiellen Lebenszweck, aber auch mit zahlreichen, seiner menschlichen Natur entsprechenden Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen. In beiden Hinsichten vergleiche den Charakter der Fingerabdrücke. "Die Gesellschaft" ist jedesmal die Gesamtheit aller derer, die in einem bestimmten Raum (Gemeinde, Staat, Region oder Welt) oder zu einer bestimmten Zeit (z. B. 19. Jahrhundert oder heute) zusammenleben. Die Institutionen sind Regelsätze, die in ihrem Zusammenwirken die Lösung sozialer Konflikte, d. h. von Konflikten zwischen mehreren (mindestens zwei Men14 Stichwort "Systematik", in: Meyers kleines Lexikon "Philosophie", Mannheim, Wien, Zürich 1987, S. 413.
Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit durch Institutionen
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sehen) erwarten lassen, die selbst bei einem noch so hohen Grad persönlicher Tugendhaftigkeit aller Beteiligten nicht gelöst werden können. 15 Komplexer zusammen-wirkende Institutionen bezeichne ich als System bzw. zur Unterscheidung der Hierarchie der Systeme als Subsysteme. Ein System besteht aus mehreren Regelsätzen, in deren Zusammenwirken eine zweckrationale Richtung erkannt werden kann und die gleichzeitig lückenlos und konsistent (widerspruchsfrei) funktionieren. Die Begriffe Institution, System, Subsystem und Ordnung (z. B. die Wirtschaftsordnung) als Zusammenwirken mehrerer Syteme sind - was ihre Problemlösungskapazität im einzelnen betrifft - inhaltlich synonym. Ihre Unterscheidung erhält nur im Hinblick auf die Gliederung eines größeren Ganzen (z. B. einem höheren Grad der Komplexität sozialer Konfliktsituationen) einen hilfreichen Sinn. V. Tugendlehre und Ordnungslehre
Auch Walter Schulz 16 (geb. 1912) ist überzeugt, mit der Unterscheidung von Tugend- und Regelethik ein markantes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Ethik der Antike und des Mittelalters auf der einen und der neuzeitlichen Ethik auf der anderen Seite feststellen zu können. Wenn eine Gemeinschaft ihre Verhaltensformen relativ fraglos undtrotzmancher Mängel anerkennt, fühlt der Einzelne sich in die Ordnung eingebunden, die sich von den Tugenden her differenziert zeigt. Diese Ethik ist wesentlich Tugendethik. Diese stützt sich auf die Tugenden der Einzelne~. wie z. B. Fleiß, Gehorsam, Klugheit, Maßhalten, Tapferkeit und Gerechtigkeit. 17 Erst als im Beginn der Neuzeit das Individuum ins Zentrum tritt, wird die Frage wach, wie die Individuen zu einer Einheit verbunden werden können. Ob man das Individuum im Sinne von Hobbes als durch den Egoismus bestimmt ansieht oder ob man ihm einen sozialen Instinkt zubilligt, es müssen Regeln gefunden werden, von denen her ein friedliches Zusammenleben konstituiert werden kann. Die zentrale Frage der Moralphilosophie ist nach Schulz: "Wie sollen wir wissen, welchen Regeln wir folgen sollen?" Tugendbegriffe werden für die Moralphilosophen ebenso nebensächlich wie sie es für die Moral der Gesellschaft sind, in der er lebt. Für Schulz ist es offensichtlich, daß nicht mehr eine Tugendlehre• im Sinne des Aristoteles als verbindliche Verhaltensmaßnahme aufgestellt werden kann. Aber es geht auch nicht mehr an, ein eindeutig unbedingtes Prinzip herauszustellen, wie Kant es tat, für den die Zugehörigkeit zum Mundus intelligibilis die Unbedingtheit gesichert hat. Die Unterscheidung zwischen Individualethik und Sozialethik ist also eine Frage der Zuordnung einer Problemstellung der Gerechtigkeit, ob sie eine Eigenschaft 15 Das Herausstellen dieser Funktion heißt nicht, daß sie nicht auch andere Funktionen haben können, wie z. B. die Stabilisierung der Erwartungen. 16 W. Schulz (1989), Grundprobleme der Ethik, Verlag Günther Neske, Pfullingen. 17 Stichwort Tugend im "Lexikon der Ethik" (1986), hrsg. v. Otfried Höffe zusammen mit M. Forschner, A. Schöpf und W. Vossenkuhl, 3. neubearb. Aufl., München, S. 257. 2 Messner-Symposium
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einzelmenschlichen Handelns, eine geistig-sittliche Wertehaltung einer Person (Tugend) oder einen positiven Zustand der Gesellschaft bezeichnen soll. Der Verzicht auf diese Unterscheidung ist - wie Walter Kerber bemerkt - die Ursache für die ,,Sinnentleerung" des Begriffes Gerechtigkeit. 18 Der Paradigmenwechsel von der Sicht der Gerechtigkeit als persönliche Haltung auf Gerechtigkeit als Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse ist für Kerber "überraschend", da der Begriff der ,Gerechtigkeit' im Naturrechtsdenken sowohl der katholischen Moraltheologie als auch der rationalistischen Rechtsphilosophie bis ins 19. Jahrhundert hinein eine solche Eindeutigkeit hatte: Welche Ansprüche und Pflichten dem Einzelnen "aus strenger Gerechtigkeit" zukamen, schien sich durch eine rationale Analyse der Sachverhalte anband objektiver Kriterien mit großer Genauigkeit feststellen zu lassen. Hingegen fand er es schwer, zum Zeitpunkt seiner Beobachtung die vielfachen Ansprüche, die mit einleuchtenden Argumenten im Namen der Gerechtigkeit geltend gemacht werden, gegeneinander abzuwägen und außerhalb der positiven Gesetze überhaupt eindeutige Kriterien für die Bestimmung des Gerechten zu finden. Die Wurzel für diese Unsicherheit sieht er in den Veränderungen, die sich im tatsächlichen Aufbau der Gesellschaft ergeben, wie auch in der theoretischen Reflexion über die Folgen des Überganges von einer statischen zu einer dynamischen Gesellschaft. Damit hätte sich der Schwerpunkt der Gerechtigkeitsproblematik verlagert von der Frage nach dem gerechten Verhalten der Einzelnen innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsordnung auf die Frage nach der gerechten Gesellschaftsordnung selbst. 19 Diese Unterscheidung ist in der Sozialkritik und für die Sozialreform entscheidend für die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Verantwortung für einen Seinszustand, der den Wunsch nach einer Veränderung (als Sollensordnung) weckt: die einzelnen Handlungsakteure oder die sozialen Handlungsregeln, denen sie folgen. Damit kann in einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit systemisch ausdifferenzierten Funktionszusammenhängen auch die Kompetenz und damit gleichzeitig die Zuständigkeit für Änderungen und die Verantwortung für deren Unterlassung festgestellt werden. Für Änderungen der persönlichen Tugendhaftigkeit können dies in einer freiheitlichen Gesellschaft nur Institutionen sein, die die einzelmenschliche Motivation beeinflussen können. Das sind die in Erziehung und Seelsorge Tatigen, die auch die Hilfen bieten, die es dem einzelnen Menschen leichter machen, seinen individuellen Lebenszweck zu ergründen und zu erfüllen. Für die kritisierten Zustände in der Gesellschaft ist zunächst die Frage zu stellen, welches - oder welche - der Subsysteme, in welche das Gesamtsystem "Gesell18 W. Kerber (1981), Abschnitt: Die Vieldeutigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs, in: W. Kerber, C. Westermann, B. Spörlein, Artikel Gerechtigkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 17 der Enzyklopädischen Bibliothek in 30 Teilbänden, hrsg. von F. Böckle, F. X. Kaufmann, K. Rahner, B. Weite, Freiburg/Br., S. 8 ff. 19 W. Kerber (1981), S. 40 ff.
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schaft" ausdifferenziert ist, der Ort des Geschehens ist bzw. sind. Diese Subsysteme sind mit dem identisch, was z. B. das Zweite Vatikanum als Kulturbereiche bezeichnet, die über das ihr je "Gute" und damit über eine ,,iusta autonomia" (eigene Gesetze) zur Lösung ihrer spezifischen Konflikte verfügen. Das hatte Messner in seiner Habilitationsschrift mit der Feststellung unterstrichen, daß jede Norm der Sozialethik auf einer ausreichenden Kenntnis der sozialwissenschaftlich ergründeten gesellschaftlichen Zusammenhänge begründet sein muß. 20 Die Begriffe soziale Institutionen, Subsysteme, Systeme und Ordnungen, in denen diese Menschen zusammenleben, fassen unter dem heutigen Verständnis nicht mehrere Menschen (wie häufig traditionell) in ihrer Ganzheit zusammen, sondern jeweils nur in funktionalen Teilbereichen (Dimensionen) ihres persönlichen Handelns: in ihrem Verhalten als Eigentümer, als Tauschpartner, als Ehepartner, als Teilnehmer in Pflichten und Rechten in Familienbeziehungen (aufgrund von Verwandtschaft oder Schwägerschaft), in ihrem Umgang mit knappen Gütern (in einem Betrieb) oder mit knappen Einkommen (in einem Haushalt) in der Dimension "Wirtschaft", in ihrer persönlichen Position im Umgang mit dem legitimen Gewaltmonopol (als Wähler oder als politischer Funktionär in der Dimension "Staat"), in ihrer Stellung im Erziehungs- und Bildungssystem (als Lehrende und/ oder als Lernende im lebenslangen Lernen), als Mitglied einer religiösen Gemeinschaft, die ihnen Hilfe zur Erkenntnis und zur Erreichung ihres Lebenszwecks erwarten läßt (in der Dimension "Kirchen"), die Katholische Kirche als die Gemeinschaft aller katholisch Getauften definiert. Immer aber sind es die seihen Menschen, wenn auch in jeweils unterschiedlichen Funktionen, in den verschieden dimensionalen Teilbereichen ihres persönlichen Handelns. Die Ganzheit aller dieser einzelnen spezifischen Funktionen wird durch den je einzelnen individuell handelnden Menschen für sich (zur Erzielung seiner individuellen existentiellen Zwecke) hergestellt. Die Bezeichnung aller erkennbaren Systeme in ihrer Gesamtheit als "Gesellschaft" ist sowohl angesichts der Interdependenz aller dieser Systeme als auch als möglicher Ausgangspunkt für manche Fragestellungen sinnvoll. Die Bedeutung der hier diskutierten Unterscheidung hat schon vor 150 Jahren Alexis de Tocqueville mit den Worten visionär zum Ausdruck gebracht: "Denn die Zeit blinder Selbstaufgabe und instinktiver Tugend liegt schon weit hinter uns, und ich sehe die Zeit kommen, da selbst die Freiheit, der Friede des Staates und die soziale Ordnung die Bildung nicht mehr entbehren können."21 Das heißt: Zum guten Willen des Einzelnen (als individualethisches Postulat) muß das gute Wissen um die Institution(en) kommen, von der (denen) eine Lösung sozialer Konflikte erwartet werden können. J. Messner (1927), S. 49 ff. A.de Tocqueville (1835 - 1840, 1985), Über die Demokratie in Amerika, ausgewählt und hrsg. von J. P. Mayer, Stuttgart; zit. von: K.Homann: Ökonomik und Demokratie- Perspektiven nach dem Ende des Sozialismus, in: W. Jäger (1994) Hrsg., Neue Wege der Nationalökonomie, S. 49- 83. 2o 21
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VI. Was bedeutet "Gerechtigkeit"? Bevor der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit weiter nachgegangen wird, soll zunächst die Frage nach der Gerechtigkeit ohne diesen einschränkenden Attribut gestellt werden. "Das Gemeinwohl", so hat Johannes Messner seine Monographie zu diesem Thema vor fast vier Jahrzehnten begonnen, "teilt das Schicksal aller Begriffe, die wir im täglichen Leben zu gebrauchen pflegen." Und er setzt hinzu: "Wenn man sagen soll, was der Gegenstand ist, den sie bezeichnen, kommt man in Verlegenheit." Und weiter: "Die Sache würde wahrscheinlich für viele nicht leichter, wenn man ihnen als allgemeinsten und sehr zweckdienlichen Begriff des Gemeinwohles nennen würde: das Gemeinwohl ist die allseitig verwirklichte Gerechtigkeit. Dann aber erhebt sich die Frage, was ist Gerechtigkeit? Auch der Begriff der Gerechtigkeit, den Thomas von Aquin mit der inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls verbindet, ist selbst nicht so gegenständlich bestimmt, daß damit die Frage nach dem Gemeinwohl wirklich beantwortet wäre." Das veranlaßt Messner, auf den "international so bekannten Rechtsphilosophen Hans Kelsen"22 zu veweisen, der "ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, daß man überhaupt nicht wissen kann, was Gerechtigkeit ist."23 Mit dem Hinweis auf die Undurchführbarkeit eines "intrapersonalen Nutzenvergleichs" hatte der sehr angesehen gewesene Österreichische Wirtschaftsjournalist Horst Knapp im Zusammenhang mit der Diskussion um die gerechte Besteuerung der Familienerhalter angesichts der kontroversen Standpunkte die skeptische Frage gestellt: "Was ist gerecht?" 24 Dem Begriff "Gerechtigkeit" wird weitgehend unter Ideologieverdacht jede objektiv-sachliche Problemlösungskapazität abgesprochen. Zum gleichen Ergebnis war damals, von ganz anderen Gesichtspunkten herkommend, so setzte Messner fort, der protestantische Theologe Helmut Thielicke gekommen, der meinte: Wenn man sage, die Gerechtigkeit sei die Bereitschaft, jedem das Seine zu geben, so sei es eben unmöglich zu wissen, was das Seinige für jeden ist. Das zu wissen, sei nur Gott möglich, der einem jeden einzelnen das ihm eigene an Anlagen, Aufgaben und Heilsaussichten zuteile. Für uns Menschen sei es nach dem Sündenfall (nach lutherischer Auffassung) unmöglich, die Seinsordnung zu erkennen. Was Messner damals vom Gemeinwohl sagte, gilt also heute noch weithin ebenso für die Gerechtigkeit, daß dieses geradezu im Mittelpunkt der katholischen Soziallehre, ja der Ethik überhaupt stehe und daß es erstaunlich sei, wie wenig in der wissenschaftlichen katholischen Gesellschaftslehre über das Gemeinwohl zu finden ist. Dies um so mehr, als die Berufung auf das Gemeinwohlprinzip in päpstlichen Äußerungen, im katholischen Schrifttum sowie in der Erörterung tagespolitiH. Kelsen (1960), Die reine Rechtslehre, Wien, Anhang zur 2. Auflage. J. Messner (1962), Das Gemeinwohl- Idee, Wirklichkeit, Aufgabe, Verlag A. Fromm, Osnabrück, S. 9 ff. 24 H. Knapp, Gerecht oder zweckmäßig?, in: Finanznachrichten FN 42, 2l.Oktober 1993. 22 23
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scher Fragen und überhaupt in den Diskussionen des öffentlichen Lebens eine Rolle spielt wie kaum ein anderer ethischer Begriff. VII. Die Gerechtigkeit hat viele Dimensionen Johannes Messner definiert also das Gemeinwohl als "allseitig verwirklichte Gerechtigkeit". Das heißt, daß das scheinbar so einleuchtend einfache "suum cuique" sehr viele, in ihren Dimensionen unterschiedliche "sua" hat. Und das Problem liegt in der Frage, wie die Komplexität der Gerechtigkeit, d. h. die Gesamtheit aller der "sua", die jedem gerechterweise zukommen sollen, auf das einzelne "suum cuique" reduziert und damit Gerechtigkeit operational konkretisiert werden kann. Was die jüngere Entwicklung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik so revolutioniert und für manche, die "die Ganzheit" des Menschen als Grundlage für alle ethischen Fragen sehen, so provokant wirkt, ist der Vorschlag, die Gerechtigkeitsfrage nicht als Problem des Verhältnisses zwischen ganzen Menschen zu sehen, sondern nur zwischen bestimmten Funktionen dieser ganzen Menschen. Als Beispiele für die Zweckmäßigkeit (wenn nicht sogar Notwendigkeit), die ganzen, d. h. komplexen individuellen Menschen auf eindimensionale Funktionen zu reduzieren, um konkrete Gerechtigkeitsprobleme auch nur wahrnehmen, geschweige denn lösen zu können, sollen hier die Ansätze von Karl Homann und Michael Walzer genannt werden. 1. Kar[ Homann: Reduzierung auf soziale Funktionen des Menschen
Karl Homann erläutert die Zweckmäßigkeit dieser Reduktion anband des Menschen in seinen Funktionen im Umgang mit knappen Ressourcen: Der Homo oeconomicus ist durch rationale Gewinn-, Nutzen- oder Vorteilsmaximierung definiert. Daß "der" Mensch dies weder empirisch ist noch normativ sein darf, spielt hier keine Rolle. Der ,Homo oeconomicus' ist nicht ,der Mensch'. Er ist ein theoretisches Konstrukt für die Zwecke allein der Theoriebildung in der positiven Wissenschaft Ökonomik. Einzelwissenschaften stellen grundsätzlich nicht die Frage Kants: Was ist der Mensch? Positive Einzelwissenschaften stellen ganz spezielle, hochselektive Fragen und abstrahieren programmatisch von vielen anderen Fragen, die lebensweltlich dazugehören. Alle einzelwissenschaftliche Theoriebildung ist streng auf hochselektive Problemstellungen bezogen, nicht auf "die Wirklichkeit": Insofern müssen Einzelwissenschaften methodisch reduktionistisch arbeiten und wer von ihnen etwas anderes, z. B. eine "ganzheitliche" Betrachtungsweise verlangt, macht den durch theoretische Ausdifferenzierung erzielten Fortschritt der modernen Wissenschaften zunichte. Dann lautet die entscheidende Frage: Auf welche hochselektive Problemstellung genau ist das Konstrukt Homo oeconomicus zugeschnitten? In der Ökonomik geht es nicht um einsame Entscheidungen einzelner, es geht um Interaktionen und um ihre Ergebnisse. In Interaktionen treten die Menschen
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ein, um Kooperationsgewinne zu realisieren: "Dies ist das gemeinsame Interesse der Interaktionspartner. Hinsichtlich der Aufteilung der Kooperationsgewinne haben sie aber immer zugleich widerstreitende Interessen, und insofern sind alle Interaktionen problematisch"25 -und daher sozialethisch lösungsbedürftig. Das heißt, es geht hier nicht um die Entscheidungen von Menschen, die sie aufgeund ihrer persönlichen Tugendhaftigkeit hin treffen, sondern um ein Verhalten der Menschen, die (bewußt oder unbewußt, gewollt oder bloß akzeptiert) aufgrund sozialer Regeln und Institutionen handeln .
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2. Michael Walzer: Reduzierung auf die (strittigen) Güter
Von einem (zunächst) ganz anderen Ansatz kommt M. Walzer zu den selben Ergebnissen. Er geht nicht von den spezifischen Funktionen ganzer Menschen aus, sondern von den Gütern, um deren gerechte Verteilung es geht. Walzer sieht den Maßstab für die Gerechtigkeit, die das Ziel größtmöglicher Freiheit und Pluralität mit der Forderung nach Gleichheit vereinbar macht, durch das strittige soziale Gut bestimmt. Die Pointe seiner Lösung liegt darin, daß er sich zwar auch für eine Pluralisierung der Gerechtigkeitsgrundsätze einsetzt: Differenz und Gleichheit lassen sich seiner Meinung nach aber nur vereinbaren, wenn berücksichtigt wird, daß die verschiedenen Güter (z. B. Reichtum, Macht, Arbeit, Ehre, Liebe etc.) und die durch sie bestimmten Distributionssphären einer Gesellschaft die Anwendung von gesonderten Prinzipien der Verteilung verlangen. Die Verteilung sozialer Güter kann weder verstanden noch beurteilt noch kritisiert werden, bevor deren Bedeutung für das Leben jener Männer und Frauen begriffen worden ist, unter denen diese Güter verteilt werden. Diese Verteilungsgerechtigkeit (aber nicht jede andere Art von Gerechtigkeit) steht in Relation zu sozialen Sinnbezügen. Ein Gut wie die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen, eine berufliche Position oder ein politisches Amt, ein Bildungszeugnis oder eine medizinische Leistung werden in verschiedenen Gesellschaften (aber auch von verschiedenen Personen! W. S.) verschieden gedeutet und bewertet. So scheint es nur vernünftig vorzuschlagen, daß diese Güter deshalb verschieden verteilt werden sollen, d. h. von verschiedenen Instanzen, nach verschiedenen Verfahren und gemäß verschiedener Kriterien. 26 Das Ziel komplexer Gleichheit durch komplexe Gerechtigkeit ist es zu verhindern, daß ein einzelnes soziales Gut alle anderen dominiert. Was die Norm der komplexen Gleichheit verlangt, ist eine Gesellschaft, in der diejenigen Menschen, 25 K. Homann (1997), Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 21/97, vom 16. Mai, S. 19 f. Hervorhebungen im Original. 26 M. Walzer (1992), Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Aus dem Englischen von Hanne Herkommer. Campus-Verlag Frankfurt/New York, Studienausgabe 1994. Englische Originalausgabe: Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, Basic Books lnc. New York 1983, S. 11.
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die mehr Geld, mehr Macht oder mehr technisches Wissen haben (und solche Menschen wird es immer geben) daran gehindert sind, sich allein deswegen auch in den Besitz von jedem anderen sozialen Gut zu setzen. 3. Soziale Gerechtigkeit: Verteilung von Gütern - Verteilung von Lasten
Bei der Erörterung der sozialen Gerechtigkeit sieht also Walzer die Frage nach der Gerechtigkeit bei der Verteilung sozialer Güter im Vordergrund. Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich nicht minder aber auch bei der Verteilung von Lasten. Das zeigt sich ganz offen bei der Verteilung der Steuerlasten auf die Steuerzahler und beim Ausgleich der Familienlasten zwischen FarnBienerhaltern und Nichtunterhaltspflichtigen. Oft läuft die Frage der Lastenverteilung unter dem Mißverständnis einer Güterverteilung zwischen Individuum und Gemeinschaft. 27 Hier wird "Gemeinschaft" wie nicht selten in der einschlägigen Literatur - zu unrecht personifiziert. Bei der Steuergerechtigkeit z. B. handelt es sich nur vordergründig um eine Verteilung des Einkommens zwischen dem Steuerzahler und dem Staat, sondern um die Verteilung der Steuerlasten unter den Steuerzahlern. Beim Ausgleich der Familienlasten handelt es sich primär nicht um einen Ausgleich der Unterhaltslasten der Familie zwischen Familie und Staat, sondern vielmehr zwischen Familienerhaltern und den gleichzeitig gerade nicht Unterhaltspflichtigen. In Fragen der Gerechtigkeit im Sozialstaat geht es nicht um die Verteilung zwischen dem Staat und den Transfereinkommensbeziehern, sondern um die gerechte Güterverteilung zwischen den Beziehern der Transfereinkommen untereinander sowie um die Güter- und Lastenverteilung zwischen diesen und den Steuer- bzw. Beitragszahlern.
VIII. Die Problemlösungskapazität der Institutionenökonomik Es scheint weithin Übereinstimmung28 darüber zu herrschen, daß es Luigi Taparelli d'Azeglio SJ gewesen ist, der den Begriff " soziale Gerechtigkeit" erstmalig geprägt hat. Und daß dieser Begriff durch ihn über Leo XIII. zu einem dominierenden Element der Sozialverkündigung der katholischen Kirche geworden ist, ohne daß lange Zeit hindurch (und wahrscheinlich bis heute) eindeutig geklärt werden konnte, worin sich diese Dimension (oder Dimensionen) der Gerechtigkeit von den 27 Siehe z. B. Das "Modell der Gerechtigkeit zwischen Individualismus und Gemeinschaft" bei I. Dingeldey (1997). 28 Artbur F. Utz (1994), Sozialethik. Mit internationaler Bibliographie, IV.Teil, Wirtschaftsethik, Scientia Humana Institut Bonn, S. 226; K. Homann/F. Blome-Drees (1992), S. 65; K. Homann/1. Pies (1991), Der neue lnstitutionalismus und das Problem der Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Tübingen, Band 10, 79- 100. J. Messner hat auch einmal den französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon als den ersten genannt, der von der Idee einer "sozialen" Gerechtigkeit gesprochen hat. J. Messner (1931), Die Idee der sozialen Gerechtigkeit, S. 726. In: Der Kunstwart, München, Aug. 1931.
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traditionellen Unterscheidungen von der iustitia commutativa (Tauschgerechtigkeit) und der iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit) unterscheiden. Artbur F. Utz charakterisiert die Wende durch Taparelli als Wende "von der ganzheitlich finalen Schauweise in die prozessuale (kausale) und damit in die individualistische Gesellschafts- und Eigentumstheorie. " 29 Erst durch Taparelli hat die katholische Soziallehre das Eigeninteresse im Sinne einer obersten Norm in ihr Sozialdenken aufgenommen. "Deutlich kommt dieser Begriffswechsel bei Messner auf Taparelli gestützt - zum Vorschein. " 30 Was Johannes Messner an Taparelli so schätzte, war seine philosophische Begründung der Moral und daß er sich nicht damit begnügte, sie einfach als Wirkung des Gesetzes des göttlichen Gesetzgebers zu erklären: Pflicht ist ein vernünftiges Sollen als Resultante "einer notwendigen Verbindung der Mittel mit einem notwendigen Zweck."31 Die zeitliche Distanz ermöglicht es heute K. Homann, Taparellis Begriff "soziale Gerechtigkeit" zu erklären: Begriffe entstehen, wenn ein Bedarf nach ihnen besteht. Der Bedarf nach diesem Begriff erwächst offenbar aus den sozialen Folgen, die mit der Umstellung von der "Hauswirtschaft" auf die "Volkswirtschaft" bzw. von der Handlungssteuerung auf die Systemsteuerung verbunden sind, wie z. B. die "soziale Frage."32 Es gehtjetzt nicht mehr um die moralische Beurteilung einzelner Handlungen- etwa mit Hilfe der Vorstellungen vom "gerechten Preis"-, sondern von Systemergebnissen. 33 Dieser Vorrang der Regeln (Institutionen) vor der individualen Tugendhaftigkeit wird auch aus dem beschränkten Informationsstand der Akteure erklärt: Wer tugendhaft das eigene Handeln nach der Idee der Gerechtigkeit orientieren will, muß überhaupt erst wissen, worin gerechte Regelungen für den Anlaßfall eigentlich bestehen. Aus diesen Gründen besitzt die Frage nach der Gerechtigkeitstugend nur nachgeordnete Bedeutung, und es besteht das Gerechtigkeitsproblem, philosophisch gesehen, vor allem darin, die institutionellen Prinzipien gesellschaftlicher (d. h. sozialer, W.S.) Gerechtigkeit zu identifizieren und zu begründen. Von diesen Prinzipien her erlangen die Ideen der sozialen Gerechtigkeit ihren Gehalt. 34 Homann verweist auf G. Brennan und J. M. Buchanan, die einen neuen Vorschlag zu einer sinnvollen Rekonstruktion von "Gerechtigkeit" unterbreitet 35 haben. Ohne daß sie dies explizit machen, knüpfen sie an die alte Bestimmung der Gerechtigkeit, an das "suum cuique" ("Jedem das Seine") an. "Gerecht" ist jenes Verhalten, das berechtigte Erwartungen, das "suum", erfüllt. Erwartungen gehen A. F. Utz (1994), S. 118. A. F. Utz (1994), S. 30 unter Bezugnahme auf J. Messners Naturrecht (7. unveränderte Auflage, Berlin 1984) S. 999, 1004 ff. u. a. 31 J. Messner (1966), 5. neubearb., erweiterte Auflage, Tyrolia Verlag Innsbruck, S. 79 f. 32 Deren Beantwortung offenbar von der "sozialen Gerechtigkeit" erwartet wird. 33 K. Homann/F. Blome-Drees (1992), S. 65. 34 R. Kley (1993), Stichwort "Gerechtigkeit", Sp. 353. 35 G. Brennan/ J. M. Buchanan (1985), S. 87 ff. 29
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auf Regeln, Institutionen zurück, ja der Sinn von Regeln (Institutionen) besteht gerade darin, wechselseitige Verhaltenserwartungen zu stabilisieren und sie zu garantieren. "Gerechtigkeit" ist ein sinnvoller Bezug nur "within rules", setzt also Regeln voraus. Das Problem bei der "sozialen Gerechtigkeit" besteht nun aber gerade in der Beurteilung solcher Regeln. Gerechtigkeit muß aus dem System erklärt werden. Ein "externes" Gerechtigkeitskriterium ist historisch unmöglich geworden. 36 Die Bedeutung John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit liegt nicht nur darin, daß er - wie die nicht enden wollenden Reaktionen zeigen - einem großen Bedürfnis Rechnung getragen und "die Gerechtigkeit" als Thema der Sozialwissenschaften weithin wieder salonfähig gemacht hat. Von mindestens ebenso großer Bedeutung sind seine Erklärungsbemühungen, die Gerechtigkeit als im Interesse aller Beteiligten liegend darzustellen und damit entscheidend beizutragen, auch für die Sozialethik unheilvolle Barrieren eines vermeintlichen Gegensatzes von Interesse und Moral zu überwinden. 37 Mit der Beschreibung der Institutionenökonomik als Verfahren zur Verwirklichung von Gerechtigkeitsvorstellungen folgen wir weiter Karl Homann?8 Die Institutionen sollen die betroffenen Einzelnen nicht durch moralische Appelle, sondern durch ausreichende Anreize zum gewünschten Verhalten veranlassen. Anreize der Institutionen zu einem normorientierten Handeln sind nach ökonomischem Denken zu erwarten, wenn das gesamte menschliche Handeln in Vorteilsund Nachteilsüberlegungen transferiert wird. Damit werden die ökonomischen Methoden auf jegliches menschliches Handeln und auf jede Institution, die per se Anreize vermittelt, als Institutionenökonomik anwendbar. Die Normativität der Ethik wird also auf die Wahl des geeignetsten Paradigmas, also auf die Wahl der Problemstellung, der Grundbegriffe und der Theoriestrategie positiver Ökonomik verlagert. Wer Normativität in die positive Ökonomik endogenisieren will; muß ein Paradigma entwickeln, das genau auf jene Probleme zugeschnitten ist, die traditionell als ethisch (normativ) verstanden werden. Die dafür notwendige Übersetzung traditioneller moralischer, (sozial)ethischer Kategorien in ökonomische verspricht einen für die Ethik höchst bedeutsamen Ertrag: Nur wenn normative Forderungen in positive Vorteils- I Nachteilskalkulationen der Akteure übersetzt sind, lassen sich die Chancen dafür abschätzen, ob norK. Homann/F. Blome-Drees (1992), S. 66 f. Das ist auch das Anliegen von W. Schmitz (1994), Zur Einführung: Das Interesse - Gegenpol oder Bundesgenosse der Moral?; Ders. Eigeninteresse-Gruppeninteresse- Gesamtinteresse. Das Eigeninteresse durch Lebenssinn und Institutionen legitim, effizient und unersetzlich, beide in: W. Schmitz/R. Weiler (Hg.), Interesse und Moral. Gegenpole oder Bundesgenossen? Duncker & Humblot, Berlin, S. 9-20 bzw. 61 - 104 (Beiträge des Symposiums der Johannes-Messner-Gesellschaft im Jahre 1993). 38 K. Homann (1996), Herausforderung durch systemischeSozial-und Denkstrukturen in EB-Erwachsenenbildung, Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, 42. Jg., Heft 4/96; S. 181 - 186 sowie K. Homann/1. Pies, Liberalismus: kollektive Entwicklung individueller Freiheit -Zu Programm und Methode einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo oeconomicus (ACCEDO Verlagsgesellschaft München 1993, Bd. X/3/4), S. 297- 347. 36 37
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mative Leitlinien unter den Bedingungen der modernen Welt auf breiter Front auch Realität werden können. (S. 185) Verallgemeinert heißt das: Normative Forderungen müssen in die Funktionszusammenhänge der Subsysteme der modernen Gesellschaft und in die Problemstellung der positiven Einzelwissenschaft Ökonomik integriert werden, wenn sie in der Gegenwart und in der Zukunft eine Chance haben sollen. (S. 185) Die Sicht des Zusammenlebens der Menschen als Konfliktgesellschaft geht von der Erfahrung aus, daß dieses Zusammenleben durch zwischenmenschliche, d. h. soziale Konflikte gekennzeichnet ist. 39 Die Sozialordnung läßt sich nach einer Auffassung in den Sozialwissenschaften40 geradezu als Institutionaliskrung der sozialen Konflikte in den gesellschaftlichen Beziehungen definieren, d. h. als Einrichtung eines Systems von Regeln zu deren Überwindung. James M. Buchanan, der Nobelpreisträger 1986, und sein Co-Autor Geoffry Brennan sehen den Sinn in der Schaffung von Institutionen: "We require rules in society because, without them, life would indeed be ,solitary, poor, nasty, brutish and short', as Thomas Hobbes told us more than three centuries ago. Only the romantic anarchists think there is a ,natural harmony' among personsthat will eliminate all conflict in the absence of rules. We require rules for living together for the simple reason that, without them, we would surely fight. We would fight because the object of desire for one individual would be claimed by another. Rules define the private spaces within which each of us can carry on our own activities." Sozialwissenschaften und Sozialphilosophie müssen sich - direkt oder indirekt - mit der Frage befassen, wie die soziale Ordnung hergestellt oder erhalten werden kann. 41 Es ist eine Folge der immer deutlicher wahrgenommenen Komplexität der Gesellschaft, daß zur Überwindung ihrer sozialen Konflikte immer wieder neue Institutionen gefragt sind: von der Institution des Privateigentums zur Minimierung der Kosten für seine Sicherheit, über - beispielsweise - den demokratischen Verfassungsstaat zur Wahrung von Freiheit und Gleichheit seiner Bürger und den Wettbewerbsmarkt zum Interessenausgleich aller Tauschpartner in einer arbeitsteiligen Wirtschaft bis zum Tarif- (Kollektivvertrags-)Wesen und die Sozialpartnerschaft als Institutionalisierung des Klassenkampfes und bis zum Völkerrecht als Institutionalisierung nationaler Konflikte. Die Berücksichtigung der Institutionen und Systeme durch "Denken in Ordnungen" macht Tagespolitik zur Ordnungspolitik, wobei "Ordnung" sowohl analytisch den Seinszustand als auch normativ den Sollenszustand bezeichnet (Walter Eucken). Die politische Ordnung z. B. ist (wie jede soziale Ordnung) ein System von Institutionen (John Rawls). 39 "Sozial" bedeutet den socius (Genossen, Mitmenschen) betreffend, im Gegensatz zu "individualen" Konflikten mit sich selbst. 40 Siehe z. B. G. Simmel, Soziologie (3. Autl. 1923); L. Coser, Die Theorie sozialer Konflikte (aus dem Englischen 1965); R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit (1961). 41 G. Brennan/J. M. Buchanan, The Reason of Rules. Constitutional Political Economy; Cambridge University Press, Cambridge 1985, S. IX und 3; I.M. Buchanan, The Limit of Liberty, University of Chicago 1975.
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IX. Die Problemlösungskapazität sozialer Systeme 1. Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme
Das besondere und im 19. Jahrhundert neue liegt darin, daß es sich bei der "sozialen Gerechtigkeit" um eine Gerechtigkeit handelt, die nicht mehr auf das einzelne Individuum und seine Handlungen, sondern auf soziale Systeme bezogen ist. So gibt es zwei Arten von Gerechtigkeitsbegriffen: Die klassischen Begriffe beziehen sich auf die individuellen Handlungen der einzelnen. Diese sind gerecht, wenn sie mit dem gegebenen normativen Rahmen (Gesetzen, Institutionen) übereinstimmen. Die soziale Gerechtigkeit bezieht sich demgegenüber auf die Frage der normativen Legitimation der Rahmen selbst. 42 Der Prozeß der Herausbildung solcher Rahmenbedingungen in der modernen Welt seit dem späteren Mittelalter wird heute als funktionelle Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme und der zugehörigen Reflexionsform, der positiven Einzelwissenschaften verstanden. Der Entwicklungsprozeß seit den frühen Formen des Umganges mit knappen Ressourcen als Jäger und Sammler, als Nomaden oder als geschlossene agrarische Hauswirtschaft ist durch eine immer tiefer greifende Arbeitsteilung und durch zunehmende Interdependenzen sowie der Herausbildung des Funktionssystems Wirtschaft mit eigenen Gesetzinäßigkeiten und einem eigenen Kommunikationsmedium (dem Geld) gekennzeichnet. Die Gesetzmäßigkeiten sind tendenziell universal, sowohl räumlich ("Globalisierung") als auch funktional 43 , über den traditionellen Funktionsbereich Wirtschaft hinaus, die heute zunehmend als über das System des Umganges mit knappen Gütern bei der Produktion durch Betriebe (" Unternehmen") auf den Bereich des Umganges mit knappen Einkommen in Haushalten (privaten und öffentlichen) hinausgehend verstanden wird. Das hat für die Wahl der Wege zur Herstellung von Zuständen in der Wirtschaft, die als gerecht bewertet werden, weitreichende Bedeutung. Der Funktionsverlust individuellen Verhaltens wird bei Niklas Luhmann programmatisch herausgearbeitet: Die Subsysteme sind deswegen so leistungsfähig, weil sie nur auf ihren Code, auf ihre Sprache, in der Wirtschaft auf Zahlung I Nichtzahlung reagieren und allen anderen z. B. moralischen Ansinnen nicht stattgeben können.44 Wird unter "Moral" ein Zustand verstanden, in welchem aufgrund der Unterscheidung von Gut und Bös gehandelt wird, dann gewinnt die Unterscheidung zunehmend Bedeutung, ob es sich um den individuellen Zustand eines einzelnen 42 K. Homann II. Pies (1991 ), Der neue Institutionalismus und das Problem der Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 10. Band, Tübingen, S. 79- 100. 43 Soweit Kar! Homann (1996), Herausforderung durch systemische Sozial- und Denkstrukturen, in: ES-Erwachsenenbildung, Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, 42. Jg., Heft4/96; S. 181. 44 N. Luhmann (1990), Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Westdeutscher Verlag Opladen, insbesondere S. 75 ff. (l. Aufl. 1986).
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Menschen handelt oder um einen Zustand, der durch ein Zusammenwirken vieler Menschen in einem System von Regeln gegeben ist. Es liegt auf der Hand, daß der Einzelne aufgrund der Logik eines komplexen Systems ("Spielregeln") gar keine Möglichkeit hat zu wissen, was in seinen einzelnen "Spielzügen" gut oder böse ist, solange er sich an diese Regeln hält.
Tauschpartner tauschen notwendigerweise nicht Gleiches mit Gleichem. Jeder der beiden Partner tauscht etwas, was ihm selbst weniger wert ist, gegen etwas, was ihm selbst mehr wert ist; andernfalls hätte keiner der beiden einen Anlaß, einen Tausch vorzunehmen. Welcher Preis und welcher Anteil am Verkaufserlös jedem Teilnehmer an einem gemeinsam produzierten Gut als Lohn, Rohstoffpreise, Kapitalertrag, Risikoanteil usw. zusteht, kann der einzelne Beteiligte nicht wissen, der in einem globalen Netz unterschiedlicher Marktformen teilnimmt. Er braucht als Auskunftsmittel und als normative Verhaltensregel das System der Märkte. Die Tugend der Nächsten- und der Eigenliebe gibt dem einzelnen Tugendhaften keinerlei Anhaltspunkte darüber, wo er in einem gegebenen Anlaßfall im Massenverkehr fahren soll, um Leben und Gesundheit der eigenen Person und die der Nächsten zu schützen. Er braucht dazu Verkehrsregeln, denen eine konsequente Systemlogik zugrunde liegt, wie z. B. auf einer zweispurigen Fahrbahn rechts zu fahren und links zu überholen. Die konsistente Unterscheidung dieser beiden Ebenen der Moralläßt die Bedeutung der Institutionen und Systeme für die Produktion von mehr Gerechtigkeit noch klarer erkennen. Wird unter dem Begriff "Moral" der Zustand verstanden, unter welchem im Falle von Alternativen aufgrundder Unterscheidung von Gut und Bös unterschieden, und unter "Ethik" die Wissenschaft, die die Moral zum Gegenstand hat, dann ist es nur folgerichtig, wenn nicht nur die Wissenschaft als Individualethik und Sozialethik (Institutionen- I Systemethik) gegliedert wird, sondern auch ihre unterschiedlichen Objekte als Individualmoral und SozialmoraL K. Homann formuliert den Kerngedanken der Institutionenethik folgendermaßen: "Modeme Gesellschaften (die durch Komplexität institutioneller Regeln gekennzeichnet sind, W. S.) substituieren individuelle moralische Handlungsmotive durch institutionelle Handlungsanreize. Diese Anreize werden durch Regeln gesetzt. Damit werden die Regeln zum eigentlichen Träger der ursprünglichen moralischen Intensionen. Auf eine Formel gebracht, wird so der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft zwar nicht zum einzigen, aber zum systematischen Ort der Moral. 45
Die Verkehrsregeln sind ein Beispiel dafür, daß selbst der so einleuchtende Anreiz, sicher und flüssig fahren zu können, zur Einhaltung der dazu eingeführten Regeln nicht ausreicht. Es bedarf eines zusätzlichen negativen Anreizes, Regelverletzungen durch hohe Strafen zusätzlich riskant zu machen. Der weiteren verstärkten Sensibilisierung für die Befolgung der Verkehrsregeln durch die nächste Generation der Verkehrsteilnehmer dient die Verkehrserziehung. Immer aber sind es Regeln, die die Norm bestimmen. 45
K. Homann/F. Blome-Drees (1992), Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 35.
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Solidarität wird in einer modernen Gesellschaft - zwar auch, aber nicht mehr primär über konkrete (einzelne) Solidaritätshandlungen, sondern indirekt - über das gesellschaftliche Institutionensystem ausgeübt. Die Handlungen des einzelnen werden von unmittelbar moralischen Anforderungen, die über die Befolgung von Regeln hinausgehen, immer weiter entlastet. Die Entlastung erlaubt die Verarbeitung von mehr Komplexität: Sie sorgt für die Verläßlichkeit der Erwartungen auch in anonymen Handlungskontexten und fördert Arbeitsteilung und Spezialisierung. Mit zunehmenden Unterschieden hinsichtlich einzelner Fertigkeiten und Kenntnisse aber steigen die wechselseitigen Tauschgewinne und Kooperationserträge. Die Heterogenität der Individuen wird so funktional und setzt eine ungeheuere Produktivität frei, die letztlich in den Dienst der individuellen Emanzipation gestellt werden kann. Das Wohl und Wehe einer modernen Gesellschaft hängt somit von den in ihr geltenden Regeln des menschlichen Zusammenlebens ab ....Moral erhält so immer mehr den Charakter einer Systemqualität, die den im System Handelnden freilich keineswegs sinnvoll bewußt zu sein braucht. Deshalb steigt in modernen Gesellschaften der Bedarf an (Wirtschafts-)ethischer Aufklärung. "46
Aber auch Homann und Blome-Drees betonen, daß dies nicht bedeutet, daß die institutionelle Rahmenordnung der alleinige Ort der Moral sei. 47 Sie bestreiten weder, daß Märkte und Markwirtschaft zu ihrem Funktionieren eine gewisse Moral benötigen (Vertragstreue, "ehrbarer Kaufmann" u. a.m.), noch soll Unternehmen I Managern abgestritten werden, daß sie sich faktisch auch von anderen als von Gewinninteressen, z. B. von sozialen Motiven, leiten ließen. Wird hier unter "Moral" wirklich immer das gleiche verstanden? Moral als Absicht, Probleme zu lösen, die einen Zustand herstellen, der dem Status quo einer seinsollenden Ordnung näherrückt (im allgemeinen) oder einem angestrebten Zustand der eigenen Person des handelnden Individuums oder dem seinsollenden Zustand sozialen Zusammenlebens mehrerer Personen? Wäre ein klares Auseinanderhalten (nicht eine Trennung!) von Individual- und Sozialmoral nicht sehr hilfreich für die Formulierung konkreter Zielsetzungen, für die Wahl der zu ihrer Erreichung tauglichen Mittel und die Wahl der Adressaten der einschlägigen Normen? Obwohl die Vertragstreue - soll hier hinzugefügt werden - durch das Handelsrecht und durch die Zivilprozeßordnung institutionell abgestützt ist, würde das Marktsystem zusammenbrechen, wenn jede Verpflichtung aus einem Tauschakt durch das Gericht entschieden werden müßte oder auch nur aus Sorge vor dem Gericht vertragsgetreu vor sich ginge. In der Motivation, Regeln bewußt zu akzeptieren, liegt wohl die Schnittlinie der sich überschneidenden Ebenen der Institutionen- und der Tugendethik sowie der 46 K. Homann/1. Pies (1993), Liberalismus: kollektive Entwicklung individueller Freiheit - Zu Programm und Methode einer liberalen Gesellschaftstheorie. in: Homo oeconomicus (ACCEDO), Verlagsgesellschaft München, Bd. X (3/4), S. 313 ff. -Dieses Bildungsziel sollte z. B. in den Höheren Schulen durch das Fach "Wirtschaftskunde" und durch das Fach "Ethik" gesteckt werden. 47 K. Homann/F. Blome-Drees (1992), S. 37.
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Sozial- und IndividualmoraL Soziale Gerechtigkeit kann aber auch durch Regeln verwirklicht werden, die nicht nur nicht bewußt akzeptiert werden, sondern gegen den Willen der Akteure befolgt werden müssen, wie z. B. eine Verstärkung des Wettbewerbs infolge einer Liberalisierung der Importe, die trotz ihrer Bekämpfung ihrer Akteure erfolgt. Da kann doch wohl von Tugendhaftigkeit der Akteure nicht gesprochen werden! 2. Paradigmenwechsel in der Systemtheorie
Die Abstraktion und die Komplikation der neuen Systemtheorie haben - als erkenntnistheoretische Notwendigkeit - einen Komplexitätsgrad erreicht, der sich nicht mehr linearisieren läßt. Luhmann z. B. hat ,,in einer azentrisch konzipierten Welt und einer azentrisch konzipierten Gesellschaft eine polyzentrische (und in Folge dessen auch polykontexturale) Theorie" entwickelt. Das heißt z. B. für die Darstellung dieser Theorie, was ihre Begriffsfassung und die Aussagen inhaltlich angeht, daß sie sich - für ihn - wie von selbst geschrieben hat, während ihm die Arrangementprobleme viel Zeit und Überlegung gekostet haben.48 Gerade diese Sicht der Gesellschaft als polyzentral bietet die Möglichkeit, diesen Ansatz einer Theorie der sozialen (d. h. zwischenmenschlichen) Systeme auch für die Erklärung und Problemlösung polydimensionaler Gerechtigkeitsvorstellungen heranzuziehen. - Für dieses Referat wäre auch der Titel treffend gewesen: "Vom Paradigmenwechsel in der Systemtheorie zum Paradigmenwechsel im Gerechtigkeitsbegriff." Die Systemtheorie hat heute durch einen konsequenten Paradigmenwechsel, für den Niklas Luhmann tonangebend ist, der den Funktionsverlust individueller Tugend programmatisch ausgearbeitet und damit eine neue Dimension der Systemtheorie erschlossen hat, sowohl was ihre Erklärungs- als auch ihre Problemlösungskapazität in einer komplexen Gesellschaft betrifft, sehr verschiedene Bedeutungen. Der Paradigmenwechsel in der allgemeinen Systemtheorie betrifft den Begriff des Ganzen und seiner Teile: die Gesellschaft als Ganzes und Gruppen von Menschen als seine Teile, z. B. die in der Wirtschaft, im Staat, in der Wissenschaft, im Bildungswesen, in den Kirchen usw. Tätigen als Gruppen von verschiedenen Menschen, die zusammen die Gesellschaft ausmachen. Das änderte sich auf eine Sicht der Teile der ganzen Gesellschaft als je unterschiedliche Funktionen aller Menschen, die die Gesellschaft als ganze ausmachen: die Funktion jedes Einzelnen im Umgang mit knappen Gütern oder Einkommen im Subsystem Wirtschaft, 48 N. Luhmann (1987), Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1. Auflage 1984), S. 14 f. Die Schwierigkeiten, die sich für ihn aus dieser Komplexität der Zusammenhänge für diese Publikation ergeben haben, hat er wie folgt beschrieben: "Jedes Kapitel (müßte) eigentlich in jedem anderen neu begonnen und zu Ende geführt werden." - Vor den gleichen Schwierigkeiten fand sich auch der Autor dieses Beitrages. Die Komplexität erschwert auch das Durchhalten einer konsequenten Systematik. Das ist wohl auch eine Folge davon, daß einzelne Kausalzusammenhänge in Systemzusammenhängen, d. h. auch Kreislaufzusammenhängen, aufgehen.
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im Umgang mit dem legitimen Gewaltmonopol im Subsystem Staat, im Umgang mit Lebenssinnfindung und -erfüllung im Subsystem Religion und Kirchen, alle Subsysteme zus~en genommen als "System der sozialen Ordnung". Die Teile der Gesellschaft sind sowenig einzelne Menschen wie Teile eines Hauses nicht die einzelnen Bausteine, sondern Räume (Zimmer) und Teile eines Buches nicht die einzelnen Buchstaben, sondern gegliederte Kapitel sind. 49 Was aus einer Summe aller Teile das Mehr ausmacht, das das Ganze der Summe seiner Teile voraushat, ist deren Struktur. Das erfordert der stets verlangte Grundsatz, daß Teile im Verhältnis zum Ganzen homogen sein müssen. Das ist z. B. der Unterschied zwischen einem Haufen aller Bestandteile eines Fahrrades und einem aus diesen Bestandteilen richtig zusammengebauten. Erst seine Struktur macht seine Funktionsfähigkeit aus. Übertragen auf die menschliche Gesellschaft heißt dies, daß die einzelnen Bestandteile der Subsysteme nicht die einzelnen Menschen sind, sondern nur je einzelne ihrer Funktionen, die erst zusammen die Ganzheit ,.Mensch" ausmachen, und die zustandekommenden sehr unterschiedlichen Strukturen in ihrer Gesamtheit die Ganzheit der Gesellschaft ausmachen. Für eine neue Sicht der Gerechtigkeit ergibt sich analog dazu, daß es sich bei der Beurteilung als gerecht nicht um eine Situation zwischen einzelnen ganzen Menschen oder Gruppen von Menschen handelt, sondern um die Beurteilung von einzelnen Menschen reduziert auf ihre spezifischen Funktionen, in welchen sie einander gegenüberstehen. Darin liegt der Paradigmenwechsel auf der heutigen Suche nach Antworten auf die Frage: "Was ist gerecht?" X. Das Ergebnis: Was heißt "sozial gerecht"? Als Ergebnis dieser Überlegungen kann nun folgendes festgehalten werden. Als Alternative zur individualen Gerechtigkeit als individueller Tugendhaftigkeit einzelner Akteure ist die soziale Gerechtigkeit als Singular eine Abstraktion der erfolgversprechenden Lösungsmöglichkeiten sozialer Konflikte in vielen gerechtigkeitsfähigen Spannungsfeldern zwischen Menschen auf der Ebene jeweils eindimensionaler und daher vergleichbarer Funktionszusammenhänge (z. B. Pensionsempfänger und Beitragszahler). Eine Frage nach der Gerechtigkeit kann daher nicht sinnvoll auf ein Verhältnis zwischen komplexen Ganzen (z. B. Menschen) gestellt werden. Die Komplexität des Menschen besteht darin, daß seine zur Gerechtigkeitsbeurteilung vergleichbaren Größen zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig auf sehr verschiedenen Ebenen liegen: Jeder Mensch ist seinem Einkommen bzw. seinem Vermögen nach arm oder reich, nach dem Zustand seines Körpers und I oder nach dem Vertragsrecht der Krankenkassen gesund oder krank, nach dem staatlichen Unterhaltsrecht unterhaltspflichtig oder nicht unterhaltspflichtig, nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Inländer oder 49
N. Luhrnann (1987), Soziale Systeme, insbesondere S. 23.
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Ausländer, nach dem Kirchenrecht geweiht oder nicht geweiht, nach dem Sozialrecht Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, nach Funktionen in der Wirtschaft Produzent oder Konsument, nach der Funktion im Staatsbudget z. B. Steuer- und Beitragszahler oder Transfereinkommenbezieher etc. · Die Gerechtigkeitsfrage kann nur in bezug auf die Reduktion der menschlichen Komplexität auf je eine Ebene gestellt werden. Um eine Frage nach der sozialen Gerechtigkeit beantworten zu können, muß daher zuerst festgestellt werden, aufwelcher Reduktionsebene der komplexen Wirklichkeit das strittige Problem liegt. Jede dieser Ebenen wird durch die Dimension eines "binären Codes" bezeichnet. Darunter versteht Luhmann50 einen zweiwertigen Code, in welchem sich jede Bewertung ihr Komplement suchen und sich in ihrem Gegenteil spiegeln kann. Es geht hier um die Projektion nur einer positiv I negativ-Unterscheidung, mit deren Hilfe die Möglichkeit und die Konsequenzen des Gegenteils geprüft werden können. Gerechtigkeitsüberlegungen können konkret nur innerhalb der Ebene eines solchen Codes angestellt werde. Dann muß gefragt werden, welche Institution bzw. Institutionen erfahrungsgemäß und in welcher Kombination zur nachhaltigen Konfliktlösung geeignet sind und welche Systemlogik relevant ist, wenn mehrere Institutionen eines Systems oder verschiedener Systeme in Frage kommen. Das heißt, mit welcher Logik eines Systems Zustände erwartet werden können, die als gerechter empfunden bzw. beurteilt werden können als das System des Status quo wie z. B. die Logik der Steuerfreibeträge und I oder familienstandsbezogener Transferzahlungen, wenn ein Ausgleich der Familienlasten als gerecht angestrebt wird. Soziale Gerechtigkeit kann daher zur Abgrenzung von der Gerechtigkeit durch individuale Tugend als Gerechtigkeit durch Institutionen und Systeme definiert werden. Nicht selten läßt die Suche nach Antworten auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit Zusammenhänge mit anderen und daher interdependenten (Sub-)Systemen erkennen, z. B. die Logik des sog. Generationsvertrages zwischen Erwerbstätigen und ihren Unterhaltsberechtigten, auf deren Bereitschaft zur späteren Übernahme der Pensionslasten sie bauen können, auf der einen Seite und dem Ausgleich der Familienunterhaltslasten zwischen den gerade nicht Unterhaltspflichtigen gegenüber den gerade Unterhaltspflichtigen, damit auch sie mit den Beitragsleistungen dieser Unterhaltsberechtigten rechnen können; oder angesichts des rasch zunehmenden Anteils der Alten in der Bevölkerungszusammensetzung eine Ausdehnung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes auf wirklich alle Staatsbürger (nicht bloß auf Staatsbürger ab einem bestimmten Wahlalter) zwecks gerechter Lasten- und Pensionsverteilung. Der Realität dynamischer Entwicklungen entsprechend kann es keinen befriedigenden Gesamtzustand sozialer Gerechtigkeit geben. Ein Anstoß zur Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist regelmäßig ein bestehender oder befürchteter sozialer so N. Luhmann (1990), Ökologische Kommunikation, S. 75 ff.
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Status quo, der eine gerechtere Lösung wünschenswert erscheinen läßt. Da weder theoretisch noch praktisch "alles von Grund auf ganz anders" gemacht werden kann, liegt das Problem stets im Ausmaß einer zum gleichen Zeitpunkt angestrebten gerechteren Ordnung. Chancen ihrer Verwirklichung liegen nicht zuletzt in plausiblen und daher konsensfahigen Reforrnk:onzepten, d. h. in Reformpaketen. Die Schaffung von mehr Gerechtigkeit ist aus allen diesen Gründen ohne ausreichende Kenntnis der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in allen ihren betroffenen Subsystemen chancenlos. Das bestätigt die These, in welcher Johannes Messner schon in seiner Habilitationsarbeit die Grundlage jeder Sozialethik gesehen hat: "Jeder Sozialethik, die ihrer Aufgabe gegenüber der heutigen Sozialwirtschaft ganz und konkret gerecht werden will, ist die Sozialökonomik eine unentbehrliche Hilfswissenschaft. " 51 Benutzte Literatur Brennan, Geoffry I Buchanan, James M.: The Reason of Rules. Constitutional Political Econorny, Carnbridge University Press, Carnbridge 1985. - Brockhaus-Lexikonredaktion (Hg.): Brockhaus Enzyklopädie, Neunter Band, Siebzehnter Band, Wiesbaden 1970/1973.Buchanan, Jarnes M.: The Limits of Liberty, University of Chicago Press, Chicago 1975.Dingeldey, Irene: Das Modell der Gerechtigkeit zwischen Individualismus und Gemeinschaft. Eine Einführung in die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls unter Berücksichtigung der Kritik unter kommunitaristischer Sicht. Diplomarbeit für die Pädagogische Hochschule Weingarten, Forschungsstelle für Politisch-Gesellschaftliche Erziehung, Forschungsbereich Arbeitslehre, Weingarten 1997. - Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte, 1992. - Höffe, Otfried I Hollerbach, Alexander I Kerber, Walter: Stichwort Gerechtigkeit, im Staatslexikon, Recht-Wirtschaft-Gesellschaft, Zweiter Band, 7. völlig neu bearbeitete Auflage, Verlag Herder Freiburg/Br. 1986, Spalten 895 - 906.- Homann, Kar!: Herausforderung durch systernische Sozial- und Denkstrukturen in EB-Erwachsenenbildung, Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, 42. Jg., Heft 4/96; S. 181 - 186. - Homann, Kar!: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 21/97, vorn 16. Mai 1997. - Homann, Kar!: Ökonomik und Demokratie - Perspektiven nach dem Ende des Sozialismus, in: W. Jäger (Hg.): Neue Wege der Nationalökonomie, S. 49 - 83, Münster 1994.- Homann, Karl/ Blome-Drees, Franz: Wirtschafts- und Unternehrnensethik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992. - Homann, Kar!/ Pies, Ingo: Der neue lnstitutionalisrnus und das Problem der Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Tübingen 1991, Band 10, S. 79- 100. - Homann, Kar!/ Pies, lngo: Liberalismus: kollektive Entwicklung individueller Freiheit - Zu Programm und Methode einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo oeconornicus (ACCEDO), Verlagsgesellschaft, München 1993, Bd. X (3 I 4). - Kelsen, Hans: Die reine Rechtslehre, Wien, 1934, 2. Auf!. 1960. - Kerber, W. I Westermann, C. I Spörlein, B.: W. Kerber, Abschnitt: Die Vieldeutigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs, im: Artikel "Gerechtigkeit", in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 17 der Enzyklopädischen Biblio51 J. Messner (1927), Sozialökonomik und Sozialethik, S. 49; unter Sozialwirtschaft wird hier Volkswirtschaft bzw. Weltwirtschaft verstanden, unter Sozialökonomik die Volkswirtschaftslehre. 3 Messner-Symposium
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Gemeinwohlgerechtigkeit - Illusion oder Realität? Von Friedrich Romig
Noch in seinen Studententagen wurde der Autor durch eine höchst realitätsbezogene Bemerkung des Sprechers der Vereinigung ästerreichischer Industrieller aus den Träumen von einer "prästabilierten Harmonie" (A. Smith) gerissen, die Vorstellung eines die Interessen sozialer Gruppen überwölbenden und verpflichtenden Gemeinwohls sei Illusion. Was mit diesem euphemistischen Wort bezeichnet werde, sei eine sich ständig verändernde Resultante des täglichen Kampfes von Interessengruppen, bei dem einmal diese, ein andermal jene Gruppierung ihre Interessen in größerem Ausmaß als die andere durchsetzen könne. Mit der von J. K. Galbraith formulierten Theorie der "countervailing powers", die sich gegenseitig in Schach halten, wurde die vom Sprecher der Industriellen geäußerte Auffassung durch einen der berühmtesten amerikanischen Nationalökonomen wissenschaftlich nobilitiert und sogar in die Lehrbücher aufgenommen. Etwa zur gleichen Zeit hatte der Studiosus Gelegenheit, im Haus des ästerneichen Gewerkschaftsbundes dem brillanten Vortrag von Hans Kelsen, dem international wohl berühmtesten österreichen Verfassungsjuristen, zu lauschen, der dem zahlreichen Generationen von Staatswissenschaftern so vertrauten Begriff der Gerechtigkeit keine für Recht und Rechtswissenschaft inhaltliche Bedeutung zuzuordnen vermochte. Er war sich darin mit Friedrich A. von Hayek einig, der in einem Vortrag im ästerreichen Gewerbeverein den platonisch-aristotelischen Gedanken vom Staate als Inbegriff der Gerechtigkeit arg zerzauste und mit Hohn und Spott übergoß. Im Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der sich um die soziale Gerechtigkeit bemüht, sah v. Hayek die Wurzel aller Totalitarismen, den Anfang der "Road to Serfdom". Der Mißbrauch, der schon damals mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit getrieben wurde um jede nur denkbare Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu begründen, verlieh sowohl der Argumentation Hayeks wie jener Kelsens vermehrtes Gewicht. Durch solche, aus klaren Voraussetzungen und Begriffen streng logisch abgeleitete Urteile hochangesehener Wissenschafter und Interessenvertreter sah sich der Student, der von der Nützlichkeit Wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen für das Wohl von Volk und Bürgern überzeugt war, einigermaßen herausgefordert. Den Gegenstand seines Faches, das zu jener Zeit noch mit Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre bezeichnet wurde, glaubte er ganz unbefangen und unreflektiert mit dem von ihm so hoch verehrten Klassiker Adam Smith als"An Inquiry in3*
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to the Nature and Causes of the Wealth of Nations" umschreiben zu können. Diese Unbefangenheit des Studiosus wurde durch die Ablehnung solcher Grundbegriffe wie Gemeinwohl oder Gerechtigkeit durch die angeführten Koryphäen schwer erschüttert. In der Folge mußte er zur Kenntnis nehmen, daß selbst der Begriff "Nation" oder gar der des "Volkes" fragwürdig und suspekt wurde und man zur Bezeichnung des Faches vermehrt "Politische Ökonomie" oder "Sozialökonomie" vorzuziehen begann. "Volk" wurde durch "Gesellschaft" ersetzt. Sogar die Rede von der "Nature", dem "Wesen", wurde nach und nach als nicht mehr zeitgemäß empfunden: Wer sich mit solchen Dingen befaßte, dem wurde und wird im Gefolge von Karl R. Popper vorgeworfen, Anhänger des aristotelischen "Essentialismus" zu sein oder gar mit J. G. Fichte zu glauben, "Begriffe sind Weltenschöpfer" und nicht bloß konventionelle Namen oder "Etiketten", die einer Summe von Merkmalen nachträglich umgehängt werden. Wer sich um Grundbegriffe kümmert, der wird inzwischen verdächtigt, seine Zeit mit Begriffsspielereien zu vergeuden. Es ist auf diese, vom "mainstream" geübte Begriffs(un)kultur zurückzuführen, daß wir heute nicht einmal mehr angeben können, was denn eigentlich unter "Reichtum" zu verstehen ist. Wenn heute zum Reichtum nicht nur die Fülle und Verteilung äußerer Güter gezählt werden, sondern Freizeit und Muße, Gesundheit, saubere Luft und frisches Wasser, aber auch die Lebenschancen künftiger Generationen (Stichwort "sustainable economy"), so deutet das nicht nur auf die Verschiebung der Maßstäbe hin, vielmehr geraten herkömmliche, allzu enge Sichtweisen und Methoden ins Schußfeld immer heftiger werdender Kritik, die die Chaotisierung des Faches ("anything goes") fördert. Weil wir aber nicht mehr genau wissen, was eigentlich Reichtum ist, so können wir naturgemäß auch keine Ursachen oder "Causes", erforschen und angeben, durch die er entsteht. Mit anderen Worten: Der Gegenstand des Faches hat sich während der Studien- und Lehrtätigkeit des späteren Dozenten zunehmend verflüchtigt. Was noch übereinstimmend gelehrt wird und wovon die mikro- und makrökonomischen Lehrbücher voll sind, das sind vornehmlich Regeln und Techniken des ökonomischen Kalküls von pleasure and pain, Nutzen und Aufwand, Kosten und Ertrag. Die Theorie besteht heute im wesentlichen aus aus einer Psychologie des Nutzens, der Erklärung mechanistischer Marktmodelle und der Rechtfertigung des Liberalkapitalismus in der Politik. Die altchinesische "Große Lehre", wonach Ordnung und Gedeihen in Haus, Land und Reich von der Erforschung des Wesens der Dinge abhängen, hat unter den MainstreamÖkonomen und Modellschreinern kaum Anhänger.
Angesichts dieser Situation lohnt es sich, die Frage nach dem Gemeinwohl in Verbindung mit der Gerechtigkeit aufs neue zu stellen und zu überdenken. Immerhin handelt es sich ja hier um einen Zentralbegriff nicht nur der Nationalökonomie, sondern jeder Gesellschaftslehre und vor allem natürlich der Politik. Denn was sollte wohlverstandene Politik anderes sein als die "Sorge um Gemeinwohl und Gerechtigkeit"? Mit so vielen Termini der verschiedensten Wissenschaften verdankt auch die "Ökonomie" ihren Namen griechischem Usprung. Er besteht aus zwei Wortstäm-
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men, "nomos" und "oikos". "Nomos" bedeutet Norm, Sitte, Gesetz, Recht, Anordnung, Dekret, Urkunde, Dokument, Testament, Disposition, Einrichtung, Verwaltung. "Oikos" bezeichnet zunächst wohl das Haus, aber auch die gestaltete und vertraute Umgebung, die "Heimat", das Land, die Stadt, ja sogar den ganzen wohlgeordneten Kosmos von Welt und Himmel. Die "Oikonomia" ist darum nicht nur die Lehre von der guten Verwaltung des Hauses, sondern sie bezeichnet auch die tätige Sorge der Vollbürger (der "Polites") um das Wohl von Stadt und Land, und schließlich trägt sogar Zeus den Beinmanen eines "oikonomos", dem die Zuständigkeit für die Himmelsökonomie und den ganzen Kosmos zufällt (vgl. Wagner, 59 ff.). Die Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos gehört zum Selbstverständnis der Griechen, die im Kleinen wie im Großen den Willen der Götter zu erfüllen trachten: Der Wille der Götter geschehe "wie im Himmel so auf Erden". Alles andere, Verweigerung und Auflehnung, führt zu Störung, Mißernte, Krise, Niederlage, Unheil und Untergang. Gutes, tugendhaftes Leben ist gebunden an die Erfüllung des göttlichen Willens (vgl. W. F. Otto, 25 u. ö.). Er ist das Gesetz, wer es bricht, gleichgültig ob ein Einzelner, eine Stadt, ein Land, den strafen die Götter und verfolgen die Erinnyen. Für de_n Frevel des Paris büßen sein Geschlecht, ja das ganze Volk von Troja mit der Zerstörung ihrer Stadt und ihrem Untergang. Vom Segen der Götter hängt das Wohlergehen der Gesellschaft ab, daher sind alle Bürger zum tugendhaften, gotterfüllten Leben verpflichtet. Ihr Eigenwohl, das gute Leben, können sie nicht außerhalb des Gemeinwohls der Polis finden. Daher hat das Gemeinwohl den Vorrang vor dem Einzelwohl, die Gemeinschaft vor dem Einzelnen, so wie "das Ganze vor dem Teil" (Aristoteles: Politik I, 1, § 11). Individuelle Freiheit hat, abgesehen von ein paar Sophisten, für die Griechen keine Bedeutung, auch nicht in der Spätzeit, in der die Götter entschwinden. Mit dem Verblassen der Götter tritt an die Stelle ihres Willens die göttliche Weltvernunft (nous, Iogos), die alles Sein durchwaltet und mit der sich zu erfüllen die Aufgabe (Bestimmung) des Menschen (Streben nach Weisheit) und der Polis (Stadt, Stadt, Gemeinschaft, Gesellschaft) ist. Nur wenn die Weisheit und die mit ihr Erfüllten regieren, können Übel (Ungerechtigkeit, Streit, Spaltung, Krieg) ferngehalten und Wohlergehen (Friede, Sicherheit, gerechte Ordnung) gesichert werden (Platon: Staat 473 d). Die Verwandtschaft der griechischen Lebens- und Gesellschaftsanschauung mit jener des späteren Christentums macht einsichtig, weshalb gerade unter den Griechen die Missionstätigkeit der Apostel zahlreiche christliche Gemeinden stiften konnte, aus denen dann wieder bedeutende Kirchenväter hervorgingen. Ganz ähnlich wie den Griechen erging es den Römern, die im Christentum ihre Idee vom "Heiligen Reich" gereinigt und erhöht wiederfanden und die christliche Religion zur Staatsreligion erhoben. In der ägyptischen und der von ihr stark beeinflußten, für Europa so maßgebend gewordenen jüdischen Tradition lassen sich gleichartige Vorstellungen nachweisen. Auch in Ägypten herrschte die Überzeugung vor, "daß Gott der Welt eine Ordnung gegeben hat- in Ägypten Ma cat geheißen - , die sowohl das umfaßt, was wir Naturordnung nennen - wie den Lauf der Gestirne, den Wechsel der Jahreszei-
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ten, Pflanzen- und Tierleben, Geburt und Tod - wie auch die Sozialordnung der Menschen, so die Beziehung der Geschlechter, die vielfältige soziale Ordnung eines Volkes, die Scheidung der Völker nach Hautfarbe und Sprache, schließlich den Tempelkult und selbst die Beamtenhierarchie, die Steuerregegelung und sogar die Tischsitten" (Brunner, 13). Macat bedeutet Ordnung, Wahrheit, Recht, Gesittung, die richtige Beziehung in Familie, Beruf und zum König. Die Macat wurde der Welt bei der Schöpfung als ordo mundi mitgegeben. Sie "verbürgt Dauer und Bestand sowohl der Welt, dem Staat und der Gesellschaft wie auch jedem einzelnen Ägypter" (Brunner, 14). Sie kann erfüllt oder mißachtet werden, doch ist es "unvernünftig zu sündigen, weil Gott es haßt und bestraft, und zwar in dieser und in jener Welt" (ebenda). Daher ist die Erkenntnis der Macat und die Erfüllung ihrer Forderungen dem Menschen als Aufgabe gestellt. Jeder Verstoß gegen die Macat ist ein Sakrileg, welches die Gottheit, die die Regeln gibt, schädigt. Wer die Macat verletzt unterliegt Sanktionen, die bis zur Verweigerung eines Grabes und des Erbes für die Nachkommen oder gar zu Löschung aus dem Gedächtnis führen können, von Gerichtsstrafen ganz abgesehen. Auch das Los des Volkes ist von der Erfüllung der Macat abhängig (siehe Spruchsammlung des Anch-Scheschonki, Zeile a - k, abgedruckt bei Brunner, 266 f.). Im Judentum wirken die ägyptischen Vorstellungen vom Gemeinwohl weiter, aber auch jene der Kanaanäer. Ganz eigenständig ist jedoch die Vorstellung, daß das Verhältnis des Volkes zu Gott durch einen förmlichen Vertrag bestimmt wird. Durch diesen Vertrag, den " Bundesschluß" mit Jahwe, wird das jüdische zum auserwählten Volk Gottes. Den ersten Bund (von jenem mit Noah hier abgesehen) schließt Gott mit Abraham, dessen unbedingten Gehorsam er prüft (Aufforderung zur Opferung des eigenen Sohnes Isaak) und den er, nach bestandener Probe, zum "Stammvater vieler Völker macht". "In der Folgezeit wurde Abraham zu einer Gestalt überragender Bedeutung - nämlich als derjenige, der den Ruf Gottes empfangen und mit totaler Unterwerfung erwidert hatte ... Daher interpretiert man sein ganzes Leben als Verwirklichung der Prinzipien, nach denen Gottes Volk leben sollte: Glaube und Gehorsam" (Grant, 47). Der zweite Bund wird auf dem Berg Sinai geschlossen. Dort gibt Jahwe seinem Volk sein Gesetz, in steinerne Tafeln eingeschrieben. Für die Treue zum Gesetz verspricht Jahwe "Milch und Honig" im Land der Verheißung, reiche Frucht und Segen für das ganze Volk. Grausam sind die Strafen, die Jahwe über sein Volk verhängt, das immer wieder die Treue bricht: Es erlebt Niederlage, Gefangenschaft, Zerstreuung in alle Welt, Schleifung seiner Tempel und Hauptstadt und es wird selbst vom Brandopfer ("Holocaust") nicht verschont. Aber noch in der Diaspora bleibt das jüdische Volk bestehen: Jahrtausende hat es keinen eigenen Staat, kein eigenes Territorium, keine eigene Sprache (hebräisch wird längst nicht von allen Juden gesprochen). Es läßt sich nicht durch rassische Merkmale bestimmen, etwa Hautfarbe und Schädelformen. Und doch bilden die Juden ein einziges Volk, ja sie sind das Volk katexochen. Sie zeigen uns, was ein Volk zum Volk macht: das Gesetz Gottes. Durch die Verbindung mit Gott, den unauflöslichen, auch von Gott trotz aller Treubrüche nicht kündbaren Bund,
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werden die Juden "zu einem Königreich von Priestern und einem heiligen Volk" (Ex 19, 6). Zu einem Volk, das noch in seinen Brandopfern die Größe Gottes bezeugen sollte. Es steht ganz unter dem göttlichen Gesetz, "die Bundestreue (hesed) ... gilt als die oberste, unverzichtbare Tugend" (Grant, 69. In säkularisierter Form wird die Vertragstreue - pacta sunt servanda - zu einem ethischen Hauptund Gestaltungsprinzip des gesamten internationalen und bürgerlich-privaten Lebens). Jeder Angehörige des Volkes ist verpflichtet, die Zehn Gebote zu erfüllen, nämlich die rechte Gottesverehrung, die Ehrung von Vater und Mutter, den Verzicht auf Mord, Ehebruch, Diebstahl, falsches Zeugnis und auf das Begehren nach Haus, Hof und Gut des Nächsten. Die Einheit und das Wohl ("Gemeinwohl") des jüdischen Volkes beruhen auf dem unbedingten Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, auf der unverbrüchlichen Treue Israels zum Bund mit Gott und aufder Erfüllung der von Gott allen gemeinschaftlich gegebenen Gesetze (Gebote und Verbote). Durch Jahwes Weisheit regieren die Könige, herrschen die Fürsten und verordnen die Mächtigen Gerechtigkeit (vgl. Spr. 8, 15 - 16). Der von den Juden auf ihrem Leidensweg sehnsüchtig erwartete Messias, der ihnen das end- und letztgültige Recht (hebr. "mispat ": Recht, Gerechtigkeit, Gesetz, Gericht, " the God-given norm to ensure a weil ordered society". P. Uys lt. Ratzinger, 5) und Heil bringen und sie in das Land der Verheißung führen soll, kommt mit Christus in die Welt. Aber die Juden, denen gegenüber er sich als Gottessohn und Heiland ausweist, vermögen ihn nicht als Messias anzuerkennen, als Gotteslästerer wird er verfolgt, verurteilt und getötet. Doch mit Geburt, Leben, Werk und Tod Christi wird ein neuer und endgültigen Gottesbund gestiftet, in dem alle Völker versammelt werden. Mit der Stiftung des Neuen Bundes nimmt die Geschichte Endzeitcharakter an, sie wird zur Heilsgeschichte. Das letzte Ziel der Welt, der Geschichte, der Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen ist von nun an auf die Vollendung des mit Christus auf Erden angekommenen Reiches Gottes gerichtet, "das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens", wie es in der Präfation zum Christkönigsfest heißt. Es sind dies die "Güter" oder "Werte ", durch die das Gemeinwohl, das bonum commune, seine letzte inhaltliche Bestimmung erhält. Nach christlichem Verständnis hat die gesamte kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Tätigkeit bis zum Jüngsten Tag auf die Vollendung des Reiches Gottes gerichtet zu werden ("ad legis evangelicae normam perficiendo". Pius XI.). Die "Evangelisierung" der Welt, die Herausbildung des göttlichen Reiches auf Erden, ist der Weg, auf dem das Heil oder das summum bonum erreicht werden kann. In diesem Kontext bedeutet "Evangelisierung", die so "weite und schwierige Welt der Politik, des Sozialen und der Wirtschaft, aber auch der Kultur; der Wissenschaften und Künste, des internationalen Lebens und der Massenmedien, ebenso gewisse Wirklichkeiten, die der Evangelisierung offenstehen, wie Liebe, Familie, Kinder und Jugenderziehung, Berufsarbeit, Leiden usw. . . ." so umund auszugestalten, daß sie, "ohne etwas von ihrer menschlichen Tragweite zu verlieren und zu opfern, ihre oft verkannte transzendente Dimension offenbaren und
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in den Dienst der der Erbauung des Reiches Gottes treten und damit in den Dienst des Heils in Jesus Christus" (Paul VI., n. 70). Das Christentum übernimmt die jüdischen Vorstellungen vom Gemeinwohl, überhöht die Bundes- und Gesetzestreue jedoch durch das Liebesgebot, auf dessen Erfüllung alles Gemeinschaftsleben in einem letzten Hinblick angewiesen ist. Gott selbst ist die Liebe, aus seiner Liebe, Gnade und Güte gehen die Schöpfung der Welt und der Mensch als "Ebenbild" hervor. Als göttliches Ebenbild ist auch der Mensch Liebe: Er existiert nur in, aus und durch Liebe. Darum sind auch alle menschlichen Schöpfungen, die Kultur, die Religion, die Philosophie, die Wissenschaft, die Kunst, Tanz, Sprache, Sittlichkeit, Tradition, Recht, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Familie, Gemeinde, Heimat, Korporationen und gesellige Vereine, Schöpfungen der göttlichen Liebe, sie entstehen aus der Begeisterung für das Gute, Schöne, Wahre und Rechte, die Gott in seiner unendlichen Güte in seine Schöpfung hineingelegt und "in die Herzen der Menschen eingeschrieben" hat. Kultur entsteht nicht aus der Notdurft (A. Gehlen), aus dem Bösen, aus Unterdrückung und Ausbeutung (K. Marx), aus Eroberungen und Überlagerungen kriegerischer Reitervölker über friedliche Pflanzbauern (A. Rüstow, Bd. 1: Usprung der Herrschaft), nicht aus der Verdrängung oder Sublimierung von Trieben und Libido (S. Freud), sondern aus der Gottesliebe und der Liebe zum Nächsten, die wiederum in der Gottesliebe begründet ist. Von dieser Sicht aus wird nun auch der Satz verständlich, der in einem Brief des Kaisers Theodosius II. (408 - 450 n. Chr.) an Cyrillus von Alexandrien und die Metropoliten enthalten ist und auf den Leo XIII., der vielgefeierte Begründer der Katholischen Soziallehre, sich beruft: "Von der Religion, durch die Gott verehrt wird, hängt das Wohl des Staates ab". (lmmortale Dei, n. 31). Dieser Satz bildet die zentrale Mitte aller Überlegungen kirchlicher Kreise zur Frage des Gemeinwohls und der sozialgerechten Ordnung. Aus ihm folgt in logischer Konsequenz: Schwindet die Religion, so sinkt nicht nur der "Wohl-Stand" im Staate und in der Gesellschaft, es zerreißen nicht nur die Bande der Familie und der Solidarität zwischen den Bürgern, sondern, viel schlimmer, es bildet sich heraus, was jüngst "die Kultur des Todes" genannt wurde (Joh. Paul li.: Evangelium vitae, n. 12). Sie reicht von der Zerstörung der Umwelt, von der Zubetonierung der Landschaft, von lebensfeindlichen Wolkenkratzern und Citywüsten, von künstlichen "Erlebniswelten" und Weltraumrüstung bis hin zur Flucht in den Drogenkonsum und den legalisierten Massenmord. Was sind denn auch "Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden" (Augustinus: Oe civitate dei, IV, 4)? Das der Kultur des Todes und der Räuberbanden entsprechende Wirtschaftssystem, ist das heute vorherrschende liberalkapitalistische System der Exploitation von Mensch und Natur. 0 . v. Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Soziallehre spricht ausdrücklich von der "Raubtierfreiheit" im liberalen Staat (98). Johannes Paul II. reiht das liberalkapitalistische System ein unter die " Strukturen der Sünde", denn seine Antriebsmotive sind nicht die Bedürfnisse der Menschen und der sozialen Gruppen nach Voll-Endung des Lebens, sondern "die Gier nach Profit und das Verlangen nach Macht" (Enzyklika Sollicitudo rei socialis, n. 36 f.). Wal-
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ter Heinrich, der so hochgeschätzte Lehrer und Habilitationsvater des Autors, bezeichnete schon 1949 dieses System als "kainitische Wirtschaft", die "zur Ware hat Leiber und Seelen der Menschen" (Apk 18, 13) (Heinrich 1949/50, S 200 ff.). Eines ihrer Kennzeichen ist das Trachten nach gegenseitiger Existenzvernichtung im Krieg um Marktanteile, im sog. "Wettbewerb". Gemeinwohlgerechtigkeit, die "jedem das Seine", d. h. das für seinen Dienst an der Gemeinschaft Notwendige, seiner Verantwortung und seinem Stand Entsprechende, zuteilt, ist das oberste Ordnungsprinzip jeder gesellschaftlichen und politischen Institution, vor allem natürlich des Staates. Der Staat ist die oberste Instanz, die durch ihre Autorität die Gerechtigkeit zu verwirklichen hat. Von der staatlichen Hoheit sagt Pius XI. (Enzyklika "Quadragesimo anno, n. 109), daß sie "unparteiisch und allem Interessenstreit entrückt, einzig auf das gemeine Wohl und die Gerechtigkeit bedacht, als oberste Schlichtenn in königlicher Würde thronen sollte", denn nur dann könne sie ihre Funktion, das Gemeinwohl zu realisieren, indem sie alle gesellschaftlichen Kräfte auf dieses hinordne und in ihren Dienst stelle, auch erfüllen. Gerechtigkeit ist ja niemals das automatische Ergebnis eines Interessengerangels von "countervailing powers" , und auch nicht das Ergebnis eines ,,herrschaftsfreien Diskurses" (J. Habermas) oder aus gemeinschaftlichen Ansichten von Menschen über das, was "fair" ist (J. Rawls), herleitbar. Weder entstehen Recht und Staat aus dem "Kampf aller gegen alle" (Th. Hobbes), noch sind sie Produktionen, durch die der Mensch die Mängel seiner Existenz in Chancen seiner Daseinsfristung umarbeitet (A. Gehlen). Ebensowenig kann Gerechtigkeit aus irgendwelchen "Systemen" und ihren ,,rules" (Regeln), auf quasi mechanische Weise als Resultat und unter Auflösung der Moral in "Systemqualität" entstehen, wie bei Luhmann, Homann oder Buchanan, über die W. Schmitz auf diesem Symposium berichtet. Es sind dies alles die hilflosen Versuche und Konstruktionen einer Gesellschaftstheorie, Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Ordnung zu definieren, ohne auf Gott, die göttliche Autorität und das von Gott offenbarte und in die Schöpfung und in die Herzen der Menschen eingeschriebene "Naturrecht" zurückzugreifen. Solche Versuche werden schon von Johannes XXIII. mit eindeutigen Worten gegeißelt: "Es gibt in unserer Zeit wohl keine größere Torheit als den Versuch, in dieser Welt eine feste und brauchbare Ordnung aufzubauen ohne das Fundament, nämlich ohne Gott" (Mater et magistra, n. 217). Dieser willentliche Verzicht auf die "transzendente Dimension", mithin auf "das Heilige" (R. Otto) und Göttliche in Kultur, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, schafft ein Vakuum, in das alle möglichen Ideologien als Ersatz- und Pseudoreligionen einfließen (vgl. Tenbruck 299). Sie alle sind Häresien, die auf der Leugung der Erbsünde und der Erlösung durch Christus beruhen (Donoso-Cortes, 302). Wie jeder politische Gnostizismus, erwarten sie das Heil durch Selbsterlösung des Menschen (Voegelin 235 ff.). Mit ihnen, diesen Ideologien, beginnt "das Drama des atheistischen Humanismus" (de Lubac, 10, insbes. 44 f.). Sie alle gehören zur "Kultur des Todes", sie sind Symptome der "Krankheit zum Tode" (Kirkegaard), die vor allem die westliche Zivilisation und die von ihr infizierten Teile der Welt erlaßt hat. Hellsichtig notiert F. M. Dostojew-
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Friedrich Romig
skij 1871 in sein Tagebuch: "Europa hat Christus verloren, und deshalb stirbt es, einzig deshalb". Wie das Reich Gottes, so sind auch Gerechtigkeit, Autorität und Ordnung nicht von dieser Welt. Sie sind nicht menschengemacht, wir können sie nicht erfinden, sondern nur vorfinden und uns in tugendhaftem Leben bemühen, sie in uns aufleuchten zu lassen und sie zu verwirklichen, so unvollkommen dies auch gelingen mag. Sie sind "Licht vom Himmel" (v. Nell-Breuning). Es sind Werte, "die der Wahrheit des menschlichen Seins entspringen ... : Kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat können sie je hervorbringen, verändern oder zerstören, sondern sie können und müssen sie anerkennen, achten und fördern" (Evangelium vitae, n. 71). Alle Human- und Naturwissenschaften können immer nur "Sachgesetzlichkeiten" erhellen, normenbegründend (im ethischen Sinne) können sie nicht wirken (vgl. Gaudium et spes, n. 36). Politik ist Sorge um das Gemeinwohl. Das Gemeinwohl ist ein Begriff der Ethik, Ehtik ist das Corpus sittlicher Werte und Tugenden, die wir im sozialen Leben anstreben. Nach Auschwitz ist Politik nicht mehr möglich ohne Ethik, Ethik aber nicht ohne Religion (vgl. Rohrmoser, S 198 f.), denn "die sittliche Ordnung hat nur in Gott Bestand. Wird sie von Gott gelöst, löst sie sich selbst auf' (Johannes XXIII., n. 208). Auflösung bedeutet Absterben, Tod. Das Gemeinwohl aber gehört zu den Werten der "Kultur des Lebens". Daher werden gute Staatsmänner und Bürger im Verein mit der communio, die der Herr gestiftet hat, erhält, lenkt und leitet, an aller erster Stelle Bedingungen zu schaffen versuchen, die es der Religion erlauben, das gesellschaftliche Leben bis in die fernsten Winkel zu durchdringen, damit auch diese noch durch das "Licht des Himmels" erhellt und geheiligt werden. Nichts nämlichfestigt die Gesellschaft undfördert den" Volkswohlstand" mehr als die Religion, die alle Glieder der Gemeinschaft mit dem einigenden Bande der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens umschließt. Durch sie entsteht aus dem corpus mysticum der Wertegemeinschaft jenes corpus morale et politicum von Gesellschaft und Staat (vgl. Kantorowicz, 496), in dem wahre Kultur und sittlicher Fortschritt, Inhalt des bonum commune, gedeihen können.
Literatur Brunner, E.: Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben. Zürich-München 1988. - Danasa-Cortes, J.: Schreiben an Seine Eminenz, Herrn Kardinal Fornari, über das Wesen und den Ursprung der schwersten Irrtümer unserer Zeit, vom 19. Juni 1852. Abgedruckt in: Donoso-Cortes, J.: Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus, und andere Schriften aus den Jahren 1851 bis 1853. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von G. Maschke, Weinheim 1989.- Gehlen, A.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt am Main 1940. - Grant, M.: Das Heilige Land (Titel der Originalausgabe: The History of Ancient Israel. Ins Deutsche übersetzt von J. Rehork). Bindlach 1990. Habennas J., Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt am Main 1981. -
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v. Hayek, F. A.: Die Straße zur Knechtschaft (Titel der Originalausgabe: The Road to Serfdom). Erlenbach 1945.- derselbe: Wie sozial kann die Gerechtigkeit sein? Über die Konsequenzen einer Utopie, die im totalen Staat.zu enden vermag, in: DIE PRESSE. Wien 30. April 1965, S 5.- derselbe: Die Verfassung der Freiheit (Titel der Originalausgabe: The Constitution of Liberty). 3. Aufl. Tübingen 1991. -Heinrich, W.: Adamitische und kainitische Wirtschaft. Über die letzten Fragen im Wirtschaftsgeschehen, in: gloria dei. Zeitschrift für Theologie und Geistesleben. 4. Jg. H . 3, 1949/50, S 200 ff. Wiederabgedruckt in: J. H. PiehIer (Hrsg.): Die Ganzheit von Wirtschaft und Gesellschaft. Ausgewählte Schriften von Walter Heinrich. Berlin 1977, S 163 - 181).- Johannes XXlll.: Enzyklika über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Lichte der christlichen Lehre "Materet Magistra". Rom, 15. Mai 1961.- Johannes Paul /1.: Enzyklika über die soziale Sorge der Kirche "Sollicitudo rei socialis". Rom, 30. Dez. 1987. - Johannes Paul 1/.: Enzyklika über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens "Evangelium vitae". Rom, 25. Dez. 1995.- Kantorowicz, E.: Die zwei Körper des Königs (Titel des Originals: The King's Two Bodies. Übers. von W. Theimer). 2. Aufl. München 1994. - Kelsen, H.: Was ist Gerechtigkeit? Wien 1953.- Kierkegaard, S. A.: Die Krankheit zum Tode in: Ges. Werke. Düsseldorf 1950 ff. - Lubac, Henri de: Über Gott hinaus. Tragödie des atheistischen Humanismus (Titel der Originalausgabe: Le Drame de l'Humanisme athee. Übers. von E. Steinacker). Einsiedeln 1984. - Nell-Breuning: Licht vom Himmel, in: Schasching J.: zeitgerecht - zeitbedingt. Nell-Breuning und die Sozialenzyklika Quadragesimo anno nach dem Vatikanischen Geheimarchiv (Anhang). Bornheim 1994.- Otto, R. Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 1987 (Nachdruck. I. Aufl. 1917). - Otto, W. F.: Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion. Franfurt am Main 1975 (=Neudruck in Scheidewege, Beiheft 1).- Paul VI. : Apostolisches Schreiben über die Evangelisierung in der Welt von heute "Evangelii nuntiandi". Rom, 6. Dez. 1975. - Pius XI.: Enzyklika über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und Vollendung nach dem Heilsplan der Frohbotschaft "Quadragesimo anno". Rom, 15. Mai 1931.- Popper, K. R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (Titel der Originalausgabe: The Open Society and its Enemies. Übers. v. P. K. Feyerabend). 2 Bde. Bern 1957 I 58. Ratzinger; J.: Glaube und Sozialverantwortung.Vortrag anläßlich der Verleihung des "Großen Leopold Kunschak-Preises", in: Kathpress. Sonderpublikation Nr. 6/1991, Wien 1991. Rawls, J.: Gerechtigkeit als Fairness. Freiburg 1977. - Rohrmoser, G.: Religion und Politik in der Krise der Moderne. Graz 1989. - Romig, F. Artikel "Gemeinwohl", "Gerechtigkeit" in: Schrenck-Notzing, C. v. (Hrsg.): Lexikon des Konservatismus. Graz 1996. - Rüstow, A.: Ortsbestimmung der Gegenwart. 3 Bde. Erlenbach-Zürich 1950- 57.- Smith, A.: Natur und Ursachen des Volkswohlstandes (Titel des Originals: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations". Übers. von W. Loewenthal). Berlin 1879. - Tenbruck, F. H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen. Graz 1984. - Vatikanum 1/: Die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes". Rom 1965.- Voegelin, E.: Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung (Titel des Originals: New Science of Politics. Übers. I. Gattenhof). 4. Aufl. Freiburg 1991.- Wagner; F. Das Bild der friihen Ökonomik. Salzburg 1969.- Weiler; R.: Einführung in die katholische Soziallehre. Ein systematischer Abriß. Graz 1991.
Gemeinwohl und Gerechtigkeit in der Entwicklung Auf der Suche nach einer integralen Lehre vom Menschen Von Hideshi Yamada
Vorbemerkung
Es hat eine Zeit gegeben, in der man unter dem Gemeinwohl hauptsächlich nur das des Staates verstanden hat. Diese Tendenz besteht heute noch nicht umsonst, vor allem in Anbetracht der schwerwiegenden, sogar zunehmenden Stelle und Funktionen des Staates in der Begründung des Gemeinwohls 1 • Andererseits ist es doch eine feste Tatsache, daß sich der Mensch immer in seiner Geschichte in verschiedenen Gesellschaften entfaltet, ein eigenes Gemeinwohl verwirklichend und daran teilhabend. Mit anderen Worten, den unterschiedlichen Menschenbedürfnissen haben die zweckmäßigen Gesellschaften und das Gemeinwohl unterschiedlicher Art zu entsprechen. Das bezieht sich auf den sogenannten Gemeinwohlpluralismus. Es wird sich wohl nicht bestreiten lassen, daß die Idee des Gemeinwohls in der katholischen Soziallehre bzw. in der traditionellen Naturrechtsethik gut bewahrt worden ist. Andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, daß sie als Vertreter des Naturrechts manchmal zu pauschal und statisch eingestellt ist. Diese zweite Frage ist uns Rechtsphilosophen als Geschichtlichkeit des Rechtes und des Naturrechts geläufig. Nach beiden Seiten ist unser großer Sozialethiker Johannes Messner, zu dessen Gedanken hier in Brixen das vierte internationale Symposium stattfindet, soweit ich sehe, einen Schritt weitergegangen. Es scheint mir drittens angezeigt, auf die Fruchtbarkeit des Messnersehen Naturrechtsdenkens hinzuweisen, zumal wenn nach einer integralen Menschenlehre gestrebt wird. In diesem Zusammenhang möchte ich nachher einen japanischen Sokratiker zu Worte kommen lassen.
I Herbert Schambeck, Das Gemeinwohl und das Verfassungsrecht in der pluralistischen Demokratie, in: Wolfgang Schmitz u. Akira Mizunami (Hrsg.), Das Gemeinwohl in der sich wandelnden Welt, Wien 1998.
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I. Gemeinwohl und Gesellschaft In Standardwerken seitens der katholischen Soziallehre wurde laut Messners Werk2 vom Gemeinwohl als Staatszweck gesprochen. Bei V. Cathrein und Franz Schindler fehlt das Stichwort "Gemeinwohl", aber dort liest man z. B. im Kapitel ,,Zweck und Aufgaben des Staates" genau das, was das Gemeinwohl betrifft. Nun beginnen wir uns mit dem Gemeinwohl als Staatszweck zu befassen. In Anlehnung an Aristoteles, jedoch mit vorsichtiger Umschreibung gibt uns Messner die Definition des Staates. "Der Staat ist die mit höchster Herrschaftsgewalt ausgestattete Gemeinschaft eines auf bestimmtem Gebiete seßhaften Volkes zur allseitigen Begründung seines Gemeinwohls. " 3 Die Definition beinhaltet vier Hauptbestandteile, und nicht drei wie üblich. Das ist ein Charakter der Naturrechtsethik. Davon ist jetzt eine Weile die Rede. Man nennt als drei Elemente des Staates Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, oft mit Souveränität bezeichnet. Diese drei erkennen wir auch an. Sie genügen uns jedoch nicht. Bei aller Schwierigkeit festzustellen, was hic et nunc als Staatszweck gelten soll, ist und bleibt der Staatszweck, wenn nicht der Krönungs-, doch ein wesentlicher Bestandteil. Denn ohne ihn könnte der Staat weder zu seiner Wirkung kommen noch könnte er sein eigenes Sein bewahren. "Kraft seiner Natur ist der Mensch auf die gesellschaftliche Kooperation zur Erfüllung seiner Lebens- und Kulturaufgaben angewiesen: nur durch sie wird er zum Vollmenschen und Kulturwesen. Nur die Großgruppe enthält quantitativ durch die Zahl ihrer Glieder und qualitativ durch die Verschiedenheit ihrer Fähigkeiten alle Möglichkeiten zu einer so vollständigen gegenseitigen Ergänzung ihrer Glieder und damit zu einer so umfassenden Integration der Menschennatur, daß die allseitige Erfüllung der dem Menschen mit den existentiellen Zwecken gestellten Lebensaufgaben gesichert ist. "4 Aristoteles war in seiner Politik der Ansicht, daß die Polis nicht um bloßen Zusammenlebens willensondern um des guten Lebens der Politai willen da ist. 5 Der Staat ist weder in Austausch, Militärbündnis u. dgl. aufzulösen noch dadurch zu ersetzen. Er ist mehr als andere Gesellschaften. Das hängt mit der Autorität bzw. Souveränität zusammen. Mit Autorität sieht sich der Staat, seine besondere Aufgabe zu erfüllen beauftragt. Deswegen nennt man ihn seit jeher "perfecta comrnunitas" und die "Gesamtgesellschaft". Messner drückt das so aus: ,,Es ist und wird immer die Funktion des Staates sein, durch Begründung, Förderung und Regelung der allseitigen gesellschaftlichen Kooperation die Voraussetzungen für die Vollentfaltung der Menschennatur zu schaffen." 6 Johannes Messner, Das Gemeinwohl, 2. Auflage 1968, S. 248 ff. J. Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 7. Auf., 1984, (künft. abgek. zit.: NR), S. 727. 4 NR 725. s Vgl. Aristoteles, Politik, Buch III, Kap. 9. 2
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Nun gelangen wir zur nächsten Frage: Warum wird der Mensch getrieben, eine Gemeinschaft zu bilden, um darin sein Leben zu führen? Was ist der Seinsgrund der Gesellschaft? Messner beginnt seine Sozialphilosophie mit dem Satz: "Der Mensch ist von Natur ebensosehr ein gesellschaftliches wie ein Einzelwesen."7 Der Mensch ist sowohl körperlich als auch geistig zu seiner Entwicklung von der Gemeinschaft abhängig. Die Tatsache ist, daß er in völligem Unterschied zu jedem Tier angeborenermaßen seine wesenhaften Lebenszwecke zu erfüllen, unfahig ist. Ebenso steht aber auch die Tatsache fest, daß er "alles für seine Vollentfaltung Wesentliche zunächst aus der gesellschaftlichen Tradition" empfängt, weshalb für ihn "eine ganz andere Ausgangslage seiner Entwicklung im Gegensatz zu der des Tieres" entstehe. 8 Tradition ist "die grundlegende gesellschaftliche Lebensform".9 Wie gerade angedeutet, kann der Mensch nur durch Kommunikation und Kooperation Vollperson werden und seine Lebensaufgabe erfüllen. "Für die Person ist Kommunikation konstitutiv wie Kooperation für die Kultur und beides in unlöslicher Wechselwirkung.'" 0 Der Mensch ist von Natur aus auf Ergänzung und daher auf Gesellschaftlichkeit hin angelegt. Wegen seiner ungeteilten Einheit aus Geist und Körper ist die Menschennatur sowohl Sozial- als auch Individualnatur. Der Geist des Menschen (intellectus hominis) im Unterschied zu dem Gottes und der Engel unausweichlich an die Materie gebunden, ist also animaler, den materiellen Begrenzungen unterworfen. Deshalb besteht die Notwendigkeit der Ergänzung. Aber gerade deswegen erhält die Natur des Menschen die Besonderheit der individuellen Anlage und somit die Fähigkeit der Ergänzung. 11 "Vermöge dieser Ungleichheit der Kräfte ihrer individuellen Natur und der Gleichheit der ihrer wesenhaften Natur eigenen Zwecke sind die Menschen daraufhin angelegt, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu vereinigen, um durch Kooperation und Kommunikation zu der an diese Zwecke gebundenen vollmenschlichen Existenz zu gelangen." 12 Für Näheres in diesem Zusammenhang darf ich auf Messners Text verweisen. 13 Die Gesellschaft ist nach J. Messner "das Verbundensein von Menschen zu gegenseitigen Förderung in der Erreichung des durch die existentiellen Zwecke geforderten vollmenschlichen Seins". 14 Unsere Erfahrung lehrt, daß man viel mehr 6
J. Messner, NR 726.
NR 149. s J. Messner, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, 1954, (künft. abgek. zit.: KE), S. 346. 9 KE 347. 1o NR. 150. u NR 152 ff. 12 NR 153. 13 NR Kap. 15 u. 16. 14 NR 156. 7
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leisten kann durch Kooperation als aus sich allein. Auf Grund der Ergänzungsbedürftigkeit und der Ergänzungsfähigkeit des individuellen Menschen gelangt die Gesellschaft durch Kooperation und Kornmunikation zur Existenz. Durch gesellschaftliche Kooperation wird ja etwas Neues hervorgebracht. Die Gesellschaft ist eine überindividuelle, dauerhafte Einheit. Aber welcher Art? Sie ist keine substantia, sondern eine accidentia, genauer gesagt, ein ontologisches Akzidens. Die Gesellschaft als Einheit stellt eine Ordnungseinheit dar; eine Einheit, die auf der causa formalis beruht. Diese Formursache, Einheitsprinzip kann teils kausaler, teils finaler Art sein. "Alle gesellschaftlichen Einheiten beruhen auf einer Verbindung von Wirkursachen und Zweckursachen. Die gesellschaftliche Natur der Menschen drängt ihn zum Gesellschaftsleben, wird damit Wirkursache; seine Verhaltensweisen und Tätigkeiten sind jedoch willensbestirnrnt, durch den Willen wird der Einheitszweck der Gesellschaft wirksam und dieser damit Zweckursache."15 Die Gesellschaft ist auf einer Seite eine geistige Einheit. d. h. die wesentlichsten Einheitsbande sind geistiger Art. Andererseits bedarf die Gesellschaft äußerer Bande. Denn die Menschennatur besteht, wie schon oben bemerkt, in der Einheit von Geist und Körper. Daher wird die Notwendigkeit der Organisation klar. "Äußere Bande, Einrichtungen, Institutionen, sind unerläßlich für ihre (der Gesellschaft) Einheit: Das innere Formprinzip der Gesellschaft muß in seiner Wirksamkeit durch äußere einigende Bindungen unterstützt werden." 16 Natürlich ist die Erfüllung der in der Natur des Menschen begründeten, übergesellschaftlichen Zwecke "auch gesellschaftlich bedingt, da der Mensch für die Vollentfaltung aller seiner Anlagen der gesellschaftlichen Verbundenheit bedarf." 17 In dieser Hinsicht gilt der Satz "das Gesellschaftsganze ist vor dem Einzelmenschen". Andererseits muß man aber in Betracht nehmen, daß der Einzelmensch als Person ein selbständiges Eigensein mit übergesellschaftlichen Zwecken besitzt. Wahrlich muß der Mensch "der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen" 18 sein. In dem Sinne gilt der Satz "der Einzelmensch ist vor dem Gesellschaftsganzen".
15 NR 176. Zu dem Begriff der existentiellen Zwecke ausführlich vgl. Rudolf Weiler, die "existentiellen Zwecke" im Verständnis von Johannes Messner, in V. Zsifkovits u. R.Weiler (Hrsg.), Erfahrungsbezogene Ethik, Festschrift für Johannes Messner zum 90. Geburstag, Berlin 1981. t6 NR 177. Über die Bedeutung der Institutionen und der institutionellen Ethik, Wolfgang Schmitz, lnstitutional ethics and the common good, in: Das Gemeinwohl in der sich wandelnden Welt, 1998. 17 J. Messner, NR 179. 18 Materet magistra, Nr. 219.
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II. Pluralismus des Gemeinwohls und der Gesellschaft Die Behandlung der Gesellschaft als Organismus im analogen Sinne läßt uns ersehen, wie pluralistisch und mehrdimensional die Gesellschaft und ihr Gemeinwohl sind. Es liegt eine mehr als bildliche, nämlich innere, wesenhafte Ähnlichkeit zwischen dem Organismus im biologischen Sinne und dem der Gesellschaft. Vernünftige Wesen sind die Träger - sei es Gesellschaftsglieder, sei es Gesellschaftsorgane - der Zweckursächlichkeit der Gesellschaft. Somit kann man sie mit Recht geistigen Organismus nennen. Viel wichtiger scheint es mir anzuerkennen, daß die Gesellschaft ein Organismus von Organismen ist. 19 "Die verschiedenen Sonderzwecke, die der Verbundenheit der Menschen bei der Verwirklichung ihrer menschlichen Vollexistenz zugrunde liegen, wirken sich in einer Vielheit von gesellschaftlichen Organismen aus. Diese Einzelorganismen haben jedoch wieder Zwecke gemeinsam, in denen der gesellschaftliche Gesamtorganismus sein Lebensprinzip findet." 20 Daraus ergibt sich der gesellschaftliche Pluralismus. Das ist noch einmal bestätigt bei der Behandlung des Gemeinwohlproblems. Aus dem Vorangehenden kann man eine andere Klärung des Staates, nämlich: der Staat als Gesamtgesellschaft im Vergleich zu den sonstigen Gliedgesellschaften ist eine gegliederte Einheit mit kleineren gesellschaftlichen Einheiten als Zwischengliedern zwischen ihm und dem Einzelmenschen. 21 Aus der näheren Erörterung der Gesellschaft als Person zieht Messner aus dem gerade Gesagten den parallelen Schluß, nämlich: "daß die naturgemäße Verfassung der Gesamtgesellschaft einen gesellschaftlichen Pluralismus in sich trägt mit der Folge, daß alle ,,kleineren" Gemeinschaften und Vereinigungen, die in den existentiellen menschlichen Zwecken wurzeln, mit Zügen der Würde und der Freiheit der menschlichen Person ausgestattet sind". 22 Nun wollen wir einen Blick auf den Zweck der Gesellschaft, also das Gemeinwohl werfen. Denn keine Organisation könnte ohne irgendeinen Zweck zu dauerhafter Existenz gelangen. Die Gesellschaft findet ihren Seinsgrund und ihre Seinsordnung in der Natur des Menschen.23 Das Gemeinwohl als Zweck der Gesellschaft ist die Hilfe, die alle Einzelmenschen durch ihre gesellschaftliche Kooperation für die eigenverantwortliche Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben benötigen. 24 Es ist die Hilfe zur SelbstvervollkomrnJ. Messner, NR 180. NR 180. 21 Vgl. NR 181. 22 NR 183. 23 Akira Mizunami, The onto1ogical foundation of the common good, in: Das Gemeinwohl in der sich wandelnden Welt, 1998. 19
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nung aller Gesellschaftsglieder. Es ist die dem Einzelmenschen von der Gesellschaft angebotene Hilfe. Es ist eine der Menschennatur entspringende und von derselben geforderte objektive Wirklichkeit. Es umfaßt zwei Grundfunktionen, nämlich die Begründung der Friedensordnung und die Schaffung der Wohlfahrtsordnung.25 Es ist ja die unverleugbare Tatsache, daß sich die Menschen immer in ihrer Geschichte mit zwei großen Aufgaben befaßt haben. Die erste Aufgabe ist, wie der Mensch in der harten natürlichen Umwelt sein Dasein sichern und ein materiell reicheres Leben führen kann. Die zweite ist, welche Art der Gesellschaft dazu beiträgt, daß die Menschen zwischen dem Einzelnen und dem anderen, zwischen dem Einzelnen und der Gruppe sowie zwischen der einen Gruppe und der anderen in Frieden leben können. Bei der ersten Aufgabe geht es um eine positive Grundfunktion des Gemeinwohls, und bei der zweiten um eine negative. In bezug auf die positive Funktion des Gemeinwohls sei eine Passage aus Messners Werk zitiert. "Im Seinsgrund und in der Seinsordnung der Gesellschaft selbst finden wir daher auch eine Vielheit existentieller gesellschaftlicher Zwecke vor, an die die seelische, geistige, sittliche, religiöse, kulturelle, wirtschaftliche, soziale Entfaltung zum vollmenschlichen Sein geknüpft ist. Beim Begriff des Gemeinwohls und der sein Wesen bildenden Hilfe ist daher keineswegs nur an den Staat und die politische Gemeinschaft zu denken, sondern ebenso an Familie und Volk, Nachbarschafts- und Berufsgemeinschaft, Religionsgemeinschaft und Volkergemeinschaft. " 26 Dieses Zitat spricht für den Gemeinwohlpluralismus. Hier sei nur kurz auf die zwei Seiten des Gemeinwohls hinzuweisen. Die eine bildet die Wertgüter des gesellschaftlichen Ganzen, durch das Anteilhaben, an denen der Mensch zur Vollperson gelangen kann, die freilich vom Einzelmenschen abhängig sind. Die andere Seite des Gemeinwohls macht die Mittel im Dienste des Gemeinwohls aus, die im Unterschied zu den Wertgütern in den Bereich der Instrumentalwerte gehören. 27 Am Ende dieses Kapitels über die Sozialprinzipien einige Bemerkungen zu machen scheint hilfreich zu sein. Das Gemeinwohl begründet die Autorität der Gesellschaft auf der einen Seite, auf der anderen begrenzt es ihre Zuständigkeit. Das Gemeinwohl verhält sich also zur Autorität wie das Verfassungsrecht zum Staatsorgan. Wenn das Gemeinwohl überhaupt kein Selbstzweck ist und die Aufgabe der Hilfsleistung besitzt, muß es zur günstigen Selbstverwirklichung des Einzelnen beitragen. Anders ausgedrückt, das Gemeinwohl beinhaltet den Charakter, der in der Natur des Menschen vorgezeichneten Zweckordnung zu dienen. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet, "daß das 24 25 26 27
NR NR NR NR
189. 190 f., Das Gemeinwohl, 82. 191. 193 ff.
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Gemeinwohl für die Gesellschaft keine Zuständigkeiten und Berechtigungen begründet in dem, was der Einzelmensch oder die Gliedgesellschaft aus eigener Kraft zu tun vermögen. " 28 Das Prinzip ist als Begrenzungsprinzip der gesellschaftlichen Zuständigkeiten ein Seinsprinzip. Das heißt, das Subsidiaritätsprinzip ist inhaltlich bestimmbar trotz des Einwandes, es sei ein bloßes Formalprinzip und besage somit nichts. Wir werden im nächsten Kapitel diesen immer wieder gegen die Naturrechtslehre erhobenen Einwand an der Wirklichkeit prüfen.
111. Mensch als Familienwesen oder die Familie als Zelle der Gesellschaft
Auf die mir gestellte Frage, worin die hervorragende Eigentümlichkeit des Naturrechtsdenkens Johannes Messners bestehe, würde ich folgendermaßen antworten. Man kann natürlich nicht mit Unrecht seine Erfahrungsorientiertheit, schöpferische Analyse der Wirklichkeit u. a.m. nennen. Er hat außerdem eine integrale Gewissenslehre entwickelt. Ohne Zweifel ist er Naturrechtler. Wenn man sich nun aber in den Wald seines Denkens sozusagen einzufühlen vermag, dann taucht ein Horizont plötzlich auf, wie mir scheint, wo ein Komplex von Grundfragen der Gesellschaftslehre erfahrungsgetreu zu lösen sind. Es ist die Familiengemeinschaft Sosehr verschiedene Züge der Messnersehen Naturrechtslehre auch angeführt werden mögen, z. B. der empirisch-ontologische Weg im Gegensatz zum begrifflichdeduktiven29 oder ein induktiv-ontologisches Verfahren im Unterschied zum empirisch-historischen sowie metaphysisch-theologischen Verfahren 30, was sicherlich eins ihrer Merkmale darstellt, ich dürfte mir erlauben darauf hinzuweisen, daß die Naturrechtsprobleme, wie z. B. Fragen seiner Erkennbarkeit, seiner Wirkungsweise, und die Gemeinwohlprobleme unzertrennlich mit der Familiengemeinschaft verbunden sind. Tatsächlich äußert sich in diesem Zusammenhang Messner selbst: "Der letztgenannte, von uns beschrittene Weg erweist das Naturrecht als menschliche Existenzordnung induktiv-ontologisch aus der Natur des Menschen, nämlich als der eines Familienwesens."31 Zur Begriffsklärung des Naturgesetzes. Johannes Messner geht bei der Bestimmung des sittlich Guten vom allgemeinen Begriff des Guten aus, was seine empirische, der ordinary language school ähnliche Methode kennzeichnet. 32 Das Gute im allgemeinen besagt "die von der Natur eines Dinges geforderte Seinsvollkommenheit oder Vollwirklichkeit". 33 28
NR 295.
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KE 231 ff.
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NR 344 ff. NR 345. NR 37 ff. KE 145.
31
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4*
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Im "Naturrecht" kommt der Begriff der Sittlichkeit vor: "Die Sittlichkeit besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken, oder kurz, in der ,Triebrichtigkeit'."34 Auf jeden Fall soll ein menschlich gutes Verhalten der "Vernunftnatur des Menschen" entsprechen. Hinzufügen ist dabei sofort, daß die Definition nicht einfach Vernunfteinsicht besagt, sondern die ontologische Seite in Betracht nimmt. Auf der Seite 55 des "Naturrechts" liest man wie folgend: "Dabei haben wir auch von der Vernunfteinsicht in die allgemeinsten sittlichen Prinzipien gesprochen, jedoch das Wesen des Sittlichen nicht nur in das aus diesen Prinzipien verstandene ,Vernunftrichtige' verlegt, vielmehr in das begrifflich umfassendere ,Naturrichtige', nämlich das durch die sittliche Vernunfteinsicht und ,existentiellen Zwecke' vorgezeichnete Verhalten". 35 Auf die gleiche Weise ist der Begriff des Naturgesetzes, hier des sittlichen Naturgesetzes ontologisch, also nicht ausschließlich auf sittliche Vernunfteinsicht eingeschränkt, zu gewinnen. Damit kann der Begriff jenem Vorwurf, im allgemeinen inhaltsleer zu sein, entgehen. "Der allgemeine wissenschaftliche Sprachgebrauch versteht unter Naturgesetzen die den Dingen oder Lebewesenkraft ihrer Natur innewohnenden beständigen Wirkweisen oder Verhaltensweisen. Der allgemeinste Begriff des Naturgesetzes braucht im menschlichen Bereich kein anderer zu sein: Es ist die der Vernunftnatur des Menschen innewohnende Wirkweise zur Herbeiführung des ihr gemäßen Verhaltens. " 36 Das Naturrecht im Menschen wirkt durch seine Vernunfterkenntnis und seinen Vernunftwillen. Der Vernunfterkenntnis fallt eine doppelte Funktion, nämlich "Werteinsicht" und "Sacheinsicht" zu. Dem Vernunftwillen fallen ebenso zwei Funktionen, nämlich "Gewissensgebot" und "Wertstreben" zu. "Dieser Trieb nach dem vollmenschlichen Sein wird zunächst erfüllt im Leben der Familiengemeinschaft mit der durch die Vitalbeziehungen zwischen ihren Gliedern sich ergebenden Achtung und Liebe füreinander. Mit dem vollen Gebrauch der Vernunft erweisen sich dem Menschen die dafür maßgebenden Verhaltensweisen als die wahrhaft menschlichen, es entwickelt sich die Vernunfteinsicht in die sittlich verpflichtenden Grundwerte oder Prinzipien und das Gewissensurteil für das Verhalten in der konkreten Situation." Diese Vernunfteinsicht kann man als die psychologisch-subjektive Seite bzw. "Vernunftordnung" im Begriff des Naturgesetzes bezeichnen. "Nicht minder wichtig ist die ontologisch-objektive Seite, nämlich die in der Familiengemeinschaft durch die darin wirksamen Vitalbeziehungen bedingte Grundordnung menschlicher und gesellschaftlicher Beziehung (,Seinsordnung', weil auf die Triebanlagen der Menschennatur zurückgehend); beide Seiten zusammen als Wirkweise der menschlichen Natur bilden da ihre eigenen Naturgesetze."37 34 35
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NR41. NR 55. NR 55. NR 56.
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Johannes Messner hat bei der Erörterung des Naturgesetzes und Naturrechts, wie mir scheint, weder naturalistisch noch zu rationalistisch, also sorgfaltig auf die Wirklichkeit des Menschen sich stützend, einen neuen Beitrag zur Erkenntnistheorie geleistet. Ein Beispiel dafür ist die Auffassung des Menschen als Familienwesen. Wie die obigen Zitate zeigen, sind objektive und subjektive Wirkweise des menschlichen Naturgesetzes zuinnerst verbunden. "In der Familie erfährt er (d. h. der Mensch) die Formung seiner Haltungen und Verhaltensweisen wie überhaupt seines Geistes bis auf den tiefsten Grund, und in der Familiengemeinschaft lernt er, was ihn als Gesellschaftswesen und als Einzelwesen im Streben nach Erfüllung seines Glückstriebes, also in seinem Wertstreben, wahrhaft zum Wohle ist. Es ist die unmittelbare, ihm in diesem Zusammenleben durch seine Natur aufgenötigte Erfahrung, die für seine Selbstbestimmung der Anlaß zu den seiner Natur gemäßen Verhaltensweisen wird. "38 Der Mensch als Familienwesen hat auf jeden Fall ein Minimum von seinen körperlichen sowie geistigen Bedürfnissen zu erfüllen. Somit ist es "die Menschennatur selbst, die zu einer allen ein menschliches Dasein ermöglichenden Ordnung des Zusammenlebens in der Familiengemeinschaft hindrängt. Nicht theoretische Einsichten in die menschliche Natur führen dazu, sondern die Erfahrung des Menschen von dem, was er braucht, um sich in den wichtigsten leiblichen und seelischen Ansprüchen befriedigt zu wissen. "39 Noch eine wichtige Kontribution durch Messners Naturrechtslehre sei erwähnt. Sie ist die Erklärung der Naturrechtsprinzipien als synthetische Urteile a priori40, auf deren Einzelheiten einzugehen uns wegen der knappen Zeit unmöglich ist. Bei der Begründung und Ergrundung der Sittlichkeit somit auch des Naturgesetzes sowie des Naturrechts hat Johannes Messner der Familiengemeinschaft eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neuerdings bieten uns Anthropologie und Verhaltensforschung eine interessante wissenschaftliche Theorie.41 Professor Ehara, ein Anthropologe, ist der Meinung, daß sich trotz der Annahme evolutionalistischen Denkens mehrere Faktoren miteinander zum Vorkommen des Menschengeschlechts und zur Hominisation verbunden und "anagenetisch" entwickelt haben. Professor Kawai, eine Anthropologe und Verha]tensforscher, äußert seine Ansicht über die Hominisationsfrage. Bis jetzt ist die sogenannte "Bipede-aufrechtgang" Lehre zu stark vertreten worden. Es wäre wirklichkeitsnäher zu denken, daß die drei großen Bedingungen, nämlich zweifüßiger Aufrechtgang, Entstehen der Familie und Auftritt der Sprache sich mit und untereinander entwickelt haben. Zweifüßiger Aufrechtgang und Auftritt der Sprache sind wahrscheinlich beide aus der NR 57. NR 315. 40 NR 59, 100 ff., 317 f., KE 237 ff. 41 Shoji Ehara, Genesis und Evolution des Menschengeschlechts, Tokyo 1993; Masao Kawai, Genesis des Menschengeschlechts 2 Bde., Tokyo 1992; ders., Geschichte vom Affen zum Menschen; Juichi Yamagiwa, Vorkommen der Familie, Tokyo 1994. 38
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Distribution entsprungen. Diese Distribution muß der Schlüssel in bezug auf das Vorkommen der Familie sein. Sie wird wohl mit dem Aufkeimen der Vaterschaft, Vater im soziologischem Sinne, nicht im biologischem Sinne, zu tun haben. Zusammenfassend sagt er, der Mensch sei Affe mit der Familie. IV. Erziehung und Naturrecht, naturrechtlich-evolutionalistisch betrachtet Nun widmen wir ein Kapitel dem Zwischenbereich zwischen der Naturrechtslehre und der Erziehungslehre. Professor Murai, ein Philosoph der Pädagogie, nimmt einen sehr aufschlußreichen Ausgangspunkt und vertritt eine sozusagen "naturrechtliche pädagogische Philosophie". Neuerdings schließlich scheint er zu einer "naturrechtlich-evolutionistischen Menschenlehre" gelangt zu sein. 42 Welche Tätigkeit ist eigentlich die Erziehung? Sie besagt weder bloß Lehren, noch bedeutet sie Großziehen. Das Wort "Erziehung" (paideuein) wurde erst dann geboren, als man zwei auf einem Blick heteronome Tätigkeiten, nämlich eine Tätigkeit des Lebrens im Sinne von der Kulturüberlieferung einerseits und eine andere des Großziehens mit der Absicht des Kinderheranwachsens, als die Kinder gut zu machen versuchende Handlung erkannte. Daraus ergibt sich die Begriffsbestimmung der Erziehung: Sie besteht in der einwirkenden Handlung den Kindem gegenüber mit der Absicht, daß sie dadurch gut werden. Erziehung ist deshalb möglich, wo und insofern sowohl die Kinder als auch die Erzieher besserungsorientiert sind. Wenn das Wesen der Erziehung als Tätigkeit bzw. Handlung, die auf das Gutwerden der Kinder zielt, einmal verstanden wird, dann soll nach zwei Grundfragen gefragt werden. Welche sind sie? Die erste zu beantwortende Frage ist die vom Guten, anders ausgedrückt, wie ist das Gute aufzufassen. Die zweite betrifft das Kind, also die Frage nach dem Kindesbild. In Hinblick auf die erste Frage antwortet Prof. Murai mit einer sozusagen "originär pädagogischen" Lehre. Das Gute, das einem Ding immanent ist und es gut macht, mit etwas äußerlich Seiendem zu bezeichnen, ist ein realer Fehler, eine Art naturalistic fallacy im Sinne von G. E. Moore. Nach Prof. Murai wohnt von Anfang an der Natur des Menschen Drang und Trieb inne. Also in der Natur des Menschen ist die Antriebskraft im Sinne von Johannes Messner am Werke. An ihr werden die möglichen Verhalten und Sachen geprüft, ob sie "naturrichtig" sind. Prof. Murai selbst interpretiert das "Gute" als strukturelle Wirkung bzw. Wirkungskraft.43 Was die zweite Frage anbetrifft, ist das Kind seit langem als ,,Stoff und Material im Vergleich zu einer Fertigstellung" angenommen und behandelt, d. h. erzogen 42 Minoru Murai, Ausgewählte Schriften 8 Bde., ders., Neubesinnung von der Erziehung (1992), Nach dem Grund des Menschen und der Erziehung fragen (1994) usw. 43 Murai, Nach dem Grund des Menschen und der Erziehung fragen, 97- 113.
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worden. Seit alter Zeit ist das Kind einmal als Plastilin, einmal als Kleiderstoff betrachtet, gebildet und gefärbt worden. Dann erschien J. J. Rousseau. Er stellte ein neues Bild vom Kind und somit von der Erziehung. Er war Bahnbrecher in diesem Sinne, daß das neue Bild vom Kind statt des Dinges ein Lebewesen als Modell nahm. Aber bei ihm wurde das Kind nur als Pflanzenmodell gehalten. Darauf kommt eine Zeit, in der das Kind als Tier-Modell behandelt wird. Zuchttechnik wird dann auf das Kind angewandt. Wie kann das Kind, nicht als Kind gesehen, menschlicher wachsen? Das Ideal wurde in der Geschichte durch Johannes Heinrich Pestalozzi tatsächlich realisiert. Murai schlägt vor, das Kind als gut zu leben sich bemühendes oder nach dem Guten strebend Lebendes zu achten. Bemerkenswert ist, daß er weiters von "der nach dem Guten strebend lebenden Wirkung" und von "der allem Lebewesen gemeinsamen Wirkung nach dem Guten" spricht. Das erste Leben, das als nach dem Guten Wirkung vorkam, hat sich wiederholt entwickelt, bekam eines Tages Bewußtseinsfähigkeit, dann begann es bewußt nach dem Guten zu streben. Unter einem solchen Lebewesen hat sich bald wiederum ein Lebewesen gesondert. Und zwar mit Hilfe der Sprache, das Gute als Begriff greifend, fing es an zu leben durch Überprüfung eines jeden aus Guten im einzelnen. 44 Das Lebewesen sind wir Menschengeschlecht. Der Mensch wohnt durch Kornmunikation und Kooperation das Gemeinwohl verwirklichend und daran teilhabend in der Gesellschaft. Daraus ist zu ersehen, Gemeinwohl und Gemeinwohlgerechtigkeit, Gerechtigkeit in der Gesellschaft sind geschichtlich bedingt. Entwicklungsetappen zu schildern, scheint ein anderes Referat zu benötigen. Dieses Referat soll ein Ansatzpunkt für weitere Überlegungen sein.
44 Damit will ich nicht behaupten, daß sich das Menschengeschlecht automatisch-evolutionistisch von bloßer Materie entwickelt habe. Metaphysisch betrachtet, muß es eine höhere Ursache als bloße Zusammenhänge der Materie geben.
Theologische Grundlegung der Gerechtigkeit Von Johannes Michael Schnarrer
"Unter den Dingen, die uns heute bewegen, scheint es nicht viele zu geben, die nicht auf eine sehr genaue Weise mit der Gerechtigkeit zu tun haben. Man braucht nur Umschau zu halten. Es zeigt sich das dringlichste aller Anliegen: auf welche Weise wieder echte Herrschaft in der Welt begründet werden könne. Es meldet sich das Thema ,Menschenrechte', die Frage des ,gerechten Krieges' und der Kriegsverbrechen, das Problem der Verantwortlichkeit im Falle eines ungerechten Befehls; das Recht des Widerstandes gegen gesetzliche Gewalt; Todestrafe, Zweikampf, politischer Streik, Gleichberechtigung von Mann und Frau. Jeder dieser Begriffe ist heute, wie man weiß, ein Streitbegriff; und jeder besitzt eine sehr unmittelbare Zuordnung zum Begriff der Gerechtigkeit. Vor allem aber: Wer die alltäglich begegnende Realität an dem Anspruch ,Gerechtigkeit' mißt, dem wird deutlich, wie sehr das Unheil in der Welt zwar viele Namen hat, vornehmlich aber den Namen Ungerechtigkeit." (Josef Pieper; Das Viergespann. Klugheit, Gerechtigkeit, Maß, Tapferkeit; München 1964; 67.)
I. Einführung
Zunächst sei mir erlaubt, daß ich mich für die ehrenvolle Einladung bedanke, beim 4. Internationalen Symposium der Johannes-Messner-Gesellschaft Österreichs und ihrer Schwestergesellschaft in Japan sowie dem Istituto Austriaco di Cultura a Milano vor einem so auserlesenen Publikum von Experten, die aus nah und fern in das schöne Südtirol gekommen sind, einen Vortrag zur theologischen Grundlegung der Gerechtigkeit halten zu dürfen. Heute in der Postmoderne 1 über die Grundlagen eines Begriffs wie Gerechtigkeit, eines Terminus', der in aller Munde und wohl seit Beginn der lndustrierevolut Vgl. Hans Joachim Türk; Postmoderne. Mainz,Stuttgart 1990; bes. 57; "Was sich alles an Diagnosen und Prognosen als ,post-', als nachmodern u. a. bezeichnet, ist nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen; nur eines scheint ein gemeinsamer Befund zu sein: Alle Lebensbereiche, alle menschlichen Verhaltensweisen und Reaktionen, alle Wertungen und Stellungnahmen differenzieren sich immer mehr, gewinnen immer mehr zentrifugale Kraft, stre-
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tion auch ein moderner ist, nachzudenken, heißt zunächst, daß es Definitionen braucht, die Zweideutigkeiten in den folgenden Ausführungen ausschließt. Das Problem der Gerechtigkeit ist deshalb so vielschichtig, weil wir in der Neuzeit immer besser informiert werden von den Problemen, Ängsten und vor allem den Ungerechtigkeiten2, die nicht nur in der kleinen und individualen Umwelt des einzelnen geschehen, sondern vielmehr hinweisen auf die größeren, wenn es um Verteilung von Produkten, um Lobbyismus zum Vorteil einiger gegenüber anderen, um unverantwortliche Nutzung unveräußerlicher Güter oder Korruption in den Bereichen der Politik und Wirtschaft geht. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn der Aspekt der "sozialen Gerechtigkeit" stärker hervortritt als früher und gleichfalls damit die Entwicklungspolitik sowie die Spannung zwischen den ärmeren Ländern, die mehrheitlich geographisch auf der Südhalbkugel zu finden sind, während sich die Staaten des Wohlstands auf der Nordhalbkugel unseres Planeten befinden, an Bedeutung und Interesse gewinnt. Die Grundfrage, die dahintersteht, ist die, ob es einen objektiven Maßstab für eine gerechte Ordnung prinzipiell geben kann oder nicht? Denn wenn man sich beruft auf das "Gefühl der Gerechtigkeit", reicht es gewiß nicht, um das Unrecht, das beobachtet, erlitten oder durch Medien konstatiert wird, zu begründen oder gar zu rechtfertigen.3 Neben vielen anderen Theorien4 und Ansätzen zur Gerechtigkeit ist hier die Position des Naturrechts zu benennen. Das Naturrecht nimmt stets den Menschen soben weiter auseinander, entziehen sich zentrierender, hierarchischer, alles umfassender Orientierung in der Theorie und entsprechender Macht in der Lebenspraxis; statt Verabsolutierung: Relativierung, statt Zentralisierung: Diversifikation, statt Überordnung und Unterordnung: Gleichberechtigung bis zur Gleich-Gültigkeit, statt Einheit: Pluralität - das Stichwort der Postmodeme (Hervorhebung: J. M. S.)." Ebenso: Gary Shapiro (Hg.); After the future. Albany 1990; und Johannes Michael Schnarrer; Art. "The difficulty in our postmodern time: How to keep right and wrong apart?"; In: Virtual Workshops. Vol. 2; Budapest 1995; 5-9. 2 "Auf zweifache Weise wird die Gerechtigkeit verdorben: durch die falsche Klugheit des Weisen und durch die Gewalttat dessen, der Macht hat." (Thomas von Aquin; zitiert nach: Josef Pieper; Das Viergespann. München 1964; 65; Neben iustitia [Gerechtigkeit], prudentia [Klugheit], fortitudo [Tapferkeit] kommt auch die temperantia [Maßhalten] zu Wort.) 3 Vgl. Rudolf Weiler; Einführung in die katholische Soziallehre. Graz, Wien, Köln 1991; 57 ff. 4 Z. 8. Michael Walzer; Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality; New York 1983; Deutsch: ders.; Sphären der Gerechtigkeit. übersetzt von Hanne Herkommer; Frankfurt/New York 1992. Ebenso: John Rawls; ATheory of Justice. Cambridge, MA 1971. Einer der wichtigsten Kritiker des Utilitarismus ist der Harvard-Professor lohn Rawls, der andere Prinzipien der Gerechtigkeit als die vom Nützlichkeitsgedanken herstammenden entwirft. So geht Rawls nicht vom Nutzen aus, sondern von der Ausstattung mit Grundgütern. Danach sind für ihn die Grundgüter die sozialen und institutionellen Konditionen, die die Einzelglieder der Gesellschaft notwendigerweise brauchen, um ein Leben in Würde und nach eigenen Vorstellungen zu führen und um in der Gesellschaft sowie ihrer Ausgestaltung und Realisierung Mitverantwortung übernehmen zu können. Konkreter gesagt, sind die Grundgüter Chancen, Kompetenzen, Grundfreiheiten, Verantwortlichkeiten, gesellschaftliche Grundlagen der Würde, Vermögen und Einkommen. Um sozialen Frieden zu sichern, müsse die Gesellschaft, die Anspruch auf Gerechtigkeit erhebt, die Grundgüter auch gerecht verteilen.
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wie dessen Würde, die sich aus seinem Personsein ergibt, zur Grundlage. Denn das Maß ist die Natur der Person, damit das Leben des einzelnen immer menschlicher gestaltet werde und dadurch die Gerechtigkeit im praktischen Alltagsleben ihre Realisierung finde, denn als Ziel ist die Humanisierung der Weltgemeinschaft und ihrer Konditionen des Zusammenlebens anzustreben. Dazu kann jeder einzelne seinen Beitrag leisten. So definiere ich: Die Gerechtigkeit ist als eine Tugend, die aus der Einsicht des Gewissens, der Erfahrung und der Vernunft hervorgeht und sich permanent zu realisieren hat, zu determinieren, als gefestigter Auslotung des spezifisch-individuellen Willens hin auf einen Wert, der ein Gut darstellt und zum Wohl des Selbst und dem Recht anderer beiträgt, wobei die Gerechtigkeit als sittlich-moralische Handlungsaufgabe ständig neu, unter den differenzierten Möglichkeiten, zur Verwirklichung zu führen ist, weil sie natürlicherweise nicht das abstrakte Konstrukt einer bloß konkret gefaßten Konvention oder Übereinkunft unterschiedlich am Gesellschaftsprozeß Partizipierender und "geronnener" Bewußtseinserkenntnis der Vernunft Anhängender darstellt, die auf der Erfahrenheit von Konditionen des Seins, Notwendigkeiten existentieller Zwecke oder Utilitarismen beruhen, sondern weit darüber hinausgehen müssen, um das Wesen dieser Tugend zu erkennen, womit die Beilegungskapazität der Gerechtigkeit getroffen wird, da es um den schlichtenden Ausgleich von Leistung und Anspruch geht, der wiederum mit Rechten und Pflichten verbunden ist, die sich aus einer konkreten sozio-kulturellen Situation ergeben. Denn nach Aristoteles und ihm folgend Thomas von Aquin, ist ja gerade die Gerechtigkeit diejenige Tugend, nach welcher jedem das ihm zukommende Recht mit beständigem Willen zu gewährleisten ist.5 Den Schlüssel zu UnparteilichkeilSstandpunkten bildet das Rawlssche Gedankenexperiment, das den Menschen in eine hypothetische Entscheidungssituation versetzt, wo er Prinzipien selektieren soll, nach denen er die Verteilung der Güter und die Ordnung der Institutionen geregelt haben möchte. Hinter einem ,Schleier der Unwissenheit' entscheiden sie, um allen die gleichen Chancen zu geben, wodurch sie jedoch nicht ihre individuellen Begabungen kennen und ebenso wenig die wirtschaftliche, politische oder soziale Lage der Zukunft. Dagegen ist für sie bekannt, wie Gesellschaften allgemein funktionieren und ebenso daß die Grundgüterverteilung gerecht geschehen sollte. Danach wird die Unparteilichkeit hinsichtlich dieser Situation zwei Prinzipien folgen: (1) Jede Person hat den gleichen Anspruch auf die Grundfreiheiten, die für alle ohne Unterschied dieselben darstellen. (2) Ungleichheiten sozialer oder wirtschaftlicher Natur müssen mit Positionen oder Ämtern verbunden sein, die wiederum nach dem Prinzip der fairen Chancengleichheit allen offenstehen. Außerdem müssen die Ungleichheiten so konstituiert sein, daß sie stets den größtmöglichen Nutzen der am Benachteiligtesten berücksichtigt (Differenzprinzip). Dabei kommt dem ersten Prinzip Priorität zu vor dem zweiten. Danach darf das Recht auf gleiche Grundfreiheiten des einzelnen keineswegs zugunsten anderer (z. B. der wirtschaftlichen Effizienz oder eines allgemeinen höheren Wohlstands) reduziert oder gar eliminiert werden. Jedoch führt die Behandlung aller als gleiche nicht notwendigerweise auch zur Gleichverteilung, wie das Differenzprinzip deutlich macht. Denn dieses geht zwar von der Gleichverteilung aus, betont aber ebenso, daß es bestimmte Rollenaufteilungen geben muß in der Gesellschaft, wodurch es wiederum Ungleichheiten bei den Einkommen, Vermögen und Verantwortlichkeiten, also den Grundgütem, zuläßt und den am wenigsten Begünstigten schlechter stellt. s Vgl. Thomas von Aquin; Summa theologiae. II-II, 58,1; 3. Auflage Stuttgart 1985; herausgegeben von Joseph Bemhart.
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Nach dieser Definition ist nun die Hinwendung zu bibeltheologischen Argumenten und sozialhistorischen Interpretamentell ermöglicht.6 So sind in den folgenden Überlegungen die Gerechtigkeit in der Bibel hinsichtlich Gottes und der Menschen zu beleuchten, da theologische Gerechtigkeit essentiell biblische sein muß. Später, dann weiterführend, kommen die Elemente der Gerechtigkeit zur Sprache und wird der Ansatz Messners ins Wort zu heben sein.
II. Die Gerechtigkeit Gottes 1. Die Gerechtigkeit Gottes im AT
Nach dem Alten Testament handelt Gott dadurch gerecht, indem er nach den Forderungen, Normen und Prinzipien handelt, die ihm entsprechen und seinem Wesen nach bestimmend sind. 7 Aber dieses hier angesprochene Wesen Gottes ist nicht als ein völlig abstraktes zu bestimmen, sondern wird vielmehr konkret durch die Beziehung Gottes zu den Auserwählten, dem Volk Israel. Demnach ist Gott deshalb gerecht, weil er sich an Bundesvereinbarungen hält. Dennoch tauchte in Israel die Frage auf: "Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?" 8 Gott allein ist ohne Fehler in seinem Tun und Wirken (lassen), weil alle seine Wege und Taten vollkommen sind, denn er ist "ein Gott der Treue und ohne Unrecht, gerecht und geradlinig." 9 Die absolute Gutheit und Allmacht Gottes will aber den Menschen nicht erdrücken, sondern im Gegenteil: beispielhaft vorangehen, denn gegen Unrecht und Lüge entbrennt der Zorn Gottes, weil Gott gerecht ist. 10 Die Gerechtigkeit Gottes besitzt mehrere Aspekte, die es aufzuzeigen gilt. Zum einen ist sie - meistens in älteren Texten - Strafe gegen die Feinde des auserwählten Volkes, 11 oder aber gegen diejenigen im Bundesvolk, die selbst sündigen.12 Jahwe heißt in seiner Eigenschaft als Strafender "gerecht" 13, denn im 6 Die Lehre der Kirche stützt sich ja gerade auf die folgenden vier Elemente: hl. Schrift, Tradition, Lehramt und Mysterium. 7 Vgl. Artikel "Gerechtigkeit"; in: Herben Haag (Hg.); Bibel-Lexikon. 2. Auflage Leipzig 1969; Spalten 556- 559. s Die Bibel. Einheitsübersetzung; Freiburg, Basel, Wien 1991; Gen 18,25. 9 Dtn 32,4. IO Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.); Katholischer Erwachsenen-Katechismus. 3. Auflage Kevelaer u. a. 1985; 71. 11 Vgl. Dtn 33,21. 12 Vgl. Dan 6 f. "Wir haben nicht auf deine Diener, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren Königen und Vorstehern, zu unseren Vätern und zu allen Bürgern des Landes geredet haben. Du Herr bist im Recht; uns aber steht die Schamröte im Gesicht, den Leuten von Juda, den Einwohnern Jerusalems und allen Israeliten ... denn sie haben dir die Treue gebrochen." 13 Vgl. Tob 3,2. "Herr, du bist gerecht, alle deine Wege und Taten zeugen von deiner Barmherzigkeit und Wahrheit; wahr und gerecht ist dein Gericht in Ewigkeit."
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Strafen selbst zeigt sich die Größe Gottes und dessen Barmherzigkeit, weil gerade das Recht als Stütze seiner Herrschaft angesehen wird. 14 Dabei erweist sich Gott als einer, der nicht die böse Person an sich verfolgt, sondern mehr den Akzent auf die Tat legt, insofern sich Ziele des Menschen und die Gottes einander ausschließen. Aber dadurch, daß Gott weniger der strafende Richter und mehr als Verteidiger der Rechte seines Volkes Israel auftritt, wandelt sich der Terminus der "Gerechtigkeit Gottes" im AT zur "Rechtverschaffung". So verwundert es auch nicht, daß die Siege, durch welche Israel zu seinem Recht kommt, auch als "die gerechten Taten des Gottes Israels" bezeichnet werden. 15 Durch das Verschaffen des Rechts für Israel zeigt Gott sein wohlwollendes Handeln, denn in der Ausübung der Gerechtigkeit werden Gunst, Wohltat und Gnade sichtbar. So sagt der Herr: "Ich, der Herr, bin es, der auf der Erde Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft." 16 Gott als der Herr ist gerecht, weil er den Armen sein Recht verschafft, d. h. sich auf die Seite derer stellt, die schwächer sind und dadurch den Stärkeren unterliegen.17 In der späteren Zeit bekommt der Gerechtigkeit Gottes-Begriff noch erweiterte Dimensionsintentionen, die Gerechtigkeit mit der Heilstat Gottes gleichsetzen, denn Gottes Wirken ist dann mit der Bundestreue gemeint, die das Aufblühen der messianischen Erlösung darstellt 18 und das brennende Verlangen so vieler Bedrängter zum Heil führt. 2. Die Gerechtigkeit Gottes im NT In den Worten Jesu sind direkte und unzweideutige Aussagen über die Gerechtigkeit Gottes ganz selten. Dennoch sind einige hinweisende Formulierungen vorhanden, wenn der Ausspruch: "Das Reich Gottes ist nahe" hindeutet auf den im AT befindlichen Satz: "Meine Gerechtigkeit lasse ich nahen, sie ist nicht fern. Meine Rettung läßt nicht auf sich warten." 19 Im Matthäusevangelium heißt es, daß 14 Ps 97,1 f. "Der Herr ist König ... Rings um ihn her sind Wolken und Dunkel, Gerechtigkeit und Recht sind die Stützen seines Throns." 15 Jes 41,2. "Wer hat im Osten den geweckt, dem Gerechtigkeit folgt auf Schritt und Tritt? Wer gibt ihm die Völker preis und unterwirft ihm die Könige? Sein Schwert macht sie zu Staub, sein Bogen macht sie zu Spreu, die verweht." 16 Jer 9,23. 17 Vgl. neben einigen anderen Belegstellen dazu: Ps 116,6. "Der Herr behütet die schlichten Herzen; ich war in Not, und er brachte mir Hilfe." 18 Vgl. Jer 23,6. "In seinen Tagen wird Juda gerettet werden. Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit." Damit ist, wie am Beginn des Punktes ausgeführt, die vollständige Identifikation von Gott (=Herr, Jahwe etc.) und Gerechtigkeit geschafft. 19 Jes 46,13. Dabei ist interessant, daß in anderen Übersetzungen der Begriff "Gerechtigkeit" durch das "Heil" ersetzt wird, was wiederum darauf zurückzuführen ist, daß beide Termini auswechselbar sind, ohne die Grundintention des Textes zu verletzen! So sind Heil und Gerechtigkeit offenbar uneingeschränkte Eigenschaften Gottes, die dem Menschen dann zuteil werden, wenn er sich auf Gott existentiell einläßt und sich nach ihm richtet.
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mit dem Reich Gottes eine spezifische Gerechtigkeit verknüpft ist. "Euch muß es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben."20 Jedoch ist exegetisch-hermeneutisch nicht ganz sicher, ob damit mehr das Streben nach christlicher Vollkommenheit gemeint ist oder aber die Betonung auf "Gunst und Gnade Gottes" liegt, wie im AT hingewiesen wird: "Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt und die ihr den Herrn sucht. .m In den Schriften des Apostels Paulus kommt die Gerechtigkeit Gottes nur im Römerbrierz2 vor, aber der Sinn des Begriffs "Gerechtigkeit Gottes" ist nicht unumstritten, weshalb er bei den Rabbinen gemieden wird, im Gegensatz zur alttestamentlichen Tradition. Allgemein bedeutet er diejenige Gerechtigkeit, die von Gott herkommt und dem Menschen nur zuteil wird, ob man sie nun - der Ansicht vieler protestantischen Exegeten folgend, als eine bloß durch Gott angerechnete oder aber - mit katholischen Theologen zu sprechen, als eine Heiligung des Menschen anzusehen ist, die von Gott gewirkt wird. Paulus meint wohl, dem genetivus subiectivus entsprechend, daß Gott selbst diese Gerechtigkeit besitzt, aber nicht die strafende oder rächende Gerechtigkeit, die Luther im Römerbrief sah: "Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben. "23 Paulus meint also nicht die Gerechtigkeit, nach der als Maßstab Gott belohnt oder bestraft wird, sondern vielmehr, durch die Gott selbst gerecht und damit seinen Heilszusagen treu ist und Menschen rechtfertigt. Die Gerechtigkeit ist damit eine Eigenschaft Gottes, die sich dem Menschen offenbart und damit heilswirksam mitteilt. Somit kann die Gerechtigkeit Gottes beides meinen, einerseits als Eigenschaft Gottes, dessen Größe sich durch den göttlichen Heilswillen und die angebotenen Heilsgüter verdeutlicht, andererseits aber auch als Geschenk Gottes selbst wirken, da ja der Heilswillen Gottes sowie seine Heilsgüter durch den auf die Verheißungen Gottes hin getauften Gläubigen nicht nur passiv anwesend sind, sondern vielmehr durch ihn auch ihre Realisierung finden. Neben der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes finden sich aber auch einige Belegstellen, in welchen der Zorn Gottes angesprochen wird. 24 Meiner Meinung nach wird über Gott, der ja immer der ganz andere sein wird, mit zu stark anthropologisch orientierten Sichtweisen argumentiert, was wiederum Gott und dessen Wirken nicht gerecht werden kann, weil Gott immer der ganz andere ist. Werden aber Gott und dessen Wesen in diese humanen Sach- und Wesensvorstellungen eingeengt, ist es nicht mehr Gott adäquat, weil er Mt 6,33. Jes 51,1. 22 Vgl. Röm 1,17; 3,5.210.25 f.; 10,3. 23 Röm 1,17. 24 So in Röm 1,18 f. "Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart." Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß Gott in und durch die Menschen gegen Ungerechtigkeit wirkt. 2o
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dann verdinglicht in der Welt erscheint, aber nicht mehr als der absolute unbewegte Beweger. Dagegen fordert die Frohbotschaft der Evangelien, die den erlösenden Kreuzestod Jesu Christi zum Glaubensgrund ·aufsteigen lassen, daß die Offenbarung die Gnade Gottes gerade darin proklamiert, daß Gott sich als Gerechter zeigt und dadurch zum Maßstab menschlichen Handeins wird. Es mag eine allgemeine Schwierigkeit unseres Sprachgefühls darstellen und vielleicht auch befremdlich wirken, wenn das gnadenhafte Wirken Gottes am sündigen Menschen als eine legitime Form der Gerechtigkeit angesehen wird, was jedoch seine Aufklärung darin findet, daß der Völkerapostel in seiner Argumentation im Sinne der Rechtfertigung von den Schriften des AT, insbesondere Jesaja und den Psalmen, beeinflußt ist, in welchen die Gerechtigkeit Gottes als Treue zum Bund, als eheliches und väterliches Verhältnis zum Volk Israel verstanden wird25 , und erst zweitrangig von der Polemik gegen die Rabbinen. Abschließend ist noch das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes in den johannäischen Schriften, in denen sich sporadische Hinweise befinden, zu klären. Das Verhältnis Gottes zu den Menschen wird durch die Grundhaltung deutlich, nach der das Sündenbekenntnis den Zustand des Angenommenseins des Menschen durch Gott wieder herstellen kann. "Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht. " 26 In der vertrauensvollen Hinwendung des Menschen zu Gott geschieht Heil. Denn Gott zeigt sich gerecht und treu in seiner Barmherzigkeit. Aber die Gerechtigkeit Gottes ist auch die Ebene und das Niveau, ja die Basis für die Gerechtigkeit im humanen und interpersonalen Raum und gleichzeitig Erweis und Richtungsmesser der Gnade der Gotteskindschaft 27
111. Die Gerechtigkeit des Menschen im Kontext der Bibel 1. Die Gerechtigkeit des Menschen im AT
Der Begriff der Gerechtigkeit spielt - wie bereits ausgeführt - in den Schriften des AT eine hervorragende Rolle, umfaßt aber auch mehr als die Definition des Aristoteles, die später Thomas von Aquin weiterführt, nämlich jedem das Seine zu geben28 oder auch, damit verbunden, die Bürgerpflichten auf sich zu nehmen. In den 25 Vgl. Jes 46,13. ,,Ich (Gott) selbst bringe euch das Heil, es ist nicht mehr fern; meine Hilfe verzögert sich nicht. Ich bringe Hilfe für Zion und verleihe Israel meine strahlende Pracht." Gott ist somit der Retter Israels und schafft Gerechtigkeit, wo Unrecht herrschen mag. 26 1 Joh 1,9. 27 Vgl. 1 Joh 2,29. "Wenn ihr wißt, daß er gerecht ist, erkennt auch, daß jeder, der die Gerechtigkeit tut, von Gott stammt." In diesem Sinne ist Gerechtigkeit eine göttliche Tugend, der vom Menschen stets neu zu folgen ist; niemand ist sich der Gerechtigkeit ein für allemal gewiß! Wer also glaubt, nicht mehr um die Gerechtigkeit ringen zu müssen, ist eitel und verfehlt die Realität.
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Texten wird deutlich, daß der Gerechte der Auserwählte ist, der zum besonnenen, bevollmächtigten, reifen und umsichtigen Weisen wird. Dem alttestamentlichen Begriff der Gerechtigkeit des Menschen ist in der Verdeutlichung durch andere attributive (beigefügte) Ding- und Hauptworte, wie Ehrlichkeit, Heiligkeit, Gnade, Rechtschaffenheit, Redlichkeit, leichter näher zu kommen. So ist König David z. B. deshalb gerecht, weil er Saul verschont. 29 Wer dagegen andere unterdrückt, der tritt die Gerechtigkeit mit Füßen und entzieht sich dadurch selbst der Gnade Gottes, denn Gott verschafft Gerechtigkeit, denen, die leiden. 30 Die Gerechtigkeit steht damit schon im AT der Sünde, der Ungerechtigkeit, der Lüge und Bosheit, des Neides, der Intrige, des Hasses und des Mißtrauens sowie allen negativen Verhaltensformen - aus welcher Motivation auch immer gewählt - kontradiktorisch gegenüber, denn gerecht ist der- I diejenige, der I die sich an göttliche Normen und Gebote hält, rechtschaffen und schuldlos agiert und sich an den Vorgaben orientiert?' Diese Haltung hat damit eine religiöse Basis, die Werte und Sinn vermittelt, da sie sich nach Absolutem ausrichtet. Deshalb besteht die Gerechtigkeit beim Menschen darin, die Übereinstimmung des eigenen Handeins mit dem Willen Gottes anzustreben. 32 Da nun das Wirken des Menschen der Beurteilung des absolut Gerechten, nämlich Gottes unterliegt und sich daran messen lassen muß, ist die Gerechtigkeit zuvorderst ein Terminus der Rechtssprache, denn gerecht ist der I die, welche(r) Jahwe von ungerechten Beschuldigungen der Feinde freispricht. "Wer darf hinaufziehn zum Berg des Herrn, wer darf stehn an seiner heiligen Stätte? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, der nicht betrügt und keinen Meineid schwört. Er wird Segen empfangen vom Herrn und Heil von Gott, seinem Helfer." 33 Das menschliche Handeln 28 Zwar wird dies auch im Gesetz betont, geht aber über das Philosophische hinaus, weil der Herr als Maßstab auftritt. Ex 23,6. "Du sollst das Recht des Armen in seinem Rechtsstreit nicht beugen." Die Gerechtigkeit ist es, der man folgen soll. Dtn 16,20. "Gerechtigkeit, Gerechtigkeit - ihr sollst du nachjagen, damit du Leben hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir gibt." Aus diesem Konditionalzusammenhang ist zu folgern, daß Gerechtigkeit eine Vorbedingung ist, um Land in Besitz nehmen zu können. 29 Vgl. I Sam 17 f. " ... Sau! begann laut zu weinen und sagte zu David: Du bist gerechter als ich; denn du hast mir Gutes erwiesen, während ich böse an dir gehandelt habe." 30 Vgl. Jes 28,2.6. "Seht, der Herr schickt einen gewaltigen Helden: Wie ein Hagelschlag, wie ein verheerender Sturm, wie ein Wolkenbruch mit seinen mächtigen Fluten wirft er alles mit Macht zu Boden ... er verleiht dem, der zu Gericht sitzt, den Geist des Rechts und gibt denen Kraft, die den Feind zum Stadttor hinausdrängen." Somit unterstützt der Herr das Gute, drängt aber das Böse hinaus. 31 Vgl. l Kön 8,32. "so höre du es im Himmel, und greif ein! Verschaff deinen Knechten Recht; verurteile den Schuldigen, und laß sein Tun auf ihn selbst zurückfallen! Den Schuldlosen aber sprich frei, und vergilt ihm, wie es seiner Gerechtigkeit entspricht." Daran wird der Tun-Ergehen-Zusammenhang deutlich, wonach der Mensch für das, was er tut, nicht nur Rechenschaft ablegen muß, sondern, daß es ihm dem entsprechend dann auch so ergeht, wie er handelt - Gott und den Mitmenschen gegenüber. 32 Vgl. Ez 18,5. Kurz und eindringlich, unzweideutig heißt es dort: ,Jstjemand gerecht, so handelt er nach Recht und Gerechtigkeit." Menschliches Wirken oder Unterlassen ist daher auf Gott verwiesen. 33 Ps 24,3 - 5.
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erfährt so seine höchste und beste Norm darin, den Willen Gottes und sein Gesetz zu erfüllen und den Weg des Herrn zu gehen. Denn der Gerechte existiert Gott wohlgefallig34 ; er erfüllt das vorgeschriebene Gesetz Jahwes35 und ist- ganz allgemein gesprochen - der Treue und der Fromme. "Wer weise ist, begreife alles, wer klug ist, erkenne es. Ja, die Wege des Herrn sind gerade; die Gerechten gehen auf ihnen, die Treulosen aber kommen auf ihnen zu Fall. " 36 Aus diesem Blickwinkel wird dann die Bezeichnung des Messias als der Gerechte schlechthin einleuchtend: "Seht, es kommen Tage - Spruch des Herrn-, da werde ich für David einen gerechten Sproß erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln, für Recht und Gerechtigkeit wird er sorgen im Land.'.37 Gerechtigkeit wird damit als Grundhaltung aufgefaßt, die eine bestimmte Lebensweise und Einstellung verlangt, die wiederum in allen Bereichen des täglichen Lebens sichtbar wird, aber besonders im Verhalten gegenüber dem Nächsten, denn eine Sozialordnung ist immer nur so gerecht oder ungerecht, wie ihre Einzelglieder die Gerechtigkeit praktizieren. 38 Nach dem Exil der Israeliten suchte man eine neue Richtschnur, an denen sich Gesetze orientieren konnten, wobei der Rückgriff auf Altbewährtes legitim erschien. Dabei erhielt das mosaische Gesetz große Bedeutung, weil das Gesetz allmählich das gesamte Leben der Juden zu regulieren begann. 39 Dennoch sind die Grundhaltungen bei einzelnen Berufsgruppen verschieden, denn der große Gesetzesfreund, der Dichter, ist noch weit entfernt vom rabbinischen Idealbild des Gerechten, d. h. von vornherein sind die unterschiedlichen Umgangsweisen in den Gruppen und Schichten der Gesellschaft notwendigerweise zu registrieren. Der lange Psalm 119 (mit 176 Versen) ist ein einzigartiges Gebet um Gnade, um Stärke und Erleuchtung, um die kostbaren Vorschriften der Gesetze zu halten,40 während 34 Dies wird exemplarisch am Beispiel Noahs sichtbar. Gen 6,9: "Noah war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging seinen Weg mit Gott." 35 Mit der Erfüllung des Gesetzes ist gleichzeitig die Tatsache verbunden, nicht zu sündigen, ansonsten geht der einzelne seines Heiles verlustig. Ez 3,20 f. : "Und wenn ein Gerechter sein rechtschaffenes Leben aufgibt und Unrecht tut, werde ich ihn zu Fall bringen, und er wird sterben, weil du ihn nicht gewarnt hast. Seiner Sünde wegen wird er sterben, und an seine gerechten Taten von einst wird man nicht mehr denken. Von dir aber fordere ich Rechenschaft für sein Blut. Wenn du aber den Gerechten davor warnst zu sündigen, und er sündigt nicht, dann wird er am Leben bleiben, weil er gewarnt wurde, und du hast dein Leben gerettet." Wer sich alsotrotzder Warnungen versündigt, der verliert das Heil. 36 Hos 14,10. 37 Jer 23,5. 38 Der Umgang mit dem anderen zeigt sich im Vollzug der Gesetze und in der gerechten Behandlung gegenüber dem anderen, z. B. beim Pfand. Dtn 24,13. ,,Bei Sonnenuntergang sollst du ihm sein Pfand zurückgeben. Dann kann er in seinem Mantel schlafen, er wird dich segnen, und du wirst vor dem Herrn, deinem Gott, im Recht sein." D.h., wer Gerechtigkeit praktiziert, der ist gerecht vor Gott und den Menschen. 39 Nur der findet Wohlgefallen beim Herrn, der gerecht ist. Spr 15,9: "Ein Greuel ist dem Herrn der Weg des Frevlers, wer aber der Gerechtigkeit nachjagt, den liebt er." 40 Vgl. Ps 119, I. "Wohl denen, deren Weg ohne Tadel ist, die leben nach der Weisung des Herrn."
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das spätere Judentum (besonders der Rabbinen) die Gesetzeserfüllung aus eigenen Kräften des freien Willens zu schaffen hoffte.
2. Die Gerechtigkeit des Menschen im NT Im Neuen Testament lebt das Grundverständnis von Gerechtigkeit aus dem Alten Testament weiter. Deshalb hat man Johannes nicht geglaubt, daß der neue Äon anbricht. "Denn Johannes ist gekommen, um euch den Weg der Gerechtigkeit zu zeigen, und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen, und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt."41 Dennoch werden zuerst die Pi:-opheten42, die Frommen43 wie (im AT) und die Patriarchen44 gerecht genannt. In der Kindheitsgeschichte bei Lukas werden Zacharias und Elisabeth45 sowie der greise Simeon46 als Gerechte herausgestellt. Diese Gerechten sind die einen, die das Heil Gottes erlangen, doch daneben gibt es noch eine neue Gerechtigkeit, wie es im Epheserbrief heißt: ,,Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." 47 Damit ist nun gemeint, daß die Gerechtigkeit keine statische Tugend ist, sondern daß sie in der Hinwendung zur Frohbotschaft erreicht werden kann. Diese Art der Gerechtigkeit ist nicht eine, die der Werkgerechtigkeit der Pharisäer48 entspricht, sondern über diese hinausgeht, denn die Pharisäer sind in ihrem Wirken darauf bedacht, die Gerechtigkeit formal (dem Gesetz entsprechend) zu vollziehen, was aber nicht in Verbindung mit der Grundeinstellung des Herzens steht oder stehen muß. Denn Gerechtigkeit, wie sie im NT eingefordert wird, ist sowohl eine innere Gesinnung49, die einer Grundhaltung entspricht, als auch ein 41 Mt 21,32. Damit ist gemeint, daß nicht notwendigerweise die privilegierten Schichten den Forderungen des Gesetzes und der Gerechtigkeit nachkommen, sondern häufig sind es die "Kleinen" in der Gesellschaft, die gerecht handeln. 42 Vgl. Mt 23,29. "Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten." 43 Vgl. 2 Petr 2,9. "Der Herr kann die Frommen aus der Prüfung retten; bei den Ungerechten aber kann er warten, um sie am Tag des Gerichts zu bestrafen." Wer also fromm und gerecht handelt, der wird Gnade beim Herrn finden. 44 Vgl. Hebr 11,4. "Aufgrund des Glaubens brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain; durch diesen Glauben erhielt er das Zeugnis, daß er gerecht war, da Gott es bei seinen Opfergaben bezeugt, und durch den Glauben redet Abel noch, obwohl er tot ist." 45 Vgl. Lk 1,6. "Beide lebten so, wie es in den Augen Gottes recht ist, und hielten sich in allem streng an die Gebote und Vorschriften des Herrn." 46 Vgl. Lk 2,25. ,,In Jerusalem lebte damals ein Mannnamens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der heilige Geist ruhte auf ihm." 47 Eph4,24. 48 Mt 5,20. "Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen." 49 Vgl. Mt 6, I. "Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten." Daran wird deutlich, daß das Element der Bescheidenheit essentiell zur Gerechtigkeit dazu gehört.
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Geschenk Gottes 50 selbst. Durch die Taufe Jesu will dieser die Gerechtigkeit erfüllen und damit die alttestamentliche Verheißung der Gerechtigkeit transzendent realisieren. 51 Die Übung der christlichen Gerechtigkeit ist eine Folgerung der Geburt aus Gott52 selbst (der gerecht ist), aber auch des Seins aus Gott und wird sichtbar an der tätigen Nächstenliebe53 , wie z. B. durch das Geben von Almosen. Die praktische Umsetzung dieser theologisch-biblisch begründeten Gerechtigkeit geschieht nicht nur als Grundhaltung, sondern wird durch verschiedene Elemente bestimmt, die nun zu behandeln sind.
IV. Die drei Elemente der Gerechtigkeit: der Andere, das Zustehende, die Sachmitte Die Tugend der Gerechtigkeit, die sich sozial, theologisch, anthropologisch oder durch juristische Argumentation begründen läßt, hat nichts mit vagen Weltverbesserungs versuchen, die theoretisch aufgehen mögen, aber für die Praxis ohne Realbezug undurchführbar erscheinen, zutun. Es mag schon eigenartig sein, daß eine Epoche wie die unsere, die sich durch technischen Fortschritt und organisatorischen Sachverstand auszeichnen mag, aber gleichzeitig der Ruf nach Gerechtigkeit als gelebter Tugend lauter wird und nicht wenige klagen über die Abnahme der Sach- und Menschlichkeit im interpersonalen Bereich. Die Einübung, Vermittlung und Erziehung zur Gerechtigkeit setzt voraus, daß Klarheit über die innere Struktur und das Ziel, das es anzustreben gilt, besteht, denn die Lehre über die Gerechtigkeit benennt drei Grundfaktoren, die als Grundgerüst für die Gerechtigkeit gelten: als Zielpunkt den "Anderen", als Gegenstand das "Zustehende" und als Maß der Gerechtigkeit die "Sachmitte". 54
50 Vgl. Mt 5,6. "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden." Es ist also lohnenswert, der Gerechtigkeit zu folgen, weil durch sie Heil geschieht. 51 Vgl. Mt 3,13 ff. Durch die Taufe soll Gerechtigkeit geschehen, und somit auch der Auftrag Jesu erfüllt werden. ,,Zu dieser Zeit kam Jesus von Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen. Johannes aber wollte es nicht zulassen ... Jesus antwortete ihm: Laß es nur zu! Denn nur so können wir die Gerechtigkeit (die Gott fordert) ganz erfüllen." 52 Vgl. 1 Joh 2,29. "Wenn ihr wißt, daß er gerecht ist, erkennt auch, daß jeder, der die Gerechtigkeit tut, von Gott stammt." Als Indikator für göttliches Wirken gilt daher die Gerechtigkeit. 53 Vgl. Mt 25,45 f. Wer dem Nächsten Gutes tut, tut es gleichsam Gott. •.Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben." Durch die Ausübung der Gerechtigkeit wird also über Heil oder Unheil entschieden. 54 Vgl. Bruno Molitor; Warum soziale Gerechtigkeit? Faderborn o.J. 9 ff.
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1. Die Gerechtigkeit und der "Andere" als Ziel der Tugend
Im Prozeßdenken des gerechten Handeins ist nicht zuerst der Anspruchsträger als der Berechtigte, sondern vielmehr der Verpflichtete, der etwas schuldet, zu beleuchten. Dies ist im Verhältnis Gott-Mensch die Einzelperson, die Gott die Existenz verdankt und aus diesem Bewußtsein heraus, gerecht handeln sollte, weil der einzelne verdanktes Sein erfährt. Gewöhnlich denken Menschen, die in demokratisch-offenen Systemen aufgewachsen sind, zuerst von den Grund- und Menschenrechten her, was (auch) seinen Grund hat in der Abwehrhaltung gegen kollektivistische Tendenzen und Machtansprüche. Dennoch wäre es wohl verhängnisvoll, würde nicht die basisnotwendige Aussage berücksichtigt, daß die Durchsetzung von Ansprüchen und Pflichten - niemals dort Gerechtigkeit zu schaffen in der Lage ist, wo das Wohl der Gemeinschaft geschädigt wird. 5 5 Für nicht wenige Landsleute der Postmodeme wird der Andere aber unidentifizierbar sein oder bleiben, weil die medialen Möglichkeiten nicht nur Raum überbrücken, sondern häufig auch neue zwischenmenschliche Distanz aufbauen. Wer ist nun der Andere, auf welchen hin ich durch die Gerechtigkeit gefordert bin? Es ist der I die einzelne, dem I der ich in humaner Beziehung interpersonal gegenübertrete und damit teilhaft das soziale Ganze erblicke und erlebe. In dieser Situation trete ich dem I der von mir getrennt-anderen in der Grundhaltung der Fairneß gegenüber, dem Freund oder Konkurrenten, dem Familienmitglied oder Arbeitskollegen, dem Über- oder Untergeordneten, dessen I deren Andersartigkeit Geduld und Langmut fordert, und dem jede(r) einzelne das zukommen zu lassen hat, was ihm I ihr als Person und durch Würde ausgestattetes Wesen geschuldet ist, so z. B. die berufliche Entfaltung, die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung, oder die Erfüllung eines Versprechens, das einmal gegeben wurde. Kaum ein Unternehmer vermag es, allen seiner Arbeiter Freund zu sein, oder er wird sie nicht einmal schätzen, dennoch schuldet er ihnen Gerechtigkeit, die sich aber nicht nur in einem leistungsgerechten und tariflich bzw. sozialpartnerschaftlieh abgesicherten Lohn oder Gehalt erschöpft. Der einzelne hat viele "Andere", obwohl er durch das ihnen Zukommende verpflichtet ist, was jedoch nur über die Mitwirkung der Gemeinschaft zu erlangen ist. Dies aber beinhaltet nicht den gesamten Sachzusammenhang. Denn ganz entscheidend ist die Tatsache, daß es eine Wirkung des Ganzen geben muß, die nicht als reine Summe mit der Wirkung der Handlung vieler Einzelglieder identisch sein kann, sondern über diese hinausgeht. 56 Es gibt in der humanen Umgangswelt Möglichkeiten zur Entfaltung, die Potentiale aufgegebener Ziele darzustellen und zu realisieren, die aber nicht nur durch gemeinschaftliches Wirken ihre Erreichung finden können. Und deshalb ist jede(r) gerade durch das soziale Ganze durch das ihm I ihr Zustehende rechtens verpflichtet, gemeinsam und allein an der Verwirklichung der gerechten Ordnung mitzuwirken. Hier gehören also beide Elemente zusammen, denn einerseits ist der einzelne gefordert, anderer55 56
Vgl. Josef Pieper; Über die Gerechtigkeit. München 1953; 89. Vgl. Thomas von Aquin; In Eth. 1,1 (5).
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seits die Gemeinschaft durch die aktive Partizipation des einzelnen. Hier ist eine starke Interdependenz vorhanden, die es stets zu berücksichtigen gilt. 2. Dasjedem/jederdurch Gerechtigkeit "Zustehende"
Wird z. B. ein Kaufvertrag abgeschlossen, dann sind die Bedingungen, die die Involvierten betreffen, eindeutig umrissen. Ist in solchen Fällen die Verfahrensweise strittig, dann wird dies gewöhnlicherweise vom Gesetz geregelt und I oder von einem Gericht entschieden. Der Anspruch des anderen ist dann mit juristischen Mitteln durchsetzbar und zeichnet gerade ein rechtsstaatliches System aus. 57 Jedoch ist dies, was der anderen Person zusteht und vertraglich gebunden wird, nur ein Aspekt, denn das Zustehende ist gewissermaßen frei vereinbart worden und erst durch die Wechselseitigkeit in der Vereinbarung selbst zum humanen und interpersonalen Anspruch geworden. Demnach ist das ,,Zustehende" die Subjektsteilung in der Gesellschaft, und im sozio-kulturellen Kontext ist es die Realisierung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten schon vorhandener Potentiale sowie das ausgesprochene Maß der Freiheit selbst, denn als menschliche Person hat der andere ein strenges Recht darauf. Dabei ist jedoch fraglich, ob Gesetze dieses Recht wirksam und dauernd zu sichern vermögen, da sich Grundhaltungen, die die Gesetze aushöhlen, immer destruktive Auswirkungen haben. Aber das Respektieren der Rechte des anderen geschieht im Verhalten äußerer Handlungen, so wie in der Bibel dargestellt - im Verhältnis Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel. Hier ist eine der Schwachstellen der modernen Zivilisation angesprochen, wenn in ihr zwar realistisch die wirtschaftlichen Kalküle, die politischen Maßnahmen, die technischen Möglichkeiten oder die Hygiene sehr bewußt und förderlich für die Menschheit eingesetzt werden, jedoch die Formung des gesellschaftlichen Lebens mit Gesinnungen, sozialen Aufklärungskampagnen, Appellen und Optionen ausreichend versehen wird, ohne aber die Menschen und ihre existentiellen Zwecke realistisch zu evaluieren, so als ob man Ordnungen, Systeme und Institutionen mit Appellen an die Gesinnung, die gesellschaftliche Aufklärung und Ideologie wirklich aufrichten könnte. Es reicht eben gerade nicht, wie einige Kreise von Soziologen fordern, die sozialen Ungerechtigkeiten mittels der Aufklärung, der Vermehrung des Wissens und Anprangerung sozialer Probleme, um diese zum allgemeinen Bildungsund Gedankengut zu erheben und die Massen zu ergreifen, auch gleichzeitig zu lösen. Niemals wächst die rechte Ordnung durch angenehmes Wohlwollen oder intensive Beschäftigung und Mitteilung über die Hintergründe allein, in der Lebenswelt, in der die Einzelperson existiert, sondern vielmehr durch Fakten, durch äuße57 Da dies als Basis für Demokratie zu gelten hat, kommt ihr große Bedeutung zu. In den Reformstaaten, so z. B. in Rußland, ist das fehlende juristische Instrumentarium der Grund für den langsamen Aufschwung, die politische Instabilität und die wirtschaftlichen Probleme, weil niemand sein Recht wirklich durchsetzen kann (außer mit kriminellen Mitteln das Unrecht).
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res Verhalten und die klare Sozialanalyse kommen Rechte zur Anerkennung und Realisierung; es entsteht ein Tun-Ergehen-Zusammenhang, d. h. wenn sich Israel nicht an die Vereinbarungen mit Jahwe hält, dann muß das Volk dafür die Konsequenzen tragen. In den Fällen, in denen die Verwirklichung die Möglichkeiten übersteigt, ist es ein Postulat, sich aus dem Gleichheits- und Gerechtigkeitsgrundsatz motivierend, für das Zustehende des anderen einzutreten und solange nicht zu enden, bis es zur Durchsetzung des Gerechten kommt, was gerade auch bei den Rechten des anderen gilt, selbst wenn diese nicht durch juristische Erzwingbarkeit durchsetzbar sind. Gerade die ausgesprochen essentiellen Rechte des Menschen sind es, die in Strenge die Grundhaltung der Gerechtigkeit benötigen, aber doch nur mittels des freien Tuns des je Richtigen zu ihrer Gewährleistung kommen können. Wenn man ganz genau die Formen der Verletzung der Gerechtigkeit als Tugend im heutigen Alltag beim Namen nennt, wie Diskriminierung, falsches Urteil, Halbwahrheit, Verschleierung, Argwohn, Lobbying und Mobbying, dann wird der Beobachter sich dessen bewußt, welches große Problem in der Gegenwart als Krankheit der neuen Informations- und Mediengesellschaft zu gelten hat: die Grenzmoral, die gerade noch, aber nur bis zum Limit reicht, die Paragraphen der Gesetze und ihre Lücken ausnutzt, vielleicht aber auch nur die Prozeßkosten berechnet, wenn es um die Durchsetzung eigener Interessen und die Verhinderung anderer Vorteile zum eigenen Nutzen geht. Nicht ertragbar sind in diesem Sinne die Abhängigkeitsverhältnisse und Interdependenzen, die einem jeden in der modernen Zivilisation aufgegeben sind, ohne der Einübung und dem Vollzug der Gerechtigkeit, denn bei stärker fehlenden Maßstäben und größeren Unübersichtlichkeiten ist das "jedem Zustehende" immer schwerer qualitativ und quantitativ determinierbar. 3. Die Gerechtigkeit und ihre "Sachmitte" Die Gerechtigkeit ist, im interpersonalen Verhältnis zum anderen vollzogen, und durch die Respektierung der Rechte des anderen durch die Tat realisiert, sowie ihrem Maß der Eigenart entsprechend, der harte Kern der mit-menschlichen Existenz. Wieviel an konkreten Genußmitteln ein Mensch zu vertragen im Stande ist, läßt sich objektiv und allgemein kaum evaluieren, sondern ist abhängig von der Einsicht und Klugheit der Einzelperson, denn dies ist nicht durch Dritte festzulegen. Der Grad und das Ausmaß der Gerechtigkeit liegen in der Sache selbst und niemals außerhalb ihrer, denn das Maß ist durch sie sachlich bestimmt! Das Maß des Handeins in Gerechtigkeit ist determiniert durch die Sache, womit sich das, welches in der je spezifischen Causa durch die Gerechtigkeit zu postulieren ist, auch objektivierend ermitteln läßt. Dann entscheiden nicht mehr Meinungen und subjektive Ansichten über die Angelegenheiten und Sachen, sondern hier ist, allgemein feststellbar, die Egalität des Einzelmenschen ins Recht einzusetzen, und in einem solchen Falle kann es, von einem neutralen dritten Punkt aus, zur (richterlichen) Entscheidung und Bestimmung des Rechtes kommen. Durch das
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rechte Wirken und Tun realisiert sich das Sachgemäße, das dem Naturgemäßen entspricht und in dieser Hinsicht ist die Tugend der Gerechtigkeit stets Postulat und innere Handlungsmotivation zugleich, denn man kann nicht in der Unkenntnis der Sache wirken oder sie sogar ignorieren, ohne aber selbst ungerecht zu sein und Ungerechtes zu tun, weil das Richtige (als iustum) nicht vom Gerechten (iustitia) zu trennen ist. Aus diesem Grund ist der Streit und der Diskurs, ob in der Ordnungsaufgabe die Zustandsreform der Gesinnungsreform nachgestellt oder vorangestellt sein muß, letztlich fruchtlos, da die Grundeinstellung der Sachlichkeit und ausreichenden Sachkenntnis58 im Verhältnis zum anderen niemals abstrahierend von den je spezifischen Umständen gesehen werden kann, wo auch immer die Wirklichkeit des Guten ernsthaft angestrebt wird und wo ebenfalls die Zustände dem Maßstab der gerechten Ordnung anzupassen und zu korrigieren sind -jedoch stets in der Ausrichtung auf die Gerechtigkeit, durch sie und mit ihr. Ist der Maßstab von der Sache und den konkreten Gegebenheiten her zu bestimmen, die natürlicherweise vom Wandel und den Veränderungen her zu sehen und zu berücksichtigen sind, dann ist wiederum keine sachliche Tugend im Verhältnis zum anderen möglich, die nicht die dynamischen Prozesse akzeptiert. Aber, das ist wichtig zu vermerken, nicht das Recht oder die Pflicht des anderen wandeln sich in irgendeiner Weise, wohl jedoch die Realisierung der Tugend der Sachlichkeit, die sich auf der temporalen, gesellschaftlichen, sozialen und räumlichen Ebene zu verifizieren hat, um den sich wandelnden Gegebenheiten des Rechts und dem dynamischen Element auch gerecht zu werden. Allgemein läßt sich deshalb sagen, daß von dieser Seite die größten Anfechtungen gegen ein Wirken in der Grundhaltung der Gerechtigkeit kommen, denn gerade die destruktive Tendenz zur Beharrung auf erworbenen Rechten, die vielfach mißgeleitet ist, liefert die bedrohlichsten Argumente gegen das Gerechte und die Durchsetzung der Tugend der Gerechtigkeit. 59 Die mit Leben und Sinn gefüllte Einstellung zu Recht und Gerechtigkeit, die sich im Vollzug der Tugend offenbart, kann sich der Wirklichkeit und deren Wahrheit, die ständig neu in den veränderlichen Sachvorgegebenheiten zu entbergen ist und die sich immer im "Fluß" befinden, nicht widersetzen, sondern verlangt - ihrem Anspruch entsprechend - nach permanenter Durchsetzbarkeit. ss Vgl. Wolfgang Schmitz; Artikel "Das Prinzip der ausreichenden Sachkenntnis"; in: Dr. Kar! Kummer-Institut (Hg.); Gesellschaft und Politik. Nr. 4/92; 17- 19. "Die heute oft erschreckende Uninformiertheit und Leichtfertigkeit, mit der häufig gerade bewundernswert sozial Engagierte mit schwierigen gesellschaftlichen Problemen umgehen, legt es nahe, ein weiteres Grundprinzip deutlicher als bisher herauszustellen: den (nur scheinbar so selbstverständlichen) Grundsatz, daß man über Probleme kein Urteil fällen und keine Vorschläge machen soll, die man nicht ausreichend versteht. D.h., daß neben dem oft angesprochenen guten Willen auch das gute, ausreichende Wissen nicht minder unentbehrlich ist." Schmitz verweist darauf, daß es auf Sach- und Fachkompetenz ankommt, wenn es um die Entscheidung von Sachverhalten geht, die vielleicht noch weiter reichende Folgen haben als zunächst abzuschätzen ist. 59 Damit sind gewöhnlich nicht die Rechte prinzipieller Art gemeint, sondern vielmehr eine historisch ausgeprägte und im sozio-kulturellen Kontext zu verwirklichende Form des spezifischen Rechts.
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V. Offenbarung und Gottesglaube als Determinanten für das Menschenbild Der Gottesglaube selbst betrifft als natürliche und übernatürliche Offenbarung auch ganz wesentlich das Menschenbild. Aber neuzeitlich gesehen wird der Akzent nicht mehr so sehr auf das Personverständnis an sich gelegt, sondern erlebt eine Verschiebung hin zu einer Aufwertung der Systeme, Institutionen und Ordnungen. Hinsichtlich der Gerechtigkeit im irdischen Sinne kann nur eine Unvollkommenheit festgestellt werden, weil es immanent keine absolut objektiven Maßstäbe für Gerechtigkeit geben kann, da jeder sündig ist. Demnach kann auch die Ethik als Tugendethik nicht das Maß innerweltlich, also völlig ohne Transzendenzbezug aufbauen. Wenn dies trotzdem geschieht, kommt es zur Maßstabsetzung des Menschen als ein Verabsolutierter, ohne jedoch die Immanenz zu überschreiten. Glaubenswahrheiten lassen sich mit natürlicher Vernunft erkennen und begründen, wirken aber dadurch, daß der Mensch mit Erbsünde behaftet ist, als unvollkommen und berühren dadurch auch die soziale Frage; die Offenbarung ist dann Hilfsmittel zum Verständnis des Menschen, der wiederum sowohl Abbild Gottes ist und gleichzeitig zurückfallt in die Sünde, weil er sich in Freiheit gegen Gott wendet. Bezüglich der Gerechtigkeit ist festzustellen, daß die Rechte begründet werden "durch die Erschaffung des Menschen als Person, als Ebenbild Gottes"60 und Mitgestalter der Schöpfung, was durch Offenbarung (theologisch) geschieht. Aus diesem Grunde sind auch einige grundsätzliche Gedanken zur Offenbarung hier zu nennen. Offenbarung ist, wenn man sie in der Umgangssprache bezeichnet, die unerwartete, d. h. überraschende Erfahrung von einem besonders wichtigen Sachverhalt, im religionswissenschaftliehen Sinne ist es die Einwirkung und Erscheinung des Transzendenten auf den Kosmos, und theologisch im weitesten (christlichen) Sinne ist es die sich in der Geschichte realisierende kompromißlose Selbstmitteilung des Transzendenten als ein absolutes Geheimnis, das durch Worte, Ereignisse, Schriften, seinen Vollzug erfahrt und in der christlichen Religion durch Jesus Christus kulminiert, durch den Heiligen Geist vermittelt wird, aber erst dann heilswirksam eingesetzt wird, wenn sie von den Einzelpersonen wie den Völkern in Glauben und Hoffnung angenommen wird, um sie zu verwirklichen. 61 Auf der Ebene des Alltags bedeutet Offenbarung, daß etwas bislang Verborgenes, ein Geheimnis oder ein Mysterium, eine Sache oder eine Person zugänglich, erkennbar oder enthüllt wird. Das Unverborgene ist die Wahrheit, weshalb die Offenbarung stets auch mit dieser ihr eigenen Wahrheit zutun hat. Offenbarung hat ihren hervorragenden Platz im religiösen Denken, das wiederum die gerechte Handlung und den Aufbau der Gesellschaft in Gerechtigkeit motiviert. Denn die 60 Franz Klüber; Artikel "Gerechtigkeit"; in: Alfred K1ose (Hg.); Katholisches Soziallexikon. Innsbruck, Wien, München 1964; Sp. 315- 320; hier: 315. 61 Vgl. Wolfgang Beinert; Artikel "Offenbarung"; in: ders. (Hg.); Lexikon der katholischen Dogmatik. Freiburg, Basel, Wien 1987; 399-403.
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Offenbarung betrifft dasjenige, was das Geheimnis hinter allem Immanenten ausmacht und somit Ziel und Sinn menschlichen Seins tangiert. So verwundert es nicht, daß in der abendländischen Neuzeit der Offenbarungsbegriff zum Gegenpol der Aufklärung wird. Allerdings beinhaltet auch der Terminus "Aufklärung", daß dem Einzelmenschen Klarheit über sein Leben und über sich selbst teilhaftig werden soll, aber in der Aufklärung nicht mit Hilfe des Göttlichen, sondern dort vielmehr durch die Erhellung des Geistes mittels der eigenen Vernunft. 62 Bezüglich der Religionen ist der Offenbarungsbegriff zunächst weder etymologisch, noch semantisch als ursprünglich religiöser Terminus zu eruieren. Andererseits ist er, wo er allgemein religiös zum Einsatz kommt, nicht nur ein Begriff des Christentums allein. Denn alle Religionen sind in ihrem Wesen ausgerichtet auf das Göttliche, allgemeiner auf das Transzendente, auf das, wo sich dem Menschen Gott kundtut und sich der Mensch berühren läßt vom Handlungsanspruch, um sich dann danach auszurichten. Diesem entspricht die Forschung in den Religionswissenschaften, daß nämlich in den unterschiedlichen Religionen von der Kundgabe des Transzendenten63 an die Menschen und Volker oder aber von der göttlichen Wahrnehmung zurecht gesprochen oder geschrieben wird. Solche Offenbarungen kommen in Stammes-, Natur-, Volks- und Weltreligionen vor, die durch den Mythos mehr oder weniger entscheidend geprägt sind, d. h. daß die einzelnen Religionsgemeinschaften zwar alle das Element der Offenbarung in sich als Konstitutivum kennen, aber ganz verschieden davon beeinflußt sind. In welcher Form und inwieweit die Offenbarung als Phänomen der Sprache gilt, oder aber ob es genügt, daß die innere Klarheit, die als Geschenk der Offenbarung anzusehen ist, nachträglich als folgender Schritt dann auch ausgesprochen wird, oder wie im Falle Buddhas, das erleuchtete Schweigen und die innere, leermachende Stille als Offenbarung eines unaussprechlichen Geheimnisses anzusehen und zu akzeptieren, d. h. zu glauben sind, muß im Verständnis abendländischer Offenbarungsansicht ungeklärt und unentschieden bleiben. Somit ist auf der Ebene der Religionen ein Grundproblem zu erkennen, daß sich aus dem Verständnis der Offenbarung ergibt, da das Verhältnis von Hören I Sehen und das darüber Sprechen ein subjektives ist, was wiederum oft ungeklärt bleibt und auch nur durch die Hermeneutik64 asymptotisch empirisch lösbar ist. Im Christentum ist die Offenbarung als Teil der christlichen Theologie zu einem Kernbegriff geworden, besonders in der Neuzeit. In ihr bezeichnet die Offenbarung als solche die völlige Selbstmitteilung Gottes, die wiederum gipfelt in der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohnes. In diesem Grundverständnis hebt sich der 62 Vgl. Hans Waldenfels; Artikel "Offenbarung"; in: Franz König/ ders.(Hg.); Lexikon der Religionen. 2. Auflage Freiburg, Basel, Wien 1988; 470-479. 63 So z. B. durch die Schriften, in denen dieser Offenbarungsvorgang deutlich wird: Gott ruft. Er spricht, übt Macht aus; den Menschen wird die Einsicht zuteil; sie werden erleuchtet; etc. 64 Vgl. dazu: Hans Georg Gadamer; Artikel "Hermeneutik"; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Basell974.
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Offenbarungsbegriff als genuin christlich von anderen etymologischen, religiösen und nichtreligiösen Einsichten und Verständnissen völlig ab und wird dadurch gerade zum Unterscheidungsmerkmal. Natürlicherweise bestehen neben der theologisch-christlichen Auffassung noch viele andere Verständnisse weiter, die deshalb Beachtung finden müssen, weil sie zur Kommunikabilität in Kontakt, Vergleich und Abgrenzung zu anderen Offenbarungsverständnissen führen. Im Vergleich der Religionen muß immer darauf geachtet werden, welchen Charakter der spezifische Blick auf die Gerechtigkeit hin hat, weil sich daraus ganz wesentlich die Grundeinstellung zum Leben des einzelnen und in Gemeinschaft ergibt, was wiederum auf die Gerechtigkeit und ihre Praxis wirkt.
VI. Erkenntnis des Daseins Gottes und der Sittlichkeitsanspruch in der Realisierung der Gerechtigkeit Der erste Zugang zu einer Erkenntnis Gottes eröffnet sich der Einzelperson durch das Gewissen, und es schlägt einem das Gewissen, wenn gegen das Prinzip der Gerechtigkeit verstoßen wird, vorausgesetzt, das Gewissen ist gebildet. Das Gewissensgesetz ist der Ausdruck des Willens des göttlichen Gesetzgebers, der initiiert und sich durch das Gewissen des einzelnen öffnet. Es ist die Vernunftnatur des Menschen, die das Zentrum der Gewissensgesetze als vom Transzendenten stammendes Gesetz für die Natur des Menschen formt. Der Wille Gottes kann gegenüber dem mit Vernunft ausgestattetem Wesen der Person und ihrer je freien Selbstdetenninierung zunächst nur in Form des Gebotes wie ein Befehl an den Einzelmenschen herantreten, nicht aber auf der Ebene des Naturgesetzes, durch die Gott selbst die Ordnung, die er in der vernünftigen Natur grundgelegt hat, auch tatsächlich wirken läßt. Daraus ergibt sich, daß diese Form der Mitteilung nur eine sein kann, die mittels der Vernunft und der Erkenntnis zur Wirksamkeit gelangt, " . . .und zwar so, daß diese Erkenntnis der Vernunftnatur mit ihrer Vollentwicklung auch unmittelbar gegeben ist. Nur dann ist jeder Mensch dazu befähigt, wozu er als Vernunftwesen befähigt sein muß: das sich an ihn richtende Gesetz zu kennen und zu erfüllen."65 Diese unmittelbare Vernunfteinsicht der Person in die sittlichen Wahrheiten und das sich daraus ergebende Sollen, als das natürliche Licht der Vernunft, liegt in der Erkenntnis selbst. Die notwendige Kundmachung des Sittengesetzes als Gesetz Gottes (oder neutraler: als Gesetz des Transzendenten) geschieht demnach infolge der natürlichen Offenbarung mit Hilfe der Vernunft und ihrer sich direkt mitteilenden Einsicht in sittliche Grundwahrheiten, die elementar sind. Dem Menschen durch die Natur und Vernunft offenbart, wird das Gesetz des Gewissens als sittliches Naturgesetz 65 Johannes Messner; Kulturethik. mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik; Innsbruck, Wien, München 1954; 170. Ebenso: Hideshi Yamada/J. Michael Schnarrer; Zur Naturrechtslehre von Johannes Messner und ihrer Rezeption in Japan. Beiträge zum Naturrecht Nr. 1, Studien der Johannes-Messner-Gesellschaft Wien; Wien 1996.
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und natürliches Sittengesetz kundgetan, im Gegensatz zum christlichen Sittengesetz, das durch die in den biblischen Schriften enthaltene übernatürliche, weil transzendente Offenbarung (und eingeschlossen durch den Dekalog) erfahrbar wird. Denn das sittlich-moralische Naturgesetz ist die durch die geschaffene Vernunft des Menschen sich artikulierende immer bestehende Weisheit, die durch permanente Verfolgung der Wahrheit der gesamten Schöpfung Ordnung, Sein und Plan gibt. Da aber die sich mit Gottes ewigem Sein und seinem eigenen Gesetz des Wirkens in Einklang befindliche Weisheit auch dem Menschen zugänglich wird, ist sie, die Iex aeterna (wie sie Augustinus nennt) und das Sittengesetz natürlicher Art die Reproduktion des ewigen Gesetzes im Menschen selbst und wird von Thomas von Aquin als Partizipation vernunftbegabter Geschöpfe (als Abbilder Gottes) an seinem immer währenden Gesetz bestimmt und hervorgehoben. 66 Es ist die Spiegelung der unerschaffenen Wirklichkeit im ewigen Gesetz, durch die die Vernunft der Einzelpersonen zu ihrem Vollzug und den Einsichten gelangt, nach welchen der Mensch um die stets unveränderlichen Werte weiß und ihre unbedingte Geltung im Bereich des Sittlichen zu erkennen vermag. Denn Gott würde sich selbst widersprechen müssen, so die anthropologische Einsicht, wenn die humane Natur und die ihr wesenseigenen Zwecke, Triebe, Veranlagungen und Talente des Menschen als Bekundung des transzendenten Schöpferwillens geltend, nicht jedoch mit der Vernunft in Übereinstimmung zu bringen wären, wenn nun Gott durch das Gewissensgesetz und seinen unmittelbaren Wahrheitseinsichten im sittlich-moralischen a priori ganz andere Anweisungen und Vorschreibungen machen würde, als die, welche der Vernunft ebenfalls und gleichsam in der erkennbaren menschlichen Natur (mit ihren existentiellen Zwecken, die stets schon vorgezeichnet sind), d. h. der Person als Glied der Schöpfung, uneingeschränkt zugänglich sind, weil sich Gott selber mit der Erschaffung der Welt und der Natur gleichzeitig an sie ge- und mit ihr verbunden hat. Ebenso ist offensichtlich, daß der transzendente Schöpfergott nicht den Widerspruch des Humanums gegen seine Intention des Heiles letztgültig annimmt sollte nämlich die Ordnung verletzt werden, die auf dem ewigen Gesetz beruht, so ist sie zu erneuern und wieder herzustellen, zumindestens soweit, daß das menschlich-subjektive Wollen, das sich gegen Gott richtet, doch dem Ewigen zu unterwerfen hat oder andererseits die Konsequenzen für die Abwendung von Gott zu tragen hat. Wer sich also sündigend von Gott wegbewegt, wird auch nicht mehr in der Lage sein, gerecht im Sinne des Transzendenten zu wirken, sondern vielmehr an der Selbstgerechtigkeit des eigenen Maßstabs, der ent-göttlicht ist, scheitern. Mit dem Sitten- und Gewissensgesetz ist demnach das ewige Gesetz Gottes in Unbedingtheit und Realisierungsbedürftigkeit verbunden und geschieht durch Wiederherstellung, durch Reue, durch Gehorsam und Demut, und es wird somit letztlich zum wichtigsten Deutungsgrund der Nötigung des Gewissens "im Sinne der mit der sittlichen Pflicht für die Selbstbestimmung des Menschen verbundenen unbe66
Vgl. Thomas von Aquin; Summa theologiae. I, Il. 91 , 2; 3. Auflage Stuttgart 1985.
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dingten Notwendigkeit. " 67 Wie bei jedem Verbot und Gesetz, so auch auf der Ebene des Sittlichen, werden durch Strafe und Lohn, also Sanktion und Prämierung, die Erfüllung im Sinne der Realisierung sichergestellt. Hinsichtlich des Gewissensgesetzes hat die Sanktion ein zweifaches Gesicht, denn es ist einerseits das gute oder das schlechte Gewissen, und andererseits ist es die nicht mehr veränderliche Inbesitznahme oder das letztgültige Verfehlen der ewigen Erfüllung, die wiederum allein genügendes, menschliches Ziel des Glückstriebes ist. Dagegen wirkt der onumkehrbare Verlust der Erfüllung dieses Sach- und Heilsverhalts, sollte die Einzelperson, die verantwortlich ist, unfähig zur Erkenntnis dessen geworden sein, dennoch quälend für die Person. Der Wille des Schöpfers ist als unabänderbare Realität durch das sittliche Naturgesetz zu verwirklichen, und deshalb verbindet sich mit dem Postulat der Sittlichkeit sowohl das notwendige Sollen, als auch die unbedingte Forderung des Müssens, denn die sittliche Ordnung verlangt nach Realisierung dieser Wirklichkeit, die sich mittels der Vernunft des Menschen durchsetzt, und ebenso dependiert die Determination des einzelnen unausweichlich von dieser Sachgegebenheit, ob es zum Heilsvollzug beiträgt oder nicht. "Denn die unvernünftige Schöpfung ist nicht an sich dazu bestimmt, ewige Wirklichkeit zu sein, während die sittliche Welt ewige Wirklichkeit werden muß. " 68 Hier wird nun die Frage aufgeworfen, wie der Zusammenhang zwischen Sinn, Leben und Sittlichkeit, oder anders gesagt, zwischen Grundeinstellung und Vollzug der Gerechtigkeit zu bestimmen ist. 69
VII. Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit und ihr Maß Die Tugend der Gerechtigkeit ist immer auf ganz konkrete Rechte bezogen. Daraus ergibt sich die Tatsache, daß sie einen differenzierten Charakter gegenüber anderen Tugenden besitzt, weil jede Verpflichtung zur Gerechtigkeit schon ein Maß a priori in sich trägt und diese nicht erst extrinsisch hinzukommen muß. Dieses Maß ist mit dem (im juristischen Sinne) vorgegebenen Rechtsanspruch aufgegeben und determiniert zur Verwirklichung, während - und das ist herauszuheben - jegliche andere Tugenden kein solches Verwirklichungspostulat intrinsisch aufweisen. So ist im Postulat des Gebens von Almosen nie das Maß, also die genaue Summe, festgelegt, dagegen wird man beim Einkauf bestimmter Produkte sehr genau bezahlen müssen, da ein festgelegter Preis vorhanden ist. Wiederum kann der Umfang einer spezifischen Verpflichtung eine doppelte Ausrichtung erfahren, denn dieses Maß meint einerseits die strenge Gleichheit und andererseits die verhältnismäßige Gleichheit. 70 Die strenge Gleichheit ist dann der Fall, wenn Produkte geJohannes Messner; Kulturethik. Innsbruck 1954; 171. A.a. 0. 172. 69 Die Ausführungen dazu würden aber weit über das Thema hinausführen. 70 Vgl. Michael Walzer; Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1992; Walzer trennt in seinem ersten Kapitel, wo es um die "komplexe Gleichheit" geht, zwischen einfacher und 67
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kauft werden, deren Preis schon feststeht und dieser Preis dann ein zu zahlender ist. Wiederum die verhältnismäßige Gleichheit orientiert sich am Gemeinwohl und tritt dann als Postulat hervor, wenn es um einen Anspruch geht, der über das Wohl des einzelnen als Forderung gegenüber Dritten hinausgeht. Das ist u. a. der Maßstab der Gerechtigkeit, der die Ansprüche von sozialen Gruppen, Verbänden, Vereinen etc. betrifft, welche ein Anrecht besitzen auf den geschuldeten Anteil an der ökonomischen Wohlfahrt der Gesamtgemeinschaft, genau dem entsprechend, was ihren je konkreten Beitrag zur Kooperation in gesellschaftlichen Dimensionen ausmacht.71 Gleiches gilt für die Lasten, welche die gesetzgebende Instanz zur Förderung des Gemeinwohls gerecht zu verteilen und deren Beimessung anhand der verhältnismäßigen Gleichheit zu geschehen hat, so daß damit die - aus der Sicht des Gemeinwohls legitimerweise - geforderten Lasten "auf dem Rücken der Einzelglieder" als relativ gleiche zu bezeichnen sind und durch die Leistungsfähigkeit des einzelnen, der seinen eigenen Beitrag zu leisten hat, aber von Person zu Person unterschiedlich sein kann, angemessen zu verwirklichen sind. Daraus folgt die Einsicht, daß das Maß der Gerechtigkeit in den Fällen der strengen und der verhältnismäßigen Gerechtigkeit nicht von gleicher Bestimmtheit sein kann, sondern vielmehr auch die Verpflichtung in jedem Fall verschieden ist. Deshalb ist die Verpflichtung im ersten Falle, wo es die strenge Gerechtigkeit angeht (im Sinne der strengen Gleichheit) 72 in der Erfüllung so zu fordern, daß ihr voll und ganz Genüge getan wird; und diese Forderung bleibt solange bestehen, wie sie nicht erfüllt ist, woraus sich die Pflicht zur Wiedergutmachung73 ergibt, wenn der Rechtsverpflichtung nicht entsprochen wird. Ist dem gegenüber das Maß der verhältnismäßigen Gleichheit angesprochen, dann ergibt sich daraus keine Restitutionspjlicht, auch wenn der Rechtsverpflichtung noch nicht völlig nachgekommen ist, weil nämlich die Verpflichtung keine eng zu umreißende und einklagbare Pflicht umfaßt, sondern vielmehr die im adäquaten Verhältnis stehende Partizipation aller einzelnen Gemeinschaftsglieder, die automatisch für das Gemeinwohl mitverantwortlich sind und zu diesem beizutragen haben. "Das bedingt einen andauernden Prozeß der Anpassung vielfältiger Faktoren aneinander und an die Forderungen des Gemeinnutzens, bedeutet daher die ständige Gerechtigkeitsverpflichtung der dementsprechenden Neuverwirklichung des Gemeinwohls." 74 Summarisch ist deshalb feststellbar, daß die Verpflichtung zur Gerechtigkeit den einzelnen zwar völlig betrifft, aber die Ansprüche sind spezifisch der Situation, der Position und der Leistungsfähigkeit des einzelnen zu bestimmen.75 komplexer Gleichheit, und er beleuchtet die Distributionsprinzipien: der freie Austausch, das Verdienst und das Bedürfnis. 71 Vgl. Johannes Messner; Das Naturrecht. 4. Auflage Innsbruck u. a. 1960; 377 f. n Interessanterweise setzt Johannes Messner die Termini Gerechtigkeit und Gleichheit als auswechselbare in seiner Argumentation ein. 73 Im juristischen Raum wird diese Pflicht auch als "Restitutionspflicht" bezeichnet. 74 Johannes Messner; Das Naturrecht. 4. Auflage lnnsbruck u. a. 1960; 378.
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VIII. Gerechtigkeit aus der Sicht Johannes Messners Für Johannes Messner ist der Ausgangspunkt immer der Mensch. Dieser ist es, der sich verantworten muß für sein Tun oder Unterlassen. So fordern Menschen Gerechtigkeit ein und verbinden damit die Gedankenassoziation, daß damit ein Recht einklagbar ist, das seine Entsprechung zu erhalten hat; andererseits ist es aber auch die Verpflichtung, den Rechten nachzukommen, denn immer stehen Recht und Pflicht in Korrelation zueinander. Im Falle der Forderung nach der Gerechtigkeit betrifft es die Ordnung selbst, in der durch -Natur- und Gesetzesrecht die Rechtsansprüche begründet sind. Auf der anderen Seite geht es um die subjektive Tugend der Gerechtigkeit, die wiederum durch die Bereitschaft, die Rechtspflichten zu erfüllen, bestimmt sein muß. Daher ist festzustellen, daß beide Seiten in der Bedeutung der Gerechtigkeit zusammen zu sehen sind, woraus sich unumstößliche, ja objektiv begründete Ansprüche des Rechts ergeben. Demnach ist die Gerechtigkeit die von obersten Einsichten in die Rechtsprinzipien geleitete und dem suum cuique entsprechende Tugend. So wird das suum als begründeter Rechtsanspruch, der durch das objektive Recht zum Ausdruck kommt, aufgefaßt, welchem durch das aktive Wirken oder durch passives Geschehenlassen jedermann als subjektiver Tugendhaltung in der Pflicht zur Gerechtigkeit zu folgen hat. Aus dieser Überlegung ergibt sich die zwingende Schlußfolgerung, daß nicht das Recht auf der Gerechtigkeit gründet, sondern vielmehr die Gerechtigkeit auf dem Recht. Selbstverständlich beinhaltet das suum die Rechtsansprüche aller, und nicht nur diejenigen, die im Privateigentum verankert sind. Ebenso betrifft das suum die Verteilung der Güter, persönlichindividuell, in der Gesellschaft wie auch im internationalen Raum. Das suum findet seine Anwendung in den natur- und positivrechtlich determinierten Rechten, den Freiheitsrechten der Einzelpersonen, gleichzeitig aber auch in ebenfalls positivwie naturrechtlich begründeten Autoritätsrechten sowohl der Autonomie der gesellschaftlichen Einheiten wie dem Staat selbst. 76 Das christliche Sozialprinzip der Gerechtigkeit zählt zu den basishaften und könnte auch, wie Johannes Messner es tut, als die ,,Bruderliebe zu den Mitmenschen" genannt werden, das sich darin wesenhaft artikuliert, daß die Bereitschaft, die Rechte und die Würde der Mitmenschen zu achten wie sich selbst sowie ebenso zu seinem Wohl beizutragen, als oberstes Umgangsprinzip mit dem Sozialen verstanden werden kann. Denn in christlicher Deutung der personalen Menschennatur ist gleichzeitig die Egalität aller Menschen und ihrer Natur mitgemeint; aber damit ist auch die Gemeinsamkeit des Endzieles auf Gott hin und der väterlichen Liebe Gottes gegenüber allen anderen ohne jeglichen Unterschied verbunden, so daß 75 Was hier in eher generellen Ausführungen zur Gerechtigkeit gesagt wurde, ist auch zutreffend für die theologische Sicht, denn transzendente Ansprüche ragen hinein in die Immanenz und sind auch dort zu verifizieren, so z. B. im interpersonalen Umgang, bei der Aufstellung der Ordnungen und Konstituierung von Systemen und I oder Subsystemen. 76 Vgl. Johannes Messner; Das Naturrecht. 4. Auflage Innsbruck u. a. 1960; 373 ff.
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diese Einstellung zur Geschwisterlichkeit als interpersonale Grundbeziehung erfahrbar und durch die Gleichheit aller (vor Gott) legitimierbar wird. Die natürlichsoziale Pflicht der Einzelperson gegenüber dem Nächsten konstituiert sich durch die Nächstenliebe, wie es dem Gebot Jesu Christi entspricht, wonach jeder den "Nächsten lieben soll wie sich selbst", was wiederum nicht nur ein Gebot des Sittengesetzes mit christlich motiviertem Beweggrund ist, sondern vielmehr als Basisgebot der Gesellschaft der sittlich-natürlichen Ordnung schlechthin zu gelten hat. Jesus Christus stellt in seiner Lehre das Gebot der Gottesliebe mit Nachdruck dem Gebot der Nächstenliebe gleich und deutet damit das Essentiellste der Auffassung vom Einzelmenschen in christlicher Sicht an, nach dem das Verhältnis der mit Würde ausgestatteten Person zum Nächsten durch sein yerhältnis zum Schöpfergott beeinflußt und determiniert ist. "Daher mußte die auf die atheistische Humanitätsidee des individualistischen Liberalismus begründete Menschenliebe zur Entartung und Sozialkrise der Gesellschaft führen und mußte sich gleicherweise die der Aufklärung vom Sozialismus entnommene Idee der Brüderlichkeit, weil nicht auf die der gemeinsamen Vaterschaft Gottes bezogen, in das Prinzip einer erstverpflichtenden Klassensolidarität und eines Erstrechtes auf den Klassenkampf verlieren.'m Demnach wird betont, daß es zu den überraschendsten und erstaunlichsten Widersprüchen im Prozeß der Weiterentwicklung der Gesellschaft gehöre, daß es nach vielen Diskussionen, Gesprächen und Vorträgen zur Humanität, Solidarität und Geschwisterlichkeit, besonders in den letzten 150 Jahren, plötzlich ganz unsachlich erscheinen konnte, daß das Prinzip der Liebe als das fundamentalste aller Prinzipien hinsichtlich der Interdependenzen für die Grundbeziehungen in Wirtschaft, Staat, Gesellschaft, im Bereich des Sozialen und des Internationalen herausgehoben wurde.
IX. Schlußfolgerungen und Zusammenfassung78 1. Im Sinne des systematisch-theologischen Verständnisses ist der Terminus der Gerechtigkeit ein Konglomerat, ein Gemisch aus biblischen und griechisch-philosophischen Elementen bestehend sowie als Ausdruck der gemeinsamen Geschichte verschiedener Kulturkreise geltend, wobei sich der Begriff in der Tradition des christlichen Denkens beheimatet und eingewurzelt hat. Durch seine spezifischen Maßstäbe und spannungsvollen Elemente ist der Gebrauch recht unterschiedlich anzusiedeln, jedoch darf das Element der Semantik nicht dominierend und die Interpretation des anderen determinierend übergreifen, denn damit verbunden sind stets Kompetenzüberschreitungen und Überlagerungen, die zur Verzerrung führen. Damit hat zwar die Gerechtigkeit der Menschen angesichts Gottes ethisch-relevante Konsequenzen, ist aber als Geschenk Gottes selbst transzendente Gabe mit Johannes Messner; Die soziale Frage. 6. Auflage Innsbruck, Wien, München 1956; 344. Vgl. Otto Hermann Pesch u. a.; Artikel "Gerechtigkeit"; in: Walter Kasper (Hg. et al.); Lexikon für Theologie und Kirche. Band 4, Freiburg u. a. 1995; Spalten 498- 507. 77 78
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immanenter Wirkung und ist deshalb keinesfalls mit einer Tugend gleichzusetzen, die erwerbbar wie ein Produkt ist, denn dies würde an der Intention vorbeiführen, die mit der Gerechtigkeit im theologischen Sinne erlaßt werden soll. Im christlichen Grundverständnis geht die ethisch-moralische Verhaltensweise über den Aspekt des Tauschens und Verteilens als genuine Elemente der Gerechtigkeit hinaus. Die Gerechtigkeit im theologischen Sinne ist vielmehr die basishafte Ausprägung des interpersonalen Verhaltens, motiviert durch die göttliche Gerechtigkeit und ihre immanente Vermittlung, denn Heilsvermittlung geschieht durch Offenbarung des Transzendenten selbst. 2. Auf theologisch-anthropologischer Ebene stellt die Gerechtigkeit die Durchsetzung und Konkretisierung der Gleichheit wie der Unterschiedenheit aller einzelnen vor dem Angesicht Gottes dar. Mit Gleichheit in diesem Kontext ist gemeint, daß vor Gott kein Ansehen der Person gilt79 und ein jeder in metaphysischer Unvollkommenheit vor dem Transzendenten seine Existenz mit allen ihren Seiten zu bewältigen hat und ebenfalls alle in gleicher Weise Gottes Ebenbild sind, in der Separation aber insofern, daß ein jeder einmalig, gottgewollt und mit bestimmten Talenten ausgestattet, in seiner je eigenen Geschichte lebt - in einem spezifischen sozio-kulturellen Kontext. 80 Damit ist Gerechtigkeit als Tugend jene religiös-motivierte Verhaltensweise, die bedingungslos anzuerkennen ist und zur Basis des mitmenschlichen, gemeinschaftlichen und interdependenten Verhältnisses Gottes zum Menschen (und vice versa) .sowie der Menschen untereinander wird und von dort seine Bestimmung erhält. 3. Daraus ergibt sich nun die ethische Maxime der Gerechtigkeit, wonach jedem das Seinige zu gewähren ist. Diese Grundeinstellung, welche jedem das bedingungslos zukommmen läßt, was ihm auf der einen Seite zusteht und auf der anderen Seite durch Gottes Willen zugestanden und durch die Person beanspruchbar wird, ist eine zu verwirklichende. Soweit wie diese Übung der Gerechtigkeit nicht nur als personal-interrelationales Geschehen der gegenseitigen Achtung und Gewährung ihren Vollzug erfahrt, sondern darüber hinaus auch transindividueller Lebens- und Gestaltungsformen durch Institutionen bedarf, kann die Gerechtigkeit im Sinne der Fairneß (Rawls) als eine- im weitesten Sinne- politische Form der Nächstenliebe aufgefaßt werden. 4. Letztlich betrifft die Gerechtigkeit auch die nicht-menschliche Natur; den Umgang mit den unveräußerlichen Gütern (z. B. sauberes Wasser, Luft), wenn die 79
Vgl. Röm 2, 11. " ... denn Gott richtet ohne Ansehen der Person."
so Zur Definition des Menschen vgl.: Johannes Michael Schnarrer; Arbeit und Wertewan-
del im postmodernen Deutschland. Harnburg 1996; 20 f. Der Mensch ist ein denkendes, fragendes, Christen sagen gottgewolltes, sich selbst transzendierendes, reflektierendes und vollziehendes, nach Sinn suchendes, mit den Gaben des Verstandes, der Vernunft und der Einsicht ausgestattetes, permanent Erfahrungen machendes, in Raum und Zeit (durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägtes) lebendes, auf Communio und Kommunikation angewiesenes, tätiges und bis zu einem gewissen Grade sich selbst versorgendes, innerhalb eines Systems sowohl eigenständiges als auch interdependentes Wesen.
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Gerechtigkeit den engen subjektorientierten Sinnrahmen verläßt. Es besteht in dieser Dimension der Gerechtigkeit kein einklagbarer Anspruch auf Gerechtigkeit, jedoch unterliegt sie dem Verantwortungsbereich des Menschen, weil sie als Auftrag Gottes an die Personen und Generationen im Lichte der Schöpfung mit aufgegeben ist.81 5. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich in seinem richterlichen Handeln und ist zwar pointiert in den Schriften des AT und NT zu trennen, aber in der Grundaussage dennoch im wesentlichen übereinstimmend. Auch zeigt sich die Gerechtigkeit Gottes in der Rettung des Menschen und seiner Auserwählten (z. B. des Volkes Israel). Gott richtet nämlich den Erdkreis gerecht, und dies ist gleichzeitig Ausdruck des Heilswillen Gottes. Außerdem ist, besonders beim Völkerapostel Paulus, die Gerechtigkeit nicht aus dem Gesetz abzuleiten, sondern vielmehr aus Gott selbst. 82 6. In der dogmatischen Tradition bezeichnet die Gerechtigkeit das Wesen Gottes in dem Sinne, daß sich nur in gedanklich zu unterscheidender, aber stets nur in analog auszusprechender Weise diese Eigenschaft Gottes artikulieren läßt, durch welche sich Gott in konkretem Vollzug vernunftbegabten Geschöpfen gegenüber kundtut, in dem Sinne, in welchem sich der schöpferische Wille Gottes zeigt und durch anerkennende oder sich verweigernde Reaktionen der Menschen darauf diesem Anspruch zu rezipieren in der Lage sind. Im analogen Sinne ist sie demnach Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) sowie Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) und damit verbunden ebenso Straf- und Lohngerechtigkeit. In dieser Deutung ist die biblische Sicht der Gerechtigkeit enthalten, wonach Gott den Erdkreis richtet; eingeschlossen ist hier gleichzeitig der Gehalt des Wortes im griechisch-philosophischen Verständnis, der sich an den Terminus der Gleichheit anlehnt, wonach jemandem das getan wird, was ihm gleichkommt und ihm entspricht. 81 Vgl. Bernhard Sutor; Politische Ethik. Faderborn u. a. 1991; 127 f. Die Reichweite unserer menschlichen Verantwortung ist allerdings, darin hat Hans Jonas sicherlich recht, nicht nur auf die Gegenwart, auf die. jetzt lebenden Mitmenschen zu beziehen, sondern auch auf die Zukunft, auf die kommenden Generationen ... Die christliche Hoffnung setzt gerade deshalb Kräfte zur Verbesserung der irdischen und gesellschaftlichen Verhältnisse frei, weil sie weiß, daß wir nicht in der Spanne unseres Menschenlebens, unter Aufbietung gleichsam titanischer Kräfte, das absolut Gute und Richtige zustande zu bringen haben; daß wir vielmehr, die Zeichen der Zeit erkennend, das tun sollen, was in unseren Kräften und in unserer Verantwortung steht, im Vertrauen darauf, daß unser "Stückwerk" Gnade vor Gott finden möge. In dieser beruhigenden Hoffnung auf und in der Tugend der Gerechtigkeit zu leben, heißt, daß nicht immer den Trends der Postmoderne zu folgen ist, sondern daß Christen in Gelassenheit an der Verbesserung der Ordnungen dieser Welt engagiert mitwirken sollen, um den Auftrag Gottes auf Erden zu realisieren. 82 Vgl. Phi! 3,9. "Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrunddes Glaubens schenkt." Nicht das Gesetz, sondern der Glauben ist entscheidendes Element der Gerechtigkeit (in theologischer Sicht.
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7. Der Begriff der Gerechtigkeit, wie man ihn im antiken Griechenland verstand, schließt jedoch die biblische Grundintention aus, wonach die Bundestreue mit Gnade und Barmherzigkeit identisch gesehen wird. Dagegen treten Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes auseinander und leiten hin zur Frage, wie diese beiden Elemente zueinander stehen - ein Grundproblem, das mit der Lehrmeinung zur Genugtuung des Anselm von Canterbury und ihrer historischen Wirkung wesentlicher Bestandteil abendländischer Theologie ist. Das biblische Zeugnis ist mit einem erweiterten Gerechtigkeitsbegriff versehen zielführend, und legt Gerechtigkeit so aus, daß Gott selbst seinem Wesen entsprechend handelt, welches wiederum die Liebe, die rein ist, auszeichnet. 83 8. Die abendländische Bibelauslegung erfuhr durch Augustinus eine veränderte Sichtweise, wonach die Gerechtigkeit, durch welche Gott die Sünder gerecht macht, wie Röm 1,17 ("Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben") ausgelegt werden kann. Durch die Lehre Martin Luthers sowie des gesamtökumenischen Dialogs wird in unserer Zeit die Gerechtigkeit als theologischer Grundbegriff je nach Sicht mehr oder weniger streng eschatologisch im Sinne jener Strafgerechtigkeit verstanden, die aber nicht jene (vernichtend) trifft, die im Glauben und durch diesen gerechtfertigt sind. 84 Diesen Umstand berücksichtigend, wird in denneueren Dogmatik- und Systematikverständnissen die Gerechtigkeit nicht mehr als ein genuin Gott eigenes Charakteristikum gesehen. Aber durch die Theologie der Befreiung und durch die Politische Theologie wurde der Gedanke der Strafgerechtigkeit aktualisiert und erhielt durch diese neue Bedeutungsinhalte, nun aber nicht mehr unter dem Diktat eines rachsüchtigen Gottes, der unbedingt Vergeltung üben möchte, sondern vielmehr in einem Gerechtigkeitsverständnis, das die scharfe Trennung zwischen Opfern und Tatern- im eschatologischen Sinne - nicht einebnet, sondern den Ausgleich für die Leidensgeschichte in der Menschheit zu schaffen in der Lage ist. 9. In der christlichen Soziallehre gilt die Gerechtigkeit als elementares Prinzip. Aber sie ist nicht als ein statischer Zustand (passivisch) aufzufassen, sondern ist eine permanent bestehen bleibende Aufgabe (aktivisch) und zeigt ebenso die ethische Grundhaltung an, die positiv zu aktualisieren ist. Als konkret auf die personale Gerechtigkeit ausgerichtet seiend, erweisen sich Nächstenliebe und Humanität. 85 Die traditionelle Trias der austeilenden, ausgleichenden und legalen Gerechtigkeit, wie sie besonders Thomas von Aquin verstand, reicht angesichts postmoderner gesellschaftlicher wie internationaler Probleme zur Interpretation der veränderten Umstände nun nicht mehr aus. Deshalb hat sich jetzt die katholische Soziallehre der umfassenden Gerechtigkeit besonders über die soziale Gerechtigkeit genähert, die das Ziel der Verwirklichung des Gemeinwohls in sich anstrebt. 83 84
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Vgl. Thomas von Aquin; Summa theologiae. I, 21, 3+4. Das hier auftauchende Problem wird in der Rechtfertigungslehre behandelt. Vgl. dazu: Pius XL; Quadragesimo anno. Rom 1931; Nr. 136 ff.
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Demnach detenninieren den Sendungsauftrag der Kirche sowohl die Verkündigung des Glaubens als auch der aktive Einsatz für Gerechtigkeit in der Profanordnung, die ja gleichsam gottgewollte Schöpfung darstellt. Die Durchsetzung der Gerechtigkeit geschieht durch Solidarität86 mittels politischen, ökologisch-ethischen, ökonomisch-sozialen, friedensschaffenden und ausgleichenden Engagements sowie der Förderung der Entwicklung, nicht nur quantitativ, sondern heute besonders auch qualitativen Wachstums. Der Gerechtigkeitstenninus ist aber auch ein variabler, wie in der Besitzstandsgerechtigkeit, der Leistungs- oder der Bedarfsgerechtigkeit zu sehen ist, dem suum cuique angemessen, ohne jedoch die strukturell ausgleichenden und singularen wie pluralen Interessen zu übergehen oder gar zu verkennen. Das Subsidiaritätsprinzip, das die Sozialgerechtigkeit essentiell bestimmt und mitgestaltet, findet seine konkrete Ausformung in den Menschenrechten und in der gerechten Konstituierung eines Systems, das sich an den Markt- und Wettbewerbsgesetzen orientiert, um das spezifische Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge aufzubauen. Darüber hinaus wird in wachsendem Maß ein gesamtmenschheitliches Gemeinwohl als anzustrebendes Ziel formuliert und findet breitere Akzeptanz. 10. Bei der Gerechtigkeit, die unweigerlich auch ihre juristische Aufmerksamkeit erweckt, wenn sie syntaktisch-semantisch analysiert wird, geht es um eine typisch subjektive Kategorie, welche sich auf eine objektive bezieht, das Recht als Rechtsordnung. Dabei handelt es sich um ein Verhalten, einen Prozeß, ein Verfahren oder aber um dessen Ergebnis, denn der Handlungsvorgang ist dann als gerecht zu bezeichnen, wenn er mit dem Recht übereinstimmt. Die Gerechtigkeit ist damit und in diesem Sinne ein immanenter, systemischer und I oder juristischer Sachverhalt, denn sie enthält kein metajuristisches oder transsystematisches Element und damit nichts, was auf ein artfremdes Normensystem zu verweisen hätte. 87 11. Die Gerechtigkeit als Dynamik ist ein relationales Geschehen. Das Recht bezüglich der Gerechtigkeit ist dasjenige, womit ein anderes Bedingtes, Geringeres mit dem tatsächlichen Postulatszusammenhang übereinstimmt. Die Gerechtigkeit ist "norma ontologica" und gilt zunächst für sich und an sich. Das Recht wiederum korrespondiert mit der Wahrheit in ihrer Stellung als ontologische Kategorie. Dagegen ist die Gerechtigkeit dasjenige, was mit einem Ranghöheren, Bedeutenderen, mit der Kondition als einem Maß übereinzustimmen hat - als adaequatio. Gerechtigkeit erweist sich als eine Analogie im herkömmlichen Sinn, als Proportion, Entsprechung und Relation und wird dadurch selbst zur Rechtrnäßigkeit, womit beide, Recht und Gerechtigkeit als Glieder eines Systems bei gleichzeitiger relationaler Interdependenz ihren je spezifischen Platz erhalten. Damit sind sie zwei ungleiche Relationsglieder, weil nämlich das eine das andere voraussetzt, nicht aber umgekehrt: Gerechtigkeit setzt Recht voraus, nicht aber das Recht die Gerechtig86 Vgl. Johannes Paul II.; Sollicitudo rei socialis. Rom 1987; Nr. 35 - 40. Im Dokument wird in Nummer 40 verwiesen, daß der Friede die Frucht der Gerechtigkeit ist (so auch der Wahlspruch von Papst Pius XII.: "Opus iustitiae pax"). Johannes Paul II. führt diesen Gedanken fort und ersetzt den Gerechtigkeitsbegriff durch die Solidarität: "Opus solidaritatis pax". 87 Vgl. Rene Marcic; Rechtsphilosophie. Freiburg I Br. 1969; 176 f. 6*
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keit, denn Recht erhebt ja gerade immer wieder den Sollensanspruch zur Schaffung eines gerechten Zustandes. Andererseits ist das Recht auf Gerechtigkeit in dem Sinne verwiesen, da es nur in soweit seinen eigenen Zweck erfüllen kann, inwieweit die Gerechtigkeit die Resonanz des Rechts ist und wie jemand sich gerecht verhält: Denn das Recht wird ohne anzustrebender Gerechtigkeit sinnlos und unhuman. Beide sind also nicht nur in der Theorie relationale Termini, sondern ebenso realiter in der Praxis komplementierende Sachzusammenhänge. 12. Allmählich wird die Evidenz einsichtig, wo das doch so pragmatische Postulat der Gerechtigkeit herkommt, welches immer neu auf einen ranghöheren Maßstab zu verweisen hat. Denn der Gerechtigkeit ist ein reduktiv-regressives Moment zu eigen: ständig wird ein höheres Maß angestrebt, das nach Verwirklichung verlangt; und dies in einer unbedingten Weise - zur Humanisierung des Seins menschlicher Existenz beitragend. 13. Johannes Messner bezeichnet das christliche Sozialprinzip der Gerechtigkeit als "Bruderliebe zu den Mitmenschen", denn in christlicher Sicht ist durch die personale Menschennatur die Egalität als Element der von Natur aus gegebenen Würde jeder Einzelperson mitgemeint Die Geschwisterlichkeit wird durch die Gleichheit aller (vor Gott) als interpersonales Grundempfinden legitimierbar und für die Menschen Bestimmungsfaktor des Kommunikationsaustauschs. Die soziale Verpflichtung wird dann zur Ausformung der praktischen Nächstenliebe und als Basisgebot zum Aufbau einer humanen Gesellschaft mit ihren Ordnungen und Systemen. Demnach ist das Prinzip der Liebe das fundamentalste aller Prinzipien, wenn es um die Interdependenzen für die Grundbeziehungen der Wirtschaft, der Politik, des Staates und der Gesellschaft geht- auch unter dem Aspekt der zu verwirklichenden Tugend der Gerechtigkeit.
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C. Publikationen des Autors Arbeit und Wertewandel im postmodernen Deutschland. Eine historische, ethisch-systematische Studie zum Berufs- und Arbeitsethos; Dr. Kovac-Verlag, Harnburg 1996. - Art. "Globalisierung contra Regionalisierung: Auf dem Weg zu einerneuen Weltwirtschaftsordnung." In: Wiener Blätter zur Friedensforschung. Nr. 83; Wien, Juni 2/1995; 47- 59.- gemeinsam mit Hideshi Yamada; Zur Naturrechtslehre von Johannes Messner. Beiträge zum Naturrecht 1; Herold-Verlag, Wien 1996. - als Herausgeber: Gemeinwohl und Gesellschaftsordnung; Beiträge zum Naturrecht 2; Herold-Verlag, Wien 1997.- Art. "The difficulty of our post-modern Time: How to keep right and wrong apart? A contribution to the argument of ethics as understood by politicians and ecologists." In: Christian Democratic Academy for Central and Eastern Europe (ed.); Let us take our own steps. Vol. 2. lssue 3; Budapest, April 1995; 5-9 and 19-23.- Art. "Erziehungsgeld fördert ehelose Gesellschaft." In: Dr. Kar! Kummer-Institut (Hrsg.); Gesellschaft und Politik. 4/94; Wien 1994; 18- 19.- Art. "Die ökologische Debatte als Prüfstein der Verantwortung. Der Umgang mit Werten und Gütern." In: Pretzmann, Dr. Gerhard/Nikodim, Dr. Gerhard (Hrsg.); Agemus. Nr. 43; Wien, April1996; 9- 12.- Art. "Christliche Soziallehre im Rußland von heute." In: Kathol.-Theolog. Fachschaft (Hrsg.); Kreuzweise; Nr. 4, 06/96; Wien, Juni 1996; 10. -als Herausgeber: Gesellschaftsordnung und Privateigentum am Beispiel der Privatisierung, insbesondere des Bankwesens. Berichte des Workshops in Maribor, Slowenien (8.-ll. 2. 1996); Eigenverlag des Instituts für Ethik und Sozialwissenschaften der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien; Wien l. und 2. Auflage 1996; 3. Auflage 1997.- Art. "Naturrecht in Japan- Die Basis für ein Weltethos." In: Die Furche. Nr. 45, Wien, Graz 9. November 1995; 6.- Art. "Die Veränderungen Rußlands (bzw. der Sowjetunion) in der letzten Dekade." In: Dr. Karl Kummer-Institut (Hrsg.); Gesellschaft und Politik. Nr. 3/96; Wien, September 1996; 26- 34.- Market, Morality and Marginalization - Work and unemployment as fulcrum and pivot of todays difficulties; Cambridge/Massachusetts 1994; (Lizentiatsarbeit).- Art. "Welche Bedeutung hat christliche Soziallehre für Rußland?" In: Kathpress; Nr. 132; Wien, am 10/ll. Juni 1996; 7.- Art. "Krestanska socialna nauka v Rusku." In: Katolicke noviny; Nr. 30/1996; Bratislava, 28. Juli 1996; 2; Übersetzung und Kommentar von Dr. Theo Hlavac. - Art. "Über die Zukunft der Arbeit"; In: KAB-Digest, Zeitschrift der Kath. Arbeitnehmerbewegung der Diözese St. Pölten; Nr. 259/260, September/Oktober 1996; 13. - Art. "Veränderte Arbeitswelt-Flexibilisierung der Arbeit: Kultureller Umbruch - Flexibilität in Arbeit und Privatleben aus ethischer sieht." (Vortrag beim Symposium der Fraktion christlicher Gewerkschafter in der Gewerkschaft der Privatangestellten Niederösterreichs, am 14. 2. 1997 in Velm I Himberg); In: Dr. Karl Kummer-Institut (Hrsg.); Gesellschaft und Politik. Nr. 1/97; Wien, März 1997; 36-44. -Art. "Berufen zu einer Hoffnung ... in einem Bund des Friedens." In: Kathol.-Theol. Fachschaft (Hrsg.); Kreuzweise. Nr. 7, 03/97; Wien, April 1997; 18- 19. - Art. "Transforrnationsprobleme - aufgezeigt an der Situation in den neuen Bundesländern." In: Katholische Sozialakademie der Slowakei (Hrsg.); Arbeitslosigkeit in den ehemaligen sozialistischen Ländern und in den westlichen Demokratien. Bratislava 1997; !54- 164; übersetzt ins Slowakische: Socialna akademia (Hrsg.); Art. "Pnica a nezamestnanost v zjednotenom Nemecku." In: Nezamestnanost V byvalych socialistickych krajinach a zapadnych demokraciach. 70 - 72. - drei Artikel zu den Themen: I. Freiraum für Gott: Die drei monotheistischen Weltreligionen und die Transzendenzerfahrung; 2. Die Versuche, den Sonntag abzuschaffen: Gegenkalender und Freizeitindustrie; 3. Die Gewerkschaften und der Kampf um die Sonntagsruhe; In: Weiler, Rudolf (Hrsg.); Der Tag des Herrn. Kulturgeschichte des Sonntags; Böhlau-Verlag Wien, Köln, Weimar 1998. - Art. "Freiheit und Pflichtbewußtsein im post-bipolaren Demo-
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kratieverständnis der (Ost)-Deutschen: Eine Nation in Spannung überwundener Teilung." In: Gabriel, Ingeborg I Steurer, Josef (Hrsg.); Demokratie als Herausforderung. Christliche Perspektiven mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa; Festschrift für Rudolf Weiler zum 70. Geburtstag; Herold-Verlag Wien 1997. - Art. "Weiche Mark gleich weicher Schilling" (Deutschlands Wahrung in der Krise) In: Die Furche. Nr. 35, Wien, Graz 28. August 1997; 8. -Art. ,,Als Ausländer in Wien oder ... Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins." In: Die Furche. Nr. 36, Wien, Graz 4. September 1997; 4.- Art. "Wolken vor der D-MarkiSchilling Sonne"; In: Dr. Kar! Kummer-Institut (Hrsg.); Gesellschaft und Politik. Nr. 3 197; Wien, September 1997; 50- 53.- Art. "Vorwort"; In: Stuhec, Ivan (Hrsg.); Lastnina in kapital. Zbomik mednarodnega simpozija; Ljubljana 1997; 7- 9.- Art. ,,Arbeit und Wertveränderungen hinsichtlich des Solidaritätsprinzips in der heutigen Zeit"; In: Societas Ethica (Hrsg.); Solidarität und Sozialstaat. Reprints and Offprints; Tagung der Societas Ethica in Gdansk-Oliwa 81 1997; 83- 84.- Art. "Die humane Verantwortungskompetenz als Kulturfaktor in der Dynamik der gegenwärtigen Herausforderungen." Beitrag zur Gedenkschrift für Joseph Cardinal Höffner (anläßlich des Symposiums dazu am 30. Oktober 1997 in Rom). -Art. "Ausweg aus der Skepsis: Welche Freiheit in der pluralistischen Gesellschaft?" Studentenkonferenz der Katholischen Hochschulgemeinde Wien zum Thema "Freiheitsillusionen", am II. Oktober 1997. - Art. "Der übergreifende Konsens von Individuen über Institutionen und Systeme in Messners Habilitationsschrift und bei John Rawls." Beitrag zur Veröffentlichung der Texte des Symposiums der Johannes-Messner-Gesellschaft im Februar 1997 in Wien. (voraussichtlich In: Wolfgang Schmitz (Hrsg.); Duncker & Humblot Berlin 1998). - Art. "Fakten und Tendenzen als Augenblickaufnahme im Umformungsprozeß." Beitrag anläßlich des Symposiums des Sozialinstituts in Bmo (Tschechien); Velehrad: 6. - 8. Februar 1998. - Art. "Theologische Grundlegung der Gerechtigkeit." Beitrag zum 4. Internationalen Symposium der Johannes-Messner-Gesellschaft Österreichs in Verbindung mit der Schwestergesellschaft in Japan, vom 16. Bis 20. September 1997 in Brixen I Südtirol. Erscheint voraussichtlich, In: Rudolf Weiler; Die soziale Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung. Duncker & Humblot Verlag Berlin 1998.- Norm und Naturrecht verstehen. Peter Lang Verlag, Frankfurt IM., Bem, Berlin, New York, Paris, Wien 1999. -Aktuelle Herausforderungen der Ethik in Wirtschaft und Politik: Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Eigenverlag des Instituts für Ethik und Sozialwissenschaften der Universität Wien, 1010 Wien, Schottenring 21, I. und 2. verbesserte Auflage 1998, 3. Auflage 1999.
Prozedurale Gerechtigkeit versus substantielle Gerechtigkeit Für welche Gerechtigkeit ist der Staat zuständig? Von Hans Joachim Türk
Einführung: Der Anlaß zur Thematik
Die Fragestellung unseres Themas ist nicht am Schreibtisch oder im Seminar entstanden; sie hat zeitgeschichtliche Wurzeln, die in das Geschehen innerhalb der politischen Führungsmacht der Welt, den USA, hineinreichen. Sowohl innerhalb der USA als auch in Europa hatte in den sechziger Jahren der Vietnamkrieg, die in der Civil-Rights-Bewegung offenbar gewordenen rassischen und sozialen Probleme, der Aufstand der kulturrevolutionären Studenten- und Jugendbewegung gegen Autorität und Tradition das Zutrauen in die amerikanische Demokratie und Politik bis in die Grundfesten erschüttert. Die Vorbildfunktion des demokratischen Staatswesens der USA verlor innerhalb und außerhalb dieser ihre Gültigkeit. Die USA erschienen nicht mehr als "melting pot" von Rassen, Völkern, Schichten und religiösen Denominationen ("e pluribus unum"), sondern eher als ethnisch und sozial fraktionierte Gesellschaft, deren Zusammenhalt von den staatlichen Instanzen nur noch mit Mühe garantiert wird. Viele Diagnostiker führen seit Robert N. Bellabs Aufsatz "Civil Religion in America" 1 von 1967 diese negative Entwicklung auf den Ausfall der sogenannten Zivilreligion zurück, die in der Vergangenheit einen intervenierenden und allzuständigen Staat überflüssig gemacht hatte, wie ja auch das europäische Wort "Staat" in Amerika eine höchst eingeschränkte Bedeutung besitzt Der Ausdruck Zivilreligion geht auf Rousseau zurück, der im "Contrat Social" (IV,8) die Notwendigkeit herausstellte, auch den religiös toleranten, laizistischen Staat auf eine "religion civile" zu gründen, welche die Bürger ihre Fflichten zu erfüllen im Glauben an Gott und eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod anleitet. Bellab hat dem Phänomen in der Gegenwart eigentlich nur den amerikanischen Namen gegeben und eine Debatte eröffnet, aber die Sache wurde schon früt in: Daedalus 96 (1967), I ff. Ders., The Broken Covenant: American Civil Religion in Time of Trial, New York 1975. Vgl. R. Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987.
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her vertreten, z. B. von John Dewey. Die Zivilreligion sollte keine Religion neben den bestehenden Denominationen sein, sondern nach Bellab deren Gemeinsames, soweit es die öffentliche Moral betrifft, "an understanding of the American experience in the light of ultimate and universal reality", d. h. Gott. Es wurde von manchen bestritten, daß es eine solche eigenständige Zivilreligion neben dem Judentum und Christentum gebe, aber unbestreitbar und für unsere Thematik wichtig bleibt, daß es eine gesellschaftliche, bindende Moral auch ohne staatliche Sanktion über Jahrhunderte in den USA gab, deren Wurzeln sowohl im Puritanismus als auch im politischen Liberalismus lagen (weshalb sich auch die amerikanischen Liberalen bis heute auf diese Zivilreligion beriefen). Als Inhalte lassen sich vor allem benennen: Freiheit (liberty) besonders des Eigentumerwerbs und -besitzes, Gleichheit (equality of opportunity) im Sinne von Chancengleichheit, Demokratie von unten aus. Zu diesen gewöhnlich aufgezählten Werten muß man noch hinzurechnen die Selbstverantwortlichkeit für die sozialen Beziehungen und Vergemeinschaftungen, die vom Staat wenig, von sich selbst fast alles erwartet Diese Zivilreligion begründete das amerikanische Nationalbewußtsein, das aber seit Jahren hinter den Interessen von Gruppen zurücktritt. Vor allem erscheint die moralische Komponente in einem Prozeß der Schrumpfung gegenüber dem Einfordern von Rechten. Die politischen Instanzen der Einzelstaaten und des Bundes können dieses gesellschaftliche und moralische Vakuum nicht ausfüllen. Steigende Kriminalität, die Schere zwischen Reich und Arm, Gruppen- und Individualegoismen sind die Folgen. 2 Seit mehr als einem Jahrzehnt stemmt sich die Bewegung des "Communitarianism" gegen diese Entwicklung. Die "Communitarians", die sich unter der Federführung des Soziologen Amitai Etzioni auch als Organisation etabliert haben, und deren Sympathisanten suchen die Ursache für die gegenwärtigen Mißstände in den Auswirkungen von zwei falschen Begriffen, die sowohl in der akademischen Welt als auch in der Bevölkerung umgehen: dem des Selbst und dem der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft (wobei hier der seit Ferdinand Tönnies bekannte Unterschied von Gesellschaft und Gemeinschaft unter dem Namen "community" nicht gemacht wird). Verantwortlich gemacht wird dafür der amerikanische Liberalismus, der mit dem kontinentalen politischen Liberalismus nicht ganz identisch ist, weil er zwar die Freiheit des Individuums gegenüber dem Staat vertritt - und dies vor allem in der privaten Sphäre der persönlichen Lebensgestaltung, besonders in moralischer und religiöser Hinsicht, aber andererseits ähnlich den europäischen Sozialdemokraten vom Staat austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit 2 Vgl. u. a. Robert H. Bork, Slouching Towards Gomorrha. Modern Liberalism and American Decline, New York 1996. Jörg von Uthmann, Volk ohne Eigenschaften. Amerika und seine Widersprüche, Stuttgart 3 1989, bes. 42 - 60. Amitai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995, 182 ff. (Titel der Orginalausgabe: The Spirit of Community, New York 1993). Neuestens: Hermann Vogt, Träume und Mythen. Die USA und ihr "American Dream", in: Herder Korrespondenz 51. Jg. (1997), 472-477.
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erwartet, was für europäische Liberale gerade nicht zutrifft. Den amerikanischen Gegensatz zu den "liberals" bilden die "conservatives", die zwar für die Erhaltung der tradierten amerikanischen Moral auch unter öffentlicher und rechtlicher Hilfestellung eintreten, aber im übrigen die soziale Verantwortung den gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen aufladen, jedoch gerade nicht dem Staat; in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht können sie eher "libertarians" genannt werden. Die beiden genannten gesellschaftlichen Richtungen decken sich nicht ohne weiteres mit den beiden großen politischen Parteien, eher mit den Regionen: Der Nordosten und der Westen gelten überwiegend als liberal, der Süden und die Mitte als konservativ. Mit dem beschriebenen amerikanischen Gegensatz sind wir bei unserem Thema: Wofür ist der Staat verantwortlich? Nur für die formale Verfahrensgerechtigkeit im liberalen Sinn der Gleichheit vor dem Gesetz und für den Schutz der Bürger vor Gewalt und Unrecht? Oder auch für eine ausgleichende soziale Gerechtigkeit, die auf politischem Weg institutionell hergestellt werden muß, während im ersteren Fall die soziale Gerechtigkeit nur eine Tugend der einzelnen und ihrer freiwilligen Gemeinschaften ist ? Zum dritten: Ist der Staat gar gehalten, auch die Moral der Gesellschaft zu schützen, zu erhalten, zu fördern und ggf. sogar rechtlich durchzusetzen? Für die ersten beiden Positionen stehen in den USA die Liberalen, für die dritte, aber z.T. auch für die zweite Position die Konservativen. Ähnliche Fronten bilden sich, wenn auch da und dort mit abweichendem Verlauf, in Europa, wobei die Parteinamen wechseln. Sozialdemokratische, liberale und grüne Richtungen vertreten mehr oder minder die prozedurale Verfahrensgerechtigkeit, dazu eine Verpflichtung des Staates zur sozialen und ausgleichenden Gerechtigkeit; letzteres lehnen allerdings Altliberale und Altkonservative ab. Konservative, besonders christlich geprägte Parteien und Gruppen, verlangen vom Staat aber eine wirksame Sorge für die Moral der Gesellschaft, Christen klagen außerdem die soziale Verpflichtung des Staates ein. Die Szenerie erscheint also ein wenig verwirrend; deutlich aber fallen die Parteiungen hinsichtlich der Aufgabe des Staates in die Augen, ob bzw. inwieweit dieser die Moral und inhaltliche Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu verantworten und zu vertreten hat.
I. Die prozedurale Auffassung vom Verhältnis Staat - Moral - Gerechtigkeit Grundlegend für die liberale Denkweise sind die Unterscheidungen sowohl von Staat und Gesellschaft als auch von Recht und Moral. Erstere ist ein konstitutives Element des Liberalismus, seit er in der politischen Geschichte aufgetaucht ist. Hierin liegt nicht nur der Gegensatz zum historischen Absolutismus und Feudalismus, sondern auch zu jeder Form von Sozialismus. Der freie und autonome einzelne, der sich in Gemeinschaften und gesellschaftlichen Gruppen zusarnrnenschließt, billigt nach den Vertragstheorien dem Staat nur das an Macht und Befug-
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nis zu, was dem Schutz der Freiheiten des Individuums dient. Der einzelne (als Erwachsener) bildet frei oder wählt frei die Vergemeinschaftungen und konstituiert damit die Gesellschaft. Der Staat verdankt sich den sich zusammenschließenden Individuen. Moral ist deren Privatsache, soweit sie nicht -die Freiheitsrechte anderer tangiert. Der Staat hat nicht für die Moral, sondern nur für die Wahrung der Rechte der einzelnen zu sorgen. Der einflußreichste Denker des politischen Liberalismus ist John Rawls, der eine metaphysikfreie Konzeption der politischen Gerechtigkeit vorgelegt hat (nicht nur in seiner "Theory of Justice" von 1971, sondern in etwas revidierter Form auch in späteren Schriften). Er vermeidet "universelle Wahrheit und Aussagen über Wesen und Identität der Person" und bietet auch keine "allgemeine moralische Lehre ... für eine Gerechtigkeitskonzeption", sondern er geht von zwei Richtlinien für die praktische Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit aus: "Jede Person hat ein gleiches Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Grundfreiheiten, das mit dem gleichen System für alle anderen vereinbar ist." Und: " Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft sein. " 3 Rawls nennt diese politische Gerechtigkeit "Fairneß" und hält sie für eine Reformulierung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Die Ablehnung einer metaphysich-moralischen Grundlage dieser politischen Gerechtigkeit begründet er rein praktisch-politisch: In modernen Gesellschaften gibt es seit der Reformationszeit einander widersprechende und miteinander unvereinbare Auffassungen vom moralisch Guten, die aber jeweils mit absolutem Geltungsanspruch auftreten. Ein Staat kann sich darauf nicht gründen; aber auch rein autonomer Individualismus löst das Problem nicht; daher bedarf es einer politischen Gerechtigkeitsauffassung. "Gesellschaftliche Einheit und die Loyalität der Bürger gegenüber ihren gemeinsamen Institutionen wird nicht auf ihre allgemeine Zustimmung zur selben Konzeption des Guten gegründet, sondern auf ihre öffentliche Zustimmung zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeptiom, welche die Grundstruktur der Gesellschaft reguliert. Der Begriff der Gerechtigkeit ist unabhängig von dem des Guten und ihm gegenüber vorrangig in dem Sinne, daß seine Grundsätze die zulässigen Konzeptionen des Guten begrenzen." Im Rahmen dieses vorrangigen Gerechten vor dem moralisch Guten ist jede moralische Option, jeder Lebensstil, jede Weltanschauung erlaubt; über sie hat der Staat nicht zu befinden, sie gehören in den privaten Sektor. Die Gerechtigkeit, für die der Staat zuständig ist, erscheint überwiegend als Verfahrensgerechtigkeit, die das in den obigen 3 John Rawls, Gerechtigkeit als Faimeß: politisch und nicht metaphysisch, in: ders. Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978- 1989, Frankfurt am Main 1992, 225- 292. Auch die folgenden Zitate sind diesem Aufsatz entnommen Abgedruckt auch in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 3 1995, 36- 67. Neuestens: Wilfried Hinsch (Hrsg.) für die Philosophische Gesellschaft Bad Homburg, Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt am Main 1997.
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Rawlsschen Grundsätzen angegebene Maß von Gleichheit und Ungleichheit anwendet. Eine ähnliche Auffassung wurde in den siebzigerund achtziger Jahren in Deutschland vertreten, als die Debatte um die sogenannten "Grundwerte" entbrannte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte sich vehement die These zu eigen gemacht, daß nicht der Staat, sondern allein die vorstaatlichen gesellschaftlichen Kräfte, darunter die Kirchen, für die Werte zuständig sind, auf denen auch der Staat ruht; dieser selbst könne und dürfe in dieser Hinsicht nichts unternehmen. Im Mainstream der öffentlichen Meinung und der Politik ist diese liberale Position immer stärker geworden, wie sich in vielen Debatten, z. B. im Sexualstrafrecht, in der Abtreibungsgesetzgebung, in Verfahren um die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung, im sogenannten "Kruzifixurteil" des Bundesverfassungsgerichts u. a. zeigte. Diese öffentliche Meinung entspricht auch der z.Zt. in der Soziologie vertretenen "lndividualisierungsthese" (besonders bei Ulrich Beck4 ). Staatsfreie Moral und moralfreier Staat heißt die Devise. Recht und Gerechtigkeit sind Sache des Staates, Moral ist Sache der Individuen und ihrer Zusammenschlüsse. Erst durch das Anwachsen der Kriminalität, besonders unter Kindem und Jugendlichen in den letzten Jahren, wird diese bisher vorherrschende Meinung wieder in Frage gestellt Auswirkungen hat diese liberale Auffassung auch auf den Begriff der Person. Rainer Forst, dem wir eine ausführliche Darstellung der amerikanischen Gerechtigkeitsdebatte verdanken, vollzieht eine reinliche Scheidung: "Sowie der abstrakte Begriff der Person als Rechtsperson -der Person als Träger von subjektiven Rechten und als Subjekt des Rechts - von dem der ethischen Person zu unterscheiden ist, so ist auch zwischen einem Begriff von politischer Gemeinschaft und dem einer ethischen Gemeinschaft zu unterscheiden." 5 Der Staat ist keine ethische Gemeinschaft des Guten . Soziale Gerechtigkeit, die über die Verfahrensgerechtigkeit der Faimeß hinausgeht, ist nicht ein moralisch Gutes, das im und vom Staat zu institutionalisieren wäre, sondern eine Tugend der "ethischen Person". Ohne Rawls hier ausgiebig zu diskutieren, mag jedoch schon angemerkt werden, daß auch die Rawlschen Grundregeln und sein Faimeß-Begriff nicht ohne ethische Werte und Normen auskommen, auch wenn er selbst das nicht so sieht. Nicht ganz so konsequent und radikal wie die klassische liberale Lehre sieht auch der katholische Sozialwissenschaftler Michael Novak die soziale Gerechtigkeit: Sie ist die Bereitschaft und Fähigkeit von Personen , sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und nicht eine Norm, ein Prinzip zur Strukturierung der Gesellschaft - wie es bei Oswald von Nell-Breuning und in der Enzyklika "Quadragesimo anno" gemeint ist, auch in dem "Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" von 19976 . Anders Novak: "Bestenfalls ist die soziale Gerechtigkeit ein ge4 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt am Main 1986; ders. (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt am Main 1997. 5 Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt am Main 1994,49.
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dankliebes Ideal unbestimmter institutioneller Gestalt, an dem konkrete Institutionen gemessen und beurteilt werden. Sie scheint eine Gesellschaft zu charakterisieren, die es noch nie gegeben hat."7 Ähnlich wie bei den Liberalen ist bei Novak eine moralisch gefüllte Gerechtigkeitsidee nur in pluraler Form von Individuen und Gruppen konzipierbar und nicht ein vom Staat zu institutionalisierender vorgegebener Wert. Friedeich August von Hayek hält jede Idee von sozialer Gerechtigkeit nicht nur für einen Irrtum, sondern für einen sachlichen und logischen Unsinn, während andere wie Geoffrey Brennan und James M. Buchanan immer hin ein Regelsystem, das die Gesellschaft sich selbst gibt, als Norm für soziale Gerechtigkeit gelten lassen, das auch Karl Homann als solches anerkennt8. II. Die distributive und soziale Gerechtigkeit Seit Luigi Taparelli und Antonio Rosmini, vor allem aber seit der Enzyklika "Quadragesimo anno" (Ziff. 88) von Pius XI umfaßt der Begriff der sozialen Gerechtigkeit mehr als die überlieferte "austeilende Gerechtigkeit"; sie ist auch mehr als die eher formale Verfahrensgerechtigkeit, die etwa nach den Rawlsschen Grundsätzen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln soll. Sie will auch inhaltlich, real und institutionell wegen der wesensmäßigen Gleichheit und Würde der Menschen deren Lebensverhältnisse unter Wahrung der Freiheit entsprechend gestalten. Daher überschreitet sie die nur subjektive Gerechtigkeit als personale Tugend und will objektive Zustände ändern. Außer den christlichen Soziallehren (wie z. B. durch das von Papst Leo XIII vertretene Interventionsrecht des Staates zugunsten der Armen und die Koalitionsfreiheit der Benachteiligten) standen auch marxistische und sozialistische Lehren für eine Verpflichtung des Staates zur sozialen Gerechtigkeit ein. So wuchs dem Staat angesichts offenkundiger Ungleichheit seiner Bürger eine moralische Verpflichtung zu, über abstrakte oder formale Gerechtigkeit hinaus eine konkrete Verteilung von Gütern durch politisch-rechtliche Maßnahmen vorzunehmen, was dem liberalen Verständnis der Staatsaufgaben widersprach. Der Katalog der auszugleichenden und zu verteilenden Güter vermehrte sich mit steigendem Sozialprodukt immer mehr, so daß alle Staaten nunmehr an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt sind oder sie sogar schon überschritten haben und die Rede vom Um- bzw. sogar Abbau des Sozialstaates umgeht. Dieser ökonomischen Entwicklung entsprach ein immer noch an6 Ziff. ll2. In Ziff. 117 wird dagegen als subjektive Tugend der Begriff "Solidarität" in Anlehnung an die Enzyklika "Sollicitudo rei socialis" von Johannes Paul II, Ziff. 39, allerdings mit ontologischer Fundierung. 7 Michael Novak, Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Trier 1996; ähnlich Richard J. Neubaus, Doing Weiland Doing Good: The Challenge to the Christian Capitalist, New York 1992. s Kar! Homann, Moral in den Funktionszusammenhängen der modernen Gesellschaft. Zwei Vorträge zur Wirtschaftsethik, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Stuttgart 1993, 36-40.
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wachsendes Bewußtsein der Bürger unserer Wohlfahrtsstaaten, auf die Austeilung von Gütern einen Rechtsanspruch zu besitzen und einklagen zu können. Sowohl die Eigeninitiative zur durchaus möglichen Beschaffung des Lebensunterhalts und Eigentumerwerbs als auch die Solidarität von Mitmenschen und Gemeinschaften, die sich in freiwilliger, aber organisierter Hilfe äußert, erlahmten durch die Zuständigkeit des Staates, dessen bürokratische Verteilung zudein noch die Klienten demütigt, auch wenn diese solches nicht immer empfinden. Da nicht alle Ansprüche von Staats wegen erfüllt werden können, ist inzwischen ein Kampf der gesellschaftlichen Gruppen um Besitzstände, Privilegien, "gerechte" Verteilung entbrannt, der den Zusammenhalt der Gesellschaft gefahrdet. Partialinteressen lassen für eine Verpflichtung auf das Gemeinwohl keinen Platz mehi. So mehren sich die Stimmen, die den Staat sowohl von dieser übernommenen Last befreien als auch ihm die Kompetenz für eine gerechte Verteilung absprechen und die soziale Verpflichtung auf die einzelnen und die freien gesellschaftlichen Gliederungen verlagern wollen, z. B. in der Alters- oder Krankenversicherung. Obwohl auch diejenigen sich zu Wort melden, die eine Heilung der Schwierigkeiten darin erblicken, daß der Staat noch mehr und noch härter in die ungerecht erscheinende Verteilung der Güter und Lasten eingreift (und angesichts der Globalisierung sogar supranationale soziale Normen und Standards verlangen), gewinnt die oben skizzierte liberale Beschränkung des Staates immer mehr Anhänger, besonders unter Wirtschaftswissenschaftlern. Die Herstellung einer gerechten Gesellschaft wird der vom Staat möglichst ungehinderten Kooperation und Konkurrenz freier, rational handelnder und kooperierender Individuen anheimgestellt. Zu dieser Linie hatte sich auch am 26. April 1997 der deutsche Bundespräsident Roman Herzog in Berlin in einer vielbeachteten Rede bekannt: "Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? ... Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Solidarität anzustreben - nicht im Sinne der Maximierung von Sozialtransfers, sondern im Vertrauen auf das verantwortliche Handeln jedes einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft? Solidarität ist Hilfe für den, dem die Kraft fehlt, für sich selbst einzustehen ... Wir erleben heute, daß dem Menschen ein Zuwachs an Sicherheit durch staatliche Vorsorge oft wichtiger ist als der damit einhergehende Verlust an Freiheit. Wir fordern Freiheit -aber was ist, wenn die Bürger ihre Freiheit als kalt empfinden und statt dessen auf die Geborgenheit staatlicher Für- und Vorsorge setzen? ... Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. " 9
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zit. nach FAZ Nr. 99 v. 29. 04. 1997, S. 11.
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111. Die kommunitaristische Kritik
Seit Michael Sandeis Buch "Liberalism and the Limits of Justice" 10 hat sich zunehmend zunächst von akademischer Seite, allmählich auch in der Öffentlichkeit eine Kritik an der liberalen Staats- und Gesellschaftsauffassung formiert, die einerseits sehr grundsätzlich ansetzt, andererseits auch zu praktischen Konsequenzen anleiten will. Sandei kritisierte vor allem den Begriff des Selbst oder der Person. Das zweite Gerechtigkeitsprinzip von Rawls, das Differenzprinzip, betrachtet den Menschen mit seinen Fähigkeiten, seinem Eigentum in gewisser Weise als sozialpflichtig. Dies kann aber von der Konzeption des ungebundenen, autonomen, frei wählenden Selbst ("unencumbered self') nicht begründet werden; dieses ist überhaupt eine theoretische Fiktion. Was sollte das freie Selbst dazu verpflichten, etwas abzugeben? Die Bereitschaft zum Teilen und die Legitimation des Staates, eine solche Teilung durchzuführen, bedarf einer stärkeren moralischen Fundierung. "Nach Sandei ist die liberale Konzeption der Person nicht selbsttragend, sondern verhält sich ,parasitisch zu einem Begriff der Gemeinschaft, den sie offiziell verwirft'. Damit steckt sie in der Schwierigkeit, sich auf einen Gemeinschaftssinn stützen zu müssen, den sie ,nicht unterstützt und vielleicht gar unterminiert'." 11 Der Mensch ist vielmehr vorgängig zu allen freien Entscheidungen eingebunden in Gesellschaftsformen wie Familie, Sippe, Nachbarschaft, Region, Nation, Kirche usw., die seinen moralischen Charakter geprägt haben. "Denn Charakter haben bedeutet zu wissen, daß ich in eine Geschichte einrücke, die ich weder in meiner Verfügungsgewalt habe noch beherrschen kann, die aber dennoch Folgen hat für meine Wahlmöglichkeiten und mein Verhalten." 12 Die Regeln der Moral übernimmt der Mensch von konkreten Gemeinschaften, in denen eine bestimmte Vorstellung vom Guten, vom guten Leben wirksam ist. Er mag dies korrigieren oder sogar einmal ablehnen, aber die Grundkonstitution der moralischen Person wird in der Gemeinschaft gelegt und nicht autonom kreiert. Charles Taylor, der sich zwar selbst nicht als Kommunitarist bezeichnet, aber gewöhnlich doch zum Kommunitarismus gerechnet wird, macht gegenüber dem "neutralitätsorientierten Liberalismus" und dem "Prinzip der prozeduralen Gerechtigkeit", die nur Gleichbehandlung verlangen, die "Anerkennung der Unterschiede" geltend: "Um gemeinsam zu wechselseitiger Anerkennung der Unterschiede - d. h. zur Gleichwertigkeit verschiedener Identitäten - zu gelangen, ist mehr erforderlich als Übereinstimmung im Glauben an diesen Grundsatz (d.i. die formale Gleichbehandlung. Der Verf. ). Uns müssen überdies einige Wertmaßstäbe gemeinsam sein, nach deren Anwendung sich die betreffenden ldentitäten als gleich herausstellen. Es muß inhaltliche Übereinstimmung bezüglich der Werte geben, sonst wird das formale Gleichheitsprinzip ein nichtssagender Schwindel sein . . . Schon allein die Forderungen der Cambridge (MA) 1982. Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, Frankfurt am Main 1997, 241. 12 ebd. IO
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Anerkennung von Unterschieden führen uns über die bloß prozedurale Gerechtigkeitsvorstellung hinaus." 13 Autonome Individuen würden nur eine atomisierte Gesellschaft erzeugen; wir sind bereits auf dem Weg dorthin. Deshalb ist das Verhältnis des einzelnen zu den verschiedenen "communities", das "sense of community"(Sandel) neu zu bestimmen. Amitai Etzioni bringt dies auf eine schlichte Formel: Es gehe darum, daß die Amerikaner "ihre Werte, Pflichten, Institutionen und Gemeinschaften stärken" 14 . Angesichts der "Tendenz unserer Jugend, Rechte zu beanspruchen und die Pflichten dem Staat zu überlassen", schlägt Etzioni vor ein "Moratorium für die Formulierung neuer Rechte; die Neuverknüpfung von Rechten und Pflichten; die Einsicht, daß manche Pflichten keine Rechte nach sich ziehen; und die (sehr behutsame) Anpassung einiger Rechte an die veränderten Bedingungen." 15 In dem von vielen unterzeichneten kommunitaristischen Programm vom 18. 11. 1991 heißt es: "Die Liberalisten (besonders die der "American Civil Liberties Union". Der Verf.) behaupten, Pflichten seien eine persönliche Angelegenheit, das Individuum könne selbst entscheiden, welche Pflichten es annehmen wolle. Wir sagen: Pflichten sind in der Gemeinschaft verankert. Die funktionierende Gemeinschaft ... definiert, was man von jemandem erwarten kann; erzieht ihre Mitglieder dazu, diesen Werte zu akzeptieren; lobt sie, wenn sie es tun, und tadelt sie, wenn sie es nicht tun." 16 Damit ist die obenerwähnte liberale Zweiteilung in eine ethische und eine politische Person, in ein Rechts- und in ein Moralsubjekt gegenstandslos geworden. Nichts wird neben der Stärkung der Zivilgesellschaft von den Kommunitariern so betont wie die Notwenigkeit moralischen Handeins in allen Bereichen der Politik. Beides bedingt sich in der Praxis wechselseitig. Nur in subsidiären "communities" kann Moral erworben und gelebt werden, und nur moralische Haltungen garantieren den Bestand dieser Gesellungsformen. Individuelle, zwischenmenschliche und politische Moral lassen sich in der Realität nicht trennen. Die soziale Gerechtigkeit ist nach dem kommunitaristischen Konzept eine reziproke: der einzelne schuldet sie den anderen und der Gemeinschaft, die Gemeinschaft den einzelnen. Was von den Liberalen als formale Gerechtigkeit ausgegeben wird, enthält bereits substantielle ethische Werte, auch wenn diese noch nicht ausreichen; die prozedurale Gerechtigkeit kann sich nicht ohne inhaltliche Moral begründen. Reese-Schäfer meint zwar: "Die Begriffsabgrenzung zwischen dem politischen und dem moralischen Bereich kann deshalb nicht hinreichend scharf sein, weil sich in der Sache Überlagerungen ergeben." 17 Deshalb sei das Problem, das zwischen Liberalen und Kommunitariern verhandelt wird, theoretisch nicht lösbar; er räumt aber ein, daß die Praxis das Ineinander von Moral, Recht und Politik fordert. Nach unserer Auffassung kann und muß aber auch 13
Charles Taylor, Das Unbehagen an der Modeme, Frankfurt am Main 1995,62 f.
Amilai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeilen und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995, 2. 15 a. a. 0., 5. 16 a. a. 0., 298. 17 Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral, 653. 14
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theoretisch eine eindeutige Position bezogen werden. Die Kommunitarier setzen also nicht auf das rationale und freie Individuum, aber auch nicht auf den Staat (allenfalls als letzte Möglichkeit im Ausnahmefall), wenn sie Moral, soziale Gerechtigkeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft beschwören, sondern auf die subsidiären Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen, die es zu stärken gilt. Dies entspricht durchaus den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität in der katholischen Soziallehre. Aber die Rolle des Staates wird aus der amerikanischen Perspektive doch anders gesehen, ebenso die Begründung der ethischen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, wie noch zu erläutern bleibt.
IV. Zur katholischen Soziallehre Die katholische Soziallehre begründet ihre Einsichten aus einer empirischen Zusammenschau und zugleich aus einer Tiefensicht dieser sowohl alltäglichen als auch wissenschaftlich gewonnenen Beobachtungen, also aus der "Natur der Sache" bzw. des Menschen. Von den "inclinationes naturales" bei Thomas von Aquin bis zu Johannes Messners "existentiellen Lebenszwecken" und bis zur Anthropologie des jetzigen Papstes werden die Person ebenso wie Gemeinschaftsformen und der Staat und die sich daraus ergebenden ethischen Grundnormen letztlich ontologisch verankert. Obwohl der Begriff und das Wort "Staat" erst neuzeitlich sind, gehört das damit Gemeinte zum Wesen des Menschen: "Mit Staat meinen wir also den politischen Verband einer Gesellschaft . . . Das Besondere an diesem Verband ist, daß er befugt ist, die Gesellschaft verbindlich zu ordnen." 18 Dies galt auch bereits vor dem neuzeitlichen Staatsverständnis. Diese politische Gemeinschaft "besteht also um des Gemeinwohles willen; in diesem hat sie ihren letzten Rechtfertigungsgrund und leitet aus ihm ihr unveräußerliches Eigenrecht ab", wie das Zweite Vatikanische Konzil es formuliert 19• Lediglich die konkrete historische Form verdankt sich, wie die Vertrags- und liberale Theorie will, dem Willen der Beteiligten. Das Gemeinwohl insgesamt und seine konkreten Inhalte haben moralische Qualität aus der Natur der Sache. Hierfür ist der Staat verantwortlich, und zwar in einem doppelten Sinn. Zum einen in einem objektiven Sinn, um Strukturen (oder auch als Hommage an den Ordoliberalismus: eine Rahmenordnung) zu schaffen, die moralisches Handeln ermöglichen, fördern und belohnen, was institutionell erschwert oder gar verhindert würde, wenn "Strukturen der Sünde"20 vorherrschten. Zum andem in subjektiver Hinsicht, insofern der Staat in seinen Agenten selbst moralisch handelt und dazu auffordert. Ebensowenig wie Aristoteles kennt Thomas von Aquin "die einseitige Hervorkehrung des individualistisch verstandenen Rechtszwecks auf Kosten der Gesamtheit oder auch nur einzelner ihrer Glieder" 21 . Staat 18 Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderbom-München-Wien-Zürich 1991, 135. 19 Gaudium et spes, 74,1. zo Sollicitudo rei socialis, 36.
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soll sein die Verkörperung der Gerechtigkeit, diese aber besteht in der Wahrung des inneren und äußeren Friedens, daß ein jeder das Seine ruhig besitzen kann (aber nicht in einer egalitären Güterverteilung). "Schon Aristoteles hatte mit Nachdruck die sittliche Zweckbestimmung des Staates hervorgehoben ... Der Staat soll seine vornehmste und wichtigste Aufgabe darin sehen, den Menschen die Erwerbung der Tugend zu ermöglichen und sie zur Erwerbung der Tugend erziehen zu helfen ... Thomas übernimmt von Aristoteles diese Zweckbestimmung des Staates gerade auch nach der sittlichen Seite hin. Auch er sieht das Ziel des Staates im bene vivere, im gut Leben, und dieses bezeichnet er als ,tugendgemäßes Leben'. Deshalb ist auch nach ihm der Staat verpflichtet, seine Bürger zur Tugend zu erziehen. "22 Allerdings schränkt Thomas diese Aufgabe auf die öffentliche Moral ein. "Es ist selbstverständlich, daß auch Leo den Staat in den organischen Aufbau der sittlichen Zwecke einzureihen versucht. Nicht etwa, um Aristoteles und Thomas sklavisch nachzubilden, sondern weil er mit beiden und mit der ganzen philosophia perennis die durch die stichhaltigsten Gründe gestützte Überzeugung vertritt ,von der unteilbaren Einheit der gesamten sittlichen Weltordnung'. ,.23 Leo XIII findet scharfe Worte in der Ablehnung eines moralfreien Staates, aber auch eines Staates, der sich selbst und seine Raison zum Maßstab der Moral macht. Auch der katholische Sozialethiker Otto Schilling aus Tübingen hatte in den zwanziger Jahren in seiner Staatslehre als die erste Aufgabe der Staatsgewalt die "Sorge für Religion und Sittlichkeit" bezeichnet24. Auch wenn heute der Staat angesichts der Autonomie vieler gesellschaftlicher Subsysteme einer sich immer mehr pluralisierenden Gesellschaft und vieler supranationaler Bindungen nicht mehr als "societas perfecta" angesehen werden kann, darf er "nicht wertneutral sein, weil gemeinsames zielgerichtetes Handeln ohne übereinstimmend als werthaft bejahte Ziele nicht möglich ist"25 . An diese vorstaatlichen Werte ist der Staat gebunden, die er selbst nicht schafft, aber schützen und garantieren kann, wie es das deutsche Grundgesetz voraussetzt und bekräftigt. Allerdings beginnt das Problem erst in der Konkretisierung dieser konsentierten Grundwerte, wenn sie im Strafrecht, in der Schulerziehung, in der Kunst- und Medienfreiheit, im Familien- und Sozialrecht geltend gemacht werden. Hier ist nochmals auf die Kommunitarier zurückzukommen, die aber, bei allem Engagement, Tugend wiederzugewinnen und Moral in den gesellschaftlichen Institutionen zu stärken, vom Staat selbst wenig an moralischer Intervention erwarten. Ihre Begründung für gemeinsame Werte auch in einer pluralistischen Gesellschaft und für eine inhaltliche und substantielle Gerechtigkeit ist von großer Bedeutung. Diese Begründung ist vor allem geschichtlich und sozialpsychologisch, auch wenn RePeter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII, Mönchengladbach 1925, 151. a. a. 0., 175 f. 23 a. a. 0., 180. 24 Otto Schilling, Christliche Staatslehre und Politik, Mönchengladbach o.J., 54- 60. 25 Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, 81. 21
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kurseauf eine vorgegebene Struktur und Natur des Menschseins bei manchen Vertretern (besonders den "Neu-Aristotelikern") möglich erscheint. Identität und moralischen Charakter gewinnt die Person, das Selbst nur durch die Gemeinschaften und Gesellungen, in denen es aufwächst und lebt. Michael Walzer lehnt weder ein "minimales Naturrecht" noch eine Universalistische Ausrichtung der Ethik ab, aber er sieht die Moral immer im sozialen und historischen, damit in einem partikulären Kontext. Er benutzt dazu eine Illustration: Die Wohnungen von Gemeinschaften sind immer in einem besonderen Stil eingerichtet, aber einen internationalen Standard dürfen sie nicht unterschreiten. Nur in einer partikulären Heimat, nicht in einem nach der zugehörigen Kette genormten und damit anonymen Hotel fühlt sich der Mensch auf Dauer zu Hause und gewinnt darin seine moralische Identität entsprechend der dort geltenden Regeln?6 Der neu-aristotelische Kornmunitarier Alasdair Maclntyre will in diesem Zusammenhang zwei Dinge lehren: "erstens, daß jede Moral in einem gewissen Maß immer an das sozial Lokale und Besondere gebunden ist, und daß das Streben der Ethik der Modeme nach einer Allgemeingültigkeit, die von jeder Besonderheit befreit ist, auf einer Illusion beruht; und daß man zweitens Tugenden nur als Teil einer Tradition besitzen kann, in der wir sie und unser Verständnis von ihnen von einer Reihe von Vorfahren übemehmen'm. Die "narrative" Geschichte meines Selbst ist eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite. "Der Besitz einer historischen Identität und der Besitz einer sozialen Identität fallen zusammen."28 Obwohl hier vom Staat wenig die Rede ist (wohl aber von Nation und Patriotismus), verlassen Kommunitaristen wie Michael Walzer und Charles Taylor (auch wenn sie selbst das Etikett des "Kommunitarismus" für sich ablehnen) das liberale Verbot eines "legal enforcement of morality" und bürden im Namen von Menschenrechten und von gewachsener moralischer Identität des Menschen dem Staat die Verantwortung für das "gute Leben" der Bürger, nicht zuletzt für kulturelle Minderheiten, für soziale Gerechtigkeit und einen öffentlichen Standard der Moral auf. Amitai Etzioni wehrt sich gegen die Liberalen, die jede Staatsintervention in den genannten Bereichen für illegitim halten: "Für die extremen Individualisten ist jede Autorität zumindest potentiell autoritär. Sie behindern die Entwicklung legitimer, demokratisch kontrollierter Staatseingriffe, und seien sie noch so unabdingbar ... Wer diese (d. h.liberale. der Verf.) Philosophie auf eine funktionierende Demokratie anwendet - also mit der Furcht vor einem möglichen staatlichen Mißbrauch spielt -, kommt zu so unhaltbaren Schlüssen wie der strikten Weigerung, zur Lösung sozialer Probleme bestimmte Verfassungsrechte neu zu interpretieren."29 Ges. dazu Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 255 - 266. Alasdair Maclntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main-New York 1987, 170. Vgl. dazu: Hans Joachim Türk, Zwischen Universalismus und Partikularismus. Zur politischen Ethik des Kommunitarismus, in: Stimmen der Zeit, II9.Jg. (1994), 537 - 545. 2s a. a. 0 ., 295. 26 27
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rade inmitten einer Entwicklung der westlichen Demokratien hin zu einem relativistischen Multikulturalismus kann und muß der Staat Sachwalter von identitätsstiftender Kultur und Moral bleiben30; er muß Gerechtigkeit für die eigene Nation und für die fremden Kulturen miteinander vermitteln. Ohne inhaltliche kulturelle und moralische Bestimmungen gelingt das nicht; Prozeduren reichen dafür nicht aus. Der Leitartikler der "Herder Korrespondenz" hat es im September 1997 für Deutschland ausgesprochen: "Und die Rolle des Staates selbst bei der Schaffung von Verbindlichkeiten für den Zusammenhalt der Gesellschaft? ... Er kann zwar keiner Gesellschaft Zusammenhaltsmoral via Gesetz verordnen, aber er ist deswegen von ethischer Verantwortung für den Zusammenhalt der Gesellschaft noch lange nicht ausgenommen ... Er ist höchst legitimiert, selbst ethische Maßstäbe zu setzen, wenigstens dort, wo er anders in seiner ureigenen Aufgabe behindert würde, nämlich gesetzlicher Garant des Gemeinwohls zu sein." Der deutsche Bundespräsident hat in seiner Rede zur 40-Jahr-Feier der Katholischen Akademie in Bayern am 28. 02. 1997 in München diese Aufgaben den verschiedenen Adressaten ganz im Sinn der Kommunitarier zugewiesen: "Aber ein demokratischer Rechtsstaat kommt ohne einen gemeinsamen Schatz von Grundüberzeugungen und Grundwerten nicht aus . . . die Demokratie (braucht) mehr als nur das bißchen staatlich verordneter und garantierter Spielregeln, die ein sinnvolles Zusammenleben möglich machen ... Wir brauchen in unserer Demokratie jeden Tag von neuem und jeden Tag mehr den Grundkonsens über das, was wir unter Solidarität, unter staatsbürgerlichen Pflichten, unter dem notwendigen Einsatz des einzelnen für die Gemeinschaft verstehen." Hierfür erklärt er die einzelnen wie die gesellschaftlichen Gruppen als verantwortlich. Aber auch der Staat ist zuständig: "Kirche und Staat verlieren in dem Maße an Bedeutung, in dem sie nicht mehr die Kraft oder den Mut besitzen, die für unser Zusammenleben grundlegenden Regeln zu vermitteln. Fehlt aber das Vertrauen in die ungeschriebenen Regeln der Gemeinschaft und in die sie vertretenden Institutionen, dann entstehen gesellschaftliche Gesamtkosten, die nicht mehr zu beziffern sind."31 Was Papst Johannes Paul II in derEnzyklika "Centesimus annus"(Ziff. 48,2) von der Wirtschaft sagt, läßt sich sinngemäß auf alle hier in Frage kommenden Bereiche von Moral und Öffentlichkeit ausdehnen: Eine "Aufgabe des Staates besteht darin, die Ausübung der Menschenrechte im wirtschaftlichen Bereich zu überwachen und zu leiten. Aber die erste Verantwortung auf diesem Gebiet liegt nicht beim Staat, sondern bei den einzelnen und bei den verschiedenen Gruppen und Vereinigungen, in denen sich die Gesellschaft artikuliert." Die Verantwortung für eine moralisch sustantiierte Gerechtigkeit eignet sich nicht für einen Sündenbockmechanismus, mit dem sie immer den jeweils anderen Institutionen und Personen auferlegt wird; sie ist Sache aller. 29 Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 194 f. Zu Walzer s. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral, 517 f., 522 ff., 543 ff. Zu Taylor s. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 89 ff. 30 vgl. Hans Joachim Türk, Multikultur - Realität, Utopie oder Chimäre? in: Die Neue Ordnung, 50. Jg. (1996), 30 - 40. Don weitere Literatur. 31 zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 27.Jg. (1997), Nr. I, I f.
Sozial- und Rechtsgewissen als Wegweisung und Herausforderung Von Rudolf Weiler Für die naturrechtliche Ethik ist das Recht nicht aus Normenschöpfung positivistisch zu begründen, sondern im Sein verankert und als Seinsrichtigkeit der menschlichen Vernunft letztlich aufgegeben zu sehen. Damit ist das Recht für den Menschen auch Orientierungspunkt auf dem Weg zur gesellschaftlichen Ordnung vor der Normensetzung. Das soll im Titel des Referates durch das Wort "Wegweisung" zum Ausdruck kommen. Die Herausforderung liegt darin, mit dem Naturrechtsansatz auf die "politischen" Folgerungen im Sinne der Tradition des Naturrechts, insbesondere nach Aristoteles, aus dem Rechtsbewußtsein auf das Gemeinwohl als dem Gesellschaftszweck, auf gerechte Ordnung nach einem allgemeinmenschlichen Gerechtigkeitskriterium hinzuweisen. Für viele heutige Naturrechtsgegner und -zweifler eröffnen sich trotz erfahrenen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Kultur Aporien zwischen Prinzipien des Naturrechts und deren Anwendung, insbesondere im Gewissensurteil bei Fragen der gesellschaftlichen Sozialordnung. Der Blick auf den "Anderen" als Mitmenschen wird im gesellschaftlichen Leben und der sozialen Kultur nicht vom Inneren her, vom menschlichen Bewußtsein her gesucht, sondern in vielen wissenschaftlichen Anstrengungen vordringlich aus der Empirie allein, um so den "empirischen Menschen" zum Ausgang eines System- und Ordnungsdenkens zu machen und erst nachher die Frage der Gerechtigkeit zu stellen. Damit wird der Blick "auf den Anderen", um Emanuel Levinas 1 als Zeugen der traditionellen Ethik zu zitieren, verkürzt, und ebenso werden seine radikalen sozialethischen Forderungen verstellt und verkürzt. Ausgangspunkt folgenden Referates ist daher das Naturrecht und sein Zugang über die Vernunft des Menschen im Wissen um Recht und Unrecht für die menschliche Person, die in Gemeinschaft eingebunden ist. Von dieser Position kann nur Tugendhandeln - wesensmäßig als individuell und sozial dem Menschen angemessen mit dem Maß des je Gehörigen (suum) - in personaler und sozialer Wertverwirklichung als Ansatz ethischer Betrachtung in Frage kommen. Mit der Einsicht I Vgl. Sirnon Critchley, Taking an ethical turn, in: Times Literary Supplement, Oct. 17, 1997, 14 f. Der Artikel beleuchtet die Rezeptionsgeschichte von Levinas' Werk zur Zeit in Frankreich und die Wendung dort zur traditionellen Ethik und zur phänomenologischen Tradition insbesondere nach Henri Bergson.
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in die gesellschaftliche Ordnung nach Recht und Unrecht sollte grundsätzlich der Aufbau einer Kultur in Gerechtigkeit möglich sein. Es gilt daher, das Rechtsgewissen erlebbar und kulturell wirksam zu machen. Schließlich führt der Gedankengang vom Naturrecht und von der Gerechtigkeit zum Sozialgewissen als Weg zur Erfassung der Gerechtigkeit als sozialer Gerechtigkeit. Abschließend wird die Verbindung von Gesellschaft und Rechtsnorm mit dem universal geltenden Sittengesetz im naturrechtliehen Sinn festgehalten, entgegen auch teleologisch orientierter Kreise und ihrer Zweifel an der Wahrheitskraft und gesellschaftlichen Wirksamkeit des Naturrechts nach der traditionellen Naturrechtslehre in ihrer Fortentwicklung insbesondere im Neuansatz nach Johannes Messner. Hiermit ergeben sich folgende Gesichtspunkte nachstehenden Referates: I. Die Natur des menschlichen Wissens um gerecht und ungerecht
li. Gerechtigkeit als Tugend
III. Das Rechtsgewissen IV. Gerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit: vom Rechts- zum Sozialgewissen und sozialer Liebe V. Von der Sittennorm zur Rechtsnorm.
I. Die Natur des menschlichen Wissens um gerecht und ungerecht Das menschliche Leben verlangt für seine Entstehung und Entfaltung Gemeinsamkeit und folglich Gemeinschaft. Der Mensch ist sowohl Individual- als auch Sozialwesen. Gesellschaft hat losgelöst von den sie bildenden Gliedern, den individuellen Menschen, keine getrennte Existenz, entgegen substantiellen Ganzheitsvorstellungen. Dennoch erreicht Gesellschaft als Seinswirklichkeit überindividuelles Sein mit Personcharakter.2 Dem im Menschen gründenden Sozialsein entspricht als Naturtatsache nicht bloß ein instinktives Sozialverhalten wie beim Tier. Dies kann vom Menschen vielmehr mit Einsicht verstanden werden und stellt seinen Unterschied vom tierischen Herdentrieb dar. Es besteht daher Wissen um diese Lebenswirklichkeit mit dem Erwachen der Verstandeskräfte. Insofern ist der Mensch offen für die Einsicht in Notwendigkeit und Wesen seines mit seiner Natur als Mensch verbundenes Sozialseins. Das Wissen um zwischenmenschliche Verhaltensregeln zur Gestaltung dieses Zusammenlebens, eben von Menschen, deren Handlungen als menschliche vom freien Willen abhängen, findet in der Naturrichtigkeit in dieser Menschennatur das Kriterium für ihre Güte und stellt eine allgemeine Erfahrung des menschlichen Bewußtseins dar. Soziales Verhalten findet seine Richtigkeit objektiv nicht im freien Willen des Individuums in absoluter Au2 In der Enzyklika Centesimus annus, Nr. 49, spricht Johannes Paul II. in diesem Sinn von "Subjekthaftigkeit der menschlichen Gesellschaft" .
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tonomie, sondern in relativ wirksamer Bindung des individuellen Willens an universales menschliches Denken aus Einsicht, eben in die Gesetzmäßigkeiten der sittlichen Ordnungkraft der (Sozial)Natur jedes Menschen. Dabei gelangt menschliche Reflexion im Streben nach Gründen, wie bei allen Denkvorgängen, zu letzten und obersten Prinzipien in Form einer Intuition, somit auch apriorisch zwar, allerdings einleitend und begründend auch auf Erfahrung beruhend. Das Gemeinwohlprinzip als Gerechtigkeitsprinzip ergibt sich so als Sachgesetz des gesellschaftlichen Lebens und zeigt das Gemeinwohl als den obersten Sozialzweck: erfahrungswissenschaftlich zugänglich und zu seiner bestmöglichen Verwirklichung bestimmt. lnsoferne werden auch empirische Sachgesetze oder Gesetzmäßigkeiten in der rechtlichen Ordnung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft eingebunden und in Verbindung mit den ethischen Prinzipien gestellt. 3 Joseph Kardinal Ratzinger zeigt die Bindung der Freiheit an das Maß der Wirklichkeit und damit an die Wahrheit in seinem Beitrag "Freiheit und Wahrheit"4 • Die menschliche Vernunft brauche den Anhalt an die großen (religiösen) Traditionen der Menschheit. Auch die philosophische Ethik könne nicht schlechthin autonom sein. Sie könne nicht auf den Gottesgedanken und den Gedanken einer Wahrheit des Seins verzichten. Wahrheit habe ebenso ethischen Charakter. Daß Freiheit und Verantwortung zusammengehören und Freiheit immer auf letzte Bindung hinweist, wird besonders dem Unrechtsbewußtsein deutlich. Unrecht tun oder erfahren weist somit auf eine soziale Grundordnung im menschlichen Leben als Seinswirklichkeit hin und damit auf die Grenze der Autonomie des Menschen im sozialen Bereich. In seiner sozialen Lebenswirklichkeit ist der Mensch infolge seiner Willensfreiheit in die bedingte Notwendigkeit gestellt, seiner Natur folgend das für ihn und die Mitmenschen Gute im sozialen Zusammenleben zu tun. So zeigt die sittliche Ordnung auch im sozialen Bereich Richtung und Grenzen individueller Freiheit auf im Bezug auf die Erreichung individuellen Wohles wie ebenso des Gemeinwohls - und das ist der Gesellschaftszweck. Einzelmenschliche wie gesellschaftliche Lebenserfüllung bedingen einander, das Wohl jedes und aller Menschen als Glieder der Gesellschaft. Der utilitaristische Ansatz genügt weder dem Wissen des Menschen um den "Anderen" noch den Ordnungserfordernissen des Wohles der Gesellschaft. Weder der individualistische Utilitarismus - die Summe der Individuen und deren Glück als Glücksformel - noch der kollektivistische Utilitarismus, der das Ganze den Teilen zu deren Glück überordnet, treffen die Natur des Menschen und sind zur Grundsicherung sozialer Ordnung ausreichend. 5 3 Hinweise darauf finden Sie in der "Kulturethik" (lnnsbruck 1954) von Johannes Messner auf der Seite 423 f. Später kommt er im selben Werk darauf zurück, daß die Höhe der sittlichen und rechtlichen Kultur auf der Verwirklichung der Prinzipien des Rechts in Verbindung mit den oben genannten Sachgesetzlichkeiten zu sehen ist (604). 4 In: Communio, Jg. 24 (1995), H. 6, 527-542. s Die Festschrift von Waltee Kerber, hrsg. von Norbert Brieskorn und Johannes Müller, Freiburg 1996, ist dem Thema Gerechtigkeit und soziale Ordnung gewidmet. Hier findet sich
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Die Rechtlichkeit sozialer Grundordnung zu erkennen, ist für die menschliche Praxis Sache der Vernunft, aber von Verstand und Willen. Sie hängt mit Selbsterfahrung und personalem Bewußtsein des Menschen als handelndem Subjekt, als Person, zusammen. Personales Bewußtsein oder Selbstbewußtsein ist somit der erste Zugang zur Rechtserfahrung. Dieses Bewußtsein ist eine für jede menschliche Person zutreffende Erfahrung, also universell und allgemeinmenschlich und daher mit einem Rechtsanspruch verbunden. Rechtlichkeit des Menschen führt zur Rechtsstellung aller Menschen und gewinnt so Normcharakter und sittliche Bindung jedes Menschen durch seine Vernünftigkeit vor aller gesellschaftlichen positiven Normsetzung. Sittliches Ethos steht daher immer auch in sozialem Kontext, ist insoferne immer auch rechtliches Ethos (zumindest in Teilbereichen) und nimmt als Rechtlichkeit Rechtscharakter an, wird im Rahmen der Sozialethik eigener Gegenstand der Rechtsethik. Eine pastorale Erklärung der Italienischen Bischofskonferenz vom 4. Oktober 1991 argumentiert z. B. mit dieser Rechtlichkeit (in der deutschen Übersetzung so genannt) als einem grundlegenden Bedürfnis des Gesellschaftslebens, von der Rechtlichkeit jeder und aller Menschen ausgehend, für die allgemeinmenschliche Tugend der sozialen Gerechtigkeit. Der Aufbau menschlichen Gemeinschaftslebens beruhe letztlich auf Verbindlichkeit und verleihe also Sittlichkeit auch Gesetzeskraft. Im Zuge der Herausbildung der Rechtsphilosophie zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde die klassische Naturrechtslehre und Rechtsethik in Frage gestellt. Ihrer neuscholastischen Fortführung im 19. Jahrhundert steht heute fundamentalethische Skepsis und eine Reihe von anthropologischen, soziologischen und psychologischen Strömungen im Ensemble der Philosophie und der Sozialwissenschaften entgegen. Diese wollen die Geltung eines allgemeinen Sittengesetzes und Rechts durch eigene - autonom erforschte und positivistisch gesetzte - Praktiken, Modelle und Erklärungsversuche, zum Teil auch in einzelwissenschaftlicher Untersuchung und mit entsprechenden Folgerungen ersetzen. Sie bringen vor allem einzelmenschliche oder kollektive Ordnungsansätze für die Gesellschaft ein, ohne dem menschlichen Selbstbewußtsein in seinem Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit von allgemeiner Gültigkeit genügen zu können. Hier liegt auch eine Ursache für vielfach bestehende soziale Fragen und Rechtskonflikte und deren Auswirkungen in unserer Zeit vor. Oft wird selbst der Anspruch auf Universalität als irreal und unmöglich zurückgewiesen, nur Vorläufigkeit wird für menschliche Erkenntnis zugelassen. 6
von Jean Yves Calvez die vergleichende Analyse der Gerechtigkeitskonzeption im Sozialismus und im Liberalismus. Besonders Mactin Honecker ist in seinem Beitrag zur "Universalität und Unteilbarkeit" der Menschenrechte um den Erweis der Universalität der praktischen Vernunft des Menschen bemüht, während sich andere Beiträge nur um einen verschiedentliehen Grundkonsens in einer sozialen Ordnung zu bemühen scheinen, angesichts der Vielseitigkeit und Komplexheit der Gerechtigkeitsproblematik heute. Das Wie bleibt freilich offen! 6 Vgl. Kar! R. Poppers Fallibilitätsprinzip seines kritischen Rationalismus.
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Auch Begründungsversuche von Rechtsnormen mittels der Theologie und dem Rückgriff auf Offenbarung und religiösen Glauben - z. B. durch politische Theologie und Befreiungstheologie - können die Frage nach einem allgemeinen sittlichen Kriterium des Rechts nicht befriedigend beantworten. Wilhelm Korff7 greift z. B. in Kritik der gegenwärtigen katholischen Sozialethik auf den vor allem theologisch aus christlichen Offenbarungsquellen gestützten Personbegriff zurück, um gleichsam von hier ein neues autonomes Verständnis der Personwürde des Menschen für seine sittlich-rechtliche Argumentation im sozialen Bereich vermeintlich griffiger zu gestalten, sich auf Menschenwürde und Autonomie bei der Ordnungssuche berufend. Dabei ist der Personbegriff doch von der traditionellen christlichen Naturrechtslehre durchaus auch in Kontext mit der Offenbarung weiterentwickelt worden. Wie überhaupt die heute oft verbreitete Behauptung eines Paradigmenwechsels insbesondere in der Gewissenslehre mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil Anleihen beim Empirismus und Positivismus unserer Zeit nimmt und die Unkenntnis über den Gebrauch des soziologistischen Verständnisses des Begriffs Paradigma nach Thomas Kuhn8 zeigt. Ebenso fällt ihr Engagement dafür auf, sittliche Wahrheitserkenntnis für das Einzelgewissen auf Richtigkeit zugunsten der Gewissensfreiheit und folgliehen personalen Güterahwägung in der Gewissensentscheidung des Einzelnen zu verkürzen. Damit wird aber die Rechtsfindung in sittlicher Wahrheit und Gerechtigkeit von Allgemeingültigkeit individuell und vor allem ordnungspolitisch für die Gesellschaft ersetzt. Daraus folgt auch die Bemühung, christliche Gesellschaftslehre oder Soziallehre und Sozialethik als Fach an unseren theologischen Fakultäten herabzustufen und individualmoralisch vom autonomen Einzelgewissen her zu steuern. Moralische Richtigkeit wird gerne für soziales Verhalten so interpretiert, als ob es für gesellschaftliches Verhalten keine allgemeinmenschliche sittliche Wahrheit gemäß der Natur des Menschen gäbe, sondern nur den Weg der Güterahwägung autonomer menschlicher Personen von ihrer eigenen Sicht der Menschenwürde her, also ohne einen der Vernunft beim Gewissensurteil zugänglichen allgemein verbindlichen Seinskriterium. Dagegen steht heute besonders die neoaristotelische Besinnung auf Tugenden, besonders wenn sie Gemeinschaftsbedeutung haben und daher im Letzten nicht aus autonomer Güterahwägung für die Gesellschaft Verbindlichkeit haben.9
7 Vgl. "Norm als Regelwerk menschlichen Handelns", in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1996, 59 -75. s Vgl. sein Buch "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", Frankfurt 9 1988. 9 Vgl. die Bedeutung der neueren Beiträge aus dem Kreis der sogenannten Communitaristen für die Wiederkehr der Tugenden und des naturrechtliehen Denkens.
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II. Gerechtigkeit als Thgend
Gerechtigkeit kann als allgemeinmenschliche Tugend nur im sozialen Kontext verstanden werden, wenn sie ihr Maß nicht auf die individuelle Person allein bezogen im Gewissensurteil findet. Gerechtigkeit hat immer Bezug auf den Anderen und die Gesellschaft, wenn auch von der Einzelperson erkannt, angewandt und von ihr verantwortet. Das bedeutet aber Erkenntnis und Annahme eines allgemeinen Prinzips der Menschenwürde als das der Menschenwürde Gemäße und Gerechte. Gerechtigkeit als normativer Tugendbegriff ist immer auch personal, individual und sozial. Sie richtet sich in ihrem Maß nach der allgemein verstandenen Menschennatur. Gerechtigkeit hat insofeme immer universelle Bedeutung und Anwendbarkeit. Rechtsethisch geht es um die Begründung der Rechtlichkeit in ihrem sittlich-rechtlichen Prinzip, dessen Richtigkeit den normativen Grund für den menschlichen Willen darstellt, die handelnde Person zum Ausgangspunkt der Gerechtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen von allgemeiner Gültigkeit zu nehmen, ohne dabei nur auf Modelle oder individuelle bzw. kollektive Maße Bezug zu nehmen. Ausgangspunkt ist ein sittlich-rechtliches Apriori in Anwendung des Rechtsprinzips als allgemeinmenschlich zur Grundlegung der Tugend der Gerechtigkeit und entsprechender Seinsvollkommenheit im Bezug auf Mensch und Gesellschaft. Tugend hat mit den Grundwerten bei der menschlichen Lebensgestaltung im individuellen und sozialen Bereich zu tun. Dem Wesen des Wertes als eines Gutes für den Menschen ist es eigen, daß er für alle Menschen gilt und als sittlicher Wert auf die jeweilige Person und ihre Seinsverwirklichung Bezug nimmt. Seinswerte haben individuelle Bedeutung, aber ebenso sozialen Inhalt. Werte werden bewußt erfahren, aber dabei als sozial verbindlich erlebt. Tugend ist über ihre Wertinhalte nie nur individuelle Sache, sondern hat zugleich Sozialbedeutung und zeigt Gemeinschaftssinn an. Selbst als individuell persönlich gelebte Tugend gilt dies, umso mehr bei direktem Gesellschaftsbezug wie bei den sozialen Tugenden. Sie beziehen sich auf "Vortrefflichkeiten" im Wortsinn, die mit Werterfahrung im Streben nach diesen Werten für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft zu tun haben, zur Wertverwirklichung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Als Lebenswerte sind Tugenden aus der menschlichen Natur erfahrbar. Insofeme steht die Persönlichkeitsethik als Eintritt in die Sozialethik und Übergang von der Individualethik in einer naturrechtlich basierten Systematik jeder Ethik. 10 Für die Gesellschaft bedeutet Sein in Gerechtigkeit aber Wertverwirklichung im individuellen wie im sozialen Sinn, infolgedessen in Vortrefflichkeit für alle und Glück für alle, mit anderen Worten in Sein im Frieden, der als Grundwert von allen erfahren wird. Menschliche Gesellschaft bedeutet unter ontologischem Seinsbezug auf einen geistig-personalen Wertegrund und entsprechendes Menschenbild ein GeselllO Vgl. den Aufbau der Kulturethik von Johannes Messner: von der Prinzipienethik über die Persönlichkeitsethik (271 - 323) zur folgenden Kulturethik genannten Darlegung über Kultur als Lebensform, Ordnung und Aufgabe.
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schaftsbild mit Ordnung. Solche Ordnung verlangt zur Abstimmung und Erhaltung derselben Wertebestimmung bei den Grundbedürfnissen und Grundpflichten der Menschen untereinander, die Einsicht nicht nur in Recht und Unrecht, sondern auch in den Sozialbezug der Wertziele nach gerecht und ungerecht. Damit ist soziale Ordnung an der Freiheit des Menschen in sittlicher Verantwortung für die gemeinsame Werteverwirklichung festgemacht. Das ge~chieht mittels der Tugend der Gerechtigkeit. Folglich ist die Freiheit nicht der oberste Wert in einer Wertehierarchie und nicht am individuell oder kollektiv ermittelten objektiven Nutzen festgemacht, sondern in den Dienst der Menschlichkeit gestellt, d. h. an rechtlich begründete Humanität gebunden. Gerechtigkeit steht daher, weil mit dem Menschsein verbunden, höher als liberal und autonom ermittelte Freiheit. Als Grundwerte aber sind Gerechtigkeit und Freiheit gesellschaftliche Ordnungsträger, wie das traditionelle sozialethische Freiheitsprinzip es als rechtlich geordnete Freiheit und das Gemeinwohlprinzip es als allseits verwirklichte Gerechtigkeit formulieren. Religionsoder Meinungsfreiheit steht deshalb z. B. unter dem Vorrang der Wahrheit und der Gerechtigkeit als allgemeinmenschlichen Werten. Erst dann ist überhaupt Kommunikation und Diskurs unter Menschen als humane Voraussetzung eigentlich möglich. Sie sind also keine Letztwerte und Grundlage menschlicher Gesellschaft. Unabdingbar ist zur Erfassung von den Grundlagen der Humanität und der Wertehierarchie daher der Schluß auf ein sittlich-rechtliches Apriori als Ausgang zur Verbindung von Sitte und Recht. In der Theorie erfolgt diese Begründung vorzüglich in der (naturrechtlichen) Rechtsethik. Natur und Wesen des Rechts bestehen in der Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Einklang mit den existentiellen Zwecken nach Johannes Messner. 11 Kraft ·der sittlichen Vernunftnatur hat jeder Mensch mit Entwicklung seiner Vernunft die Möglichkeit, evidente Prinzipien des Rechtsgewissens zu erfahren, deren Formulierung betreffend die Gerechtigkeit als dem allgemeinsten Prinzip "des primären Naturrechts", als dem suum cuique mit Johannes Messner12 wie folgt versucht werden könnte: Gib jedem das Seine! (Dazu gehören auch Sicherheit und Friede!). Achte eines jeden Recht, meide Unrecht! Ferner gibt es allgemein einsichtige Rechtsregeln: es ist unsittlich, klare Rechte anderer zu verletzen; mit Rechten ist ein wirksamer Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten verbunden, das nicht von deren Willen abhängt, ebenso Rechtspflichten des Rechtssubjektes Mensch. Dies ist die genügende Grundlage zum Aufbau einer Rechtskultur, die allerdings weiter Tugend voraussetzt, insbesondere Gerechtigkeit. Für die Anwendung des sittlich-rechtlichen Apriori kennt die naturrechtliche Rechtsphilosophie (nach Johannes Messner) dem positiven Recht gegenüber auch eine ergänzende und beschränkende Position im Prinzip der Billigkeit (des Ermessens) im Rückgriff auf Grundrechte und allgemeine Wohlfahrt. 11 Vgl. insbesondere den 7 1984, 223 ff. und öfter. 12
a. a. 0 ., 359.
Abschnitt zum "Ursprung des Rechts", in: Das Naturrecht, Berlin
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111. Das Rechtsgewissen
Dem Menschsein gemäßes Leben ist wegen der nur in Gesellschaft wesentlich und kulturell erlebbaren und erlebten Wirklichkeit "Naturrichtigkeit" niemals nur in je autonomer und subjektiver "Kulturrichtigkeit" möglich. Es hat vielmehr immer auch sozialen Bezug und damit Wesensbezug. Daher ist Gerechtigkeit ohne Bezug auf die Individual- und Sozialnatur des Menschen nicht möglich. Konkret bedeutet das, daß Gerechtigkeit immer bei aller Rechtssetzung durch den Menschen in seiner Subjektstellung in der gesellschaftlichen Ordnung die Rückbindung an die Rechtsnatur des Menschen allgemein verlangt. Somit bedarf es zur Gerechtigkeit der Ordnung der Gesellschaft und des Urteils für Ordnung eines allgemeingültigen Kriteriums der Gerechtigkeit als der Tugend, ,jedem das Seine zu gewähren", wobei der ordnende Mensch nicht allein steht, sondern immer des Maßes des Allgemeinbegriffes von Menschsein bedarf. Dieses Maß ist Ausgangspunkt und Zentrum des menschlichen Urteils zum Mitmenschen hin. Es bedarf eines Kriteriums des Rechts und der Gerechtigkeit zur Legitimation der sittlichen Richtigkeit als Rechtlichkeit, insbesondere wenn es um die Durchsetzung des Rechts mit Sanktionsgewalt geht. Als Beispiel sei die Durchsetzung von Recht im internationalen Bereich, z. B. im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, genannt. Dazu braucht es in der Menschheit, trotz aller kulturellen Verschiedenheiten, Einsicht in die Prinzipien des Rechtsgewissens zu deren Anwendung bei der Urteilstindung und der nachfolgenden Sanktion. Mit den Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg oder neuestens mit den Prozessen anläßlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach den Greueln im Bosnienkonflikt wird die Notwendigkeit einer Sanktion der Verletzung der Menschenrechte in Verbindung mit der Entfaltung von Gemeinsinn und Rechtssinn gegenwärtig angesprochen. Das ist offenbar ein Zeichen für die Wirkweise des Gerechtigkeitssinnes in der menschlichen Natur unter kulturellen Bedingungen und folglieber Fortschrittskraft Dabei kommt dem Rechtsgewissen eine besondere Wirksamkeit zur Erkenntnis des Rechts und der Gerechtigkeit in der Gesellschaft auf Weltebene und der betroffenen Kulturen zu. Gerechtigkeitsdenken erfahrt durch das Gewissen über das sittlich-rechtliche Apriori Einsicht und materielle Füllung aus der Erfahrung, sodaß die Freiheit des Willens nicht bloß wie - nach Kants Kategorischem Imperativ auf formales Wollen reduziert gedacht werden kann, sondern immer auch auf Tugenden, hier der Gerechtigkeit, als dem Menschen gemäße Wirklichkeit ausgerichtet erscheint. 13 Die Verbindung des menschlichen Rechtsdenkens zur sittlichen Ordnung zeigt sich, trotz heute herrschendem Rechtspositivismus, etwa im Falle von Höchstge13 Kant hat bekanntlich verschiedentlich diesen Formalismus in Anbetracht der Tugenden, wie es auch in seiner Metaphysik der Sitten zum Ausdruck kommt, nicht durchhalten können!
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richtsbarkeit, besonders bei Verfassungsgerichten. So vermißte z. B. der Präsident des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes Ludwig Adarnovich 14 in der ,,rechtssetzenden Ordnung so etwas wie eine juristische Ethik". Die Entstehung konkreter Rechtsentwicklungen läßt sich in vielen wachsenden Rechtsbereichen, vor allem im Zeitalter der Globalisierung, nicht ohne Rückgriff auf das Kriterium vom Rechtsgrund der Billigkeit, also auf Gerechtigkeit, erklären. So entsteht durch Handelsbräuche und Verkehrssitten, z. B. bei der Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Rahmen, zurecht der Eindruck einer Rechtshierarchietrotz gesellschaftlich vordergründigem Rechtspluralismus. Ein weiteres Beispiel ist die Herausbildung eines Volksgruppenrechts als Menschenrecht innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung heute. Gewissen bedeutet einfach zunächst ein Wissen, auf das hier rekurriert werden kann. Dabei ist der Inhalt des Rechtsbewußtseins -bezogen auf die Naturrechtsnormen als Naturrecht im Sinne von Menschenrechten- durchaus konkreten und sachlichen Wissens, weil er nicht in einem abstrakten Schlußverfahren entwickelt, sondern sehr unmittelbar erlebt und im Anlaßfall gefordert wird. Das ist auch der Grund für die Geschichtlichkeit allen Rechtes, es wird eben konkret ins Bewußtsein tretend erfahren. Das Naturrecht ist teleologisch, zweckgerichtet erfahrbar aus der Natur des Menschen und steht in einem Funktionszusarnrnenhang mit dem Menschsein als unmittelbar erlebte Berechtigung zu etwas, das einen Wert beinhaltet, eines Gutes für den Menschen, für sein Menschsein, und daher für jeden Menschen geltend. Daher sind Naturrechtsprinzipien ontologisch fundiert und stehen in einer Werthierarchie, die über positiven Rechtsfestsetzungen in Geltung gesehen werden. Johannes Messner kommt in seiner "Kulturethik" im Abschnitt "Kultur als Ordnung"15 darauf zurück: "Der soziale Wesensgehalt der Humanitätsidee" und "Die sozialorganisatorische Forderung der Humannitätsidee" sind zwei treffende Kapitelüberschriften. Dabei stehen die Gemeinschaftstugenden im Zentrum der Überlegungen, nämlich Treue, Gerechtigkeit und Billigkeit, die er in Verbindung mit Persönlichkeits werten als Grundlage ansieht. Darauf sieht er in der Tradition des Humanitätsideals in der abendländischen Geschichte "die Unterwerfung der Macht unter das Recht" als Wertziel der Kultur. Dieses sei von zwei Seiten her bedroht, von der "Gleichheits- und Freiheitsideologie"! In diesen beiden Ideologien ist das Fehlen der sozialen Gerechtigkeit konkret angesprochen.
14
15
Vgl. Die Presse vom 12. Mai 1997.
470 ff.
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IV. Gerechtigkeit als soziale Gerechtigkeit: vom Rechts- zum Sozialgewissen und sozialer Liebe16 Hermann Lübbe 17 wendet sich gegen einen Gewissensbegriff als einer "scharfrichterlichen Instanz" in Zusammenhang mit dem modernen Terrorismus. "Als Normalverfassung menschlichen Verhaltens darf doch gelten, daß kaum einer das fertigbrächte ... , solche Tötungshandlungen [zu begehen] ... Um es ... gegen ein weitverbreitetes Mißverständnis zu sagen: nicht das ausgelöschte, vielmehr das überspannte Gewissen macht es möglich ... vielmehr ... durch Orientierung an höchsten Zwecken im Recht zu sein, macht es hier waffengebrauchsfähig." So kann und darf nicht alle Mitmenschlichkeit oder soziale Liebe gesellschaftlich verrechtlicht werden mit Sanktionsfolgen zur Durchsetzung, wie es die Besonderheit des Rechts und der Rechtsordnung erfordert. Die Gegensetzung von Gesinnungs- und Erfolgsethik drückt dies aus. Die Folgerung einer Richtung der Befreiungstheologie oder die sogenannte Option für die Armen zur Durchsetzung der Gerechtigkeit im Verständnis von theologischer Legitimation von Gewalt unter Berufung auf ein "biblisches" Menschenbild übersieht die sozialanthropologischen Voraussetzungen des Sozial- und Rechtsgewissens. Für das Grundanliegen und Verständnis sozialer Gerechtigkeit gibt es kein "theologisches Proprium" und auch kein anderes Maß als das der Gerechtigkeit als Tugend, weder individualistisch noch kollektivistisch genommen, nämlich das des suum cuique tribuendi, als personales Maß nach der Individual- und Sozialnatur des Menschen. Ein solches Maß entspricht dem Gerechtigkeitsbegriff der aristotelischen Einteilung nach Gesetzes-, Tauschgerechtigkeit und austeilender Gerechtigkeit nach der alten Einteilung, bis es in der "modernen Sozialethik"- so meint es A. F. Utz 18 zur Einführung der sozialen Gerechtigkeit gekommen wäre. Joseph Höffner hätte dies besorgt, als er die Ordnungsfrage als Frage der Gerechtigkeit ins Vorfeld der Gerechtigkeit geführt hätte. Damit wollte Höffner die "gerechte Integration des Individuums in das Ganze der Gesellschaft" sichern. Utz dient der Hinweis in seiner Kritik des deutschen Sozialhirtenwortes aus 1997, um auf Appelle in diesem Schreiben hinzuweisen, die er als ungenügend bezeichnet, um auf soziale Herausforderungen zu antworten. Die vielen biblischen Zitate in diesem Schreiben seien nichts anderes als Appelle ohne sozialethische Begründung. 16 Joseph Höffner, Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe, Saarbrücken 1935, 100, schreibt dazu: "Wir stellen der sozialen Gerechtigkeit zunächst die sittliche Tugend der sozialen Liebe gegenüber, sehen also vorerst davon ab, daß man die soziale Liebe . .. auch als göttliche Tugend der Caritas auffassen kann . . . Die Tugend der sozialen Gerechtigkeit heißt uns die strengen Rechtsforderungen des staatlichen Gemeinwohles erfüllen.... Die soziale Liebe hingegen sieht das Gemeinsame, das Verbundensein aller Bürger . . . So gehören soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe notwendig zusammen; sie sind keine Gegensätze, sondern Ergänzungen." 17 Politischer Moralismus, Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987, 40. 18 Ungeklärte Maßstäbe, in: Die Neue Ordnung, 51. Jg. (206- 216), 211.
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In seiner Kulturethik weist Johannes Messner 19 auf die kulturell bedingte Entwicklung des Rechtsgewissens im Bereich auch des Sozialgedankens hin, also in unserem Zusammenhang hier. Auch Utz schreibt zuletzt wieder20, schon bei Thomas von Aquin sei auf die Entwicklungsmöglichkeit des Gerechtigkeitsbegriffs zur Ordnungsgerechtigkeit zu sehen. So konnte es eben angesichts der Bedeutung des gesellschaftlichen Pluralismus heute durch die Rechtsentwicklung in der pluralistischen Gesellschaft zur Verrechtlichung der Ordnungsbeziehungen - beginnend von den Individuen über den Staat hinaus- in einer eigenen sozialen Gerechtigkeit kommen. Dies drückte sich im Rahmen des suum vom Menschen als Sozialwesen durch Gesellschaftsbildungen und folglich gesellschaftliche Institutionen und Rechtsregelungen näher aus. Messner weist hier auf die Entwicklung des Rechtsgewissens unter dem Einfluß von Herrschaft in der Volkswirtschaft, auf dem Markt, also von Wirtschaftsmacht in der Wirtschaftsgesellschaft hin, und die Notwendigkeit von Ordnung als Gemeinwohlerfordernis, auf die Tatsache von Interessengruppen bis Klassenspaltungen, was die Frage des jeweils "Ihrigem" (suum) als gerechtem Anteil für die Gliedgesellschaften nicht als denaturiert erscheinen ließe, sobald sie nämlich als Interessengruppen aufträten. In diesem Entwicklungsprozeß ist das Sittengesetz und die soziale Rechtsidee durch das Gewissen nach Messners Worten "vielmehr ein Lebens- und Wachstumsgesetz der Kultur", ein "Wertzuwachs in der Richtung des "universalen und sozialen Humanismus". 21 So verstanden gehe es der sozialen Gerechtigkeit vor allem um "das sittliche Wertgesetz . .. in seiner Geltung im gesellschaftlich-kulturellen Bereich zum Unterschied vom einzelmenschlich-persönlichen Bereich".22 Messner nennt vor allem die "vollere Verwirklichung menschlicher Grundwerte", die für das Gemeinwohl durch die kulturelle Entwicklung den Dienst der Ordnung durch die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft erfordert. Nicht Appelle oder Optionen schaffen diese schon lang in der Tugend der Gerechtigkeit heranwachsende Sicht und nicht der Verteilungseingriff in die Bigenturnsordnung aus kollektivistischer oder aus individualistischer Sicht oder auch aus direkter Berufung auf die Schöpfungsordnung oder die Bergpredigt, um eine komparative Nutzung der Güter dieser Welt daraus zu folgern. Eine Universalistische Chaostheorie kann ebensowenig wie die Sicht allein auf das Individuum und seine Ordnungseinfügung ins Ganze der Gesellschaft dies schaffen. A. F. Utz kritisiert Höffner, nach seiner Darstellung habe "die moderne Sozialethik, im Unterschied zur alten Gerechtigkeit, die Ordnungsfrage als Frage der Gerechtigkeit eingeführt, in der es um die gerechte Integration des Individuums in das Ganze der Gesellschaft" gehe. 23 19 20 21 22
415 f. a. a. 0. a. a. 0., 415. a. a. 0 ., 414.
8 Messner-Symposium
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Vielmehr kann nur das Rechtsgewissen in seiner sozialen Kulturkraft und seinem intuitiven Wissen um das dem Menschenkraft seiner sozialen Natur und Stellung Gebührende dies sichern. Insofeme teile er die Position Messners, nach der in der sozialen Gerechtigkeit seit der Ausfaltung des gesellschaftlichen Pluralismus in der Entwicklung der sozialen Frage der Neuzeit eine eigene Unterteilung der Gerechtigkeit - hier der Gemeinwohlgerechtigkeit, und hier besonders auch der zwischen den Interessengruppen! -zu erkennen ist. Gegenstand der sozialen Gerechtigkeit sei also nach Johannes Messner "das Gemeinwohl der ,Gesellschaft' (zum Unterschied vom ,Staat' . .. ) in ihren in der Sozialwirtschaft kooperierenden Gruppen und Klassen ... , insofeme es durch die Verteilung des Sozialprodukts bedingt ist" .Z4 Schon in seinem Artikel in der fünften Auflage des Staatslexikons der GörresGesellschaft25 zum Stichwort "Soziale Ordnung" hat Johannes Meßner diese Gedanken der Verbindung von Gemeinwohl mit der Rechtsordnung im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich dargelegt. Bekanntlich ist es seine stete Lehre, daß die sozialethischen Prinzipien wie das Gemeinwohl - und besonders das Freiheitsprinzip - als Seinsprinzipien aus dem Sozial- und Rechtsgewissen des Menschen heraus Sach- und Rechtsprinzipien sind. Das Gemeinwohl als Gerechtigkeitsprinzip, schreibt er in der Kulturethik später26, habe wesentliche Verbindung zu Sachgesetzen menschlichen Lebens. Diese ermöglichten nämlich durch ihre richtige Befolgung erst die bestmögliche Erreichung des Gemeinwohls in der sozialen Kooperation durch Verbindung von Verfahrens- oder Sachrichtigkeit mit sittlicher Rechtlichkeit durch die Hereinnahme sozialethischer Sicht mit dem Rechtsgewissen.
V. Von der Sittennorm zur Rechtsnorm
Wilhelm Korff7 ging, wie eingangs schon erwähnt, vor kürzerer Zeit davon aus, daß der Mensch "Konstrukteur seiner Handlungswelt" sei, also die ,,kulturelle Evolution" des Menschen "seine Verantwortungshaltung" im Umgang mit Menschen ihn erst zum ,,rule-maker" mache und spezifisch ethische Normen jeweils auskläre und vertiefe. Aus den jeweiligen Sitten, zusammen mit anderen gelebt, konstituiere sich dann das Gesetz (nomos). So wäre es auch in der Antike und im römischen Recht zum Naturrecht gekommen als dem Naturgemäßen auf Grundlage der aequitas unter Menschen. Von der naturalis aequitas führe die Entwicklung zur humanitas (der Stoa). In einem zweiten Weg - nach Korffs "Genealogie der 23 24 25 26 21
a. a. 0., 211. Das Naturrecht, Berlin 7 1984,427. 4. Band, 1931, Spalte 1673 - 1682. 423. Siehe a. a. 0., 59 - 75.
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Normen" - sei der Weg aber über den biblischen Gottesglauben gegangen. Die Vernunft menschlichen Handeins sei aus Gottes Handeln bestimmt durch "Gesetz und Propheten", Gottes- und Nächstenliebe. Liebe wird zum Richtmaß personaler Dimension, der Mensch so moralisches Subjekt! In beiden Wegen findet sich also über die menschliche Vernunft scheinbar kein unmittelbarer Weg nach Korff zur Norrnerkenntnis. Damit fallt auch die Tradition eines universalen und primären Naturrechts der traditionellen Naturrechtslehre. 28 Es gibt also zwei Wege der abendländischen Tradition, um zu nomoi zu kommen. Durch die biblische Offenbarung sei die naturrechtliche Argumentation in einen neuen Begründungszusammenhang gestellt worden. Durch die personale Dimension sei von Natur gerecht, was dem Menschen als Person gerecht ist. Und dafür spreche auch die neuzeitliche Entwicklung der Menschenrechte, das Naturrecht als Personrecht Dagegen steht die kritische Anmerkung des Referenten, diese Argumentation führt zur Vernachlässigung der grundlegenden Sozialnatur der menschlichen Person, wie sie überhaupt den Zugang zur sittlichen Wahrheit aufgrund der menschlichen Natur in Frage stellt und relativiert. Nach Korff wird - wie neuestens in katholischen Kreisen üblich geworden "ein fundamentaler Paradigmenwechsel von der klassischen Alternierung: Sitte Gesetz zur neuzeitlichen Alternierung: Sittlichkeit - Recht" vorgenommen. Darin liege unabweisbar ein ethischer Fortschritt, besonders in der katholischen Moraltheologie vor, nämlich hin zur "Grundlage ihrer eigenen theologisch-ethischen Argumentation" aus der Sicht jedes Menschen als Person, als vernünftigem und selbstverantwortlichem Wesen, das als Träger des Sittlichen von seiner Wurzel her von ihrem Sollensanspruch in Pflicht genommen sei. Das Sittliche bleibt "also radikal vom guten Willen, von der Einsichtskraft und der Gesinnung des Menschen als moralischem Subjekt her bestimmt". Recht entstehe in der Gesellschaft, "gleichsam als ,verlängerter Arm' der Moral einzelner Gruppen", sei nicht einfachhin "Vollzugsinstrument", sondern wesentlich "Konfliktlösungsinstrument" und bedürfe der "Ausbalancierung von Mehrheitswillen und Minderheitenschutz". Der Mensch sei respektiert und gewollt, sei sich selbst Sitte und Recht, es gäbe damit "personfundierte Sittlichkeit und personorientiertes Recht". Somit kann auch das moderne Recht nach Korff "ein möglichst breites Spektrum an Sachverstand und Expertenwissen in seine vielfältigen Normfindungs- und Entscheidungsprozesse" integrieren, denn auch "die bestmögliche rechtliche Rahmenordnung" könne "den sittlichen Willen der Subjekte nicht ersetzen". Der sittliche 28 Helmut Zenz macht in seiner Besprechung von Friedhelm Hengsbach und anderen herausgegebenen Buches ,,Jenseits katholischer Soziallehre", Düsseldorf 1993, in: Die Neue Ordnung, 50. Jg. (Juni 1996), (180- 191), 187 f. trefflich gestützt auf Berhard Sutors Arbeiten auf das "Konsensprogramm des li. Vatikanischen Konzils" mit Gaudium et spes (Nr. 24 32) aufmerksam: Es werde "sozusagen ein biblisch-theologisches und naturrechtliches Konsensprogramm christlicher Gesellschaftsethik entwickelt". 8*
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personale Wille wird dann aber nicht mehr am Guten gut, sondern aus Selbstbestimmung und bedarf im sozialen Kontext der pluralistischen Gesellschaft des Diskurses. Gut und wahr wird mittels des Diskurses gefunden! Dennoch meint Korff, daß die innerhalb der (deutschen!) "katholischen Moraltheologie der letzten Jahrzehnte" zu sehenden "Neuaufbrüche" mit ihrem Ringen um "Autonomie und Theonomie" ihre Wirkung auch auf die katholische Soziallehre zeigten, "am frühesten ... mit ihrer Entfaltung von Sozialprinzipien als ethischer (sie!) Antwort auf die großen sozialen Herausforderungen" heute. Und Korff sieht es aus diesem Personbezug von Sittlichkeit und Recht als Zukunftsaufgabe, aus dem "topos des ius divinum, des göttlichen Rechts" eine "Theologie des Rechts" und eine "Theologie der Institutionen" zu entwickeln.Z9 Korff muß man grundsätzlich die in der Enzyklika Veritatis splendor 1995 lehramtlich geäußerten schweren Bedenken gegen Strömungen von Subjektivismus und Relativismus in der katholischen Moraltheologie entgegenstellen und deren Festhalten an einem objektiven, im Sein verankerten Sittengesetz und eines inhaltlich materialen Rechtsprinzips. Sein Vorgehen mit zuerst aus der personal fundierten sittlichen Ordnung abgeleiteten Rechtsautonomie verläßt die Rechtsgrundlage des allgemein verstandenen Menschseins und erhebt das individuelle Rechtsurteil bei der Rechtsfindung, letztlich in Anspruchnahme eines utilitaristischen Vorgehens, zum Wahrheitsprinzip. Das Problem der Falle des Relativismus trifft gerade im Bezug auf sittliche Wahrheit für gesellschaftliches gutes Verhalten auf Korffs Argumentation zu, neben der Frage, ob der christliche Kontext den anderen Sitten gegenüber in der pluralistischen Weltgesellschaft zur sittlichen Wahrheitstindung genügen kann und der Ausweg in den Diskurs mit der Basis eines Rechtsstaates und rechtsstaatlicher Demokratie in Verbindung mit einem - aus der Sozialordnung entlassenen! - Marktprinzip ausreicht, um eine institutionelle Ordnung (vorgenommen in ,,Systemlogik" und "personorientiert") zu sozialer Gerechtigkeit und zur notwendigen Normengewinnung zu kommen. Ein Schwerpunkt mag den gesellschaftlichen Institutionen und Funktionen zu ihrer Rahmenordnung zukommen, aber ohne solche essentielle Wert- und Grundorientierungen zur Übereinstimmung zu gelangen, ist nicht einsichtig. Ist ein solcher Zweifel am vorgeschlagenen Weg zur Normentindung schon Neoscholastik und bedeutet der vorgeschlagene Weg wirklich Abkehr von Legalismus? Warum muß das Festhalten an der Kraft der natürlichen Vernunft des Menschen gemäß der metaphysischen Tradition an deren Verständnis festzuhalten ein zu überwindender Essentialismus sein? Gilt das sogenannte teleologische Argument eingeschränkt auf die Alternative zur Deootologie nur in Verbindung mit analytischen methodischen Verfahren und ohne Offenheit zu Ontologie und Metaphysik? Es erscheint wie ein utilitaristisches Abwägen von Gewichten (Werten!) ohne geeichte Waage! Können Menschenrechte ohne Menschenpflichten betrachtet werden? Hat nicht
29
a. 0., 67 ff.
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insbesondere zuletzt Emanuel Levinas den essentiellen Zugang zum Anderen, zum Nächsten in Erinnerung gebracht? 30 Überhaupt stellt sich das Problem des Abwägestaates heute im Zusammenhang von Verhältnismäßigkeit und Gerechtigkeit31 • Es entsteht somit der Eindruck von Vagheit der Normentindung für diesen neuen, scheinbar vor allem theologisch begründeten Personalismus. Man möchte auf die Studie des Club of Rome, gefördert von der Bertelsmann-Stiftung, geleitet vom Bostoner Wissenssoziologen Peter L. Berger, verweisen. Hier wird ein dritter Weg vorgeschlagen zwischen liberalem Laissez-faire und konservativer Umkehrstrategie zur Eindämmung normativer Konflikte. Berger und seine Mitautoren setzen zunächst auf die versöhnende Kraft spontan gebildeter Vereinigungen, in denen freie Bürger sich unabhängig vom Staat und häufig auch gegen ihn vergesellschaften. In den Institutionen der Zivilgesellschaft soll sich jenes "kollektive Gewissen" (Durkheim) bilden, ohne das ein Gemeinwesen keinen Bestand habe. In einer Besprechung des Buches von Berger meint Friedrich W. Grat32 : Es liege die Pointe dieses Berichts "in der bemerkenswerten Bereitschaft, den eigenen Soziologenglauben an die Vermittlungsleistungen intermediärer Institutionen zum Problem ... Umgekehrt können vermeintlich abstrakte Institutionen des Staates oder der Marktwirtschaft in Wertkonflikten zwischen den Parteien ausgleichen". Daß das nach aller Erfahrung nicht geht, zeige schon der "amerikanische Kulturkrieg" zwischen Traditionalisten und Fortschrittsdenkern im Streit um Abtreibung, Todesstrafe, Schulgebet oder Schwulenehe. "Versuche, die religiösen Letzthorizonte abzublenden und zwischen Religiösem, Moralischem und Rechtlichem funktional zu unterscheiden", müßten scheitern. "Selbst liberale Meisterdenker argumentieren häufig als progressive Fundamentalisten, die ihrem geschlechtsneutralen (also feminismuskompatiblen) guten Gott ergeben sind." Man möchte hinzufügen, was manche ,,Rechtstheologen" ohne sozialethische naturrechtliche Prinzipien aus ihrem "biblischen" ius divinum noch herauslesen können! Es sei noch auf Hungtingtons These zum Zivilisationskonflikt als Beispiel dafür hingewiesen, wie ein Politikwissenschafter aus dem so verstandenen Multikulturalismus nach dem Krieg zwischen den Religionen und Nationalstaaten einen solchen der Zivilisationen als Kulturfolge prognostizieren kann, gleichsam als Gegenthese zur Annahme einer "personorientierten" Kultur und deren Fähigkeit zur Selbstschaffung von Sittlichkeit und Recht. Nur wenn neben induktiver und deduktiver Methode auch die Intuition als Erstzugang zu sittlicher Erkenntnis aufgrund innerer Bewußtseinserfahrung anerkannt wird, kann der nach Thomas Kuhns soziologischer Begrifflichkeit heute so gerne Vgl. Alterite et transcendance, Paris 1995, 151 ff. Vgl. Walter Leisner, Der Abwägestaat Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? Berlin 1997. 32 Vgl. FAZ vom 12. 8. 1997, S. 33. 30
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angesprochene Paradigmenwechsel - als Kopernikanische Wende mit dem li. Vatikanischen Konzil mit Vorliebe und als Neuerung entgegen der neoscholastischen Tradition von machen sehr selbstbewußt verkündet! - als Soziologismus entlarvt werden. Es kann vielmehr von Kapitulation vor Relativismus und individualistischem Liberalismus angesichts bestehender derartiger Richtungen in der Gegenwartsethik gesprochen werden. Hier liegen bestimmte reformatorische Interessen dahinter, um eigentlich die Begründung für neue nomoi nach bestimmten main streams der Zeit moralisch vertreten zu können. Letztlich bleibt dort Gesellschaft und Recht nur individualistisch-liberalistisch verstanden. Sozialethik wird in ihrer Grundaussage vom Sozialsein jedes Menschen aus seiner Bestimmung von Mitmenschlichkeit als Naturwirklichkeit nur auf Zugänge aus der Individualethik reduziert. Wir erleben durch Vorgänge an katholischen Fakultäten heute in Deutschland den Versuch der Moraltheologie, die Selbständig- und Eigenständigwerdung der Sozialethik als Disziplin neben der Individualethik zurückzuholen. Sie soll im Anschluß an die Entwicklung der katholischen Soziallehre durch das (römische) Lehramt als (christliche) Gesellschaftslehre durch die Neuansätze der Fundamentalmoral (politische Theologie und Befreiungstheologie) zum Rückzug aus der sozialphilosophischen Begründung im Naturrecht als einer angeblichen neoscholastischen Erstarrung herausgeholt werden. Sie wird dabei allerdings in die Gefahr von Relativismus und Verlust des Anspruchs an Allgemeingültigkeit der Sittennorm, besonders im sozialen Bereich, gebracht. Daß Ethik und Sozialethik eine methodologisch autonome Disziplin ist und sich auf sittliche Erfahrung stützen kann, hat schon seit den siebziger Jahren T. Styczen in Polen mit einer Schulrichtung immer wieder zeigen können. Dieser Zugang über die sittliche Vernunft und das Gewissen gehört zum Sein jeder menschlichen Person. Jede Abwägung im sittlichen Urteil macht halt vor der Personwürde des anderen, und so kommt es über die sittliche Wahrheit, die sittlichen Tugenden und die folgenden Pflichten trotz aller Unvollkommenheit des Menschen zu einer Kultur der Liebe in Verbindung mit Recht und Gerechtigkeit als gesellschaftlicher Wirklichkeit und universalem Anspruch. Ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit sind die Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre, wenn sie nicht auch Sach- und Rechtsprinzipien sind zur Lösung sozialer Fragen und zur Herbeiführung des Gemeinwohls der Gesellschaft, nicht allgemein anwendbar. Als Weg zur sozialen Gerechtigkeit, aber immer auch in Konfrontation stehend, können sie sich aber durchaus kritisch im ideologischen Meinungskampf als Kriterium erweisen. In der Abwehr eines Laissez-fair-Liberalismus wie ebenso des marxistischen Sozialismus haben sie sich bis heute bewährt und sind unverzichtbar für die in allen Kulturen verkündete kirchliche Soziallehre. Mit dem Rückzug auf das theologische Argument würde das Feld der Ethik sonst nämlich dem philosophischen Relativismus und Positivismus methodisch und argumentativ entgegen der Wahrheitskraft der sittlichen Vernunft des Men-
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sehen überlassen werden. Aber es gibt auch noch andere wissenschaftliche Verbündete heute als nur solche im katholischen Lager. Insbesondere zu nennen wäre die Fortsetzung der großen Linie der antiken Naturrechtstradition bis heute in der Tugend- und ebenso Rechtsethik. So erweitert z. B. Onora O'Neill33 zum einen die liberale Gerechtigkeitstheorie, um eine Lehre der unvollkommenen Pflichten oder Tugendpflichten und ergänzt zum anderen die cornrnunitaristische Tugendtheorie durch eine Lehre der vollkommenen Gerechtigkeitspflichten. Zwar ändere sich mit der Situation die Tugendpflicht von Fall zu Fall und von Person zu Person. Das hindere aber nicht, in der moralischen Untersuchung an Universalisierung festzuhalten, denn an vorfindbaren Problemlagen könnten sich Hintergrundüberzeugungen unserer moralischen Kultur erproben, man müsse nicht mühselig konstruieren, was sich von selbst verstehe. 34 Vor allem bleibt Ethik auf die Hilfe der Naturrechtslehre angewiesen, wenn man den Menschen als sittlich Handelnden und dabei auf Kooperation angelegt sehen will, denn ohne Sollensstandard geht es hier nicht, und vor allem nicht bloß mit alleinigen Nutzenüberlegungen (Utilitarismus). Es müßten Werte in Betracht gezogen werden, auf die die menschliche Natur hin ausgerichtet ist und die der sittlichen Vernunft zugänglich sind?5
33 Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Aus dem Englischen, Berlin 1996. 34 Vgl. die Buchbesprechung von Wolfgang Kersting in der FAZ vom ll. 8. 1997. 35 Darauf weist etwa James Griffin, Value Judgement. Improving our ethical beliefs. Oxford 1997 (siehe Times Literary Supplement, June 6, 1997, 36) hin.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Erhalter des Grundkonsenses des Volkes Von Hisao Kuriki
I. Die Verfassungsgerichtsbarkeit als das ius gentium? Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist heute eine weltweit verankerte Institution. Nach der Formulierung Peter Häberles hat sie einen globalen Siegeszug angetreten1 . Wenn man zu Verfassungsgerichten nicht nur die besonderen Verfassungsgerichte sondern auch die ordentlichen Gerichte mit Befugnis der Prüfung der Gesetze rechnet, haben heute fast alle demokratischen Staaten der Welt mit Ausnahme von Großbritannien Verfassungsgerichte. Man muß aber außer der weltweiten Verbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit noch mehr die Angleichung der Verfassungsgerichtsbarkeit beachten. Neulich hat Alexander von Brünneck in seinem Buch "Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien" die These vertreten, daß die Verfassungsgerichte aller westlichen Demokratien sich sowohl in Organisation und Verfahren als auch im Inhalt der Entscheidungen überraschend annähem2 . Als Grund solcher Annäherung hat v. Brünneck angegeben, daß die Verfassungsgerichte der westlichen Demokratien den gleichen Gefährdungen des demokratischen, rechtsstaatliehen und sozialstaatliehen Verfassungssystems auf gleiche Weise entgegentreten3 . Man kann die Angleichung darin sehen, daß die Verfassungsgerichte aller westlichen Demokratien erstens nicht nur formelle (verfahrensmäßige) Kontrolle der Gesetze, sondern auch materielle (inhaltliche) Kontrolle der Gesetze machen 4 , daß sie zweitens nicht nur negative (kassatorische) Befugnisse, sondern auch positive (konstruktive) Befugnisse ausüben5, daß drittens zwei Hauptmodelle der Verfassungsgerichtsbarkeit, nämlich das Österreichische Modell, d. h. das System der I
Peter Häberle, Vorwort zu: Peter Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976,
S.XI.
2 Alexander v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, s. 20 f., s. 132. 3 A. v. Brünneck, a. a. 0., S. 138 ff. 4 A. v. Brünneck, a. a. 0 ., S. 51. 5 A. v. Brünneck, a. a. 0., S. 21 f.
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Hisao Kuriki
prinzipalen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Staatsakte durch das besondere Verfassungsgericht und das amerikanische Modell, d. h. das System der akzessorischen Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte, sich gegenseitig annähern6 . Angesichts solcher weltweiten Verbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit und solcher Angleichung der Verfassungsgerichtsbarkeit könnte man die Verfassungsgerichtsbarkeit in das heutige ius gentium im Sinne Messners einstufen7 . Durch die Einstufung der Verfassungsgerichtsbarkeit in das heutige ius gentium könnte man einerseits sie als das Ergebnis der Entwicklung des Rechtsbewußtseins verstehen, andererseits ihr einen weiteren Entwicklungsantrieb (Erneuerungskraft) geben8. II. Johannes Messner und die Verfassungsgerichtsbarkeit
1. Angesichts solcher weltweiten Verbreitung und solcher wechselseitigen Angleichung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist es einigermaßen merkwürdig, daß J. Messner ihr das dementsprechende Gewicht nicht zuerkannt hat. J. Messner hat zwar die Verfassungsgerichtsbarkeit neben der Verwaltungsgerichtsbarkeit als das Mittel der institutionellen Kontrolle der Ausübung der Staatsgewalt ausdrücklich erwähnt9 . Aber er hat die Verfassungsgerichtsbarkeit besonders als das Mittel gegen die rechtswidrige Verfassungsänderung verstanden 10. Freilich soll die Verfassungsgerichtsbarkeit die rechtswidrige Verfassungsänderung verhindern. Jedoch ist sein Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit insofern problematisch, als er von der Verfassungsgerichtsbarkeit nur die Verhinderung der verfahrenswidrigen Verfassungsänderung, also der verfahrenswidrigen Verfassungsverletzung erwartet zu haben scheint 1I, während die vorherrschende Tendenz der Welt sich darauf richtet, die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Verhinderung der materiellen Verfassungsverletzung zu blicken. Freilich hat Messner die materielle Dimension der gerichtlichen Überprüfung der Staatsakte nicht verkannt, er hat sie sogar genauer erörtert 12 • Aber er hat diese Dimension eher unter dem Gesichtspunkte des Gewissenskonfliktes des Richters wegen der Naturrechtswidrigkeit des positiven Rechts erörtert 13 • Dagegen hat er auf das Problem der gerichtlichen Überprüfung der Vereinbarkeit der Rechtsnorm mit der Verfassung nicht so großes Gewicht gelegt 14 . A. v. Brünneck, a. a. 0., S. 28 ff. Johannes Messner, das Naturrecht, 7. Aufl., 1984, S. 380. s J. Messner, a. a. 0., S. 381. 9 J. Messner, a. a. 0., S. 809, S. 834. 10 J. Messner, a. a. 0 ., S. 847. 11 J. Messner, a. a. 0., S. 810. 12 J. Messner, a. a. 0., S. 407 ff. 13 J. Messner, a. a. 0 ., S. 408 ff. 14 J. Messner, a. a. 0 ., S. 410.
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Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Erhalter des Grundkonsenses des Volkes
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2. Heute ist der Vorrang der materiell verstandenen Verfassung überall fest verankert und die Verfassungsgerichte in den meisten Staaten bestrebt, die materiell verstandene Verfassung durchzusetzen. Wenn Messner eine solche Situation gesehen hätte, hätte er vielleicht die Verfassungsgerichtsbarkeit noch höher geschätzt und noch eingehender erörtert. Aber schon sein in seinem "Naturrecht" entwickelter Grundgedanke kann auch als die Grundlage für die weitere Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit sinnvoll verwendet werden. Messner hat nämlich das Staatsleben unter dem Gesichtspunkte vom Konsens oder Willen des Volkes betrachtet. Gerade der Konsens oder Wille des Volkes muß zugleich der Ausgangspunkt und das Ziel für die Tätigkeit des Verfassungsgerichtes sein. Messners Gedanke über den Konsens oder Willen des Volkes ist in mehreren Punkten beachtenswert. a) Messner hat den Staat und die Staatsgewalt auf den Konsens oder Willen des Volkes beruhen lassen 15. Was Messner damit gemeint hat, ist nicht der wirkliche, aktuelle konkrete oder politische Wille oder Konsens des Volkes 16, sondern der Volkswille als Ausdruck des Rechtsbewußtseins und Rechtsgewissens 17 oder des geschichtlich in Sitte und Gewohnheit wirksam werdenden Rechtswillens des Volkes18. Aber Messner hat auch auf den wirklichen oder aktuellen Willen des Volkes ein großes Gewicht gelegt, besonders für die Demokratie, die er für die angemessene Staatsform für kulturell fortgeschrittene Völker hält 19. Nämlich hat Messner vom wirklichen oder aktuellen Willen oder Konsens des Volkes die Ausübung der Staatsgewalt abhängig gemacht20. "Wenn das Gemeinwohl Sache aller Glieder der Gemeinschaft ist, da diese für die Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgaben verantwortlich sind, dann kann die Ausübung der Staatsgewalt nicht vom Willen der Gemeinschaft unabhängig sein.'.21 Oder sagt er, daß der für das aktuelle staatliche Gemeinwohl konstitutive Wille des Volkes bestimmend für die Ausübung der Staatsgewalt sei22. Dieser wirkliche oder aktuelle Wille des Volkes ist durch allgemeine Wahlen zu ermitteln23 , er erscheint praktisch als der Mehrheitswille im Parlament24 , er nimmt oft die Form des Kompromisses an2s.
J. Messner, a. a. 0 ., S. 748, S. 749, S. 784. J. Messner, a. a. 0 ., S. 781, S. 819, S. 847. n J. Messner, a. a. 0 ., S. 847. 18 J. Messner, a. a. 0 ., S. 784, S. 785. 19 J. Messner, a. a. 0., S. 806. 2o J. Messner, a. a. 0., S. 783. 21 J. Messner, a. a. 0., S. 783. 22 J. Messner, a. a. 0 ., S 781. 23 J. Messner, a. a. 0., S. 819, S. 821. 24 J. Messner, a. a. 0., S. 788. 25 J. Messner, a. a. 0 ., S. 825. 15
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Also hat Messner zwischen dem Volkswillen oder Volkskonsens als dem Ausdruck des Rechtsbewußtseins und des Rechtsgewissens (Wesenswille der Gesellschaftsmitglieder26) und dem Volkswillen oder Volkskonsens als dem durch allgemeine Wahlen ermittelten politischen Volkswillen27 (praktisch: dem Mehrheitswillen im Parlament) unterschieden. Der Volkswille oder Volkskonsens der ersten Art ist nach Messner verpflichtend für den Volkswillen oder Volkskonsens der zweiten Art28, der erstere bildet die Grenzen für den letzteren 29, der erstere bindet den letzteren30. Es ist sehr bedeutungsvoll, daß Messner zwei Arten von Volkswillen oder Volkskonsens anerkannt hat, obwohl er beide gleichfalls auf das Gemeinwohl hat hinordnen lassen31 . Dadurch ist es möglich geworden, daß das, was vom politischen oder wirklichen Volkswillen oder Volkskonsens als das Gemeinwohl verwirklicht ist, nach dem Kriterium des echten, auf höherer Ebene festzustellenden Gemeinwohls kontrolliert und gegebenenfalls verneint werden kann. Das kann man besonders für die Demokratie auch auf folgende Weise ausdrücken. Da in der Demokratie alle Ausübungen der Staatsgewalt auf dem Volkswillen oder Volkskonsens ruhen, kann man die Institution der Überprüfung der Gesetze durch das Verfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung nur dann akzeptieren, wenn man die Verfassung als den Ausdruck des wesenhaften Volkswillens oder Volkskonsenses und die Gesetze als die Ausdrücke des wirklichen oder aktuellen Volkswillens oder Volkskonsenses versteht. Dabei wird vorausgesetzt, daß das Verfassungsgericht die Rolle als den Erhalter des wesenhaften Volkswillens oder Volkskonsenses spielt. b) Messner hat es zur Pflicht der politischen Autorität gemacht, dem Volkswillen in seinem Grundgehalt ausfindig zu machen32 und dem Volkswillen gemäß das Gemeinwohl zur Richtschnur zu nehmen, oder in dem, was sie für das Gemeinwohl zu tun gedenkt, des Konsenses des Volkes zu versichem 33 . Weil nach dem pluralistischen Gedanken Messners34 der Konsens oder Wille des Volkes aus den verschiedenen Komponenten besteht, müssen dann die verschiedenen Staatsorgane mit verschiedenen Besetzungsweisen, verschiedenen Verfahrensweisen und verschiedenen Befugnissen vorhanden sein, um die verschiedenen Komponenten des Konsenses oder Willens des Volkes entsprechend ausfindig machen zu können. Auch die Verfassungsgerichte müssen als eines von den Staatsorganen zur Feststellung und Verwirklichung des Konsenses und des Willens des Volkes dienen. 26 27
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J. Messner, a. a. 0., S. 773. J. Messner, a. a. 0., S. 818 f. J. Messner, a. a. 0 ., S. 773. J. Messner, a. a. 0., S. 758. J. Messner, a. a. 0., S. 785. J. Messner, a. a. 0 ., S. 773. J. Messner, a. a. 0 ., S. 786. J. Messner, a. a. 0., S. 786. J. Messner, a. a. 0., S. 752 ff.
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c) Messner hat betont, daß das geistige Wesen der Demokratie das vereinfachende Mehrheitsprinzip ausschließt, er hat großes Gewicht darauf gelegt, daß durch die Mittel zur Zügelung der Majoritätsherrschaft die Wiederaufnahme der öffentlichen Aussprache mit dem Ziel ihrer zeitlichen Erstreckung und der Ausweitung der Teilnehmerschaft an ihr ermöglicht wird, er hat betont, daß nach dem Gewicht der sie bestimmenden Argumente in den Stimmen der Mehrheit immer auch der Wille der Minderheit mitbestimmend ist, daß die nach dem Mehrheitsprinzip bestellte Regierung dem Willen der Minderheit Rechnung tragen muß35 . Gerade zur Verwirklichung solcher Grundidee zu dienen, das ist die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit d) Messner hat betont, daß das wirkliche Gemeinwohl in den öffentlichen Aussprachen unter sachlichen Erwägungen von Gründen und Gegengründen festgestellt werden muß. Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht gerade darin, die sachliche öffentliche Aussprache zwischen den Verhandlungsparteien untereinander und zwischen den Verhandlungsparteien und Organen der Öffentlichkeit möglich zu machen 36.
111. Die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Grundkonsens des Volkes
In meinem Referat möchte ich die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gesichtspunkt des Konsenses des Volkes erörtern, weil ich glaube, daß die Aufgabe und die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit darin besteht, den Konsens des Volkes aufrechtzuerhalten und ihn im Staatsleben zu verankern, wie auch v. Brunneck hervorgehoben hat37 • I. Die Bedeutung des Konsens des Volkes für die Verfassung Die geschichtliche Bedeutung des modernen Konstitutionalismus besteht darin, das Prinzip des Staatslebens aufgrund des wirklichen und aktuellen Konsenses des Volkes (im folgenden als Konsensprinzip verkürzt) verwirklicht zu haben. Zwar hat in allen Zeiten und in allen Staaten das Staatsleben auf den angeblichen Konsens des Volkes beruht, sonst wäre die Staatsführung auf die Dauer nicht möglich gewesen. Aber der vom Herrscher als ein Rechtfertigungsgrund für seine Alleinherrschaft berufene Konsens war außer in den konstitutionellen Staaten meistens nur der vom Herrscher einseitig festgestellte Konsens. Der moderne Konstitutionalismus verwirklichte das Prinzip des aufgrund des durch die dafür eingerichJ. Messner, a. a. 0., S. 828 f. J. Messner, a. a. 0., S. 291. 37 A. v. Brünnek, a. a. 0 ., S. 21 f., S. 144 ff.; dieselbe Ansicht z. B. Ernst Benda, Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit, in: D. Merten/R. Morsey, 30 Jahre Grundgesetz, 1979, S. 104 und S. 116; Helmut Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihafer I H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auf!., 1994, S. 1662. 35
36
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tete Institution wirklich geäußerten Konsenses des Volkes zu betreibenden Staatslebens. Um dieses Prinzip effektiv und sicher zu verwirklichen, hat man die Verfassungsurkunde bewußt hergestellt. a) Die Verfassung als die institutionelle Verkörperung des modernen Konstitionalismus ist also erstens der Ausdruck des das Konsensprinzip prinzipiell wollenden Konsenses des Volkes, enthält zweitens die formellen Bedingungen für die Verwirklichung des Konsensprinzips (besonders in Gestalt von der Teilnahme des Volkes an der Staatsregierung durch seine gewählten Repräsentanten), enthält drittens die materiellen Bedingungen für die Verwirklichung des Kmisensprinzips (besonders in Gestalt von den Grundrechten), und ist viertens das Ergebnis des konkreten, wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes (meistens in Gestalt von der Herstellung der Verfassungsurkunde durch die konstitu~erende Nationalversarnrnlung)38. b) Das Staatsleben ist der immer währende Prozeß der Verwirklichung des Konsensprinzips. Der Staatsakt in jeder Form und auf jeder Stufe muß die Verwirklichung des Konsenses des Volkes sein. Auch der Akt des Volkes als des Staatsorgans muß es sein. Für den Staatsakt gibt es zwei Wege, um die Bedeutung als die Verwirklichung des Konsenses des Volkes zu haben. Einerseits kann der Akt diese Bedeutung haben, wenn er verfassungsmäßig oder gesetzmäßig ist. Andererseits kann der Akt diese Bedeutung haben, wenn er vom Konsens des Volkes anerkannt ist. Die Anerkennung kann entweder vorzeitig durch die unmittelbare oder mittelbare Berufung der Staatsorgane durch das Volk oder nachträglich durch die Akzeptanz durch das Volk gegeben werden. Grundsätzlich müssen für jeden im Staatsleben sinnvollen Akt beide Bedingungen erfüllt werden. Wenn man für die Eigenschaft als den Ausdruck des Konsenses des Volkes das Wort "Legitimität" verwenden darf, kann der im Staatsleben sinnvolle Akt auf dem normativen Wege (aufgrund der Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit) und auf dem personellen Wege (aufgrund der Berufung durch das Volk oder aufgrund der Anerkennung durch das Volk) die Legitimität gewinnen. Die Legitimität kann von oben nach unten vermittelt werden. Die Ausgangspunkte der Vermittlung der Legitimität sind die Verfassung und das Volk. Weil aber die Verfassung der Ausdruck des Grundkonsenses des Volkes ist, laufen die Ausgangspunkte auf den einzigen, nämlich das Volk, hinaus. Trotzdem muß man beachten, daß das Volk in zwei Eigenschaften vorhanden ist, nämlich erstens als die das Wohl aller oder das Gemeinwohl wollende Größe und zweitens als die wirklich oder aktuell wollende Größe. c) Im Konstitutionalismus bekommen die Verfassung und das Volk die höchste Geltungskraft Die Geltungskraft des Staatsaktes ist desto höher, je kleiner dessen 38 Zum Thema "Verfassung und Konsens" z. B. Hans Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981, s. 275 ff.
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Distanz von der Verfassung und dem Volk ist. Auf diese Weise entsteht hinsichtlich der Geltungskraft die Rangordnung der Staatsakte nach kleinerer oder größerer Distanz von der Verfassung und von dem Volk. Man spricht vom Stufenbau der Rechtsordnung. Zwar ist der Stufenbau der Rechtsordnung einigermaßen das Ergebnis des logischen Ordnens, aber er ist viel mehr das Ergebnis der politischen Forderung, nämlich ein Ausdruck des Konsensprinzipes. 2. Die Bedeutung des Konsenses in der Beziehung zwischen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht a) Im Stufenbau der Rechtsordnung steht das Gesetz auf der höchsten Stufe unter der Verfassung. Das Gesetz ist die primäre Konkretisierung der Verfassung. Die Verfassung kann grundsätzlich ohne Dazwischensein des Gesetzes nicht konkretisiert werden (das Prinzip des Vorranges des Gesetzes, das Prinzip des Vorbehaltes des Gesetzes). Das beruht darauf, daß das Gesetz von dem unmittelbar vom Volk gewählten Parlament gemacht wird. Dagegen sind die Richter in der Regel nicht unmittelbar vom Volk, sondern vom Parlament oder von der Regierung ernannt. Und zwar werden sie gerade wegen der ihnen institutionell garantierten Unabhängigkeit nicht vom Volk zur Verantwortung gezogen. Deswegen stehen hinsichtlich der personellen Legitimität die Richter auf der tieferen Stufe als das Parlament und die Regierung. Um die Schwäche in der personellen oder demokratischen Legitimität zu kompensieren, müssen die Richter durch die strenge Gebundenheit an die Verfassung und die Gesetze die normative Legitimität erstreben. Die Wesensmerkmale der Tätigkeit der Richter, an welcher Art der Gerichtsbarkeit sie tätig sind, sind neben der Nachträglichkeit und Passivität die strenge Gebundenheit an die Verfassung und die Gesetze39• b) Aber es besteht die eigenartige Situation für die Richter des Verfassungsgerichts, weil sie trotz der Gebundenheit an die Verfassung und die Gesetze die Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung prüfen und eventuell die Gesetze kassieren. Mit welcher Begründung ist es möglich, daß die in der Rangordnung tiefer stehenden Richter die Geltungskraft des Produktes des in der Rangordnung höher stehenden Gesetzgebers verneinen? Das ist möglich, wenn man anerkennt, daß das Urteil des Verfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze an dem Vorrang der Verfassung teilhat40. Das ist seinerseits darauf begründet, daß das Urteil des Verfassungsgerichts ausschließlich das ausspricht, was die Verfassung will. Natürlich haben alle Staatsakte die Bedeutung als eine Konkretisierung der Verfassung. Aber alle anderen Staatsakte als das Urteil des Gerichts fügen bei der Kon39 Z.B. H. Simon, a. a. 0., S. 1668; Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 1987, S. 161 f . 40 So z. B. Klaus Stern (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, BD. II, 1980, S. 954): "Verfassungsgerichtsbarkeit ist sonach die Konsequenz des Vorrangs der Verfassung im Staate, ihres normativen Höchstranges und ihrer uneingeschränkten Rechtsverbindlichkeit."
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kretisierung dem etwas Neues hinzu, was die Verfassung will. Das Verfassungsgericht beschränkt sich darauf, nur das auszusprechen, was die Verfassung will. Durch solche sachliche Begrenzung hat das Urteil des Verfassungsgerichts an dem Vorrang der Verfassung teil. c) Was ist nun der Wille der Verfassung? Man muß sich bei dieser Frage daran erinnern, daß die Verfassung der institutionelle Ausdruck des Konsenses des Volkes ist41 • (a) Man muß besonders beachten, daß der Konsens des Volkes als das Substrat der Verfassung aus zwei Schichten besteht. Die erste Schichte ist der Konsens über die konkrete Gestalt der zu machenden Verfassung, die zweite Schicht ist der Konsens zur Begründung des Staatslebens auf den Konsens des Volkes mit dem Ziel der Erzielung des Wohles aller durch alle. Man kann sagen, daß die erste Schicht der schriftliche Ausdruck des Konsenses des Volkes ist, die zweite Schicht das Konsensprinzip selbst ist. Daß das Verfassungsgericht den Willen der Verfassung aussprechen muß, bedeutet deswegen, daß das Verfassungsgericht diese beiden Schichten des Konsenses des Volkes durchsetzen muß. Der erste Grund dafür, daß ich mich bei der Betrachtung der Verfassung auf den Konsens des Volkes zu berufen wage, liegt darin, daß ich diese zweite Schicht des Konsenses des Volkes als die Richtschnur oder den Maßstab für die Richter des Verfassungsgerichtes bei ihrer Spruchtätigkeit hervorheben möchte. Ich glaube, daß die Teilhabe des Urteils des Verfassungsgerichts am Vorrang der Verfassung gerade aus der von ihm festgestellten zweiten Schicht des Konsenses des Volkes kommt. (b) Der zweite Grund für die Berufung auf den Konsens des Volkes bei der Betrachtung der Verfassung liegt darin, die Verfassungsgerichtbarkeit als die dem Volkssouveränitätsprinzip entsprechende Institution zu rechtfertigen. Durch das Begreifen des Verfassungsgerichts als das Sprachrohr des Konsenses des Volkes kann man es doch noch als die dem Volkssouveränitätsprinzip entsprechende Institution rechtfertigen. Um dem Volkssouveränitätsprinzip zu entsprechen, muß aber die Institution nicht nur an dem normativen Konsens, sondern auch an den wirklichen oder aktuellen Konsens des Volkes gebunden sein. Auch die Richter des Verfassungsgerichts müssen bei der Ausübung ihrer Befugnisse an den wirklichen oder aktuellen Konsens des Volkes gebunden sein. Der Wortlaut der Verfassung ist der höchste Ausdruck des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes, das Gesetz der zweithöchste Ausdruck des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes, die Verordnung der Regierung der dritthöchste Ausdruck des wirklichen und aktuellen Konsenses des Volkes. Die Richter des Verfassungsgerichts müssen an diese Ausdrücke des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes gebunden sein. Also werden die Befugnisse der Richter des Verfassungsgerichtes durch die zweite Schicht des Konsenses oder den normativen Konsens des Volkes erweitert, 41
Z.B. H. Simon, a. a. 0. S. 1661.
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aber durch die erste Schicht des Konsens oder wirklichen oder aktuellen Konsens des Volkes begrenzt. (Man muß dabei berücksichtigen, daß der Wortlaut der Verfassung im Vergleich mit der zweiten Schicht des Konsenses in der Verfassung der Ausdruck des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes ist, während er im Vergleich mit dem Gesetz der Ausdruck des normativen Konsenses des Volkes ist.) (c) Der dritte Grund für die Berufung auf den Konsens des Volkes bei der Betrachtung der Verfassung liegt in der Notwendigkeit, hervorzuheben, daß die Verwirklichung des Konsensprinzips wegen der Koexistenz und der Wechselwirkung des normativen und des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes nur der immerwährende Prozeß sein kann. Nämlich müssen die Richter des Verfassungsgerichts bei der Ausübung ihrer Befugnisse an die Ausdrücke des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes gebunden sein. Wenn aber sie ganz an die Ausdrücke des wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes gebunden sind, gibt es dann keine raison d'etre von der Verfassungsgerichtsbarkeit Deswegen müssen die Richter des Verfassungsgerichts zwar in einem ziemlich hohen Grade an die wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes gebunden sein, sie müssen aber in einem gewissen Grade einen Raum für das freie Ermessen haben, um den normativen Konsens des Volkes zu verwirklichen. Weil es für den normativen Konsens keine institutionelle Stütze gibt, müssen die Richter des Verfassungsgerichts wagen, ihn selbständig und eigenmächtig festzustellen, und müssen erwarten, daß das von ihnen Festgestellte nachträglich durch die öffentliche Meinung und die anderen Staatsorgane akzeptiert wird. Dieses Wagnis und diese Akzeptanz treiben den Prozeß der Verwirklichung des Konsensprinzips voran. In diesem Sinn ist der normative oder wesensmäßige Konsens des Volkes ein Ziel, an dem sich der wirkliche oder aktuelle Konsens des Volkes immer näher annähern muß. Nämlich muß das Verfassungsgericht durch seine Entscheidungen den wirklichen oder aktuellen Konsens des Volkes an den Volkskonsens oder Grundkonsens erinnern und in ihm sein eigenes Selbst wiederfinden lassen. In dem Sinne des nun wiedergefundenen eigenen Selbst wirkt er seinerseits auf die politischen Staatsorgane ein. Nicht nur in der Lösung der konkreten Fragen liegt die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, sie liegt auch darin, den wirklichen Konsens an den wesensmäßigen oder normativen Konsens zu erinnern.. 3. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Prozeß der Verwirklichung des Konsensprinzips a) Der Konsens des Volkes besteht in verschiedensten Gestalten. Das Konsensprinzip fordert, daß das Staatsleben auf Grund des Konsenses des Volkes betrieben wird. Deswegen müssen die für das Staatsleben wichtigen Entscheidungen vom institutionell festgestellten Konsens getragen werden. Dieser Konsens kann gegebenenfalls einstimmig entstehen, aber kann meistens nur als der Mehrheitsbeschluß entstehen42. Jedenfalls ist der institutionelle Konsens einheitlich. Aber der institu42 Mit dem institutionellen Konsens des Volkes meine ich also nicht nur die einstimmige Meinung aller im Volk, sondern auch die Mehrheitsentscheidung irgendeines Gremiums, so-
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tionelle Konsens entsteht als das Ergebnis der Integration aus den verschiedensten Meinungen im Volk. Insofern enthält der äußerlich einheitliche Konsens des Volkes, innerlich gesehen, die verschiedensten Komponenten. Wenn das Staatsleben auf Grund des Konsenses des Volkes betrieben werden muß, müssen daher diese verschiedensten Komponente des sozusagen latenten Konsenses des Volkes effektiv in den institutionellen Konsens einbezogen werden. Dazu müssen verschiedene Staatsorgane vorhanden sein, um die verschiedensten Komponenten des herzustellenden Konsenses treffend zu reflektieren und effektiv auszudrücken. Ferner müssen notwendigerweise die das Staatsleben als die Kooperation von den zur Herstellung des Konsenses beitragenden Faktoren, besonders von den Staatsorganen, betrieben werden. b) Bei dieser Kooperation sind folgende Punkte wichtig: (a) Die verschiedenen Staatsorgane müssen je ihre eigenen Beiträge leisten. Die eigenen Beiträge der Staatsorgane sind von ihren Organisationen, ihren Verfahrensweisen und ihren Befugnissen bedingt. Die politischen Staatsorgane, nämlich die Legislative und die Regierung, reflektieren grundsätzlich die wirklich vorhandenen Komponenten des Konsenses des Volkes und nach ihnen die zur Verwirklichung des Zustandes des Wohles aller notwendigen allgemeinen oder konkreten Maßnahmen aktiv oder positiv treffen und werden über diese Entscheidungen von dem wirklichen oder aktuellen Konsens (durch die Wahl) zur Verantwortung gezogen. Natürlich müssen die politischen Staatsorgane sich bestreben, auch den wesensmäßigen oder normativen Konsens zu verwirklichen. Aber die Hauptstütze für ihre Tätigkeit ist der besonders bei den Wahlen auszudrückende wirkliche oder aktuelle Konsens des Volkes. Dagegen ist die Hauptstütze für die Tätigkeit des Verfassungsgerichtesder wesensmäßige oder normative Konsens des Volkes, nämlich der den Zustand des Wohls aller durch alle wollende Wille des Volkes, der der Verfassung zugrunde liegt. Daher kann das Ergebnis seiner Tätigkeit an dem Rang der Verfassung teilhaben. Dafür ist seine Tätigkeit ausschließlich auf die Feststellung des Konsenses beschränkt. (b) Die Staatsorgane müssen wechselseitig die Entscheidungen der anderen Staatsorgane berücksichtigen und achten. Die politischen Staatsorgane müssen nicht nur an den juristisch bindenden Teil der Entscheidung des Verfassungsgerichts gebunden sein, sondern auch den juristisch nicht bindenden Teil achten. Die politischen Staatsorgane müssen gemäß dem Inhalt der Entscheidung möglichst schnell die Gesetze aufheben, revidieren und sogar neu herstellen. Dagegen muß das Verfassungsgericht das freie Ermessen der politischen Staatsorgane möglichst hoch achten43 . Dazu muß das Verfassungsgericht die geeignete Technik der Kontrolle entwickeln. Bei dieser Technik ist der Gedanke der Variierung der Kontroll-
lange sie auf dem Konsensprinzip und durch das zu seiner Verwirklichung vorgeschriebene Verfahren entstanden ist. 43 H. Simon, a. a. 0. S. 1666; W. Kälin, a. a. 0 ., S. 170 ff.
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dichte nach dem Zweck der Gesetze, dem vom Gesetz zu regelnden Gebiet und der Art der vom Gesetz betroffenen Grundrechten besonders wichtig und fruchtbar44• (c) Die Staatsorgane müssen den anderen Staatsorganen helfen und sie eventuell ergänzen. Das betrifft besonders die Tätigkeiten des Verfassungsgerichts. Wenn die politischen Staatsorgane die zur Verwirklichung des Zustandes des Wohls aller notwendige gesetzgebende und regierende Tätigkeit versäumen oder ungenügend leisten, kann das Verfassungsgericht den politischen Staatsorganen positiv die Hinweise zur Tätigkeit geben oder sogar den Inhalt der zu leistenden Tätigkeit zeigen45. Diese Hinweise oder Inhaltsvorgaben des Verfassungsgerichts haben zwar keine rechtliche Bindungskraft, aber sie können durch die politischen Staatsorgane tatsächlich akzeptiert werden46 . (d) Das Konsensprinzip als solches ist festgelegt. Aber die jeweiligen konkreten Entscheidungen der Staatsorgane als die Ausflüsse des Konsensprinzips müssen für vorläufig gehalten werden. Kein Staatsorgan darf seine Entscheidung verabsolutieren. Jedes Staatsorgan muß sich bestreben, dazu beizutragen, den Prozeß der Verwirklichung des Konsensprinzips immer nach der besseren Verwirklichung voranzutreiben.
4. Das Staatsleben muß auf Grund des wirklichen oder aktuellen Konsenses betrieben werden. Es gibt aber zwei Arten von dem wirklichen oder aktuellen Konsens, nämlich der institutionell ausgedrückte Konsens in Gestalt von dem Mehrheitswillen im Parlament und der nicht institutionell ausgedrückte, doch wirklich vorhandene Konsens in Gestalt von der öffentlichen Meinung. Die Entscheidungen mit rechtlicher Bindungswirkung müssen von dem institutionell ausgedrückten Konsens getroffen und getragen werden. Aber der institutionell ausgedrückte Konsens muß seinerseits von dem nicht institutionellen Konsens getragen werden (kritisiert, akzeptiert, angetrieben, erneuert werden), weil die Institutionen notwendigerweise lückenhaft sind. Zu der sinnvollen Verwirklichung des Konsensprinzips muß der nicht institutionelle Konsens frei und aufgeklärt gehalten werden. Um den nicht institutionellen Konsens frei zu halten, muß das Verfassungsgericht den Versuch des Mehrheitswillens im Parlament verhindern, sich selbst zu absolutieren. Um den nicht institutionellen Konsens aufgeklärt zu haben, muß das Verfassungsgericht durch die ausführliche Begründung seiner Entscheidung, besonders durch den Vergleich und durch die Abwägung von Argumenten und Gegenargumenten, dem nicht institutionellen Konsens genügend den Stoff zum Nachdenken und zum selbständigen Urteil geben47 . 44 H. Simon, a. a. 0. S. 1668 f., S. 1672; Konrad Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: K. Hesse, Ausgewählte Schriften 1984, S. 318. 45 H. Simon, a. a. 0 . S. 1667; A. v. Brünneck, a. a. 0., S. 177 f; K. Hesse, a. a. 0., S. 315 f.; W. Kälin, a. a. 0., S. 169 f. 46 H. Simon, a. a. 0. S. 1669; Mathias Kleuker, Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts, 1993, S. 114 ff.
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5. Die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Gerechtigkeit Der Kern des Prinzips der Gerechtigkeit ist das Gebot, jedem das Seine zu geben. Das Seine enthält verschiedene Dinge. Das Seine enthält nicht nur die Sache als solche, sondern auch die Teilnahme am Prozeß der Verteilung der Sachen. Das heißt, daß auch die Teilnahme von jedem einzelnen am Betrieb des Staatslebens, d. h. am Prozeß der Verwirklichung des Zustandes des Wohls des Volkes durch den wirklichen oder aktuellen Konsenses des Volkes das Seine ist. Zwar ist dieser Moment der Gerechtigkeit durch die verschiedenen Institutionen für die Teilnahme des Volkes an der Berufung der Staatsorgane oder an den Entscheidungen der politisch wichtigen Probleme in einem ziemlich hohen Grade verwirklicht. Aber wegen der den Institutionen innewohnenden Lückenhaftigkeit muß dessen Verwirklichung notwendigerweise unvollständig sein. Eine Kompensation dafür ist das Gericht, besonders das Verfassungsgericht Das Verfassungsgericht muß besonders solchen Meinungen die Hilfe geben, die sich im Parlament und in der Regierung nicht durchsetzen konnten. Der Prozeß am Verfassungsgericht ermöglicht den einzelnen Staatsbürgern die Teilnahme am Betrieb des Staates, und zwar aus eigenem Antriebe. Der Prozeß am Verfassungsgericht ermöglicht den einzelnen Staatsbürgern die Fortsetzung der Teilnahme in anderer Form48 . Außerdem fördert die Verfassungsgerichtsbarkeit die Teilnahme jedes einzelnen am Betrieb des Staates durch die Herstellung der freien und aufgeklärten öffentlichen Meinung und durch die Ermöglichung des öffentlichen Diskurses. In diesem Sinne ist es für die Verfassungsgerichtsbarkeit ein Gebot des Gerechtigkeitsprinzips, den Prozeß der Verwirklichung des Wohls aller durch den Konsens des Volkes immer nach dem Besseren voranzutreiben und zu diesem Zweck besonders die öffentliche Meinung als den nicht institutionellen Konsens des Volkes frei und aufgeklärt zu halten.
47 Zum Gedanken vom Verfassungsgericht als dem institutionellen Muster der öffentlichen Vernunft Alfred J. Noll, Verfassungsgebung und Verfassungsgericht, 1994, S. 120 ff. 48 Zur Beteiligung des Bürgers im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1963, S. 90.
Die Ontologische Begründung der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen Von Hiroshi Takahashi
I. Das neue Problem "Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen" Wir machen den Boden unfruchtbar und deponieren Abfall in Seen und Flüssen. Wir werden die Erde unseren Nachfahren als einen weit weniger angenehmen Planeten hinterlassen, als wir sie von unseren Vorfahren übernommen haben. Wenn das Wort "Dekadenz" das Verhalten bedeutet, daß man die künftige Gesundheit und Sicherheit für den augenblicklichen Genuß opfert, kann man sagen, daß die gegenwärtige Generation einer Dekadenz verfallen ist, bei der nicht die geringste Rücksicht auf die Zukunft genommen wird. 1 Unsere Handlungen bestimmen die Form der Zukunft, sie können die größte Mühsal und die größten Unbequemlichkeiten in der Zukunft verursachen. Folglich verlangt man nun endlich, daß unsere Generation ihren Konsumismus einschränkt und das Wohlergehen der künftigen Generationen nicht weiter beeinträchtigt. Diese Verantwortung für die künftigen Generationen wird als "intergenerationelle Ethik" bezeichnet. Aber je mehr wir uns mit dieser neuen Ethik auseinandersetzen, desto schwierigere und unklarere Probleme finden wir vor. Warum sollten wir mehr für künftige Generationen sorgen als für die Bewohner eines entfernten Planeten? Ich will nun einige Probleme anführen, die mit der Begründung dieser neuen Ethik in den Vordergrund treten 2 . Identitätsproblem
Unser Partner ist schwer identifizierbar und existiert heute noch nicht einmal. Wir wissen nicht, ob die sogenannten künftigen Generationen die Menschen in den nächsten 50, 500 oder 5000 Jahren umfassen, und welche Art von Menschen es dann geben wird. Ist die künftige Generation überhaupt identifizierbar?
1
Vgl. Hisatake Kato, Einführung in die Umweltethik, Tokyo, 1991, 71.
z Cf. Louis. P. Pojman (editor), Environmental Ethics, Boston, 1994, 216- 38. Bryan G.
Norton, Environmental Ethics and the Rights of Future Generations, in: Environmental Ethics (ed. E. C. Hargrove), Volume 4 - 4, 1982, 319- 37.
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Distanzproblem
Je mehr wir uns mit den Generationen der fernen Zukunft beschäftigen, desto schwächer werden die natürlichen Bande unserer Liebe. Was unsere eigenen Interessen betrifft, so sind wir nolens volens in einem skeptischen Vorurteil gefangen. Meistens tritt unser Profitdenken in den Vordergrund; dies äußert sich schließlich zum Nachteil der Zukunft. Unkenntnisproblem
Wir können nicht die Interessen und das soziale Ideal künftiger Generationen in moralische Erwägung ziehen, wenn wir gleichzeitig nicht die Individuen identifizieren können, die ihre Interessen erfahren und ihr Ideal ausdrücken. Wir können nicht voraussehen, ob sie von unseren möglichen Handlungen profitieren oder ihnen daraus ein Schaden erwächst. Kontingenzproblem
Die Lebensweise der Generationen in ferner Zukunft hängt zwar von der Lebensweise unserer Generation ab, aber auch unvorhersehbare Interaktionen beider Generationen sind hier von Bedeutung. Die Frage, in welche Richtung unsere Handlungen Auswirkungen aufweisen, überfordert unser prognostisches Potential. Es ist festzustellen, daß wir unsere Rechte nicht aus vagen Vermutungen in bezug auf die Zukunft einschränken dürfen. Verteilungsproblem
Wenn man die Ansprüche der künftigen Generationen mit denen unserer Generation vergleicht, so wird der Spielraum für unsere Handlungen äußerst reduziert, weil die Zahl unserer Nachfahren "unbegrenzt" ist. Um ein Beispiel zu nennen: Da Erdöl kein unerschöpfliches Gut ist, bedeutet ein uneingeschränkter Verbrauch eine Verletzung der Rechte der künftigen Generationen. Prioritätsproblem
Entwicklungshilfe für die unterentwickelten Länder der südlichen Hemisphäre ist ein dringenderes Anliegen als die Sorge für unbekannte Nachfahren. Über künftige Generationen zu diskutieren, könnte man mit einer Unterhaltung von Adeligen im Salon vergleichen, bei der die gegenwärtige Notsituation keinerlei Beachtung findet, und verstößt somit gegen die Humanität. Ich habe soeben verschiedene Probleme der neuen Ethik angeführt. Können die Denkansätze der modernen Ethik nun geeignete Maßnahmen gegen die erwähnten Probleme liefern? Ich habe den Eindruck, daß sie unbefriedigend sind, weil eine beträchtliche Zahl der Probleme der neuen Ethik die moderne Ethik in Verlegenheit bringt, die ihre Tragweite auf die Gleichzeitigkeit der Betreffenden beschränkt, nur das Individuum als ihr Subjekt ansieht und die Fortschritte der Geschichte optimistisch sieht.
Ontologische Begründung der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen
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Erstens stellt diese Ethik die synchronistische Reziprozität in Begegnung mit dem Archetyp der Ethik dar. 3 Aber die Verantwortung für künftige Generationen hängt nicht von der Reziprozität ab. Daher soll man nicht fragen, was die Nachfahren einst für uns getan haben. Zweitens ist das Subjekt der modernen Ethik das Individuum. Letzteres hat ein Interesse an Ambitionen und Zielen. Nur dem, der ein solches Interesse hat, stehen Rechte zu.4 Unsere Nachfahren sind in einem viel schwächeren Sinne potentielle Personen als Föten. Die sogenannte intergenerationeile Ethik ist kein positiver Vertrag zwischen Individuen oder Gruppen. Drittens befürwortet die moderne Ethik eine fortschrittliche Auffassung der Geschichte. Nach dieser Auffassung können die Nachfahren dank dem Fortschritt in der Wirtschaft und Technik glücklicher als ihre Vorfahren werden5 . Während unsere Generation überproportional viele Bodenschätze verbraucht, behaupten wir, daß wir die erschöpften Bodenschätze durch wirtschaftlichen Reichtum und neue Technik ersetzen wollen und dabei der nächsten Generation mehr hinterlassen wollen, als wir verbraucht haben. Aber eine genauere Untersuchung der Situation der modernen Zivilisation zeigt, daß die moderne fortschrittliche Auffassung der Geschichte falsch ist. Wir leben in einem Zeitalter, wo Fortschritt gleichzusetzen ist mit Dekadenz, die die Zukunft kompromittiert. Bei näherer Auseinandersetzung mit der intergenerationeilen Ethik erkennt man die Grenzen der modernen Ethik und hat zudem die Gelegenheit, den Standpunkt zu ändern. Als provisorischer Versuch ist in diesem Zusammenhang H. Jonas' "Das Prinzip Verantwortung" zu nennen. Jonas übt Kritik an der optimistischen Auffassung der Geschichte und schlägt eine "Zukunftsethik" vor, nach der die erste Aufgabe des Menschen die Humanität ist6 . Die meisten Theorien der intergenerationellen Ethik versuchen dagegen, sich mit dem Zukunftsproblem noch vermittels der traditionellen Kategorien der modernen Ethik auseinanderzusetzen. Diese Methode der Lösung ist aber etwas künstlich. Vielleicht, so meinen wir, ist die Fragestellung nicht präzise genug. Wir wollen versuchen, anders als Jonas zu einer präzisen Formulierung des Problems zu kommen. Aber zuerst müssen wir verschiedene Ansätze der intergenerationeilen Ethik prüfen.
Op. cit., Kato, 128 - 29. Vgl. Joel Feinberg, Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generationen, in: Ökologie und Ethik (Hg. Dieter Bimbacher), Reclam, 1980, 153. "Interessen beruhen auf etwas wie .Wünsche und Zielen, die in irgendeiner Form Annahmen oder Bewußtsein voraussetzen." 5 Op. cit., Kato, 92 - 3. 6 Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, suhrkamp taschenbuch, 1984, 90. 3
4
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II. Verschiedene Rechtfertigungen der intergenerationeilen Ethik Selbstinteresse-Theorie Man hört manchmal, daß die Tugend ihren Lohn in sich selbst findet. Nach W. C. Wagner basiert unsere Rücksicht auf die Interessen unserer Nachfahren auf der Erfordernis der Selbstliebe7 . Es ist auf diese Selbstliebe zurückzuführen, die uns größeres Glück und Selbstverwirklichung ermöglicht, daß wir uns Sorgen machen um die Zukunft. Wenn wir die Zukunft als echte Herausforderung sehen und uns um das Wohlergehen unserer Nachfahren sorgen, so ist dies Ausdruck unseres Mitgefühls. Wenn wir späteren Generationen mit liebevoller Einfühlung begegnen, so würden wir seiner Ansicht nach sicher zu "aktiveren, gesünderen und mitfühlendereD Menschen". Zweifelsohne vergrößert das ethische Mitgefühl für die Nachfahren, das Wagner als sehr wesentlich ansieht, unsere Fähigkeit der Empfänglichkeit, aber dieses Gefühl hängt ja nur von unserer Vorstellungskraft ab, inwieweit wir uns die künftige Katastrophe ausmalen können. So war für jeden ehrlichen Menschen der Gedanke an die größte Erdbebenkatastrophe in China eine Zeit lang quälend, obwohl dieses Land so weit entfernt vom eigenen liegt. Aber nach einiger Zeit gerät man wieder in den Alltagstrott und lebt weiter, als ob nichts gewesen wäre. Wenn man hingegen vom Arzt Bescheid bekommt, daß der kleine Finger am nächsten Tag amputiert werden müsse, so wird man die ganze Nacht wohl eher schlecht als recht verbringen. Je weiter der potentielle Vorfall von der Gegenwart entfernt ist, umso schwieriger gestaltet sich die Vorstellung des Vorfalls und umso schwächerer wird der Ernst unserer Auseinandersetzung mit der potentiell größten Katastrophe. 8 Der moralische Individualismus Diese Lehre vertritt den Standpunkt, daß aufgrund von Altruismus und Mitmenschlichkeit unsere Nachfahren und wir die gleichen Rechte genießen. Nach M. P. Goiding und J. Passmore9 , den Befürwortern dieser Richtung, sei es jedoch unmöglich, die Lebensbedingungen der Nachfahren in ferner Zukunft zu kennen, weil der komplexe und plötzliche Charakter der technischen Entwicklungen Prognosen unmöglich macht. Da unsere sozialen Ideale nicht mit jenen unserer Nachfahren identisch sind, können wir beide nicht dieselben Rechte haben. Daher beschränkten Goiding und Passmore den Bereich unserer Verantwortungen nur auf die nächsten Nachfahren. Die Tragweite unserer Verantwortungen sei deshalb eingeschränkt, weil unser natürliches Gefühl nicht so weit in die Zukunft reiche. Aber W. C. Wagner, Futurity Morality, The Futurist 5, Washington, 1971, 197-99. s Vgl. Robert Heilbroner, What has Postecity ever done forme?, in: op. cit., Environmenta1 Ethics (editor: Louis. P. Pojman), 1975, 218. 9 Martin Golding, Obligation to Future Generations, The Monist, 56, 1972,98. John Passmore, Man's Responsibility for Nature - Ecological Problemsand Western Traditions, 1974, Tokyo, 153 ff., (übersetzt von Keiju Mase) 7
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wenn auch unsere Fähigkeiten, die Zukunft vorauszusagen, eingeschränkt sind, haben die künftigen Generationen dennoch bestimmte Grundbedürfnisse und soziale ldeale 10 • Wir können sogar einige Handlungsweisen ausmachen, über die wir rational und aufgrund unserer gegenwärtigen Kenntnisse so urteilen, daß diese Handlungen Jahrhunderte später katastrophale Folgen für die Menschheit zeigen werden. Der radioaktive Abfall etwa ist sowohl für künftige Generationen als auch für uns gefährlich. Es ist schwierig, die künftigen sozialen Ideale im geschichtlichen Zeitalter festzustellen, aber es ist möglich, wenn man dieselben im biologischen Zeitalter vermutet 11 • Die intergenerationeile Vertragstheorie
Während Wagner, Goiding und Passmore die Verantwortung für künftige Generationen vom Standpunkt der Gegenwart aus erklären, schlägt K. S. Shrader-Frechette einen Sozialvertrag zwischen den Generationen vor 12 • Diese Theorie versucht, vom Standpunkt aller Generationen aus intergenerationeile Ideen von Recht und Billigkeit aufzustellen. Als Conclusio ergibt sich, daß alle Generationen die gleichen Rechte genießen sollen. Eine derartige Konzeption findet sich auch schon bei Edmund Burkein "Reflections on the Revolution in France" 13 . "It is a partnership in all science; a partnership in all art; a partnership in every virtue, and in all perfection. As the ends of such a partnership cannot be obtained in many generations, it becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead and those who are to be born." Aber außerhalb dieses signifikanten impliziten Vertragskonzept scheint es uns unmöglich, die intergenerationeile Ethik mittels Vertrags zu begründen. Denn nach dem durch die moderne Ethik vorausgesetzten Vertragsbegriff hat nur jener Anspruch auf Rechte, der zur selben moralischen Gesellschaft gehört und fähig ist, einen Partner anzuerkennen und anerkannt zu werden. Künftige Generationen bereiten uns aber weder Nutzen noch Schaden. Trotzdem meint Shrader-Frechette, es sei möglich, den Vertragsbegriff zu begründen. Als Beispiel nennt sie die japanische Familienethik "on" (die Güte der Eltern bzw. Dankbarkeit für die Elternliebe). Nach dieser Ethik sollen wir den Nachfahren dieselbe Gunst gewähren, die uns von unseren Vorfahren zuteil geworden ist. Shrader-Frechette argumentiert, daß in der japani10 Zur Kritik an Goidings negativen Ansichten über Distanzproblem, Unkenntnisproblem und Kontingenzproblem. Cf. Gregory Kavka, The Futurity Problem, in: op. cit., Pojman, 232 - 33. Auch künftige Personen hätten "die Vulnerabilität zum physischen und spirituellen Schmerz und zum Tode". II Op. cit., Kato, 121, "Wir müssen zwischen der fast unveränderten Unterströmung, der mäßig veränderten Mittelströmung und der wandelbaren Oberströmung im Hinblick auf die Seinsweise der Natur, die Lebensweise, die Wissenschaften und die Wertanschauung unterscheiden." 12 Cf. K. S. Shrader-Frechette, Technology, The Environment and Intergenerational Equity, in: Environmental Ethics (editor: Frechette), 1981, 69- 75. 13 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France.
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sehen Familienethik jene Reziprozität zu finden ist, die den intergenerationeBen Vertrag ermöglicht 14 . Trotzdem ist diese Reziprozität nicht in einem solchen Sinne zu verstehen, daß die Rücksicht, die wir auf den Partner genommen haben, von diesem an uns zurückgegeben wird. Sie ist, genauer gesagt, nichts anderes als das Ergebnis des einseitigen Genusses von Rechten und des einseitigen Erbringens von Opfern. Derjenige, der Rechte genießt, unterscheidet sich von demjenigen, der Opfer bringt. Es sind noch andere Probleme mit dieser Konzeption anzuführen. Zwischen den unbekannten Generationen der fernen Zukunft und unserer Generation liegen zahllose andere Generationen. Wenn wir auch an die Kontinuität der Gunst oder Dankbarkeit ("on") denken, müßten wir den Generationenkonflikt in Betracht ziehen, den der gegenwärtige moralische Individualismus und die Beschleunigung des Fortschritts in der Zukunft durch das Hindernis der sogenannten Kontinuität möglicherweise verursachen werden. Es handelt sich dabei nicht um den Vertragsbegriff von Frechette. Wenn man dem Zweck des Vertrags nicht mehr zustimmt, kann man von diesem Vertrag freiwillig zurücktreten. Aber beim Umweltproblem handelt es sich um die einseitige unvermeidliche Pflicht, die jeder Generation das Streben auferlegt, die nächste Generation nicht zu belasten. Wir können nicht Verantwortungen für zukünftige Generationen aus einem Vertrag ableiten, der die Möglichkeit des Austretens vorsieht. Die Vertragstheorie rechtfertigt überhaupt gleichzeitige Zustimmung. Indem sie diese Theorie auf verschiedene Generationen anwendet, abstrahiert sie die Zeit räumlich. Es bleibt nur logische, zeitlose und gleichartige Zeit, wo Gerechtigkeit möglich wird. Respekt-für-Person-Theorie ( Gerechtigkeitstheorie)
Diese Theorie weist einen eigentümlichen Charakter auf, weil sie die intergenerationelle Ethik aufgrund des Utilitarismus, vom Standpunkt der Billigkeit von Person zu Person kritisiert. Nach utilitaristischen Schätzungen ist der Ansatz, daß für das größtmögliche Wohlergehen der künftigen Generationen zu sorgen sei, gut, wenn dies Opfer von seiten unserer Generation impliziert. Der Utilitarismus ist anderen Theorien überlegen, insofern er die Tatsache berücksichtigt, daß unsere Handlungen Auswirkungen auf das Wohlergehen der künftigen Generationen haben. Aber er bietet keinerlei Lösungsansätze an, wie die Verantwortungen zwischen unserer Generation und den nächsten Generationen aufgeteilt werden sollen. Der Utilitarismus zeigt nur, wie ein Maximum an Wohlergehen geschaffen werden kann, ohne aber eine adäquate Verteilung der Verantwortungen zwischen den Generationen in Erwägung zu ziehen. Dagegen löst die Respekt-für-Person-Theorie den Interessenkonflikt der Generationen, indem sie alle Personen der betroffenen Parteien gleichermaßen respektiert 15 • Sie beruft sich auf Rawls' "Veil of lgnoranOp. cit., Frechette, 71. Cf. J. R. Cameron, Do Generations Matters?, in: Ethics and Environmental Responsibility (editor: Nigel Dower), Aldershot, 1989,69. 14 15
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ce", um eine gerechte Verteilung der Verantwortungen zwischen den Generationen zu erklären 16• In der hypothetischen originären Position, bei der niemand weiß, zu welcher Generation er gehört, ist das einzige mögliche Moralprinzip, daß alle die gleichen Rechte genießen sollen. Dieses Prinzip wird, abstrahiert von der Distanz in Zeit und Raum und von Freunden und Fremden, auf alle Menschen angewendet. Daher gilt es sowohl für die hungernden Kinder in Afrika als auch für Personen, die erst in hunderten von Jahren auf die Welt kommen werden. Diese Theorie ist nur dann haltbar, wenn man davon ausgeht, daß das oben erwähnte Identitätsproblem, das Distanzproblem usw. für die Moralität irrelevant sind und man daher von diesen Problemen abstrahieren kann. Durch diese Abstraktion werden die eigentümlichen Eigenschaften der einzelnen Generationen neutralisiert. Nach dieser Theorie soll jede Generation die gleichen Rechte haben und durch sparsames Umgehen mit den Ressourcen der nächsten Generation wiederum die Möglichkeit zu einem solchen bewußten Umgang bieten. ,,Ein sparsamer Verbrauch der natürlichen Ressourcen liegt aufgrund der Forderung nach ,virtueller Reziprozität' nahe, nach der jede Generation den ererbten Bestand deshalb in zumindest unverminderter Qualität an ihre Nachfahren weiterzugeben hat, weil sie selbst von einem solchen Verhalten ihrer Vorfahren profitiert. 17". Könnte man dennoch das gegenwärtige Umweltrisiko durch die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen reduzieren? Es scheint uns, daß an uns Forderungen gestellt werden, größere Opfer zu bringen, um die gegenwärtige Lage zu verändern, als unsere Vorfahren es getan haben. In Rawls' "A Theory of Justice" ist leider die Bereitschaft nicht zu finden, Opfer für die Nachfahren zu bringen. Denn eine solche Bereitschaft gründet sich nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Liebe. Es ist eben Liebe, die dazu führt, daß man sich um die Zukunft der einem Nahestehenden sorgt. Im übertragenen Sinne finden wir in Passmores "chain of love"-Theory 18 Relevantes dazu. Nur die Fixiertheil unserer Generation auf die Gegenwart könne durch den Generationenkonflikt, den sie hervorruft, diese Kette schwächen oder sogar abschneiden. Der Gegenwartszentrismus ist das schwierigste Problem bei der Begründung der intergenerationeilen Ethik. Rettungsbootethik
Diese Lehre wurde von G. Hardin in Zusammenhang mit dem Nord-Süd-Konflikt vertreten 19. Er sieht das industrialisierte Land als ein geräumiges Rettungsboot an, das rückständige Land hingegen als ein überbesetztes Rettungsboot. Die Armen im Süden, die aus dem Boot über Bord gefallen sind, wollen an Bord des Rettungsbootes mit viel Platz kommen. Doch sind wir hier mit dem Dilemma konfrontiert, ob das reiche Boot, das zwar noch über Platz verfügt, aber dennoch be16 17 18
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Op. cit., Frechette, 71 - 2. cf. Rawls, A Theory of Justice, 1971, 12. Michael Schlitt, Urnweltethik, Ferdinand Schöningh, 1992, 204. Op. cit., Passrnore, 147 ff. Garett Hardin, Living on a Lifeboat, Bioscience 24, 1974, 561 - 68.
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grenzt ist, alle Armen retten soll. Wenn man nach christlichem oder marxistischem Denken alle armen Menschen an Bord ließe, so würde das Boot sinken, d. h. summum ius, summa iniuria. Folglich ist Hardin der Ansicht, daß die Maßnahme, die Armen nicht an Bord zu lassen, die Rettung des menschlichen Lebens und der Natur bedeute. In einer Grenzsituation wie dieser räume diese Lehre dem Wohl der Natur eine höhere Stellung ein als dem Wohl des Menschen. Aber Hardin zielt beachtenswerterweise gleichzeitig auch darauf ab, die Rechte der künftigen Generationen vor dem Eingriff durch die gegenwärtigen Generationen zu verteidigen. Der Verteidiger der Rechte der künftigen Generationen muß für Hardin nicht die "Liebe", wie Passmore behauptet, sondern eine nüchterne "Institution" sein. Er führt folgendes Beispiel an20: Wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde ein Bruchstück eines Baumes einem Botaniker in Kaliformen aus China gesendet. Es schien ihm, Metasequoia zu sein, eine Art, die als längst ausgestorben angesehen wurde. So flog er sofort nach China. Die Umgebung seines Reiseziels war durch die Nachfrage nach Material für Brennstoff und zum Hausbau verwüstet. Aber die 'Baumsorte, die der Botaniker suchte, fand er noch im Garten eines Tempels vor. An dieser Stelle präsentiert Hardin eine imaginäre Konversation zwischen einem Priester, der den Garten beschützen will, und einem armen Bauern, der auf der Suche nach Brennstoff ist. Aus dieser Geschichte kann man ableiten, daß die Metasequoia bis heute überlebt hat, weil es ein Gesetz gab, nach dem es verboten war, einen heiligen Baum zu berühren, und weil es eine Institution gab, die für die Einhaltung dieses Gesetzes sorgte. Uns scheint diese Erzählung gefühllos. Hardins Aussage könnte folgendermaßen dargestellt werden: Wenn man unter harten Lebensbedingungen nicht über die Gegenwart hinausdenkt, so verliert man den Blick für ethische Aspekte und für den höheren Zweck, der hinter allem liegt, sodaß unübersehbare Schäden entstehen. Nur durch die entsprechende Institution und das Amt, das die Durchsetzung der entsprechenden Gesetze garantiert, kann man ein Maximum an solchen Schäden verhindern. In einer elenden Gesellschaft, in der Altruismus keinen Faktor darstellt, können langfristige Interessen nur mit institutionellen Mitteln verteidigt werden. Die Rettungsbootethik wurde aufgrund der Lehre heftig kritisiert, daß die Natur und ungeborene Generationen höher zu achten seien als die hic et nunc Leidenden. Wir möchten hier auf das ungewöhnliche Risikobewußtsein Hardins hinweisen, daß die gegenwärtige Situation der Umwelt knapp vor dem Untergang stehe. Trotzdem fürchtet Frechette, daß der Schrei in der Krise aufgrund von vagem Beweismaterial den demokratischen Prozeß und die Gerechtigkeit verletze 21. Sie übt Kritik daran, daß die Rettungsbootethik die Umwelt als primär, die Menschen aber als sekundär ansieht. Aber Frechette anerkennt den Sinn dieser Ethik, insofern 2o Garett Hardin, Who cares for Posterity?, in: op.cit. Pojman, 221 - 22. 21 Op. cit., Frechette, Frontier or Cowboy Ethics and Lifeboat Ethics, in: op. cit., Frechette, 38. The issue of whether the current environmental state is indeed one of crisis is the 1ynchpin of ,,Lifeboat Ethics".
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Hardin die Rechte der künftigen Generationen verteidigen will. Frechette interpretiert Hardins Argumentation nicht im Kontext des Kampfes zwischen Mensch und Natur, sondern im Kontext um die Rechte unter den Menschen22 . Ich möchte mich aber in diesem Referat auf die allgemeine Auffassung beziehen, wie Frechette sie vertritt, und mir folgende Frage stellen: Kann man die intergenerationeile Ethik überhaupt nur auf den Kampf um die Rechte unter den Menschen reduzieren?
111. Die ontologische Begründung der Verantwortung für künftige Generationen Die bisher beschriebenen Konzeptionen der intergenerationeilen Ethik haben eine gemeinsame Vorstellung. Sie stellen meistens mögliche Subjekte vor, die einmal hier leben werden, und gehen das Problem über die Verteidigung ihrer Rechte und die Verantwortungen unsererseits an. Unter dieser gemeinsamen Voraussetzung sagen sie zum Problem ja oder nein. Aber die Nachfahren können nicht schon selbst als ihr Recht eine angenehmere Welt von uns fordern, da sie noch nicht leben. Die eigentliche Problematik liegt nicht darin, ob wir wissen oder nicht, wer sie im einzelnen sein werden. llrre zeitliche Feme und ihre Unbestimmtheit beunruhigen uns nicht. Weil die moderne Ethik das Wohl der unbestimmten künftigen Generationen im Rahmen des modernen Begriffs auffaßt, wenn auch modifiziert, kann man darin leicht eine künstliche Sophisterei sehen. Dagegen halten wir den Vertrag und die Rechte der künftigen Generationen, wie oben erwähnt, für eine Lösung eines Pseudoproblems. Überlegungen in bezug auf die Zukunft sind nicht nur ein Mittel der Erhöhung der Personen. Der Kern des Problems der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen liegt nicht im Verhältnis zwischen den Generationen, wie Frechette meint, sondern im Verhältnis zwischen dem Menschen als Subjekt und dem Menschen als natürlichem Substratum (zwischen "individuum" und "species")23 . Im Gegensatz zum Part individuum, das geschichtlichen Veränderungen unterworfen ist, ist der Part species im Menschen als natürliches Substratum in der Struktur unverändert. Wenn wir den Standpunkt des Biozentrismus einnehmen, so können wir vielleicht verschiedenen Schwierigkeiten der modernen Ethik entkommen. Der Kern des Problems der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen liegt im wesentlichen in der Frage, wie man die Natur im Menschen
22 About her defence for Hardin against Neuhaus charge: cf., ibid., Frechette, 39. 23 Cf. Bryan G. Norton, Environmental Ethics and the Rights of Future Generations, in: Environmental Ethics Volume 4 - 4, 1982, 337 He believes "it will be preferable to recognize new forms of generalized obligations toward the integrity of environmental systems which imply no corresponding individual rights or interests." Seine Ansicht ist für mich sehr interessant.
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und die natürlichen Produkte gegen die Schwierigkeiten, die innerhalb oder außerhalb des Menschen existieren, in Zukunft noch erhalten soll. Die moderne Ethik macht die abstrakte Person, die sich von dem natürlichen Substratum unabhängig macht, zum Leitprinzip der sozialen Gesellschaft. Sie erklärt das soziale Verhältnis durch das Rechte-Pflichten-Schema der Personen. Aber die individuelle Person ist nicht unbedingt der einzige Ausgangspunkt für Reflexionen über die menschliche Realität. Der richtige Ausgangspunkt muß die "gebärende Natur" sein24. Diese Natur erscheint im Blut und im Geschlecht. Das Blut spaltet sich ins Geschlecht, und das Geschlecht verschmilzt wieder mit dem Blut. Dazwischen gibt es eine Generation. Das Leben besteht in der ewigen Wiederkehr der Spaltung und Verschmelzung von Geschlecht und Blut. Stellen wir nun Überlegungen über das Problem der Geburt des Menschen an. Das Ehepaar ist nur "causa occasionalis bei der Geburt", 25 die richtige Ursache ist die "gebärende Natur", die sich selbst dahinter verborgen hielt. Diese verborgene Natur ist es, die wir für sehr wichtig bei der Begründung unserer Ethik halten. Die Nachfahren in der Zukunft zu hypostasieren und zwar viel über ihre Eigenschaften zu diskutieren, ist ein Pseudoproblem, das wegen der Vergessenheit der verborgenen Natur erfunden würde. Unsere neue Ethik erfordert eine Umwandlung von einer "Ethik des individuums" in eine "Ethik der species". Rolston III ist ein berühmter Vertreter der Umweltethik, der das Konzept der "Pflicht zur species" befürwortet. Nach Rolston III ist die Lebenslinie in der species, die sich genetisch über Millionen von Jahren erstreckt, zu respektieren.26 Aber seine Lehre zielt hauptsächlich auf das nichtmenschliche Leben. Er verbindet nicht direkt den Respekt für die species im Menschen mit der Verantwortung gegenüber den Nachfahren. Aber wir können aus dem Sinne seines Denkens die für uns gültigen Forderungen ziehen. Die Verantwortung gegenüber den Nachfahren bedeutet die Verantwortung, die jede Generation trägt, die ursprüngliche Lebenskraft zu erhalten, die alles Leben hervorbringt. Diese Verantwortung ist eigentlich nicht die der Verteidigung der Rechte der Nachfahren. Vielmehr übernehmen auch die Nachfahren einseitig gegenüber ihren nächsten Nachfahren Verantwortung. Primär liegt die Verantwortung hier für die "gebärende Natur", nicht gegenüber den Nachfahren. Sekundär kann man "von einer Kette der Verpflichtungen" jeder Generation sprechen, die den eigentlichen Verantwortungen konkret nachkommt. Iwao Koyama, Philosophische Anthropologie, Tokyo, 1938,52. Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke, Band 7, Franke Verlag Bem und München, 1973, 128. Max Scheler sagt allerdings in diesem Kontext, daß der Zeugungsakt nur "eine Causa Occasionalis, um reale Bindung eines Subjekts an die neue Lebenheit herbeizuführen", bleibe. Aber er leugnet hartnäckig "die pantheistischen Lehren", die behaupten, daß "das ursprüngliche Sosein jeder Individualität pure Erbschaft sei. Zwar können die Eltern die Person der Kinder erzeugen. Aber es ist nicht die Person, die die Kinder erzeugt. Die eigentliche Ursache ist "Sein", nicht "Sosein". 26 cf. Holmes Rotston III, Duties to endangered Species, BioScience 35, 1985, 718- 26. 24
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Jede Generation soll der nächsten Glück und Verantwortung gegenüber den nächsten Nachfahren in nicht geringerem Maße hinterlassen, als sie Glück und Verantwortung für künftige Generationen bewahren. Das ist aber nicht ein Recht der Nachfahren. Ist das Recht nicht vielmehr nichts weiter als eine reflektive Auswirkung der Ehrfurcht vor der gebärenden Natur? Was ist dann species? Über species allein nachzudenken, ist unlogisch. In der formalen Logik sind Individuum, Species und Genus verwandte Begriffe. Auch in der Ökologie sind diese Begriffe untrennbar verbunden. Species kann sich alleine nicht erhalten. Species bedarf in jedem Falle des Individuums und des Genus' als Lebensvoraussetzung. Individuum ist ein ,,receptacle of species'm. Genus ist ein Ökosystem, das mannigfaltige species integriert. Species verliert seinen Wohnsitz sozusagen ohne Individuum. Ohne Genus als Umwelt kann Species nicht weiterleben. Es ist diese komplizierte ökologische Struktur von Individuum, Species und Genus, die die Kreativität und Selbstheilungskraft der "gebärenden Natur" im Grunde fördert. Daher ist Mord an der Menschheit nicht nur ein Problem für die Menschen selbst, sondern stellt sozusagen eine Beeinträchtigung des ,,Rechts der gebärenden Natur" dar. Wenn man den Standpunkt des Anthropozentrismus und Selbstbestimmungsrechts der Menschheit einnimmt, so würde unsere Aufgabe der Reproduktion keine Rechte der künftigen Generationen verletzen. Denn es gibt keine künftige Generation, die diese Aufgabe einmahnen kann, wie Joel Feinberg zögernd zur Kenntnis nehmen mußte28 • Daß die Menschheit kein Recht auf Selbstmord hae9 , begründet sich darauf, daß das menschliche Leben nicht vollständig sich selbst gehört. Es gehört zum "ontologischen Ja" in der "gebärenden Natur" oder zur ursprünglichen reproduktiven Kraft der Species, die in dem Individuum als dessen Form immanent ist und durch das Genus unterstützt wird. Der Grund des Respekts für die Nachfahren liegt daher primär nicht in der Vollendung unseres sozialen Ideals durch die Geschichte, sondern in der Ehrfurcht vor der "gebärenden Natur". Zu letzterem Begriff möchte ich hier auf einen uralten japanischen Mythos der klassischen Schrift hinweisen, nämlich das "Kojiki". Der Ausdruck "musu-hi" spielt in diesem Mythos eine bedeutende Rolle30. "musu-hi" heißt soviel wie "die alle Seienden gebärende Seele", die das Licht oder das Feuer der Sonne als Symbol des Wachsens ausdrückt. Wenn man einen Begriff im japanischen Mythos sucht, der der öfter erwähnten "gebärenden Natur" entspricht, könnte man wohl "musuhi" nennen. In Japan ist die ursprüngliche Ethik hinsichtlich der künftigen Personen die Ehrfurcht vor "musu-hi", während sich ihre sekundäre konkrete Ethik "on" Ibid., 724. Op. cit., Feinberg, 172. 29 Op. cit., Jonas, 80. 30 ,Musuhi' ist ein aus ,musu' und ,hi' zusammengesetztes Wort. ,Musu' heißt das Hervorbringen. ,Hi' heißt der Sonnenschein als das Symbol der Seele. ,Musuhi' bedeutet die den Kosmos und alle Wesen gebärende und aufziehende mysteriöse Seelenkraft. 27
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als intergenerationeile Ethik auf chinesisches Familienethos zurückführen läßt. "musu-hi" und "on" verhalten sich wie "gebärende Natur" und die Prinzipien der Reziprozität, bewußtes Umgehen und Kette der Verpflichtungen usw? 1 Ich möchte daher die Einführung eines minimalen Religionskonzeptes postulieren.
IV. Schluß Das Thema dieses Symposions lautet "Soziale Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung". Das höchste Leitprinzip des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg ist die "dignitas humana". Messner hat zur Erweiterung dieses Begriffs sehr viel beigetragen32. Dignitas humana wird jetzt allgemein höher geschätzt als die Souveränität des Staates. Das Prinzip der dignitas humana geht über die einzelnen Verträge der Staaten hinaus und gehört zum natürlichen Völkerrecht. Das heißt, es gehört zum ius gentium, das dem internationalen Recht als eine positive Vereinbarung unter Staaten überlegen ist. Aber es ist "die Verantwortung für die Menschen mit ihrer natürlichen Umwelt", die wir am Ende des 20. Jahrhunderts noch im Sinne von gerechter Ordnung als "Tugend im Zeitalter der Globalisierung" betonen müssen. Zwar unterstreicht Messner in der neuesten Auflage von "Das Naturrecht" die Selbstverantwortung des Menschen. Aber diese Verantwortung ist hauptsächlich Verantwortung für die Vollendung der Person und bezieht sich nicht auf die "Natur". Trotzdem können wir etwas wie "Natur" finden, wenn wir dem für Messner wichtigen Begriff des "Naturgesetzes als Kraft der Selbstregulierung" 33 auf den Grund gehen. Die Verantwortung für die Menschen und die Natur ist die Kehrseite der Menschenwürde. Aber die Ehrfurcht vor der ,,Natur" allein bedeutet noch nicht, der konkreten Verantwortlichkeit tatsächlich nachzukommen. Um dies zu erklären, möchte ich die Unterscheidung zwischen der Natur und natürlichen Dingen (oder Produkten) herausstreichen. Wahrend die Natur die Gebärende von natürlichen Dingen ist, sind die natürlichen Dinge die Geborenen von der Natur selbst. Jene ist der unsichtbare Gegenstand der Ehrfurcht, diese gelten auch als natürliche Mittel, die für den Menschen einen Nutzwert haben. Wir müssen den angemessenen Verbrauch der natürlichen Dinge akzeptieren. Eben das ist vielmehr eine unabdingbare Bedinl) Zur Ersparenspflicht, cf. Rawls op. cit. 2) Zum Grundkapital als Lebensbedingungen, vgl. Robert Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: op.cit., Bimbacher, 199. 3) Zur Kette der Obligationen, cf. Richard B. Howarth, Intergenerational Justice and the Chain of Obligation, in: Environmental Values (editor: Alan Holland) Volume l - 2, 1992, 133-40. 32 Vgl. Wemer Freistetter, Internationale Ordnung und Menschenbild- Anthropologische Grundlagen der Ordnung der Völkergemeinschaft in der Naturrechtslehre von Johannes Messner, Innsbruck-Wien, 1994, 166 - 72. 33 Ibid., Freistetter, 50. 31
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gung für die Kontinuität der Natur. Daher "sollten wir unseren Nachkommen wenigstens eine gewisse Übergangszeit ermöglichen, in der sie sich auf die letztlich unvermeidbare Erschöpfung der Rohstoffquellen einstellen können, ohne dabei in eine Katastrophenkrise zu geraten." 34 Nur was den irreversiblen Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen und vom Aussterben bedrohte Arten betrifft, ist uns in einem noch viel größeren Maße Sparsamkeit und Bedachtsamkeit geboten. Denn die natürlichen Dinge bedeuten für die Species Wohnort und täglichen Bedarf. Die Verantwortung des Menschen liegt darin, konkrete und durchführbare Methoden zu ersinnen, die Ehrfurcht vor der Natur in einer realen Situation ermöglicht. Denn durch ein religiöses Gefühl der Ehrfurcht allein ist es unmöglich, geeignete Maßnahmen gegen Risiken zu treffen, mit denen die Menschheit und die Umwelt konfrontiert sind. Wir bedürfen einer institutionellen Maßnahme als Schutzmittel, wie Hardin schon behauptete. Edith Brown-Weiss, Volkerrechtsprofessorin in den USA, argumentierte, daß man das intergenerationeile Recht als zeitliche Dimension ins Volkerrecht einführen müßte35 . Als Prinzipien der intergenerationellen Gerechtigkeit schlägt sie folgende drei Grundsätze vor: die Sicherstellung der Ressourcen, den Schutz der Qualität der Umwelt und den Rechtsschutz zur Benützung der Ressourcen auf der Erde. Diese drei Grundsätze sind natürlich nicht mit Vereinbarungen zwischen den Generationen gleichzusetzen, sondern bedeuten die künftige Dimension (oder das künftige Moment) im gegenwärtigen Volkerrecht Brown-Weiss sieht die Erde allerdings als "common patrimony" für die künftigen Generationen an. Zwar ist eine solche Konzeption eine der Rechtspflege nach brauchbare Idee. Aber für uns ist die Erde nicht nur ein Vermögen mit einem ökonomischen und kulturellen Wert. Sie hat auch einen religiösen und metaphysischen Sinn. Dieser Sinn zwingt uns, das "generational law" einen Rang höher zum Postulat des "Iex aeterna"36 einzuordnen, wie das "ius gentium" dem "international law" übergeordnet ist. Mein Thema "Die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen" heißt in Wirklichkeit die Verantwortung für die "gebärende Natur" oder "musu-hi", die jede Generation tragen muß. Und eben die "Iex aeterna" ist als Bahn der sich regulierenden Naturkraft das Grundgesetz des ewigen Gedeihens der Menschheit. Was dieses gigantische Problem betrifft, so möchte ich einen minimalen ontologischen Begriff ins Rechtsdenken einführen, wie H. L. A. Hart einst den minimalen Naturrechtsbegriff in seine Rechtslehre eingeführt hat. ,,Rechtsphilosophie der species" ist jenes Konzept, dem wir uns in Hinkunft in unseren Studien widmen sollten.
Op. cit., Schlitt, 203. Edith Brown-Weiss, In Fairness to Future Generations- intemationallaw, common patrimony and intergenerational equity, Tokyo, 1989. 36 ,Lex aeterna' ist das Gesetz der Bewegung aller Wesen, die Gott geschöpft hat. Könnte man aber die ,Lex aeterna' ohne den Gottesbegriff als Schöpfer nicht umdeuten? Könnte man unter die ,Lex aeterna' das ,eco-system' nicht verstehen, das sich von selbst über Millionen von Jahren entwickelt hat? 34
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10 Messner-Symposium
Soziale Gerechtigkeit als eigene Unterteilung der Gerechtigkeit Von Alfred Klose
I. Schlagwort oder wissenschaftlicher Terminus "Soziale Gerechtigkeit" ist heute weithin zu einem politischen Schlagwort geworden, dies mit einer sehr unterschiedlichen Aussagekraft So wird im Zusammenhang mit der Diskussion um eine Refonn der Pensions- und Rentensysteme in einigen europäischen Staaten mehr soziale Gerechtigkeit in dem Sinn verlangt, daß Benachteiligungen bei einem Teil der Pensionssysteme ausgeglichen werden sollen. In dieser Bedeutung fordere die "soziale Gerechtigkeit eine gewisse Gleichheit nicht nur bezüglich der abstrakten Regeln und Normen, sondern der konkreten Lebensbedingungen" 1• Der moderne Sozialstaat will die Gerechtigkeit vor allem in dem Sinn sicherstellen, daß jene Menschen die sich aus eigener Kraft, so wegen Alter oder Krankheit nicht erhalten können, einen angemessenen Anteil an den Einkommen und den Sicherungsvorkehrungen der Gesellschaft garantiert bekommen. Nicht nur für die wissenschaftliche Diskussion, sondern auch für die politischen Auseinandersetzungen ist mehr Klarheit über die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit erforderlich. Johannes Messner hat dazu einiges beigetragen.
II. Soziale Gerechtigkeit bei Johannes Messner Das Problem der sozialen Gerechtigkeit hat Johannes Messner schon in seiner frühen Jugend interessiert. Schon als Gymnasiast in Brixen hat er sich mit der Frage der Einkommensunterschiede befaßt. Das Beispiel seiner Eltern hat ihn dabei bewegt. Es war der Unterschied bei deren Einkommen: Der Vater hat bei seiner harten Arbeit als Bergmann weniger verdient als die Mutter, die - bei einem allerdings zehnstündigen Arbeitstag - aber bei einer körperlich leichteren Arbeit in der Tabakfabrik in Schwaz ein höheres Einkommen erzielt hat.
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Staatslexikon, 7.A., Bd. 2, W. Kerber: Art. Gerechtigkeit III, Sp. 903 ff.
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In der "Sozialen Frage" hat Messner darauf verwiesen, daß der in den Vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehr aufgekommene Begriff der sozialen Gerechtigkeit zunächst nur im Zusammenhang mit dem industriellen Arbeitsverhältnis gebraucht wurde? Messner will die "Triebkräfte von Interesse und Macht der sozialen Gerechtigkeit" unterordnen und damit der Sozialwirtschaft eine Ordnung geben, "die die Erfüllung ihres Sozialzwecks sicherstellt". Dieser Sozialzweck der Wirtschaft ist nach Messner aber nur erreichbar, wenn es gelingt, das "bei den verfügbaren Naturgütern und Arbeitskräften mögliche Wirtschaftswachstum mit Vollbeschäftigung ohne Inflation zu erreichen". 3 Das erscheint angesichts der Entwicklung in den einzelnen Volkswirtschaften und weltweit nahezu unmöglich zu sein: Messners Optimismus gründet sich auf die Hoffnung, eine verantwortungsbewußte Zusammenarbeit aller Interessengruppen zu erreichen - also ein sozialpartnerschaftliches System, wie er es angesichts der Entwicklung in Österreich auch für andere Staaten für realisierbar angesehen hatte. Messner sieht aber hier immer wieder die weltweiten Zusammenhänge. Die Aufgaben der Entwicklungshilfe, das Anwachsen der Weltbevölkerung zwinge zu einer solchen Sicht: So verbinden sich bei Messner die Aufgaben der inner-gesellschaftlichen mit denen der weltweiten sozialen Gerechtigkeit. 4 Im Mittelpunkt der sozialen Gerechtigkeit steht für Messner die Lohngerechtigkeit Indikatoren für diese sind die Entwicklung des Wirtschaftszweiges, die Höhe des Kapitalertrages, die Notwendigkeit der Kapitalbildung für die Investitionen und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Für Messner kommt den gesellschaftlichen Gruppen und ihren Interessenvertretungen eine erstrangige Bedeutung für die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit zu. Im Widerspruch zur sozialen Gerechtigkeit stehen in diesem Sinn auf Monopolmacht begründete überhöhte Untemehmereinkommen ebenso wie die durch gewerkschaftliche Machtmittel erzwungenen erhöhten Löhne, die nicht durch entsprechende Leistungen begründet sind.5 Im übrigen ist Messners Begriff der sozialen Gerechtigkeit enger als der heute übliche, der sich mehr oder minder auf die gesamte sozialstaatliche Wirklichkeit bezieht. Messner rechnet die staatliche Sozialpolitik zu den Verpflichtungen aus der distributiven Gerechtigkeit. Ebenso lehnt er eine Gleichsetzung der sozialen mit der staatlichen Gerechtigkeit ab: Diese weise auf das positive Recht hin sowie auf die Verpflichtung, die entsprechende Ordnung in der staatlich organisierten Gesellschaft herzustellen. 6 Für uns wichtiger sind Messners Thesen über den Zusammenhang von Ansprüchen und Leistungsverpflichtungen aus der Sicht der sozialen Gerechtigkeit: Das 2
3 4 5
6
J. Messner: Die Soziale Frage, 7 1964, S. 21. J. Messner: a. a. O.S. 127. J. Messner: a. a. O.S. 128. J. Messner: Das Naturrecht, 5 1966,429 ff. J. Messner: s. Anm. 2, 351.
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Gemeinwohl werde beeinträchtigt, "wenn Ansprüche ohne entsprechende Leistungen durchgesetzt werden". Messner verweist auf das Prinzip ,)edem das Seine"; dieses soll im modernen Sozialstaat insofern verwirklicht sein, als jeder Mensch, besonders jener, der nicht in der Lage ist, für sich selbst vorzusorgen (oder nicht zur Gänze), die entsprechenden Hilfen von jenen Gemeinschaften erhält, die dazu berufen sind. Messner lehnt dabei eine umfassende staatliche Organisationsaufgabe ab. 7 Messner geht es um die Sicherung der Erfüllung der wesenhaften Lebenszwecke möglichst für alle Menschen: darin liegt die persönlichkeitsbetonte Seite der sozialen Gerechtigkeit. Diese soll zumindest dem einzelnen Menschen und den Familien das Existenzminimum sicherstellen.
111. Soziale Gerechtigkeit und Kulturentwicklung
Es ist wiederum Johannes Messner, der hier Zusammenhänge nachweist. Grundlegend ist: Die Geschichte der Kultur erweise "das Wissen um die Ordnung der Gerechtigkeit als stärkste Bewegungskraft der Kulturentwicklung im Sinne der fortschreitenden Verwirklichung der wahrhaft menschlichen Werte in der ganzen Erstreckung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens". Besonders sei es die soziale Gerechtigkeit, "an die die Bewegungskraft der Kulturentwicklung in der Richtung der volleren Verwirklichung der menschlichen Grundwerte gebunden" sei. Die soziale Gerechtigkeit stehe "als Bewegungskraft der Kultur in engster Beziehung zu den Klassenspannungen; sie wirke immer wieder hin auf eine neue Ordnung der Gerechtigkeit". 8 In diesem Zusammenhang geht Messner von einem weiteren Begriff der sozialen Gerechtigkeit aus: das Gewissen und das Rechtsbewußtsein für die sozial-kulturelle Entwicklung geben die Chance einer gerechteren Gestaltung der Gesellschaft.9 In der Auseinandersetzung um die soziale Gerechtigkeit wird bei Messner immer wieder deutlich, daß es nicht nur um die Verteilungsfragen des Volkseinkommens geht, sondern auch um die geistigen Güter, um den Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten, um die Anteilnahme am kulturellen Leben. Messner beansprucht in diesem Sinn ein "Kulturminimum" für alle! 10 In diesem Sinn umschreibt auch Walter Kerber die soziale Gerechtigkeit als "gleichen Anspruch aller auf eine Grundausstattung mit bestimmten materiellen und immateriellen Gütern", die für ein menschenwürdiges Leben erforderlich sind. 11 7 8
J. Messner: s. Anm. 2, S. 366 ff. J. Messner: Kulturethik, 1954, S. 412 ff.
A. Anzenbacher: Internationale Ordnung und Menschenbild, 1994, S; 56 ff. J. Messner: s. Anm. 8, S. 450 ff. 11 s. Anm. I.
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IV. Soziale Gerechtigkeit - grundlegend für die gesamte Ordnung der Gerechtigkeit Jede Ordnung der Gerechtigkeit verlangt eine sinnvolle Abgrenzung der Machtund Einflußsphären der einzelnen Organisationen und Gruppierungen. So geht es darum, dem einseitigen Machtdruck einzelner Großgruppen entgegenzuwirken und auch den kleineren weniger organisierten Minderheiten eine entsprechende Position im politischen System und im volkswirtschaftlichen Verteilungsprozeß zu sichern. Dies entspricht auch wichtigen Grundanliegen der Sozialenzykliken, so besonders auch den in "Gaudium et spes" dargelegten Prinzipien (75). Praktische Erfahrungen in den modernen Sozialstaaten mit einer ungleichen und zum Teil ungerechten Verteilung der sozialen Leistungen machen deutlich, wie wichtig die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit für den Fortbestand demokratischer Systeme wie für die Sicherung des Sozialstaates schlechthin ist. Artbur Fridolin Utz und Oswald v. Nell-Breunig haben die soziale Gerechtigkeit als umfassende Gemeinwohlgerechtigkeit verstanden und ihr die legale, distributive und kommutative Gerechtigkeit als "Partikulargerechtigkeiten" gegenübergestellt. Arno Anzenbacher hat mehrere dieser Umschreibungen in seinem Artikel "Gerechtigkeit" im Katholischen Soziallexikon zusammengefaßt; für Messner hält er fest, daß dieser die Gemeinwohlgerechtigkeit von der "Einzelgerechtigkeit" (kommmutative und distributive als Partikulargerechtigkeiten) unterschieden habe und diese Gemeinwohlgerechtigkeit wiederum in die Legalgerechtigkeit (Formalobjekt Gemeinwohl des Staates), die soziale und die internationale Gerechtigkeit unterteilt habe.12 Wie immer wir die soziale Gerechtigkeit umschreiben, müssen wir sie auch aus Sicht der Katholischen (wie ganz allgemein der Christlichen) Soziallehre als immer neue Herausforderung verstehen: Artbur Rieb weist darauf hin, daß der soziale Zweck der Wirtschaft nicht nur in der gerechten Verteilung des Volkseinkommens bestehe, sondern in der Schaffung von "Lebenslagen", dies sind bestimmte Formen menschlicher Existenz. 13 Wir sehen immer wieder, daß viele Menschen in der komplizierten gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht in der Lage sind, sich existentiell abzusichern. Sie scheitern, werden obdachlos oder geraten in kriminelle Abwege. Allzu viele verlieren im Daseinskampf ihre körperliche oder seelische Gesundheit. Soziale Gerechtigkeit zielt in diesem Sinn auf Existenzsicherung ab, soweit diese nicht aus eigener Kraft möglich ist. Mehr denn je ist es die Arbeitslosigkeit, die besonders für ältere Menschen zum unlösbaren Problem wird. Bei einer aus der Sicht der sozialen Gerechtigkeit konzipierten Gesellschaftspolitik geht es besonders um die Sicherung von den Fähigkeiten der Menschen entsprechenden Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Wenn 12
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A. Anzenbacher: Art. Gerechtigkeit, in: Kath. Soziallexikon, 2 1980, Sp. 872 ff. A. Rieb: Wirtschaftsethik, 1990, Bd. 2, S. 28 ff.
Soziale Gerechtigkeit als eigene Unterteilung der Gerechtigkeit
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wir Messner recht verstehen, ist es ihm immer wieder darum gegangen, Menschenwürde und Entwicklungsfähigkeit des Menschen in den Mittelpunkt der Soziallehre zu stellen. Dabei geht es ihm besonders um den Menschen als Fainilienwesen. Messner nennt die Familienpolitik das "Herzstück der Gesellschaftspolitik". 14 Hier ergeben sich besondere Zusammenhänge zur sozialen Gerechtigkeit. "Eine Besonderheit des Christentums ist seine soziale Kraft", sagt der Wiener Sozialethiker Erwin Bader. 15 In diesem Sinn sind die Christen aller Konfessionen und politischen Lager zum sozialen Engagement im Sinn der sozialen Gerechtigkeit angespornt. So gesehen brauchen die christlichen Kirchen auch ihre Sozialbewegungen, ihre Auseinandersetzungen in einer breiten Öffentlichkeit. Dabei werden sie der sozialen Gerechtigkeit immer wieder eine besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Bei diesen ihren Bemühungen werden die Christen und alle anderen in diesem Sinn wirkenden Menschen sich vor Augen halten müssen, daß die soziale Gerechtigkeit nicht eine präzise "Unterteilung" der Gerechtigkeit ist, sondern daß sie "vom strengen Gleichmaß bei Festlegung von Leistung und Gegenleistung" absieht und bestimmt, "daß jedem Mitglied einer Gemeinschaft (Gesellschaft, Bürger in einem Staatsgebiet) eine Mindestsumme an Lebenschancen gesichert werden muß, unabhängig von einer eventuellen Gegenleistung" (Anton Burghardt). 16 Burghardt vertritt dazu die Ansicht, ein solches Existenzminimum müsse administrativ festgelegt werden und jedenfalls über der Armutsgrenze liegen.
V. Sicherung des Sozialstaates Heute geht es in dem finanziell vielfach überforderten Sozialstaat darum, jene sozialen Leistungen abzubauen oder zumindest zu verringern, die nicht im Sinne der sozialen Gerechtigkeit, sondern durch den Machtdruck von Interessengruppen zustande gekommen sind. Die budgetären Probleme des modernen Sozialstaates können nur gelöst werden, wenn eine Konzentration der sozialen Leistungen auf jene Personen und Gruppen erfolgt, die aus der Sicht der sozialen Gerechtigkeit gefördert werden sollen. Die wahllose Verzettelung der sozialen Leistungen mehr oder minder ohne Beachtung der sozialen Gerechtigkeit führt nicht nur zur Überforderung des Sozialstaates und ernsten Budgetkrisen, sondern gefährdet die aus eben der sozialen Gerechtigkeit geförderten Leistungen. So ist es wiederum das Subsidiaritätsprinzip, das für den Aufbau des Sozialstaates wie für die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit entscheidend ist. Darauf hat Messner immer wieder hingewiesen. 17 J. Messner: Das Naturrecht, 5 1966, S. 550 ff. E. Bader: Christliche Sozialreforrn, 1991, S. 22. 16 A. Burghardt: Gerechtigkeit - das Definitionsdilemma, in: Erfahrungsbezogene Ethik Festschr. f. J. Messner, hrsg. von V. Zsifkovits u. R. Weiler, 1981, S. 293 ff. 17 J. Messner: Das Naturrecht, 5 1966, S. 1004 ff., 1147 ff. 14 15
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Es ist wiederum Johannes Messner, der uns warnt, utopische Zielsetzungen anzustreben. Die Gerechtigkeit könne nie voll verwirklicht werden. Dies begründet Messner mit dem wechselnden Gerechtigkeitssinn und Gerechtigkeitswillen vieler Menschen; in vielen Fällen sei es auch schwer, genau zu bestimmen, was die Gerechtigkeit fordere. Es ist der geschichtliche Wandel, der immer wieder wirtschaftliche und politische Gegebenheiten mit sich bringt, wodurch auch eine neue Sicht der Fragen der Gerechtigkeit erforderlich wird. Messners Sozialrealismus wird in seiner Forderung deutlich, eine "annäherungsweise allseitige Verwirklichung der Gerechtigkeit" anzustreben. 18 Auseinandersetzungen um Pensionsreformen, um die Sicherung eines funktionsfahigen Gesundheitswesens und alle andere Fragen einer umfassenden sozialen Sicherheit zeigen, daß soziale Gerechtigkeit - wie weit immer man den Inhalt dieses Begriffes umschreibt - zu den schwierigsten Fragen der Sozialethik wie der Gesellschaftspolitik gehört.
ts J. Messner: KurzgefaSte christliche Soziallehre, o.J., S. 18 f.
Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner Von Herbert Schamheck Die Gerechtigkeit ist ein Maßstab richtig angesehenen Denkens und Handeins von Menschen zur Begründung und Aufrechterhaltung von Ordnung. Sie stellt eine Beziehung her, nämlich zwischen dem Maßstab und dem Gegenstand der Ordnung. Die Maßstäbe für die Gerechtigkeit können verschieden gesetzt werden und danach auch verschiedene Formen an Gerechtigkeit angenommen werden. 1 Für Johannes Messner ist Gerechtigkeit der Wortbedeutung nach "ein Ausgleichen ... von Anspruch und Leistung. Folgerichtig wird das Wort in einem doppelten Sinn gebraucht. Wenn wir allgemein von Forderungen der Gerechtigkeit sprechen, steht im Vordergrund der Gedanke der objektiven Ordnung der Gerechtigkeit, worin Rechtsansprüche kraft des Naturrechts oder des Gesetzesrechts begründet sind. Wir sprechen aber auch von Pflichten der Gerechtigkeit, wobei der Gedanke der subjektiven Tugend der Gerechtigkeit bestimmend ist als Bereitschaft, Rechtspflichten zu erfüllen.... Die Gerechtigkeit ist demnach die vom obersten unmittelbar einsichtigen Rechtsprinzip des suum cuique bestimmte Tugend.... Als objektives Kriterium kann das gesellschaftliche Rechtsbewußtsein (Ethos) gelten; gerade die Naturrechtslehre sieht sich gedrängt anzunehmen, daß sich darin das überlegende naturhafte Rechtsgewissen ausspricht und daß zugleich die in einer Rechtsgemeinschaft maßgebenden, durch die menschliche und äußere Natur bedingten Sacherfordernisse zum Ausdruck kommen." 2 Johannes Messner erkennt mit seinem kritischen Realismus, daß ein ethisches Postulat allein noch nicht ausreichend Gerechtigkeit ermöglicht und sucht nach einem objektiven Maßstab. Hiezu stellt er fest: "Den wissenschaftlichen Anfordet Siehe z. B. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Auf!., Wien 1960, S. 454 ff.; Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie. 2. Auf!., Wien 1963, S. 281 f.; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, Neuwied am Rhein 1965, S. 315 ff.; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, 8. Aufl., Stuttgart 1970, bes. S. 120 ff., 164 ff., 334 ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1987, S. 391 ff.; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Berlin - New York 1985, S. 215 ff. und Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986, S. 70 f. 2 Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck- Wien- München 1966, S. 420 ff.
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rungen der Bestimmung des Wesens und der Forderungen der Gerechtigkeit kann aber auch das solcherweise objektivierte gesellschaftliche Rechtsgewissen nicht genügen, weil das gesellschaftliche Rechtsbewußtsein, wie die vergleichende Rechtswissenschaft feststellt, irren kann und sich in hohem Maße als irrtumsfähig erwiesen hat. Ein rechtsphilosophisch zureichendes, objektives und allgemein gültiges Kriterium ist nur zu finden in der Natur des Menschen und seinen darin vorgezeichneten Beziehungen zu seiner menschlichen und übrigen, besonders der geschichtlich bedingten Umwelt. Dieses Kriterium kann kurz auch als das der Natur der Sache bezeichnet werden."3 Unter Naturder Sache wird allgemein ein Realfaktor des Lebens und damit auch der Rechtsordnung verstanden, 4 nämlich das Wesen einer Sache bzw. der Gehalt einer Gegebenheit. In bezug auf das Recht drückt die Natur der Sache ein materiales Rechtsdenken aus. Dieses wurde gerade nach Beendigung des 2. Weltkrieges und in der Folge auch von autoritären und totalitären Regimen in einer Wende als ein Weg von mehr positivistischem zu einem mehr präpositiven Rechtsdenken deutlich. In diesem Zusammenhang ist auch von Heinrich Rommen sein Buch "Die ewige Wiederkehr des Naturrechts"5 und von Johannes Messner sein Monumentalwerk "Das Naturrecht"6 entstanden. Joseph Höffner hebt in Beurteilung von Johannes Messner besonders "vier Problemkreise - gleichsam als Schwerpunkt" -hervor ... : "die induktiv-ontologische Beweisführung, der neue erkenntnistheoretische Ansatz, die starke Betonung der geschichtlich-soziologischen Betrachtungsweise und die Auseinandersetzung mit der sozialtheologischen Fragestellung."7 Sicher hat der Lebensweg von Johannes Messner zu seiner wissenschaftlichen Grundhaltung beigetragen, denn wie es Alfred Klose schon ausgedrückt hat, wurde er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich und seiner deshalb erfolgten Flucht "durch seinen langjährigen Aufenthalt in England zu einem ,geistigen Bürgerzweier Welten'; anMessner, a. a. 0., S. 422. Dazu näher Herbert Scharnbeck, Der Begriff der "Natur der Sache", ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1964 und die Beiträge in: Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von Arthur Kaufmann, Darmstadt 1965; darin besonders Rechtsidee und Rechtsstoff von Gustav Radbruch, S. 5 ff.; Zur Lehre von der "Natur der Sache" von Max Gutzwiller, S. 14 ff.; Vorn Sinngehalt des Rechts von Helmut Coing, S. 331 ff.; Die Natur der Sache von Wemer Maihofer, S. 52 ff. ; Über den Begriff der "Natur der Sache" von Norberto Bobbio, S. 87 ff.; Natur der Sache und Naturrecht von Alessandro Baratta, S. 104 ff.; Zur "Natur der Sache" im Strafrecht von Kar! Engisch, S. 204 ff.; Die ontologische Struktur des Rechts von Arthur Kaufmann und Um eine Grundlegung des Rechts von Rene Marcic, S. 509 ff. sowie Heribert Pranz Köck, ABC des Rechts, Wien 1998, S. 37. 5 Heinrich Rornrnen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Auf!., München 1947. 6 Johannes Messner, Das Naturrecht, 1. Auf!., Innsbruck- Wien- München 1950. 7 Joseph Höffner, Johannes Messner und die Renaissance des Naturrechts, in: Naturordnung in Gesellschaft - Staat- Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Joseph Höffner, Alfred Verdross und Francesco Vito, Innsbruck- Wien - München 1961, S. 19. 3
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Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner
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gesichts der angelsächsischen Methoden ist ihm die Bedeutung der Empirie in den Sozialwissenschaften besonders zum Bewußtsein gekommen".8 In verschiedenen eigenen Lebenslagen und in der Erfahrung der ganzen Breite und Tiefe des privaten und öffentlichen Lebens der Menschen erfuhr er deren existentielle Situation; er betrachtete diese als Priester und Gelehrter zugleich, wodurch er in der Folge die Sozialwissenschaften und die Theologie gemeinsam zu bereichern imstande war.9 So prägt er auch den Begriff der "existentiellen Zwecke" des Menschen, der für ihn Grundbegriff seiner Ethik ist. 10 Johannes Messner hat mit seiner Denkweise präkonziliar gedacht und das vorgedacht sowie in seinem gesamten Schrifttum zu vermitteln gesucht, was später das II. Vatikanische Konzil, besonders in seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" als Kirche in der Welt von heute zu vermitteln suchte, in dem besonders auch auf die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeitenll verwiesen wird. Die Erkenntnisse von Johannes Messner sind daher über seine Zeit von Bedeutung und beachtenswert. 12 Sie drücken mit ihrer immer zeitloser werdenden Aktualität eine bestimmte Dynamik aus; neben seinen Gedanken über die Gerechtigkeit zeigt dies seine Auffassung von den existentiellen Zwecken und der Natur der Sache besonders. So schreibt er von "der Mannigfaltigkeit der ,Natur der Sache' auf den einzelnen Lebensgebieten, bezogen auf die an die existentiellen Zwecke gebundene Naturordnung und auf die die Mittel im Dienste dieser Zwecke anzeigenden Sachgesetze"13. Auf die Natur der Sache kommt Johannes Messner durch sein Bemühen "die Sittlichkeit in der Naturrichtigkeit (daher im gesellschaftlichen Bereich in der ,Sachrichtigkeit', in dem von der ,Natur der Sache' Geforderten, ... )" 14 zu begründen. Für ihn ist konkret "demnach auf den einzelnen Gesellschafts- und Kulturgebieten das in der ,Natur der Sache' Gelegene das sittlich Richtige: das in der wesenhaften Wirklichkeit vorgezeichnete ,sachlich' Richtige. Die ,Sachrichtigkeit' in s Alfred Klose, Johannes Messner, eine biographische Notiz, in: Naturordnung, S. 33. Siehe auch z. B. Johannes Messner, Das Wagnis des Christen, Innsbruck- Wien - München 1960 und derselbe, Auf der Suche nach dem wahren Glück, hrsg. von Hubert Mockenhaupt, Trier 1993. 10 Messner, Das Naturrecht, 5. Aufl., S. 42 ff. II Beachte Nr. 36 in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes; dazu Kar! Rahner- Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg-Basel-Wien 1966, S. 482 f. und hiezu Herbert Scharnbeck, Glaube und Weltverantwortung der Katholiken, Gedanken nach dem ll. Vatikanischen Konzil, in: Pax et Iustitia, Festschrift für Alfred Kostelecky, hrsg. von Hans Wallher Kaluza, Hans R. Klecatsky, Heribert Franz Köck und Johannes Paarhammer, Berlin 1990, S. 37 ff. 12 Siehe u. a. Das Neue Naturrecht, Gedächtnisschrift für Johannes Messner, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck und RudolfWeiler, Berlin 1985; darin besonders RudolfWeiler , Logos und Ethos, S. 9 ff. und Artbur Fridolin Utz, Johannes Messners Konzeption der Sozialphilosophie, die Definition der Sozialnatur und der Gesellschaft, S. 21 ff. 13 Messner, Das Naturrecht, S. 114. 14 Messner, a. a. 0., S. 42. 9
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diesem Sinne ist daher das Kriterium für die Einrichtung der gesellschaftlichen Lebensordnungen"15. "Es sind jedoch die Prinzipien der einenungeschiedenen sittlichen Ordnung in ihren Forderungen geschieden nach der Mannigfaltigkeit der ,Natur der Sache' auf den einzelnen Lebensgebieten". 16 Was den Inhalt des Begriffs der Natur der Sache betrifft schließt sich Johannes Messner Helmut Coing an; er hebt hervor, "daß der Begriff der ,Natur der Sache' die Natur des Menschen umschließt, seine natürlichen Fähigkeiten, Triebe, Willensziele usw." Er "begreift darüber hinaus auch die eigenartige Sachgesetzlichkeit in sich, die den einzelnen Tatigkeitsbereichen und Gemeinschaften des Menschen eigen ist.'d 7 Ergänzend und motivizierend zu dieser Begriffsbestimmung der Natur der Sache durch Helmut Coing fügt Johannes Messner hinzu: "Das ist auch unsere Anschauung, jedoch glauben wir mit unserer Analyse der menschlichen Natur gezeigt zu haben, daß in dieser selbst die Seinsordnung (Triebnatur, Wertstreben) und die Rechtseinsicht (Gewissenseinsicht, Werteinsicht) noch ursprünglicher und unmittelbarer, zuinnerst und unlöslich verbunden sind, nämlich erlebt und erkannt in der gesellschaftlichen ,Grundsituation' der Familiengemeinschaft Ohne diesen innersten Zusammenhang von Seinsordnung und Wertordnung ist nur die Begründung der Werteinsicht auf das ,Fühlen' möglich, wie Helmut Coing sieht 18, und bleibt dann die Gerechtigkeit ohne objektives Kriterium und sachlichen Maßstab."19 Johannes Messner geht es um das Gewinnen eines sachlichen Maßstabes und objektiven Kriteriums für die Gerechtigkeit durch die Natur der Sache. In seiner Schrift "Kurz gefaßte christliche Soziallehre" hebt er hervor: "In vielen Fällen wird besondere Sachkenntnis erforderlich sein, um zu einem richtigen sittlichen Urteil zu kommen" 20 und nennt "Denkgefüge, die in der einen oder anderen Weise von der Wirklichkeit und Wahrheit der ,Natur der Sache' hinsichtlich des Menschen und der Gesellschaft abweichen, . .. Ideologien".Z1 Messner geht es um die Veranschaulichung einer Sozialontologie. 22
Bei der Analyse des Sozialgeschehens erkennt aber Johannes Messner auch die Schwierigkeit der Erkenntnis der Natur der Sache und ihrer Folgerung, "denn bei der Verschlungenheit aller gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wechselbeziehungen ist die Ergrundung der Natur der Sache nicht einfach ... Ein Grund dafür ist die Tatsache, daß neben die sachlichen Erwägungen und Argumente immer auch solche machtpolitischer Art treten".23 15 Messner, a. a. 0., S. 88. 16 17
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Messner, a. a. 0., S. 114. Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950, S. 119. Coing, a. a. 0 ., S. 106 f. Messner, a. a. 0., S. 334. Johannes Messner, Kurz gefaßte christliche Soziallehre, Wien, o.J., S. 13. Messner, a. a. 0., S. 13 f. Messner, Das Naturrecht, S. 290 und Kap. 22 - 31.
Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner
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In seiner umfassenden Seinsbetrachtung sucht Johannes Messner in der Natur der Sache sowohl die Natur des Menschen als auch die Natur der Fakten sowie Gegebenheit der verschiedenen Tätigkeitsbereiche und Gemeinschaften der Menschen zu erfassen. Es ist ein Bemühen, in der Vielfalt verschiedener Sachen deren Natur, nämlich deren Wesen zu erkennen. Dieser von Johannes Messner angestrebter Zusammenhang von Sein und Wert in Form der Wesenseinsicht läßt sich in bezug auf die Natur des Menschen leichter erkennen als bei anderen Naturen von Gegebenheiten. So hat z. B. die Einsicht in die Natur des Menschen zur Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen bei aller Pluralität in Gesellschaft, Staat und Politik, sowie zur Anerkennung der Grundrechte und damit auch von Menschenrechten geführt.Z4 Anders ist dies neben der Natur des Menschen mit der Bedeutung von Gegebenheiten und Sozialbezügen, die auch von Johannes Messner zur Natur der Sache gerechnet werden, welche aber nicht die Natur des Menschen darstellen, sondern nur zu ihr in Beziehung stehen oder neben der Natur des Menschen Faktoren und Gegebenheit des sozialen Lebens darstellen. Johannes Messner betont: "Sachverhaltserkenntnis ist zum wesentlichen Teil das, was die Jurisprudenz unter Einsicht in die ,Natur der Sache' versteht. Der Weg der Wahrheitserkenntnis hinsichtlich dieser Natur der Sache ist doppelter Art, der des gesunden Menschenverstandes und der der Wissenschaften. " 25 Die Schwierigkeit dieses Bemühens war Johannes Messner bewußt. ,,Einzudringen in die Natur der Sache stellt aber bei der heutigen Komplizierung der gesellschaftlichen, staatlichen, wirtschaftlichen Zusammenhänge eine unermeßliche Aufgabe dar."26 Er erwartete sich die entsprechende Hilfe von den einzelnen Wissenschaften, besonders von den Sozialwissenschaften. Johannes Messner hat in bezugauf die Natur der Sache außerhalb der Natur des Menschen einen weiten Blick gehabt. So hat Johannes Messner angenommen, daß der Natur der Sache nach "Ertragsbeteiligungssysteme gemäß den dafür im einzelnen Unternehmen bestehenden Voraussetzungen verschieden" 27 seien. Es hat sich auch weiters für ihn "eine doppelte sozialwirtschaftliche Funktion des Zinses ergeben: Er fördert die Kapitalbildung und er lenkt die Kapitalverwendung. Darauf beruht seine sozialethische Rechtfertigung. " 28 Johannes Messner wendet auch sein Bemühen um die Erkenntnis der Natur der Sache auf den Zahlungs- und Kreditverkehr der Banken29 und auch auf das internationale Leben. "Die Logik der Natur Messner, a. a. 0., S. 291. Beachte Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft , in: Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Leibholz, Hans Joachim Faller, Paul Mikat, Hans Reis, Tübingen 1974, S. 221 ff., Neudruck in: Johannes Messner, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965- 1974, Köln 1975, S. 13 ff. 25 Messner, Das Naturrecht, S. 383. 26 Messner, a. a. 0., S. 387. 21 Messner, a. a. 0 . S. 1056. 2s Messner, a. a. 0. S. 1058. 29 Siehe Messner, a. a. 0. S. 1133 ff. 23
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der Sache in den internationalen Zusammenhängen ist sehr unnachgiebig: sie zwingt zur fortschreitenden Anerkennung der Forderungen der sozialen Gerechtigkeit in ihrer internationalen Weite und zugleich zur fortschreitenden Verwirklichung dieser Forderungen, auch entgegen momentaner Überspannung von Sonderinteressen." 30 Diese Beispiele für Bezogenheilen im Denken Johannes Messners auf die Natur der Sache zeigen, daß er von der Möglichkeit der Erkenntnis von Sachgesetzlichkeiten und auf Grund deren Einsicht von daraus mit abgeleitet sittlichen Postulaten ausgeht. Johannes Messner nimmt nämlich an, daß der Mensch "mit der Entwicklung des Vernunftgebrauches in seiner Jugend nicht nur die Einsicht in die allgemeinen Naturrechtsprinzipien, sondern auch die Fähigkeit zur Beurteilung der ,Natur der Sache' in den gesellschaftlichen Beziehungen des täglichen Lebens" 31 erlangt. In diesem Zusammenhang schreibt Johannes Messner vom natürlichen Rechtsgewissen, spricht aber auch von einem sittlichen Rechtsgewissen und verbindet dieses mit dem Naturrecht, 32 so wenn er .,die beiden Seiten der Ordnung der Natur" hervorhebt: .,Naturrecht ist einerseits das von der Natur als Seinsordnung, also durch die ,Natur der Sache' Geforderte, andererseits das von der Natur als Vernunftordnung, nämlich durch das ihr eigene, daher ursprüngliche sittliche Rechtsgewissen Geforderte. " 33 Er bezeichnet die an die Natur der Sache gebundene Seite des Naturrechts als objektive Seite, die an dils sittliche Rechtsgewissen gebundene als subjektive Seite. 34 .,Die Bemühung um Sacheinsicht wird selbst zur Gewissenspflicht " 35 Johannes Messner ist die Problematik im Zusammenhang von Sacheinsicht und Verantwortungsethik in unserer Zeit vor allem in der pluralistischen Demokratie voll bewußt gewesen. Er wußte, wie unterschiedlich die Positionen und Aktionen in der pluralistischen Demokratie fundiert und orientiert sind und stellte im Zusammenhang mit der Stellung des Abgeordneten fest, daß die Verantwortungsethik zwei Haltungen von ihm verlangt: "Erstens ist durch sie eine Sachkenntnis gefordert, die ihm überhaupt ein Urteil in Fragen des Allgemeininteresses ermöglicht. Diese Sachkenntnis, das ,Wissen', das von ihm gefordert ist, ist erschwert durch die Kompliziertheit aller Fragen des öffentlichen Interesses, nicht zuletzt, weil die Beurteilung der Auswirkungen politischer Entscheidungen in der Zukunft des Gemeinwesens erforderlich ist. Die zweite Haltung des Abgeordneten angesichts des erwähnten Dilemmas ist der Mut .... die Bemühung um Sacheinsicht wird selbst zur Gewissenspflicht Verantwortungsethik fordert vom Abgeordneten sachliche und sittliche Urteilskraft in einem ganz und gar überdurchschnittlichen Ausmaß, Messner, a. a. 0. S. 1258 f. Messner, a. a. 0. S. 363. 32 Messner, a. a. 0. S. 363. 33 Messner, a. a. 0 . S. 305. 34 Messner, a. a. 0. S. 305. 35 Johannes Messner, Das Gewissen als Instanz politischen Handelns, Politische Studien 208, 1973, S. 113 ff., zitiert nach Neudruck, in: derselbe, Ethik und Gesellschaft, S. 41. 30 3t
Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner
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fordert aber auch, daß er im politischen Unterscheidungsprozeß sein persönliches Gewissen zu strapazieren bereit ist. Parteidiktate können nach der Verantwortungsethik für den Abgeordneten nicht oberste Gewissensinstanz sein." 36 Es ist daher mit der Sacheinsicht auch die Fähigkeit verlangt, Prioritäten und das gemeinwohlgerecht zu setzen. Das ist in der pluralistischen Demokratie der Massengesellschaft nicht leicht. Johannes Messner erkennt auch: "Nie war Verantwortungsethik wichtiger als in der Massendemokratie. Denn, um noch einmal die Sorge Max Webers um die freiheitliche Demokratie sprechen zu lassen, ,die staatspolitische Gefahr der Massendemokratie liegt in allererster Linie in der Möglichkeit starker emotionaler Elemente in der Politik' (Gesammelte Schriften, 221)".37 Sacheinsicht und Wertbewußtsein sollten sich daher bei diesen politischen Entscheidungen ergänzen, damit der Gerechtigkeit im Sinne des suum cuique entsprochen werden kann. Dabei kommt es aber nicht allein darauf an, Sachkenntnis zu besitzen, sondern diese auch mit der Einsicht in die Natur der jeweiligen Sache zu verbinden. In seinem Buch "Der Funktionär- seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft" hat Johannes Messner auch hervorgehoben: "Alle Verantwortung ist, weil sich ihr Grund und Maß aus der ,Natur der Sache', d. h. auch der Natur des Menschen erweisen, sittliche Verantwortung. Auch wenn Verteilungsgrößen in der Wohlfahrtsgesellschaft in Frage stehen, ist es die Menschennatur, in der sich die Maßstäbe finden." 38 Dabei weiß Johannes Messner, wie schwer es auch ist, im Hinblick auf die Natur der Sache eine gerechte Entscheidung zu treffen, denn "in der Verantwortungsethik zählt nicht nur die ,Natur der Sache', sondern auch die ,Gegebenheit der Sachlage'. Die tatsächliche Sachlage begrenzt oft die Möglichkeiten der Durchsetzung dessen, was nach der Natur der Sache gefordert wäre. Darin liegt die recht verstandene Maxime begründet, daß die Politik die Kunst des Möglichen ist. ,.39
Johannes Messner läßt deutlich werden, daß er um die Eigenständigkeit in der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Natur der Sache weiß, sowie um das Erfordernis der Konkretisierung von Naturrechtsprinzipien und auch der katholischen Soziallehre; so stellt er auch fest, "daß mit Zitaten aus Enzykliken die Sozialproblematik keines Landes zu lösen ist. Die kirchliche Soziallehre stellt jedoch die Aufgaben, die realpolitisch auf Grund der Kenntnis der Natur der Sache in jedem Lande in konkreter Weise anzugehen sind. "40 So sehr Johannes Messner, vor allem auch im Hinblick auf die Natur des Menschen und Grund- und Menschenrechte allgemein anerkannte Rechte, Pflichten und Grundpositionen in der Rechts- und Sozialordnung annimmt, so sehr erkennt Messner, a. a. 0. S. 41. Messner, a. a. 0. S. 42. 38 Johannes Messner, Der Funktionär - seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, Innsbruck - Wien - München 1961, S. 261. 39 Messner, Der Funktionär, S. 265 f. 40 Johannes Messner, Christliche Soziallehre unter Feuer, Civitas 1966, S. 145. 36 37
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er gleichzeitig, daß diese und die Natur der Sache konkretisierungs- und ergänzungsbedürftig sind.41 Papst Pius XII. hat sogar in einer Ansprache über die internationale Gemeinschaft, die Völkergemeinschaft, am 13. Oktober 1955 in einem Abschnitt über "II. 1. Das Naturgesetz" im Zusammenhang mit internationalen Verträgen und Vereinbarungen erkannt, daß es auch darauf ankommt, "das festzulegen, was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg"42. Johannes Messner überstieg mit dieser Forderung nach Konkretisierung von Gerechtigkeit und Natur der Sache den Bereich der Naturrechtslehre und wies den Weg einer auch der Praxis verantwortlichen Sozialwissenschaft. Er betont deshalb auch: "Wären solche Normen allseitig und umfassend in der ,Natur der Sache' gelegen, dann müßten sie fertige Rechts-, Staats-, Wirtschaftssysteme ergeben. Gerade das verhindert aber die ,Natur der Sache', nicht nur, weil die die Anwendung der Naturrechtssätze bedingenden Verhältnisse sich in ständiger geschichtlicher Entwicklung befinden, sondern die Naturrechtssätze selbst dem gesellschaftlichen Gestaltungswillen einen sehr weiten Spielraum lassen." 43 Als katholischer Priestergelehrter hat Johannes Messner den Hinweis gegeben: "Diese konkreten Gerechtigkeitsimperative zu erarbeiten obliegt der christlichen Soziallehre und der christlichen Sozialrefom eines jeden Landes. Die Aufgaben, die dem Sachverstand gestellt sind, sind die der Laien. " 44 In diesem Sinne spricht auch der Can. 225 § 2 von der besonderen Pflicht der Laien, "die Ordnung der zeitlichen Dinge im Geist des Evangeliums zu gestalten und zur Vollendung zu bringen und so in besonderer Weise bei der Besorgung dieser Dinge und bei der Ausübung weltlicher Aufgaben Zeugnis für Christus abzulegen". In diesem Sinne hat auch kürzlich die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester45 auf die Aufgabe, Sendung und Verpflichtung der Laien auch in der Ausführung der katholischen Soziallehre hingewiesen und damit ganz im Sinne von Johannes Messner zu einer Mitarbeit an der Herstellung einer sachgerechten und damit auch menschenwürdigen Sozialordnung aufgerufen; 46 ein Auftrag, der über den pastoralen 41 Siehe in diesem Sinne Henkel, a. a. 0., S. 382 f. und die dort angegebene Literatur sowie Scharnbeck, Der Begriff der ,,Natur der Sache", wonach die Natur der Sache nur eine "Gestaltungsgrundlage des positiven Rechts" (S. 68), "nur Ansätze zur Verwirklichung einer konkreten Ordnung" (S. 141, 143) liefert. 42 Zitiert nach Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., hrsg. von Artbur Fridolin Utz - Joseph Fulko Groner, Freiburg 1961, S. 3783, Nr. 6286, vgl. Herbert Scharnbeck, Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen, in: Im Dienste des Rechtes in Kirche und Staat, Festschrift für Franz Arnold, hrsg. von Willibald M. Plöchl und Inge Garnpl, Wien 1963, S. 55 ff., bes. S. 63 ff. 43 Messner, Das Naturrecht, S. 373. 44 Messner, Christliche Soziallehre unter Feuer, S. 146. 45 Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien arn Dienst der Priester, Vatikanstadt 1997, S. 6 ff. 46 Dazu Herbert Scharnbeck, Die Laienstruktur - ein Beitrag zum K.irchenverständnis, L'Osservatore Rornano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vorn 30. Januar 1998, S. 6.
Zur Lehre von der Gerechtigkeit und der Natur der Sache bei Johannes Messner
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Bereich, der die Lebensarbeit des Priestergelehrten Johannes Messner entscheidend mitbestimmte, für jedes Bemühen um eine gerechtfertigte Rechtssetzung von Bedeutung ist. Da die Vorstellung von Gerechtigkeit und ihren Maßstäben unterschiedlich und mannigfaltig ist,47 unabhängig davon, in welchem Maß diese erkennbar ist, kann die Natur der Sache bei aller Pluralität an Ordnungsproblemen eine Wegweisung zu einem Maß an Sachgerechtigkeit geben. Das Leben und mit ihm die Sozialbeziehungen entwickeln sich ständig weiter; es kommt daher laufend darauf an, unter Bedenken der Natur der Sache zu einem Maß an Gerechtigkeit beizutragen.
47 Beachte kürzlich Hans F. Zacher, Was kann der Rechtsstaat leisten?, in: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, hrsg. von Joachim Burmeister, München 1997, S. 393: "Das Urteil darüber, was ,gerecht' ist, ist so vielfältig, aber auch so vital wie die Menschen sind, wie das menschliche Leben ist."
II Messner-Symposium
Massengesellschaft aus der Sicht von Johannes Messner Von Akira Mizunami Das Erscheinen der Massengesellschaft ist, so sagt man, ein für die moderne Gesellschaft charakteristisches Phänomen. Bei uns in Japan bekräftigen beinahe alle Professoren der unter neo-kantianischem Einfluß stehenden Sozialwissenschaften: Massengesellschaft ist eine neutrale "Tatsache", die - von der theoretischen Vernunft erfaßt - nur die Welt des "Seins" kennen kann, die Welt des "Sollens" aber nicht betrifft. Was die Beurteilung dieser "Tatsache" betrifft, so ist sie das Problem der praktischen Vernunft, die die von den "Lebensanschauungen" motivierten Postulate diktiert, welche mit jeder Person variieren. Von daher leitet sich der moralische Relativismus ab, der einen realen Standard des menschlichen Verhaltens leugnet. Aber die Philosophen des sozialen und politischen Lebens des 20. Jahrhunderts lehnen diese Art von Dichotomie ab. Vgl. z. B. Karl Jaspers 1, Hannah Arendt2, Jose Ortega y Gasset3 , William Kornhauser4 und unser Meister, Johannes Messne~. Ihrer Ansicht nach ist "Massengesellschaft" eine aktuelle Tatsache, die gleichzeitig "Sein" und ,,Sollen" ist: eine faktische Tatsache von realem Sein, eine Realität. Der Begriff "Masse" in Verbindung mit "Gesellschaft" wird von Johannes Messner in Verbindung mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft von ihren Ursachen her bestimmt. Diese Ursachen "sind auch ökonomisch-technisch-organisatorischer Art, an der Spitze der Verfall des aus der geistig-sittlichen Natur des Menschen verstandenen Verantwortungsbewußtseins". "Masse" ist dann "die in ihrer ,Haltung' (Urteil und Handeln) durch möglichst unmittelbar erreichbare Nutzwerte bestimmte Menge". 6 Die Beschreibungen von Massengesellschaft durch Johannes Messner finden sich mehrmals in seinen Hauptwerken7 . Die geistige Situation der Zeit, 1931. Human Condition, 1958; The Origins ofTotalitarianism, 1951, Neuauflage 1979. 3 La Rebellion de las masas, 1934. 4 The Politics ofMass Society, 1959. 5 Kulturethik, 1954, 22 ff., 290 ff. 6 Kulturethik, 290. Vgl. auch Die Soziale Frage 8 1964, 107 ff. 7 Die Krise des Nihilismus in der westlichen Kultur betreffend, in: Die Soziale Frage, 711 ff.; über Massengesellschaft als Beispiel einer anti-pluralistischen Gesellschaftstheorie, in: Das Naturrecht, 7 1984, 217; die allgemeine Vergesellschaftung in der Industriewelt betreft
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Akira Mizunami
Eine bemerkenswerte These Johannes Messners über die Massengesellschaft ist folgende: Das ontologische Fundament nicht nur des freien und kapitalistischen Staates, sondern auch des totalitären (nazistischen und kommunistischen) Staates findet sich für beide in der Massengesellschaft. Nach Messner gäbe es ohne das Erscheinen der Gesellschaft der atomisierten Individuen, die getrennt und daher ohne Solidarität von Personen sind, das heißt ohne das Entstehen der Massengesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts (begleitet von den liberalistisch-individualistischen Ideologien), keine Entfaltung des totalitären Staates (begleitet von totalitären Ideologien), der zwangsläufig diese atomisierten Individuen zu einer totalitären Staatseinheit zusammenfügt. Der liberale ebenso wie der totalitäre Staat setzen genau die Existenz der "Massengesellschaft" und des degradierten modus vivendi der ,,Masse" voraus. 8
Ich werde jetzt einen kleinen metaphysischen Kommentar zu dieser wichtigen These Messners geben: Jacques Maritain hat die Unterscheidung zwischen 1) der Individualität und der Personalität, 2) zwischen der Erkenntnis durch den Begriff und der Erkenntnis durch die Natur gemacht. (1) Nach Jacques Maritain sind die Individualität (oder das Individuum) und die Personalität (oder die Person) "zwei metaphysische Aspekte des menschlichen Wesens"9. Der Mensch ist eine substantielle Einheit der materia prima und der substantiellen Form; aber man muß vermeiden, in den Fehler Descartes zu verfallen. "Es ist ganz klar, daß es sich hier nicht um zwei getrennte Dinge handelt. Es ist dasselbe Wesen, voll und ganz, das in einem Sinn Individuum ist und in einem anderen Sinn eine Person. Ich bin voll und ganz Individuum; im Hinblick auf das, was mir aus der Materie zukommt, und ganz und gar Person im Hinblick auf das, was mir vom Geist zukommt.'.to "Beim Menschen wie bei den anderen körperlichen Wesen, wie beim Atom, beim Molekül, bei der Pflanze, beim Tier hat die Individualität als ontologische Wurzel die materia prima. Das ist die Doktrin des hl. Thomas von Aquin über die Individualität der materiellen Dinge." 11 fend, in: ibid. 543; hinsichtlich der Familie, ibid. 553; hinsichtlich der Nation, ibid. 657 f.; hinsichtlich der modernen Demokratie, ibid. 806 ff.; hinsichtlich des "Versorgungsstaates", ibid. 760 f.; die Umwandlung der Werturteile in der Massengesellschaft betreffend, in: Kulturethik, 473; den Verlust der Nächstenliebe betreffend, ibid. 294 f.; bezüglich des szientistischen Humanismus, der die "Vermassung" verursacht hat, ibid. 514; betreffend die allgemeine, von der ökonomischen Entwicklung hergeleitete Krise, ibid. 550. s Vgl. Das Naturrecht, 807 f., 832 ff.; Die Soziale Frage, 336 und öfter (siehe Sachverzeichnis). 9 La personne et Je bien commun, 1947, Oeuvres comp. IX, p. 193; Les Droits de l'homme et Ia loi naturelle, 1942, Oeuvres comp. VII, 654 ff., 699 - 722. w Jacques Maritain, La personne, 193. 11 lbid., 189.
Massengesellschaft aus der Sicht von Johannes Messner
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"Der Begriff Personalität . . . bezieht sich auf die tiefsten und höchsten Dimensionen des Seins; die Persönlichkeit hat als Wurzel den Geist, insofern er sich selbst in Existenz hält und in reichem Maß vorhanden ist; metaphysisch betrachtet ist die Personalität, wie es die thomistische Schule mit Recht unterstreicht, die ,Substanz'". 12 Maritain sieht in dieser Substanz ein transzendentales ganzes Wesen, das über alle Umstände des ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens hinausreicht, durch seine Liebe, durch seine "generosite radicale". Im Gegensatz zur "l'unite sans portes ni fenetres" der Leibniz'schen Monade und zum einzelnen atomisierten Menschen (bellium omnium contra omnes) von Hobbes kann der Mensch in die existentielle Kommunikation mit einem anderen Menschen und sogar mit Gott in seiner Personalität treten. Der Mensch ist ein offenes Wesen. Danach beschreibt Maritain die Dynamik des menschlichen Wesens: "Sein Handeln kann dem Hang der Personalität oder dem Hang der materiellen Individualität folgen. Wenn die Entwicklung des menschlichen Wesens im Sinne der materiellen Individualität stattfindet, wird es in Richtung des hassenswerten Ichs gehen, dessen Gesetz es ist zu nehmen, für sich zu absorbieren; und gleichzeitig wird die Personalität als solche dazu neigen, sich zu verändern, sich aufzulösen [die Masse! sie!]. Wenn aber im Gegenteil die Entwicklung in Richtung der spirituellen Personalität erfolgt, dann wird sich der Mensch ins großzügige Ich der Helden und der Heiligen entwickeln". 13 Der erste Weg ist die Entfremdung des menschlichen Wesens, der zweite Weg ist die Fülle. Man wählt zu jedem Augenblick frei einen dieser beiden Wege. Und das Naturgesetz (und auch das Naturrecht) wäre dann "Seinsverfassung", ins Wesen des Menschen eingeschrieben, der zufolge es seine Fülle erreichen kann. (2) Mir scheint, daß Jacques Maritain die natürliche Erkenntnis höher schätzte als die konzeptionelle Erkenntnis; obwohl sie vage und konfus ist, nähert sich die natürliche Erkenntnis dem gesamten Wesen des Menschen direkt, indem sie alle historischen Grundlagen überschreitet, die von der konzeptionellen Erkenntrtis erfaßt werden; zum Beispiel Wissenschaften und ideologische Ansichten. Die natürliche Erkenntnis gibt nicht nur die Vorgegebenheiten wieder, die der Ausgangspunkt für die theoretische Analyse sind, sondern sie führt auch zum Kern der Wahrheiten, die in ihr verborgen sind. Die Erkenntrtis von Natur aus, ohne Worte, ohne Konzept, ist sicherlich vage und konfus, aber gewiß; sie dringt sicherlich in "transzendentale Erfahrung" ein; sie enthält virtuell alle oben genannten Elemente der überlegten Erkenntnis: der Mensch ist freies Subjekt, der die beiden Pole des modus existendi besitzt, nämlich die Individualität und die Personalität; man muß sich zum Pol der Personalisierung bekehren; dabei immer den Weg der Materialisation oder Objektivierung des Selbstseins verlassend; der Standard sine qua non dieser Personifizierung ist Iex naturalis et ius naturale, auf gleichsam natürliche Weise erlaßt, ohne erst zu objektivieren und ohne es durch die überlegende Ver12
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Ibid., 191 f. Ibid., 194.
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nunft zu verändern. Vom ontologischen Standpunkt aus hat die natürliche Erkenntnis gegenüber der konzeptionellen Erkenntnis den absoluten Vorzug. 14 Johannes Messner insistiert, wie Jacques Maritain, auf der Unterscheidung zwischen Individualität und Personalität 15 und auf den Unterschied zwischen der äußeren Erfahrung und der inneren Erfahrung. 16 Johannes Messner unterscheidet die "innere Erfahrung" und die "äußere Erfahrung"; er kommt daher ganz in die Nähe des Unterschiedes der Erkenntnis durch die Natur und jener durch den Begriff bei Jacques Maritain. Man lernt durch die "innere Erfahrung", die in der Erkenntnis von Natur aus enthalten ist, daß der Mensch gleichzeitig Körper und Seele ist, Individuum und Person; beide Seiten dieser Seinsarten des Menschen sind unverzichtbar für die Existenz des menschlichen Wesens. Es wird "einsichtig", daß die ,,Masse" in Richtung der Materialisierung ihrer Existenz voranschreitet, indem sie exklusiv den "unmittelbar erreichbaren Nutzwert" verfolgt, der sowohl für den liberalen als auch für den totalitären Staat das gleiche Ereignis, nämlich die Massengesellschaft herbeiführt, das ist die Menge der atomisierten und isolierten Masse in mangelhafter und degradierter Realität. Der dritte Weg der christlichen Ethik, zum Unterschied des liberalen und totalitären Staates, muß der Weg der Personalisierung des wesenhaften Seins jeder Person sein. 17 Es ist wichtig, daß dieser Weg nicht einfach gemäß dem Wechsel der Meinungen oder gemäß der theoretischen Erfahrung durch analytische Schlußfolgerungen verläuft, sondern gemäß der radikalen Veränderung des modus existendi jedes einzelnen, intuitiv, auf gleichsam natürliche Weise von allen erkannt, weil- ontologisch gesprochen - die Erkenntnis von Natur aus tiefer und radikaler ist als die konzeptionelle Erkenntnis.
14 Vgl. Jacques Maritain, L'Homme et 1'Etat, 1953 Oeuvres comp. IX, 578- 590; Les Degres du Savoir, 8. ed. Paris, 266 ff. 15 Siehe Kulturethik, 272 ff. 16 Siehe ibid., 8 f., 10, 251 ff., 265 ff. Was die "innere Erfahrung" betrifft, siehe auch Jorge Rivera, Konnaturales Erkennen und vorstellendes Denken, Eine phänomenologische Deutung der Erkenntnis des Thomas von Aquin, 1967; Karl Rahner, Geist in Welt, Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, 1957; Johannes B. Lotz, Transzendentale Erfahrung, 1978. 17 Siehe Kulturethik, 118 ff., 144 f., 152 ff., 168 ff., 272 ff.
Verzeichnis der Autoren Univ.-Prof. DDDr. Alfred Klose, A-1180 Wien, Starkfriedgasse 11 Dr. Hisao Kuriki, Mejirokaoka 2-84-1, Hachioji-shi, J.193 Tokyo, Japan Dr. Akira Mizunami, em. Professor der Rechtsphilosophie der Staatlichen KyushuUniversität Fukuoka, 6-106 Kaizuka Garden City, 5-11 Hakozaki-Higashiku, 1.812 Fukuoka, Japan Univ.-Doz. Dr. Friedrich Romig, A-3422 Hadersfeld, Schloßgasse 5 o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Schambeck, Präsident des Österreichischen Bundesrates i. R., Institut für Staatsrecht und Politische Wissenschaften der Universität Linz, A-4040 Linz-Auhof Dr. Wolfgang Schmitz, Finanzminister a. D., Präsident der Oesterreichischen Nationalbank a.D., Obmann der Johannes-Messner-Gesellschaft, A-1180 Wien, Gustav-Tscherrnak-Gasse 3/3 Prof. Dr. theol. Dr. phil. Johannes Michael Schnarrer; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung "Johannes-Messner-Werkausgabe, Wirkungsgeschichte, Kommentar", A-1010 Wien, Schottenring 21 Prof. Dr. Hiroshi Takahashi, 18 Yamazato-cho, Showa-ku, J.466 Nagoya, Japan Prof. Dr. Hans Joachim Türk, em. Professor für Philosophie und Sozialethik an der Fachhochschule Nümberg, D-90473 Nümberg, Josef-Simon-Straße 145 Dr. theol. Dr. rer. pol. Rudolf Weiler; Prälat, em. Professor für Ethik und Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Päpstlicher Ehrenprälat, Präsident der Johannes-Messner-Gesellschaft, A-10 10 Wien, Bauernfeldgasse 9/2/5 a. Prof. Dr. Hideshi Yamada, Nanzan-Universität Nagoya, 18 Yamazato-cho, Showa-ku, J.466 Nagoya, Japan