Gerechtigkeit: vom Wert der Verhältnismäßigkeit. 4 3534207777, 9783534207770

Fragen der Gerechtigkeit haben die Geschichte Europas von Anfang an geprägt und stehen im Zentrum politischer und sozial

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German Pages 254 [250] Year 2014

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Gerechtigkeit Innen und Außen. Zur Einleitung
Gerechtigkeit und Staat
„Der Mensch ist das Maß der Dinge…“ – Dimensionen rechtlicher Gerechtigkeit
Generationengerechtigkeit
Wohlfahrtsstaat, soziale (Un-)Gerechtigkeit und Armut
Steuergerechtigkeit, Prinzipien der Besteuerung und die steuerethische Begründung des europäischen Wohlfahrtsstaates
Gerechtigkeit, Geschlecht und soziale Arbeit
Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung? Zur Gleichstellungspolitik der Europäischen Union unter gerechtigkeitstheoretischer Perspektive
Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung
Alternative Sichtweisen auf Behinderung und Gerechtigkeit
Globale und interkulturelle Perspektiven
Globale Gerechtigkeit: Das Prinzip kosmopolitischer Verantwortung
Gerechtigkeitskonzepte im subsaharischen Afrika – gestern und heute
Entwicklungzusammenarbeit und Gerechtigkeit
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Gerechtigkeit: vom Wert der Verhältnismäßigkeit. 4
 3534207777, 9783534207770

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Gerechtigkeit: Vom Wert der Verhältnismäßigkeit Herausgegeben von Clemens Sedmak

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Reproduktionsfähige Druckvorlagenerstellung: Dorit Wolf-Schwarz Schrift: Garamond, Helvetica Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-20777-0 Elektronisch sind folgende Aufnahmen erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73901-1 eBook (epub): 978-3-534-73902-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Clemens Sedmak Gerechtigkeit Innen und Außen. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Gerechtigkeit und Staat Stephan Kirste „Der Mensch ist das Maß der Dinge…“ – Dimensionen rechtlicher Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Jörg Chet Tremmel Generationengerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Christoph Butterwegge Wohlfahrtsstaat, soziale (Un-)Gerechtigkeit und Armut . . . . . . . . . . . . . . 77 Helmut P. Gaisbauer Steuergerechtigkeit, Prinzipien der Besteuerung und die steuerethische Begründung des europäischen Wohlfahrtsstaates . . . . . 103

Gerechtigkeit, Geschlecht und soziale Arbeit Uta Klein Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung? Zur Gleichstellungspolitik der Europäischen Union unter gerechtigkeitstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Dieter Röh Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung . . . . . . . . . 149 Angela Wegscheider Alternative Sichtweisen auf Behinderung und Gerechtigkeit . . . . . . . . . 173

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Inhalt

Globale und interkulturelle Perspektiven Henning Hahn Globale Gerechtigkeit: Das Prinzip kosmopolitischer Verantwortung . . . 185 Anke Graneß Gerechtigkeitskonzepte im subsaharischen Afrika – gestern und heute . . 205 Thomas Kesselring Entwicklungzusammenarbeit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Vorwort

Immer wieder werden Gräben quer durch Europa gezogen – die Gräben zwischen den wohlhabenderen und den weniger wohlhabenden Ländern, die Gräben zwischen Eurozone und anderen Währungen, die Gräben zwischen Alt und Jung, Arm und Reich, Sehr Reich und Reich, ganz zu schweigen von den Gräben, die Europa von Nichteuropa trennen. Diese Gräben mit der sie begleitenden Rhetorik tangieren Aspekte dessen, was dieser Band verhandelt: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Die bisherigen Bände in der Reihe der europäischen Werte zu „Solidarität“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ haben uns immer wieder auf Aspekte von Verwundbarkeit verwiesen. Neben der Conditio Humana inhärenten Verwundbarkeit stoßen wir dabei auch auf pathogene Verwundbarkeit, die durch ungerechte Strukturen erzeugt und entsprechend vermeidbar ist. Wetrvorstellungen sind fragil wie die Praktiken, die mit ihnen einhergehen. Dieser Aspekt kommt nun auch und vor allem in diesem Band über Gerechtigkeit zum Tragen. Erfahrungen von Ungerechtigkeit schärfen den Blick auf Gerechtigkeit, dienen auch als praktischer Lackmustest wie theoretische Inspirationsquelle. Mein Dank gilt wieder Benjamin Landgrebe von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die geduldige Begleitung des Projekts, Dorit Wolf-Schwarz für das gewissenhafte und zuverlässige Layout, Michaela Hasslacher für das Lektorat und Gottfried Schweiger für die Unterstützung bei der Umsetzung. Und natürlich statte ich aufrichtigen und herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren ab! Ich wünsche dem Buch eine wohlwollende Aufnahme. Clemens Sedmak Salzburg, Frühjahr 2014

Clemens Sedmak

Gerechtigkeit Innen und Außen Zur Einleitung

„Gerechtigkeit“ ist einer der Schlüsselbegriffe der europäischen Ethik. Der vorliegende Band thematisiert diesen Kernwert, nachdem vorangegangene Bände sich mit Solidarität, Freiheit und Gleichheit beschäftigt haben. Dabei geht es nach einer begrifflichen Grundlegung durch den Philosophen Stephan Kirste um das Verhältnis von Gerechtigkeitsbegriff und Rahmenbedingungen auf einer Makroebene, wie sie von Aspekten der Generationengerechtigkeit, der Wohlfahrtsstaatsgerechtigkeit und der Steuergerechtigkeit von Jörg Chet Tremmel, Christoph Butterwegge und Helmut Gaisbauer diskutiert werden. Teilweise wird hier eine Diskursanalyse eingebracht, Butterwegge schildert etwa die dreifache Transformation des vorherrschenden Gerechtigkeitsbegriffs von der Bedarfs- zur „Leistungsgerechtigkeit“, von der Verteilungs- zur „Teilhabegerechtigkeit“ und von der sozialen zur „Generationengerechtigkeit“. Weiters zeigt sich, dass der Gerechtigkeitsbegriff auf zwei Ebenen diskutiert werden kann, „ad intra“ (also mit Blick auf eine Bezugsgemeinschaft mit ihren Grenzen, hier wiederum kann zwischen einer synchronen und einer diachronen Betrachtungsweise, die auch künftige Generationen einschließt, unterschieden werden) und „ad extra“, also mit Bezugnahme auf die globale Situation über die Grenzen der Europäschen Union hinweg. An dieser Stelle zeigen sich Aspekte der Verwundbarkeit, wie sie etwa auch dort schlagend werden, wo nach einer Beobachtung Kirstes Aspekte der Ungleichheit so groß werden, dass sie die Freiheitsfähigkeit erodieren. Fragen der Verwundbarkeit werden auch im zweiten Abschnitt des Bandes aufgegriffen, mit Blick auf Fragen der Gleichstellung und Integration und der Suche nach einem guten Leben – diese Dimensionen werden von Uta Klein, Dieter Röh und Angela Wegscheider behandelt. Hier zeigen sich die Kriterien von Glaubwürdigkeit einer Rhetorik von Gerechtigkeit als “europäischem Wert“ in besonderer Weise, gerade weil das Bekenntnis der europäischen Tradition zu fundamentalen Werten, die die Menschheits­familie als solche tangieren, hier die Latte hoch legt. Im dritten Abschnitt wird eine komparative und globale Perspektive eingebracht – Hennig Hahn (globale Gerechtigkeit), Anke Graneß (Gerechtigkeitskonzepte im subsaharischen Afrika) und Thomas Kesselring (Entwicklungszusammenarbeit und Gerechtigkeit) weiten die Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs aus, dessen europäische Konturen in Fragen der theoretischen Ausweitung (Hahn), der im Vergleich gewonnenen Grenzen (Graneß) und der praktischen Anwendung (Kesselring) geprüft

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werden. Neben dem Aspekt der Freiheit wird hier gerade auch der Aspekt der Asymmetrie mit den Vorstellungen von Gerechtigkeit zusammengebracht, was uns wiederum auf den Begriff der Verwundbarkeit blicken lässt. Es scheint, als könnte eine Diskussion von Gerechtigkeit als europäischem Wert, will sie glaubwürdig sein, nicht von den den dunklen Seiten der Verwundbarkeit absehen. Das ist m.E. eine wichtige Lektion aus diesem Band. Die „European Group on Ethics“ hat in ihrer Opinion 27 („An ethical framework for assessing research, production and use of energy“) vom 16. Januar 2013 im Abschnitt 3 mit Verweis auf die Charta der Grundrechte der Euro­päschen Union jene Werte aufgelistet, die für die Europäische Union leitend und bindend sind „The European Community, which, since its inception, has given primacy to the respect of human dignity and to the protection of every individual human being, has endorsed these important ethical principles in the Charter of Fundamental Rights of the European Union. The Charter indicates, inter alia, a set of values, such as human dignity, freedom, democracy, the respect for pluralism, non-discrimination, tolerance, justice, solidarity and subsidiarity, as the milestones of the European Union and its policy design, which need to be incorporated in the EU policies.“ Neben Respekt vor der Würde des Menschen und den Menschenrechten sowie Solidarität wird „Gerechtigkeit“ als eines der drei fundamentalen Prinzipien genannt, das für die ethische Beurteilung der Energiefrage entscheidend ist. In 3.1.1. wird Gerechtigkeit explizit und eigens diskutiert. Gerechtigkeit wird dabei als Fundament für die Realisierung von Menschenwürde und Menschenrechten angesehen. Von besonderem Interesse für den Kontext der politischen Philosophie und des Diskurses von Gerechtigkeit als europäischem Wert ist dabei der Begriff der sozialen Gerechtigkeit „which guarantees that the interests of those most vulnerable and disadvantaged in the present generation and the well-being of future generations are equally safeguarded through security of reliable and affordable supply of energy and safety issues“. Hier wird eine bedenkenswerte Verbindung zwischen „Gerechtigkeit“ und „Verwundbarkeit“ hergestellt. Daneben werden noch „partizipative Gerechtigkeit“, „intergenerationelle Gerechtigkeit“ und „Umweltgerechtigkeit“ angeführt. Der Abschnitt erinnert schließlich daran, dass Gerechtigkeit auf einen „Sinn für Solidarität“ („a sense of solidarity with the whole family of ‚humankind‘“) angewiesen ist. An diesen Überlegungen aus einem der jüngsten Dokumente zur Wertediskussionen auf europäischer Ebene sind wenigstens drei Aspekte für den Gerechtigkeitsdiskurs von Interesse: Erstens: Die Idee Europas ist mit der Idee eines Wertekatalogs verbunden. Zweitens: Der Begriff der Gerechtigkeit als ein Leitwert ist verbunden mit der besonderen Aufmerksamkeit gegenüber den besonders verwundbaren Mitgliedern der Menschheitsfamilie. Drittens: Gerechtigkeit ist angewiesen auf einen „Sinn für Gerechtigkeit“ oder einen „Sinn für Solidarität“. Diese drei Aspekte möchte ich in aller Kürze skizzieren.

Gerechtigkeit Innen und Außen

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1. Gerechtigkeit und Wertegemeinschaft

„Gerechtigkeit“ wird in den Dokumenten der Europäischen Union als Grundlage einer gut funktionierenden Gemeinschaft dargestellt. Dieser Gedanke kann einer ehrwürdigen europäischen Denktradition verankert werden,. Nach Thomas von Aquin hat die Gesetzesgerechtigkeit das Gemeinwohl zum Gegenstand (STh II–II, 95 u 96) – dadurch wird die potentielle Willkür der Macht­ habenden klar zugunsten einer „Ordo“-Forderung eingeschränkt. Thomas von Aquin geht selbstverständlivch von einer Verbindung von Gerechtigkeit und Gemeinwohl über sein Verständnis von Ordnung aus. Das ist eine Frage der Gemeinschaftsauffassung, wobei Thomas unter Gemeinschaft einen Ordo versteht, ein koordiniertes Miteinander. Das Fundament der politischen Ordnung und damit des Ringens um Gerechtigkeit ist die Ausrichtung am Gemeinwohl, was Thomas von Aquin explizit festgehalten hat: „Socialis vita multorum esse non posset nisi aliquis praesideret qui ad bonum commune intenderet“ (STh I 96, 4 – p 88). Diese Koordination bringt es mit sich, sich auch über Ziele und gemeinsame Anstrengungen zu verständigen. „If society is not a mere aggregate of subjects, it must have an end – its common good – which cannot be reduced to the particular good of its members“.1 Hier zeigt sich die Frage nach dem „Telos“ als Fundamenalfrage des Gerechtigkeitsdiskuses, eine Frage, die die Europäische Union in besonderer Weise beschäftigt. Was hält Gerechtigkeitsvorstellunge und Gerechtigkeitsbemüungen zusammen? Aristoteles hatte seinerzeit den Staat über Gemeinsames und Differenz charakterisiert und daran festgehalten, dass der Staat um eines Gutes willen gebildet worden sei (to koine sympheron). Gerechtigkeit und dieses Staatsgut können nicht voneinander getrennt werden. Ein Staat ist ein Projekt zum gemeinsamen „Gutleben“ (Politik III,9, 1280b–1281a). In diesem Sinne ist das Gemeinwohl, wie es Ricoeur ausgedrückt hat, „the aim of the ‚good life‘ with and for others in just institutions.“2 Dahinter steht eine bestimmte Auffassung von Gemeinschaft, für die eine Kultur des öffentlichen Gesprächs entscheidend ist und etwa in der Auffassung der griechischen „polis“ zu finden ist.3 Im Gespräch ist auszuhandeln, welche Gemeinschaft und denn auch welches Wohl angestrebt werden sollen. Ein normativ aufgeladener Begriff von Gemeinschaft wird zu einer bestimmten Auffassung von Wohl führen. Anders gesagt: Eine bestimmte Auffassung von Gesellschaft oder Gemeinschaft wird es mit sich bringen, dass in einer bestimmten Weise über das Gedeihen oder Gelingen dieser Gemeinschaft nachgedacht wird. Wenn man etwa den Begriff der Gemeinschaft mit dem Begriff der Ordnung verbindet, wird „das Volk“ oder auch „alle Adressaten des Gesetzes“ als Subjekt des Gemeinwohls in Frage kom1 2 3

A. Argandola, The Common Good. IESE Working Paper 937. Barcelona 2011, 3. P. Ricoeur, One Self as Another. Chicago, IL: 1992, 202. Vgl. C. Meier, Polis und Staat. In: H. Schmidinger, C. Sedmak (Hgg.), Der Mensch – ein zoon politikon? Darmstadt 2006, 25–46.

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men. Dieser prozedurale Gedanke „Gerechtigkeit als vielfältiges Gespräch“ prägt auch den europäischen Diskurs, etwa im fundamentalen Bekenntnis zu Partizipation und Pluralismus. Ähnlich wie bei Aristoteles stellt sich hier aber auch dieFrage nach „Wertebasis“ versus „Diversität“ und damit auch die Frage nach dem „Telos“ einer Gemeinschaft. Ein plausibler Kandidat für die TelosDimension ist der Hinweis auf das Gemeinwohl. Die Telos-Frage ist ebenso wie der Begriff des Gemeinwohls seit der griechischen Philosophie Bestandteil des politisch-philosophischen Vokabulars und immer wieder Gegenstand des europäischen Wertediskurses.4 Der Begriff des Gemeinwohls kann im Rahmen der politischen Philosophie insofern als Schlüsselbegriff angesehen werden, als in diesem Begriff Individualethik und die Frage gelingenden Lebens und Sozialethik mit der Frage nach der guten Gesellschaft konvergieren, geht es doch in der Erzeugung des „common good“ darum, das personale Wohl aller Gesellschaftsglieder durch soziale Koopera­ tion zu ermöglichen. Das Gemeinwohl schließt also Sozialsysteme, Institu­ tionen und Umwelt(en) ein, die allen Mitgliedern einer Gemeinschaft zugute kommen. So gesehen ist das Gemeinwohl jene Dimension, die das Gelingen von Gemeinschaft auf Dauer sicherstellt. Aus diesen strukturellen Überlegungen ist auch klar, dass das Gemeinwohl sich nicht automatisch einstellt, sondern Ergebnis von konzertierten Anstrengungen ist. Saubere und sichere öffentliche Räume und eine nicht verschmutzte Umwelt setzen institutionelle und individuelle Anstrengungen voraus und verlangen nach einem entsprechenden rechtlichen und politischen Regelwerk. Hier stellen sich Fragen nach den Rahmenbedingungen für die Realisierung individuellen Wohls und sozialer Gerechtigkeit (u. a. Absicherung der materiellen Lebensgrundlage, Förderung von Einkommens- und Wirtschaftswachstum sowie von Wohlstand) und nach deren Umsetzung. Das sind eben jene Dimensionen, die bei innereuropäischen Diskussionen mühsam ausgehandelt werden müssen und zu den Debatten um die gerechte Verteilung von Ressourcen und Lasten führen. Dies wird besonders deutlich an der Dynamik einer „Tragedy of the Commons“, wie sie Gareth Hardin seinerzeit beschrieben hat5: Diese Dynamik spielt einerseits innerhalb Europas eine Rolle, andererseits im Verhältnis Europas zu anderen 4

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U. v. Aleman et al. (Hrsg.), Bürgergesellschaft und Gemeinwohl. Analyse, Diskussion, Praxis. Opladen 1999; H. Anheier (Hg), Zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. Neue Formen und Wege der Gemeinnützigkeit. Gütersloh 2004; H. Bluhm, K. Fischer, Gemeinwohl und Gemeinsinn – Soziomoralische Ressourcen moderner Gesellschaften. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 12,3 (1999) 98–101; J.-M. Bonvin (Hg), Gemeinwohl. Ein kritisches Plädoyer. Fribourg 2004; K. Fischer, Gemeinwohlrhetorik und Solidaritätsverbrauch. Bedingungen und Paradoxien des Wohlfahrtsstaates. In: M. Prisching (Hg.), Ethik im Sozialstaat. Wien 2000, 131–154; J. Messner, Das Gemeinwohl. Innsbruck 1962; O. v. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. München 1980; U. Nothelle-Wildfeuer, Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft. Paderborn 1999; G. F. Schuppert, F. Neidhardt (Hg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002. G. Hardin, The Tragedy of the Commons. Science. New Series 162, 3859 (1968) 1243–1248.

Gerechtigkeit Innen und Außen

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politischen Entitäten gerade in Zeiten der Klimaschutzdiskussion. Hier stellen sich Fragen der Gerechtigkeit auf einer neuen globalen Ebene, die nicht mehr mit monetären Mitteln kontrolliert werden kann, sondern uns auf die Frage der Einstellungen verweist. 2. Verwundbarkeit und die Grenzen der Gemeinschaft

Ein zweiter Aspekt der Gerechtigkeitsdiskussion: Jede Gemeinschaft hat Mitglieder, die in besonderer Weise benachteiligt oder verwundbar sind. Es sind Mitglieder, die sich vor dem Handeln anderer und vor widrigen Ereignissen weniger gut schützen können. Paul Formosa hat Verwundbarkeit charakterisiert mit den Worten „to be susceptible to harm, injury, failure, or misuse“.6 Verwundbarkeit impliziert, dass X einem Einfluss Y, der durch Z herbeigeführt wird, unterworfen werden kann. In den Worten Robert Goodins: „vulnerability amounts to one person being able to cause consequences that matter to the other“.7 Wieder anders gesagt durch Joel Anderson: „A person is vulnerable to the extent to which she is not in a position to prevent occurrences that would undermine what she takes to be important to her“.8 Wir tragen in unserem Leben Risiken, die wir nicht auf Null reduzieren können. Verwundbarkeit ist mehr als ein Wissen, „dass etwas passieren“ könnte“. Verwundbarkeit als „capacity to be wounded“9 meint „existentielles Wissen um Anfälligkeit für Wunden“; anders gesagt: ein tief greifendes Wissen um die Möglichkeit, dass eigene Integrität beschädigt wird. Verwundbarkeit ist Wissen um die Vorläufigkeit unsere Identität.10 Verwundbarkeit ist die Einsicht, dass das, was unsere Identität ausmacht, beschädigt oder zerstört werden kann. Wir können uns gegen Risiken zwar zu schützen suchen – doch diese Strategien der Risiko­minimierung sind ungleich verteilt und Ausdruck sozialer Positionen und damit eine Frage der Gerechtigkeit. Damit sind wir wieder beim ersten ersten Punkt, dem Aspekt einer Gemeinschaft: Wir sind auf eine Gemeinschaft angewiesen, auf eine Gemeinschaft, in der sich verwundbare Menschen gegenseitig fordern und schützen. Die eigene Verwundbarkeit anzuerkennen, bedeutet ein relationales Verständnis von Autonomie zu akzeptieren.11 Die Verletzbarkeit anderer Men6 7 8 9 10 11

P. Formosa, The Role of Vulnerability in Kantian Ethics. In: C. Mackenzie et al, eds., Vulnerability. Oxford 2014, 88–109, 89. R. Goodin, Protecting the Vulnerable. Chicago 1985, 114. J. Anderson, Autonomy and Vulnerability Intertwined. In: C. Mackenzie et al, eds., Vulnerability. Oxford 2014, 134–161, 135. H.-M. Füssel, Vulnerability: A generally applicable conceptual framework for climate change research. Global Environmental Change 17 (2007) 155–167, hier 155. Dieser Zugang wird klar dargestellt in F. Delor. M. Hubert, Revisiting the concept of „vulnerability“. Social Science and Medicine 50 (2000) 1557–1570. C. Mackenzie, The Importance of Relational Autonomy and Capabilities for an Ethics of Vulnerability. In: Dies. et al., Vulnerability. Oxford 2014, 33–59.

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schen anzuerkennen heißt, einen Sinn für „Care“ zu entwickeln. Daraus entsteht ein besonderer Nährboden für einen moralischen Sinn: „It is dependency and vulnerability rather than voluntary acts of will which give rise … to our most fundamental moral duties“12 Das „Gerechtigkeitsempfinden“, so die Aussage, hat mit der Erfahrung von Vulnerabilität zu tun. Der europäische Wert der Gerechtigkeit wird nachhaltig in seiner Glaubwürdigkeit durch den Umgang mit besonders verwundbaren Menschen erschüttert – einerseits „ad intra“: Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung und Mechanismen der Marginalisierung innerhalb Europas (etwa Roma und Sinti); andererseits „ad extra“: Der Umgang mit besonders verwundbaren Menschen, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Flüchtlingsdramen erinnern uns an den pragmatischen Widerspruch zwischen Gerechtigkeitsrede und Ungerechtigkeitstun. Das Drama um ertrinkende Flüchtlinge steht für einen Stachel im Wohlstandsbauch Europas. Ich will nur ein Beispiel anführen, bewusst fast zehn Jahre alt, weil gleichzeitig zeigt, wie wenig sich in enier Dekade in dieser Frage verändert hat, da dieses Drama sich seit 2005 dutzende Male wiederholt hat, auch im Jahr 2014, dem Jahr des Erscheinens dieses Buches:Ende September 2005 versuchten hunderte afrikanische Flüchtlinge in den europäischen (spanischen) Enklaven auf nordafrikanischem Boden, Ceuta und Melilla, in einer beispiellosen Aktion über den vier Meter hohen Doppel-Grenzzaun nach Europa vorzudringen. „Dutzende schnitten sich an den scharfen Klingen des Z-Drahtes die Hände und Arme auf, brachen sich die Knochen beim Fallen oder wurden von marokkanischen und spanischen Sicherheitskräften verletzt.“13 Es war eine lange geplante Aktion, die auch mit dem systematischen Ausbau des Zaunes auf sechs Meter Höhe seit dem Sommer 2005 zusammenhing. „Einige von uns haben schon zwei, drei Jahre im Wald von Ben Younech gelebt, und wir alle waren am Limit, wir konnten nicht mehr. Wir haben uns auf einen Massenansturm geeinigt. Wir wussten zwar genau, dass dabei einige sterben und viele nicht durchkommen würen, aber zumindest ein paar konnten es so schaffen“, erzählt der 19-jährige Faly aus Guinea-Bissau.“14 In ihrem Ausmaß und dem kurzen Strohfeuer des medialen Scheinwerferlichts war das Geschehen einzigartig. Die Tatsachen von Flüchtlingsstrom und Mauerbau jedoch sind freilich sowohl in Bezug auf Europas Gegenwart, als auch in Bezug auf Europas Geschichte vertraut –und gleichzeitig unheimlich und die Idee einer glaubwürdigen Rede von Gerechtigkeit torpedierend.

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Goodin, a.a.O., 34. C. Milborn, Gestürmte Festung Europa. Wien 2006, 13. Ebd., 28.

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3. Die Innenseite der Gerechkeit: Gerechtigkeitssinn

Die zitierte „Opinion 27“ der EGE hat von einem „Sinn für Solidarität“ gesprochen. Hier befinden wir uns in einem Bereich, den man die „Innenseite der Gerechtigkeit“ nennen könnte. John Rawls hat die Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft auf einen geteilten Gerechtigkeitssinn, eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit basieren lassen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft liegt nach Rawls dann vor, „wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird.“15 Eine wohlgeordnete Gesellschaft beruht auf einem hinreichend großen gemeinsamen Boden, der Institutionen und Einzelne derart miteinander verbindet, dass er die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen auf Grundsätze der Gerechtigkeit verpflichtet und eine Person X Grundsätze der Gerechtigkeit anerkennen und X darauf vertrauen lässt, dass die anderen diese Grundsätze auch anerkennen. Hier sind „Sinn“ und „Vertrauen“ Aspekte einer „intangiblen Infrastruktur“. Rawls bezeichnet einen gemeinsamen „Gerechtigkeitssinn“ als das Fundament, das eine Gesellschaft in ihrer Wohlordnung konstituiert. Diese Wohlordnung ist gegenüber Feinden dieser Wohlordnung (etwa in Gestalt von gefährlicher Intoleranz) zu verteidigen16: „Eine Gerechtigkeitsvorstellung ist stabiler als eine andere, wenn der von ihr erzeugte Gerechtigkeitssinn stärker ist und sich eher gegen schädliche Neigungen durchsetzt, und wenn die ihr entsprechenden Institutionen zu schwächeren Antrieben und Versuchungen führen, ungerecht zu handeln.“17 Stabilität zeigt sich darin, dass die Umsetzung einer Gerechtigkeitsvorstellung auch unter sich wandelnden oder gar widrigen Umständen aufrecht erhalten werden kann. Die tragende Mehrheit der Gesellschaft muss den Wunsch haben, gemäß den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu handeln. Mit der Rede von „Wünschen“ sind wir in einem „inneren Bereich“ von Haltungen und Grundeinstellungen. Hier ist die Moralphilosophie auf einen Dialog mit der Moralpsychologie angewiesen, was sich bei Rawls auch daran zeigt, dass er sich in Auseinandersetzung mit Theorienansätzen Freuds und Piagets Gedanken darüber macht, wie dieser Wunsch nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit zustande kommt und stabil gehalten werden kann.18 Gemeinsame Vorstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen spielen auch, um eine europäische Gerechtigkeitstheorie heranzuziehen, in der Gerechtigkeitskonzeption von David Miller eine entscheidende Rolle.19 Miller führt, 15 16 17 18 19

J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main 1975, 21. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 249. Dies ist geradezu der Lackmustest für die Stabilität einer Gesellschaft – „wenn ungerechte Tendenzen aufkommen, so werden Kräfte wachgerufen, die die Gerechtigkeit des ganzen zu bewahren trachten“ (ebd.). Ebd., 494. Ebd., 498–503. D. Miller, Grundsätze der Gerechtigkeit. Hamburg 2008.

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ähnlich wie Rawls, die Rede vom „Gerechtigkeitssinn“ ein: „Alle moralisch kompetenten Erwachsenen haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der sie befähigt, die praktischen Fragen zu bewältigen, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben.“20 Menschen, die nach Gerechtigkeit streben, müssen sich auf ein das Alltagshandeln anleitende Ideal geeinigt haben.21 Erst auf dieser gemeinsamen Grundlage kann Gerechtigkeit realisiert, ja diskutiert werden. „Soziale Gerechtigkeit setzt die Idee einer Gesellschaft voraus, die aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen besteht, die eine das Geschick jedes einzelnen Mitglieds beeinflussende institutionelle Struktur hat und in der eine Instanz wie der Staat zu planvollen Reformen im Namen der Fairness imstande ist.“22 In Millers Konzeption steht fest, dass „alle politischen Konzepte … von Hintergrundannahmen darüber geprägt [sind], was menschliches Leben lebenswert macht.“23 Hier sind also Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster den expliziten und systematischen Diskussionen vorgelagert. Gerechtigkeit verlangt bestimmte Haltungen und Einstellungen: „Die Menschen brauchen sich in ihrem Handeln zwar nicht bewusst der sozialen Gerechtigkeit zu verschreiben, aber sie müssen einsehen, dass soziale Gerechtigkeit ihr Verhaltensrepertoire einschränkt … Es muss … eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit geben, die nicht nur die wichtigsten Institutionen durchdringt, sondern auch das Verhalten der Menschen außerhalb ihrer Rollen in formalen Institutionen einschränkt.“24 Diese Haltungen müssen also internalisiert worden sein, um als gute Gewohnheiten wirksam werden zu können. Hier befinden wir uns in jenem Bereich, der in der Sprache von Innerlichkeit zu beschreiben ist. Überzeugungen sind die Motoren von Gerechtigkeitspraktiken: „Wenn wir sagen, dass alle Menschen gleiche politische Rechte genießen sollten, sagen wir dies nicht, weil es keine Unterschied zwischen ihnen gibt, die eine ungleiche Zuteilung rechtfertigen würden oder weil wir unserem Unterscheidungsvermögen in der Praxis nicht trauen, sondern weil es für uns ein positiver Wert ist, dass in diesem Bereich Gleichheit herrscht.“25 Die „Anziehungskraft von Gleichheit“26 ist wohl auf der Ebene geteilter Wahrnehmung anzusiedeln, auf der Ebene moralischen Empfindens. Hier zeigt sich bei Miller ein Punkt, der für den europäischen Wertediskurs von entscheidender Bedeutung ist – welche Bezugsgemeinschaft soll ins Auge gefasst werden? Miller appelliert an die Idee eines Nationalstaates als eines Gebildes, das so zugeschnitten ist, „dass seine Bürger ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl empfinden“; ein „nationales Zusammengehörigkeitsgefühl“ erzeugt „für alle, die es teilen, Solidaritätsbande, die stark genug sind, religiöse, 20 21 22 23 24 25 26

Ebd., 62. Ebd., 61. Ebd., 45f. Ebd., 264. Ebd., 54. EBd., 292. Ebd., 283.

Gerechtigkeit Innen und Außen

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ethnische und andere individuelle Unterschiede zu überspielen“.27 Auch hier befinden wir auf der Ebene moralischen Empfindens, allerdings mit einer klar bestimmten Identifikationsfläche. Dies sind präzise Diskussionspunkte, die die Europäische Union als Wertegemeinschaft tangieren – wie kann dieses „innere Moment“ für Europa oder gar über die Grenzen Europas hinweg erzeugt und damit jener Aspekt von Gerechtigkeit geschaffen werden, den die EGE ­Opinion 27 als „Sinn für Solidarität“ beschrieben hat. Grenzen der Gerechtigkeit

Eine Schlussbemerkung: Gerechtigkeit hat Grenzen; die Geschichte Europas mit ihrem Ringen um eine Kultur der Erinnerung zeigt eine Grenze von Gerechtigkeit im Sinne von „Irreversibilitäten“ auf: Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden. Eine zweite Grenze liegt in der „Geburtslotterie“ und der nicht verhandelbaren Frage nach dem „Wo“ und „Wie“ des Lebensstarts und der „Vorausstattung“. Ein Diskurs über Gerechtigkeit wird auch vom Blick auf die Grenzen nicht absehen können und nicht nur einen Kurs der „Maximierung von Gerechtigkeit“, sondern auch einen Kurs von „Minimierung von Ungerechtikeit“ fahren müssen – wie sie in diesem Band diskutiert werden.

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Ebd., 60.

Gerechtigkeit und Staat Stephan Kirste

„Der Mensch ist das Maß der Dinge…“ – Dimensionen rechtlicher Gerechtigkeit

I. Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras

Platon zitiert im Dialog Theaetet den Sophisten Protagoras mit dem Gedanken, „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind“1. Die Bedeutung des Satzes ist bis heute umstritten. Einerseits könnte ein erkenntnistheoretischer Subjektivismus gemeint sein: Die Dinge sind zunächst so, wie der einzelne Mensch sie empfindet2. Andererseits könnte der Satz normativ bedeuten, dass die Bedürfnisse des Menschen Maßstab für das Handeln sein sollen. Wenn die Erkenntnis des Menschen aufgrund seiner perspektivischen Wahrnehmung subjektiv ist, wäre die weitere Frage, ob dies auch für die Ethik gilt: Haben mithin notwendig alle Menschen unterschiedliche Empfindungen von Gerechtigkeit? In der sogenannten Apologie des Protagoras erhält der Satz nämlich eine überraschende Wendung: Die Aufgabe des Weisen sei es nicht, denjenigen, der Falsches vorstelle, von der Wahrheit zu überzeugen, vielmehr werde er darauf hinwirken, dass dieser Mensch gesund ist und das hat, was er für ein gesundes Urteil benötigt, denn dann wird er „durch gute Seelenverfassung auch gute Vorstellungen“ bilden3. Dem könnte Sokrates sogar zustimmen4, weil der Sophist wie er selbst, den Einzelnen trotz seiner subjektiven Empfindungen, durch Fragen, Reflexionen und auch Rhetorik dahin bringen kann, selbst zu erkennen, was gerecht für ihn und den Staat ist. Wie der Arzt einem Kranken, der an Wahnvorstellungen leide, nicht sage, dass seine Vorstellungen Unsinn seien, sondern ihn heile, damit er selbst erkennen könne, was richtig sei, so würde auch der Philosoph und Staatsmann die Gerechtigkeitsvorstellungen des Menschen nicht korrigieren, sondern ihn in die Lage versetzen, selbst zu beurteilen, 1 2

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Platon (1993): Theätet. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. IV.). Hamburg. Hier 152 A f., S. 45. Vgl. Hoffmann, Klaus Friedrich (2002): Überlegungen zum Homo-Mensura-Satz des Protagoras, in: Kirste, Stephan; Waechter, Kay; Walther, Manfred (Hrsg.): Die Sophistik – Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht. Stuttgart, S. 17–32. Hier S. 21. Platon (1993): Theätet. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. IV.). Hamburg. Hier 167, S. 71. Vgl. ebd. hier 168 D, S. 73.

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was gerecht ist. Als praktisch Handelnder wird dann der Mensch seinerseits den Dingen sein Maß aufgeben. Während aber Protagoras jedem Menschen kraft seines Menschseins das Urteil auch über die Gerechtigkeit der Gesetze zutraut, ist das Ergebnis des sokratischen Disputs, dass wirkliche Erkenntnis des Gerechten nur die Weisen haben5. Im Erkennen der Gerechtigkeit hat somit der Weise nach Sokrates die bessere Expertise als jedermann; das bedeutet aber nicht, dass er sich damit auch durchsetzen wird; denn aufgrund entsprechender Fähigkeiten und Ausbildung obsiegt der Rhetor vor Gericht und in der Volksversammlung über den Philosophen6. Diese Erkenntnis erlaubt neben der erkenntnistheoretischen und der normativen noch eine dritte Interpretation des Homo-Mensura-Satzes: Im Theaetet ist Sokrates anders als Protagoras nicht der Auffassung, der Mensch als solcher sei entscheidend für die Gerechtigkeit; vielmehr komme es auf den jeweiligen Kontext der Gerechtigkeit an: Der Arzt sei der Fachmann für die Gesundheit, der Philosoph für die Erkenntnis der Gerechtigkeit und der Rhetor für ihre Realisierung. In der Tat entspricht dies auch dem platonischen Gerechtigkeitsbegriff: Die Ordnung des Körpers des Menschen ist dann gerecht, wenn jeder Seelenteil das Seine tut und nicht in die Funktionen eines anderen eingreift; die staatliche Ordnung ist dann gerecht, wenn jeder Stand – die Gewerbetreibenden, die die politische Ordnung Schützenden, die Philosophen­ könige – dasjenige tut, wozu er am besten geeignet ist7. Sokrates lehnt also nicht einfach die Ansicht des Protagoras, wonach der Mensch das Maß der Dinge sei, als falsch ab, sondern differenziert sie: Derjenige, der kraft seiner Seelenverfassung und deren Ausbildung für den entsprechenden Bereich Experte ist, ist das Maß für den in diesem Bereich zu realisierenden Aspekt der Gerechtigkeit. Gesellschaftliche Differenzierung ermöglicht somit durchaus die Erkenntnis und Realisierung verschiedener Aspekte von Gerechtigkeit, die insgesamt die Gerechtigkeit besser realisieren, als wenn der Anspruch erhoben würde, sie meine überall dasselbe. Weil Platon jedoch den Menschen noch insgesamt als Teil eines Standes ansieht und ihn nicht wie in modernen funktional differenzierten Systemen kraft Kommunikation an allen Systemen partizipieren lässt, zerfällt das Maß in die standesmäßig geschiedenen Menschen, deren Gleichheit nur darin besteht, überhaupt einem Stand anzugehören und deren Freiheit sich darauf beschränkt, das Standesgemäße zu realisieren. Die eigentümliche Vermittlung von Relativismus des Subjekts des Maßes und Objektivität in der Aussage selbst in Protagoras‘ Satz vom Menschen als Maß der Dinge wird von Platon also gesamtgesellschaftlich vermittelt: Indem jeder das Seine tut, erkennt und schafft

5 6 7

Vgl. ebd. hier 178 D ff., S. 88 f. Vgl. ebd. hier 178 E, S. 89. Vgl. Platon (1993): Der Staat. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. V.). Hamburg. Hier 433 f., S. 154 f.

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er Gerechtigkeit für die Gesellschaft. So wenig wie der Systemtheorie8 gelingt es ihm aber, dem Menschen als eines Wesens, das sich zu dem machen kann und muss, das es sein will, trotz der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Gerechtigkeit, gerecht zu werden. Darüber hinaus fehlt beiden Ansätzen aber der Zugang zu einem zentralen Aspekt des Rechts. Recht ist auf Freiheit gegründet und soll Freiheit schützen9. Es umfasst daher den Menschen weder in seiner ganzen sozialen Existenz wie bei Platon noch schließt es ihn gänzlich aus und akzeptiert von ihm lediglich das losgelöste Abstraktum der kommunikativen Operationen10. Es könnte sich mithin herausstellen, dass zur Erkenntnis der Gerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat weder die erkenntnistheoretische Interpreta­ tion des Homo-Mensura-Satzes von der Subjektivität der praktischen Erkenntnis noch die ethische Interpretation des Menschen als Maßstabs ausreichend sind, sondern beide verbunden werden müssen: Wegen der Subjektivität der Erfahrung müssen diskursive Wege gefunden werden, damit begründete Entscheidungen darüber möglich sind, was Gerechtigkeit für den Menschen bedeutet. Immerhin legt es die platonische Auffassung der Gerechtigkeit nahe, einen institutionalisierten Aspekt von Gerechtigkeit von ihr als Tugend zu unterscheiden. Gerechtigkeit mag in unterschiedlichen sozialen Systemen Unterschiedliches bedeuten. Daher werden sich die folgenden Ausführungen auf den Aspekt der rechtlichen Gerechtigkeit konzentrieren. Ich werde also zunächst die rechtliche Form der Gerechtigkeit analysieren. Sodann werde ich Aspekte der Gerechtigkeit diskutieren und dabei die von den Sophisten angestoßene Diskussion von Freiheit und Gleichheit beleuchten. Ihre nicht befriedigenden Resultate mag der Fähigkeiten-Ansatz von Martha Nussbaum zu vermeiden, dem ich mich im dritten Teil zuwende. Die Grenzen ihres Ansatzes liegen in seiner Begründung. Hier setze ich mit der Kritik ihres Begriffes von Menschenwürde an und werde dabei im letzten Abschnitt auf Protagoras zurückkommen. Die Einführung der Würde des Menschen als sowohl materiales Prinzip als auch als 8

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Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Hier S. 81. „Die Antwort auf die Frage, welche Operationen das Recht als Recht produzieren, muß vorausgesetzt werden. Psychische Systeme beobachten das Recht, sie erzeugen es nicht, denn sonst bliebe es tief verschlossen in dem, was Hegel einmal die ‚finstere Innerlichkeit des Gedankens’ genannt hat. Deshalb ist es nicht möglich, psychische Systeme, Bewußtsein oder gar den ganzen Menschen für einen Teil oder auch nur für eine interne Komponente des Rechtssystems zu halten. Die Autopoiesis des Rechts kann nur über soziale Operationen realisiert werden.“ (Luhmann 1993, S. 48 f.). Vgl. Kirste, Stephan (2013a): The Human Right to Democracy as the Capstone of Law, in: Rocha, B.A.; Salgado, K.; Galuppo, M.C.: Human Rights, Democracy, Rule of Law and Contemporary Social Challenges in Complex Societies. Belo Horizonte, S. 103–120. Hier S. 103 ff. Luhmann nennt die Vorstellung, „dass eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe“ neben der Vorstellung, dass sie auf dem Konsens der Menschen beruhe, regional gegliedert und von außen beobachtbar sei, eine „Erkenntnisblockierung“ der modernen Sozialtheorie (Luhmann 1997, S. 24 f.).

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Grundlage von Verfahrensgerechtigkeit soll zudem ausschließen, dass unterschiedliche Bedeutungen von Gerechtigkeit in unterschiedlichen sozialen Systemen auch zu einer unterschiedlichen rechtlichen Behandlung des Menschen führen. II. Gerechtigkeit in der Form des Rechts

Die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist es, das positive Recht kritisch zu rekonstruieren. Hierzu analysiert sie zunächst als Theorie der Rechtswissenschaft die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Rechts. Als Rechtstheorie widmet sie sich sodann der Form des Rechts. Die Rechtsethik untersucht schließlich den inhaltlichen Beitrag des Rechts zur Gerechtigkeit11. Dabei ist die leitende Frage, was Gerechtigkeit in den gegenwärtigen Rechtssystemen bedeutet12. Die Rechtsphilosophie analysiert danach nicht Gerechtigkeit im Allgemeinen, oder deren religiöse oder moralische Auffassung. Diese Auffassungen von Gerechtigkeit werden nur insofern berücksichtigt, als sich das Recht selbst für ihre Transformation in rechtliche Normen öffnet. In dieser Perspektive soll Recht als ein System von Normen verstanden werden. Normen sind Sollenssätze. Sie setzen voraus, dass der Mensch zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen kann und leiten diese Wahl an. In ihren Regelungen eröffnen Normen Handlungsmöglichkeiten durch Erlaubnisse, beschränken Freiheit in Verboten und geben ihnen in Geboten eine Richtung. Die rechtlichen Normen unterscheiden sich von anderen darin, dass ihre Entstehung und Durchsetzung von anderen Normen geregelt ist13. So regelt die Verfassung etwa, unter welchen kompetenziellen, verfahrensmäßigen und inhaltlichen Voraussetzungen Gesetze zustande kommen dürfen. Entsprechend ist auch die Durchsetzung und gegebenenfalls Sanktionierung der Verletzung von Rechtsnormen durch entsprechende Verfahrensordnungen geregelt. Auf diese Weise bricht das Recht die unmittelbare Existenz von Fakten und die Geltung von Moral und lässt nur diejenigen Tatsachen rechtliche Wirkung und diejenigen Normen rechtliche Geltung erlangen, die die Voraussetzungen erfüllen, die das Recht selbst aufstellt. So schafft es zugleich einen Freiraum für Diskurse, in denen gesellschaftliche Machtfaktoren gefiltert und gerechte Regelungen diskutiert werden können. 11

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Zu einer deskriptiven Rechtsethik vgl. Kirste (2011), S. 241 ff.; das schließt eine externe, normative Ethik insbesondere als Teil einer praktischen Philosophie nicht aus. Zu einer derartigen normativen Ethik vgl. die verschiedenen Arbeiten von Von der Pfordten, insbes. Von der Pfordten (2010), S. 17 f. und 2011, S. 7 ff.; eine Rechtsphilosophie, die sich als Philosophie des juristischen Denkens versteht, wird jedoch zunächst mit der Rekonstruktion des normativen Gehalts in der Form des Rechts beginnen. Vgl. Kirste, Stephan (2010): Einführung in die Rechtsphilosophie (= Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Reihe: Einführung Philosophie). Darmstadt. Hier S. 110 ff. Vgl. ebd. hier S. 86.

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Auch Gerechtigkeit muss dieses Nadelöhr passieren, um zu rechtlicher Ge­ rechtigkeit zu werden. Wegen der gerade gezeigten reflexiven Struktur des Rechts ist die Form dieses Nadelöhrs selbst eine Frage der Gerechtigkeit. Die Rechtsform hat jedoch zur Folge, dass alle Normen, die dieser Form genügen, Recht sind. Das gilt auch für diejenigen Normen, die von einer moralischen Perspektive aus betrachtet in hohem Maße ungerecht sind: auch sie sind Recht und können rechtlich gelten14. Das schließt jedoch nicht aus, dass dieses Recht moralisch, religiös, politisch etc. kritisiert werden kann und so auf eine Modifikation der konkreten Rechtsform und der ihr gemäß ergangenen Regelungen hingewirkt wird. III. Die Gerechtigkeit des Rechts

Der formale Unterschied zwischen rechtlicher und anderen Formen der Gerechtigkeit bedeutet nicht, dass diese anderen Gerechtigkeitsdiskurse keinen Einfluss auf die Gerechtigkeit des Rechts gehabt hätten. Ihre Ergebnisse wurden vielmehr teilweise in das Recht transformiert. Die Erwähnung von Protagoras, Sokrates und Platon deutet bereits darauf hin, dass der philosophische Diskurs über Gerechtigkeit über 2500 Jahre andauert, sodass es nicht verwun14

Für manche Autoren und etwa auch die deutschen Gerichte gilt das nur bis zu einer Grenze, die nach der Radbruch’schen Formel markiert wird: Sobald ein „unerträgliches Maß“ an Ungerechtigkeit erreicht wird, hat nach der sog. Unerträglichkeitsformel das staatlich gesetzte Unrecht der Gerechtigkeit zu weichen, auch wenn dieses Unrecht den Wert der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit erfüllt. Nichtrecht ist eine Norm nach der Verleugnungsformel dann, wenn Gerechtigkeit gar nicht erstrebt wird: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen“ (Radbruch 1990, S. 89); dazu auch Funke (2003), S. 1 ff. Während die Verleugnungsformel unproblematisch ist, wenn man mit Radbruch die Bezogenheit auf Gerechtigkeit als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Recht akzeptiert und nicht auf einer formalen Grundnorm im Sinne von Hans Kelsen besteht, verwischt die „Unerträglichkeitsformel“ die formale Grenze von Rechtsnormen und anderen Normen. Man mag ein im moralischen Sinn ungerechtes Recht moralische Geltung absprechen; die rechtlichen Geltungskriterien festzulegen, ist Sache des positiven Rechts selbst.

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derlich ist, dass über ihren Begriff keine Einigkeit besteht. Moderne Rechtssysteme ziehen daraus verschiedene Konsequenzen: Einerseits enthalten sie Institutionen und Verfahren für die Diskussion und Entscheidung von Gerechtigkeitsfragen. In diesen Verfahren werden wesentliche Aspekte des Gerechtigkeitsdiskurses festgehalten oder weiteren gesetzgeberischen, verwaltungs­ mäßigen oder richterlichen Diskursen zur Konkretisierung überlassen. Versucht man den rechtsphilosophischen Gerechtigkeitsdiskurs grob zu ordnen, so bieten sich dabei durchaus auch heute noch Kategorien an, über deren Vereinbarkeit die Sophisten schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert debattiert haben. Zwischen ihnen entspann sich nämlich ein Streit, ob es natürliche oder nur gesetzliche Gerechtigkeit gebe und ob sie Freiheit oder Gleichheit bedeute15. Da sie der Auffassung waren, dass das Recht nicht mehr im Sinne des guten alten Rechts etwas von alters her durch göttliche Stiftung Überkommenes sei, sondern vom Menschen hergestellt würde, war die Frage, ob es für Fehler bei der Schaffung des Rechts einen dem menschlichen Handeln entzogenen Maßstab geben könne oder ob nicht alle Maßstäblichkeit dem vom Menschen selbst gesetzten Recht entnommen werden müsse. Teilweise quer dazu diskutierten sie darüber, ob Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren bedeute und somit seine Freiheit schütze oder ob es die Gleichheit aller Menschen sicherstellen solle16. 1. Natürliche oder gesetzliche Gerechtigkeit

Wenden wir uns zunächst einigen Eckpunkten der Diskussion um die Form der Gerechtigkeit zu. Sie betrifft die Frage, wie sich der Tugendbegriff der Gerechtigkeit zu ihrer positiv-rechtlich institutionalisierten Form verhält. Platon war in seinen früheren Werken bekanntlich noch der Überzeugung, dass die Gerechtigkeit der Seele17 und insbesondere des Politikers wichtiger sei als diejenige des Rechts18. Bezeichnenderweise legte er jedoch in den Nomoi mehr Aufmerksamkeit auf die Gerechtigkeit der Gesetze19. Aristoteles integrierte den Aspekt der Gerechtigkeit als Tugend und den institutionalisierten Aspekt, indem er 15 16 17 18 19

Vgl. Kirste, Stephan (2010): Einführung in die Rechtsphilosophie (= Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Reihe: Einführung Philosophie). Darmstadt. Hier S. 112 ff. Vgl. Kirste, Stephan (2002): Einleitung, in: Kirste, Stephan; Waechter, Kay; Walther, Manfred (Hrsg.): Die Sophistik – Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht. Stuttgart, S. 7–16. Hier S. 7 ff. Vgl. Platon (1993): Der Staat. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. V.). Hamburg. Hier 353e: „Tüchtigkeit der Seele und Ungerechtigkeit dagegen ihre Schlechtigkeit“. Vgl. Platon (1993): Politikos oder vom Staatsmann. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. VI.). Hamburg. Hier 294 a–c. Vgl. Platon (1993): Gesetze. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. VII.). Hamburg. Hier wird es zwar weiterhin als erstrebenswert bezeichnet wird, dass ein einsichtsvoller, weiser Mensch den Staat regiere, einen solchen aber zu finden als kaum realistisch angesehen und deshalb dem Gesetz als der zweitbesten Lösung, das

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die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn als gleichbedeutend mit der auf andere Menschen bezogenen Tugend ansah20 und die besondere Gerechtigkeit durch die Institutionen des unter gleichberechtigten Partnern geschlossenen Vertrages (arithmetische Gerechtigkeit) und der Gerechtigkeit innerhalb eines Gemeinwesens zwischen den Regierenden und den Bürgern als distributive Gerechtigkeit verstand21. Durch die Herrschaft des Gesetzes sowie durch seine Allgemeinheit wird auch eine gewisse Gleichheit und damit Gerechtigkeit erzielt22. Im Mittelalter war Thomas von Aquin der Auffassung, dass eine Maßnahme nur dann Recht genannt werden könne, wenn sie Ausdruck der Gerechtigkeit sei. Dieses Verhältnis kehrt Thomas Hobbes um: „Wo keine öffentliche Macht ist, gibt es kein Gesetz, wo kein Gesetz ist, gibt es keine Ungerechtigkeit.“23 Die öffentliche Gewalt als Grundlage der Gerechtigkeit ist wiederum auf den Unterwerfungsvertrag gegründet. Damit gelangen auch die prozeduralen Aspekte starker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Immanuel Kant greift diesen Hobbes’schen Gedanken durchaus auf, verbindet ihn aber mit Locke’schen Theorieelementen. Recht ist für ihn die Ordnung gleicher Freiheitsräume durch ein allgemeines Gesetz der Freiheit24. Diese Frei­ räume dienen den Menschen zur Realisierung ihrer Freiheitspotentiale. Frei sind sie dann, wenn sie kraft ihrer praktischen Vernunft in der Lage sind, das Sittengesetz des kategorischen Imperativs zu erkennen und entsprechend zu handeln. Damit das Unvermögen einiger nicht die Entfaltung dieser Freiheitspotentiale durch andere verhindert, grenzt das Recht die äußeren Freiheitssphären gegeneinander ab. Auf dieses Recht wendet Kant nun die überkommene aris­totelische Gerechtigkeitskonzeption an. Dabei ist das durch Eigentum und Verträge gekennzeichnete Zivilrecht durch das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit gekennzeichnet. Das Privatrecht ist jedoch unvollkommen. Vollständig realisiert sich das Recht erst dann, wenn auch die austeilende Gerechtigkeit institutionalisiert ist. Die Transformation der natürlichen ausgleichenden in eine distributive Gerechtigkeit, wird von ihm als Gebot bezeichnet. Das ist erst in der Republik der Fall. Die Republik mit ihrem öffentlichen Recht realisiert

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zwar nicht alles und jedes berücksichtigt aber doch vieles und das regelmäßig Auftretende, notgedrungen der Vorzug eingeräumt wird. Vgl. Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes. Hrsg. v. G. Bien. Hamburg. Hier V, 3, 1129b 28. Ebd. hier V, 7, 1132a3. Vgl. ebd. hier V, 14, 1137b 14 f. Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan XIII, S. 98 und XV, S. 120: „Aber wenn ein Vertrag geschlossen ist, dann ist es ungerecht, ihn zu brechen; und die Definition der Ungerechtigkeit ist nichts anderes als die Nichterfüllung von Verträgen. Und was nicht ungerecht ist, ist gerecht“. Vgl. Kant, Immanuel (MS) (1982): Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Immanuel Kant Werkausgabe, Bd. VIII. Hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt am Main, S. 305–499. Hier AB 33, S. 337: Recht ist der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.

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erst vollständig die Gerechtigkeit auf nationaler Ebene25. Kants zeigt so, dass Gerechtigkeit nicht nur eine externe Anforderung an das Recht darstellt, sondern zugleich eine Voraussetzung der Institutionalisierung des Rechts ist. Ohne arithmetische Gerechtigkeit gäbe es kein Privatrecht und ohne austeilende Gerechtigkeit gäbe es kein öffentliches Recht, sodass die ganze Verfassung des Rechts unvollständig wäre. Diese Unvollständigkeit besteht weiterhin auf der Ebene des Völkerrechts. Der metaphysische Hintergrund dieser Theorie der Gerechtigkeit ist jedoch im 20. Jahrhundert kritisiert worden26, insbesondere auch durch John Rawls. Statt materiale Gehalte der Gerechtigkeit vorauszusetzen, will er Institutionen so gestalten, dass sie nicht nur Ausdruck von Gerechtigkeit sind, sondern auch selbst Gerechtigkeit hervorbringen. Das ist der Grund dafür, dass nach der Gerechtigkeit gefragt werden kann, die das Recht hervorbringt. Obwohl die Theologie weiterhin mit dem Begriff des Naturrechts und einer entsprechenden Gerechtigkeitskonzeption arbeitet und die Ethik Gerechtigkeit auch als eine Tugend behandeln kann, ist rechtliche Gerechtigkeit institutionalisierte Gerechtigkeit. Das Recht trägt schon durch seine allgemeine Form zur Gerechtigkeit bei27. Es kann auch durch sein Verfahren zu gerechten Ergebnis führen, wenn die rechtlichen Prozesse selbst wiederum hierfür etablierte Grundsätze der Gerechtigkeit berücksichtigen wie etwa die gleiche Einflussmöglichkeit der Parteien auf die Entscheidung, die Notwendigkeit, vor einer Entscheidung auch die andere Seite zu hören („audiatur et altera pars“), die Unabhängigkeit des Richters und das Verbot, Richter in eigener Sache zu sein („nemo est iudex in causa sua“). Sie sichern den Prozessbeteiligten gleiche Einflussmöglichkeiten 25

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Ebd. S. 423: „Der nicht-rechtliche Zustand, d.i. derjenige, in welchem keine austeilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand …, der ein künstlicher (status artificialis) heißen könnte, sondern der bürgerliche (status civilis) einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft entgegen gesetzt… Man kann den ersteren und zweiten Zustand den des Privatrechts, den letzteren und dritten aber den des öffentlichen Rechts nennen“. Etwa durch den Wertskeptizismus eines Hans Kelsen, der von der Nichterkennbarkeit der Gerechtigkeit ausgeht und daher auch den Streit zwischen Gerechtigkeitsvorstellungen für nicht entscheidbar hält, vgl. Kelsen (2000), S. 16 f. und 43: „[I]ch weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist“. „… ein Minimum an Gerechtigkeit wird notwendigerweise immer dann verwirklicht, wenn menschliches Verhalten durch allgemeine Normen kontrolliert wird, die öffentlich verkündet und von den Gerichten angewendet werden. Die Idee der Gerechtigkeit in ihrer einfachsten Form (Gerechtigkeit bei der Rechtsanwendung) verlangt lediglich, den Gedanken ernstzunehmen, dass es ein und dieselben allgemeinen Regeln sind, die unbeeinflußt von Vorurteilen, Interessen und Launen auf eine Vielzahl verschiedener Personen angewendet werden sollen… Dem widerspricht nicht, dass man auch solche Normen in gerechter Weise anwenden kann, die äußerst verwerflich sind.“ (Hart 1987, S. 69)

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auf das Verfahrensergebnis, damit sie diesem nicht unterworfen sind, ohne angemessenen Anteil an ihm gehabt zu haben. Rechtliche Gerechtigkeit kann nur aus gerechten Verfahren hervorgehen. 2. Freiheit oder Gleichheit

Wenn der Mensch wirklich das Maß der Dinge und mithin auch der Gerechtigkeit ist, wie Protagoras nahelegt, welches Attribut des Menschen könnte maßstabsbildend sein? Die bereits erwähnten Sophisten stritten darüber, ob Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren und damit ein Schutz von Freiheit sei oder Gleichheit bedeutete. Kallikles fragte schon, ob es nicht natürlich sei, dass der Stärkere und talentiertere Mensch mehr Rechte haben solle als ein Schwacher28. Dem stand etwa Antiphon entgegen, der die Auffassung vertrat, alle Menschen seien von Natur gleich – auch die Barbaren29. Der Grund dafür liege in der gleichen Bedürfnisstruktur. Spätere Sophisten wie Sextus Empiricus hingegen waren skeptisch gegenüber derartig extremen Annahmen und trauten eher Kompromissen, die von Rhetoren ausgehandelt wurden. Mithin vertraten sie einen prozeduralen und institutionellen Ansatz der Gerechtigkeit. Damit trat wieder das Handeln des Menschen selbst ins Zentrum der Begründung der Gerechtigkeit. Die Geschichte der Gerechtigkeitsdebatte seither kann und soll hier nicht nachgezeichnet werden. Es sollte daran erinnert werden, dass die gegenwärtige Debatte zwischen Liberalisten und Egalitaristen antike Vorläufer gleich zu Beginn der Entwicklung der Gerechtigkeitstheorien besaß. Für den Vorrang der Freiheit vor der Gleichheit in der Gerechtigkeitsdebatte streiten heute liberale Denker wie Robert Nozick oder Friedrich August von Hayek. Ihnen ist Freiheit das zentrale Kriterium der Gerechtigkeit30. Auf dem Markt der sich frei einigenden 28

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Fragment 1 aus: Platon, Gorgias, in: Die Vorsokratiker (1968), hrsg. von Wilhelm Capelle. Stuttgart. Hier S. 353 f.: „Doch die Natur selber offenbart ja, dass es gerecht ist, dass der tüchtigere Mann mehr hat als der weniger tüchtige und der stärkere mehr als der schwächere“. Hierzu gehört auch Thrasymachos, der die freie Entfaltung der Kräfte des Menschen propagiert. Vgl. Unruh, Christoph (2002): Die Gleichheit des Menschen bei Antiphon dem Sophisten, in: Kirste, Stephan; Waechter, Kay; Walther, Manfred (Hrsg.): Die Sophistik. Stuttgart, S. 59–83. Daraus folgte die mutige Folgerung, die allerdings erst Alkidamas etwas später formuliert hat: „Als Freie hat Gott alle entsandt, niemanden hat die Natur als Sklaven geschaffen“ (Aristoteles: Rhetorik 1 13, 1373b 18). Für eine starke Umverteilung im Interesse der Gleichheit treten etwa Phaleas von Chalkedon und Hippodamos ein. Rechtsstaatliche Gleichheit ist nach Lykophron Folge der Gesetzesherrschaft. Sie ist nach dem Anonymus Iamblichi am ehesten in der Lage, jedem das Seine zu gewähren – Gerechtigkeit durch Recht. Vgl. Kersting, Wolfgang (2000): Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Stuttgart. Hier S.  48: „Im Mittelpunkt der Gerechtigkeitstheorie des libertarianism steht maximale Handlungsfreiheit, die am besten durch den klassischen Anspruch auf den ungeschmälerten Besitz der direkten und indirekten Früchte der eigenen Arbeit, eigener Anstrengungen ausgedrückt wird …“.

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Privatrechtssubjekte wird die gerechteste Güterallokation erreicht. Verteilungsgerechtigkeit geht bei Nozick folglich auch nicht von einem den Individuen übergeordneten Staat als Akteur aus, sondern von den Individuen selbst, die in freiwillige Austauschbeziehungen eintreten. Der Staat beschränkt sich auf die Garantie der formal verstandenen Rechtsgleichheit. Nur ein Minimalstaat, der für Sicherheit und Frieden sorgt, ist danach gerechtfertigt. Eine Umverteilung findet nicht statt. Wenn andere Theorien Anti-Diskriminierung und Umverteilung in den Vordergrund stellen, wird Gleichheit zum zentralen Kriterium der Gerechtigkeit31. Dabei entfaltet sich das Spektrum der Egalitaristen zwischen Positionen, die eine strikte Ergebnisgleichheit fordern und solchen, die zwar eine Gleichheit der Ressourcen verlangen, auf dieser Basis jedoch eine durch unterschiedliche Freiheitsbetätigung hervorgerufene Ungleichheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse zulassen32. Ronald Dworkin lässt eines seiner Werke über Gerechtigkeit mit den Worten beginnen: „Equality is the endangered species of political ideals“33 und fährt fort34: „Equal concern and respect“ seien die beiden Elemente der Gerechtigkeit. Seine Theorie zielt auf eine Gleichheit der Ressourcen, die dem Hauptziel der Gerechtigkeit, der Entfaltung der Individua­lität dienen soll. Auch die Freiheit soll ihren Grund in der Gleichheit haben35. Darin unter anderem unterscheidet sich seine Theorie der Gleichheit und Gerechtigkeit von sozialistischen Konzeptionen. Auch hebt er die Verantwortung des Einzelnen für die Realisierung seiner Fähigkeiten hervor. Nur diejenigen Risiken, für die der Einzelne nicht verantwortlich ist und die er nicht vermeiden kann, können Gegenstand von Umverteilung sein. Dworkin berücksichtigt also Freiheit; im Konfliktfall mit der Gleichheit verliert sie jedoch: „Any genuine conflict between liberty and equality – any conflict between liberty and the requirements of the best conception of the abstract egalitarian principle – is a contest that liberty must lose.“36 Liberalisten und Egalitaristen erkennen zwar zentrale Aspekte der Gerechtigkeit, gewichten jedoch den jeweiligen Gesichtspunkt zu stark und verkennen den gemeinsamen Bezugspunkt beider Prinzipien. Wenn rechtliche Gerechtig31

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Vgl. Parfit, Derek (2000): Gleichheit und Vorrangigkeit, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit, Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main, S. 81–106. Hier S. 86: „Für eine wirklich egalitaristische Position hat Gleichheit intrinsischen Wert, ist Gleichheit an sich gut… Dem Egalitarismus geht es um Relationen, darum, auf welchem Niveau im Vergleich zu anderen sich eine jede Person befindet“. Vgl. Zum Begriff der egalitaristischen Gerechtigkeit: Krebs, Angelika (2000): Einleitung: Die neue Egalitarismuskritik im Überblick. In: dies. (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit, Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main. Hier S. 10 f. Dworkin, Ronald (2000): Sovereign Virtue. Cambridge/Mass. Hier S. 1. Vgl. ebd. hier S. 181. „When we declare our faith of liberty, we are only affirming the form in which we embrace equality, only declaring, that is, what is meant by it.“ (Ebd. hier S. 182) Ebd. hier S. 130.

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keit Freiheit bedeutete, könnten Liberalisten rechtfertigen, dass der Stärkere, Talentiertere mehr und der Schwächere, weniger Befähigte weniger Rechte hätte. Das Problem der sozialen und auch der rechtlichen Exklusion könnte so nicht bewältigt werden. Insbesondere könnten diese Theorien nicht verhindern, dass der Schwächere rechtlich unfähig ist, von seinen Rechten Gebrauch zu machen, so dass seine private und politische Autonomie gefährdet wären. Langzeitarbeitslose und behinderte Personen mögen in eine Situation geraten, in der sie bereit sind, jeden Vertrag abzuschließen und nicht nur einen, den sie aus Freiheit abschließen würden. Im Extremfall hätten sie für Verträge zu wenig zu bieten, um den Abschluss für Arbeitgeber attraktiv zu machen. Ohne eine gewisse Umverteilung, die ihre Freiheitsdefizite kompensieren würde, hätten sie mithin keine wirkliche rechtliche Freiheit. Auf der anderen Seite würde ein radikales Abstellen auf Gleichheit nicht nur der Lebenschancen, sondern auch der Lebenslagen die individuelle Selbstbestimmung und die Entfaltung der menschlichen Potentiale gefährden. Kontrahierungszwänge, Schutzrechte können die Abschlussfreiheit des Schwächeren bei der Eingehung von Verträgen stärken; diejenige des sozial Stärkeren jedoch schwächen. Beide Theorien der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als unbeschränkte Freiheit und Gerechtigkeit als unbeschränkte Gleichheit – bringen die Gefahr, den Einzelnen zum Objekt der Gerechtigkeit zu machen. Die Theorie von Gerechtigkeit als Freiheit unterwirft Behinderte und Schwache der Wohlstandsoptimierung der Stärkeren; das Modell der Gerechtigkeit als Gleichheit behandelt die Schuldner der Umverteilung und noch mehr der Antidiskriminierung als Mittel für objektivistische Ziele. Nur: Alles was der Einzelne zu verantworten hat, rechtfertigt eine Ungleichheit, sofern ihm die Beseitigung möglich ist. Maßnahmen zur Beseitigung von Diskriminierungen, die sich auf ererbte oder nicht änderbare Nachteile beziehen, sind danach gerechtfertigt. Auch derjenige, der sich etwa durch einen Unfall bei einer gefährlichen Sportart erwerbsunfähig gemacht hat und dafür nicht vorsorgen konnte, hat einen Anspruch auf Leistungen, die ihn befähigen, wieder am Rechtsverkehr teilzunehmen. Macht man Menschen jedoch gleich, obwohl sie durch den Gebrauch ihrer Freiheit mehr erreicht haben als andere, greift man in ihre Freiheit ein. Gesichtspunkte der Gerechtigkeit können diesen Eingriff zur Herstellung von Chancengleichheit rechtfertigen. Doch wie weit reicht diese Rechtfertigung? Ist es auch gerechtfertigt, benachteiligte Menschen gleichzustellen, obwohl sie sich dank ihrer Freiheit selbst helfen können? Egalitaristische Theorien können zu einer Entmündigung der Bürger führen, weil sie die Freiheit vernachlässigen, die Grundlage der Mündigkeit ist37. John Rawls hatte versucht, diese Einseitigkeiten zu vermeiden und zudem Freiheit und Gleichheit in ein Konzept der Verfahrensgerechtigkeit einzubinden. Würden bei der Gestaltung der Ausgangsbedingungen des Verfahrens zur 37

Vgl. Anderson, Elizabeth S. (2000): Warum eigentlich Gleichheit?, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main, S. 117–171. Hier S. 124.

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Bestimmung der grundlegenden Gerechtigkeit die Kenntnisse über persönliche Ungleichheiten ausgeblendet, würden sich rationale Egoisten auf zwei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen38. Der erste sichert ein System gleicher Freiheiten. Der zweite soll garantieren, dass die daraus entstehenden Ungleichheiten zu jedermanns Vorteil gereichen und jedermann gleichen Zugang zur Konkretisierung zu diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen erhält39. Bereits die lexikalische Ordnung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze bei Rawls stellt einen Versuch dar, die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auszugleichen und zudem noch den prozeduralen Aspekt der Gerechtigkeit zu berücksichtigen. Wenn jedoch Gerechtigkeit weder Freiheit noch Gleichheit ist, bleibt die Frage, wie viel Gleichheit und wieviel Freiheit gerecht sind. Immanuel Kant hatte schon früher einen Ansatz für die Vermittlung dieser beiden Aspekte vorgelegt. Danach sind der Schutz der gleichen Freiheit und des prozeduralen Aspekts der distributiven Gerechtigkeit in der gleichen Freiheitsfähigkeit des Menschen begründet. Zu Beginn seiner Rechtstheorie vereint er Freiheits- und Gleichheitsaspekt der Gerechtigkeit und bezieht sie auf die Würde des Menschen. Dem römischen Kaiser und Juristen Ulpian40 folgend, unterscheidet er drei grundlegende rechtliche Pflichten: 1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‘. In der Selbstzwecklichkeit aber liegt die Würde des Menschen begründet. 2) Tue niemanden Unrecht (neminem laede). 3) Tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue) … Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann« (lex iustitiae).41 Kant bringt damit die Menschenwürde mit der Forderung zusammen, mit anderen in Rechtsverhältnisse zwischen freien Subjekten zu treten. Das Privat38 39

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Vgl. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt. Hier S. 29 und 159 f. Vgl. ebd. hier S. 81: „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ Inst. 1, 1 pr., und Ulpian D 1, 1, 20 pr. Auch Cicero greift diesen Gedanken auf, versteht aber den Würdeaspekt noch ganz objektiv im Sinne der „Menschheit“: „[D]ie Gerechtigkeit … schreibt vor, alle zu schonen, für das ganze Menschengeschlecht zu sorgen, jedem das Seine zukommen zu lassen, Gottgeweihtes, Öffentliches, Fremdes nicht anzutasten.“ (Cicero, Staat, III, 15, S. 241 f).

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rechtsverhältnis ist sodann durch die ausgleichende Gerechtigkeit, das öffentlich-rechtliche Verhältnis durch die austeilende Gerechtigkeit gekennzeichnet. Die Würde des Menschen ist danach die Grundlage sowohl der Rechtsform und der Stellung des Menschen in dieser als auch der Gerechtigkeit ihrer Regelungen. Auf dieser Grundlage bestimmt Kant das angeborene, also aller positiven Gesetzgebung – und auch völkerrechtlicher Anerkennung – vorausliegende ursprüngliche Recht als „ein einziges“: Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen Kraft seiner Menschheit zustehende Recht.42 Freiheit ist nach Kant das Recht, das seinen Grund in der Menschheit in der Person des Menschen besitzt. Hieraus folgt dann die „angeborne Gleichheit“. Sie besteht darin, gleiche Freiheitsrechte zu haben, insbesondere sein eigener Herr zu sein. Dazu gehört auch das Recht, nicht Verpflichtungen unterworfen zu sein, denen der dadurch Berechtigte nicht grundsätzlich auch unterworfen werden könnte. Liegt auch der Schwerpunkt dieser gleichen Freiheitsrechte auf der Unabhängigkeit, also der negativen Freiheit, so bringt das letztgenannte Recht doch zugleich einen Aspekt der Partizipation zum Ausdruck. Ausdrücklich sagt Kant, dass für die Geltung des ursprünglichen Rechts der Freiheit kein Akt der Anerkennung erforderlich ist. Es handelt sich mithin um ein natürliches Recht. Wenn aber Erkenntnis und Anerkenntnis der Menschheit in jedem Menschen zweifelhaft geworden sind – in der Theorie wie in der sozialen Praxis – dann bedarf die Sicherung dieses ursprünglichen Rechts einer ausdrücklichen Anerkennung und Bekräftigung. Die Anerkennung der Menschheit in der Person des Einzelnen wird dann selbst zum subjektiven Recht. Die naturrechtliche Forderung der Anerkennung des aus der Würde des Menschen entspringenden Rechts erhält dann eine positivrechtliche Form43. Die Würde des Menschen ist also nach Kant die Grundlage der Gerechtigkeit von Personen, die sich als Freie und Gleiche anerkennen, sich auf dieser Basis gegenseitig nicht verletzen und in einen Staat der austeilenden Gerechtigkeit eintreten44. 42 43

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Kant, Immanuel (1982): Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Immanuel Kant Werkausgabe, Bd. VIII. Hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt am Main, S. 305–499. Hier AB 44/46 f., S. 345. Deshalb ist auch die Würde des Menschen nicht selbst das Recht auf Freiheit, sondern das vorausliegende Recht auf Anerkennung der Freiheitsfähigkeit eines jeden Menschen. Darin unterscheidet sich meine Auffassung der Menschenwürde von derjenigen Jakls (2013, S. 101). Obwohl bei ihm die Würde aus der Gerechtigkeit und nicht umgekehrt folgt: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann“ (Rawls 1975, S. 20).

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IV. Der Fähigkeitenansatz

An Rawls anknüpfend ist in der Gegenwart besonders der Fähigkeitsansatz der Gerechitgkeit von Amartya Sen45 und Martha Nussbaum darum bemüht, auf die Frage des Ausgleichs von Freiheit und Gleichheit innerhalb der Gerechtigkeit eine Antwort auf der Basis der Menschenwürde zu finden. In ihrem Buch Die Grenzen der Gerechtigkeit kritisiert Martha Nussbaum die Vertragstheorien der Gerechtigkeit, weil sie behinderte Menschen und arme Angehörige eines Staates der Dritten Welt sowie Tiere aus dem Reich der Gerechtigkeit ausschließen46. Dieser Ausschluss ist nicht eine reine Nachlässigkeit – Rawls berücksichtigt diese Gruppen sogar –, sondern folgt aus den Prämissen der Vertragsgerechtigkeit. Ihrer Auffassung nach verbindet der Rawlsianische Kontraktualismus die Hume’sche Theorie der gerechten Ausgangsbedingungen mit der Locke’schen Theorie des Sozialvertrages als Fundament einer institutionellen Gerechtigkeit und einem Kantischen Konzept der menschlichen Person in einer unheiligen Allianz. Insbesondere nimmt Rawls an, dass der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag als Basis der sozialen Gerechtigkeit wechselseitige Vorteile bringen solle, ohne die niemand die entsprechenden Verpflichtungen eingehen und sie in einer dauerhaften Kooperation befolgen würde47. Diese Annahme mache jedoch Verträge mit Schwerbehinderten, armen Angehörigen von Dritte-Welt-Ländern, die in einem Vertrag nichts anzubieten haben, unmöglich48. Behinderte, Angehörige armer Staaten und Tiere werden von Rawls nicht völlig ausgeklammert, auch für sie soll es Kriterien des Wohlverhaltens geben. Sie sind aber nicht an der primären Vertragskonstruktion beteiligt, da sie nicht zur Gruppe derjenigen Menschen gehören, „für die und in wechselseitiger Beziehung mit der diese Institutionen aufgebaut werden“49. Es gibt allenfalls (materiale) Gerechtigkeit für sie, nicht jedoch (prozedurale) mit ihnen. Die Kantische Konzeption der Würde beruhe auf einer Theorie der Rationalität des Menschen, die einerseits notwendig sei, um überhaupt Verträge schließen zu können, die jedoch jedenfalls geistig Behinderte und „nicht-menschliche Tiere“ ausschließe50. Nussbaum nimmt an, dass das zugrundeliegende Konzept der Gerechtigkeit die Würde des menschlichen Lebens sein müsse51. Sie legt einen Begriff 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. Sen, Amartya (2010): Die Idee der Gerechtigkeit. München. Hier S. 253 ff. Vgl. Nussbaum, Martha Craven (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Hier S. 14 f. Vgl. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt. Hier S. 133. Vgl. Nussbaum, Martha Craven (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Hier S. 34 f. Ebd. hier S. 142. Ebd. hier S. 42 f. Ebd. hier S. 227: „Die Leitidee ist daher nicht die der Würde selbst – als ob man diese von den Fähigkeiten, ein Leben zu leben, abtrennen könnte -, sondern vielmehr die eines Lebens in Würde bzw. eines menschenwürdigen Lebens, wobei dieses Leben zumindest

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der Person zugrunde, demzufolge „Menschen verletzliche und zeitgebundene Wesen [sind, SK], die Fähigkeiten und Bedürfnisse haben, durch vielfältige Behinderungen ‚einer Totalität der menschlichen Lebensführung bedürftig‘ sind“ (Rawls)52. Nussbaum geht also nicht vom Kantischen Begriff der Würde des Menschen, sondern vom marxistischen und aristotelischen Begriff der würdigen Existenz bzw. der menschenwürdigen Lebensbedingungen aus53. Dennoch will sie an der Selbstzwecklichkeit des Menschen festhalten54, verrät aber nicht, wie sie begründet werden soll, wenn dazu Vernunft- und Freiheitsfähigkeit ausfallen. Die Bedürftigkeit des Menschen führt Nussbaum nicht zur Annahme seiner Unfreiheit. Da sie ihn jedoch als „menschliches Tier“ versteht, ist auch die Eigenschaft der Freiheit nicht auf ihn beschränkt: „Der Fähigkeitenansatz betont die tierischen und materiellen Grundlagen der menschlichen Freiheit und nimmt außerdem von einer größeren Anzahl von Lebewesen an, daß sie zur Freiheit fähig sind“55. Das menschenwürdige Leben setzt die Erfüllung einiger Bedürfnisse und die Gewährleistung bestimmter Fähigkeiten voraus. Fähigkeiten seien „elementare Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger … als notwendige Bedingungen für ein achtbares und menschenwürdiges Leben“56. Auf der Basis dieser Annahme erarbeitet sie eine Liste von elementaren Fähigkeiten, die Gerechtigkeit schützen soll57: Leben, Gesundheit, körperliche Integrität, die Fähigkeit Vorstellungen und Gedanken zu haben, Emotionen zu entwickeln, praktische Vernunft, Zugehörigkeit, die Fähigkeit zu spielen und seine Umwelt zu kontrollieren. Sie nimmt an, dass die Liste dieser Fähigkeiten als Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens ist nicht abgeschlossen. Fraglich ist jedoch, wie bestimmt werden kann, welche Fähigkeiten so elementar sind, dass sie für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind und auf die Liste gehören. Es fehlt ein Kriterium, aufgrund dessen die entsprechende Fähigkeit ein notwendiger Aspekt des menschenwürdigen Lebens ist. Was ist die Fähigkeit, die allen von Nussbaum aufgelisteten Fähigkeiten, sofern sie Eigenschaften des Menschen sind, zugrunde liegt? Beim Leben kommt es

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teilweise durch den Besitz der auf der Liste zusammengestellten Fähigkeiten konstituiert wird“. Ebd. hier S. 307. Vgl. auch ebd. hier S. 224, 127: „Der aristotelischen Sichtweise zufolge ist der Mensch ein ‚politisches Tier‘, also nicht nur ein moralisches und politisches Wesen, sondern ein Wesen mit dem Körper eines Tieres, dessen Menschenwürde seiner tierischen Natur nicht entgegengesetzt, sondern dieser Natur und ihrer zeitlichen Entwicklungsbahn im Gegenteil inhärent ist“. Nussbaum schwankt hier ein wenig. Während sie einerseits auf die Vernunftfähigkeit als Grundlage der Würde des Menschen verzichten will (ebd., S. 143), meint sie an anderen Stellen, dass die „Würde sich nicht vollständig aus einer idealisierten Vernunft ableiten läßt“ (ebd., S. 134), also offenbar doch jedenfalls teilweise. Ebd. hier S. 183. Ebd. hier S. 129. Ebd. hier S. 229 f. und 233. Vgl. ebd. hier S. 112 f.

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auch Nussbaum nicht auf das bloße Funktionieren eines beliebigen Körpers an; vielmehr geht es ihr um den individuellen menschlichen Körper. Individuell ist dieser Körper jedoch nicht deshalb, weil er nicht dieselbe Stelle im Raum einnimmt wie andere, sondern dadurch, dass der einzelne Mensch über ihn verfügen kann. So ist es die autonome Verfügung über diesen Körper, die zu schützen und zu fördern ist. Das schließt die Achtung der Entscheidung gegen das Leben als negative Freiheit ein. – Was der Mensch für sich als gesund ansieht, steht nicht objektiv fest. Anhänger von Naturheilverfahren, anthroposophischer oder chinesischer Medizin werden einen anderen Begriff von Gesundheit haben als stärker naturwissenschaftlich orientierte Menschen. Es kommt somit auch bei der Gesundheit auf die Autonomie in Bezug auf die Bestimmung der Gesundheit an. – Die Fähigkeit, sich Vorstellungen von der Welt zu bilden, setzt die Fähigkeit voraus, sich überhaupt selbständig Vorstellungen machen zu können, das heißt insbesondere von Indoktrination frei zu sein. Auch hier steht die Freiheit im Zentrum der Fähigkeit. – Gefühle sollen nicht aufgrund von fremdgesteuerten Ängsten, sondern durch die sympathische Beziehung einer Person auf ihre Vorstellungen von der Welt entstehen können. Wiederum geht es um ein Moment der Freiheit. – Da die Vorstellung vom Guten ein Spezialfall der Vorstellungsbildung ist und diese auf der freien Konkretisierung von Begriffen anhand von Wahrnehmungen besteht, liegt auch hier die Freiheit zugrunde. – Anteilnahme, Zugehörigkeit, Kontrolle der Umwelt, insbesondere auch der Gemeinschaften, in denen man lebt, sind Ausdruck der aktiven Freiheit bzw. der privaten und politischen Autonomie des Menschen. – Dass das Spiel der genuin menschliche Ausdruck von Freiheit ist, hat Schiller in seinen Ästhetischen Briefen gezeigt58. Nussbaum spricht auch vom „elementaren Gut der Selbstachtung“59. Das Selbst ist aber nicht es selbst, wenn es von einem anderen – fremdbestimmt – hervorgebracht wird. Auch die Achtung vor sich selbst ist die primäre Selbstachtung, die dann die Grundlage für die Achtung des Selbsts durch andere ist. Mithin setzt also auch diese Fähigkeit der Freiheit voraus. Allen Fähigkeiten liegt die Fähigkeit zur Freiheit zugrunde. Freiheit meint als negative Freiheit Unabhängigkeit der Ausbildung und Realisierung der genannten Fähigkeiten von Beeinträchtigungen. Aufgrund der positiven Freiheit erkennt und bestimmt der Mensch sich selbst und bildet und entwickelt seine Fähigkeiten. Diese positive Dimension der Freiheit gliedert sich in die private und die politische Autonomie. Da nun aber die Realisierung dieser Fähigkeiten durch äußere biologische und soziale Faktoren behindert und beschränkt sein kann, richtet sich die Forderung von Achtung und Schutz dieser Fähigkeiten 58

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Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Brief 15: „Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, dass unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“ Nussbaum, Martha Craven (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Hier S. 236.

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auf die Entfaltung der Freiheitspotentiale des Menschen60. Bei behinderten Menschen wird die Realisierung dieses Potentials durch ihre körperliche oder psychische Konstitution verhindert. Ebenso haben etwa die Bewohner Brasilianischer Favelas oder andere sehr arme Menschen in Dritte-Welt-Ländern dieses Potential, können es jedoch nicht realisieren, da ihr einziges Interesse ist, überhaupt zu überleben und sich gegenüber permanenter Bedrohung durch Gewalt oder Unterversorgung zu schützen. Mit anderen Worten gibt es körperliche und geistige Hürden und gesellschaftliche Situationen, die die Entfaltung der Freiheitspotentiale verhindern. Auf der Suche nach einem vermittelnden Prinzip von Freiheit und Gleichheit haben mithin Kant, Rawls und Nussbaum mit freilich unterschiedlichen Bedeutungsgehalten das Prinzip der Würde des Menschen angeführt. Bei Nussbaum konnte gezeigt werden, dass das gemeinsame Prinzip derjenigen Fähigkeiten, deren Schutz und Förderung für ein menschenwürdiges Leben erforderlich sind, die Freiheitsfähigkeit des Menschen ist. Mithin liegt sowohl bei Kant als auch bei Nussbaum die Fähigkeit des Menschen zur Freiheit – mit unterschiedlichem Verständnis – der Würde des Menschen zugrunde. V. Gerechtigkeit als menschenwürdiges Verhältnis von Freiheit und Gleichheit

Wie kann nun der Begriff der Würde des Menschen für das Verständnis rechtlicher Gerechtigkeit verwendet werden? Auch dieser Begriff muss wieder in seiner rechtlichen Form verstanden werden. 1. Die Würde des Menschen im Recht

Über viele Jahrhunderte wurde die Würde des Menschen als ein religiöser oder metaphysischer Begriff verstanden. Sein wissenschaftlicher Ort waren theologische, insbesondere kosmologische und philosophische, Diskurse61. In religiöser Perspektive sollte die Würde des Menschen die Bedeutung von „Gottebenbildlichkeit“62 oder von „Sohn des Himmels“ haben63. Philosophisch 60 61 62 63

Das sieht Nussbaum (2010, S. 263) durchaus. Damit erkennt sie also die Differenz zwischen Potentialität und Aktualität einer Fähigkeit an. Vgl. Tiedemann, Paul (2012): Menschenwürde als Rechtsbegriff. Berlin. Hier S. 117 ff. Vögele, Wolfgang (2013): Gottebenbildlichkeit, in: Gröschner, Rolf; Kirste, Stephan; Lembcke, Oliver (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München, S. 158–159. Hier S. 158 f. Schaefer, Jan (2013): Human Dignity: A Remedy fort the Clash of Cultures? – Human Dignity and the Mind of Mencius, in: Kirste, Stephan; Brugger, Winfried: Human Dignity as a Foundation of Law. Human Dignity as a Foundation of Law. (= ARSP-Beiheft 137). Stuttgart, S. 181–192. Hier S. 180 und 186 f. Kim, Hyong-Kon (2007): The Idea of Human Dignity in Korea. Lewiston/Queenston/Lampeter. Hier S. 85 ff. und 170 zu buddhistischen und konfuzianistischen Würdeverständnissen etwa in Südkorea.

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wurde sie als „Entwurfsvermögen“64, als Selbstzweckhaftigkeit65, als Notwendigkeit, sich zu dem zu machen, der man sein will oder als Befreiung aus Entfremdung verstanden66. Die Würde des Menschen sollte in der Vernunftfähigkeit des Menschen verwurzelt sein, die die Grundlage für die Einsicht in das Sittengesetz ist, die wiederum den Menschen zu einer moralischen Person in der Kantischen Philosophie machte. Nussbaum weist diese voraussetzungsvollen Konzeptionen der Würde der menschlichen Person zurück und wendet aristotelische und marxistische Vorstellungen der Menschenwürde an. Danach ist das Ziel der Gerechtigkeit und das hauptsächliche ethische Gut die Würde des menschlichen Lebens. Es ist bemerkenswert, dass ein philosophischer Begriff mit einer derartig langen Tradition wie der der Menschenwürde erst im 20. Jahrhundert seinen Weg in Rechtstexte findet67. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 legte noch das letztlich von Karl Marx angeregte Konzept der menschenwürdigen Lebensbedingungen zugrunde. Die Irische Verfassung von 1937 bringt in ihrer Präambel ein eher christliches Verständnis der Würde des Menschen zum Ausdruck68. Ein allgemeiner Begriff der Menschenwürde findet erst nach dem 2.Weltkrieg und zunächst in der Präambel der Vereinten Nationen und im Text der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1948 seinen Weg in Rechtsnormen. Wiederum war es das Deutsche Grundgesetz, das nach den Grausamkeiten des Nationalsozialismus, die Würde des Menschen nicht nur zum objektiven Fundament der Verfassung und des Staates insgesamt und insbesondere seiner Grundrechte machte, sondern ihr – nach immer noch umstrittener Auffassung – selbst die Form eines Grundrechts gab69.

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Gröschner, Rolf (2013): Entwurfsvermögen, in: ders.; Kampust, Antje; Lembcke, Oliver W. (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München, S. 330–331. Hier S. 330 f.: „Entwurfsvermögen ist die Fähigkeit eines Menschen, sein Leben planen und eigener Planung gemäß gestalten zu können“. Pfordten, Dietmar von der (2009): Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders. (Hrsg.): Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant. Fünf Untersuchungen. Paderborn. Hier S. 9 ff. Vgl. Henning, Christoph (2013): Karl Marx, in: Gröschner, Rolf; Kampust, Antje; Lembcke, Oliver W. (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München, S. 46–47. Näher hierzu Tiedemann, Paul (2012): Menschenwürde als Rechtsbegriff. Berlin. Hier S. 9 ff. Vgl. Kirste, Stephan (2010a): Menschenwürde im internationalen Vergleich der Rechtsordnungen, in: Gröschner, Rolf; Kirste, Stephan; Lembcke, Oliver (Hrsg.): Das Dogma der Unantastbarkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde. Tübingen, S. 175–214. Hier S. 175. Präambel der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937: „In the name of the Most Holy Trinity, And seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, Do hereby adopt, enact, and give to ourselves this Constitution“. Vgl. Dreier, Horst (2004): Artikel 1, Menschenwürde, in: ders. (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar. Band 1. Tübingen. Hier Rn, 42 f.

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Wie bei der Gerechtigkeit hat die Rechtsphilosophie auch bei der Würde nach ihrer rechtlichen Form zu fragen. Soll etwa die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit oder der Fähigkeit des Menschen, sich zu dem machen zu können, der er sein will, oder dass er als Zweck in sich selbst behandelt werden soll, ins Recht transformiert werden? Wie ist dies rechtlich zu konstruieren70. Wesen, die in der Lage sind, sich selbst zu dem machen zu können, der sie sein wollen, freiheitsfähige Wesen, Wesen, die keine Mittel zum Zweck anderer sind, sind Subjekte. Sie sollten mithin im Recht ebenfalls als Subjekte und nicht als Objekte für die Zwecke anderer behandelt und nicht gedemütigt oder erniedrigt71 werden. Der Mensch ist ein Rechtssubjekt, wenn er rechtsfähig ist. Rechtsfähig zu sein, bedeutet, fähig zu sein, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Das bedeutet nicht notwendig, dass er auch rechtlich handlungsfähig ist. Die Rechtsfähigkeit hat vielmehr keine weiteren Voraussetzungen. Deshalb kann sogar künstlichen Gebilden wie wirtschaftlichen Unternehmen Rechtsfähigkeit zugemessen werden72. Die Fähigkeit, als Subjekt von Rechten und Pflichten behandelt zu werden, ist die Grundvoraussetzung dafür, überhaupt am Rechtssystem partizipieren zu können. Sie ist mithin die elementare Fähigkeit der Rechtsperson. Während Friedrich Carl von Savigny und andere Rechtstheoretiker im 19. Jahrhundert keinen Zweifel daran hatten, dass alle Menschen notwendigerweise Rechtspersonen wären73 und dass diese Fähigkeit künstlich anderen Gebilden verliehen werden müsse, haben die weitere dogmatische Entwicklung des Instituts der Rechtsperson und die weitere politische Geschichte gezeigt, dass die Rechtsfähigkeit aller Menschen keineswegs selbstverständlich ist. Rechtspositivisten wie Hans Kelsen nahmen an, dass die natürliche Rechtsperson nicht weniger als die juristische Person eine Schöpfung des Rechts ist74. Carl Schmitt meinte schließ70

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Vgl. Kirste, Stephan (2013a): The Human Right to Democracy as the Capstone of Law, in: Rocha, B.A.; Salgado, K.; Galuppo, M.C. unda.: Human Rights, Democracy, Rule of Law and Contemporary Social Challenges in Complex Societies. Belo Horizonte, S. 103– 120. Tiedemann, Paul (2012): Menschenwürde als Rechtsbegriff. Berlin. Hier S. 71 ff. Zur Menschenwürde als Schutz vor Erniedrigung und „Verknechtung“ vgl. Maihofer, Werner (1968): Rechtsstaat und menschliche Würde. Frankfurt am Main. Kirste, Stephan (2010b): Die Würde des Menschen als Grundlage des Rechtsstaats, in: Kirste, Stephan; Sprenger, Gerhard (Hrsg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Beiträge zum Kolloquium für Werner Maihofer zum 90. Geburtstag. Berlin, S. 103–120. Hier S. 111 ff. Vgl. auch die Darstellung bei Coing, Helmut (1989): Europäisches Privatrecht. Band II. 19. Jahrhundert. Überblick über die Entwicklung des Privatrechts in den ehemals gemeinrechtlichen Ländern. München. Hier S. 284 ff. in historischer und systematisch-dogmatischer Hinsicht. „Darum muß der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjekts zusammenfallen mit dem Begriff des Menschen, und diese ursprüngliche Identität beider Begriffe läßt sich in folgender Formel ausdrücken: Jeder einzelne Mensch und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig.“ (Savigny 1840, S. 239) Vgl. Kelsen, Hans (2000): Was ist Gerechtigkeit. Stuttgart. Hier S. 45.

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lich: „Nicht der Mensch, weil er Mensch ist, sondern der Mensch, der gut und achtungswürdig ist, verdient Achtung“75. Das war eine Einladung, diejenigen, die sich diese „Achtungswürdigkeit“ nicht erarbeiten können, aus dem Kreis der Subjekte im Recht auszuschließen und als Objekte zu behandeln, mit denen man nicht in Rechtsverhältnissen steht und mit denen man daher nach Belieben verfahren kann76. Die Probleme der Sklaverei, der Euthanasie, des Holocaust und anderer historischer Grausamkeiten haben dramatisch vor Augen geführt, dass die Anerkennung des Menschen als Rechtssubjekt nicht selbstverständlich angenommen werden kann. Die Anerkennung der Rechtssubjektivität muss daher selbst als rechtlicher Anspruch des Einzelnen juristisch ausgeformt werden. Deshalb forderte Hannah Arendt aufgrund der Vertreibungen und des ­Holocaust ein „Recht auf Rechte“77. Dieses Recht ist keines auf dieses oder jenes Freiheits- oder Gleichheitsrecht. Es ist vielmehr ein Recht auf eine Rechtsstellung, die diese Menschenrechte alle bereits voraussetzen. Es ist das Recht darauf, überhaupt als Subjekt anerkannt zu werden, das fähig ist, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Nimmt man die zuvor entwickelten Aspekte – dass der Mensch nur dann eine Würde hat, wenn er als freiheitsfähiges Subjekt und nicht als unfreies Objekt behandelt wird, dass dies im Recht die Fähigkeit zu Rechten und Pflichten bedeutet und dass schließlich diese ­Eigenschaft im Recht nicht mehr vorausgesetzt, sondern als subjektives Recht ausgeformt werden muss – zusammen, dann ergibt sich, dass die Würde des Menschen im Recht seinen Anspruch bedeutet, als Rechtssubjekt anerkannt zu werden78. Die weiteren subjektiven Rechte sind die Formen rechtlicher Freiheit. Sie erlauben es der Rechtsperson, in einer rechtlich anerkannten Weise zu handeln. Sie schützen die negative und die positive Freiheit und garantieren der Rechtsperson private und öffentliche Autonomie im Recht. Während die Realisierung dieser weiteren Rechte ohne wirkliche Handlungsfreiheit nicht möglich ist und sie zugleich ihre rechtliche Anerkennung sichern, ist die Menschenwürde alleine dazu nicht in der Lage. Sie ruht in dem, allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Potential der Menschen frei zu sein.

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Schmitt, Carl (1914): Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. Tübingen. Hier S. 114. Kritisch zu dieser Entwicklung Dürig 1956, S. 128; er entwickelte dort die sog. „Objektformel“ der Menschenwürde, mit der er derartige Missachtungen auf den Begriff bringen wollte. Arendt, Hannah (2011): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München. Hier S. 602. Dieses Recht ist den anderen Freiheitsrechten und auch einem „Recht auf Freiheit“ vorgelagert, denn es ist das Recht auf Anerkennung des rechtlichen Status eines freiheitsfähigen Wesens. Jakl (2013, S. 102) setzt daher mit der aus Kants ursprünglichem einzigen Freiheitsrecht abgeleiteten Prinzip der Menschenwürde als Recht auf Freiheit zu spät an.

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Weil dieses Recht der Menschenwürde keine Voraussetzungen besitzt, außer der, überhaupt ein menschliches Wesen zu sein, haben behinderte Menschen, Personen also, von denen oft angenommen wird, sie hätten in einem Sozialvertrag nichts beizusteuern, dieses Recht ebenso, wie diejenigen, bei denen die Realisierung dieses Potentials nicht auf Hindernisse stößt. In ihrer Rechtsfähigkeit und den Rechten, die sich aus der Würde herleiten, sind alle Menschen gleich. Dies ist die fundamentale Rechtsgleichheit aller Rechtspersonen. Sie ist begründet in ihrer Rechtsfähigkeit. Menschen sind frei und gleich in ihrer Würde. Tiere haben diese Würde nicht. Die Würde des Menschen ist daher ‚spezie­ zistisch‘. Andere Wesen oder soziale Gebilde können aus guten Gründen als Rechtssubjekte anerkannt werden. Tieren mag ein besonderer Status zwischen Rechtssubjekten und Rechtsobjekten zugeschrieben werden, der ihren Eigenschaften entspricht. Primaten mögen auch im Allgemeinen oder hinsichtlich bestimmter Aspekte als Rechtssubjekte anerkannt werden. Ein Recht hierauf lässt sich jedoch aus der Menschenwürde nicht ableiten. 2. Die Würde des Menschen als vermittelndes Prinzip von Freiheit und Gleichheit

Diese fundamentale gleiche Fähigkeit der natürlichen Rechtsperson, frei zu sein, ist das gesuchte Kriterium, um Freiheit und Gleichheit in einer gerechten Rechtsordnung zu vermitteln. Umverteilung und Antidiskriminierungsgesetzgebung ist gerechtfertigt, um Behinderungen bei der individuellen Realisierung der Freiheit zu beseitigen79. Der Gerechtigkeit geht es nicht deshalb um Gleichbehandlung, weil ein Teil der Gesellschaft unverdienter- oder verdientermaßen mehr besitzt als andere; zum Schutz der Würde fordert sie vielmehr Umverteilung weil und insofern dies notwendig ist, um dem Einzelnen die Voraussetzungen zu selbstbestimmtem Leben zu gewähren, die er sich selbst nicht beschaffen kann80. Hier wirkt die Würde des Menschen zugleich auch als Grenze, denn Unterstützungsleistungen sollten nicht so weit gehen, eine Gleichheit der Ergebnisse herzustellen. Dies würde die Realisierung der Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu dem zu machen, der er sein will, beeinträchtigen. Wer aus eigener Schuld in eine schlechtere Lebenssituation als andere geraten ist, dem ist nicht deshalb Hilfe zu versagen, weil dies die Folge seiner freien Handlung ist, sondern wenn und weil er sich selbst daraus befreien kann. Das bedeutet aber zugleich, dass er auch dann, wenn er sich selbstverschuldet in einer menschenunwürdigen Lebenssituation befindet, aus der er sich nicht befreien kann, 79 80

Gerade der so fokussierte Begriff der Menschenwürde kann verhindern, dass aus ihr eine höhere Angleichung der Lebensverhältnisse und Aussichten resultiert als aus manchen egalitaristischen Theorien der Gerechtigkeit. Zu dieser Gefahr Krebs (2000), S. 32. Auch Joseph Raz (2000, S. 76 f.) versteht die Gleichheit als einen abgeleiteten Wert, wobei er freilich nicht die Würde des Menschen, sondern Leben, körperliche Integrität etc. anführt.

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Anspruch auf Unterstützung in dem Umfang hat, dass er dazu wieder in die Lage versetzt wird. Insofern wird leistungsrechtlich die Gerechtigkeitskonzeption der Liberalisten korrigiert81. Nach der bisherigen Argumentation könnte es scheinen, als sei der vorliegende Ansatz, wonach rechtliche Gerechtigkeit der an der Menschenwürde orientierter Ausgleich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit sei, substantialistisch und nicht prozedural. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zunächst rekonstruiert er die Ausgestaltung der Gerechtigkeit durch moderne Rechtssysteme selbst und wird weiterzuführen sein, wenn sich diese Systeme weiterentwickeln. Ferner verlangt es der Begriff der menschlichen Würde, den Menschen nicht zum bloßen Objekt der Verleihung von Rechten und Pflichten zu machen82. Es wäre paternalistisch – und zwar nicht in irgendeiner zweifelhaften „weichen“ Bedeutung83, sondern hart paternalistisch –, wenn einer Person, die handlungsfähig ist, Verpflichtungen auferlegt und Rechte gewährt würden, ohne sie an der Entscheidung über diese Normen partizipieren zu lassen. Der Grund dafür ist, dass Paternalismus das Handeln einer Person zugunsten einer anderen gegen ihren Willen ist. Wenn eine Person ein Subjekt von Rechten und Pflichten werden soll, dann muss sie einen aktiven Part in der Interpretation und Begründung derselben haben. Dieser aktive Status umfasst demokratische Teilhabe-, sonstige politische Partizipations-, Verfahrens- und gerichtliche Teilhaberechte84.

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Die Problematik des „Brute luck“ hat also nur im Bereich, der dem freien Handeln des Einzelnen zugänglich ist, eine gerechtigkeitsrelevante Bedeutung. Vgl. Kirste, Stephan (2008): Menschenwürde und Freiheitsrechte des Status Activus. Renaissancehumanismus und gegenwärtige Verfassungsdiskussion, in: Gröschner, Rolf; Kirste, Stephan; Lembcke, Oliver (Hrsg.): Des Menschen Würde: (wieder)entdeckt oder erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? Tübingen, S. 187 ff. Hier S. 192 ff. Kirste, Stephan (2013): Das Fundament der Menschenrechte, in: Der Staat, S. 119–138. Hier S. 136 f. Kirste, Stephan (2011a): Harter und Weicher Rechtspaternalismus unter besonderer Berücksichtigung der Medizinethik, in: JZ 2011, S. 805 ff. Vgl. Kirste, Stephan (2008): Menschenwürde und Freiheitsrechte des Status Activus. Renaissancehumanismus und gegenwärtige Verfassungsdiskussion, in: Gröschner, Rolf; Kirste, Stephan; Lembcke, Oliver (Hrsg.): Des Menschen Würde: (wieder)entdeckt oder erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? Tübingen, S. 187 ff. Hier S. 191 f.

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VI. Zusammenfassung

Treffend hebt Bernhard Jakl im Anschluss an Kant hervor, dass Freiheit und Gleichheit im Recht wechselbezüglich sind85. Dass diese Dialektik von Freiheit und Gleichheit durch die Menschenwürde vermittelt ist, führt noch einmal auf Protagoras zurück. Von ihm ist nicht nur die Idee überliefert, dass der Mensch das Maß der Dinge unter Einschluss der Gerechtigkeit ist. Er erzählt uns auch einen Mythos, der im ihm gewidmeten Dialog Platons überliefert ist86. Protagoras berichtet in dem Mythos von der Bedeutung der Gerechtigkeit für das Recht. Darin heißt es, dass die sanguinische Gestalt Epimetheus bei der Schöpfung einem jeden Wesen seine Fähigkeiten austeilt, dabei jedoch so verschwenderisch ist, dass für den Menschen nichts mehr übrigbleibt, das ihn zur Anpassung an seine Umwelt befähigen würde. Mit dem von Prometheus gestohlenen Erkenntnisvermögen und dem Feuer können Menschen zwar überleben, aber nicht zusammenleben: Sie befinden sich vielmehr im Naturzustand der Vereinzelung und der wechselseitigen Schadenszufügung und nicht in einem politischen Zustand87. Damit der Mensch nun zu der ihm gemäßen Sozialform findet, befiehlt Zeus Hermes den Menschen die sittliche Erkenntnis und Gerechtigkeit zu bringen88. Hermes zögert und fragt, wie die Gerechtigkeit unter den Menschen verteilt werden soll: „Soll ich mich hierbei, fragt er, nach dem Muster richten, das die Verteilung der Künste bietet? Diese Verteilung ist folgender Art: ein Einzelner, der im Besitz der ärztlichen Kunst ist, reicht aus für viele Laien, und so steht es auch mit den anderen Werkmeistern.“ Die Frage zielt also auf eine elitäre Institutionalisierung von Gerechtigkeit. Soll Hermes auch die Gerechtigkeit so unterschiedlich verteilen wie die Künste zwischen Experten und Laien? Das würde zu einer Oligarchie führen. So antwortet Zeus:

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„Mit der Umformulierung eines bekannten kantischen Satzes, demzufolge Gedanken ohne Inhalt leer sind, Anschauung ohne Begriffe aber blind sind, lässt sich daher auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie sagen, dass eine Freiheit ohne Gleichheit blind, eine Gleichheit ohne Freiheit aber leer ist“. Damit meint er, dass zum einen das „Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit konkretere Bedeutung im Handeln gewinnt und zum andern vor allem, dass beide Konzepte bei jeder rechtlichen Erwägung miteinander verbunden sind, da es sonst keine rechtliche Erwägung im vollen Sinne mehr wäre“. (Jakl 2009, S. 121). Vgl. Platon (1993): Protagoras. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. I). Hamburg. Hier 320 d ff., S. 54 ff. Vgl. Sattler, Martin (2002): Der Mythos des Protagoras, in: Kirste, Stephan; Waechter, Kay; Walther, Manfred (Hrsg.): Die Sophistik – Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht. Stuttgart, S. 32 ff. Hier S. 36. Vgl. ebd. hier S. 32 ff.

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An alle … und jeder soll daran teil haben. Denn nie wird es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur wenige jener Güter teilhaftig sind wie bei den anderen Künsten.89 Weil die Gerechtigkeit eine Eigenschaft des Menschen als Menschen ist und ihr Zusammenleben regeln soll, muss sie allen in gleicher Weise zukommen. Die besondere Stellung des Menschen in der Welt besteht dem Mythos gemäß darin, dass er anders als andere Wesen nicht mit denjenigen Fähigkeiten ausgestattet ist, die seinen Schutz sicherstellen können. Die dazu gehörende Gerechtigkeit soll nach Protagoras allen zukommen. Die Oratio des Pico della Mirandola knüpft an diesen Gedanken des Mythos an, auch wenn sie Protagoras und die Gerechtigkeit nicht erwähnt90. Die Würde des Menschen besteht darin, sich zu dem machen zu können und zu müssen, der er sein will, weil ihm kein fester Platz in der Welt zugemessen wurde. Er ist, wie Jean-Paul Sartre gesagt hat, verdammt dazu, frei zu sein91. In seiner Freiheitsfähigkeit ruht das Menschliche seiner Würde: Diese Fähigkeit ist allen Menschen gemeinsam. Was der Mensch kraft seiner Freiheit geschaffen hat, gereicht ihm zur Ehre; nicht in den Werken jedoch, sondern in der Fähigkeit zu ihnen liegt seine Würde. Die Achtung vor der in seiner Freiheitsfähigkeit begründeten Würde ist die Voraussetzung vor der Achtung seiner Ehre als freier Persönlichkeit. Auf ihr basieren allen anderen Fähigkeiten, die Martha Nussbaum auflistet. Sie ist der Vergleichsgesichtspunkt der Gerechtigkeit. Die Würde des Menschen als Freiheitsfähigkeit wird so zum Maß der Dinge und dem Kriterium der Gerechtigkeit. Weil sie das Gattungsmerkmal des Menschen ist, kommt sie allen Menschen in gleicher Weise zu. Die Freiheitsfähigkeit realisiert er auch durch die Begründung von Sozial­ ordnungen, insbesondere auch der Rechtsordnung. In seinen Normen wendet sich das Recht an Freiheit: Eröffnet sie (Erlaubnis), beschränkt sie (Verbot) und gibt ihr eine Richtung (Gebot). Rechtsnormen sind jedoch zugleich auch Ausdruck von Freiheit. Im modernen demokratischen Rechtsstaat sind sie Ausdruck der privaten (Verträge) und politischen Autonomie (Gesetze) aller von 89 90

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Vgl. Platon (1993): Protagoras. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Sämtliche Dialoge, Bd. I). Hamburg. Hier 320 d ff., S. 54 ff. Hier 322 d, S. 57 f. Hier S. 5 läßt den jüdisch-christlichen Gott sagen: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selbst bestimmen.“ (Pico della Mirandola 1990, S. 5) Adam tritt in der Renaissanceliteratur zur Menschenwürde an die Stelle von Prometheus (Kondylis 2004, S. 659). „Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.“ (Sartre 1986, S. 16)

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den Normen Betroffenen. Die Vertragschließenden anerkennen wechselseitig die gleiche Autonomie bei der Eingehung der Pflichten an; die Bürger als Citoyens legitimieren in entsprechender Weise das für alle geltende Gesetz. Insofern ist das Recht schon seiner Form nach Ausdruck gleicher Freiheit und regelt den gleichen Freiheitsgebrauch. Der Gebrauch dieser Freiheit setzt aber die rechtliche Anerkennung der Freiheitsfähigkeit aller Menschen voraus. Da rechtliche Freiheit bedeutet, Rechte zu haben, ist rechtliche Freiheitsfähigkeit Rechtsfähigkeit. Nur wer sie hat, kann sich als Subjekt am Recht beteiligen. Nur derjenige, der sie hat, besitzt rechtliche Menschenwürde. Die rechtliche Würde des Menschen ist die Anerkennung Rechtsfähigkeit, wie sie außerhalb des Rechts die Anerkennung seiner Freiheitsfähigkeit bedeutet. Dass die Rechtsfähigkeit eines jeden Menschen anerkannt werden soll, ist das subjektive Recht der Menschenwürde. Die Menschenwürde ist mithin Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Menschen überhaupt rechtlich miteinander umgehen, das heißt in Rechtsverhältnissen stehen. Sollen die Regelungen des Rechts gerecht sein, so kann ihr Maßstab weder nur die Gleichheit noch nur die Freiheit sein. Gleichheit muss das Ziel dort sein, wo der Mensch nicht aus eigener Kraft seine Freiheitsfähigkeit realisieren kann. Würde Gerechtigkeit nur Gleichheit bedeuten, so müssten die rechtlichen Regelungen alle Differenz und Individualität unterdrücken. Das Recht muss also die Freiheitsfähigkeit und die Freiheit schützen, um dem Menschen einen Bereich der Individualität zu sichern. Würde das Recht aber nur die Freiheit schützen, so würde den Schwächeren die Realisierungsmöglichkeit ihrer Freiheit genommen. Das Verhältnis zwischen starken und schwachen Gesellschaftsmitgliedern würde nicht mehr rechtlich sein können. Der in strukturelle Armut verfallene, der ständiger Bedrohung ausgesetzte Bewohner einer Favela ist nicht mehr in der Lage, eine freie vertragliche Beziehung eingehen oder an der politischen Selbstbestimmung partizipieren zu können. Mit ihm verliert aber auch der Starke die Möglichkeit eines rechtlich geordneten Zusammen­ lebens der wechselseitigen Anerkennung. Es ist mithin Aufgabe des Rechts, so viel an Gleichheit zu garantieren, dass diese Freiheitsfähigkeit gesichert bleibt.

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„Der Mensch ist das Maß der Dinge …“

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Jörg Tremmel

Generationengerechtigkeit1

Nachbarschaftsethik versus Generationenethik

Die Generationenethik, also das systematische Nachdenken über bzw. die methodisch fundierte Forschung zu den zwischen den Generationen geltenden moralischen Beziehungen, ist vielerlei Hinsicht eine sehr junge Bereichsethik. Zwar war seit der griechischen Antike die Idee der Gerechtigkeit ein Gegenstand intensiver philosophischer Debatten, systematische Konzepte und Theorien zur Gerechtigkeit zwischen nicht überlappenden Generationen wurden allerdings erst in den letzten Jahrzehnten formuliert. Diese Zeitverzögerung erklärt sich aus der unterschiedlichen Reichweite des menschlichen Aktionsradius damals und heute. Versetzen wir uns zurück in die Zeit vor einigen Hunderttausenden Jahren, als die ersten Vertreter der Gattung homo, also die ersten Menschen, in Ostafrika jagten, stritten und sich liebten. Damals unterschied sie bei all diesen Tätigkeiten kaum etwas von ihren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Wie wurde es möglich, dass die Nachfahren der einen Gruppe eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Klima erwärmen und Roboter bauen würden, während die anderen blieben, was sie sind? Der Weg dorthin führte über die Beherrschung des Feuers, die kognitive Revolution, die landwirtschaftliche Revolution und schließlich die wissenschaftliche Revolution. Aber die allergrößte Zeitspanne ihrer Existenz war die Menschheit sowohl zahlenmäßig zu unbedeutend als auch technologisch zu rückständig, um einen wirklich bedeutenden Fußabdruck auf der Erde zu hinterlassen. Diese Machtlosigkeit früherer Generationen erklärt, warum selbst die bedeutendsten Ethiker früherer Epochen der Verantwortung für kommende Generationen kaum Interesse widmeten. Platon kannte kein Plutonium. Es bestand keine Notwendigkeit für ihn oder andere Ethiker seiner Epoche, entfernte künftige Generationen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Moralische Fragen des richtigen oder falschen Verhaltens bezogen sich de facto auf den Umgang mit Nachbarn,2 mit anderen 1 2

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch Eine Theorie der Generationengerechtigkeit (Müns­ ter 2012) von Jörg Tremmel. In früheren Jahrhunderten waren Reisen weit beschwerlicher und damit seltener als heute. Immanuel Kant, einer der großen Intellektuellen seiner Zeit, hat seinen Geburtsort Königsberg so gut wie nie verlassen. Hermann Hesse kam nie weiter als 400 km von

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Ständen, mit dem anderen Geschlecht.3 Diese Begrenztheiten rechtfertigen es, von einer ‚Nachbarschaftsethik‘ zu sprechen und diese klar von der ‚Generationenethik‘ abzugrenzen. Die ‚Nachbarschaftsethik‘ kannte weder den Begriff der intergenerationellen Verantwortung noch der intergenerationellen Gerechtigkeit. Erst seit dem 20. Jahrhundert hat die Menschheit mit der modernen Technik das Potential, durch ihr Handeln das Schicksal von künftigen Generationen und Natur im globalen Maßstab bis in die ferne Zukunft irreversibel negativ zu beeinflussen. Der Philosoph Hans Jonas arbeitete in seinem Epoche machenden Buch Das Prinzip Verant­wortung (1979) deutlich heraus, was in allen Zeitaltern bis zum 20. Jahrhundert galt, dass nämlich […] aller Größe seiner schrankenlosen Erfindsamkeit ungeachtet der Mensch, gemessen an den Elementen, immer noch klein ist: eben dies macht seine Ausfälle in sie so verwegen und erlaubt es jenen, seinen Vorwitz zu dulden. Alle Freiheiten, die er sich mit den Bewohnern des Landes, des Meeres und der Luft herausnimmt, lassen doch die umgreifende Natur dieser Bereiche unverändert und ihre zeugenden Kräfte unvermindert. Ihnen tut er nicht wirklich weh, wenn er sein kleines König­reich aus ihrem großen herausschneidet. Sie dauern, während seine Unternehmen ihren kurzlebigen Lauf nehmen. So sehr er auch die Erde Jahr um Jahr mit sei­ nem Pfluge plagt – sie ist alterslos und unermüdbar; ihrer ausdauernden Geduld kann und muß er trauen und ihrem Zyklus muß er sich anpassen.4 Man mag Jonas vorwerfen, dass sein Naturbild zu sehr von einer stabilen, unverwüstlichen Natur ausgeht. Denkt man an die fünf geologischen Phasen globalen Artenster­bens sowie an den Wechsel von Eis- und Warmzeiten, so muss man die Natur als deutlich dynamischer, ja katastrophenanfälliger einstufen. Jonas’ entscheidender, unstrittiger Punkt ist jedoch, dass der Mensch vor Anbruch der Neuzeit re­lativ wenig Einfluss auf die globale, überregionale Natur hatte. Der Mensch brachte das ihn umgebende Ökosystem nicht aus dem Gleichgewicht. Unter diesen Umständen war eine Ethik der Verantwortung gegenüber der Natur überflüssig. Vielmehr war der Mensch gut beraten, der Natur mit möglichst großer Schläue und Effizienz zu begegnen, um ausreichend an ihren scheinbar unerschöpflichen Ressourcen teilzuhaben. Was früher schicksalhaft hinzunehmen war, rückte mehr und mehr in den Umkreis der Beeinflussbarkeit.

3

4

seinem Wohnort weg (von einer einzigen Indien-Reise abgesehen, auf die er sich monatelang vorbereitet hatte). Auch in räumlicher Hinsicht entsprach die Ethik dem begrenzten Radius des Menschen. Die Bewohner anderer Erdteile waren kein Gegenstand ethischer Erwägungen. Dies änderte sich allerdings bereits im 16. Jahrhundert mit der Unterwerfung der Azteken- und Inkareiche durch die spanischen Konquistadoren. In den folgenden 100 Jahren wurde 90 Prozent der Urbevölkerung ausgerottet und der Rest von einem brutalen Regime unterjocht, was durchaus in Europa kritisiert wurde. Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main. Hier S. 19.

80.000 Jahre

Generationengerechtigkeit

300.000 Jahre

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Die Zeitskalen von Mensch und Natur sind im 20. Jahrhundert auseinanderge-x Mio. Jahre fallen. Wie Abbildung 1 illustriert, hat die Menschheit heute die Möglichkeit, Verfall atomarer Abfälle durch ihre Eingriffe die Zukunft auf Jahrtausende hinaus zu prägen. Ihr eigener Horizont (durchschnittliche Amtszeit einer Regierung; durchschnittliche Lebensdauer) bleibt aber in weit kürzeren Zeitspannen verhaftet. Durchschnittliche Amtsdauer einer Regierung in Europa Durchschnittliche Dauer bis zum Payback einer großen Investition Durchschnittliches Lebenszeitalter eines Menschen in Europa Globaler Klimawandel (Atmosphäre) Globales Artensterben (Biosphäre)

Verbrauch nicht regenerativer Ressourcen (Lithosphäre)

1

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Wir haben es in allen drei Bereichen [Atom-, Gen- und Weltraumtechnik, J.T.] mit Zeitdimensionen zu tun, die Maßstäbe der bisherigen menschlichen Geschichte sprengen. Wissenschaft, Literatur und Kunst früherer Jahrhunderte werden unverständlich, wenn sie nicht alle paar Ge­ nerationen neu interpretiert und in neue Sprachen übersetzt werden. Auch staatliche Institutio­nen haben selten mehr als einige hundert Jahre Bestand gehabt und sind ständig von der Zerstö­r ung durch Krieg und Umsturz bedroht. Selbst die heutigen Religionen sind kaum älter als ein paar tausend Jahre, und sie haben uns nicht in erster Linie naturwissenschaftliche Informatio­nen, sondern Mythen und Rituale überliefert.6 Die Überfischung einzelner Seen, die Entwaldung einzelner Landstriche und der Verlust von Artenvielfalt sind beileibe keine neuen Phänomene. Aber zu früheren Epochen waren sie räumlich begrenzt; erst in der Neuzeit treten sie global und mit großer Beschleunigung auf. Die Probleme wuchsen im Gleichschritt mit dem Lebens- und Wirkungsradius des Menschen. Nur die Ethik wuchs lange nicht mit. Das Neuland, das die Menschheit mit der Hochtechnologie betreten hat, war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die ethische Theorie noch ein ‚Niemandsland‘.7 Die Ethik befand sich noch im Newtonschen Zeitalter, während die Technik schon im Zeitalter der Quantenmechanik, und des Atoms, angekommen war. Einspruch: Generationenethik ist eine uralte Bereichsethik

Aber kann die Generationenethik nicht mit gleichem Recht als eine sehr alte Bereichsethik betrachtet werden? Die Beziehungen der Generationen zueinander werden seit Urzeiten durch zahlreiche Mythen, Märchen und Erzählungen thematisiert. Zu denken ist etwa an den griechischen Urgott Kronos, der seine Kinder frisst; oder an Laios, der seinen Sohn Ödipus ermorden lassen will. Die Menschheit pflanzt sich in Generationen fort und folglich beschäftigten die beiden Fragen, was Eltern ihren Kindern schulden und umgekehrt, die Menschen schon sehr lange. Vor der Moderne wurden allerdings eher die Pflichten von Jüngeren gegenüber Älteren betont; von Pflichten in umgekehrter Richtung ist selten die Rede. Das vierte Gebot der Bibel, „Du sollst deinen Vater und Mutter ehren“, wird im Alten Testament so oft wiederholt wie kaum ein anderes. Und auch Kant scheint die kommenden Generationen nicht als gefährdet wahrzunehmen, wenn er schreibt:

6 7

Posner, Roland (1990): Atommüll als Kommunikationsproblem, in: ders. (Hrsg.): Warnungen an eine ferne Zukunft. Atommüll als Kommunikationsproblem. München, S. 7–15. Hier S. 8. Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung, 7.

Generationengerechtigkeit

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Befremdend bleibt es immer hierbei: dass die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und das nur noch die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne Absich­ten) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können.8 Wie aber kann das Konzept der Generationengerechtigkeit zugleich eine der jüngsten und zugleich eine der ältesten Gerechtigkeitskonzepte sein? Dieses Paradox löst sich auf, wenn man sich die Mehrdeutigkeit des Generationenbegriffes bewusst macht. Die Mehrdeutigkeit des Generationenbegriffs Familiale Generationen

Die etymologischen Wurzeln des Begriffes verweisen auf die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Familie. Die Bedeutung des griechischen Wortes ‚genos‘ drückt sich im zugehörigen ‚genesthai‘ aus, als ‚zum Leben kommen, ins Leben eintreten‘. Das lateinische ‚generatio‘ bedeutet ‚Zeugung‘ und ‚Zeugungsfähigkeit‘, ganz ähnlich wie das Verb ‚generieren‘ heute im Sinne von ‚hervorbringen‘ bzw. ‚(er)zeugen‘ verwendet wird.9 Die etymologische Analyse verweist also sowohl auf den Akt des Erschaffens einer neuen Genera­tion durch die vorherige als auch auf das passive Erschaffenwerden der neuen Generation. Familiale Generationen sind somit identisch mit den Gliedern der Abstammungslinie (lineage).10 Daher spricht man hier auch von ‚genealogischen‘ Generationen. Die Begriffe ‚Kinder‘ und ‚Eltern‘ gehören einem anderen Be8 9

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Kant, Immanuel (1923): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s Gesammelte Schriften. Band VIII (Abhandlungen nach 1781). Berlin. Hier S. 20. Vgl. für die Diskussion über die etymologische Bedeutung: Lüscher, Kurt; Liegle, Ludwig (2003): Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Konstanz. Hier S. 243. Vgl. Sackmann, Reinhold (1992): Das Deutungsmuster ‚Generation‘, in: Meuser, Michael; Sackmann, Reinhold (Hrsg.): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie. Pfaffenweiler, 199–215. Vgl. Rosenmayr, Leopold (1993): Streit der Generationen? Lebensphasen und Altersbilder im Umbruch. Wien. Hier S. 12. Vgl. Eisentraut, Roswitha (2007): Intergenerationelle Projekte. Motivation und Wirkungen. Baden-Baden. Hier S. 42. Veith, Werner (2006): Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung. Stuttgart. Hier S. 24–38. Vgl. Kohli, Martin; Szydlik, Marc (2000): Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen. Hier S.11.

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deutungskontext an als die Begriffe ‚ältere‘ und ‚jüngere‘ Generationen. Dies wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass es junge Eltern und ältere Eltern gibt, ja dass Tanten und Onkel jünger sein können als ihre Nichten und Neffen. Über die Beziehungen zwischen familialen Generationen wird bereits seit langer Zeit nachgedacht, zunächst in der Philosophie, später auch in der Familiensoziologie (Makroebene) und in der Psychoanalyse (Mikroebene). Die Generationenethik kann dann und nur dann als eine sehr alte Bereichs­ ethik betrachtet werden, wenn damit die moralischen Gebote gemeint sind, die zwischen familialen Generationen gelten sollen. Neben dem familialen Generationenbegriff gibt es aber weitere, und es sind diese weiteren, die in den modernen Debatten über Atommüll, Treibhauseffekt und Staatsverschuldung von Bedeutung sind. Chronologische Generationen

Die ‚chronologische‘ (synonym: ‚demografische‘, ‚biologische‘, ‚genetische‘) Bedeutung des Generationenbegriffs ist die unmittelbarste – fragt man jemanden auf der Straße, was das Wort ‚Generation‘ bedeutet, so antwortet sie normalerweise mit der chronologischen Bedeutung des Wortes. Chronologische Generationen werden über ihr Geburtsjahr und folglich auch über ihr Lebensalter voneinander abgegrenzt. Die Zugehörigkeit zu einer Geburtskohorte kann man nicht wechseln. Grundlegend ist zunächst die folgende Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen des Wortes: Chronologisch-temporal Erstens werden unter ‚Generationen‘ Altersgruppen verstanden, indem man zum Beispiel von der jungen, mittleren und älteren Generation spricht. Nach dieser Definition leben stets mehrere Generationen gleichzeitig. Häufig werden die Jahrgänge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die Unterdreißigjährigen stellen, als die junge, die 30- bis 60-Jährigen als die mittlere und die Übersechzigjährigen als die alte bzw. ältere Generation bezeichnet. Gerontologen empfehlen zumindest am Lebensende eine feinere Differenzierung, zum Beispiel in ältere Erwachsene, junge Alte und Hochbetagte. Die Generationengrenzen werden häufig durch Rechtsnormen definiert, die an ein bestimmtes kalendarisches Alter anknüpfen, zum Beispiel den Beginn der Schulpflicht, die Mündigkeit, das gesetzliche Renteneintrittsalter. Chronologisch-intertemporal Zweitens wird das Wort ‚Generation‘ verwendet, um die Gesamtheit der heute lebenden Menschen zu bezeichnen. In diesem Sinn lebt jeweils nur eine Generation zur gleichen Zeit. Diese Bedeutung spielt vor allem in der Umweltdebatte seit den 1970er-Jahren eine Rolle. Die Rede von der ‚Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen‘ ging zeitlich dem Appell, die ‚Generationengerechtigkeit zwischen Jung und Alt‘ zu wahren, voraus.

Generationengerechtigkeit

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Gesellschaftliche Generationen

Neben dem chronologischen und dem familialen Generationenbegriff gibt es den gesellschaftlichen Generationenbegriff. Der klassische Referenztext zu Generationen in diesem Sinne ist Karl Mannheims epochaler Aufsatz Das Problem der Generationen, der auch für die heutige Diskussion noch fruchtbar ist.11 Ausgehend von den Mannheim’schen Definitionen sprechen Soziologen heute auch von ‚gesellschaftlichen Generationen‘.12 Es ist das Gefühl der gleichartigen Betroffenheit durch eine geschichtliche oder gesell­schaftliche Situation, durch die sich eine eigenartige Nähe von sich ansonsten fremden Per­sonen ergibt, die benachbarte Geburtsjahrgänge zu einer Generation macht. Diese kollektive Identität als ‚Ge­neration‘ kann sich trotz unterschiedlicher Herkunft, Religion und ethnischer Zugehörigkeit heraus­bilden. „Aus Gleichaltrigen werden Gleichartige“13, es entstehen also Gruppen von Menschen, deren Einstellungen, Orientierungen und Verhaltensweisen zu einem signifikanten Grad homogen sind. Aussagen über Generationengerechtigkeit

Es ist nicht sinnvoll, Gerechtigkeit zwischen gesellschaftlichen Generationen zu fordern. Das Problem ist, dass diese nicht trennscharf abgrenzbar sind. So ist es höchst um­stritten, welche gesellschaftlichen Generationen es in Deutschland gibt. Flakhelfer-Generation, 68er-Generation, APO-Generation, 78er-Generation, 89er-Generation, Generation Berlin, Generation X, Generation Y, Generation XY, Generation XXL, Generation Golfkrieg, Generation Golf, Generation Ally, Techno-Generation, Generation@, Internet-Generation, Generation Praktikum – all diese gesellschaftlichen Generationen ‚gibt‘ es angeblich. Für Vergleiche zwischen Generatio­nen im Rahmen von Gerechtigkeitsuntersuchungen braucht man einen Generati­ons­begriff, der auf unstrittigen Merkmalen wie Geburtsjahrgängen oder Familienmitgliedschaften basiert. Eigenschaften und Prägungen sind jedoch immer bis zu einem bestimmten Grad Gegenstand von Spekulation. So wäre es wenig sinnvoll, ein Forschungsprojekt zum Vergleich gesellschaftlicher Generationen wie etwa der 68er- und 89er-Generation zu konzipieren. Wenn eine Studie sich beispielsweise vornimmt, die Chancen der 68er und der 89er auf dem Arbeitsmarkt zu vergleichen, so würde sie in Wirklichkeit die Arbeitsmarktchancen verschiedener Kohorten bzw. Altersgruppen (temporaler Generationen) vergleichen, zum Beispiel die der zwischen 1940 11 12 13

Vgl. Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie (7), S. 157–185. Zum Teil wird in der einschlägigen Literatur auch von ‚so­ziologischen Generationen‘ gesprochen. Im englischen Sprachraum ist hingegen der Begriff ‚historical generation‘ für eine Generation in die­sem Sinne verbreitet. Leggewie, Claus (1995): Die 89er. Portrait einer Generation. Hamburg. Hier S. 5.

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und 1950 Geborenen mit denen der zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Die Begriffe ‚68er‘ und ‚89er‘ sind entbehrlich, ja sogar irrefüh­rend, weil sie eben keine klaren Abgrenzungsmerkmale bieten. Dass Ge­rechtig­keit zwi­schen gesellschaftlichen Generationen kein sinnvolles Forschungsdesign ist, wird auch daran deutlich, dass ‚Ge­rechtigkeit für kommende Generationen‘ damit nicht konzeptionalisierbar ist. Schließlich weiß man überhaupt nicht, ob eine zukünf­tige gesellschaftliche Generation als ‚2017er‘ oder ‚2020er‘ tituliert werden wird. Direkte und indirekte Vergleiche von chronologischen Generationen Im Mittelpunkt der interdisziplinären Debatte über generationengerechte Politik steht der chronologische Generationenbegriff. Im Lexis-Diagramm (Abbildung 2) bildet das Lebensalter die vertikale Achse, die chronologisch fortschreitende Zeit die horizontale. Der Lebensverlauf einer bestimmten Geburtskohorte wird durch die diagonale Linie repräsentiert, die über ihrem Geburtsjahr beginnt. Die im gleichen Jahr geborenen Personen begehen ihren Lebensweg unisono.

Lebensalter

Direkte Vergleiche

Indirekte Vergleiche

1900

1920

1940

1960

1980

Zeit

Abb. 2: Direkte und indirekte Generationenvergleiche und Gesamtlebensvergleiche Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Tremmel (2012), Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, 54. Es sind nun Vergleiche zwischen Generationen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder zwischen gleichaltrigen Altersgruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten möglich. Diese wichtige Unterscheidung soll in Abb. 3 und 4 anhand eines Zwei-Generationen-Mo­dells vertieft werden. Im direkten (in Abbildung 3: vertikalen) Vergleich werden heutige ‚Junge‘ und ‚Alte‘ zeitpunktbezogen (etwa im Jahr 2014) verglichen. Dies entspricht dem Vorgehen bei einer Querschnittsuntersuchung.

Generationengerechtigkeit

55

Generationenfolge

Generation g

heute alte Generation

Generation g+1

heute junge Generation

morgen alte Generation .

Zeit

Abb. 3: Direkte Vergleiche zwischen Generationen Quelle: Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Hier S. 54. Bei einem indirekten Vergleich (in Abbildung 4: diagonal) wird dagegen Alter mit Alter oder Jugend mit Jugend verglichen. Generationenfolge

Generation g

Generation g+1

gestern junge Generation

heute alte Generation heute junge Generation Zeit

Abb. 4: Indirekte Generationenvergleiche (jung/jung) Quelle: Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, 55. Gesamtlebensvergleiche als Goldstandard des indirekten Vergleiches Folgt man der Logik indirekter Vergleiche, so ergibt sich, dass ein Vergleich der gesamten Lebensverläufe von zwei Kohorten der beste aller indirekten Vergleiche sein muss (vgl. Abbildung 2). Eine Gesamtlebensverlaufsanalyse einer einzelnen Generation ist zunächst einmal eine Längsschnittbetrachtung und ergibt für sich genommen noch keine Aussagen über die Besser- oder Schlechterstellung dieser Generation. Werden aber zwei oder mehrere Gesamtlebensverläufe verglichen, so lassen sich daraus entsprechende Aussagen ableiten. Gesamtlebensvergleiche werden in der philosophischen Diskussion über Generationengerechtigkeit oft als der ‚Goldstandard‘ beschrieben. Wer jetzt jung ist, wird später

56

Jörg Tremmel

alt sein; und wer heute alt ist, war früher jung.14, 15 Wenn wir Ressourcenanteile über das ganze Leben berücksichtigen, dann lässt sich die Ansicht vertreten, dass ein Vorteil während einer bestimmten zeitlichen Phase des Lebens eine Last während einer anderen Phase kompensieren kann.16 Man stelle sich vor, zwei Geburtskohorten – die 1900- und die 1970-Geborenen – würden im Jahr 210017 daraufhin verglichen, welche von ihnen in Bezug auf die gesetzliche Rentenversicherung besser gefahren ist. Nehmen wir an, die 1900er-Kohorte habe ihr Leben lang nur sehr geringe Einzahlungen in das Rentensystem geleistet, aber um das Jahr 1957, als ihr Rentenalter nahte, viele staatliche Ressourcen in die Rentenkasse kanalisiert und sich so recht hohe Auszahlungsbeträge im Rentenalter gesichert. Nehmen wir weiter an, die 1970er-Kohorte habe es aus politischen Gründen nicht geschafft, so stark vom gesetzlichen Rentenversicherungssystem zu profitieren. Die Beitragssätze während ihrer Erwerbsphase, die die politischen Mehrheiten ihr auferlegten, waren hoch; die Auszahlungsbeträge während ihrer Rentenphase aber niedrig. Hier zeigt nun ein Gesamtlebensvergleich, wie unterschiedlich die beiden Kohorten in Bezug auf das gesetzliche Rentenversicherungssystem gefahren wären. Die erste Generation hätte – über ihre Gesamtlebenszeit betrachtet – doppelt profitiert und wäre deutlich besser gefahren als ihre Vorgängergeneration.18 Tatsächlich ist die Rendite als Maß für Renten-Generationengerechtigkeit weit verbreitet. Nach den Berechnungen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland ist die Rendite für eine/n 2004 Geborenen um rund ein Viertel niedriger als für eine/n 1940 Geborenen.19 Diese Situation ist in anderen alternden Wohlfahrtsstaaten ähnlich, vor allem wenn sie umlagefinanzierte Rentensysteme haben. Überall dort

14 15

16 17

18 19

Dies wurde meines Wissens erstmals hervorgehoben von Daniels, Norman (1988): Am I my Parents’ keeper? An Essay on Justice between the Young and the Old. Oxford. Sofern man unterstellt, dass das Leben jeder Einzelperson exakt die gleiche Zahl von Jahren umfasst, gehört jede Person reihum gleich lange allen Altersgruppen an. Aber auch wenn man diese kontrafaktische Annahme nicht trifft, bleibt es richtig, dass der Durchschnitts-Angehörige einer intertemporalen Generation mal jung und mal alt ist, also alle Lebensphasen durchläuft. Vgl. McKerlie, Dennis (1992): Equality between Age-Groups, in: Philosophy and Public Affairs 21 (3), 275–295. Hier S. 277. Die Festlegung auf Jahr 2100 in diesem Beispiel hat den Vorteil, dass auch die 1970er-Kohorte ihr Leben bis dahin komplett durchlaufen haben wird. Es sind also keine Prognosen über ihr weiteres Standing in der Rentenversicherung nötig, sondern die Untersuchung kann sich vollständig auf abgeschlossene Sachverhalte beziehen. Genau dieses Verhalten wird der Baby-Boomer-Generation in Neuseeland unterstellt, vgl. Thomson (1991): ): Selfish Generations? The Ageing of New Zealand’s Welfare State. Wellington, N.Z. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland (2004): Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland. Jahresgutachten 2004. Wiesbaden, 304, (Schaubild 76).

Generationengerechtigkeit

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besteht Grund zu der Annahme, dass die nachrückenden Generationen in diesem speziellen Bereich schlechter wegkommen als ihre Vorgänger. Eine andere Maßzahl zur intergenerationellen Gerechtigkeit, der so genannte ‚Senioren-Bias-Indikator für Sozialausgaben‘ (EBiSS) misst, ob staatliche Ausgaben eher für die Belange der älteren oder der jüngeren Generation ausgegeben werden.20 Wie ‚Generationengerechtigkeit‘ am besten zu messen ist, wird noch lange strittig sein. Unstrittig dürfte hingegen sein, dass sich Fragen der Generationengerechtigkeit (= intergenerationelle Gerechtigkeit) nie zwischen Zeitgenossen des gleichen Alters stellen. Gerechtigkeit innerhalb einer (wie auch immer definierten) Generation ist das Reich der intragenerationellen Gerechtigkeit. In diesem Bereich lässt sich nun die Gerechtigkeitsfrage weiter ausdifferenzieren, wie Abbildung 1 zeigt. Sie kann bezogen werden auf Männer und Frauen, Einkommensschwache und -starke, Familien und Kinderlose, Arbeitslose und Berufstätige, Menschen mit Migrationshintergrund und Alteingesessene und viele andere Gruppen von Menschen, die sich unterscheiden – aber ähnlich alt sind und damit der gleichen Generation angehören. Davon abzugrenzen ist das Reich der Generationengerechtigkeit (in der Abbildung 5 links). Probleme der Generationengerechtigkeit können – je nach Kontext – in unterschiedlichen räumlichen Kontexten abgehandelt werden, zum Beispiel ‚global‘ beim Thema Klimawandel oder ‚national‘ beim Thema Staatsverschuldung. 20

Dieser Indikator entspricht dem Quotienten aus den Anteilen an Steuern und Abgaben, die den Senioren im Verhältnis zu den Nicht-Senioren zugute kommen und errechnet sich wie folgt: Auf der seniorenbezogenen Ausgabenseite (dem Zähler) wurden folgende öffentliche Ausgabenprogramme veranschlagt: (1) altersbezogene Geldleistungen (Renten, vorgezogene Altersruhegelder, sonstige Geldleistungen) und Sachleistungen (betreutes Wohnen, Haushaltshilfen, sonstige Sachleistungen); (2) Hinterbliebenenversorgung in Geld- und Sachleistungen (Bestattungskosten, sonstige Sachleistungen); (3) Erwerbsminderungsrenten; (4) Arbeitsunfall- und Krankheitsrenten sowie (5) Frühverrentung aus Arbeitsmarktgründen. Auf der nicht-seniorenbezogenen Ausgabenseite des EBiSS (dem Nenner) wurden die folgenden öffentlichen Ausgabenprogramme einberechnet: Familienbezogene Geldleistungen (Familienzuschläge, Mütter- und Väterzeiten, sonstige Geldleistungen) und Sachleistungen (Tagesbetreuung, Haushaltshilfen, sonstige Sachleistungen); (2) aktive Arbeitsmarktprogramme (Arbeitsvermittlung und -verwaltung, Arbeitsmarkttraining, Jugendmaßnahmen, subventionierte Beschäftigung, Arbeitsmaßnahmen für Behinderte); (3) Geldleistungen zur Einkommenssicherung; (4) Arbeitslosenunterstützung und Abfindungsgeldleistungen sowie (5) Bildungsausgaben für alle Bildungsstufen von der frühen Kindheit bis zur Universität. Um die demografische Struktur (den Ausgabenbedarf) zu bereinigen, wird das sich ergebende Verhältnis aus seniorenbezogenen und nicht-seniorenbezogenen Sozialausgaben für jedes Land mit dem jeweiligen Altenquotienten, d.h. mit dem Verhältnis der Anzahl von Menschen im Alter von 20-64 Jahren zu der Anzahl vom Menschen im Alter von 65 Jahren und älter multipliziert. Vgl. Bertelsmann Stiftung (2013): Intergenerational Justice in Aging Societies. A Cross-national Comparison of 29 OECD Countries. Gütersloh, 26.

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Jörg Tremmel

Intergenerationelle Gerechtigkeit:

Gerechtigkeit zwischen Generationen

Art der Bezugsobjekte - temporale Generationen - intertemporale Generationen - familiale Generationen

Räumlicher Fokus - global - national - regional

Intragenerationelle Gerechtigkeit:

Gerechtigkeit innerhalb einer Generation

Soziale Gerechtigkeit Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich innerhalb eines Landes

Internationale Gerechtigkeit Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Ländern

Geschlechtergerechtigkeit Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen

Weitere Formen: Gerechtigkeit zwischen Kranken und Gesunden, Familien und Kinderlosen, den Ethnien, den Religionen usw.

Abb. 5: Sphären inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit Quelle: Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Hier S. 26. Sind wir kommenden Generationen überhaupt etwas schuldig?

Nach dieser Einführung in die ‚Kunst des Generationenvergleichs‘ zum Zweck der Begriffsklärung kommen wir nun zu den Kernfragen der Generationenethik, von denen es drei gibt: Ist eine Generation ihren Nachfolge-Generationen etwas schuldig? Wenn ja, wie viel? Und wovon eigentlich? Die erste Kernfrage lässt sich klar bejahen. Aus moralischer Sicht dürfen zufällige Kriterien keine Basis für eine Schlechterstellung sein. Dazu gehört auch der Zeitpunkt der Geburt. Das Nicht-Diskriminierungsverbot aufgrund zufälliger Kriterien wie Geschlecht oder Hautfarbe gilt universell und ist aus traditionellen Gerechtigkeitstheorien bekannt. Heubach folgert daraus: „Gene-

Generationengerechtigkeit

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rationengerechtigkeit ist erreicht, wenn niemand aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation benachteiligt wird.“21 Dies ist aber eine zu vorschnelle Bestimmung von Generationengerechtigkeit. Denn durch das Voranschreiten der Zeit (die ‚Gerichtetheit des Zeitstrahls‘) ergeben sich entscheidende Unterschiede zwischen Generationengerechtigkeit und Konzepten der intragenerationellen Gerechtigkeit (zum Beispiel Gerechtigkeit zwischen Armen und Reichen, Männern und Frauen, verschiedenen Nationen etc.). Im Rahmen des egalitaristischen Denkens muss jede Definition das ethische Prinzip ‚Sollen impliziert Können‘ berücksichtigen. Jede Definition muss berücksichtigen, dass heute lebende Menschen das Los ihrer verblichenen Vorfahren (früherer Generationen) nicht mehr verändern können. Die obige Definition ist also umzuformulieren in: „Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn künftige Generationen nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation benachteiligt werden.“ Auch diese Definition ist egalitaristisch, denn sie sieht eine Gleichstellung von heutigen und künftigen Generationen vor. Doch ist es berechtigt, diese Gleichstellung als ‚generationengerecht‘ zu bezeichnen? Durch das ewige Voranschreiten der Zeit kommt es zu einer asymmetrischen Machtverteilung. Im Falle nicht-überlappender Generationen gilt: Frühere Generationen können spätere schädigen, aber nicht umgekehrt. Die Feststellung asymmetrischer Machtverhältnisse – wir können das Wohl künftiger Menschen, mit denen wir keine gemeinsame Lebenszeit haben, positiv oder negativ beeinflussen, aber nicht umgekehrt – liegt jedem Nachdenken über die gerechte Ausgestaltung der Verhältnisse nicht-überlappender Generationen als Prämisse zu Grunde. Die fehlende Reziprozität wurde von Gerechtigkeitstheoretikern aus der kontraktualistischen Tradition als Argument verwendet, um jegliche Pflichten gegenüber kommenden Generationen zu bestreiten (‚Warum sollte ich etwas für die Nachwelt tun? Was hat sie jemals für mich getan?‘). Laut des französischen Philosophen Olivier Godard ist die Idee der Gerechtigkeit „schlicht nicht ­passend, um unsere Beziehung zu künftigen Generationen zu charakterisieren.“22 Dieser Einwand gilt für temporale und familiale Generationen nicht. Eine junge Generation hat natürlich die Möglich­keit, es ihrer Vorgängergeneration ‚heimzuzahlen‘ oder auch sich im Gegenteil erkenntlich zu zeigen, wenn die junge Generation selbst zur mittleren Generation geworden ist und die mittlere zur alten. Hierbei vollzieht sich Leistung und Gegenleistung zwischen den gleichen Akteuren, nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

21 22

Heubach, Andrea (2008): Generationengerechtigkeit – Herausforderung für die zeitgenössische Ethik. Göttingen. Hier S. 44. Godard, Olivier (2006): Justice ou Promesses pour les Générations Futures, in: Intergenerational Justice Review (Französisch-Deutsche zweisprachige Ausgabe) (6/1). S. 19– 20. Hier S. 19.

60

Jörg Tremmel Direkte Reziprozität zwischen temporalen Generationen 1. Periode

2. Periode

Direkte Reziprozität zwischen familialen Generationen 1. Periode

1. Generation

G1 61- 90 Jahre

2. Generation

G2 31 - 60 Jahre

G2 61 - 90 Jahre

G2 Eltern

3. Generation

G 3 0 - 30 Jahre

G3 31 - 60 Jahre

G3 Kinder

4. Generation (=neu)

2. Periode

G1 Großeltern

G4= neu 0 - 30 Jahre

G2 Großeltern

G3 Eltern

G4= neu Kinder

Abb. 6: Direkte Reziprozität zwischen temporalen und familialen Generationen Quelle: Eigene Darstellung. Wenn zum Beispiel Kinder in ihren jungen Jahren von ihren Eltern gepflegt und ernährt wurden, erwächst ihnen nach dem Reziprozitätsprinzip eine Verpflichtung, für ihre Eltern zu sorgen, wenn letztere alt und bettlägerig geworden sind und Pflege benötigen. Wenn Kinder dagegen von ihren Eltern vernachlässigt wurden, so würde das Reziprozitätsprinzip besagen, dass sie ihre Eltern, wenn diese Pflegefälle geworden sind, vernachlässigen dürfen. Kinder und Greise sind im Hobbes’schen Sinne schwach und hilflos. Die mittlere Generation ist mächtig und stark, aber sie weiß, dass auch sie eines Tages die alte Generation sein wird. Da sie kein Interesse daran hat, dass ihre ‚Schwäche‘ dann ausgenutzt wird, behandelt sie die nachrückende Generation gut. Indirekte Reziprozität zwischen temporalen Generationen 1. Periode

2. Periode

Indirekte Reziprozität zwischen familialen Generationen 1. Periode

1. Generation

G1 61 - 90 Jahre

2. Generation

G 2 31 - 60 Jahre

G2 61 - 90 Jahre

G2 Eltern

3. Generation

G 3 0 - 30 Jahre

G3 31 - 60 Jahre

G 3 Kinder

4. Generation (=neu)

2. Periode

G1 Großeltern

G 4=neu 0 - 30 Jahre

G2 Großeltern

G3 Eltern

G4= neu Kinder

Abb. 7: Indirekte Reziprozität zwischen temporalen und familialen Generationen Quelle: Eigene Darstellung.

Generationengerechtigkeit

61

Zwar kann die Reziprozitätsnorm nicht direkt auf das Verhältnis intertemporaler Generationen übertragen werden, aber sie gibt uns wichtige Anhaltspunkte. Die bedeutendste Schrift des rabbinischen Judentums, der Talmud, erzählt dazu ein machtvolles Gleichnis: Ein alter Mann wird gefragt, warum er einen Baum pflanze, da er doch gar nicht mehr erleben werde, wie der Baum erblühe. Er antwortet: „Als ich auf die Welt kam, war die Welt voller Bäume.“ Fazit: Sowohl bei intertemporalen, aber auch bei temporalen und familialen Generationsverhältnissen ist ein Prinzip indirekter Reziprozität anwendbar. Zwischen temporalen und familialen Generationen gilt zusätzlich auch das Prinzip direkter, phasenverschobener Reziprozität.

Indirekte Reziprozität zwischen intertemporalen Generationen 1. Periode 1. Generation

2. Generation

2. Periode

Intertemporale Generation 1 (z.B. Jahrgänge 1800-1900) Intertemporale Generation 2 (z.B. Jahrgänge 1901-2015)

Abb. 8: Indirekte Reziprozität zwischen intertemporalen Generationen Quelle: Eigene Darstellung. Reziprozität – oft verstanden als eine ‚Moral für Egoisten‘ – ist eine umstrittene Gerechtigkeitsnorm. Möglicherweise lässt sich der Spieß aber gänzlich umdrehen. Das hieße dann, dass die Idee von ‚Gerechtigkeit als Reziprozität‘ durch die Idee der Generationengerechtigkeit „herausgefordert, vermutlich sogar in Frage gestellt worden ist“23, nicht umgekehrt. Gerechtigkeitstheoretiker, die ‚Gerechtigkeit als Reziprozität‘ schon vorher in keinem Bereich für ein legitimes Gerechtigkeitskonzept hielten, haben nun ein weiteres Argument auf ihrer Seite.24 Wir dürfen weiterschreiten, weil wir gesehen haben, dass Theorien der Generationengerechtigkeit nicht grundsätzlich unmöglich sind. Wir können die erste Kernfrage ‚Ist eine Generation ihren Nachfolge-Generationen überhaupt etwas schuldig?‘ wie folgt beantworten: Ja, wir haben Pflichten gegenüber kom23 24

Hösle, Vittorio (2003): Dimensionen der ökologischen Krise – Wege in eine generationengerechte Welt, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München, S. 125–152. Hier S. 133. Neben dem Einwand fehlender Reziprozität lassen sich auch alle anderen Argumente entkräften, die behaupten, wir schuldeten kommenden Generationen nichts. Dies gilt namentlich für das Nicht-Identitätsproblem sowie für den Einwand, künftigen Genera­ tionen könnten keine Rechte zugeschrieben werden. Vgl. dazu Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Münster. Hier S. 72–117.

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Jörg Tremmel

menden Generationen. Das Ausmaß dieser Pflichten ist noch unbestimmt, aber ihr Vorhandensein kann nicht ernsthaft bestritten werden. Der nächste Abschnitt diskutiert, wie viel wir zukünftigen Generationen schulden. Wie viel sind wir kommenden Generationen schuldig?

‚Wie viel sind wir kommenden Generationen schuldig? Wie viel sollen wir für sie erhalten bzw. weitergeben?‘ – diese Formulierungen fragen nach der gerechten Verteilung von Ressourcen, Gütern und Lasten zwischen Generationen. Dabei ist die Weitergabe nur in eine zeitliche Richtung möglich: in die Zukunft. Nur sehr wenige Autoren sprechen sich für einen intergenerationellen Suffizienziarismus aus.25 Der Suffizienziarismus beurteilt Gerechtigkeit nach einem absoluten Standard: Eine spätere Generation wird gerecht behandelt, wenn ihr Wohl mindestens auf dem Suffizienzlevel ist. Ob sie besser oder schlechter dran ist als andere Generationen, ist dabei ohne Belang. Die große Mehrheit aller Philosophen vertritt im Hinblick auf intergenerationelle Gerechtigkeit keinen absoluten Standard menschlichen Wohls, sondern einen komparativen, also einen, der das erstrebenswerte Level an Wohl im Vergleich mit anderen Generationen festlegt. Im Rahmen solch komparativer Standards werden strikt egalitaristische Prinzipen (‚genauso gut wie‘) relativ selten postuliert. Sie finden sich beispielsweise bei Scherbel: „Generationengerechtigkeit bedeutet konkret, dass die heute Jungen und nachfolgende Generationen gleichwertige Lebensgestaltungschancen besitzen sollen, wie die gegenwärtig gesellschaftlich und politisch verantwortliche Generation.“26 Als dritte Möglichkeit werden in der Literatur zu Generationengerechtigkeit komparative Standards zusammen mit der Formulierung ‚mindestens genauso gut‘ verwendet, aber auch – viertens – der Ausdruck ‚besser als‘ wird gebraucht. Einige Beispiele: Ähnlich wie John Locke rund 300 Jahre vor ihm („mindestens so viel und so gut“27) schreibt der Philo25 26

27

Vgl. etwa Meyer, Lukas H.; Roser, Dominic (2009): Enough for the Future, in: Gosseries, Axel; Meyer, Lukas H. (Hrsg.): Intergenerational Justice. Oxford, S. 219–248. Scherbel, Andreas (2003): Die Begründung von Generationengerechtigkeit im Schöpfungsglauben der monotheistischen Offenbarungsreligionen, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München, 175–197. Hier S. 178. Einen egalitaristischen Standard postulieren auch Barry (1978): Circumstances of Justice and Future Generations. In: Sikora, Richard; Barry, Brian (Hrsg.): Obligations to Future Generations. Philadelphia, S. 205–248. Hier S. 244. und Ott, Konrad; Döring, Ralf (2004): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg. Hier S. 92. Ein weiteres Beispiel für die Position des intergenerationellen Egalitarismus ist das schon erwähnte Zitat bei Heubach (2008), S. 44. Locke, John (1977): Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690). Hrsg. von Walter Euchner. Frankfurt, S. 215–217 (II § 25) führt aus, dass Gott den Menschen gemeinsam die Erde übertragen habe. Damit wendet er sich im 17. Jahrhundert gegen die Ansicht der Royalisten, dass letztlich nur der Monarch über Eigentum an den Ressourcen verfüge. Locke erläutert, dass jedermann sich rechtmäßig Land aneignen könne, wenn er

Generationengerechtigkeit

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soph Otfried Höffe: „Verantwortungsvolle Eltern hinterlassen ihren Kindern ein Erbe, das möglichst größer [Herv. J.T.] ausfällt, als sie es von ihren Eltern übernommen haben.“28 Rakowski drückt es so aus: „Jeder, der in eine Gesellschaft hineingeboren wird, hat als ein Minimum [Herv. J.T.] Anrecht auf dieselbe Menge an Ressourcen wie alle erhalten haben, die an der ursprünglichen Aufteilung der Güter und des Landes der Gemeinschaft partizipiert haben.“29 Dieter Birnbacher argumentiert ähnlich: „Was er ererbt hat, soll er ungemindert (‚Bewahren‘) und womöglich gesteigert [Herv. J.T.] (‚Bebauen‘) an die Zukünftigen weitergeben, sowohl als Privatmann als auch als Vertreter eines Kollektivs.“30 Kavka schlägt in die gleiche Kerbe: „Ich interpretiere das so, dass in diesem Kontext die fragliche Generation ihre Nachfolger-Generation mindestens [Herv. J.T.] so gut stellt, bezogen auf nutzbare Ressourcen, wie sie von ihren Vorgängern gestellt wurde.“31 Auch die Intuition von James Woodward ist nicht weit davon entfernt: „Jede Generation sollte für nachrückende Generationen eine Bandbreite an Ressourcen und Chancen hinterlassen, die mindestens gleich groß [Herv. J.T.] ist wie die Bandbreite der eigenen Ressourcen und Chancen.“32 In der Zunft der Ökonomen ist das Prinzip des nicht-abnehmenden Wohls populär. Demnach ist Generationengerechtigkeit erreicht, wenn ein einmal erreichtes Level an Wohlstand in der Zukunft nicht mehr unterschritten wird.33

28 29 30 31 32 33

unkultiviertes Land mit der Arbeit seiner Hände veredelt. „Denn da diese Arbeit das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist. Zumindest nicht dort, wo genug und ebenso Gutes den Anderen gemeinsam verbleibt“ [Herv. J.T.]. Dieser in der politischen Philosophie als ‚Lockean Proviso‘ bezeichnete Zusatz wird in der Debatte über Generationengerechtigkeit häufig erwähnt. Der Vorbehalt zum Aneignungsrecht wird von Locke so begründet: „Denn wenn jemand einem anderen so viel übrig lässt, wie er nutzen kann, handelt er so, als nehme er überhaupt nichts. Niemand kann sich durch das Trinken eines anderen, auch wenn er einen guten Schluck genommen hat, für geschädigt halten, wenn ihm ein ganzer Fluss desselben Wassers bleibt, um seinen Durst zu stillen.“ (Locke 1977, S. 220). Dies wurde zu einer Zeit geschrieben, als die Ressourcen noch unerschöpflich schienen. Bezieht man den Lockeschen Vorbehalt auf das intergeneratio­ nelle Verteilungsproblem, so dürfte die heutige Generation nur die Ressourcen nutzen, von denen so viel vorhanden ist, dass auch künftige Generationen keinen Mangel leiden. Höffe, Otfried (2007): Gerechtigkeit zwischen den Generationen, in: Intergenerational Justice Review (7/4), S. 4–6. Hier S. 6. Rakowski, Eric (1991): Equal Justice. Oxford. Hier S. 150. Birnbacher, Dieter (1988): Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart. Hier S. 220. Kavka, Gregory (1978): The Futurity Problem, in: Sikora, Richard; Brian, Barry (Hrsg.): Obligations to Future Generations. Philadelphia. Hier S. 200. Woodward, James (1986): The Non-Identity Problem, in: Ethics (96/4), 804–831. Hier S. 819. Führende Ökonomen behaupten, dass ihre Disziplin diesen Gedanken schon ausformuliert und vertreten habe, bevor der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ populär wurde: „Neoklassische Wachstumstheorie […] hat die Idee der Nachhaltigkeit in der Formulierung der ‚Goldenen Regel‘, das ist diejenige Konfiguration der Wirtschaft, die das bis in alle

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Jörg Tremmel

Der liberale Ökonom Robert Solow führt aus: „Die Pflicht, die uns die Nachhaltigkeit auferlegt, lautet, [die Nachwelt] mit alledem auszustatten, was notwendig ist, damit sie einen Lebensstandard hat, der mindestens so hoch [Herv. J.T.] wie unser eigener ist.“34 Aber auch die Auffassung, dass Generationengerechtigkeit eine (nicht durch ‚vielleicht‘ oder ‚möglichst‘ eingeschränkte) Verpflichtung beinhaltet, das Wohl nachrückender Generationen zu steigern, hat ihre Anhänger. Und dies quer durch alle Parteien bzw. politische Richtungen. Der Ökonom Richard Hauser formuliert: „Jede Generation sollte an die nachfolgende einen positiven Netto­ transfer leisten, der höher [Herv. J.T.] ist als jener, den sie von ihrer Vorgängergeneration empfangen hat.“35 Niemand Geringeres als Karl Marx legte im Dritten Band des Kapitals einen ganz ähnlichen Gedanken nieder: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert [Herv. J.T.] zu hinterlassen.“36 Der Autor dieses Artikels gehört auch zu dieser letzten Gruppe: „Genera­ tionengerechtigkeit ist erreicht, wenn die Chancen der Angehörigen der nächs­ ten Generation, sich ihre Bedürfnisse erfüllen zu können, im Durchschnitt besser sind als die der Angehörigen ihrer Vorgänger-Generation.“37 Soweit das Meinungsbild. Aber welche Begründungen gibt es für die oben dargestellten Meinungen? Dafür sind etablierte Gerechtigkeitskonzeptionen auf ihre Anwendbarkeit auf den intergenerationellen Kontext zu prüfen: Gerechtigkeit als Unparteilichkeit und Gerechtigkeit nach dem formalen Grundsatz ‚Gleiches gleich, Un­gleiches ungleich behandeln‘. Zuvor muss jedoch eine Entscheidung getroffen werden: Welches ist eigentlich das intrinsisch wertvolle Gut, welches im Generationenvergleich erhalten bzw. weitergegeben werden sollte? Als alternative Antworten auf diese axio-

34 35 36

37

Zukunft aufrechterhaltbare höchstmögliche Konsumniveau pro Kopf liefert, vorangebracht“, schreiben Arrow, Kenneth J. u.a. (1996): Intertemporal equity, discounting, and economic efficiency, in: Bruce, James u.a. (Hrsg.): Climate Change 1995: Economic and Social Dimensions of Climate Change: Contribution of Working Group III to the Second Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge, S. 125–144. Hier S. 140. Solow, Robert M. (1992): Growth with Equity through Investment in Human Capital. Minnesota. Hier S. 15. Hauser, Richard (2004): Generationengerechtigkeit, Volksvermögen und Vererbung, in: Böhning, Björn; Burmeister, Kai (Hrsg.): Generationen & Gerechtigkeit. Hamburg, S. 29–44. Hier S. 36. Marx, Karl (1975): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1894), in: ders.; Engels, Friedrich: Werke 25 (Teilbd. 3). Berlin. Hier S. 784 (aus dem 46. Kapitel Baustellenrente. Bergwerksrente. Bodenpreis, VI. Abschnitt Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente). Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Hier S. 290.

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logische Frage werden in der Aufzählung oben ‚gleichwertige Lebensgestaltungschancen‘, ‚Erbe‘, ‚Ressourcen‘, ‚Güter‘, ‚Land‘, ‚Bandbreite an Ressourcen und Chancen‘, ‚Wohlstand‘, ‚Konsumniveau pro Kopf‘, ‚Lebensstandard‘, oder ‚positiver Nettotransfer‘ genannt. Hier die richtige Auswahl zu treffen, ist mindestens ebenso schwierig wie die Beantwortung der Gerechtigkeitsfrage.38 Wie an anderer Stelle ausführlich diskutiert39, bietet es sich an, sich für das ‚Wohl‘ zu entscheiden. Die Entwicklung von Indikatoren und Messkonzepten für das ‚Wohl‘ startete in den 1960ern – als ein Gegenentwurf zum Denken in rein ökonomischen Maßen wie dem BIP. Die Gruppe der so genannten objektiven (deskriptiven) Ansätze beschreibt beobachtbare Lebens­bedingungen und Ressourcen, die üblicherweise von Sozial-, Wirtschafts-, Naturwissen­schaftlern oder Medizinern erfasst werden.40 Zu diesen Ansätzen gehören der Human-Development-Index (= Index der menschlichen Entwicklung, kurz: HDI), der Human-Wellbeing-Index und der Weighted-Index-of-Social-Progress. Der sicherlich bekannteste unter diesen Indizes ist der HDI, der seit 1990 jährlich vom United-Nations-Human-Development-Programme (UNDP) berechnet wird. Die Grundidee hinter dem HDI ist, dass menschliche Ent­wicklung sich nicht allein auf ökonomischen Wohlstand beschränken darf, sondern in der Er­weiterung der (Aus-)Wahlmöglichkeiten der Menschen und der Herstellung einer Umgebung liegen muss, die es den Menschen ermöglicht, lang, gesund und produktiv leben zu können. Der HDI bezieht sich auf drei Komponenten, die als Schlüsselvoraussetzun­gen für menschli­che Entwicklung angesehen werden. Diese sind: 38



39 40

Viele Menschen denken intuitiv an den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, wenn man sie fragt, was wir für unsere Nachkommen erhalten sollten, ‚Generationenethik‘ sollte jedoch nicht mit ‚Umweltethik‘ verwechselt werden – auch wenn es natürlich Überlappungen gibt. Eine Generationenethik muss zwangsläufig neben der Ökologie auch andere Politikfelder einbeziehen. Warum kann der Erhalt eines ungeschmälerten Naturkapitals nicht die einzige Pflicht gegenüber nachrückenden Generationen sein? Nun, offensichtlich hatten die ersten menschlichen Generationen, weit vor dem Neolithikum, den größten Bestand an Naturkapital zur Verfügung. Wenn sie es nicht teilweise hätten ersetzen dürfen, befänden wir uns immer noch auf dem Niveau der Jäger und Sammler. Der Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich resümiert: „[Wir] Menschen sind nicht dazu da, um die Welt wieder so zu verlas­sen, als wären wir gar nicht dagewesen. Wie für alle Lebewesen gehört es auch zu unserer Natur und zu unserem Leben, Veränderungen in die Welt zu bringen. Dies legitimiert natürlich nicht die zerstörerischen Lebensformen, auf die wir uns ein­gelassen haben. Aber erst dann, wenn wir die menschliche Weltver­änderung grundsätzlich bejahen, können wir uns der entscheidenden Frage zu­wenden, wel­che Veränderungen dem menschlichen Dasein angemessen sind und welche nicht.“ (Meyer-Abich, Klaus M. [1997]: Ist biologisches Produzieren natürlich? Leitbilder einer naturgemäßen Technik, in: GAIA 6 (4), S. 247–252. Hier S. 247.). Vgl. Tremmel, Jörg (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Hier S. 119– 212. Aufgrund der immensen Probleme der so genannten subjektiven Ansätze zur Messung von Wohl wird im Folgenden nur auf die objektiven Ansätze eingegangen.

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1. die Möglichkeit, ein langes und gesundes Leben führen zu können, gemessen an der Lebenser­wartung bei der Geburt, 2. Bildung, ge­messen an der Alphabetisierungsquote der erwachse­nen Bevölkerung (mit zwei Dritteln gewichtet) kombiniert mit der primären, sekundären und tertiären Immatrikulationsquote (mit einem Drittel gewichtet) und 3. der Lebensstandard, ge­messen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Der HDI wird im Folgenden als Maßeinheit für das menschliche Wohl verwendet. Wir können uns somit der vorhin aufgeschobenen Frage zuwenden, wie viel wir kommenden Generationen schulden. Gerechtigkeit als Universalisierbarkeit: Rawls’ Schleier der Unwissenheit

Nach der Idee der ‚Gerechtigkeit als Universalisierbarkeit‘ sind Handlungsgrundsätze gerecht, wenn sie universalisierbar (synonym: verallgemeinerungsfähig) sind. Universalisierbarkeit gilt dabei als grundlegendes Prinzip der Moral, ja es ist synonym zum ‚moral point of view‘. Die Idee der Gerechtigkeit als Universalisierbarkeit wandelt nun den Satz „Eine Norm ist moralisch, wenn sie universalisierbar ist“ um in „Eine Norm ist gerecht, wenn sie universalisierbar ist.“ ‚Gerechtigkeit als Universalisierbarkeit‘ kann als verfahrensorientierte Annäherung an die Gerechtigkeit betrachtet werden: Wenn eine Methode die Universalisierbarkeit herstellt, muss die geprüfte Maxime – wie auch immer sie lautet – gerecht sein. Was aber ist unter dem Begriff ‚Universalisierbarkeit‘ genau zu verstehen? Die Fähigkeit, von den eigenen Interessen und Wünschen zu abstrahieren, wohnt jedem Menschen inne. Nicht jeder ist jedoch gleich geübt in dieser Abstraktionsleistung. Kinder sind dazu grundsätzlich erst ab einem gewissen Alter in der Lage. Nagel nennt dies eine ‚dualistische Perspektive‘: Einerseits sähen wir die Dinge quasi von unser eigenen Warte, andererseits von einer überpersönlichen Warte aus.41 Nur die letztgenannte Perspektive, die gleichbedeutend mit der Universalisierbarkeit von Normen ist, dürfe jedoch ‚moralisch‘ genannt werden. Die ‚Universalisierbarkeit‘ der Norm entspricht der ‚Unparteilichkeit‘ der Person bzw. des Standpunktes. Die Idee von Gerechtigkeit als Unparteilichkeit wird oft durch die bedeckten Augen der römischen Gottheit Justitia symbolisiert; Statuen von ihr zieren viele Gerichtsgebäude und öffentliche Plätze. Die grundlegende Annahme der Theorie der ‚Gerechtigkeit als Unparteilichkeit‘ lautet in den Worten von Brian Barry: Gerechtigkeit sollte der Inhalt einer Übereinkunft sein, welche durch vernünftige Personen erreicht wurde unter Bedingungen, die die individuelle 41

Vgl. Nagel, Thomas (1994): Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie. Paderborn. Hier S. 20.

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Verhandlungsmacht der Personen ausschalten. […] Die Konsequenz von ‚Gerechtigkeit als Unparteilichkeit‘ ist, dass aus diesem Denkansatz, wie auch immer er im Detail ausgearbeitet ist, folgt, dass die Individuen die Dinge nicht von ihrem eigenen Standpunkt aus alleine betrachten, sondern danach streben, eine Basis für einen Kompromiss zu finden, der von allen Blickpunkten aus akzeptabel ist.42 Im Folgenden soll Rawls’ Schleier der Unwissenheit angewandt werden, um Prinzipien für die Gerechtigkeit zwischen Generationen zu finden. Die intergenerationelle Analogie zum intragenerationellen ‚Urzustand‘ lautet wie folgt: Die Vertreter aller vergangenen, der gegenwärtigen und aller zu­künftigen Generationen treffen sich im ‚Urzustand‘. Sie wissen nicht, welcher Generation sie angehörten bevor der ‚Schleier des Nichtwissens‘ niedersank und in welcher sie leben werden, so­bald er aufgehoben ist. Jeder Vertreter lässt sich von seinen Inte­ressen leiten. Es können nun verschiedene Szenarien durchgespielt und mehrere Variablen verändert (un/endliche Zahl von Generationen, un/veränderlicher Gang der Geschichte, Egois­mus/Altruismus etc.) werden. Sinnvoll ist es sicherlich, eine endliche Zahl von Gene­rationen anzunehmen. Aber wie viele? Der erste moderne Mensch (homo sapiens) trat rund 130.000 Jahre vor Christus auf.43 Wir können die Zukunft nicht vorhersagen, also müssen wir eine willkürliche Festlegung über die Zahl künftiger Generationen treffen. Wir nehmen einmal an, dass der Mensch für weitere 130.000 Jahre existieren wird. Wir erreichen eine Zahl von etwa 6000 nicht-überlappenden intertemporalen Generationen des homo sapiens, die die Erde bevölkert haben oder dies noch in der Zukunft tun werden. Die Versammelten im Urzustand haben ein grundlegendes Verständnis für evolutio­näre Prozesse; sie wissen also, dass sich höhere Stadien aus niedrigeren ent­wickeln. Folglich hat jede Generation ein ungefähres Wissen über den Zivilisati­onsstand und das durchschnittliche Level an Wohl von vorangegangenen Generatio­nen. Die Ver­treter der Generation 4574 wissen, dass ihr HDI weitaus höher ist als jener der Vertreter der Generationen 878, 1739, 2345 oder 3009. 42

43

Barry, Brian (1989): Theories of Justice. A Treatise on Social Justice 1. London/Sidney/ Tokio. Hier S. 7 f. Vgl. zur Unparteilichkeit auch Gert, Bernhard (2001): Impartiality, in: Becker, Lawrence C.; Becker, Charlotte (Hrsg.): Encyclopedia of Ethics. New York/ London, S. 599–600. Singer, Marcus G. (1975): Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens. Frankfurt am Main. Lohmann, Georg (2001): Unparteilichkeit in der Moral, in: Günther, Klaus; Wingert, Lutz (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Eine Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt, S. 434–455. Sen, Amartya (2002): Open and Closed Impartiality, in: Journal of Philosophy (99/9), S. 445–469. Seine Brüder und Vettern, etwa der homo neanderthalensis, der homo denisova, der homo soloensis und der homo floresiensis, sind heute ausgestorben.

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Für jeden Einzelnen der Versammelten liegt die Ver­gangen­heit der Menschheit offen wie ein Buch. Ebenso wie für uns, die Menschen des Jahres 2014. Wir kennen die medizinischen Vorteile, wel­che die Anzahl der Jahre in guter Gesundheit haben ansteigen las­sen, die wirtschaftli­chen und technologischen Errungenschaften, welche die Ausstattung mit Konsumgü­tern verbessert haben und Arbeitsstunden zurückge­schraubt haben, und auch die politi­schen und sozialen Entwicklungen, die sowohl zur Verbreitung von Menschen- und Bürgerrechten als auch zur Demokratie führten. Erin­nern wir uns, wie das tägliche Leben aussah, wenn wir nur einige Generationen zu­r ückgehen. Im Jahr 1850 lag die durchschnittliche weltweite Lebenserwartung bei 30 bis 40 Jahren, der größte Teil der Bevölkerung war unfrei, die sozialen Unterschiede enorm, Kriege und Seuchen häufig. Wäsche waschen dauerte Tage, Reisen dauerte Wochen. Die breite Masse konnte weder lesen noch schreiben. Die Grundbedürfnisse waren bei der breiten Masse in weit geringerem Umfang gedeckt als heute, Hunger war weitverbreitet. Selbst in den damals am weitesten entwickelten Ländern war der Alltag des größten Teils der Bevölkerung von bitterer Armut, Krankheiten und dem Kampf um das Überleben geprägt. Man kann sich heute schwer vorstellen, was es heißt, dass Operationen ohne Narkose ausgeführt wurden: Bei einem chirurgischen Eingriff mussten sogar Könige furchtbare Schmerzen erleiden. Schmerzen, die heute jedem krankenversicherten Hilfsarbeiter in Europa erspart bleiben. Der Historiker Lawrence Stone führt aus: „Da persönliche und öffentliche Hygiene fast völlig unbekannt waren, bildeten verdorbene Nahrung und verseuchtes Wasser einen ständigen Gefahrenherd. […] Das Ergebnis dieser primitiven Hygienebedingungen war ein ständiges Ausbrechen bakterieller Magen­ infektionen, wobei die Ruhr am furchtbarsten war und in Stunden oder Tagen viele Opfer unter beiden Geschlechtern und allen Altersgruppen forderte. Magenbeschwerden aller Art waren chronisch und bei den Reichen auf unausgewogene, bei den Armen auf zu geringe oder verdorbene Nahrung zurückzuführen. […] Die häufigen Wurmkrankheiten […] bildeten ein langwieriges und unappetitliches Leiden […]. Für Frauen war das Kindergebären eine äußerst gefährliche Erfahrung. […]. [Weiterhin] gab es die ständige Gefahr tödlicher Unfälle durch […] den Umgang mit Tieren – Pferde waren wohl mindestens so gefährlich wie heute Autos […].“44 Beziehen wir die Mitglieder alle Generationen, die jemals existiert haben, in unsere Betrachtung mit ein, so lebten die meisten von ihnen als Jäger und Sammler. Der My­thos, dass die Menschen vor der Sesshaftigkeit besser ‚dran‘ waren, weil sie ein natürli­ches und stressfreies Leben führten, ist schon lange entzaubert. Üblicherweise war das Leben der Jäger und Sammler nach unseren Maßstäben in keiner Weise angenehm. Bedroht von Raubtieren, von Ungeziefer geplagt, mit Würmern im Darm und Flie­genlarven in den Augen lebten – 44

Stone, Lawrence (1979): The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800. London. Hier S. 62 f.

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oder besser: vegetierten – sie dahin. Und was die Natur ihnen nicht antat, das fügten sie sich selbst zu: Die meisten Stämme waren ständig im Kriegszustand mit ihren Nachbaren, versklavten ihre Frauen, verstümmelten sich selbst in grausamen Ritualen und hingen jeder erdenklichen Art von Aberglauben an, der ihnen für die Zukunft noch größeres Unheil androhte, als es die Gegenwart ihnen zufügte. Nehmen wir den ‚Human-Development-Index‘ als Maß für das Wohl, so ist das Wohl eines durchschnittlichen Erdenbürgers trotz regionaler Un­terschiede in den letzten Jahrhunderten im globalen Maßstab stetig gestiegen. Aber die Zukunft ist unbekannt. Wir wissen nicht, ob der durchschnittliche HDI weiterhin wachsen wird, oder ob globale Gefahren wie der Klimawandel oder die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen –­und irgendwann ihr erneuter Einsatz – zu einer rückläufigen Entwicklung führen werden. Der Einfachheit halber gruppieren wir die 6.000 Generationen in sechs Generationen zu je 1.000 Einheiten. Wir ordnen diesen Tausendergenera­ tionen historische Namen zu (Neanderta­ler, Früher Nomade, Später Nomade, Ackerbauer, Moderner Mensch, Mensch der Zu­kunft). Wir können uns jetzt ein Treffen von nur sechs Personen ausmalen. Jede von ihnen repräsentiert ein bestimmtes Niveau des Wohlergehens bzw. der Entwicklung der Menschheit (gemessen durch den HDI). Tab. 4: 6000 Generationen und ihr durchschnittliches Wohl Genera- 1–1000 tionen Neandertaler

1001– 2000 Früher Nomade

2001– 3000 Später Nomade

3001– 4000 Acker­bauer

Ø HDI 100

200

300

400

4001– 4574 4573 Moderner Gegen­ Mensch wärtige Genera­tion (ge­hört dem modernen Menschen an) 450 500

4575– 5000 Moderner Mensch

5001– 6000 Mensch der Zu­kunft

?

?

Dieses Gedankenexperiment ist übersichtlich. Die Diskussionen in unserer fiktiven Runde werden aber rasch sehr komplex. Angenommen GGegenwart (die heutige Generation, mit anderen Worten: Sie und ich) ist G4574 in der Reihe aller 6.000 Generationen und hat einen HDI von 500. Für uns ist die Zukunft unbekannt. Wir, die externen Beobachter dieses Gedankenexperimentes, kennen die Geschichte nur bis zur (reellen) Gegenwart. Im ‚Urzustand‘ hingegen ist auch die Kenntnis der Zukunft vorhanden: Der ‚Mensch der Zukunft‘ sitzt zwischen den anderen fünf Teil­nehmern und weiß genau, was zwischen G5000 und G6000 noch passieren wird. Ent­scheidend für das Gedankenexperiment ist der Wissensstand der Versammelten, nicht unser eigener. Wir müssen also verschiedene mögliche Szenarios berücksichtigen: Im Falle eines positiven Szena-

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rios ist der HDI des ‚Mensch der Zukunft‘ auf 600 ange­wachsen. Im Falle eines neutralen Szenarios wird er bei 500 stehen geblieben sein (wie der HDI des ‚Modernen Menschen‘), und im Falle einer Katastrophe ist er auf, sagen wir, 50 gefallen. Auf einer intragenerationellen Ebene machen es die Umstände möglich, das Wohl der am schlechtesten gestellten Mitglieder einer Gesellschaft auf­ zubessern, indem die Situation der am besten gestellten Gesellschaftsmitglieder ver­schlechtert wird. Das ist auf einer intergenerationellen Ebene selbst dann nicht mög­lich, wenn wir den Parameter ‚Geschichte veränderlich‘ wählen: Generation 1 würde nicht durch eine verschlechterte Situation von Generation 4574 profitieren. Wenn der ‚Schleier des Nichtwissens‘ gelüftet ist, wird immer Gene­ration 1 im Jahr 130.000 vor Christus in einer kalten Höhle aufwachen, von Ungeziefer und Infektionskrankheiten gepeinigt. Die Versammelten können daran nichts ändern. Sie sind keine Illusionisten. Sie wissen, dass es Millionen von Jahren gebraucht hat, um den Menschen zu erschaffen, und dass der Werdegang der Zivilisation und die Ent­wicklung all der Vorzüge, die das Leben verlängern und es angenehm machen, eben­falls Zeit brauchen. Spätere Generationen können von den Erfindungen, Innovationen und Erfahrungen ihrer Vorgänger profitieren. Es gibt aber umgekehrt keinen Weg, dass frühere Generationen von in ihrer Zukunft entwickelter Technologie und Medizin profitieren können, da die Zeit nur in eine Richtung verläuft und unum­kehrbar ist. Jede Generation hat aufgrund der ‚autonomen Fortschrittsfaktoren‘ eine andere Ausgangsposition, eine spätere Generation hat im Normalfall einen Startvorteil gegenüber einer früheren. Chancengleichheit ist also nie gegeben. Alle Beteilig­ ten wissen, dass die HDI-Verteilung aus Tabelle 5 nicht erreicht werden kann. Tab. 5: Verteilung des Wohls (Wunschdenken) Genera- 1–1000 1001–2000 2001–3000 3001–4000 4001–5000 5001–6000 Durchtionen schnitt Ø HDI 800 800 800 800 800 800 800

Möglicherweise werden die Versammelten – am Gleichheitsgedanken festhal­ tend – daraufhin eine Verteilung wie in Tabelle 6 erwägen: Tab. 6: Verteilung des Wohls (kleinster Nenner) Genera- 1–1000 1001–2000 2001–3000 3001–4000 4001–5000 5001–6000 Average tionen Ø HDI 50 50 50 50 50 50 50

Aber eine solche Gleichbehandlung im Schlechten erscheint zutiefst unattraktiv. Denn dies würde bedeuten, dass alle Generationen auf dem niedrigstmöglichen zivilisatori­schen Stand dahinvegetieren müssten. Wir können sicher sein, dass

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die Beteiligten diese Verteilung nicht wählen werden. Eine Gleichverteilung des Wohles scheidet als Option aus. Aber welche Verteilung würde dann von den Versammelten gewählt werden? In mehreren Ableitungsschritten lässt sich zeigen45, dass die fiktive Versammlung letztlich zwei Prinzipien für Generationenge­rechtigkeit verab­ schieden würde: 1. Maximiere den Durchschnitt der individuellen Wohlniveaus aller Mitglie­ der aus allen Generationen. Dabei besteht für jede Generation als wichtigste Pflicht, Kriege und ökologische, soziale und technische Zusammenbrüche, die zu großen Einbußen menschlichen Wohles führen können, zu vermeiden. 2. Keine Generation ist dazu verpflichtet, größere Sparleistungen zu erbringen als ihre Vorgängergeneration. Der formale Gerechtigkeitsgrundsatz

Wir sahen, dass sich ‚Gerechtigkeit als Unparteilichkeit‘ in den intergenerationellen Kontext übertragen lässt. Wie steht es mit einer weiteren im intragenerationellen Kontext oft angewandten Gerechtigkeitsmaxime ‚Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln‘? „Der Gerechtig­keitsbegriff suggeriert allen unvermeidlich die Vorstellung einer gewissen Gleichheit. Seit Platon und Aris­ toteles bis zu den zeitgenössischen Juristen, Ethi­kern und Philosophen sind alle über diesen Punkt einig“, schreibt Chaim Perelmann. Und weiter: „Die formale oder abstrakte Gerechtigkeit lässt sich definieren als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen dersel­ben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müs­sen.“46 Aber dieser Satz enthält nur die halbe Wahrheit. Denn automatisch drängt sich die Frage auf, wie Fälle zu behandeln sind, die ihrer Wesensart nach verschieden sind. Hier kann die Antwort nur lauten: Wer Verschiedenartiges gleich behandelt, handelt ungerecht! Die Ungleichbehandlung wird im intragenerationellen Kontext durch unterschiedliche Leistungen, Anstrengungen oder Bedürfnisse gerechtfertigt. Spielen diese Gründe für Ungleichbehandlung aber im intergenerationellen Kontext überhaupt eine Rolle? Theoretisch ja. Theoretisch könnte man natürlich Beispiele konstruieren, in denen eine Generation leistungswilliger, fleißiger und anstrengungsbereiter gewesen wäre als eine andere. Mir ist allerdings kein historischer Fall bekannt, wo das wirklich nachweisbar wäre. Die ganze, wohlvertraute Debatte, man müsse den Fleißigen vor dem Faulen schützen, ist für den intergenerationellen Kontext deutlich weniger rele­vant. Zumindest im weltweiten Maßstab sind prima facie Fleiß und Leistungsbereitschaft in jeder Generation normalverteilt. 45 46

Vgl. Tremmel, Jörg (2009): A Theory of Intergenerational Justice. London. Vgl. Perelman (2002): Über die Gerechtigkeit (1967), in: Horn, Christian; Scarano, Nico (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Frankfurt, S. 305–311. Hier S. 308.

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Es wurde bereits herausgearbeitet, dass es keine gleichen Startbedingungen für unterschiedliche Generationen geben kann. In vielen Bereichen, in denen im intragenerationellen Kontext ein Ausgleich aus moralischen Gründen geboten ist, erscheint sogar eine krasse Ungleichheit im intergenerationellen Bereich nicht als ungerecht. Dies zeigt folgendes Beispiel: Die Geißel Pocken Pocken sind schon seit Jahrtausenden bekannt. Die Mumie von Pharao Ramses II. von Ägypten zeigt deutliche Pockennarben. Für sehr viele frühere Generationen war diese Krankheit also eine Geißel, die viel Leid gestiftet hat. Seit dem 15. und 16. Jahrhundert waren die Pocken weltweit verbreitet. Ab dem 18. Jahrhundert häuften sich die Pockenfälle und lös­ ten die Pest als schlimmste Krankheit ab. Nach Schätzungen starben jedes Jahr 400.000 Menschen an Pocken. Vor allem Kinder waren unter den Opfern. Über 10 Prozent der Kinder starben vor dem zehnten Lebensjahr an Pocken, so dass Kinder oft erst zur Familie zählten, wenn sie die Pocken überstanden hatten. Noch 1871 bis 1873 wurden in Deutschland 175.000 Fälle mit mehr als 100.000 Todesopfern registriert. Gegen Pocken gibt es kein Heilmittel, nur eine vorbeugende Impfung ist möglich. Eine sichere Impfmethode wurde erstmals von Edward Jen­ ner 1796 in England erprobt. Ab 1967 wurde die Pockenimpfung auf Beschluss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit Pflicht. Es wurde mit großangelegten Impfaktionen ein weltweiter Feldzug zur Ausrottung der Pocken gestartet. Der weltweit letzte Fall wurde in Merka, Somalien, 1977 dokumentiert. Am 8. Mai 1980 wurde von der WHO festgestellt, dass die Pocken ausgerottet sind. Den früheren Generationen hätte unendlich viel Leid erspart werden können, denn die Geißel Pocken hätte viel früher ausgerottet werden können. Die Mittel dazu waren schon zu allen Zeiten vorhanden, aber die Methode wurde erst im 18. Jahrhundert entdeckt: Eine absichtliche Infektion mit der unter Kühen grassierenden Variante immunisiert den Menschen vor dem Pockenvirus. Es wäre zu allen Zeiten für die Menschheit relativ einfach möglich gewesen, sich gegen die Geißel Pocken zu schützen. Aber das Wissen war ungleich verteilt, diesmal nicht innerhalb einer Generation, sondern zwischen den Generationen. ‚Sollen impliziert Können‘ – und da Zeitreisen in die Vergangenheit unmöglich sind, können wir früheren Generationen nicht mehr an unserem Wissen teilhaben lassen, genauso wie wir nicht am Wissen künftiger Generationen teilhaben können. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Von der Gerechtigkeitsmaxime ‚Glei­ ches gleich, Ungleiches ungleich behandeln‘ ist aufgrund der Ungleichheit aller Generationen nur der zweite Teil in den intergenerationellen Kontext übertrag-

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bar. Eine Nivellierung nach unten, das heißt die späteren Generationen (mit in der Regel einem höheren Level an Wohl) den früheren gleichzustellen, wäre unmoralisch. Der Egalitarismus hat im intergenerationellen Kontext keine Heimat. Noch ein weiterer Gedanke ist zentral für die konzeptionelle Beschäftigung mit Generationengerechtigkeit. Die Erde wird in ‚Runden‘ weitergegeben, nicht in ‚Teilen‘. Verteilungsgerechtigkeit bedeutet im intragenerationellen Kontext oft, dass das aufzuteilende Gut ‚verschwindet‘. Ein großes Ölfeld oder das aus ihm gewonnene Öl auf mehrere Parteien aufzuteilen bedeutet, dass danach jeder einige Tanklaster besitzt – das ursprüngliche Ölvorkommen ist verschwunden. Ein Fahrrad hingegen wird jeden Morgen aus der Garage geholt und ‚in Runden‘ genutzt, von der gleichen Person oder auch vom Großvater, Vater, Sohn. Im Fahrrad-Beispiel geht es um die gerechte Übergabe, nicht um die gerechte Aufteilung. Dies ist die Art der Gerechtigkeit, die den meisten konkreten Anwendungsproblemen von Generationengerechtigkeit angemessen ist. Jede konzeptionelle Analyse muss dies beachten. Generationengerechtigkeit als Ermöglichung von Verbesserung

Von dem Dichter Heinrich Heine stammt der Satz: „Jede Zeit hat ihre Auf­ gabe, und durch die Lösung derselben rückt die Menschheit weiter.“ Wenn wir den Schleier der Unwis­senheit in Anspruch nehmen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass Generationengerechtigkeit bedeutet, unseren Nachfolgern zu ermöglichen, sich nicht nur gleiche, sondern bessere Lebensbedingungen zu erarbeiten, als wir sie heute haben. Unsere moralischen Verpflichtungen gegenüber der Nachwelt sind größer als bisher angenommen. Allerdings bedeutet das Konzept von ‚Generationengerechtigkeit als Ermöglichung einer Besserstellung‘ nicht, dass die heutige Generation sich für die nächste aufopfern soll. Aus der Definition von Generationengerechtigkeit folgt nicht, dass die heutige Generation ihr Wohl einschränken solle, damit die Mitglieder der Nachfolgegeneration dadurch ein höheres Wohl bekommen. Wenn eine Ressource zwischen zwei gleichgroßen Generationen aufgeteilt werden muss, so ist es durchaus legitim, wenn jede Generation die Hälfte davon zugesprochen bekommt. Wie aber kann daraus ein höherer Lebens­standard für die spätere Generation erwachsen? Dieses scheinbare Paradoxon löst sich auf, wenn man empirisch die autonomen Fortschrittsfaktoren betrachtet. Denn auch wenn die frühere Generation weder spart noch Opfer bringt, macht sie beiläufig Erfindungen und Innovationen, die die Ressourcenproduktivität erhöhen. Voraussetzung ist allerdings, dass Katastrophen, die zu raschen und umfassenden großen Einbußen menschlichen Wohles führen können, von der heutigen Generation präventiv verhindert werden. Dies entspricht dem ersten Grundsatz, auf den die Beteiligten sich unter dem Rawls’schen Schleier der Unwissenheit verständigen würden. Die Angehörigen der heutigen Generation A müssen den Angehörigen der nächsten Generation B nicht mehr geben, als sie selbst bekommen, aber wenn

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sie ihnen gleich viel davon geben, so ermöglichen sie ihren Nachkommen dadurch implizit, sich ihre eigenen Bedürfnisse in einem höheren Ausmaß als A zu erfüllen. Diese Zusammenhänge gelten auch auf der Mikroebene, das heißt bezogen auf familiale Generationen: Eltern müssen also nicht durch eigene Opfer dafür sorgen, dass ihre Kinder es einmal besser haben als sie selbst. Wenn sie sich generationengerecht verhalten, also Kriege sowie ökologische, soziale und technische Zusammenbrüche vermeiden, dann erfolgt die Besserstellung der Kinder durch die Umstände. Der zweite unter dem Schleier der Unwissenheit gefundene Grundsatz besagt in diesem Zusammenhang, dass allerdings auch ein Entsparen vermieden werden sollte. Wer selbst ohne Zutun einen großen (wie auch immer zusammengesetzten) Kapitalstock geerbt hat, braucht seinen Kindern nicht mehr als diesen hinterlassen, es sollte allerdings auch nicht weniger sein. Letztlich berührt der Diskurs über ‚Generationengerechtigkeit‘ hier die Geschichtsphilosophie, speziell den dort geführten Diskurs über den ‚Fortschritt‘. Während die Generationenethik Existenz, Ausmaß und Bezugsgröße unserer Verpflichtungen gegenüber der Nachwelt erörtert, beschäftigt sich die Geschichts­philosophie mit dem Lauf der Geschichte (und dem Fortentwicklung dieses Laufs in die Zukunft). Seit der Aufklärung erörtert sie etwa. die Denkfigur, die Möglichkeiten und Bedingungen eines ‚Fortschritts der Menschheit‘. Aber die Generationenethik sagt nie, wie es kommen wird, sondern nur, was wir tun sollen. Die normative und die prognostisch-empirische Sphäre sind strikt zu trennen. Unsere normativen Pflichten gegenüber künftigen Generationen sind größer, als zu früheren Zeiten von vielen Ethikern vermutet. Unsere Aussichten, diese moralischen Verpflichtungen gegenüber der Nachwelt zu erfüllen, werden in der Realität angesichts unseres tatsächlichen Handelns jedoch immer geringer. Die heu­tige Generation lebt in einer besonders entscheidenden Epoche. Denn in einer historisch einmalig gefährlichen Situation, die durch immer mehr Staaten mit Atomwaffen und durch den anthropogenen Klimawandel gekennzeichnet ist, besteht die Gefahr, dass wir durch unsere Handlun­gen das Wohl zahlreicher zukünftiger Generationen gravierend reduzieren werden. Dies zu ver­meiden, ist unsere große Verantwortung. Literatur Arrow, Kenneth J. u.a. (1996): Intertemporal equity, discounting, and economic efficiency, in: Bruce, James u.a. (Hrsg.): Climate Change 1995: Economic and Social Dimensions of Climate Change: Contribution of Working Group III to the Second Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge, S. 125–144. Barry, Brian (1989): Theories of Justice. A Treatise on Social Justice 1. London/Sidney/Tokio. Barry (1978): Circumstances of Justice and Future Generations, in: Sikora, Richard; Barry, Brian (Hrsg.): Obligations to Future Generations. Philadelphia, S. 205–248. Bertelsmann-Stiftung (2013): Intergenerational Justice in Aging Societies. A Cross-national Comparison of 29 OECD Countries. Gütersloh.

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Christoph Butterwegge

Wohlfahrtsstaat, soziale (Un-)Gerechtigkeit und Armut

Deutschland, seit Schaffung einer gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung im 19. Jahrhundert gleichermaßen Pionier wie Paradebeispiel für das europäische Sozialmodell, hat sich zuletzt aufgrund euphemistisch als ‚Reformen‘ bezeichneter Maßnahmen, die neben zahllosen Leistungskürzungen für sozial Benachteiligte und offenen oder heimlichen Verschärfungen der Anspruchsvoraussetzungen gravierende Strukturveränderungen des Wohlfahrtssystems beinhalteten, in Richtung eines bloßen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaates entwickelt. Seit die Weltwirtschaftskrise gegen Mitte der 1970er-Jahre die Illusion eines kontinuierlichen Wachstums zerstörte und sich das Versprechen von einem „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) weniger denn je einlösen ließ, wurde der Sozialstaat von parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzten Bundesregierungen den Ratschlägen von Neoliberalen und Wirtschaftslobbyisten gemäß deformiert.1 Mit der Teilprivatisierung des gesetzlichen Rentensystems (‚Riester-Reform‘), den sogenannten Hartz-Gesetzen für ‚moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ und einer Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung des Gesundheitswesens leitete die rot-grüne Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder einen radikalen Kurswechsel ein, der die sogenannte Lissabon-Strategie im nationalen Rahmen umsetzte: Auf dem dortigen EU-Sondergipfel am 23. und 24. März 2000 hatten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten als „strategisches Ziel“ für das Jahrzehnt festgelegt, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“2 Die umfassende ‚Modernisierung‘ und Anpassung des Sozialstaates an Markterfordernisse bzw. Wirtschaftsinteressen gehörte zu den Instrumenten, die zur Verwirklichung des Lissabon-Ziels eingesetzt wurden, was zusammen mit Maßnahmen der Umverteilung von unten nach oben eine Vermehrung des

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Vgl. Butterwegge, Christoph (2014): Krise und Zukunft des Sozialstaates. Wiesbaden. Hier S. 113 ff. Vgl. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Lissabon, 23. und 24. März 2000, http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm (24.1.2013).

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Reichtums sowie eine Rückkehr massenhafter relativer und teilweise absoluter, existenzieller bzw. extremer Armut nach sich zog.3 Je nachdem, welches Verständnis der Gerechtigkeit in einem Land dominiert, lässt sich die dort existierende Kluft zwischen Arm und Reich legitimieren oder skandalisieren. Ihr eigenes Gerechtigkeitsempfinden dient den Menschen gewissermaßen als politischer Kompass für die Entwicklung der Gesellschaft und als normativer Fixpunkt für das akzeptabel erscheinende Maß an sozialer Ungleichheit. Wolfgang Merkel nennt zwei Gründe dafür, dass der Begriff ‚soziale Gerechtigkeit‘ seit Mitte der 1990er-Jahre wieder zu einem Topos des politischen Denkens und zum Bestandteil der Agenden sozialdemokratischer bzw. sozialdemokratisch geführter Regierungen geworden sei: „Zum einen hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den beiden vergangenen Dekaden auch in den entwickelten Industriestaaten vertieft. Zum anderen steht der Sozialstaat des kontinentalen Europas in den nächsten Jahrzehnten unter dem Druck von Globalisierung, Individualisierung und Demographie vor bedeutenden Umstrukturierungen.“4 1. Die deutsche Sozialdemokratie und John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie

Als bedeutendster Gerechtigkeitstheoretiker des späten 20. und frühen 21. Jahr­hunderts gilt der US-amerikanische Sozialphilosoph John Rawls. Rawls, der von 1921 bis 2002 lebte und zuletzt in Harvard lehrte, umreißt seine Konzeption in zwei Kernthesen – dem Gleichheitsgrundsatz, wonach jedermann gleiches Recht auf das umfangreichste, für alle mögliche Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten hat, einerseits und dem Differenzprinzip andererseits: Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen demnach nicht nur „den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil“ verschaffen, sondern auch „mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit“ offen stehen.5 Aus seiner Leistung kann man laut Rawls keine Gerechtigkeitsansprüche, das heißt keine Vorteile im Hinblick auf Einkommen und Vermögen, ableiten. „Allenfalls indirekt sind Leistung und Verdienst bei Rawls von Bedeutung, indem er nämlich im Rahmen seines Differenzprinzips die Ungleichheit, welche unter anderem durch ungleiche Leistungen entsteht, akzeptiert, wenn sie den Schwächeren nutzt.“6 Umgekehrt schiebt Rawls den Leistungsschwächeren auch nicht 3 4 5 6

Vgl. Butterwegge, Christoph (2012): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Frankfurt am Main/New York. Merkel, Wolfgang (2001): Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie (2). Hier S. 135. Vgl. Rawls, John (1994): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Hier S. 335. Ebert, Thomas (2010): Soziale Gerechtigkeit. Ideen – Geschichte – Kontroversen. Bonn (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1088). Hier S. 237.

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die Schuld für ihre schlechte Position im gesellschaftlichen Verteilungskampf zu. „So wenig Rawls sich mit dem Problem aufhält, ob nicht vielleicht die Erfolgreichen ihren Erfolg wenigstens zum Teil selbst verdient haben könnten, so wenig spielt für ihn eine mögliche Mitverantwortung der Erfolglosen für den eigenen Misserfolg eine Rolle.“7 Typisch für die Rawls’sche Gerechtigkeitstheorie ist das folgende Postulat: „Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“8 Dass die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft zunimmt, ist für Rawls dann, allerdings auch nur dann, gerechtfertigt, wenn deren Mitglieder davon ausnahmslos im Hinblick auf ihre persönliche Lage profitieren: „Falls bestimmte Ungleichheiten des Reichtums und der Macht jeden besser stellen als in dem angenommenen Ausgangszustand, stimmen sie mit der allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung überein.“9 Ungleichheiten rechtfertigen sich Rawls zufolge also durch Vorteile für die Benachteiligten. Zweifelhaft ist jedoch, ob kleine Fortschritte für Unterprivilegierte die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich tatsächlich aufwiegen, zumal sie oft kaum ins Gewicht fallen. Um es an einem Beispiel aus der sozialdemokratischen Regierungspraxis zu verdeutlichen: Aufgrund der Wirtschafts- und Sozialpolitik von New Labour hat zwar die absolute Armut in Großbritannien nach Tony Blairs Amtsantritt 1997 leicht ab-, die gesellschaftliche Ungleichheit jedoch zugenommen.10 Anders gesagt: Die etwas weniger Armen bewegten sich seither in einem Umfeld noch größeren Reichtums, was ihre Probleme eher verstärkte, weil sich zum Beispiel der Konsumdruck – vor allem für Kinder und Jugendliche – verschärfte und es für sie immer schwieriger wurde, bei den Statussymbolen mitzuhalten. Die soziale Gerechtigkeit als ‚Fairness‘ zu definieren, wie dies Rawls tat,11 bedeutet im Grunde, sie auf ein formales Verfahrensprinzip zu reduzieren und inhaltlich, das heißt hinsichtlich ihres materiellen Gehalts und der gesellschaftspolitischen Konsequenzen, zu kastrieren. Auf der Suche nach durchweg akzeptierten und allgemein verbindlichen Gerechtigkeitsprinzipien löste Rawls die Letzteren von den real existierenden Interessen(gegensätzen), indem er die Individuen gedanklich in einen imaginären Urzustand geradezu paradiesischer Gleichheit versetzte, wo sie noch nicht wissen, welche Position in der Gesellschaft sie anschließend einnehmen werden, und deshalb seiner ‚Maximin-Regel‘ folgend die Risiken sozialer Benachteiligung für alle zu reduzieren suchen. In 7 8 9 10 11

Ebd. Rawls, John (1994): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Hier S. 83. Ebd. hier S. 84. Vgl. Nachtwey, Oliver (2005): Blair paradox, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (4). Hier S. 397. Vgl. Rawls, John (2003): Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt am Main.

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Rawls’ allzu kühnem Gedankenexperiment verbirgt sich hinter dem ‚Schleier der Unwissenheit‘ eine reale Welt voller Interessengegensätze, die eine fundierte und sachorientierte Theorie der Gerechtigkeit berücksichtigen muss. Erstens hält Klaus-Bernhard Roy das „scheinbar neutrale Modell einer dann möglichen rationalen Entscheidungsfindung als Grundlage von Gerechtigkeitskonzeptionen“ für ausgesprochen trügerisch: „Und zweitens verstellt die Ausblendung ungleicher Lebenslagen, Marktzugangschancen und ökonomischer wie politischer Machtdiskrepanzen den Blick auf die De-facto-Verteilung von sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungschancen in einer Gesellschaft.“12 Die sozialliberale Gerechtigkeitstheorie eines John Rawls wird jedoch pervertiert, wenn man sie für marktradikale Positionen instrumentalisiert. Obwohl er kein Neoliberaler war, rekurrieren Neoliberale auf das Differenzprinzip, um ihren Gerechtigkeitsbegriff zu formulieren: „Ungleichheit wird zur zentralen Triebkraft der ökonomischen Wachstumsdynamik erklärt, die Ergebnisse des Wachstums sollen allen zugutekommen.“13 Urs Müller-Plantenberg weist da­ rauf hin, dass Rawls mit seinem Differenzprinzip ursprünglich auf die „Begrenzung der Erlaubnis von Ungleichheiten“ abzielte, im Laufe der Zeit aber ein Bedeutungswandel eingetreten sei: „In einer Welt, in der inzwischen die neue Sozialdemokratie ohne Rücksicht auf die Aussichten der Ärmsten aller Welt zuruft: ‚Bereichert euch!‘, in einer solchen Welt erscheint Rawls zunehmend als extremer Egalitarist.“14 Die neoliberale Hegemonie, der sich die Sozialdemokratie nicht zu entziehen vermochte, hat in der Gesellschaft bisher allgemein verbindliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf gestellt. Galt früher der soziale Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Klassen und Schichten als erstrebenswertes Ziel staatlicher Politik, so steht heute den Siegertypen alles, den ‚Leistungsunfähigen‘ bzw. ‚-unwilligen‘ nach offizieller Lesart hingegen nichts zu. In einer „Winner-take-all“-Gesellschaft (Robert H. Frank; Philip J. Cook) zählt nur der sich in klingender Münze auszahlende Erfolg. „Gleichheit der Chancen, nicht im Ergebnis!“ heißt eine Devise des Neoliberalismus, welcher durch Erstere die Freiheit gefährdet wähnt und dagegen die soziale Gerechtigkeit in Anschlag bringt. „Der Grundwert der sozialen Gerechtigkeit ist allerdings ohne den Begriff Gleichheit nicht inhaltlich zu füllen. Ein Zuviel an Ungleichheit ist ein Widerspruch zur sozialen Gerechtigkeit. Wer aber von Ungleichheit nicht reden will, der sollte auch von Gerechtigkeit schweigen.“15

12 13 14 15

Roy, Klaus-Bernhard (2001): Verteilungsgerechtigkeit, in: Politische Bildung. H.2, S. 8–18. Hier S. 12. Peter, Horst; Rünker, Reinhold (2003): Gerechtigkeit. Einleitung zum Schwerpunkt, in: spw – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (13). Hier S. 12. Müller-Plantenberg, Urs (2000): Rawls weltweit, in: PROKLA (121). Hier S. 614. Heimann, Horst (2001): Mehr Ungleichheit wagen? – Zum anhaltenden Boom der Egalitarismuskritik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (6). Hier S. 715.

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Hatten die Sozialdemokraten früher darüber nachgedacht, wie sie soziale Ungleichheiten um der Gerechtigkeit willen beseitigen könnten, reflektierten ihre führenden Parteitheoretiker jetzt, welche Ungleichheiten gerechtfertigt seien. Eine große Gruppe sogenannter Modernisierer stützte sich bei dem Versuch, die SPD wie den von ihr mit begründeten Wohlfahrtsstaat um die Jahrtausendwende zu reformieren, auf die Gerechtigkeitstheorie John Rawls’. Der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel war sich dabei durchaus der Paradoxie bewusst, die darin bestand, dass er seiner Partei mit Rawls ausgerechnet einen Liberalen als „neuen Cheftheoretiker“ für eine Generalrevision ihres Gerechtigkeitsverständnisses empfahl.16 Merkel legte eine Prioritätenliste der Gerechtigkeitsziele fest, die eine moderne Sozialdemokratie seiner Ansicht nach verfolgen muss. An erster Stelle rangiert die Verhinderung von Armut; ihr nachgeordnet sind: ein höchstmöglicher Ausbildungsstandard, der auch auf Kosten einer zusätzlichen öffentlichen Verschuldung oder von Umschichtungen im Sozialetat gehen darf; eine hohe Arbeitsmarktinklusion, für die eine Absenkung bzw. Reorganisation ‚hinderlicher‘ Sicherungsstandards in Kauf genommen wird; die Garantie sozialer Sicherungsstandards, verbunden mit einer Verschärfung der Pflicht zur (Wieder-)Aufnahme von Arbeit; schließlich die Verringerung der bestehenden Einkommens- und Vermögensspreizung.17 Während man zum Teil in sehr allgemeiner und abstrakter Form über ‚gerechtfertigte Ungleichheiten‘ räsonierte, mehrten und verfestigten sich im Regierungsalltag der rot-grünen und später der zweiten Großen Koalition (von CDU, CSU und SPD) die ungerechtfertigten. Maßnahmen der Privatisierung öffentlicher Unternehmen, sozialer Dienstleistungen und allgemeiner Lebensrisiken, zur Deregulierung gesetzlicher Schutzbestimmungen sowie zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten waren Schritte auf dem Weg in eine Gesellschaft, die Konkurrenz und Kommerz prägen. Privatisierung führt in einen Teufelskreis der Entsolidarisierung, weil sich die ‚besseren Risiken‘ aus den allgemeinen Sozial(versicherungs)systemen zurückziehen, wodurch diese noch unattraktiver werden. Praktisch findet eine ‚Reindividualisierung‘ sozialer Risiken statt, worunter Personen mit einem hohen Gefährdungspotenzial und relativ niedrigen Einkommen am meisten zu leiden haben.

16

17

Vgl. Merkel, Wolfgang (2001): Die Sozialdemokratie vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: politische Handlungsräume und soziale Gerechtigkeit, in: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Neue Balance zwischen Markt und Staat? – Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach im Taunus. Hier S. 84. Vgl. ebd. hier S. 86.

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2. Die neoliberale Hegemonie, die Große Koalition und die Transformation des Gerechtigkeitsbegriffs

Das in einer Gesellschaft herrschende Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und die Wohlfahrtsstaatsentwicklung bedingen einander, weshalb man geradezu von einer Wechselwirkung diskursiver Strategien mächtiger Interessengruppen einerseits und institutioneller Regelungen, etwa im Bereich der Sozialgesetzgebung, andererseits sprechen kann. Mit den Plänen zum ‚Um-‘ bzw. Abbau des Sozialstaates häuften sich daher Bemühungen, die Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verändern. Distributive und Bedarfsgerechtigkeit spielten entweder überhaupt keine Rolle mehr oder wurden nunmehr als „Standortrisiko“ begriffen bzw. auf „Leistungs-“, „Chancen-“ bzw. „Generationengerechtigkeit“ verkürzt.18 Auch den Grundwert der Solidarität suchte man durch die Forderung nach mehr „Privatinitiative“, „Selbstvorsorge“ und „Eigenverantwortung“ zu ersetzen, was passende Unworte des Jahres wären, weil sie kaschieren, dass sich der moderne Wohlfahrtsstaat aus seiner Verantwortung für sozial Benachteiligte, Bedürftige und Behinderte zurückzieht. Der vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht transformiert: von der Bedarfs- zur „Leistungsgerechtigkeit“, von der Verteilungs- zur „Teilhabegerechtigkeit“ und von der sozialen zur „Generationengerechtigkeit“. Außerdem diskreditiert man soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, indem die Freiheit geradezu mystifiziert und sehr viel stärker als bisher üblich auf die wirtschaftliche Dispositionsmöglichkeit eines (Arbeitskraft-)Unternehmers interpretiert wird. 2.1 Sozialpolitik paradox: Wohltaten primär für Wohlhabende

Neoliberalen gilt die soziale Gerechtigkeit als ‚Standortrisiko‘, das minimiert oder beseitigt werden muss. Wenn sie im Rahmen eines Wohlfahrtsstaates institutionalisiert und als politischer Grundwert akzeptiert wird, untergräbt die Gerechtigkeit nach Ansicht des Würzburger Wirtschaftswissenschaftlers Norbert Berthold den gesellschaftlichen Reichtum: „Alles in allem gefährdet der Sozialstaat mit der verstärkten Produktion des Gutes ‚Gerechtigkeit‘ zunehmend seine eigene ökonomische Basis, weil er letztlich die Quellen des Wohlstandes zum Versiegen bringt.“19 Auch sozialdemokratische und den Gewerkschaften nahestehende Theoretiker wie Wolfgang Streeck, Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, definieren Sozialpolitik als „Beitrag zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Stand- und Wohnorts im 18 19

Vgl. dazu: Reitzig, Jörg (2008): „Eine Kategorie des Unsinns …“. Die soziale Gerechtigkeit im Visier der neoliberalen Theorie, in: Butterwegge, Christoph; Lösch, Bettina; Ptak, Ralf (Hrsg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. Wiesbaden. Hier S. 132 ff. Berthold, Norbert (1997): Sozialstaat und marktwirtschaftliche Ordnung – ökonomische Theorie des Sozialstaates, in: Hartwig, Karl-Hans (Hrsg.): Alternativen der sozialen Sicherung – Umbau des Sozialstaates. Baden-Baden/Hamburg. Hier S. 28.

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Kampf um Absatzmärkte, Investitionen und Arbeitsplätze“, sprechen im selben Atemzug von einer „Wettbewerbssolidarität“ und ordnen damit die soziale Gerechtigkeit der Konkurrenz unter.20 Statt der Bedarfs- wird Leistungsgerechtigkeit zum Kriterium für sozialstaatliches Handeln gemacht. Peer Steinbrück, seinerzeit nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, nahm eine totale Deformation des Gerechtigkeitsbegriffs vor und brach mit dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes, als er die soziale Gerechtigkeit auf die Sorge des Staates um die Leistungsträger verkürzte: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“21 Als sozialdemokratischer Kanzlerkandidat hat sich Peer Steinbrück in der Zeit (vom 31.1.2013) von seiner impliziten Forderung, zum Beispiel Schwerstbehinderte, Obdachlose und Drogenabhängige aufgrund ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit staatlicherseits nicht mehr zu unterstützen, keineswegs distanziert, sondern auf die Frage der Interviewer, ob er im jüngsten Bundestagswahlkampf anders klinge als damals, schnippisch geantwortet: „Nein. Ich bin unverändert der Meinung, dass die SPD dringend jene ansprechen muss, die die Lastesel des Sozialstaates sind. Diese Menschen dürfen wir nicht überfrachten, weil sie sonst den Solidarvertrag aufkündigen.“ Hier werden die Angehörigen der Mittelschicht auf Kosten der von Steinbrück beschworenen Solidarität gegen die Angehörigen der Unterschicht ausgespielt, ganz so, als sei für den modernen Wohlfahrtsstaat nicht gerade konstitutiv, dass er alle Bürger/innen vor elementaren Lebensrisiken schützt, sie jedoch auch nach ökonomischer Leistungs­fähigkeit belastet. Hauptexerzierfeld der zweiten Großen Koalition für die Transformation von Bedarfs- in Leistungsgerechtigkeit war die Familienpolitik. In seiner Eigenschaft als Bundesfinanzminister beriet Peer Steinrück mit Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) über Möglichkeiten zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. CDU/CSU und SPD einigten sich auf zwei Maßnahmen, die seinem Gerechtigkeitsbegriff entsprechen: die bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und das Elterngeld. Nach wochenlangem Tauziehen einigten sich CDU/CSU und SPD im März 2006 auf die Modalitäten der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Während sozial benachteiligte Familien, die aufgrund ihres fehlenden oder zu geringen 20

21

Vgl. Streeck, Wolfgang (2001): Wohlfahrtsstaat und Markt als moralische Einrichtungen. Ein Kommentar, in: Mayer, Karl Ulrich (Hrsg.): Die beste aller Welten? – Marktliberalismus versus Wohlfahrtsstaat. Eine Kontroverse. Frankfurt am Main/New York. Hier S. 159. Steinbrück, Peer: Etwas mehr Dynamik bitte. Soziale Gerechtigkeit heißt heute: Der Staat muss mehr Geld in Bildung und Familien investieren. Für Gesundheit, Alter und Pflege hingegen werden die Bürger stärker selbst vorsorgen müssen, in: Die Zeit vom 13.11.2003.

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Einkommens keine Steuern zahlen, gar nicht erst in den Genuss dieser im Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung enthaltenen Maßnahme kommen, profitieren Besserverdienende, die sich eine Tagesmutter oder Kinderfrau leisten und zwei Drittel der Aufwendungen hierfür bis zu 4.000 EUR absetzen können, überdurchschnittlich davon. Das seit dem 1. Januar 2007 gezahlte Elterngeld ist ein sozialpolitisches Paradox, weil man damit jene Anspruchsberechtigten am meisten subventioniert, die es am wenigsten nötig haben. Transferleistungsempfänger/innen (darunter viele Frauen), die Kinder erziehen, haben vom Elterngeld ausschließlich Nachteile. Bisher erhielten Sozialhilfebezieher/innen, Arbeitslose und Studierende das Erziehungsgeld in Höhe von 300 EUR pro Monat zwei Jahre (oder als „Budget“ in Höhe von 450 EUR ein Jahr) lang; Elterngeld gibt es dagegen bloß für ein Jahr und sein Sockelbetrag, mit dem sie auskommen müssen, liegt gleichfalls bei 300 EUR (oder bei 150 EUR, wenn er zwei Jahre lang gezahlt wird). Erwerbstätige Paare erhalten im Falle der Teilung von Erziehungsarbeit unter bestimmten Voraussetzungen zwei (Partner-)Monate zusätzlich und auch erwerbstätige Alleinerziehende können das Elterngeld 14 Monate lang in Anspruch nehmen; im Unterschied zum Erziehungsgeld wird es ihnen als Lohnersatz gezahlt und erst bei 1.800 EUR pro Monat gedeckelt. Mithin erhalten Gutbetuchte auf Kosten von schlechter Gestellten mehr (Eltern-)Geld, das hoch qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren soll, (häufiger) ein Kind zu bekommen und anschließend möglichst schnell wieder in den Beruf zurückzukehren. Die besonders von liberalkonservativer Seite hypostasierte ‚Leistungsgerechtigkeit‘ ist eine Chimäre, weil das meritokratische Prinzip für gewöhnlich nur vorgeschoben wird, um die Verteilungsschieflage im Hinblick auf Einkommen und Vermögen zu rechtfertigen. Seit von der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009) und der ihr folgenden CDU/CSU/FDP-Regierung (2009 bis 2013) unter Bundeskanzlerin Angela Merkel verwirklichten Erschaftsteuerreformen kann man in der Bundesrepublik als Sohn oder Tochter eines Familien­ unternehmers einen ganzen Konzern erben, ohne dafür einen einzigen Euro betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Dabei ist es sicher keine Leistung, das Kind eines Multimillionärs oder Milliardärs zu sein. 2.2 Mehr Bildung für die Armen statt Umverteilung des privaten ­Reichtums?

Obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief wie nie zuvor ist, gilt die Forderung nach Umverteilung als ideologisch verstaubt. Harald Schartau, damals Vorsitzender der nordrhein-westfälischen SPD und als Landesminister für Wirtschaft und Arbeit Kabinettskollege Steinbrücks, äußerte die Überzeugung, dass Umverteilungspolitik im viel beschworenen ‚Zeitalter der Globalisierung‘, wo die Nationalstaaten als Wirtschaftsstandorte miteinander konkurrieren, weder zu Vollbeschäftigung noch zu sozialer Gerechtigkeit führe: „Notwendig ist eine Neuinterpretation von sozialer Ge-

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rechtigkeit für die heutige Zeit, um marktwirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit besser in Einklang bringen zu können. Dabei helfen uns nicht die alten Ideologien.“22 Verteilungsgerechtigkeit, traditionelles Ziel sozialstaatlicher Politik, die nicht auf Armutsbekämpfung reduziert werden darf, wird durch Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit ersetzt. In der „zivilen Bürgergesellschaft“, wie sie Gerhard Schröder vorschwebt, steht der Gerechtigkeitsgedanke zwar im Mittelpunkt, bezieht sich aber nicht auf Verteilungsgerechtigkeit, die dem früheren Bundeskanzler als von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt gilt: „Gerade weil (…) die Herstellung und Bewahrung sozialer Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne oberstes Ziel sozialdemokratischer Politik ist und bleibt, können wir uns nicht mehr auf Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Dies geht schon deshalb nicht, weil eine Ausweitung der Sozialhaushalte nicht zu erwarten und übrigens auch nicht erstrebenswert ist. Für die soziale Gerechtigkeit in der Wissens- und Informationsgesellschaft ist vor allem die Herstellung von Chancengerechtigkeit entscheidend.“23 Der am 2. März 2005 vom rot-grünen Bundeskabinett gebilligte 2. Armutsund Reichtumsbericht behauptete, es komme nicht so sehr auf die Umverteilung von materiellen Ressourcen, vielmehr auf die Bereitstellung von „Teilhabe- und Verwirklichungschancen“ an.24 Man rekurriert dabei auf Amartya Sen, einen indischen Nobelpreisträger, der Armut als Mangel an „Verwirklichungschancen“ begreift, ohne im Geringsten zu bestreiten, dass Letzterer eng mit der Knappheit materieller Ressourcen bzw. monetärer Mittel (Einkommen und Vermögen) verbunden ist. „In einem reichen Land verhältnismäßig arm zu sein kann die Verwirklichungschancen selbst dann extrem einengen, wenn das absolute Einkommen gemessen am Weltstandard hoch ist.“25 Statt der Mittel hält Sen die Zwecke für zentral, denen sie dienen und welche Menschen verfolgen, sowie jene Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, ihre Ziele zu erreichen. Sen wird missverstanden, wenn man daraus folgert, dass Einkommensarmut und deren Bekämpfung von untergeordneter Bedeutung sind. Matthias Platzeck, nur kurzzeitig SPD-Vorsitzender, erläuterte am 10. April 2006 – dem Tag, als er nach einem Hörsturz überraschend von diesem Amt zu22 23 24 25

Schartau, Harald: Pragmatisch denken. Über die Grundlagen einer sozialdemokratischen Wachstumsstrategie, in: Frankfurter Rundschau vom 29.8.2003. Schröder, Gerhard (2000): Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (4). Hier S. 203. Vgl. Lebenslagen in Deutschland (o.J.): Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. o.O. Hier S. XVII. Vgl. ergänzend: Segbers, Franz (2005): Die umprogrammierte Gerechtigkeit. Zur Kritik des Gerechtigkeitsbegriffs im Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in: Jahrbuch Gerechtigkeit (1). Hier S. 76 ff. Sen, Amartya (2003): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München. Hier S. 112.

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rücktrat – im Spiegel sein Leitbild des „vorsorgenden Sozialstaates“. Er forderte „mehr öffentliche Investitionen in soziale Dienstleistungen, in Bildung und Wissen, in Innovation und Infrastruktur“, blieb jedoch hinsichtlich der Zielsetzungen wie auch in Bezug auf die Maßnahmen, mit denen sie erreicht werden sollen, verhältnismäßig vage: „Der vorsorgende Sozialstaat für das 21. Jahrhundert investiert in die Menschen und ihre Fähigkeiten. Er fördert Beschäftigung, setzt auf Gesundheitsprävention und verhindert Armut. Er gestaltet den demografischen Wandel mit den Betroffenen, und er erkennt die existentielle Bedeutung von Bildung für die einzelnen Menschen wie auch für die Zukunft unserer Gesellschaft an. Er ist Partner, nicht Verwalter der Menschen. Er macht Angebote, um ihre Stärken zu entwickeln. Er aktiviert die Menschen, damit sie ihr Leben in eigener Verantwortung gestalten können. Der vorsorgende Sozialstaat ist nicht Wachstumshindernis, sondern wirtschaftliche Produktivkraft; er muss dafür anders, weniger als bislang durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden.“26 Deutlicher wurde der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, als er im Rahmen der sozialdemokratischen Programmdiskussion für ein „neues Godesberg“ seiner Partei warb: „Heute geht es um den Abschied vom Wohlfahrtsstaat und die Hinwendung zum sozialen Bildungsstaat. (…) Der Sozialstaat in seiner bisherigen Ausprägung und Ausstattung trägt nicht mehr, und wir können ihn auch nicht mehr finanzieren. Wir müssen ihn deshalb nicht bloß umbauen, er braucht ein neues Fundament, eine neue Statik.“27 Unter einem „sozialen Bildungsstaat“ versteht Clement, dass für alle Bürger prinzipiell gleiche Chancen zur beruflichen Qualifikation, zu einer hochqualifizierten Aus- und Weiterbildung geschaffen werden, damit sie aus eigener Kraft und Kompetenz auf die sich ständig verändernden Anforderungen der Arbeitswelt reagieren können. „Schulische Bildung und berufliche Qualifikation, Wissenschaft und Forschung sind die Motoren des ökonomischen und sozialen Fortschritts. Sie führen in die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Da müssen wir investieren, statt immer mehr in ein soziales Netz, das um so fadenscheiniger wird, je mehr wir ‚draufsatteln‘.“28 Natürlich ist es wichtig, dass Erwerbslose möglichst umgehend einen geeigneten Arbeitsplatz finden. Verteidiger/innen des Sozialstaates, wie man ihn bisher kannte, haben nie dafür plädiert, Leistungsempfänger/innen nur zu alimentieren und sie nicht möglichst gut weiterzuqualifizieren, was übrigens seit Inkrafttreten der sogenannten Hartz-Gesetze immer weniger passiert. Viel entscheidender als Umverteilung von Geld sei, dass Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhalten, heißt es immer häufiger. Zu fragen wäre freilich, weshalb ausgerechnet zu einer Zeit, wo das Geld fast in sämtlichen Lebensbereichen wichtiger als 26 27 28

Platzeck, Matthias: Ein besserer Sozialstaat, in: Der Spiegel vom 10.4.2006. Clement, Wolfgang: Ein neues „Godesberg“ für die SPD, in: Welt am Sonntag vom 14.5.2006. Ebd.

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früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist, seine Bedeutung für die Teilhabe der Bürger/innen am gesellschaftlichen Leben gesunken sein soll. Damit sie in Freiheit (von Not) leben, ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Pläne verwirklichen können, brauchen die Menschen nach wie vor Geld, das sie bei Erwerbslosigkeit, Krankheit und im Alter als soziale bzw. Entgeltersatzleistung vom Sozialstaat erhalten müssen. Ohne ausreichende materielle Mittel steht etwa die Chance, an Weiterbildungskursen teilzunehmen und ihre persönlichen Arbeitsmarktchancen zu verbessern, für Erwerbslose nur auf dem Papier. Nichts spricht dagegen, Verteilungs- durch Teilhabegerechtigkeit zu ergänzen, sozialdemokratische ‚Modernisierer‘ wie Jürgen Kocka meinen aber irrtümlich, dass Letztere die Erstere ersetzen müsse: „Mehr Teilhabegerechtigkeit ist derzeit nur durch einen Verzicht auf mehr Verteilungsgerechtigkeit zu haben.“29 So sinnvoll die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs in Richtung von „Teilhabe-“ oder „Beteiligungsgerechtigkeit“ sein mag, so wenig darf sie vergessen machen, dass dieser durch soziale Ungleichheit der Boden entzogen wird. Christof Prechtl und Daniel Dettling beklagen, dass die Bundesrepublik sechs Mal so viel Geld für Soziales als für Bildung aufwendet, sehen sie doch in Letzterer den Schlüssel zur Bekämpfung der (Kinder-)Armut: „Da zwischen Bildungsstand und Erfolg am Arbeitsmarkt ein klarer Zusammenhang besteht, produziert das deutsche Bildungswesen heute die Sozialfälle von morgen. Politisch bedeutet dies: Die Vermeidung von Bildungs-, nicht Einkommensarmut, ist die zentrale Herausforderung.“30 Hier unterliegen die Verfasser allerdings einem Irrtum: Was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als generalisiertes Patentrezept. Wenn alle Kinder mehr Bildung bekommen, konkurrieren sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau, aber nicht mit besseren Chancen. Unglaubwürdig wird, wer Bildungs- als Sozialpolitik interpretiert und gleichzeitig von der Schule über den Weiterbildungssektor bis zur Hochschule alle Institutionen dieses Bereichs privatisieren möchte. Denn das heißt letztlich, sie für Wohlhabende und die Kinder besser situierter Familien zu reservieren. In einem solchen Bildungssystem stoßen Kinder nur noch auf Interesse, wenn sie (bzw. ihre Eltern) als zahlungskräftige Kunden firmieren.

29 30

Kocka, Jürgen (2004): Sozialdemokratische Grundwerte heute, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen. Bonn. Hier S. 62. Prechtl, Christof; Dettling, Daniel (2005): Einleitung: „Wachstum durch Bildung – Chancen für die Zukunft nutzen!“, in: dies. (Hrsg): Für eine neue Bildungsfinanzierung. Perspektiven für Vorschule, Schule und Hochschule. Wiesbaden. Hier S. 9.

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2.3 ‚Generationengerechtigkeit‘ als politischer Schlachtruf, pure ­Ideologie und Mittel sozialer Demagogie

24 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/ CSU unter 40 Jahren traten im Juli 2003 mit einem Memorandum „Deutschland 2020“ an die Öffentlichkeit, das unter Mitwirkung der von den Metall­ arbeitgebern finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), der Altana AG und dem Think Tank res publica entstanden war, mehr Generationengerechtigkeit forderte und sich gegen eine Verschleppung von Reformen wandte. Nötig sei eine Neudefinition von Gerechtigkeit, die nicht mehr „sozialstaatliche Transfergerechtigkeit“ sein dürfe, sondern als „Teilhabegerechtigkeit“ für den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu ökonomisch tragfähigen Formen sozialer Absicherung sorgen müsse: „Wer heute die soziale Gerechtigkeit nur an der Höhe staatlicher Transfers mißt, der beschränkt damit die Teilhabegerechtigkeit unserer Kinder und Enkel.“31 Generationengerechtigkeit bedeute, dass die von der aktiven Bevölkerung geschaffenen Ressourcen gerecht verteilt würden und dass die Politik für eine Realisierung dieser Potenziale sorge. Wer glaubt, dass es bei einer Umverteilung der sozialen Besitzstände und Risiken nach dem Maßstab größerer Gerechtigkeit zwischen Älteren und Jüngeren sowohl eine klare Gewinner- als auch eine klare Verlierergeneration gibt, sieht sich getäuscht. In einem Zeitungsartikel erklärte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla die Generationengerechtigkeit zum „entscheidende(n) Kriterium“ für den Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, das offenbar Jungen wie Alten materielle Opfer abverlangt: „Jede Generation muß ihren Beitrag leisten, damit wir soziale Sicherheit heute und morgen gewährleisten können.“32 Deshalb sei es wichtig, dass die Regelaltersgrenze für den Rentenbezug erhöht, das Umlageverfahren in der Sozialen Pflegeversicherung durch Kapitaldeckung ergänzt und im Gesundheitswesen mehr Wettbewerb eingeführt werde. Obwohl er das Konzept im Grundsatz unterstützt, räumt Franz-Xaver Kaufmann ein, dass Generationengerechtigkeit „noch eher ein politischer Kampfruf denn ein ausgearbeitetes philosophisches Konstrukt“ sei, wiewohl Vorarbeiten existierten.33 Durch das Schlagwort ‚Generationengerechtigkeit‘ wird die soziale Spaltung unserer Gesellschaft biologisiert, auf ein Verhältnis zwischen Alterskohorten reduziert und relativiert. Letztlich handelt es sich bei der Generationengerechtigkeit um ein Konstrukt, das bestimmten Kräften ganz unabhängig von deren Altersgruppenzugehörigkeit dazu dient, im Rahmen sozialökonomischer und Verteilungskonflikte ihre eigene Position zu bestimmen und gegenüber an31 32 33

„Deutschland 2020“. Für mehr Generationengerechtigkeit: Reformen nicht auf morgen oder übermorgen verschieben!, Ein Memorandum der jungen Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Berlin, 21.07.2003. Hier S. 3. Pofalla, Ronald: Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit, in: FAZ vom 4.1.2006. Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und (von; Ch.B.) seinen Folgen. Frankfurt am Main. Hier S. 220.

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deren zu verbessern. Es verhüllt, dass sich die soziale Ungleichheit seit geraumer Zeit innerhalb jeder Generation verschärft und die zentrale soziale Trennlinie nicht zwischen Alt und Jung, sondern immer noch, ja mehr denn je, zwischen Arm und Reich verläuft. Oft scheint es, als sei der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwider­spruch, nämlich denjenigen zwischen Jung und Alt, abgelöst und Klassenkampf durch einen ‚Krieg der Generationen‘ ersetzt worden.34 Damit lenkt man von den ­eigentlichen Problemen wie der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung ab. Das verkrampfte Bemühen um mehr Generationengerechtigkeit, der noch nie so viel Beachtung wie heute zuteil wurde, überdeckt die in sämtlichen Altersgruppen, der ganzen Gesellschaft und der Welt wachsende soziale Ungleichheit. „Man gewinnt vielfach den Eindruck, dass die Fokussierung der Diskussion auf die Verteilung zwischen Kohorten ablenken soll von Fragen der Verteilung innerhalb von Kohorten.“35 Das beliebte (Zerr-)Bild einer intergenerationalen Kluft zwischen Arm und Reich hält seiner empirischen Überprüfung nicht stand: Rentnerhaushalte weisen auf der Ebene bedarfsgewichteter Haushaltseinkommen eine viel geringere Wohlstandsposition als Arbeitnehmerhaushalte auf, was die Hypothese der mangelnden Generationengerechtigkeit jedenfalls zu Lasten der mittleren Jahrgänge widerlegt.36 Außerdem dürfte sich die Struktur der Armutspopulation infolge zahlreicher Kürzungen im Sozialbereich (sogenannte Riester-Reform, Senkung des Rentenniveaus durch den sogenannten Nachhaltigkeits- und den sogenannten Nachholfaktor, Erhöhung des Kranken- und des Pflegeversicherungsbeitrages vor allem für Betriebsrentner/innen, nachgelagerte Rentenbesteuerung, Verringerung des Schonvermögens von Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV und Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge, die man für sie entrichtet), aber auch der starken Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe, von Scheidungen und der Anzahl nicht eigenständig gesicherter Frauen wieder in Richtung der Senior(inn)en verschieben.37 Wenn ein Wohlfahrtsstaat demontiert wird, seine Transferleistungen für Be­­ dürftige gesenkt und die gültigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft werden, obwohl das Bruttoinlandsprodukt der Tendenz nach wächst und der gesellschaftliche Reichtum zunimmt, kann weder von sozialer noch von Generationengerechtigkeit die Rede sein. Denn offenbar findet eine Umverteilung statt, von der gerade die Mitglieder bedürftiger Alterskohorten nicht profitieren. Die 34 35 36 37

Vgl. z.B. Roß, Jan: Krieg den Philistern. Statt Klassenkampf: Deutschland ist seit Jahrhunderten eine Nation des Generationenkonflikts, in: Die Zeit vom 30.1.2003. Schmähl, Winfried (2004): „Generationengerechtigkeit“ und Alterssicherung. Oder: Wie ein vieldeutiges Konzept einseitig instrumentalisiert wird, in: Burmeister, Kai; Böhning, Henning (Hrsg.): Generationen und Gerechtigkeit. Hamburg. Hier S. 51. Vgl. Bäcker, Gerhard; Koch, Angelika (2003): Die Jungen als Verlierer? – Alterssicherung und Generationengerechtigkeit, in: WSI-Mitteilungen (2). Hier S. 113. Vgl. hierzu: Butterwegge, Christoph; Bosbach, Gerd; Birkwald, Matthias W. (Hrsg.) (2012): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung. Frankfurt am Main/New York.

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Erhöhung des gesetzlichen Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre verschlechtert eher die Arbeitsmarktchancen künftiger Generationen, statt Vorteile für diese mit sich zu bringen. Überhaupt müsste, wer in den Ruf nach ‚Genera­ tionengerechtigkeit‘ einstimmt, darum bemüht sein, dass Heranwachsende auch später noch einen entwickelten Wohlfahrtsstaat und das früher gewohnte Maß an sozialer Sicherheit vorfinden, statt Letztere immer mehr zu beschneiden und die Menschen der privaten Daseinsvorsorge zu überantworten. Neoliberale agieren gerne so, als hätten künftige Generationen ‚hohe Schuldenberge‘ abzutragen, wozu sie weder willens noch in der Lage seien.38 Dabei lastet dieser Schuldendienst nur auf einem Teil der kommenden Generationen; ein anderer erhält nämlich mehr Zinsen aus (geerbten) Schuldverschreibungen des Staates, als er selbst an Steuern zahlt, und profitiert dadurch sogar von heutigen Budgetdefiziten. Norbert Reuter weist darauf hin, dass aus jeder Verschuldung sowohl Forderungen als auch Verbindlichkeiten resultieren und dass beide an die nächste Generation ‚vererbt‘ werden. Blicke man getrennt auf die gegenwärtige oder auf die folgende Generation, liege „ein gesamtwirtschaftliches Nullsummenspiel vor. Mit einem Verweis auf kollektive finanzielle Belastungen künftiger Generationen lässt sich der gegenwärtige Abbau der Staatsverschuldung somit nicht begründen.“39 2.4 ‚Freiheit‘ und ‚Eigenverantwortlichkeit‘ als Formeln zur ­Rechtfertigung wachsender Ungleichheit

Bei dem Konzept eines „aktivierenden Sozialstaates“, das ihn von den Aufgaben eines Bedürftige und Benachteiligte alimentierenden Fürsorgestaates entbinden möchte, geht es um eine „Neujustierung des Verhältnisses von Individuum und Staat“, mithin um die Frage, ob Letzterer die Menschen als mündige Bürger/innen, Bittsteller/innen oder Kund(inn)en behandelt.40 Das bisherige Gemeinwesen droht in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeits-, Almosen- bzw. Suppenküchenstaat aufgespalten zu werden: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Dagegen stellt der Sozialstaat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, sie jedoch der Privatwohltätigkeit überantworten. Man spricht von ‚Eigenverantwortung‘, meint aber häufig nur eine Zusatzbelastung 38 39 40

Vgl. Raffelhüschen, Bernd (2001): Eine Generationenbilanz der deutschen Wirtschaftsund Sozialpolitik, in: Lambsdorff, Otto Graf (Hrsg.): Freiheit und soziale Verantwortung. Grundsätze liberaler Sozialpolitik. Frankfurt am Main. Hier S. 256. Reuter, Norbert (2003): Generationengerechtigkeit als Richtschnur der Wirtschaftspolitik?, in: Butterwegge, Christoph; Klundt, Michael (Hrsg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel. Opladen. Hier S. 85. Vgl. Aust, Judith; Bothfeld, Silke; Leiber, Simone (2006): Eigenverantwortung – eine sozialpolitische Illusion?, in: WSI-Mitteilungen (4). Hier S. 187.

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für Arbeitnehmer/innen und Rentner/innen, während die Arbeitgeber von Sozialversicherungsbeiträgen (‚Lohnnebenkosten‘) entlastet werden. Nicht nur innerhalb der CDU, die ihre Programmdebatte unter das Motto „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ stellte, vielmehr auch innerhalb der SPD akzentuierte man um die Jahrtausendwende – dem neoliberalen Zeitgeist folgend – immer stärker die Freiheit. So konstatierte Gerhard Schröder in einem Essay zum 140. Jahrestag der Gründung seiner Partei: „Unser oberstes Leitbild ist die Freiheit der Menschen, ihr Recht auf ein Leben in Würde, Selbstbestimmung und freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten in einem solidarischen Gemeinwesen.“41 In der Regierungserklärung, die als ‚Agenda 2010‘ bekannt geworden ist, sprach Schröder am 14. März 2003 nicht weniger als 18-mal von „(Eigen-)Verantwortung“, in seiner Rede auf dem Berliner Sonderparteitag der SPD am 1. Juni 2003 sogar 19-mal von „(Wahl-)Freiheit“. Jürgen Kocka forderte in einem Vorwärts-Interview unter dem Titel „Das Wichtigste ist die Freiheit“ eine Verringerung der Staatstätigkeiten. Es gehe um mehr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Teilhabe: „Staatliche Fürsorge ist nicht mehr so nötig und nicht so wünschenswert wie früher.“42 Man fragt sich, wo der Berliner Historiker lebte, waren doch gerade in der Bundeshauptstadt immer mehr Menschen auf Sozialtransfers angewiesen. Neoliberale und Wirtschaftslobbyisten interpretieren Freiheit als Recht der Kapitaleigentümer, zu investieren, wie und wo sie wollen. Während diese aufgrund ihrer starken Markt- und Machtposition ohnehin über ein enormes, im Zeichen der Globalisierung weiter steigendes Maß an Handlungsfreiheit verfügen, bringt der Wohlfahrtsstaat herkömmlicher Art seinen Klient(inn)en einen Freiheitsgewinn. „Je stärker ein Sozialstaat den wirtschaftlichen Austausch reguliert, je mehr sozialrechtliche Gesetze er erlässt und je intensiver er die Einkommen umverteilt, desto eher ist es sozial und wirtschaftlich benachteiligten Personen möglich, frei von der notdürftigen Unterstützung anderer Privatpersonen und der ständigen Angst vor dem sozialen Abstieg das eigene Leben bis zu einem gewissen Ausmaß selbstbestimmt gestalten zu können.“43 Umgekehrt wird Freiheit durch soziale Ungerechtigkeit bzw. ungleichmäßige Verteilung von materiellen Ressourcen beschränkt. Gleichwohl wird bis heute versucht, die wachsende soziale Ungleichheit als notwendige Voraussetzung für Freiheit und Demokratie zu rechtfertigen sowie die Wahrnehmung und Benennung der damit verbundenen Ungerechtigkeit als bloße Gefühlsduselei zu delegitimieren.44 41 42 43 44

Schröder, Gerhard (2003): Das Gestalten der Zukunft braucht den Mut zur Veränderung, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (5). Hier S. 7. Kocka, Jürgen (2003): „Das Wichtigste ist die Freiheit“. Ein Gespräch über die Grenzen des Sozialstaats und das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit, in: Vorwärts (7–8). Hier S. 18. Wimmel, Andreas (2003): Sind sozialpolitische Interventionen aus liberaler Perspektive wertvoll? – Thesen zum Spannungsverhältnis von persönlicher Freiheit und sozialer Sicherheit in modernen Wohlfahrtsstaaten, in: Zeitschrift für Politik (1). Hier S. 69. Vgl. Hüther, Michael; Straubhaar, Thomas (2009): Die gefühlte Ungerechtigkeit. Warum

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Die schrittweise Liquidation des Sozialstaates erhält ihre Legitimation, indem man sie als ‚Befreiung‘ bevormundeter Bürger/innen feiert, was Martin Kutscha als „ideologische Verkehrung“ bezeichnet, die perfekter und wohl auch perfider kaum sein könnte: „Die Freiheit aller, unter Brücken zu schlafen, wird wiederentdeckt. Dass soziale Sicherheit jedoch die Grundlage für die Wahrnehmung auch von Freiheitsrechten ist, gerät dabei gänzlich aus dem Blick.“45 In einer wohlfahrtsstaatlichen Demokratie ist Freiheit die Möglichkeit der Schwächsten, über ihr Leben selbst zu bestimmen, statt unabhängig von der beruflichen Qualifikation wie der familiären Situation jeden Arbeitsplatz annehmen zu müssen. Sie meint aber gerade nicht die Möglichkeit von Begüterten und Spitzenverdienern, sich allgemeinen Verpflichtungen zu entziehen. 3. Die soziale Gerechtigkeit in den Grundsatzprogrammen von CDU, CSU und SPD

Für die Beantwortung der Frage, wie die etablierten Parteien zur sozialen Gerechtigkeit und zum Sozialstaat stehen, sind ihre Grundsatzprogramme von einiger Bedeutung. Da die sogenannten Volksparteien im Herbst bzw. Winter 2007, als sie ihre Programmatik aktualisierten, in der Großen Koalition vereint waren, sahen CDU, CSU und SPD offenbar wenig Spielraum für größere Kurs­ korrekturen und kühne Zukunftskonzepte. Denn ihren Regierungsmitgliedern fallen Parteien ungern in den Rücken, weil sie in der (Medien-)Öffentlichkeit sonst als zerstritten gelten würden. Gleichwohl mussten die Koalitionspartner ihr Profil schärfen, wenn sie die Menschen im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl für sich gewinnen und 2009 selbst eine parlamentarische Mehrheit erringen wollten. Umso erstaunlicher ist, wie stark sich alle drei Programme in Bezug auf die angestrebte Umgestaltung des Sozialstaates und das ihnen zugrunde liegende Gerechtigkeitsverständnis gleichen. 3.1 Das SPD-Leitbild des ‚vorsorgenden Sozialstaates‘

Während die beiden Unionsparteien ihre Grundsatzprogramme ohne erkennbare Widerstände revidierten, verlief die sozialdemokratische Programmdebatte sehr viel wechselhafter und kontroverser. Den im Januar 2007 vorgestellten ‚Bremer Entwurf‘ zog die SPD-Spitze ein gutes halbes Jahr später wieder zurück,46 nachdem vor allem die Aufgabe des Traditionsbegriffs ‚demokratischer

45 46

wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen. Berlin. Borchard, Michael; Schrapel, Thomas; Vogel, Bernhard (Hrsg.) (2012): Was ist Gerechtigkeit? – Befunde im vereinten Deutschland. Wien/Köln/Weimar. Kutscha, Martin (2006): Erinnerung an den Sozialstaat, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (3). Hier S. 359. Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.) (2007): Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert. „Bremer Entwurf“ für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei

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Sozialismus‘ an der Parteibasis wie bei kritischen Intellektuellen großen Unmut hervorgerufen hatte. Dabei reichten die Monita von der Klage über mangelnde Zuspitzung bis zum Vorwurf der Profillosigkeit.47 Der überarbeitete, inhaltlich gestraffte und maßgeblich vom damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck geprägte Programmentwurf fand auf dem Hamburger Parteitag am 28. Oktober 2007 einhellige Zustimmung. Darin bekannte sich die Partei zum Leitbild des ‚vorsorgenden Sozialstaates‘, welcher allgemeinen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Altersarmut präventiv begegnen soll: „Wir entwickeln den vorsorgenden Sozialstaat, der Armut bekämpft, den Menschen gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnet, gerechte Teilhabe gewährleistet und die großen Lebensrisiken verlässlich absichert.“48 Durch seine Tätigkeit, so heißt es weiter hinten im Hamburger SPD-Programm, befähige der vorsorgende Sozialstaat die Menschen, ihr Leben selbstbestimmt zu meistern: „Vorsorgende Sozialpolitik fördert existenzsichernde Erwerbsarbeit, hilft bei der Erziehung, setzt auf Gesundheitsprävention. Sie gestaltet den demografischen Wandel und fördert eine höhere Erwerbsquote von Frauen und Älteren. Sie verhindert Ausgrenzung und erleichtert berufliche Integration. Sie entlässt niemanden aus der Verantwortung für das eigene Leben.“49 Deutlicher als das Hamburger SPD-Programm stellten Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, die Wortführer des rechten Parteiflügels, zwei Sicherungsmodelle gegenüber: „Der überkommene Sozialstaat, der allzu oft ‚reparierend‘ erst dann eingreift, wenn soziale Schadenfälle wie chronische Krankheit, Bildungsmangel oder langfristige Arbeitslosigkeit schon eingetreten sind, ist nicht mehr auf der Höhe unserer Zeit – und er gerät unter dem Druck von Demografie und hoher Staatsverschuldung auch an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit. Effizienter und zugleich sozial gerechter ist der vorsorgende Sozialstaat, der in die Menschen, in Bildung, Qualifikation, Gesundheit, Lebenschancen und soziale Infrastruktur investiert.“50 Sprachlich fällt der Gegensatz zwischen dem ‚vorsorgenden‘ und einem ver­ sorgenden bzw. zwischen dem ‚vorsorgenden‘ und einem fürsorglichen Sozial­ staat ins Auge. Hierbei handelt es sich um eine Scheinalternative, denn prä-

47 48 49 50

Deutschlands. o.O. Vgl. Meng, Richard: Von Marx bis Mindestlohn. SPD besinnt sich auf ihre Wurzeln: Fünf Wochen vor dem Parteitag liegt ein rundum neuer Programmentwurf vor, in: Frankfurter Rundschau vom 18.9.2007. Vgl. Negt, Oskar (2007): Es fehlt eine „Arbeit der Zuspitzung“, in: NG/FH (4). Hier S. 53 ff. Vgl. Von Lucke, Albert (2007): SPD – Profillosigkeit als Programm, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (4). Hier S. 463 ff. SPD-Parteivorstand (Hrsg.) (2007): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. Berlin. Hier S. 5. Ebd. hier S. 56. Platzeck, Matthias; Steinbrück, Peer; Steinmeier, Frank-Walter (o.J.): Auf der Höhe der Zeit. Im 21. Jahrhundert muss sich die Sozialdemokratie auf ihre ursprünglichen Ideen und Ziele besinnen, in: dies. (Hrsg.): Auf der Höhe der Zeit. o.O. Hier S. 24. Hervorhebungen im Original.

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ventiv wird der Wohlfahrtsstaat nur tätig, wenn man ihm die Möglichkeiten zur Intervention nicht entzieht, was im Rahmen der rot-grünen Reformpolitik aber schrittweise geschah. Weshalb dem deutschen Sozialstaat ausgerechnet in ­einem Moment, wo er unter maßgeblicher Mitwirkung der SPD beispielsweise durch eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge (Einführung der sogenannten Riester-Rente), die Aufgabe des Prinzips der Beitragsparität zwecks finanzieller Besserstellung der Arbeitgeber und schrittweise Absenkungen des Renten­ niveaus die Fähigkeit zur solidarisch-kollektiven Vorsorgetätigkeit zugunsten der Arbeitnehmer/innen partiell verloren hat, das Etikett ‚vorsorgend‘ angeheftet wurde, erschließt sich höchstens aus dem Kalkül eines modernen Politikmarketings, das gezielt mit positiv besetzten Begriffen spielt, ohne diese noch mit eindeutigen Inhalten zu füllen. Robert Paquet meint, mit dem Paradigmenwechsel zum ‚vorsorgenden So­ zialstaat‘ habe sich die SPD womöglich endgültig vom Sozialversicherungsmodell à la Bismarck verabschiedet. Statt der kollektiven Abdeckung sozialer Standardrisiken avancierte die Stimulierung der Selbstverantwortung durch finanzielle Anreize des Staates zum Kerngedanken: „Die Eigenvorsorge führt aber tendenziell zu einer Individualisierung und Privatisierung der Risiken bzw. ihrer Absicherung, führt zu einer stärkeren Differenzierung der Sicherung insgesamt und bereitet praktisch der Senkung des Mindestniveaus den Boden vor für diejenigen, die keine oder nur sehr geringe Möglichkeiten zu einer eigenständigen Vorsorge mit weitergehenden Leistungsansprüchen haben.“51 Wissen müsste die SPD eigentlich, dass der Abschied vom Sozialversicherungssystem einen hohen Preis hätte, und zwar nicht nur in finanzieller, sondern auch in legitimatorischer Hinsicht. Mehr Steuerfinanzierung heißt nämlich auch, dass die Regierung und die sie tragenden Parteien unmittelbar für die Folgen einer falschen Sozialpolitik verantwortlich gemacht werden dürften, während das Versicherungsmodell bisher als Puffer und damit entlastend gewirkt hat.52 Drei zentrale Sozialstaatsziele nennt das Hamburger SPD-Programm: Sicherheit, Teilhabe und Emanzipation. Bei deren Verfolgung ist der vorsorgende Sozialstaat angeblich effektiver als jener, den man bisher kannte. Nicht verschwiegen werden dürfen allerdings seine Nachteile und Nebenwirkungen für die Betroffenen: Er greift tiefer in die Entscheidungsautonomie seiner Bürger/ innen ein und beschneidet damit deren Freiheit, weil ihnen mehr ‚Privatinitiative‘, ‚Eigenverantwortung‘ und ‚Selbstvorsorge‘ abverlangt werden.

51 52

Paquet, Robert (2007): Der „vorsorgende Sozialstaat“ beginnt mit dem Abschied von der Sozialversicherung. Zur aktuellen Gesundheitsreform – Versuch einer Einordnung, in: Sozialer Fortschritt (9–10). Hier S. 267. Vgl. ebd. hier S. 296.

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3.2 ‚Chancengesellschaft‘ und ‚Solidarische Leistungsgesellschaft‘ – die Leitbilder der Union

CDU und CSU setzen gleichfalls auf „vorsorgende Sozialpolitik“,53 ihre Grundsatzprogramme betten diese aber noch stärker als die SPD in den öffentlichen Diskurs über mehr Eigenverantwortung, Selbstvorsorge und Privatinitiative ein. Das neue Leitbild unterstellt, dass sich der bisherige Wohlfahrtsstaat auf Nachsorge beschränkt habe, und suggeriert, durch präventive Maßnahmen lasse sich erreichen, dass Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut erst gar nicht entstünden. Es mutet beinahe wie die politische Quadratur des Kreises an, wenn der Sozialstaat mit weniger Geld ausgestattet mehr leisten, nämlich ergänzend für die Prävention zuständig sein und gleichzeitig die soziale Integration sicherstellen soll. „Vorbeugen statt nachbessern“ will die CDU in Anlehnung an den Volksmund,54 aber gerade wenn ‚das Kind bereits in den Brunnen gefallen‘ ist, muss man sich auf den Sozialstaat hundertprozentig verlassen können. Da die Arbeitnehmer/innen beruflich flexibel und geografisch mobil sein, heute in Kiel und morgen in Konstanz, vielleicht aber auch nächste Woche in Tokio oder New York tätig werden sollen, brauchen sie im Zeichen der Globalisierung mehr denn je einen großzügigen Wohlfahrtsstaat und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit. Die Programmdebatte der CDU fand unter dem Motto „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ statt. Norbert Blüm kritisierte diese „Marketingsprache“ der Parteiführung unter Angela Merkel, mit der sie Inhaltslosigkeit bzw. Vagheit überdeckte, und fragte, welche Gerechtigkeit damit eigentlich gemeint sei: „Mehr Freiheit für das Finanzkapital, das die Globalisierung beherrscht, ergibt zwar eine ‚neue‘, andere Gerechtigkeit, aber keine, die sich mit dem christlichen Verständnis von Gerechtigkeit harmonisieren lässt.“55 Blüm wies darauf hin, dass Gerechtigkeit der Freiheit bestimmte Grenzen setzt, denn sonst wäre sie seiner Meinung nach nicht mehr als die Möglichkeit zur Ausbeutung. Unter sozialer Gerechtigkeit versteht die CDU in den „Grundsätzen für Deutsch­land“, welche ihr Hannoveraner Parteitag am 3. Dezember 2007 beschloss, nicht etwa die Beseitigung oder Verringerung materieller Ungleichheit. Vielmehr sollen alle Mitbürger/innen die gleiche Möglichkeit haben, sich in Freiheit so zu entfalten, wie es ihren persönlichen Fähigkeiten entspricht: „Wir setzen uns dafür ein, dass jeder Mensch seine Lebenschancen frei und verantwortlich wahrnehmen kann. Dafür bietet die Chancengesellschaft die Voraus53 54 55

Vgl. CSU-Landesleitung (Hrsg.) (2007): Chancen für alle! – In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, Grundsatzprogramm, beschlossen vom Parteitag der CSU am 28. September 2007. Grünwald. Hier S. 82. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Marketing und Interne Kommunikation (Hrsg.) (o.J.): Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen am 3. Dezember 2007 in Hannover. Berlin. Hier S. 34. Blüm, Norbert (2006): Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien. Hier S. 70.

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setzungen und Möglichkeiten. Sie wächst auf dem Boden möglichst gerecht verteilter Lebenschancen. Das erfordert gleiche Startchancen in Bildungswege und in die Arbeitswelt. Dazu gehört nicht, Unterschiede in den persönlichen Anlagen des Einzelnen zu leugnen. Wir wollen gleiche Chancen eröffnen, nicht gleiche Ergebnisse versprechen.“56 Das auf dem 72. CSU-Parteitag am 28. September 2007 in München verabschiedete Grundsatzprogramm steht unter dem Motto „Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten“ und fordert eine „Solidarische Leistungsgesellschaft“, in der möglichst sämtliche Gesellschaftsmitglieder am ökonomischen und sozialen Fortschritt beteiligt werden sollen: „Mit der Solidarischen Leistungsgesellschaft schaffen wir Chancengerechtigkeit für die Schwachen und die Starken.“57 Zwar bezeichnet das CSU-Programm den Sozialstaat als „tragende Säule unserer Gesellschaftsordnung“, bemängelt jedoch, er habe den „Vorrang privater Selbstverantwortung“ sträflich missachtet: „Der politische Irrweg des Versorgungsstaats schwächt die Eigeninitiative, untergräbt die soziale Verantwortung des Einzelnen und bringt die Menschen in eine falsche Abhängigkeit. Eine Politik, die Ansprüche an den Staat weiter vergrößert, ist bequem, schwächt aber unser Gemeinwesen und hilft dem Einzelnen nicht auf Dauer.“58 Auch die CDU erklärt, es sei „besser, gerechter und ökonomischer“, für Kinder wie Erwachsene in Bildung bzw. Weiterbildung zu investieren, als Fehlentwicklungen durch Transferzahlungen oder soziale Maßnahmen zu korrigieren, weshalb die Maxime „Vorbeugen statt nachbessern“ gelte.59 Was unter ­einer ‚vorsorgenden Sozialpolitik‘ zu verstehen ist, bleibt bei den Unionsparteien allerdings ebenso vage und unbestimmt wie im Hamburger SPD-Programm. Zwar bescheinigt das CDU-Programm dem Sozialstaat, Großes geleistet zu haben und unverzichtbar zu sein, kündigt jedoch grundlegende Veränderungen seiner Strukturen an, was mit den vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begründet wird. Ziel sei der ‚aktivierende Sozialstaat‘, welcher die Individuen verstärkt motiviere und befähige, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Eigeninitiative zu entwickeln und Eigenverantwortung zu übernehmen. Bei der Aus- bzw. Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme will sich die CDU an drei Grundsätzen orientieren: „Sie müssen das Prinzip der Eigenverantwortung stärken, dem Prinzip der Generationengerechtigkeit entsprechen und dürfen 56 57 58 59

CDU-Bundesgeschäftsstelle, Marketing und Interne Kommunikation (Hrsg.) (o.J.): Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen am 3. Dezember 2007 in Hannover. Berlin. Hier S. 12. CSU-Landesleitung (Hrsg.) (2007): Chancen für alle! – In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, Grundsatzprogramm, beschlossen vom Parteitag der CSU am 28. September 2007. Grünwald. Hier S. 34. Ebd. hier S. 18. Vgl. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Marketing und Interne Kommunikation (Hrsg.) (o.J.): Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen am 3. Dezember 2007 in Hannover. Berlin. Hier S. 34.

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das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht verletzen.“60 Außerdem soll ihre Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit reduziert werden und ihre Finanzierung künftig weniger über Beiträge und mehr über Steuern erfolgen, um die gesetzlichen Lohnnebenkosten der Unternehmen (gemeint sind die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) zu senken. 3.3 ‚Chancengleichheit‘ als Ersatz für soziale Gerechtigkeit?

Was verbindet die „Chancengesellschaft“ der CDU, das Verlangen ihrer bayerischen Schwesterpartei nach „Chancengerechtigkeit in der Solidarischen Leistungsgesellschaft“ und den „vorsorgenden Sozialstaat“ der SPD miteinander? In allen Leitbildern spielen Bildung und Bildungspolitik eine Schlüsselrolle – die Bildung als Schlüsselressource im Standortwettbewerb der ‚Wissensgesellschaften‘ und die Bildungspolitik als Hebel zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des eigenen Wirtschaftsstandortes und zur Verwirklichung von mehr Chancengleichheit. Zitieren wir zuerst den CDU-Programmtext: „‚Aufstieg durch Bildung‘, so lautet unser gesellschaftspolitisches Ziel. Alle müssen einbezogen, keiner darf zurückgelassen werden. Armut beginnt allzu oft als Bildungsarmut. Die Teilhabe aller an Bildung und Ausbildung ist ein Gebot der Chancengerechtigkeit.“61 Diese wird im Grundsatzprogramm der CSU folgendermaßen definiert: „Chancengerechtigkeit bedeutet, allen jungen Menschen unabhängig von ihrem familiären und sozialen Hintergrund Bildung und Ausbildung zu ermöglichen.“62 Auch bei der SPD steht die Bildung im Mittelpunkt aller Bemühungen. Sie wird im Hamburger Programm zum „zentralen Element der Sozialpolitik“ erklärt und als „die große soziale Frage unserer Zeit“ bezeichnet.63 Wenn man die ‚soziale Vererbung‘ der Armut durch schon im Kindesalter wirksame Selektionsmechanismen bekämpfen möchte, sind ein quantitativer Ausbau und eine qualitative Verbesserung des Bildungssystems der Bundesrepublik vom Elementarbereich bis zum Hochschulwesen zweifellos unerlässlich.64 Die soziale Selektivität unseres Bildungssystems wird von den Unionsparteien jedoch gar nicht ernsthaft in Frage gestellt, denn man verteidigt trotz anderslautender PISA-Ergebnisse die hierarchische Mehrgliedrigkeit des Sekun-

60 61 62 63 64

Ebd. hier S. 60. Ebd. hier S. 33. CSU-Landesleitung (Hrsg.) (2007): Chancen für alle! – In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, Grundsatzprogramm, beschlossen vom Parteitag der CSU am 28. September 2007. Grünwald. Hier S. 81. Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.) (2007): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. Berlin. Hier S. 56 und 60. Vgl. hierzu ausführlicher: Butterwegge, Christoph; Klundt, Michael; Belke-Zeng, Mat­ thias (2008): Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden. Hier S. 334 ff.

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darschulwesens und die Privilegierung des Gymnasiums: „Das vielfältige gegliederte Schulwesen hat sich bewährt und erfolgreich weiterentwickelt.“65 Bildung darf nicht mystifiziert werden, wie das alle Parteien in ihren neuen Grundsatzprogrammen tun, und sie ist auch keine Wunderwaffe im Kampf gegen die (Kinder-)Armut.66 Was entscheidend zum individuellen Aufstieg beitragen kann, versagt nämlich als gesellschaftspolitischer Königsweg. Um die Erwerbslosigkeit und die (Kinder-)Armut als strukturelle Phänomene zu beseitigen, bedarf es nach wie vor, ja sogar dringender denn je der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Alle drei Programmdokumente enthalten nur ein vages Bekenntnis zur Verteilungsgerechtigkeit. So heißt es in den CDU-Grundsätzen, das Gerechtigkeitsziel fordere, „Belastungen angemessen zu verteilen. Deshalb ist es gerecht, dass die Stärkeren einen größeren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten als die Schwächeren.“67 Und im Hamburger SPD-Programm wird festgestellt, die Menschen müssten unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Geschlecht gleiche Lebenschancen haben: „Also meint Gerechtigkeit gleiche Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, gleichen Zugang zu allen öffentlichen Gütern. Wo die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen die Gesellschaft teilt in solche, die über andere verfügen, und solche, über die verfügt wird, verstößt sie gegen die gleiche Freiheit und ist darum ungerecht. Daher erfordert Gerechtigkeit mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht.“68 Sehr viel deutlicher als Verteilungsgerechtigkeit fordern die Programmdokumente Chancen- und Teilhabegerechtigkeit, was nicht zuletzt dem neoliberalen Zeitgeist geschuldet sein dürfte. Obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief wie nie zuvor ist, gilt die Forderung nach Umverteilung heute als ideologisch verstaubt. Letztlich weichen die Parteiprogramme der Kardinalfrage nach den im Finanzmarktkapitalismus bestehenden Herrschafts-, Eigentums- und Machtverhältnissen aus. Statt einer Umverteilung des privaten Reichtums, der mächtige Kapitalinteressen entgegenstehen, soll mehr Bildung für die Armen zu größerer Chancengleichheit führen. Bildungsarmut, auf die sich der Programmdiskurs aller Volksparteien konzentriert, basiert 65 66 67

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CDU-Bundesgeschäftsstelle, Marketing und Interne Kommunikation (Hrsg.) (o.J.): Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen am 3. Dezember 2007 in Hannover. Berlin. Hier S. 35. Vgl. hierzu: Butterwegge, Christoph (2010): Kinderarmut und Bildung, in: Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wiesbaden. Hier: S. 549 ff. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Marketing und Interne Kommunikation (Hrsg.) (o.J.): Freiheit und Sicherheit. Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen am 3. Dezember 2007 in Hannover. Berlin. Hier S. 12. SPD-Parteivorstand (Hrsg.) (2007): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. Hier S. 15.

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jedoch auf der materiellen Unterversorgung und Benachteiligung in anderen Lebensbereichen. Umgekehrt ist gute (Weiter-)Bildung eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Chancengleichheit im Berufsleben. Das für CDU, CSU und SPD gleichermaßen zentrale Ziel der Chancengleichheit korrespondiert mit einer Überakzentuierung der Leistungsgerechtigkeit, während die an das Solidaritätsprinzip gebundene und für den bisherigen Sozial­staat konstitutive Bedarfsgerechtigkeit weit dahinter zurücktritt. Jene über 1,928 Millionen Kinder unter 15 Jahren, die im März 2007 nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften (sog. Hartz-IV-Haushalten) lebten und meistenteils mit einem Regelsatz von damals 208 EUR im Monat auskommen mussten, dürften kaum dieselben Lebens­ chancen im Hinblick auf die Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen erlangen wie der Nachwuchs privilegierter Bevölkerungsschichten, wenn sich die materiellen Ressourcen der Gesellschaft immer stärker bei wenigen Kapitaleigentümern und Spitzenverdienern ansammeln. Zu den (Tot-)Schlagworten, die in den Programmdokumenten der Unionsparteien, aber nicht im sozialdemokratischen Grundsatzprogramm auftauchen, gehört das der ‚Generationengerechtigkeit‘. So betont die CSU: „Die demographische Entwicklung macht die gerechte Partnerschaft der Generationen in einem zukunftsfesten Sozialstaat zu einer entscheidenden sozialen Frage der nächsten Jahrzehnte.“69 Die folgende Definition legt die bayerische Regierungspartei ihren Ausführungen zugrunde: „Generationengerechtigkeit heißt, aus Verantwortung für die kommenden Generationen zu handeln und nicht auf deren Kosten zu leben.“70 3.4 Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit ohne Umverteilung von Geld?

Parteiprogramme sind sowohl Spiegelbilder gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen als auch Resultate innerparteilicher Machtverhältnisse, Strategiedebatten und Formelkompromisse, die Grundüberzeugungen und ideologische Richtungsentscheidungen ihrer Urheber zum Ausdruck bringen. In allen drei Programmdokumenten sind einerseits die Tendenz, den ‚Um-‘ bzw. Abbau des Sozialstaates unter Hinweis auf die Globalisierung und den demografischen Wandel als Sachzwang darzustellen, sowie andererseits ein gewandelter, von neoliberalen Einflüssen nicht freier Gerechtigkeitsbegriff unübersehbar. ‚Fördern und Fordern‘, der regierungsoffizielle Werbeslogan für das „Hartz IV“ genannte Gesetzespaket, hat über die Leitbilder „Chancen-“, „Solidarische Leistungsgesellschaft“ und „vorsorgender Sozialstaat“ den Weg in die 69 70

CSU-Landesleitung (Hrsg.) (2007): Chancen für alle! – In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, Grundsatzprogramm, beschlossen vom Parteitag der CSU am 28. September 2007. Grünwald. Hier S. 19. Ebd. hier S. 105.

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Grundsatzprogrammatik von SPD, CDU und CSU gefunden. Obwohl sich die sozialen und ökologischen Probleme seit geraumer Zeit zuspitzen, bieten die Volksparteien kaum Hinweise, wie ihnen durch eine große Kraftanstrengung der Gesellschaft und/oder zielgenaues Eingreifen des Staates beizukommen wäre. Arbeitslosigkeit und Kinderarmut lassen sich weder durch eine Pädagogisierung des Armutsproblems noch durch die Fetischisierung der Bildung bewältigen und durch Leerformeln, wie ‚Chancengleichheit‘ oder ‚Generationengerechtigkeit‘, höchstens ideologisch entsorgen. Noch nie wurden ‚Privatinitiative‘, ‚Eigenverantwortung‘ und ‚Selbstvorsorge‘ der Bürger/innen so stark betont wie in den untersuchten Parteiprogrammen, was deshalb erstaunt, weil man früher damit viel mehr bewirken konnte als im Zeichen der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung. Heute sind Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wohlhabender, deren Mitglieder allerdings überwiegend hilfloser und schutzbedürftiger. „Der schrittweise Abbau sozialer Sicherungen und der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für eine solidarische Daseinsvorsorge trifft (…) hochgradig individualisierte Individuen, die dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutzlos ausgeliefert sind, weil ihr Habitus nun ganz grundlegend durch die schrittweise Gewöhnung an ein Mindestmaß an Schutz vor den Unwägbarkeiten des Alltags in der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft geprägt ist, einer Gesellschaft, die dazu übergeht, nur noch sehr begrenzt solidarische Haftung für ihre Mitglieder zu übernehmen.“71 Die formale Chancengleichheit, deren Verwirklichung CDU, CSU und SPD anstreben, garantiert höchstens Verfahrensgerechtigkeit, aber nicht mehr. Für jene Menschen, deren soziale Lage prekär ist, resultiert daraus nicht die Möglichkeit, beruflich Fuß zu fassen und in die höheren Etagen der Gesellschaft aufzusteigen. Kontraproduktiv wirken zweifellos die Beschneidung der Lernmittelfreiheit (Verpflichtung der Eltern zur Zahlung von Büchergeld), die Schließung von (Schul-)Bibliotheken aus Kostengründen und die Einführung von Studiengebühren. Hier bezieht die SPD eine andere Position als CDU und CSU: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen gebührenfreien Bildungsweg von Krippe und Kindergarten bis zur Hochschule.“72 Mehr soziale Gleichheit bzw. Verteilungsgerechtigkeit bildet immer noch, ja womöglich mehr denn je, die Basis für eine wirksame Partizipation benachteiligter Gesellschaftsschichten. Wollten die Parteien reale Chancengleichheit für alle Bewohner/innen – unabhängig von ihrer Herkunft und den Umständen, unter denen diese leben – schaffen, müsste der von ihnen regierte Staat die so71 72

Schultheis, Franz (2005): Gesellschaft ohne Eigenschaften, in: ders.; Schulz, Kristina (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz. Hier S. 583. SPD-Parteivorstand (Hrsg.) (2007): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. Hier S. 61.

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zial Benachteiligten gezielter fördern und durch eine gerechtere (Steuer-)Politik für mehr sozialen Ausgleich sorgen. Seit die Finanzmarktkrise mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 globale Dimensionen annahm, scheint es zumindest so, als erlebe der europäische Wohlfahrtsstaat eine Renaissance und als neige sich die Periode der Privatisierung von Unternehmen, öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialen Risiken ihrem Ende zu. Aufgrund der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich einerseits sowie eines wachsenden Protestpotenzials im außerparlamentarischen Raum und Wahlerfolgen der LINKEN andererseits kehrten Solidarität und soziale Gerechtigkeit auf die Tagesordnung zurück, was sich auch in mehr Buchpublikationen zu diesem Themenkreis niederschlug.73 Michael Borchard, Abteilungsleiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, hob im Vorfeld der Bundestagswahl am 22. September 2013 die Schlüsselbedeutung der Gerechtigkeit für die Wahlentscheidung hervor und ließ zwischen den Zeilen durchblicken, dass etablierte Parteien wie seine eigene wegen des angestrebten Wahlerfolges zu einem taktischen Umgang mit dem Grundwert der sozialen Gerechtigkeit neigen: „Mit der sozialen Gerechtigkeit werden Wahlen gewonnen und Wahlen verloren. Keine Partei kann es sich leisten, diesen Begriff – im wahrsten Sinne des Wortes – links liegen zu lassen und nicht wenigstens an einer Stelle des eigenen Programms anzusprechen.“74 Obwohl die soziale Gerechtigkeit und damit eng verwandte Themen wie die Bekämpfung der Altersarmut zeitweilig im Mittelpunkt des Bundestagswahlkampfes 2013 standen, problematisierten die etablierten Parteien weder ihre falschen Weichenstellungen der Vergangenheit (zum Beispiel die sogenannte Riester-Reform, die ‚Agenda 2010‘ oder die sogenannten Hartz-Gesetze) und die dadurch ausgelösten strukturellen Fehlentwicklungen und sozialen Verwerfungen, noch interessierten sich ihre Hauptrepräsentant(inn)en ernsthaft für eine Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates im Sinne einer solidarischen Bürgerversicherung, wie sie SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE mit unterschiedlicher Akzentuierung in ihren Wahl- bzw. Regierungsprogrammen forderten. Auch die notwendige, wohl nur durch eine umfassende Steuerreform realisierbare Umverteilung von Einkommen und Vermögen blieb schon im Ansatz stecken, zumal die Ersteren durch ihren bornierten Ab- und Ausgrenzungskurs gegenüber der Letzteren keine politische Macht- und parlamentarische Mehrheitsperspektive dafür eröffneten. Umso aktueller bleibt die politi73

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Vgl. z.B. Becker, Irene; Hauser, Richard (2009): Soziale Gerechtigkeit – ein magisches Viereck. Zieldimensionen, Politikanalysen und empirische Befunde. Siller, Peter; Pitz, Gerhard (Hrsg.) (2009): Politik der Gerechtigkeit. Zur praktischen Orientierungskraft eines umkämpften Ideals. Baden-Baden. Thomas Ebert (2010): Soziale Gerechtigkeit. Bonn (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1088). Borchard, Michael (2013): Die vielen Gesichter der Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (34–36). Hier S. 36.

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sche Gretchenfrage, wie es die Parteien mit der sozialen Gerechtigkeit halten und welche Reformen sie umzusetzen gedenken, um im Rahmen der künftigen Wohlfahrtsstaatsentwicklung mehr davon zu verwirklichen.

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Steuergerechtigkeit, Prinzipien der Besteuerung und die ­steuerethische Begründung des europäischen Wohlfahrtsstaates

Gerechtigkeit ist eine ‚verhältnismäßige‘ Eigenschaft. Der Begriff Steuergerech­ tigkeit bezieht sich auf zwei konzeptionell verschiedene Verhältnisse, nämlich das Verhältnis der Steuerbürgerin/des Steuerbürgers zu ihrem/seinem Gemeinwesen einerseits und das Verhältnis der Steuerbürger/innen zueinander andererseits. Sie werden hier aus analytischen Gründen getrennt. Die Trennung erfolgt vor allem, um zwei Fragen der Steuergerechtigkeit voneinander abzusetzen: Ist der Steuereingriff des Staates gerechtfertigt? Wie ist die Steuerlast unter den Steuerbürger/innen gerecht zu verteilen? (Ein drittes Kernthema der Steuergerechtigkeit wäre jenes der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Ein viertes Thema die Frage nach der Rechtfertigung und Höhe von Unternehmensbesteuerung. Ein weiteres – mit Frage drei und Frage vier zusammenhängendes – Thema jenes nach internationaler Steuergerechtigkeit. Frage drei bis fünf müssen hier zurückgestellt bleiben, sollten aber für einen umfassenden steuerethischen Ansatz berücksichtigt werden.) Ausgehend von einer Darstellung und Analyse der beiden zentralen Rechtfertigungsprinzipien für Besteuerung und die Verteilung von Steuerlast – dem Nutzenprinzip einerseits und dem Fähigkeitsprinzip andererseits – argumentiert dieser Beitrag, dass die beiden Prinzipien wesentliche Unterschiede im Hinblick auf die konzeptuelle Reichweite und damit auch für ihre Tauglichkeit als Prinzipen der Steuergerechtigkeit im modernen Wohlfahrtsstaat mitbringen. Das Nutzenprinzip, das Steuern im Wesentlichen als Preis für die erbrachten Leistungen des Staates in der Bereitstellung notwendiger öffentlicher Güter auffasst, hat mit der Verbindung von Einnahmenseite (Fiskalzweck der Steuern) und Ausgabenseiten (Preis für öffentliche Güter) eine konzeptuelle Reichweite, die tendenziell Fragen der legitimen Staatsaufgaben miteinschließt. Das angelegte privatwirtschaftliche Verständnis von Steuern als Preis evoziert auch Fragen der direkten und ungeteilten Mitsprache bei der Entscheidung über die Reichweite der Staatsaufgaben, die das zwischen Einnahmen- und Ausgabenseite positionierte politische System mitsamt seiner Legitimations- und Verantwortlichkeitsbezüge auszuhebeln drohen. Steuerethische Fragestellungen können im Zusammenhang mit einem Verständnis von Steuern als gerechter Preis für legitime Leistungen der öffentlichen Hand direkt zu staats- und sozialphilosophischen Perspektiven führen, die Fragen von Solidarität, des sozialen Ausgleichs oder von Umverteilung hinter stark betonte Freiheitsrechte zurückstellen.

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Im Gegensatz dazu begrenzt das Leistungsfähigkeitsprinzip seinen Anwendungsbereich auf die Einnahmenseite und den Fiskalzweck von Steuern und bleibt damit offen für Reflexionen auf komplementäre sozialethische und gerechtigkeitstheoretische Prämissen und Werte. Das Leistungsfähigkeitsprinzip versteht Steuern als notwendige Last, die so unter den Steuerzahlenden zu verteilen ist, dass in Summe das geringste aggregierte (absolute, relative oder ‚Grenznutzen‘-) Opfer dabei anfällt. Gerechtigkeit ist dabei dann hergestellt, wenn die Last in wirksamer Weise nach horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit verteilt wird: Gleich Leistungsfähige sollen gleich belastet werden (eine Variante des Universalitätsprinzip, nach der jeder Leistungsfähige zur Steuerleis­ tung herangezogen werden soll), was horizontale Gerechtigkeit verwirklicht; ungleich Leistungsfähige sollen ungleich herangezogen werden, was ungleiche Verteilung der Steuerlast zur Folge hat und die Verwirklichung vertikaler Gerechtigkeit intendiert. Diese Konzeption von Steuergerechtigkeit macht keine Aussagen über die Zulässigkeit des Steuereingriffs oder seine Höhe und ist damit aus steuerethischer Perspektive normativ ergänzungsbedürftig. Andererseits ist sie aber gerade aufgrund dieser Offenheit anschlussfähig für eine grundlegende Konzeption von Steuergerechtigkeit im modernen Wohlfahrtsstaat. Der Beitrag folgert aus diesen Einsichten, dass das Nutzenprinzip mit einer sie begleitenden ‚privatwirtschaftlichen‘ Staats- und Gesellschafts- und schließlich auch Demokratieauffassung deutlich mit einem gesellschaftlichen Diskurs harmoniert, der das „schädliche Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft“1 hochhält. Mit einer gewissen polemischen Verve wird dies als ‚US-amerikanisch-angelsächsische steuerethische Position‘ markiert, während davon abgesetzt Steuergerechtigkeit auf Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips als steuerethisch überzeugende Rechtfertigung des (kontinental-)europäischen Wohlfahrtsstaates ausgewiesen wird. Ein weiteres Grundanliegen dieses Beitrags ist es, mögliche steuerethische Argumentationslinien aufzuzeigen und in ihren Konsequenzen deutlich zu machen. Prinzipien der Besteuerung

Allgemeine Darstellungen über Prinzipien der Besteuerung verweisen meist auf die durch Adam Smith in seiner autoritativen Abhandlung The Wealth of Nations zusammengefassten vier Prinzipien der Besteuerung: (i) Gleichmäßigkeit der Besteuerung; (ii) Transparenz der Steuergebarung (keine Willkür, klare Festlegungen von Steuerhöhe und Steuerfälligkeit); (iii) Bequemlichkeit (Verminderung der Transaktionskosten für die Steuerzahlenden); (iv) „Wohlfeilheit“ der Steuer­ erhebung (geringe Kosten).2 Dabei stellt nur das erste Prinzip ein materielles 1 2

Zur Kritik dieses Ideals vgl.: Sturn, Richard (2013): Das Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft, in: KSÖ-Nachrichten (3), S. 1–3. Smith, Adam (1904): The Wealth of Nations. New York. Hier S. 2:310 sowie Homburg,

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Fundamentalprinzip der Steuergerechtigkeit dar, die Prinzipien zwei bis vier beziehen sich vielmehr auf steuertechnische Aspekte von Steuergerechtigkeit. Das erste Prinzip lautet im Original: „The subjects of every state ought to contribute towards the support of the government, as nearly as possible, in proportion to their respective abilities; that is, in proportion to the revenue which they respectively enjoy under the protection of the state.“3 Richard A. Musgrave weist nun daraufhin, dass Adam Smith hier zwei Prinzipien der Steuergerechtigkeit miteinander kombiniert, die üblicherweise als voneinander zu unterscheidende behandelt werden: das Nutzenprinzip (auch: Äquivalenztheorie, engl. benefit principle) und das Fähigkeitsprinzip (Theorie der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, engl. ability principle).4 Die beiden Prinzipien unterscheiden sich sowohl in Zuschnitt und Reichweite ihrer Erklärungsabsicht als auch in ihren Konsequenzen für eine Konzeption von Steuergerechtigkeit.5 Häufig wird in Überblicksdarstellungen und Einführungswerken auf die theoretische Unverträglichkeit dieser beiden Prinzipien verwiesen, jedoch andererseits argumentiert, dass in der steuerpolitischen Praxis eine gleichzeitige Anwendung beider Prinzipien möglich sei, wenn damit unterschiedliche Bereiche gestaltet oder unterschiedliche Zwecke verfolgt würden.6 Nach dem Äquivalenz-Theorem gilt die individuelle Steuer als Preis für jene Leistungen, die der Einzelne vom Staat in Form von öffentlichen Gütern wie etwa ‚Sicherheit‘ oder ‚Wettervorhersagen‘ erhält. Das Nutzenprinzip hat historische Wurzeln in den Assekuranztheorien, die Steuern als Gegenleistung für den physischen Schutz durch den Landesherren verstanden wissen wollten. Diese Ansätze setzten eine zumindest rudimentäre Theorie öffentlicher Güter und eine korrespondierende Auffassung von Privateigentum voraus, die wiederum auf dem Boden naturrechtlicher Argumentationen standen. Grundlage solcher Überlegungen waren eine Vorstellung von einer natürlichen, und damit ‚gerechten‘ Ordnung, von dahinter stehenden und wirkenden ‚Naturgesetzen‘ ebenso wie ein neuer, sich interessanterweise zuerst im Bereich der Steuertheo­ rie ausprägender methodologischer Individualismus.7 Es liegt auf der Hand, dass – politisch gesehen – solche assekuranztheoretischen Steuerbegründungsversuche Projekte des aufkommenden Bürgertums waren und dessen Interes-

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Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München, § 13 bzw. Weber-Grellet, Heinrich (2001): Steuern im modernen Verfassungsstaat. Funktionen, Prinzipien und Strukturen des Steuerstaats und des Steuerrechts. Köln. Hier S. 157. Smith, ebd. Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington, S. 135–138. Ebd. hier S.135. Vgl. dazu etwa: Slemrod, Joel; Bakija, Jon (2004): Taxing ourselves. A Citizen’s Guide to the Debate over Taxes. Cambridge/London, S. 55 ff oder Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Hier S. 41 ff. Vgl. dazu: Mann, Fritz Karl (1978): Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935. Stuttgart/New York. Hier S. 103 ff.

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sen dienten. In seiner späteren Fassung als weitergreifendes Nutzenprinzip bleibt diese Denklinie den naturrechtlichen gedanklichen Voraussetzungen verbunden. Das Äquivalenzprinzip steht dabei auf dem Boden einer Theorie öffentlicher Güter, die durchaus eine Differenzierung der einzelnen Steuerleis­ tung erlaubt: Wenn auch die Leistungen Einzelne in der gleicher Weise ‚treffen‘ – und damit ein gleicher Preis, demnach also eine Kopfsteuer – zu rechtfertigen wäre, so geht diese Theorie in Anlehnung an die Assekuranztheorie davon aus, dass Einzelne in unterschiedlicher Weise vom öffentlichen Gut profitieren. Wer mehr besitzt, wäre zum Beispiel vom Fehlen von öffentlicher Sicherheit stärker betroffen – sein Nutzen aus Sicherheit ist also höher, weshalb auch eine höhere Steuerleistung als höherer Preis gerechtfertigt ist. Die Frage der konkreten Steigerung des Steuersatzes, in der sich diese Nutzenfunktion niederschlagen müsste, ist jedoch bisher keiner überzeugenden Lösung zugänglich. Dies verwundert angesichts der Vielfalt und Komplexität der öffentlichen Güter und ihrer schwer kalkulierbaren Nutzenfunktion für den Einzelnen nicht. Auch wenn aus dem Nutzen-Theorem heraus also progressive Steuersätze argumentierbar sind, so können aus ihm generell keine Umverteilungsimperative abgeleitet werden.8 Das Nutzen-Prinzip ruht, wie oben für die gedanklichen Vorläufer angedeutet, auf der heute kaum noch konsensualen Prämisse einer ‚natürlichen‘, und damit gerechten Verteilung von (Markt-)Einkommen; es ist ein Prinzip des klassischen ökonomischen liberalen Denkens in der Tradi­ tion John Lockes und Adam Smiths und steht heute für eine libertäre Staatsphilosophie und Wirtschaftsauffassung.9 Der Steuerstaat greift dieser Idee nach in keiner Weise regulierend in diese natürliche Ordnung ein, Steuern sind allein der Preis für solche notwendig staatlicherseits zu erbringenden öffentlichen Leistungen, die privat – und das heißt marktwirtschaftlich – nicht realisiert werden können.10 Anders gewendet fehlt dem Nutzenprinzip in seiner Grundaussage jegliche soziale Komponente – eine Folge der zugrunde liegenden ‚natürlichen‘ Ordnungsvorstellung, die Liam Murphy und Thomas Nagel als ‚pre-tax illusion‘11 zu einem Ansatzpunkt ihrer steuerethischen Kritik machen. Folgerichtig wird das Nutzenprinzip in der Literatur auch als ‚privatwirtschaftliches Besteuerungsprinzip‘ angesprochen.12

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Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington. Hier S. 135. Slemrod, Joel; Bakija, Jon (2004): Taxing ourselves. A Citizen’s Guide to the Debate over Taxes. Cambridge/London. Hier S. 61. Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington. Ebd. Murphy, Liam; Nagel, Thomas (2002): The Myth of Ownership – Taxes and Justice. New York. Weber-Grellet, Heinrich (2001): Steuern im modernen Verfassungsstaat. Funktionen, Prinzipien und Strukturen des Steuerstaats und des Steuerrechts. Köln. Hier S. 173.

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Während die Äquivalenztheorie Steuern als Preis für Leistungen ansieht und damit gleichsam auch den gesamten Staatsapparat im Auge haben muss, so fokussiert das Fähigkeitstheorem nur auf die Einnahmenseite.13 Dieser Befund steht im Gleichklang mit einer Konzeptualisierung von Steuern, die den Fiskalzweck, den Zweck der Generierung von Staatseinnahmen herausstellt und alle direkten Verbindungen zu staatlichen Ausgaben nach dem Nonaffekta­ tionsprinzip kappt. Da Steuerpolitik aber immer im Kontext einer Verfassungsordnung steht, die weitere Prinzipien mit Bezug zu Gerechtigkeit verkörpert und umsetzt, wie etwa Gleichheit, Zweckmäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit oder Sozialstaatlichkeit, so ergeben sich auch nach diesem Prinzip weiterführende Ableitungsmöglichkeiten für die Gestaltung des Steuersystems. Durch die Anbindung an das weitere ‚Werte-Reservoir‘ des Gemeinwesens, die dem Nutzen-Prinzip – wie unten ausgeführt wird – so nicht offensteht, bleibt das ability-Prinzip aber deutlich flexibler und offener. Aus steuerethischer Sicht bedeutet dies, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip ‚normativ ergänzungsbedürftig‘ ist. Steuern werden nach dem Theorem der Leistungsfähigkeit als notwendiger Beitrag der Bürger/innen zur Staatsfinanzierung aufgefasst, wobei die Last der Besteuerung in einer fairen und gleichmäßigen Weise unter den Steuerbürgern zu verteilt ist. Das Leistungsfähigkeitsprinzip bestimmt allein die Ordnung dieser Verteilung, greift jedoch in keiner Weise auf die Leistungsseite des Gemeinwesens über. Es bietet auch keine Argumentationsgrundlage zur Rechtfertigung von Besteuerung an sich oder zur Frage zulässiger oder wünschenswerter Obergrenzen für den Steuerzugriff. Eine gerechte Lastenverteilung bedeutet aus Sicht dieses Theorems eine Verteilung nach der gegebenen (monetären) Fähigkeit zur Steuerleistung bzw. zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. ‚Leistungsfähigkeit‘ wird dabei nach einer in der Finanzwissenschaft weit verbreiteten Auffassung am treffendsten durch den Indikator ‚Einkommen‘ abgebildet. (Gerade angesichts zunehmender Ungleichverteilung von Vermögen und eines stetig steigenden Drucks auf die öffentlichen Finanzen im Zuge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise und der Bewältigung ihrer sozialpolitischen Folgen gewinnen Argumente an Bedeutung, die ‚Vermögen‘ als zusätzlichen Indikator für Leistungsfähigkeit vorschlagen.14) In der Differenzierung der Leistungsfähigkeit liegt nun der Schlüssel zur gerechten Verteilung der Steuerlast, wobei hier zwei Gerechtigkeitskonzeptionen zur Anwendung kommen, die von unterschiedlichem Zuschnitt sind: die die horizontale Gerechtigkeit (‚horizontal equity‘) und die vertikale Gerechtigkeit (‚vertical equity‘).

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Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington. Hier S. 136. Vgl. dazu: Gaisbauer, Helmut P.; Schweiger, Gottfried; Sedmak, Clemens (2013): Ethical Obligations of Wealthy people: Progressive Taxation and the Financial Crisis, in: Ethics and Social Welfare (7/2), S. 141–154.

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Horizontale Gerechtigkeit vereint das Universalitätsgebot mit dem Gebot der Gleichbehandlung. Das Universalitätsgebot postuliert: Alle Leistungsfähigen müssen zur Steuerleistung herangezogen werden. Ausnahmen von der Steuerleistung müssen begründet werden. Gleichbehandlung bedeutet: Menschen mit gleichen Einkommen (oder gleicher, anders bestimmter ‚Fähigkeit‘) sollen gleich hohen Steuern unterworfen sein. Horizontale Gerechtigkeit folgt damit dem Grundsatz, dass Gleiche gleich behandelt werden sollen. Horizontale Steuergerechtigkeit steht dem Gleichheitsgrundsatz nahe und ist eine unerlässliche Dimension von ‚Steuerbürgerlichkeit‘. Sie gilt im Übrigen in gleicher Weise für das Nutzen-Prinzip. Im Gegensatz dazu ist das Gebot der vertikalen Steuergerechtigkeit direkt dem Leistungsfähigkeitsprinzip zugehörig: Sie bestimmt, dass Steuerbürger/innen mit höheren Einkommen (oder höherer anders bestimmter ‚Fähigkeit‘) eine höhere Steuerlast zu tragen haben als solche mit geringerer ‚Fähigkeit‘. Sie folgt dem Gebot, dass Ungleiche ungleich zu behandeln sind. Auch wenn zunächst intuitiv das Prinzip der vertikalen Steuergerechtigkeit mit einem progressiven Steuertarif in Verbindung gebracht wird, so ist es dennoch offen für die Bestimmung, wieviel jemand mehr leisten solle, der ein höheres Einkommen hat, in welcher Weise sich also die Progression des Einkommens in einer Progression der Steuer niederschlagen solle. Faktisch wurden unter diesem Prinzip tatsächlich fast durchgängig progressive Steuertarife realisiert; theoretisch würden aber auch proportionale oder sogar degressive Steuertarifverläufe dem Prinzip der horizontal equity nicht widersprechen, solange eine höhere Gesamtsteuerleistung für Bezieher/innen höherer Einkommen damit erzielt werden würde.15 Mit einer geschickten Verallgemeinerung des Gleichheitsgrundsatzes gelang es John Stuart Mill Gleichheit und Differenzierung nach (Steuer-)Leistungsfähigkeit zusammenzubringen und damit ein denkbar überzeugendes Steuergerechtigkeitskonzept zu etablieren: Eine vorgegebene Steuerlast soll nach Mills Opfertheorie so verteilt werden, dass alle Steuerpflichtigen dasselbe Opfer erbringen. Demnach sollen nicht nur gleich leistungsfähige Steuerpflichtige gleich besteuert werden, sondern darüber hinaus auch verschieden leistungsfähige Steuerpflichtige in der Weise verschieden, dass die resultierenden Opfer für alle gleich sind.16 Die Opfertheorie operiert auf dem Boden utilitaristischer Überlegungen; zur Ableitung steuerpolitischer Handlungsanweisungen erfordert sie eine Messung der individuellen Opfer (an ‚utility‘). Die Operationalisierung nach dem ‚gleichen absoluten Opfer‘ verlangt, dass alle Steuerpflichtigen dieselbe absolut bestimmte Nutzeneinbuße erleiden; der Steuerbetrag wird mit steigendem Einkommen zunehmen.17 Eine zweite Variante (‚gleiches relatives Opfer‘) ver15 16 17

Darauf hat bereits Seligman in seinem frühen Standardwerk hingewiesen: Seligman, Edwin R. A. (1908): Progressive Taxation in Theory and Practice. Princeton. Hier S. 3 ff. Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Hier S. 204. Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Hier S. 204 f.

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langt, dass nicht die absolute, sondern die prozentuale Nutzeneinbuße für alle Steuerpflichtigen gleich sein soll: die verlangte Nutzeneinbuße nimmt mit steigendem Bruttoeinkommen zu. (Anfängliche Erwartungen, die Opfertheorie erlaube eine mathematische Fundierung spezieller Tarifformen, erfüllten sich jedoch nicht.)18 Eine dritte Variante der Opfertheorie, das Prinzip des gleichen Grenzopfers auf Grundlage der ‚Sozialen Wohlfahrtsfunktion‘, ist im Unterschied zu den Forderungen des absoluten bzw. relativen Opfers, das sich auf die individuelle Leistungsfähigkeit bezieht, auf ein Verteilungsergebnis gerichtet und damit auch nicht mehr unter das Leistungsfähigkeitsprinzip zu subsummieren.19 Ich möchte kurz festhalten: Adam Smith kombiniert in seinem ersten Steuerprinzip zwei verschiedene Perspektiven auf faire und gerechte Besteuerung mit jeweils unterschiedlichen Prämissen für eine gerechte Verteilung. Die erste Konzeption setzt die Steuer als (gerechten) Preis für staatliche Leistungen (öffentliche Güter) an (‚benefit taxation‘), rekurriert auf eine (Natur-)Ordnung mit einer starken Betonung des Rechts auf Verfügungsgewalt über jegliches (Brutto-)Einkommen (‚entitlement to earnings‘).20 Menschen, die höheres Einkommen beziehen, sollen höhere Steuern leisten, weil sie den Leistungen der öffentlichen Hand (wie etwa dem Justizwesen, das Besitzansprüche und ökonomische Rechte durchsetzbar macht, eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur, die Produktionskreisläufe rationalisiert oder gut ausgebildete Arbeitskräfte) notwendig einen höheren (Geld-)Wert zumessen müssen als Mitbürger/innen mit niedrigen Einkommen. Die zweite Konzeption misst Steuern nach (Steuer-) Leistungsfähigkeit zu (‚ability-to-pay taxation‘), argumentiert für eine Verteilung der Steuerlast, die nach utilitaristischen Maßstäben eine minimale Gesamtsteuerbelastung für die Gemeinschaft der Steuerzahler bedeutet und somit (aggregierte) Wohlfahrt einer Gesellschaft maximiert. Zu diesem Ziel müssen Besserverdienende höhere Steuern zahlen. Das Recht auf Verfügungsgewalt über das eigene Einkommen kann auf der Grundlage von anderen Gerechtigkeitsansprüchen relativiert werden, sofern diese sich auf eine unvoreingenommene, allgemein überzeugende Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit beziehen. Dieses Steuerprinzip beschränkt sich rein auf den Fiskalzweck der Finanzierung eines ansonsten extern angenommenen Staatshaushaltes; vor allem schließt sie keine Wirkungen konkreter Leistungen des Staates auf die ökonomische Position der Steuerzahler mit ein. Beiden Prinzipien ist gemeinsam, dass aus ihnen zunächst keine Umverteilungsimperative abgeleitet werden können. Nach dem Nutzenprinzip sind Steuern rein als Preis gedacht, es gibt keinen weiteren Profiteur dieses Beitrages, sondern nur nach der ökonomischen Position Unterschiede in der Gestaltung 18 19 20

Ebd. Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Hier S. 206. Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington. Hier S. 137.

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des Preises – manchen bringt das öffentliche Gut weniger Vorteile, weniger Nutzen als anderen, sie zahlen daher einen geringeren Preis. Nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist die Steuer ein Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens, der nicht aus dem Umfang oder Nutzen von öffentlichen Gütern abgeleitet wird, sondern rein auf die faire Verteilung der daraus entstehenden Steuerlast abzielt. Welche Art von öffentlichen Gütern mit welcher ‚Wohlfahrtsfunktion‘ mit den Steuern finanziert werden sollen, ist aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht ableitbar. Ein markanter Unterschied zwischen beiden Prinzipien liegt darin, dass die privatwirtschaftliche Auffassung von Steuern als Preis eine Sachverhaltsontologie mit sich bringt, die Ansprüche auf die direkte Mitbestimmung über das Portfolio der öffentlichen Hand nahelegt. Damit reicht die Wirkung des Nutzenprinzips auch in den Bereich der Steuerrechtfertigung hinein. Während das Leistungsfähigkeitsprinzip keine immanente Verbindung zu dieser Dimension anbietet, schwingt aus der privatwirtschaftlichen Perspektive des Nutzenprinzips gleichsam notwendig das Diktat der knappen Ressourcen mit, das zur möglichst zurückhaltenden Alimentierung der öffentlichen Hand drängt und Steuerrechtfertigung im Geiste einer ‚Schlacht‘ um den niedrigstmöglichen Gesamtpreis nahelegt. Der folgende Abschnitt kontextualisiert die Herausbildung der beiden grundlegenden Prinzipien, vor allem mit Bezug zur Frage der Steuerrechtfertigung, mit Blick auf ihre historische Dimension, aber auch auf aktuelle Debatten. Steuerrechtfertigung: historische Dimension und aktuelle Debatte

Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt, dass die Frage, ob Steuern im gegenwärtigen liberalen Rechtsstaat überhaupt gerechtfertigt sind, im steuerwissenschaftlichen Diskurs durchaus unterschiedlich bewertet und beantwortet wird. An einer Stelle wird die Frage als die „häufig vergessene Vorfrage der Steuerwissenschaften“21 bezeichnet; an anderer wird die Meinung vertreten, die Steuer sei nicht Gegenleistung, sondern als Solidarbeitrag Ausdruck einer demokratischen Grundpflicht zur Finanzierung des Gemeinwesens, Ausdruck einer sittlichen, die Interessen des Ganzen in den Vordergrund stellenden Dimen­ sion von Staat und Gesellschaft. Eine weitere Legitimation des Steuereingriffs durch früh-rationalistische Theorien sei damit unzeitgemäß und obsolet.22 Die Frage nach der Steuerrechtfertigung ist dabei eine nicht nur im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs nicht vollständig abgeschlossene, sondern hat vor allem auch eine lange historische Tradition, auf die an dieser Stelle kurz einzugehen ist.

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Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Hier S. 7. Weber-Grellet, Heinrich (2001): Steuern im modernen Verfassungsstaat. Funktionen, Prinzipien und Strukturen des Steuerstaats und des Steuerrechts. Köln. Hier S. 5 ff.

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Die Geschichte der Besteuerung reicht zurück bis in die frühen Anfänge der ersten Hochkulturen.23 Zunächst als kultisches Opfer zur Erlangung des Wohlwollens der Götter und als Zehent und Frondienst an den Herrscher konzipiert, ergänzte sich das Spektrum des Zugriffs bald um Einfuhr- und Agrar-Abgaben (Hafengebühren, Torzölle usw.) und nahm in der griechischen und römischen Antike auch die für die Moderne typische Form der Geldleistung an.24 Das moderne System der Besteuerung nahm in der frühen Neuzeit seine ersten markanten Konturen an, ebenso das steuerwissenschaftliche Denken.25 Der frühe steuerethische Diskurs drehte sich vor dem Hintergrund einer arbiträren und äußerst rücksichtslosen und gewalttätigen Steuerpraxis vor allem um die Frage, ob der Steuerzugriff generell gerechtfertigt werden könne.26 Lange Zeit blieb dabei Thomas von Aquins Doppelbestimmung von Steuern prominent. Einerseits müssten Steuern als legitimer Raub gelten, andererseits sei die Erhebung von Steuern aber gerechtfertigt, solange sie einen fairen Preis für Leistungen des Souveräns darstellten.27 Hier begegnet überraschend früh in der europäischen Entwicklung die Rechtfertigung der Besteuerung im Sinne eines fairen Preises, wobei im öffentlichen Diskurs die Formel vom ‚legitimen Raub‘ – mit Betonung auf ‚Raub‘ – stärker verankert (gewesen) sein dürfte. Im Zuge der Herausbildung moderner Staatlichkeit konsolidierten sich Steuerpraxis und begleitende Steuertheorie. Einen markanten Punkt in der Diskussion bilden dabei Adam Smiths – oben genannte – vier Prinzipien der Besteuerung aus The Wealth of Nations, die sowohl das Nutzenprinzip als auch ein frühes Leistungsfähigkeitsprinzip einschlossen und bis heute wenig von ihrer autoritativen Kraft eingebüßt haben. Unter Einhaltung dieser Prinzipien sei die Legitimität des Steuerzwanges an sich und für die verschiedenen ökonomischen Klassen im Einzelnen gegeben. Die zunehmende Rationalisierung der bürokratischen Verwaltung, Imperialismus, Kolonialismus und Militarisierung und ihre Apotheose im Ersten Weltkrieg sowie die darauf folgende prekäre Demokratisierung verhalfen dem auf den Smith’schen Prinzipien aufbauenden modernen Steuerstaat in Theo-

23

24 25 26 27

Vgl. Webber, Carolyn; Wildavsky, Aaron (1986): A history of taxation and expenditure in the western world. New York. Vgl. Pausch, Alfons; Pausch, Jutta (1988): Kleine Weltgeschichte der Steuerzahler. Steueruntertanen – Steuerrebellen – Steuerbürger. Köln.; Vgl. Häuser, Karl (1986): Opfer und Steuer, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer. München, S. 13–24. Häuser, Karl (1986): Opfer und Steuer, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer. München. Mann, Fritz Karl (1978): Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935. Stuttgart/New York. Vgl. ebd. hier S. 9 ff und 103 ff. Meredith, Christopher T. (2008): The Ethical Basis for Taxation in the Thought of Thomas Aquinas, in: Journal of Markets & Morality (11/1), S. 41–57.

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rie wie in Praxis zum Durchbruch.28 Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich setzte sich der Ausbau des Wohlfahrtsstaates westlicher Prägung mit seiner enormen Umverteilungskapazität, einem bedeutenden Anteil an progressiven, direkten Steuern und der Einführung neuer indirekter, damit degressiv wirkender Massensteuern (Umsatz- und Mehrwertsteuern) fort.29 In einem Urteil verteidigte Oliver Wendell Holmes jr., 1902 bis 1932 legendärer US-Höchstrichter, Steuern Ende der 1920er-Jahre in einer weithin bekannten Wendung als ‚Preis für das Leben in einer zivilisierten Gesellschaft‘.30 Mit dem Verweis auf Zivilisationsleistungen wird deutlich, dass kultiviertes und menschenwürdiges Miteinander in einem Gemeinwesen auf eine wohlwollende Alimentierung angewiesen ist, die nicht dem Boden eines moralischen und finanziellen Minimalismus entspringen kann. Dieser Preis eines zivilisatorischen Gemeinwesens ist seit den Tagen Holmes‘ deutlich gestiegen31 – das Gleiche gilt aber auch für den Grad und die Inklusivität der Absicherung gegen existentielle Risiken und die Verbreiterung des Zugangs zu öffentlichen Gütern der Daseinsvorsorge, des kulturellen Lebens etc.32 In der europäischen Debatte nahm eine positive Befürwortung dieses umverteilenden Arrangements lange Jahre breiten Raum ein. Einen Beleg dafür bietet etwa die autoritative Feststellung Oswald von Nell-Breunings: „Wer Wohlfahrtsstaat sagt, sagt notwendig auch Steuerstaat“.33 Deutlichen Widerspruch gegen das durchgesetzte Eingriffsrecht des Steuerstaates meldeten demgegenüber die Aktivisten jener Steuerverweigerungskampagnen an, die in den USA in den späten 1970er-Jahren organisiert wurden. Paradoxerweise zunächst zwar als Abwehr von Angriffen auf eine sozialpolitisch inspirierte Wohnbaupolitik und der sie begleitenden Steuererleichterungen entstanden, transformierte sich diese Bewegung unter dem Einfluss der politischen Institutionen und äquivalenztheoretischer Argumente bald zu einer Bewegung der radikalen und generellen Ablehnung von Besteuerung für soziale Belange.34 Das politisch-philosophische Referenzwerk zu dieser (transformierten) Position legte Robert Nozick vor. In Anarchy, State 28 29 30 31 32

33 34

Vgl. Steinmo, Sven (2003): The evolution of policy ideas: tax policy in the 20th century, in: The British Journal of Politics & International Relations, (5/2), S. 206–236. Vgl. Schumpeter, Joseph A. (1919): Die Krise des Steuerstaates. Graz. Vgl. jeweils ebd. Holmes Jr., Oliver Wendell (1927): Compañía General de Tabacos de Filipinas v. Collector of Internal Revenue. Hier S. 100; zit. nach: Sturn, Ideal, S. 2. Vgl. Tanzi, Vito; Schulknecht, Ludger (2000): Public spending in the 20th century: a global perspective. Cambridge. Hier S. 6. Vgl. z.B. für die BRD: Ostheim, Tobias; Schmidt, Manfred G. (2007): Vom Ausbau zur Konsolidierung: Sozialpolitik von der sozialliberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung, in: Schmidt, Manfred G. u.a. (Hrsg.): Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich. Wiesbaden, S. 165–172. Zit. nach: Furger, Franz (1995): Fehlt es an der Steuermoral?, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Steuergerechtigkeit. Köln. Hier S. 44. Martin, Issac W. (2008): The permanent tax revolt: How the property tax transformed American politics. Redwood/CA.

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and Utopia argumentiert Nozick die Idee des libertären Minimalstaates, der (beinahe) ohne Zwangsbesteuerung, jedenfalls ohne zu finanzierende Sozialstaatlichkeit auskommt.35 Parallel zur Rezeption dieser Position in der öffentlichen Debatte konsolidierte sich unter konservativem Einfluss in beträchtlichen Teilen der US-Gesellschaft ein Steuerverständnis, das jede Steuer als Angriff auf das Privateigentum sieht, anstatt einzusehen, dass ein taugliches Steuersystem überhaupt erst die Voraussetzungen für modernes Privateigentum und moderne Marktwirtschaft bereitzustellen erlaubt36 – von anderen Vorstellungen der an Bedarfsgerechtigkeit orientierten Sozialpolitik ganz abgesehen. Hier ging unter dem Druck von Argumenten, die sich auf das Nutzenprinzip der Besteuerung stützen, ein gesellschaftliches Bewusstsein verloren, dem Justice Holmes jr. 1927 noch nachhaltigen Ausdruck verliehen hatte. Über das Vereinigte Königreich unter der Tory-Regierung Margret Thatchers und im Zuge der allgemeinen Durchsetzung neoliberaler Vorstellungen der Gestaltung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie schwappten diese Vorstellungen dann auch auf Kontinentaleuropa über und spielen hier eine zwar weniger exponierte, aber dennoch wirksame Rolle.37 Diese Entwicklung deutet eine enge Verbindung zwischen äquivalenztheoretischen Auffassungen von Steuergerechtigkeit und den Staats- und Gesellschaftsvorstellungen eines radikalen libertären Individualismus an, die sich an der weitgehenden Ablehnung von institutionalisierter Solidarität auf allen Ebenen des Wohlfahrtsstaates, von öffentlicher Hand organisierter Daseinsvorsorge und von einem prägnanten Misstrauen gegenüber dem politischen Gemeinwesen zeigen. Im deutschen Sprachraum blieb es Peter Sloterdijk vorbehalten mit einem gewohnt effektvollen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juni 2009 eine grundsätzliche Debatte über die demokratische Legitimität des Steuerzwanges anzustoßen.38 Sloterdijk stellt darin den modernen Staat als ein „geldsaugendes und geldspeiendes Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen“ vor, der die Interessen der „Unproduktiven“ bediene und den „Leistungsträgern“ neben dem Großteil ihres Einkommens auch noch ihren Stolz und ihre Selbstachtung nehme. Sloterdijk polemisiert, dass der moderne Staat auf einem Konstruktionsfehler ruhe, und eine späte Rache der Besitzlosen an den Habenden darstelle, indem er die Legitimität der sozialstaatlichen Umverteilung „fälschlicherweise auf einem vermeintlichen Rechtsanspruch aller Gesellschaftsmitglieder“ gründe. Die darauf begründete „Enteignung der Besitzenden“ sei in vollem Gange, indem sich der ausgebaute Steuerstaat über die progressive Einkommensteuer mehr als die Hälfte des Aufkommens von einer „Handvoll 35 36 37 38

Nozick, Robert (1974): Anarchy, State and Utopia. New York. Sturn, Richard (2013): Das Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft, in: KSÖ-Nachrichten (3), S. 1–3. Hier S. 2. Ebd. Sloterdijk, Peter: Die Revolution der gebenden Hand. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 6. 2009.

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Leistungsträger“ bezahlen lasse. Hier argumentiert Sloterdijk auf dem Boden des Nutzenprinzips und einer radikalen Variante seiner Prämisse des ‚entitlement to earnings‘. Noch vor die Vorstellung von ‚Steuern als Preis für öffentlichen Leistungen‘ zurückgehend fordert er eine – für ‚besitzende‘ Ohren ‚wohlfeile‘ – Abschaffung der Zwangssteuern und ihre Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit. In dieser „thymotischen Umwälzung“ müsse der öffentliche Bereich keineswegs verarmen, weil der Stolz „der gebenden Hand“ großzügig Spenden und milde Gaben fließen lassen würde, so die gewagte Prognose dieser Polemik.39 Mit dieser „Option für die Tüchtigen“, diesem vehementen Angriff auf den Steuerstaat an sich, geht Sloterdijk in der Steuertheorie gar vor Thomas von Aquins Steuertheorie zurück und lässt sogar dessen Prämisse fallen, dass der Souverän legitimen Anspruch auf Finanzierung von Leistungen für das bonum commune erheben könnte. Steuern sind für Sloterdijk nur noch schlichtweg unter einem legalistischen Deckmantel enteignetes, geraubtes ­Eigentum. Der Salzburger Theologe Alois Halbmayr sieht in der von Sloterdijk angestoßenen Debatte einen leisen, aber nachhaltigen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Diskurs im Gange; Sloterdijks Thesen sind aus seiner Sicht Ausdruck eines tiefen und wachsenden Unbehagens der sogenannten Mittelschichten, die von oben und von unten unter Druck geraten.40 Halbmayr holt damit die Debatte jenseits der „thymotischen Strohfeuer“ auf den Boden der Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zurück. Er warnt dabei davor, dass die Mittelschicht den Konsens über das wohlfahrtsstaatliche Arrangement aufkündigen und ihre Solidaritätsbereitschaft fallen lassen könnte: „Die Spannung von Freiheit und Gleichheit lässt sich auch in modernen Gesellschaften nicht auflösen, ihre Gestaltung entscheidet aber über die notwendige Akzeptanz, die die Bürger den staatlichen Institutionen entgegenbringen“.41 Hier sind entscheidende Einsichten in die Reichweite und Bedeutung steuer­ ethischer Fragen – auch und vor allem in Bezug auf den öffentlichen Diskurs – formuliert. Nur weit verbreitete Einsichten in die Reichweite von Gerechtigkeitserwägungen, und damit auch eine vorauszusetzende oder damit einhergehende entsprechende fiscal literacy, können künftigen Strohfeuern wirksam die Nahrung entziehen und eine individualistische Grundhaltung zurückdrängen, die das schädliche „Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft“ (R. Sturn) zum Orientierungspunkt nimmt. Ein steuerethischer Diskurs muss dagegen deutlich machen, dass ein solcher moralischer Minimalismus jenes Gemeinwesen unterminiert, auf das alle in der einen oder anderen Weise angewiesen sind, das von den nach Fähigkeit und Möglichkeit der Einzelnen ‚überschießenden‘, 39 40 41

Vgl. ebd. sowie ders. (2010): Die nehmende Hand und die gebende Seite. Berlin. Vgl. Halbmayr, Alois (2009): Thymotische Strohfeuer. Zu Peter Sloterdijks Neuerfindung der Gesellschaft, in: Salzburger Theologische Zeitschrift (13), S. 217–222. Vgl. Halbmayr ebd. Vgl. Halbmayr ebd. hier S. 221.

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solidarischen Beiträgen getragen wird.42 Eine Reflexion auf die beiden maßgeblichen Theorien der Besteuerung und Steuergerechtigkeit – das Nutzen- und das Fähigkeitsprinzip – wie weiter oben angestellt, legt nahe, das schädliche Ideal der steuerminimierenden Gesellschaft mit dem Nutzenprinzip und seinen sozialphilosophischen Implikationen in Verbindung zu bringen. Gelingt dieser Nachweis überzeugend und kann andererseits gezeigt werden, dass das Fähigkeitsprinzip sich im Gegenteil als ausreichend ‚resistent‘ gegenüber einem privatwirtschaftlich aufgefassten Steuerbegriff, andererseits aber offen für ‚wohlfahrtsstaatlich-affinere‘ sozialethische Prämissen und Argumente zeigt, so ergibt sich daraus eine eindeutige Präferenz für die weitere wissenschaftliche wie öffentliche Debatte um Steuergerechtigkeit. Sozial- und steuerethische Reflexion auf die beiden Grundprinzipien der Besteuerung

Das Nutzenprinzip verbindet die Rechtfertigung der konkreten Steuerlast mit der output-Seite der öffentlichen Hand. Mit dieser argumentativen Verbindung von Einnahmen- und Ausgabenseiten erreicht das Theorem eine konzeptuelle Reichweite, die tendenziell Fragen der legitimen Staatsaufgaben miteinschließt. Sie wird damit auch zu einem Instrument der allgemeinen Rechtfertigung des Steuereingriffes. Der Grund dafür liegt in der starken Betonung des Rechts auf Verfügungsgewalt über jegliches (Brutto-)Einkommen (‚entitlement to earnings‘), das wiederum auf der Vorstellung von einer legitimen, ‚natürlichen‘ Grundordnung des Wirtschaftsgeschehens, mithin auf einer radikal-liberalen Vorstellung von freier Marktwirtschaft gründet. Wo die unsichtbare Hand die Ordnung fügt und damit Gerechtigkeit walten lässt, ist kein Platz und auch keine Notwendigkeit für eine ‚korrigierende‘, ‚soziale‘ Gerechtigkeitsidee.43 Wird das Nutzenprinzip zum dominierenden Bezugspunkt von Steuergerechtigkeit gemacht und dient es als argumentative Grundlage für das gesamte Steuersystem oder deren wichtigste Grundpfeiler, so wird dessen axiomatische Grundlage alle steuerethischen Bezüge bestimmen. Damit bleiben Fragen der Armutsbekämpfung, des sozialen Ausgleichs, sozialer Gerechtigkeit oder der allgemeinen Umverteilung vom steuerethischen Diskurs ausgeschlossen oder zumindest auf nachgeordnete Argumentationsebenen verwiesen. Auch wenn solche libertären Auffassungen außerhalb des wissenschaftlichen und politischen mainstream stehen und nur im steuerethischen Diskurs artiku42 43

Vgl. dazu: Gaisbauer, Helmut P.; Schweiger, Gottfried; Sedmak, Clemens (2012): Die Besteuerung von Vermögen in Österreich aus sozialethischer Perspektive, in: SWS Rundschau (51/4), S. 404–425. Nach Friedrich A. Hayek ist soziale Gerechtigkeit eine Art Fata Morgana, eine Täuschung, die einem realen Blick auf die Wirklichkeit nicht standhält, die sich mithin auch nicht verwirklichen lässt; vgl. Hayek, Friedrich A. (1982): Law, Legislation, and Liberty: A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy. London.

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liert werden, so scheinen sie doch eine bedeutsame, unreflektierte Bezugsfolie für ‚private‘ Überlegungen zur Steuerhöhe abzugeben, bevor diese die ‚Höhe‘ von verallgemeinerungsfähigen (oder -würdigen) Gerechtigkeitsempfindungen erreichen. Hier deutet sich eine drohende Hegemonie streng individualistischer Gesellschaftskonzeptionen an, die den Staat allein als potentiell machtverzehrendes Gegenüber der individuellen Einzelnen oder als abgehobene, korrupte ‚Superstruktur‘ der politischen Klasse gelten lassen. In demokratietheoretischer Hinsicht werden solche Haltungen und Auffassungen bedenklich, wenn sie sich auf Positionen beziehen, wie sie in der ökonomischen Theorie der Politik griffig formuliert worden sind44 – mit einer zugrunde liegenden, verkürzenden Auffassung von Demokratie, die sich vor allem auf individuelle Schutz- und Abwehrrechte und politisches Wahlrecht beschränkt, gemeinschaftliche Ansprüche und Pflichten jedoch vernachlässigt oder unterschlägt. Welchen Druck eine solche diskursive Konstellation aufzubauen imstande ist, kann gegenwärtig an Rolle und Inhalten der Tea-Party in US-amerikanischen innenpolitischen Debatte anschaulich beobachtet werden. Im Lichte dieser Ausführungen wird jedoch auch verständlich, inwieweit und unter welchen Prämissen dem Nutzen-Prinzip ein ‚Demokratie-Vorteil‘ gegenüber dem Leistungsfähigkeitsprinzip zugesprochen werden kann.45 Hier liegt eine prägnante, griffige Kosten-Nutzen-Überlegung zugrunde, die jedoch die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen – Ausdruck der allgemeinen conditio humana – gleichsam als ein Übel anspricht, eine Position, die sich nicht mit wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen vereinbaren lässt. Der ‚Demokratie-Vorteil‘ scheint in dieser Hinsicht zum Preis der Gefahr von beträchtlichen Spannungen erkauft. Das angelegte privatwirtschaftliche Verständnis von Steuern als Preis evoziert Fragen der direkten und ungeteilten Mitsprache bei der Entscheidung über die Reichweite der Staatsaufgaben, die bei radikaler Interpretation das zwischen Einnahmen- und Ausgabenseite positionierte politische System mitsamt seiner Legitimationsund Verantwortlichkeitsbezüge auszuhebeln drohen, jedenfalls dessen Legitimität stark beeinträchtigen könnten. Steuerethische Fragestellungen könnten dann im Zusammenhang mit einem Verständnis von Steuern als gerechter Preis für legitime Leistungen der öffentlichen Hand zu staats- und sozialphilosophischen Konsequenzen zu führen, die politisch im Widerspruch zu demokratischen Entscheidungen und gerechtigkeitstheoretisch zu weiteren berücksichtigenswerten Prämissen sozialethischer Natur stehen könnten, ohne dass weitere vernünftige Abwägungsmöglichkeiten bestünden. Anders gewendet legt die Nutzentheorie aufgrund ihrer axiomatischen Grundlage eine relativ starre und enge sozial- und staatsphilosophische Theorie nahe, die man als ‚privatwirtschaftliche Theorie des Staates‘ bezeichnen könnte. Eine solche könnte schnell in Gegensatz zu kodifizierten sozialen Grundwerten geraten. Im Gegensatz zu dieser 44 45

Vgl. z.B. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York. Weber-Grellet, Heinrich (2001): Steuern im modernen Verfassungsstaat. Funktionen, Prinzipien und Strukturen des Steuerstaats und des Steuerrechts. Köln. Hier S. 173.

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beträchtlichen potentiellen ‚sozialphilosophischen Reichweite‘ des Nutzenprinzips erlaubt eine Konzeption von Steuergerechtigkeit nach dem Fähigkeitsprinzip keine Aussagen über die Zulässigkeit des Steuereingriffs oder seine Höhe und ist damit normativ ergänzungsbedürftig. Andererseits ist sie aber gerade aufgrund dieser Offenheit anschlussfähig für weitere steuerethische Bezüge, die den modernen Wohlfahrtsstaat mit in den Blick nehmen können. Diese steuer­ ethische Argumentation wird im nun folgenden Abschnitt geleistet.46 Kann den im vorliegenden Abschnitt dargelegten Argumenten Überzeugungskraft zugemessen werden, so lässt sich auf dieser Grundlage folgern, dass das Nutzenprinzip mit einer sie begleitenden ‚privatwirtschaftlichen‘ Staatsund Gesellschafts- und schließlich auch Demokratieauffassung deutlich mit einem gesellschaftlichen Diskurs harmoniert, der das schädliche Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft hochhält. Ich möchte diese Position mit einem polemischen Unterton als ‚US-amerikanisch-angelsächsische-steuerethische Position‘ bezeichnen, während – davon abgesetzt – im nun folgenden Abschnitt versucht wird, Steuergerechtigkeit auf Grundlage des Leistungsfähigkeitsprinzips als steuerethisch überzeugende Rechtfertigung des (kontinental-)europäischen Wohlfahrtsstaates auszuweisen. Steuergerechtigkeit nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip und als Grundlage von Strukturen guten Lebens

Konkrete Verständnisse von Steuern und Steuerprinzipien hängen mit starken Überzeugungen hinsichtlich der Beschaffenheit eines Gemeinwesens zusammen. Das benefit principle kann dabei, wie oben argumentiert, nahe an sozialphilosophische, libertäre Positionen gerückt werden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip konzipiert Steuern als Last, die fair unter den Steuerbürger/innen zu verteilen ist, so dass in Summe die größtmögliche Wohlfahrt erreicht wird. Mit der in diesem Verständnis angelegten strikten Begrenzung des Steuerbegriffs auf den Fiskalzweck und der ‚Beachtung‘ des Nonaffektationsprinzips bleibt dieser Begriff im Unterschied zum Nutzenprinzip angewiesen auf eine normative Ergänzung. Eine dem ‚Geist‘ des europäischen Wohlfahrtsstaates angemessene Ergänzung dieses Steuerbegriffs könnte folgende Auffassungen und Argumente beinhalten: 47 Steuern sind wichtigste Finanzierungsquelle von staat46

47

Diese Interpretationen von der (positiven) Begrenztheit des Leistungsfähigkeitsprinzips einerseits und der Reichweite des Nutzenprinzips andererseits stehen in gewisser Weise im Gegensatz zu finanzwissenschaftlichen Charakterisierungen, in denen das Leistungsfähigkeitsprinzip als unterbestimmte praktische Norm eingeschätzt wird, die sich nicht unkontrovers präzisieren lasse. Vgl. dazu: Sturn, Richard (2001): Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Norm der Steuergerechtigkeit, in: Theurl, Engelbert; Winner, Hannes; Sausgruber, Rupert (Hrsg.): Kompendium der österreichischen Finanzpolitik. New York, S. 321–347. Hier S. 321 bzw. 344. Der folgende Abschnitt profitiert maßgeblich von Vorarbeiten von Clemens Sedmak im

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lichen Aufgaben und Ausgaben; öffentlicher Dienst, Infrastruktur, Sicherung von Ordnung und Souveränität, Verwirklichung der Idee von Sozialstaat und Kulturstaat sind hier als maßgeblichste Bereiche der Bereitstellung öffentlicher Güter zu nennen. Mit dieser inhaltlichen Bestimmung rücken der Begriff des Staates und der Begriff des Gemeinwesens nahe zusammen. Zudem berühren diese Handlungsfelder strukturelle Fundamente und Rahmenbedingungen des menschlichen Zusammenlebens, die durch Steuerfinanzierung ermöglicht und konsolidiert werden. Steuersysteme können nicht ohne Vorstellungen dessen, was das Gemeinwesen leisten soll und was Strukturen guten menschlichen Lebens bedeuten, konstruiert oder reformiert werden. Dies zeigt sich auf Ebene der Steuerrechtfertigung, wenn neben dem Fiskalzweck (Finanzierung von Aufgaben und Ausgaben) auch andere Zwecke argumentiert werden, wie Umverteilung oder Verhaltenslenkung. Umverteilung betrifft das Gemeinwesen ebenso wie die/den einzelnen Steuerbürger/in: Sie ruht auf einer Vorstellung vom Stellenwert menschlicher Grundbedürfnisse (Bedarfsgerechtigkeit) im Zusammenspiel mit Gleichheitsvorstellungen (Gleichheit) und Ansprüchen einer angemessenen Vergütung von Leistungen (Leistungsgerechtigkeit)48 ebenso wie sie (Grenzen) wirtschaftliche(r) Leistungsfähigkeit des Einzelnen im Auge haben muss. Auch Lenkungsinteressen können beide Ebenen betreffen, auch Lenkungssteuern (wie etwas Tabaksteuern, Schaumweinsteuern oder Mineralölsteuern bzw. generelle ‚Ökosteuern‘) können dazu dienen, eine normative Vorstellung von individuellen Lebensentwürfen zu vermitteln und zu begünstigen. Steuern werden auf der Grundlage eines Begriffs von Steuerpflicht in unterschiedlichen Kontexten auf unterschiedliche Weise eingehoben. Der Staat greift durch Steuern in den Eigentumsbestand und Vermögensbestand von Steuerbürgerinnen und Steuerbürgern ein. Ein solcher Eingriff muss gerechtfertigt werden, wobei die Beweislast in einer liberalen Tradition auf Seiten des Staates liegt. Es muss also nicht die Bürgerin/der Bürger rechtfertigen, warum sie/er möglichst wenig Steuern zahlen möchte, sondern der Staat hat zu rechtfertigen, warum Steuern in einer bestimmten Höhe festgesetzt werden. Hiermit ist bereits eine steuerethische Vorentscheidung gefallen, die im Kontext der oben angesprochenen demokratietheoretischen Implikationen des Nutzenprinzips inhaltlich problematisiert wurde. Steuern sind per definitionem nicht zweckgebunden. Somit eröffnen Steuern als öffentlich-rechtliche Abgaben einen Spielraum für die Gestaltung des Gemeinwesens. Diese Idee der Aufrechterhaltung und Strukturierung des Gemeinwesens steht im Zentrum der Steuergebarungen, die deswegen nicht an individuelle und klar personenbezogene Gegenleistungen gebunden sind. Auf dieser Grundlage ist eine äquivalenztheoretische Steuerauffassung, die ein en-

48

Rahmen einer gemeinsamen Publikation: Gaisbauer u.a.: Ethical Obligations (FN 14), für die ich herzlich danke. Zu der zugrunde liegenden Auffassung von sozialer Gerechtigkeit siehe: Miller, David (2008): Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt am Main/New York.

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ges Reziprozitätsverständnis formuliert, wie wir es in Vertragssituationen zwischen Einzelpersonen antreffen – mit klar definierter Gabe und klar definierter Gegengabe – zurückzuweisen. Der Staat ist nicht an eine spezifizierbare Gegenleistung gebunden, was mit dem Begriff des Nonaffektationsprinzips zum Ausdruck gebracht wird. Die Flexibilität des Staates in der Verwendung der Steuergelder übersteigt die Flexibilität der Bürger/innen in der Aufbringung der Steuern. Der Steuereingriff ist auch deshalb grundsätzlich zu rechtfertigen. Dabei scheint es freilich sinnvoll zu sein, von einem gewissen ‚Selbstverständlichkeitsniveau‘ auszugehen, das man etwa folgendermaßen rekonstruieren könnte: Menschen sind Gemeinschaftswesen und können ohne Gemeinschaft nicht überleben; die natürliche Ungleichheit der Menschen und die je individuellen Lebensumstände bringen es mit sich, dass Gemeinschaften aus der Art nach verschiedenen Menschen bestehen. So müssen Menschen, um ihrer ­eigenen Natur als Gemeinschaftswesen und der je spezifischen Lebenssituation gerecht zu werden, auf je spezifische Weise (und im Rahmen ihrer Fähigkeiten) zur Sicherung des Gemeinwesens beitragen. Im modernen Staat sind Steuern die entscheidende Ressource für diese Sicherung. Dies sollte außer Streit stehen. Damit soll gesagt sein, dass nicht sämtliche Parameter des Staates stets zur Disposition stehen können; das wirkt sich auf die Frage nach der Steuerhöhe bzw. Steuerlastverteilung insofern aus, als eine Solidaritätspflicht, als ein Beitrag zum Gemeinwesen über ein enges Reziprozitätsverhältnis hinaus, als Teil des ‚Selbstverständlichkeitsniveaus‘ festgeschrieben werden kann. Hiermit soll mit Blick auf das durch das Nutzenprinzip formulierte enge Reziprozitätsverhältnis festgehalten werden, dass der Staat im Rahmen des Interaktionsradius einzelner Menschen nicht ein weiterer Austauschpartner ist, sondern strukturell auf einer anderen Ebene steht, da das Gemeinwesen den Rahmen sämtlicher Transaktionen abgibt. Durch die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen und durch dessen strukturelle Bedeutung ergeben sich bestimmte Einschränkungen hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten von Steuern. So kann die Abgabepflicht auch gegen den Willen des Betroffenen auferlegt und bei Verweigerung entsprechend sanktioniert werden. Es ist freilich nicht von der Hand zu weisen, dass das Steuerverhalten (bzw. Steuervermeidungsverhalten) von Bürgerinnen und Bürgern durchaus der Vorteilsmaximierung ähnelt, wie sie in individuellen Interaktionen zu beobachten sind. Eine bedeutsame Bezugsfolie dieser Haltung ist das ‚Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft‘. Aus diesen Gründen sind ein einigermaßen substantieller Begriff von ‚Zugehörigkeit‘ zu einem Gemeinwesen und eine transparente Steuergebarung (in Aufbringung und Management) bzw. steuerpolitische Linie notwendig. Es ist fragwürdig, inwieweit auf der Grundlage eines flächendeckenden moralischen ‚Minimalismus‘ in Bezug auf gemeinschaftliche Aufgaben und Pflichten, wie etwa im Ideal der steuerminimierenden Gesellschaft fassbar, ein Gemeinwesen aufrechterhalten kann. Mit Blick auf die konkrete Ausgestaltung des Steuersystems sind die heute weitgehend konsensfähigen, eingangs dieses Beitrags angeführten Prinzipien der Besteuerung anzuwenden. Das materielle Fundamentalprinzip ist dabei

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im Sinne des Leistungsfähigkeitsprinzips zu operationalisieren und in seiner verteilungsgerechten Dimension mit hier angeführten Bezügen in öffentlicher Debatte zu argumentieren, demokratisch zu legitimieren und in der Folge steuerpolitisch zu konkretisieren. Ein damit erreichbarer Ausgleich zwischen Bedarfsgerechtigkeit, Gleichheit und Leistungsgerechtigkeit als tragende Struktur eines funktionierenden, wohlgeordneten und sich entfaltenden Gemeinwesens kann die konkrete Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips dabei informieren und so Steuergerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat verwirklichen. Nutzentheoretische Argumente sind aufgrund ihrer ‚toxischen‘ sozialethischen Wirkung zu vermeiden. Schluss

Ausgehend von den beiden zentralen Rechtfertigungsprinzipien für Besteuerung und die Verteilung von Steuerlast – dem Nutzenprinzip einerseits und dem Fähigkeitsprinzip andererseits – argumentiert dieser Beitrag, dass diesen Prinzipien im Hinblick auf Auffassungen von Steuergerechtigkeit zwei, ideal­ typisch voneinander zu unterscheidende, Staats- und Gesellschaftsauffassungen zugeordnet werden können – einem angelsächsischen und vor allem US-amerikanisches Verständnis einerseits, das eher staatskritische Positionen beinhaltet, gegenüber einem kontinental-europäischen Staatsverständnis andererseits, das im Unterschied dazu einen breiten Konsens über Wohlfahrtsstaatlichkeit begleitet. Während das Nutzenprinzip und sein normativer Hintergrund vor allem in Bezug auf die Steuerrechtfertigung eine Rolle spielt, dabei aber auch prägnante Implikationen für die Lastverteilung zwischen privater und öffentlicher Hand und damit von Steuerbelastung und privat zu finanzierender Absicherung gegen Lebensrisiken mit sich bringt, zeigt sich das Fähigkeitsprinzip aus steuerethischer Perspektive zunächst ohne staats- und gesellschaftstheoretische Bezüge und deshalb als normativ ergänzungsbedürftig. Eine solche Ergänzung überzeugt, sofern sie die Rechtfertigungspflicht für konkrete Steuern beim Staat verortet, gleichzeitig ein gewisses ‚Selbstverständlichkeitsniveau‘ einfordert, das reine Reziprozitätsverhältnisse und einen moralischen Minimalismus im Hinblick auf gemeinschaftliche Aufgaben und Pflichtet überschreitet und gemeinschaftliche Solidarität ausdrückt und drittens eine Balance zwischen Bedarfsgerechtigkeit, Gleichheit und Leistungsgerechtigkeit ins Auge fasst. Das ihr zugehörige Steuerprinzip ist jenes der Leistungsfähigkeit, auf dessen Grundlage konkrete steuerpolitische Regelungen getroffen werden können. Das im Schatten des Ideals der steuerminimierenden Gesellschaft durchaus populäre Nutzenprinzip wird dagegen als steuerethisch toxisches Prinzip, das sowohl das Selbstverständlichkeitsniveau als auch weitere Komponenten sozialer Gerechtigkeit untergräbt, verworfen.

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Literatur Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York. Furger, Franz (1995): Fehlt es an der Steuermoral?, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Steuergerechtigkeit. Köln, S. 37–50. Gaisbauer, Helmut P.; Schweiger, Gottfried; Sedmak, Clemens (2012): Die Besteuerung von Vermögen in Österreich aus sozialethischer Perspektive, in: SWS Rundschau (51/4), S. 404–425. Gaisbauer, Helmut P.; Schweiger, Gottfried; Sedmak, Clemens (2013): Ethical Obligations of Wealthy people: Progressive Taxation and the Financial Crisis, in: Ethics and Social Welfare (7/2), S. 141–154. Häuser, Karl (1986): Opfer und Steuer, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer. München, S. 13–24. Halbmayr, Alois (2009): Thymotische Strohfeuer. Zu Peter Sloterdijks Neuerfindung der Gesellschaft, in: Salzburger Theologische Zeitschrift (13), S. 217–222. Hayek, Friedrich A. (1982): Law, Legislation, and Liberty: A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy. London. Holmes Jr., Oliver Wendel (1927): Compañía General de Tabacos de Filipinas v. Collector of Internal Revenue. 275 US 87, 100. Homburg, Stefan (2007): Allgemeine Steuerlehre. München. Mann, Fritz Karl (1978): Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935. Stuttgart/New York. Martin, Issac W. (2008): The permanent tax revolt: How the property tax transformed American politics. Redwood/CA. Meredith, Christopher T. (2008): The Ethical Basis for Taxation in the Thought of Thomas Aquinas, in: Journal of Markets & Morality (11/1), S. 41–57. Murphy, Liam; Nagel, Thomas (2002): The Myth of Ownership – Taxes and Justice. New York. Musgrave, Richard A. (2005): Fairness in taxation, in: Cordes, Joseph J.; Ebel, Robert D.; Gravelle, Jane (Hrsg.): The Encyclopedia of Taxation & Tax Policy. Washington, S. 135–138. Nozick, Robert (1974): Anarchy, State and Utopia. New York. Ostheim, Tobias; Schmidt, Manfred G. (2007): Vom Ausbau zur Konsolidierung: Sozialpolitik von der sozialliberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung, in: Schmidt, Manfred G. u.a. (Hrsg.): Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich. Wiesbaden, S. 165–172. Pausch, Alfons; Pausch, Jutta (1988): Kleine Weltgeschichte der Steuerzahler. Steueruntertanen – Steuerrebellen – Steuerbürger. Köln. Schumpeter, Joseph A. (1919): Die Krise des Steuerstaates. Graz. Slemrod, Joel; Bakija, Jon (2004): Taxing ourselves. A Citizen’s Guide to the Debate over Taxes. Cambridge/London. Sloterdijk, Peter: Die Revolution der gebenden Hand. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 6. 2009. Sloterdijk, Peter (2010): Die nehmende Hand und die gebende Seite. Berlin. Smith, Adam (1904): The Wealth of Nations. New York. Steinmo, Sven (2003): The evolution of policy ideas: tax policy in the 20th century, in: The British Journal of Politics & International Relations (5/2), S. 206–236. Sturn, Richard (2012): Das Ideal einer steuerminimierenden Gesellschaft, in: KSÖ-Nachrichten (3), S. 1–3. Sturn, Richard (2001): Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Norm der Steuergerechtigkeit, in:

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Theurl, Engelbert; Winner, Hannes; Sausgruber, Rupert (Hrsg.): Kompendium der österreichischen Finanzpolitik. New York S. 321–347. Tanzi, Vito; Schulknecht, Ludger (2000): Public spending in the 20th century: a global perspective. Cambridge. Webber, Carolyn; Wildavsky, Aaron (1986): A history of taxation and expenditure in the wes­ tern world. New York. Weber-Grellet, Heinrich (2001): Steuern im modernen Verfassungsstaat. Funktionen, Prinzipien und Strukturen des Steuerstaats und des Steuerrechts. Köln.

Gerechtigkeit, Geschlecht und soziale Arbeit Uta Klein

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung? Zur Gleichstellungspolitik der Europäischen Union unter ­gerechtigkeitstheoretischer Perspektive

Wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht, wird gerne auf das weltweite Missverhältnis hingewiesen, nach dem Frauen weltweit 50 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, 65 Prozent der Arbeit leisten, nur 10 Prozent des Einkommens erhalten und am weltweiten Eigentum sogar nur ein Prozent Anteil besitzen.1 Das Interesse daran, wie die Europäische Union (EU) diesem Missverhältnis begegnet, ist daher naheliegend. Wer ihre rechtlichen Grundlagen und die politischen Programmatiken nach dem Begriff bzw. Konzept Gerechtigkeit unter Bezugnahme auf ‚Geschlecht‘ durchsucht, wird kaum fündig. In Hinblick auf die Frage der Geschlechterverhältnisse erstaunt dies nicht, denn üblicherweise rekurrieren die Dokumente auf Gleichstellung bzw. auf Gleichheit der Geschlechter. Dennoch liegt die Verwobenheit von Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Hand.2 So wird im Vertrag über die Europäische Union (Artikel 2 EU) zunächst die Gleichheit als einer der Werte genannt, auf die sich die EU gründet,3 und im zweiten Satz heißt es, dass „diese Werte (…) allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam [sind], die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Auch Artikel 3 EU bemüht den Begriff Gerechtigkeit, in Hinblick auf die Geschlechter dann aber den Begriff Gleichstellung: „Sie [die EU, U.K.] bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.“ Die Präambel der Charta der Grundrechte (GRC), die heute die gleiche Rechtsverbindlichkeit aufweist wie die Verträge, fasst unter Titel III 1 2 3

Zuletzt in einem Vortrag von Barbara Stiegler lt. Neue Rheinische Zeitung, Hans-Dieter Hey, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11622&css=print. (20.10.2013) Vgl. Ritsert, Jürgen (1997): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Vgl. Schweiger, Gottfried (2010): Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, in: Sedmak, Clemens (Hrsg.): Vom Wert der Nichtdiskriminierung. Darmstadt, S. 33–55. „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ (Art. 2 EU)

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(Gleichheit) die Gleichheit von Männern und Frauen,4 die „in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen“ sei. Das Gleichheitsgebot ist als Reaktion auf als ungerecht empfundene Phänomene gesellschaftlicher Ungleichheit zu lesen. Zum einen dient der Bezug auf Gleichheit dazu, soziale Gerechtigkeit zu realisieren bzw. sich ihr anzunähern. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, welche Phänomene der Ungleichheit adressiert und welche Ursachen dafür gesehen werden. Zum anderen macht erst der Bezug auf Gerechtigkeit deutlich, wie Gleichheit normativ (präskriptiv) gemeint ist: Bei der gegebenen Verschiedenheit der Menschen, ihrer Unterschiedlichkeit in vielerlei Hinsicht, dürfen askriptive Merkmale wie Geschlecht oder Ethnizität nicht Anknüpfungspunkte für Ungleichwertigkeit, Hierarchisierungen und Schließungsprozesse der Gesellschaft sein.5 Die Erkenntnis, dass aber genau dies der Fall ist – wir müssen nur die Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen, die soziale Selektivität des Bildungswesens oder die geringe Studierquote von Personen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen zur Kenntnis nehmen – wirft für die moderne Gesellschaft Legitimitätsprobleme auf, da die Ungleichheiten nicht mit unterschiedlichen Leistungen erklärt werden können.6 Die bürgerliche Gesellschaft knüpft eine Macht- und Privilegienverteilung an Leistung. Wenn dagegen askriptive Merkmale wie Geschlecht oder Ethnizität zu Determinanten sozialer Ungleichheit werden, widerspricht dies dem Selbstverständnis und wird als eine als illegitim erachtete Differenzierung in ihren Auswirkungen betrachtet. Daran ändert nicht, dass der Bezug auf askriptive Kriterien für Ungleichheitsprozesse, anders als die Systemtheorie meint, durchaus funktional ist.7 4 5

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Kapitel III: Gleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz; Nichtdiskriminierung; Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprache; Gleichheit von Männern und Frauen; Recht des Kindes; Rechte älterer Menschen; Integration von Menschen mit Behinderung). Askriptive Merkmale sind zugeschriebene Merkmale, die der oder die Einzelne kaum beeinflussen kann im Gegensatz zu erworbenen Merkmalen, die durch das eigene Zutun entstanden, selbst erbracht worden sind (z.B Bildungsabschluss, Berufsausbildung.) und als Determinante sozialer Ungleichheit (z.B. höheres Einkommen in bestimmten Berufen) als legitim erachtet werden. Vgl. Berger, Peter A.; Schmidt, Volker H. (Hrsg.) (2004): Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung. Wiesbaden. Vgl. Kreckel, Reinhard (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Frankfurt am Main/New York. Vgl. Heitzmann, Daniela; Klein, Uta (Hrsg.) (2012): Diversity und Hochschule. Theoretische Grundlagen und empirische Bestandsaufnahme. Weinheim. Die Systemtheorie geht davon aus, dass im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in der Moderne Geschlecht, Ethnizität u.a. bedeutungslos werden, da alle den gleichen Zugang zu Teilsystemen haben bzw. der Zugang zu den Teilsystemen nicht über Geschlecht oder Ethnizität verläuft, sondern über institutionelle Regelungsmechanismen. „Systemstrukturelle Entbehrlichkeit“ nennen das Weinbach und Stichweh (2001, S. 30). Die zu beobachtenden Schließungsprozesse gegenüber Frauen stehen dazu

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Gleichzeitig ist hier noch nicht berücksichtigt, was die Situation in Hinblick auf Gerechtigkeit darüber hinaus verschärft. Dies ist erstens die Tatsache, dass das (meritokratische) Leistungsprinzip der Moderne seinerseits neue strukturelle Ungleichheiten hervorbringt und dies unter anderem zu Lasten einer Geschlechtsgruppe, nämlich der Frauen, geht. Die noch immer vorhandene Wirksamkeit askriptiver Merkmale wird verschleiert, indem Leistungsdimensionen ‚entpersonifiziert‘ werden.8 Zweitens beschränkt sich der Blick häufig auf ungerechte Verteilungen von Grundgütern, Einkommen und Vermögen und ignoriert dabei, dass sich in der heutigen Gesellschaft Besser- und Schlechterstellung über die Realisierung darüber hinaus gehender menschlicher Ansprüche ergibt. Amartya Sen9 hat dafür den Begriff ‚Verwirklichungschancen‘ geprägt und schaut auf individuelle Befähigungen, die der Mensch braucht, um sein Leben erfolgreich zu gestalten. Martha Nussbaum10 entwirft darauf aufbauend einen Katalog von universell gültigen Grundwerten und Fähigkeiten (capabilities) sowie damit verbundene menschliche Ansprüche auf ein gerechtes Leben. Axel Honneth11 konzipiert Formen der Anerkennung und Nancy Fraser,12 die explizit Geschlecht als Ungleichheitskriterium mit einbezieht, entwirft einen ‚zweidimensionalen‘ Gerechtigkeitsbegriff, der materielle Umverteilung und symbolische Anerkennung zusammenbringt. Bei sehr unterschiedlichen Theorie­positionen ist allen gemeinsam, dass sie zeigen, inwiefern die Beurteilung von Besser- und Schlechterstellung in der Gesellschaft sich nicht mehr ausschließlich anhand von Grundgütern wie Einkommen und Vermögen ermitteln lässt. Dass der normative Bezug auf Gerechtigkeit dem Grundrecht der Gleichheit der Geschlechter in der Europäischen Union zugrunde liegt, dürfte unbestritten sein. Nicht geklärt ist allerdings, was im Kontext der EU-Politik unter

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jedoch im Widerspruch. Insofern betrachten andere Ansätze Geschlecht als durchaus funktional in Auseinandersetzungen über Verteilungsfragen. Vgl. Solga, Heike (2005): Meritokratie – die moderne Legitimation moderner Bildungs­ chancen, in: dies. (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim, S. 19–38.. Vgl. Sen, Amartya (2000): Commodities and Capabilities. Amsterdam. Vgl. Sen, Amartya (1985): Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München. Vgl. Nussbaum, Martha C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt am Main. Vgl. Nussbaum, Martha C. (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Vgl. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main. Vgl. Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt am Main. Vgl. Fraser, Nancy (2004): Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates. Frankfurt am Main. Vgl. Fraser, Nancy; Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main.

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Geschlechtergerechtigkeit konkret verstanden wird. Auch wenn der Begriff nicht explizit genannt wird, so kann die EU-Politik doch daraufhin untersucht werden, was als Ungerechtigkeit im Geschlechterverhältnis begriffen und thematisiert, sowie was infolgedessen mithilfe entsprechender rechtlicher und politischer Maßnahmen verändert werden soll. Daraus ergeben sich Hinweise darauf, was als Geschlechtergerechtigkeit aus EU-Perspektive anzustreben ist. Darum soll es im Folgenden gehen. Dafür muss zunächst die ‚Messlatte‘ von Geschlechtergerechtigkeit bestimmt werden: Was ist unter Geschlechtergerechtigkeit zu verstehen? Zunächst werden in den folgenden Ausführungen feministische Auseinandersetzungen zur Gerechtigkeitstheorie hinzugezogen. Anschließend werden die Gründe für die Geschlechterasymmetrie analysiert. Hier steht im Vordergrund das wohlfahrtsstaatliche System, da die Mitgliedstaaten der EU als Wohlfahrtsstaaten zu verstehen sind, auch wenn sie unterschiedlich ausgerichtet sind. Es wird sich zeigen, dass eine Ungleichheit der Geschlechter im wohlfahrtsstaatlichen Selbstverständnis und in entsprechenden Regelungen eingewoben ist. Insofern erfordert eine Orientierung an und Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit einen entsprechenden Umbau des Wohlfahrtsstaatssystems. Schließlich werden an Beispielen der EU-Gleichstellungspolitik Bezugspunkte von Geschlechtergerechtigkeit herausgearbeitet. Auch wenn die Berücksichtigung der unterschiedlichen Standards der Mitgliedstaaten einer durchgreifenden Gleichstellungspolitik auf europäischer Ebene nicht selten Grenzen setzt, so ist ein sukzessiver Abbau von Geschlechterungleichheit ohne Zweifel festzustellen. Allerdings wird sich zeigen, dass die EU kein kongruentes Konzept eines geschlechtergerechten Wohlfahrtsstaates verfolgt und dass ihre einseitige Betonung eines Ausbaus der Beschäftigung (employability) und der damit verfolgte Schwerpunkt einer erwerbsbezogenen Gleichheit der Geschlechter zu kurz greift und gleichstellungspolitisch durchaus kontraproduktiv ist Geschlecht, Gerechtigkeit und Ungleichheit: Deutungen und Ansätze

Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Ungleichheit der Geschlechter bzw. die Ungerechtigkeit im Geschlechterverhältnis in den gerechtigkeitstheoretischen Abhandlungen der Philosophie und der Politischen Theorie lange Zeit nicht mitgedacht oder aber sogar durch den Verweis auf die vermeintlich natürliche Ungleichheit der Geschlechter legitimiert.13 So setzt die einflussreiche Gerechtigkeitstheorie von John Rawls selbstbestimmte, freie, lebenslang unein13

Vgl. Nussbaum, Martha C. (2002): Sex and Social Justice. New York. Vgl. Rauschenbach, Brigitte (1998): Politische Philosophie und Geschlechterordnung. Eine Einführung. Frankfurt am Main/New York. Vgl. Pimminger, Irene (2012): Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Normative Klärung und soziologische Konkretisierung. Opladen/ Berlin/Toronto.

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geschränkte kooperationsfähige Bürger voraus – eben einen hypothetischen Urzustand –, die dann normative Grundlagen des Zusammenlebens festlegen. Gruppen mit einem aus historischen Gründen oder aber aufgrund von Beeinträchtigungen prekären Bürgerstatus, die sich in Abhängigkeitspositionen befinden, sind in diesem klassischen Kontraktualismus nicht vorgesehen.14 Feministische Arbeiten zu Gerechtigkeitsfragen und -theorien reagieren auf den Ausschluss von Frauen und damit die Einseitigkeit der Postulate universeller Werte – wie dem der Gleichheit im Zuge der Aufklärung. Dies könnte als eine Art Minimalkonsens begriffen werden, denn darüber hinaus unterscheiden sich die Ansätze, so dass von der feministischen Gerechtigkeitstheorie nicht gesprochen werden kann. Andererseits lassen sie sich aber wie alle Gerechtigkeitstheorien auch nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Sie beleuchten vielmehr unterschiedliche Facetten eines Gerechtigkeitsbegriffs. Squires15 benennt als zentralen Punkt der unterschiedlichen Konzeptionen, wie sie sich in Hinblick auf Gleichheit, Differenz und Diversity verorten. Damit hängt auch eine unterschiedliche Betrachtung von ‚Geschlecht‘ zusammen.16 Ansätze, die eine Gleichheit betonten, kämpften ab den 1970er-Jahren gegen die auffallendsten Diskriminierungen gegen Frauen und gegen eine unterschiedliche rechtliche Einordnung von Frauen und Männern. In der Regel waren diese egalitären Ansätze mit liberalem und sozialistischem Feminismus verbunden und wurden vor allem in der ersten Phase der Zweiten Frauenbewegung vertreten. Liberale, egalitär ausgerichtete Positionen zeigen sich in der Betonung einer gleichberechtigten Einbeziehung von Frauen in die öffentliche Sphäre, das heißt in die Bereiche Politik, Ökonomie und Kultur. Im Vordergrund standen hier sozialpolitische Forderungen, die auf eine stärkere Integration von Frauen in den Erwerbsbereich abzielten und wohlfahrtsstaatliche Regelungen geschlechtersensibel umgestalten wollten.17 Damit steht die Ungleichheit in materieller, ökonomischer Hinsicht im Vordergrund und es wird auf die „strukturelle Dimension des Geschlechts“18 abgezielt. Ansätze, die von einer Differenz der Geschlechter ausgehen, warfen egalitären Ansätzen eine Orientierung an einer männlichen Norm, an männlichen Standards vor und generell den liberalistischen Konzeptionen eine Orientierung am autonomen, freien Subjekt, das

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Vgl. Nussbaum, Martha C. (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Vgl. Squires, Judith (2002): Gender in political theory. Cambridge. Vgl. Pimminger, Irene (2012): Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Normative Klärung und soziologische Konkretisierung. Opladen/Berlin/Toronto. Vgl. Fraser, Nancy (2004): Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung: ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit, in: Beerhorst, Joachim; Demirovic, Alex; Michael Guggemoos (Hrsg.): Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt am Main, S. 453–474. Pimminger, Irene (2012): Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Normative Klärung und soziologische Konkretisierung. Opladen/Berlin/Toronto. Hier S. 25.

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nur für Männer Gültigkeit habe.19 Solche Ansätze werten weiblich konnotierte Lebensweisen auf, betonen die Bedeutung von ‚care‘-Tätigkeiten und zielen auf eine Anerkennung weiblicher Lebenspraxis ab. Insofern sei eine rechtliche Anerkennung ihrer spezifischen Erfordernisse geradezu gefordert. Diese Haltung wurde zum Teil vom radikalen Feminismus, vor allem aber vom kulturellen Feminismus vertreten und da es um Anerkennung von (weiblicher) Identität geht, werden sie häufig identitätspolitische Ansätze genannt. Sie beziehen sich auf die symbolische Geschlechterordnung.20 Entscheidend ist die unterschiedliche Konsequenz, die sich aus den oben genannten beiden unterschiedlichen Perspektiven in Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit ergibt: Die Frage ist, ob diese eher gefördert werden kann, wenn (vermeintlichen) Unterschieden zwischen den Geschlecht abstrahiert wird, oder wenn die besondere Lebenssituation von Frauen im Gegenteil berücksichtigt und betont wird.21 Daneben, das ist die dritte von Squires benannte Position, wird versucht, Gleichheit und Differenzansätze zu verbinden oder aber Differenz nicht im Sinne einer Differenz zwischen zwei Geschlechtsgruppen zu fassen, sondern – jenseits von Geschlecht – als vielfältige Identitäten. Letztere Ansätze basieren auf einer konstruktivistischen Sichtweise auf ‚Geschlecht‘. Hier wird das Rekurrieren auf Zweigeschlechtlichkeit kritisiert. Das binäre und dichotom gedachte Geschlechtermodell wird als Ursache der Geschlechterasymmetrie und darüber hinaus als Ursache für abwertende Konzeptionen des ‚Anderen‘ generell gesehen und ist kein Bezugspunkt mehr. Gerechtigkeit auf dieser Grundlage „steht (…) für das Ziel einer Absicherung und Förderung von Pluralität“22 und zielt damit auf eine freie Entfaltung von Individualität. Hier ergeben sich Anschlussmöglichkeiten an Theoretikerinnen, die den oben genannten Ansätzen vorwerfen, sich an der Lebenssituation weißer, heterosexueller Frauen aus der Mittelschicht zu orientieren.23 Die oben genannten Perspektiven Gleichheit und Differenz beinhalten Aspekte, die für eine umfassende Gerechtigkeit gleichermaßen zu bedenken sind. Sie zielen jedoch auf unterschiedliche Ebenen, nämlich wie oben erwähnt, auf 19 20 21 22 23

Vgl. Young, Iris Marion (1996): Fünf Formen der Unterdrückung, in: Nagl-Docekal, Herta; Pauer-Studer, Herlinde (Hrsg.): Politische Theorie: Differenz und Lebensqualität. Frankfurt am Main, S. 99–139. Vgl. ebd. Vgl. Nagl-Docekal, Herta; Pauer-Studer, Herlinde (Hrsg.) (1996): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität. Frankfurt am Main. Ebd. hier S. 23. Vgl. Cain, Patricia A. (1990): Feminist Jurisprudence: Grounding the Theorys, in: Bartlett, Katherine; Kennedy, Rosanne (Hrsg.): Feminist Legal Theory. Readings in Law and Gender. Boulder, San Francisco, Oxford, S. 263–280. Vgl. Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, in: Bartlett, Katharine; Kennedy, Rosanne (Hrsg.): Feminist Legal Theory. Readings in Law and Gender. Boulder, San Francisco, Oxford, S. 57–80.

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eine strukturelle Ebene einerseits und eine symbolische Ebene andererseits. Nancy Fraser gelingt es in ihrem ‚zweidimensionalen‘ Ansatz, beide Ebenen zusammenzubringen. Sie knüpft an John Rawls Gerechtigkeitstheorie an, die liberale Grundauffassungen mit der Idee sozialer Gerechtigkeit verbindet. Dabei bezieht Rawls sich auf die gerechte Verteilung von „Grundgütern“, unter die er „Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“24 fasst. Diese gesellschaftlichen Grundgüter hängen mit der Grundstruktur der Gesellschaft zusammen, indem Regeln der Institutionen sie festlegen bzw. den Zugang steuern. An dieser Grundstruktur, nämlich an der ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaften, setzen Analysen von Ungerechtigkeit üblicherweise an. Ungerechtigkeit wird als ungerechte bzw. mangelhafte Verteilung von Gütern begriffen bzw. als mangelhafte Verteilung des Zugangs zu Gütern. Die Ungleichheit manifestiert sich in ungleichem Einkommen, aber auch in ungleichem Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Gerechtigkeit setzt hier bei Umverteilung in ökonomischer Hinsicht an. Nancy Fraser25 zufolge ist dies jedoch nur ein Aspekt der Ungerechtigkeit, der Unterordnungen im Status, mangelndes Prestige etwa, das heißt insgesamt kulturelle Missachtung und verweigerte Anerkennungen, ausklammert. Sie arbeitet daher mit einem zweidimensionalen Ansatz von Gerechtigkeit, einem Konzept, das eine Gerechtigkeit sowohl in Hinblick auf gerechte Verteilung als auch in Hinblick auf gegenseitige Anerkennung bzw. soziale Achtung beinhaltet. Fraser unterscheidet soziale Gruppen auf einer Achse von Ökonomie auf der einen Seite (links) bis zu Kultur auf der rechten Seite (rechts). Ausgebeutete Klassen befinden sich demnach ganz links, Homosexuelle (verachtete Sexualitäten) ganz rechts. Gender ist ein Fall einer bivalenten Gruppe, die vom Umverteilungs-Anerkennungsdilemma betroffen sind. Wir finden in Frasers Konzept beide Bezüge: den auf strukturelle Aspekte und den auf die symbolische Ordnung. Frasers Ansatz ist für die Diskussion und Analyse der Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich der Geschlechterpolitik deswegen weiterführend, weil er sich auf die verschiedenen Ursachen der Geschlechterasymmetrie beziehen lässt und eben gesellschaftspolitische Implikationen umfassend ableitbar sind. Denn Geschlechterungleichheit speist sich aus dem Ökonomischen (im weitesten Sinne) und aus dem Symbolischen und spiegelt sich in beidem wider. In den heutigen Wohlfahrtsstaaten ist eine solche Ungleichheit verknüpft und tief verankert, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.

24 25

Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Hier S. 112 f. Vgl. Fraser, Nancy; Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main.

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Geschlechterideologie und Geschlechterasymmetrie im Wohlfahrtsstaat

Die unterschiedlichen feministischen Ansätze beziehen sich alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf das Verhältnis zwischen der öffentlichen Sphäre einerseits, weit verstanden als Bereich des Rechts, der Wirtschaft und damit der Erwerbsarbeit, der Kultur und der Politik, und der privaten und familiären Sphäre andererseits, also der Familienarbeit, der ‚care‘-Tätigkeiten. Auch für die Geschlechtersoziologie ist das der zentrale Ausgangspunkt für die Analyse der Ungleichheit der Geschlechter in der modernen Gesellschaft, aber auch für das Verständnis darüber, was wir unter Geschlecht verstehen. Die Trennung der beiden Sphären geht mit der Änderung der Produktionsverhältnisse und der Durchsetzung von Manufakturen zwischen 1750 bis 1850 einher und verfes­tigt sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung. Diese zeitliche Epoche ist für uns in vielerlei Hinsicht in Hinblick auf das heutige Verständnis von Geschlecht relevant. Zunächst ist die Art und Weise, wie wir eine Unterscheidung der Geschlechter in zwei Gruppen, nämlich Frauen und Männer, vornehmen, ein Ergebnis dieser Entwicklung. Bis dahin war Geschlecht im genealogischen Sinne gemeint, es bezeichnete eine soziale Gruppe wie etwa das Adelsgeschlecht oder das Hanseatengeschlecht im Bürgertum. Frauen wurden eben nicht als einem ‚Geschlecht weiblich‘ zugehörig sozial wahrgenommen, da die soziale Bedeutsamkeit entlang der Abstammungslinien verlief, also in Königin, Bäuerin, Nonne, Leibeigene und so weiter unterschieden wurde. Zum Zweiten ergibt sich aus der Entwicklung ein strukturelles Ungleichheitsverhältnis der Geschlechter mit einer Benachteiligung von Frauen – nämlich ihrem Ausschluss aus bzw. heute nicht vollständig gleichem Einschluss in gesellschaftliche Machtbereiche. Zum Dritten aber geht diese sozial relevante Trennung in zwei Geschlechtergruppen mit einer gleichzeitig vorgenommenen Zuweisung an gesellschaftliche Bereiche mit der Zuschreibung vermeintlicher passender Eigenschaften (Männer als rational, aktiv, berufsbezogen; Frauen als emotional, passiv, familienbezogen) einher. Es entsteht das bürgerliche Geschlechterideal. Zum Vierten wird die Frau naturalisiert, indem ihr eine ­geschlechtsbedingte Natur zugeschrieben wird – sie wird zum Geschlechtswesen, der Mann dagegen ist entgeschlechtlicht, er wird als Vernunftwesen konzipiert. Insgesamt tritt Geschlecht als Strukturfaktor, so wie er heute wirksam ist, erst mit der Moderne als Epoche seit der Industrialisierung in Erscheinung. Die Differenz der Geschlechter geht dabei mit einer Hierarchisierung einher, einer Hierarchisierung im materiellen und im symbolischen Sinne. Im materiellen Sinne, da die gesellschaftlichen Bereiche unterschiedlich bewertet sind. Wirtschaft und Politik sind gesellschaftlich hoch bewertet, Erwerbsarbeit wird entlohnt, sie trägt mit zu sozialer Positionierung bei, während die als privat empfundene Haus- und Familienarbeit wenig wahrgenommen wird und unbezahlt ist. Wichtig ist dabei, dass die Arbeitsteilung die Geschlechterdifferenzierung

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erst hervorbringt, die Geschlechtsunterscheidung wird also institutionell reproduziert. Im Alltag bleibt dies jedoch verborgen bzw. wird als selbstverständlich wahrgenommen und reifiziert. Männlichkeit und Weiblichkeit sind in dieser Lesart Produkte von Zuschreibungen, die sich als „symbolische Positionsgarantien“26 realisieren.27 Aus dem oben Dargestellten ergibt sich, dass zwar die Lage der Frauen eine ungleiche ist, dass aber der Ansatzpunkt für Geschlechtergerechtigkeit das Geschlechterverhältnis sein muss. Frauen und Männer sind als soziale Gruppen zu verstehen, die „gesellschaftlich zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden.“28 Der heutige Wohlfahrtsstaat weist dabei noch Elemente des Sozialstaats aus seinen Anfängen auf, die die Geschlechtsgruppen asymmetrisch zueinander ins Verhältnis gesetzt haben. Bei der Entstehung des Sozialstaates sind die Geschlechterasymmetrien von Beginn der Bismarck’schen Gesetzgebung zur Sozialversicherung 1883 bis 1889 an, die Vorbildcharakter für die europäischen Sozialstaaten hatte, vor allem durch die Prämisse der Absicherung der Erwerbsbiographie entstanden. Die Geschlechterimplikationen dieses Systems fallen hier schon ins Auge: Die Versicherungsansprüche sind auf die ‚normalarbeitsbezogene‘ Lebensweise bezogen, über die in der Regel Männer verfügten, während Frauen die Leistungen in erster Linie ‚abgeleitet‘ zukommen, nämlich über ihren Status als Ehefrau (Mitversicherung in der Krankenkasse, Witwenrente) oder aber, wenn sie über den Status nicht verfügen, über den Staat in Form von Fürsorgeleistungen. Nun ist die klassisch traditionelle Geschlechterordnung ins Wanken geraten. Weder können oder wollen heute alle Männer eine Vollzeit-Erwerbsbiographie realisieren, noch beschränken sich Frauen auf ein Leben jenseits des Berufs bzw. im Gegenteil lassen sie sich immer weniger von Familie einschränken. Gleichwohl strukturiert die geschlechtliche Arbeitsteilung die öffentliche und private Lebenssphäre. Durch die ungleiche Einbeziehung in den Arbeitsmarkt sind Frauen als Gruppe immer noch nicht ökonomisch unabhängig. Sie übernehmen nach wie vor einen Großteil der personengebundenen Dienstleis­tungen, bezahlt und unbezahlt. In den einzelnen Ländern stellt sich dies sehr unterschiedlich ausgeprägt dar. In der frühen feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung wurden die Länder – als Reaktion auf die anfangs ‚geschlechtsblinden‘ Untersuchungen von Esping-Andersen29 – nach Ernährermodellen typisiert. Indem die Erwerbsarbeit von Müttern, das Ausmaß einer eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen und das Ausmaß der öffentlichen Kinderbetreuung mit herangezogen

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Schwinn, Thomas (2007): Soziale Ungleichheit. Bielefeld. Hier S. 81. Ein weiteres Orientierungsschema ist das der Heteronormativität. Gildemeister, Regine; Hericks, Katja (2012): Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen. München. Hier S. 184. Vgl. Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge.

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wurden, ordneten Lewis und Ostner30 die Wohlfahrtsstaatstypen in ein starkes, ein moderates und ein schwaches Ernährermodell ein. Dabei zeigte sich, dass die Wohlfahrtsstaaten unterschiedlichen Pfaden gefolgt waren. Sainsbury31 unterscheidet in der Folge zwei Kategorien von Ländern: diejenigen, die das Ernährermodell unterstützen (vor allem Deutschland, Österreich) und diejenigen, die ein individualistisches Modell unterstützen (vor allem die skandinavischen Staaten, aber auch marktliberale Systeme wie Großbritannien). Das Modell der Geschlechterarrangements, auf das heute als Unterscheidung der Wohlfahrtsstaaten rekurriert wird, bezieht auch die kulturellen Komponenten, die Werte und Leitbilder des Geschlechterverhältnisses mit ein. Ausgangspunkt ist nach wie vor die unterschiedliche Erwerbsbeteiligung von Frauen. Pfau-­Effinger32 untersucht dann aber auch gesellschaftliche Vorstellungen und Bewertungen der Arbeitssphären von Männern und Frauen. Werden sie als komplementär oder symmetrisch, werden sie als gleichwertig oder ungleichwertig betrachtet? Auch sind Leitbilder zu Kindheit und zur Bedeutung der Familie als Lebensform im Vergleich zu anderen Lebensformen zu berücksichtigen. Pfau-Effinger unterscheidet zwischen den strukturellen Rahmenbedingungen und politischen Vorgaben einerseits und Werten und Normen zum Geschlechterverhältnis andererseits. Während die sinkende Zustimmung zum männlichen Alleinernährermodell unübersehbar ist, so sind doch die Arrangements, die das Modell ablösen, unterschiedlich. Ein so genanntes Zweiverdienermodell hat sich in einigen Ländern herausgebildet, das für die Frau, vor allem für die Mutter, eine Teilzeitarbeit als adäquat betrachtet. Wie der Umfang der Teilzeitarbeit beschaffen ist, hängt unter anderem davon ab, ob der Staat die Mutter als vorrangige Erziehungsperson einbindet und daher öffentliche Kinderbetreuung nur halbtags organisiert wurde (etwa lange Zeit in Österreich und in Westdeutschland) oder ob der Staat die öffentliche Kinderbetreuung stark ausgebaut hat. So umfasst ein großer Teil der Teilzeitstellen in den Niederlanden um und über 30 Stunden. Pfau-Effinger spricht für (West-)Deutschland daher von einem „Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe“, das die Hausfrauenehe, das männliche Alleinverdienermodell abgelöst hat und eine Art Modernisierung der Versorgerehe darstellt. Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit obliegt hier den Frauen. Primär ist immer noch die Frau zuständig für Kinderbetreuung. Besonders für Alleinerziehende ergeben sich in den ernährerzentrierten Modellen große Probleme. Sie werden heute stärker als zu30 31 32

Vgl. Lewis, Jane (1992): Gender and the Development of Welfare Regimes, in: Journal of European Social Policy (2/3), S. 159–173. Vgl. Lewis, Jane; Ostner, Ilona (1994): Gender and the Evolution of European Policies. ZeS-Arbeitspapier. Vgl. Sainsbury, Diane (Hrsg.) (1999): Gender and Welfare State Regimes. Oxford. Vgl. Pfau-Effinger, Birgit (2000): Kultur und Erwerbstätigkeit in Europa. Theorie und Empirie des internationalen Vergleichs. Opladen. Vgl. Pfau-Effinger, Birgit (2005): Culture and Welfare State Policies: Reflections on a Complex Interrelation, in: Journal of Social Policy (34/1), S. 1–18.

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vor als erwerbstätige Personen gesehen, können dies aber in Ländern mit einer geringen Ausstattung an öffentlicher Betreuung reduziert realisieren. Sehen die Erwerbsmuster eine Vollzeittätigkeit für beide Elternteile vor – in der Regel ist hier ein starker Ausbau an Kinderbetreuung vorhanden – ist wiederum zu unterscheiden, welche Leitbilder hinsichtlich der Familien- und Erziehungsarbeit existieren. In Frankreich beispielsweise geht die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht mit einer starken Aufteilung der häuslichen Arbeit zwischen Männern und Frauen einher. In diesem von Pfau-Effinger ‚Doppelversorgermodell‘ genannten Modell hat die Frau den Zugang zur Erwerbsarbeit, die Kinderbetreuung ist außerhäuslich organisiert. Dagegen lag in Schweden jedoch dem Ausbau an Ganztagesbetreuung ein stärker egalitär orientiertes Geschlechterideal zu Grunde, bei dem sich Frauen und Männer sowohl Erwerbsarbeit als auch Familienarbeit stärker aufteilen: das ‚Doppelversorger-/ Doppelbetreuermodell‘. Realisiert werden sollte dies durch die hohe Expansion des Dienstleistungsbereichs und durch Gesetze, die einen Elternurlaub für beide Geschlechter einkommensbezogen sowie Anreize für Väter zur Übernahme der Elternzeit vorsehen. In Finnland zeigt sich die Betonung der eigenständigen Existenz­sicherung von Frauen daran, dass auch verheiratete Frauen im Steuer- und Sozialversicherungssystem als Individuen und nicht als Teil eines Paares behandelt werden. Neben einer einheitlichen Volksrente gibt es eine Erwerbsrente, die nicht abgleitet zur Verfügung steht. Mit den EU-Erweiterungen 2004 und 2007 kamen Staaten hinzu, die über andere Traditionen verfügen. Die so genannten Transformationsstaaten durchlaufen einen Systemübergang von sozialistischen, also zentralistisch organisierten Planungssystemen zur liberal-kapitalistischen Ordnung. Dieser Systemwechsel bringt sozioökonomische, politische und soziokulturelle Umwälzungen mit sich. Zum anderen findet eine Transformation aber auch insofern statt, als demokratische und rechtsstaatliche politische Systeme aufgebaut werden mussten. Welcher Typ sich in Anlehnung an die Wohlfahrtsstaatstypen ausprägen wird, ist nicht absehbar, und die Forschung hält sich in dieser Frage zurück. Zurzeit kann von einem ‚rudimentären‘ Typ gesprochen werden, einem Mischtyp, der Anleihen bei den anderen Typen macht.33 Die meisten Staaten orientieren sich am Doppelverdiener/innen-Modell mit einer hohen Arbeitsmarktintegration von Frauen bei gleichzeitiger niedriger Aufteilung der familiären Arbeit. Strukturell konnte gezeigt werden, dass sich besonders in der Übergangsphase das Geschlechtermodell re-traditionalisiert hat, ablesbar unter anderem an der extrem gesunkenen politischen Partizipation von Frauen.34 Auch hin33 34

Vgl. Busch, Klaus (2005): Die Perspektiven des Europäischen Sozialmodells. Arbeits­ papier 92. Expertise im Auftrag der Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf. Vgl. Klein, Uta (2010): Prospects and limitations of EU gender equality policy in the Central and Eastern European countries, in: Klenner, Christina; Leiber, Simone (Hrsg.): Welfare states and gender inequality in Central and Eastern Europe. Brüssel: ETUI Press, S. 239–258.

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sichtlich des gesellschaftlichen Klimas zeigt sich eine Art ‚Backlash‘ zu traditionellen Geschlechterbildern – deutlich in den Einstellungsmustern der Bevölkerung gegenüber Gleichstellungsfragen.35 Die Befunde zeigen, dass in mehreren der neuen Mitgliedsstaaten von der Bevölkerung die Vorstellung der traditionellen Kleinfamilie mit der Trennung der Sphäre der männlichen Erwerbsarbeit und der weiblichen Familienarbeit bevorzugt wird. Als Ursache für diese Befunde muss in gewisser Hinsicht das sozialistische Erbe berücksichtigt werden, denn die Aufteilung der Familienarbeit zwischen den Geschlechtern neben der hohen Erwerbsarbeit der Frauen stand nicht zur Debatte. Es ist zu vermuten, dass sich bei den Frauen eine Unzufriedenheit mit der früheren Situation, also mit der immensen Doppelbelastung, niederschlägt und die Erwerbsarbeit teilweise als staatlich verordnet hingenommen, aber nicht begrüßt wurde. Die Rückkehr – auch wenn sie in der Realität so nicht stimmt – zur weiblichen Familienrolle wird als Befreiung von der Doppelbelas­ tung wahrgenommen. Zudem wurde in den Jahren nach dem Systemwechsel der Verlust von Arbeitsplätzen der Frauen durch die Parteiführungen mit Anrufungen an traditionelle Aufgaben von Frauen begleitet.36 Weiterhin ist die religiöse Orientierung einiger Länder, wie beispielsweise Polen, zu beachten. Hier hat sich in der sozialistischen Ära das katholische Familienleitbild mit der sozialistischen Ideologie in Hinblick auf die Berufstätigkeit der Frau widersprochen, und es weist einiges darauf hin, dass die Ideologie der vollen Erwerbstätigkeit der Frauen ‚kulturell nicht abgesichert war‘.37 In den westeuropäischen Staaten zeigt sich, dass Italien, Spanien und Irland als katholisch dominierte Länder geringere Frauenerwerbsquoten aufweisen und auch entsprechende Einstellungen bezüglich der Geschlechtsrollen zeigen. Hier erschwerten – anders als in sozialistischen Ländern – das Ehe- und Familienrecht, aber auch das stark auf Familien orientierte Wohlfahrtsstaatssystem die Selbständigkeit von Frauen. Auch in den ehemals sozialistischen Staaten hat sich nach dem Umbruch die Kirche etabliert.

35 36 37

Vgl. ebd. Vgl. Rueschemeyer, Marilyn (Hrsg.) (1998): Women in the Politics of Postcommunist Eastern Europe. London/New York. Gerhards, Jürgen (unter Mitarbeit von Michael Hölscher) (2005): Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei. Wiesbaden.

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Die EU-Gleichstellungspolitik unter einer Gerechtigkeitsperspektive

Während gemeinhin Leistungen des Wohlfahrtsstaates als Formen der Anerkennung rekonstruiert werden,38 zeigen europäische Wohlfahrtsstaaten unter einer Geschlechterperspektive eine geschlechterhierarchische Normierung und Struktur, die auch als gravierende Missachtungsstruktur (Missachtung als Gegensatz von Anerkennung) verstanden werden kann. Diese Asymmetrien sind durch die Expansion der Bildungsbeteiligung, der gesundheitlichen Versorgung, durch die Ausweitung sozialer und politischer Rechte fraglos geringer geworden. Gleichwohl rekurrieren sozialpolitische Programme der Wohlfahrtsstaaten in unterschiedlichem Ausmaß auf Geschlechternormen, sie familiarisieren Frauen und individualisieren Männer, konzipieren Männer als Sozialversicherte, Frauen entweder abgeleitet als Ehefrauen oder als Sozialhilfeempfängerinnen. Noch ist nicht ausgelotet, welche Geschlechterimplikationen der Wandel und Umbau der Wohlfahrtsstaaten hat. Zur Diskussion steht hier der aktive, gezielte Einfluss der EU auf Geschlechterverhältnisse der Mitgliedsstaaten, der sich vor allem in Form der Beschäftigungs-, der Sozialpolitik und insbesondere der Gleichstellungspolitik zeigt. Dabei ist die jeweilige Strategie der Gleichstellungspolitik ein komplexer Aushandlungsprozess zwischen Mitgliedern der Kommission, der Regierungen der Mitgliedsstaaten, der Sozialpartner und der Meinungs- und Interessensgruppen.39 Der Einfluss manifestiert sich zum einen in primärrechtlichen (Artikel in Gründungsverträgen, Erweiterungsverträgen und im Verfassungsentwurf) und in sekundärrechtlichen Grundlagen zur Gleichstellung (Richtlinien, Verordnungen). Zum anderen besteht EU-Gleichstellungspolitik aber nicht nur aus rechtlichen Bestimmungen. Um Gerechtigkeitsanforderungen zu begegnen, reicht die Konzentration auf rechtliche Bestimmungen nicht aus, auch wenn diese normative Setzungen verfolgen. Denn das Recht sichert beispielsweise den Zugang zum Beruf unabhängig von Geschlecht bzw. sexueller Orientierung. Gleichzeitig gilt es, mit weiteren Maßnahmen über das Recht hinaus, eine materielle Anerkennung im Sinne einer Umverteilung durchzusetzen, indem – um ein Beispiel zu geben – die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern abgebaut wird. Das heißt es gilt auch, die Politikinhalte einzubeziehen, die von der Europäischen Kommission gefüllt werden, indem Empfehlungen verfasst, Programme und Kampagnen zur Gleichstellung durchgeführt, Gelder für Projekte bereitgestellt werden.

38

39

Vgl. Sachße, Christoph; Engelhardt, H. Tristram (Hrsg.) (1990): Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt am Main. Vgl. Schweiger, Gottfried (2010): Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, in: Sedmak, Clemens (Hrsg.): Vom Wert der Nichtdiskriminierung. Vom Wert der Nichtdiskriminierung. Darmstadt, S. 33–55. Vgl. Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden.

136

Uta Klein

Da hier weder eine differenzierte Darstellung noch eine Analyse der mehr als fünfzig Jahre einer europäischen Gleichstellungspolitik in Gänze geleistet werden kann,40 sollen zwei Bereiche ausschnitthaft thematisiert werden: Zunächst Tendenzen in der Entwicklung der rechtlichen Gleichstellung, die den Ansprüchen einer Anerkennung zunehmend gerecht werden und die durchaus auch als Umverteilung gelesen werden können. Schließlich als wichtiger Politikbereich die Beschäftigungspolitik, die zwar Umverteilungs- und damit Anerkennungsaspekte enthält, aber eine Schieflage in der Verteilung der Ressourcen nach Geschlecht bewirkt und in Kauf nimmt und daher nicht als geschlechtergerecht bewertet werden kann. Die Wahl der Beschäftigungspolitik ist der priori­tären Fokussierung des Gleichstellungsrechtes auf Erwerbsarbeit geschuldet sowie der Bedeutung, die ihr für soziale Inklusion zukommt.41 Gleichstellungsrecht: Aspekte der Anerkennung

Zwei Stränge des Gleichstellungsrechts sind zu unterscheiden und beide sind relevant für unsere Ausgangsfrage: Das Lohngleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot.42 Das Gebot der Lohngleichheit war der Beginn des europäischen Gleichstellungsrechtes überhaupt.43 Der damalige Artikel 119 der Römischen Verträge findet sich heute in Artikel 157 AEUV und verpflichtet die Mitgliedstaaten zur „Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit“. Während in Artikel 119 zu Beginn noch von „gleicher Arbeit“ die Rede war, hieß es in der Richtlinie 75/117 (heute RL 2006/54/EG) bereits „gleichwertige“ Arbeit. Während „gleiche“ Arbeit sehr eingeschränkt definiert ist – wirklich gleich ist eigentlich nur identische Arbeit, das heißt identische Tätigkeiten –, bietet der Begriff der „gleichwertigen“ Arbeit einen Ansatzpunkt, um benachteiligende Strukturen des Arbeitsmarktes für Frauen sukzessive aufzubrechen. Denn die Unterbewertung der Arbeit von Frauen ist, wie oben erläutert, das grundlegende Problem der Benachteiligung von Frauen. Gleichwohl ist ‚gleichwertig‘ zu definieren, aber weder in Artikel 157 noch in der RL 75/119 finden sich Definitionen. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der sich für die Gleichstellungspolitik in vielen Fällen als wichtiger Motor erwiesen hat,44 hat bislang nur partiell die Gültigkeit und Reichweite der Regelung klären können. In verschiedenen Ur40 41 42 43 44

Dafür vgl. aber ebd. Ein für die Geschlechterfrage ebenso zentraler Bereich, der hier nicht thematisiert wird, ist der der geschlechterbezogenen Gewalt, ein Politikfeld, das besonders in den letzten Jahren qualitativ und quantitativ ausgebaut wurde (vgl. dazu Klein 2012, Kap. 6). Vgl. Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung?

137

teilen ist zwar geklärt worden, dass (damals) Artikel 119 sowohl in vertikalen Beziehungen (zwischen Staat und Privatpersonen) als auch in horizontalen Beziehungen (zwischen Privatpersonen) direkt anwendbar sei. Auch entsprechen im Allgemeinen die Rechtsvorschriften der 27 EU-Mitgliedstaaten dem Grundsatz der Entgeltgleichheit45 und auch die Definition dessen, was unter Entgelt zu verstehen ist, ist umfassend geklärt. Die Rechtsprechung bezieht sich jedoch grundsätzlich auf vergleichbare Sachverhalte, wie auf eine „identische oder vergleichbare Lage“ der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (zum Beispiel Gillespie46) oder auf gleiche Ausbildung (etwa Wiener Gebietskrankenkasse47). Dies folgt dem grundsätzlichen Gleichheitsgrundsatz des EU-Rechts, nach dem Vergleichbares gleich behandelt werden und nicht Vergleichbares verschieden behandelt werden muss. Ein Recht auf Gleichbehandlung im Sinne eines gleichen Lohns besteht nur, wenn die Arbeit gleich oder vergleichbar ist, das heißt es können nur vergleichbare Situationen herangezogen werden. In der Praxis bedeutet das, dass die vergleichbaren Arbeiten beim selben Arbeitgeber geleistet werden müssen. Aus Geschlechterperspektive ist ein Urteil interessant (Rummler48), das erstmals einen qualitativen Ansatz bestärkt. Hier ging es um Eingruppierungen anhand von Lohngruppen, nach denen der Einsatz von Muskelkraft relevant war, was in einer Firma zu ähnlichen Folgen führte wie die nicht mehr rechtmäßigen Leichtlohngruppen für Frauen. Nach dem Urteil des EuGH ist zwar die Muskelkraft als Kriterium zulässig, aber es müssen dann bei der Einstufung auch andere Kriterien herangezogen werden, nach denen weibliche Arbeitskräfte die Möglichkeit haben, in bessere Lohngruppen zu kommen. Ein Einstufungssystem darf nicht in seiner Gesamtheit diskriminierend sein.

45 46

47

48

Vgl. Foubert, Petra (2010): Der geschlechtsspezifische Verdienstabstand in Europa aus rechtlicher Sicht. Europäische Kommission. Rechtsache C-342/93, Joan Gillespie und andere gegen Northern Health and Social Services Boards, Department of Health and Social Services, Eastern Health and Social Services Board and Southern Health and Social Services Board, 13.02.1996. Siebzehn Klägerinnen ging es um Höhe der ihnen während ihres Mutterschaftsurlaubs von verschiedenen nordirischen Gesundheitsdiensten (Health Services) gezahlten (lohnabhängigen) Leistungen. Im Falle von Lohnerhöhungen, die zwischen dem Beginn des Zeitraums, für den die Referenzlöhne gezahlt worden sind, und dem Ende des Mutterschaftsurlaubs erfolgen, müssen die Leistungen angepasst werden, da schwangere Frauen ansonsten schlechter gestellt seien als Männer. Rechtsache C-309/97, Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse gegen Wiener Gebietskrankenkasse, 11. Mai 1999. Hier waren für den Beruf ‚Psychotherapeut‘ sowohl PsychologInnen als auch ÄrztInnen eingestellt. Erstere wurden in niedrigere Tarifgruppen eingestuft und unter ihnen befanden sich überproportional viele Frauen, so dass eine indirekte Diskriminierung nahe lag. Der EuGH bestätigte die Einstufung als rechtens und sah das Vorliegen einer unterschiedlichen Ausbildung als Beleg für eine unterschiedliche Tätigkeit an (vgl. Ebert 2012, S. 174 f). Rechtsache C-237/85.

138

Uta Klein

Insgesamt also bietet das Recht hier bislang wenig Möglichkeit, eine Gleichwertigkeit völlig unterschiedlicher Berufe voranzutreiben. Eben diese Segregation der Berufe und des Arbeitsmarktes nach Geschlecht ist aber eine der Ursachen für den nach wie vor hohen Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen, der europaweit kaum abgebaut wird und sich in einigen Ländern sogar vergrößert.49 In den ersten Dekaden bezogen sich die gleichstellungsrechtlichen Reglungen sämtlich auf den Bereich der Erwerbsarbeit. Einen Paradigmenwechsel markieren mehrere Gesetze, die seit dem Jahr 2000 als so genannte Antidiskriminierungsrichtlinien verabschiedet wurden und die in Richtung Anerkennung zielen. Den Weg dazu hatte Artikel 19 AEU geebnet, der die Union berechtigt, Maßnahmen gegen Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, ‚Rasse‘/ethnischer Herkunft, Religion/Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung zu ergreifen. In Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit ist hier insbesondere die „Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“ (2004/113/EG) von Anfang 2005 zu nennen, auch „Unisex-Richtlinie“ genannt. Sie markiert einen Paradigmenwechsel, da – wie der Name sagt – der Anwendungsbereich über den Arbeitsmarkt hinausgeht, ein Ziel, das die Kommission bereits bei der Mitteilung zur Sozialpolitischen Agenda angekündigt hatte. Hier wird also dezidiert Ungerechtigkeit im öffentlichen und privaten Sektor adressiert. Besonders im Versicherungssektor gab es gravierende Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bei den zu zahlenden Versicherungsbeiträgen. Mit zwei weiteren Richtlinien wird Gleichstellung auf weitere Kategorien über Geschlecht hinaus vorangetrieben, was als qualitative Verbesserung im Sinne einer Gerechtigkeitsorientierung zu bewerten ist. Es sind die Richtlinien 2000/78/EG (so genannte „Rahmenrichtlinie“) und 2000/43/EG (die so genannte Antirassismusrichtlinie).50 Die Rahmenrichtlinie formuliert einen Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung, Beruf und Ausbildung. Die Antirassismusrichtlinie geht darüber hinaus und deckt –

49 50

Vgl. Foubert, Petra (2010): Der geschlechtsspezifische Verdienstabstand in Europa aus rechtlicher Sicht. Europäische Kommission. Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der ‚Rasse‘ oder der ethnischen Herkunft. Der Begriff ‚Rasse‘ war bei der Formulierung der entsprechenden Texte kontrovers diskutiert worden. Er werde als politische Kategorie verwendet, nicht als biologische, heißt es im Richtlinientext. Auch auf der Weltkonferenz gegen Rassismus und Intoleranz in Durban (2001) ist der Begriff ‚Rasse‘ stark kritisiert worden. In Deutschland hat das Institut für Menschenrechte empfohlen, ihn auch aus Art. 3 GG zu streichen.

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung?

139

neben dem Arbeitsmarkt – auch andere Bereiche ab wie Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Gütern und Dienstleistungen einschließlich Wohnraum. Eine solche Orientierung auf weitere Dimensionen – über Geschlecht hinaus – ist sehr zu begrüßen, da sie auch der Heterogenität innerhalb der Geschlechtsgruppen gerecht wird. Auch ist damit Mehrfachdiskriminierung erfasst, die sich durchaus, aber nicht nur, in Hinblick auf Geschlechtsdiskriminierungen ergibt: Frauen ethnischer Minderheiten, Frauen mit Behinderungen und ältere Frauen erfahren in den EU-Staaten am stärksten Benachteiligungen. Das darf nicht ‚additiv‘ verstanden werden, sondern Mehrfachdiskriminierung hat im Ergebnis eine eigene Qualität.51 Gleichstellungs- und Beschäftigungspolitik: Schieflagen der Umverteilung

Der Schwerpunkt der Sozialpolitik und der Gleichstellungspolitik liegt seit Beginn der 90er-Jahre explizit auf der Förderung des Beschäftigungsniveaus in den Mitgliedsstaaten. Seit der Verabschiedung des Amsterdamer Vertrages wird die explizite „Beschäftigungs-strategie“52 praktisch umgesetzt. Im Zentrum stehen hier ökonomische Teilhaberechte, da eine Inklusion in das ökonomische System über den Arbeitsmarkt verläuft. Die Frage muss hier sein, wie den unterschiedlichen Chancen von Männern und Frauen auf Inklusion in den Arbeitsmarkt begegnet wird, die sich besonders in Zusammenhang mit Partnerund Elternschaft ergeben. Für die Förderung der Erwerbsrate von Frauen wurde erstmals im Rahmen der sogenannten Lissabon-Zielen eine konkret zu erreichende Absicht formuliert. Auf dem Lissabon-Gipfel im Jahr 2000 hatte der Europäische Rat beschlossen, den EU-Raum zum ‚weltweit wettbewerbsfähigsten‘ zu machen und eine nachhaltige Entwicklung mit ökonomischem Wachstum und einem höheren Beschäftigungsniveau vorzuweisen. Unter anderem sollte danach die Erwerbsrate von Frauen im Jahr 2010 die 60-Prozent-Marke erreichen. Die im März 2010 verabschiedete Europa-2020-Strategie verzichtete dann auf eine geschlechterdifferenzierte Zielquote und legte als Ziel eine allgemeine Erwerbsrate von 75 Prozent fest, die bis 2020 erreicht werden soll.

51

52

Vgl. Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, in: Bartlett, Katharine; Kennedy, Rosanne (Hrsg.), Bartlett, Katharine; Kennedy, Rosanne (Hrsg.): Feminist Legal Theory. Readings in Law and Gender. Boulder, San Francisco, Oxford, S. 57–80. Es handelt sich um die ‚Offene Methode der Koordination‘ im Bereich Beschäftigung.

140

Uta Klein

Durch die Bildungsexpansion sind Erwerbsquoten von Frauen im EU-Vergleich in den letzten 30 Jahren durchgehend angestiegen. 1992 betrug die Beschäftigungsrate von Frauen in den (damaligen) Ländern der EU im Schnitt 50 Prozent, im Jahr 2000 in EU-15 insgesamt 54 Prozent und sie liegt heute bei 58,2 Prozent in EU-27.53 In diesem Zeitraum ist der Anteil der erwerbstätigen Männer minimal gesunken, die Diskrepanz zwischen der Erwerbstätigenquote von Männern und Frauen nahm leicht ab. Sie beträgt nunmehr 13,7 Prozentpunkte.54 Dabei bestehen außerordentlich große Unterschiede im Vergleich der Mitgliedstaaten untereinander.55 Nur gibt die Erwerbstätigenrate keine Auskunft über die geleisteten Stunden. Die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen geht einher mit einer Zunahme der Teilzeitquote. Die Länder, in denen eine hohe Zunahme der weiblichen Erwerbstätigenquote zu verzeichnen ist, sind dieselben Länder, in denen die weibliche Teilzeitbeschäftigung wächst. Insgesamt arbeiten im EU-Durchschnitt im Jahr 2010 knapp 32 Prozent aller erwerbstätigen Frauen in Teilzeit gegenüber 8,7 Prozent der erwerbstätigen Männer. Zu den Ländern mit den höchsten Teilzeitbeschäftigungsquoten gehören neben den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich auch Schweden (40,4 Prozent), Deutschland (45,5 Prozent) und Österreich (44 Prozent).56 Die Erwerbsrate oder Beschäftigungsrate ist also völlig aussagelos, solange nicht auf Vollzeitäquivalente rekurriert wird. In der folgenden Tabelle werden diese zur besseren Beurteilung aufgeführt.

53 54 55

56

Vgl. Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. Hier Kap. 6. Europäische Kommission (2010): Bericht zur Gleichstellung von Frauen und Männern 2010. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Die Rate der erwerbstätigen Frauen insgesamt betrug 1992 zwischen 31,5 Prozent (Spanien) und 73 Prozent (Schweden). Heute liegt die Spanne bei den westeuropäischen Ländern zwischen knapp über 46 Prozent (Italien) und 71,1 Prozent in Dänemark. Insgesamt ‚führen‘ die nordischen Länder Schweden, Dänemark, Finnland und die Niederlande. Deutschland liegt mit 66,2 Prozent bei den Ländern mit den mittleren Frauenbeschäftigungsraten. Hier besteht zudem ein deutlicher Ost-West-Unterschied. In Ostdeutschland ist die Frauenerwerbsrate höher als in Westdeutschland, gleicht sich in den letzten Jahren jedoch wegen hoher Arbeitslosigkeit und hoher Teilzeitquote an. Spanien mit einer immer noch niedrigen Beschäftigungsrate von Frauen (52,3 Prozent) hat innerhalb der letzten fünfzehn Jahre eine starke Steigerung zu verzeichnen. Die Mehrheit der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten weist eine Erwerbsrate der Frauen von nun 60 Prozent auf. Schlusslichter sind Ungarn (50,6), Rumänien (52) und Slowakei (52,3), abgesehen von Malta (37,6 Prozent). Vgl. Klein, Uta (2012): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. Hier Abb. 1.

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung?

141

Tabelle 9: Vollzeitäquivalente und Gender Gap der Beschäftigungsraten von Männern und Frauen in den EU-Mitgliedsstaaten 2008 in Prozent*57 Land

Männer

Frauen

Gender Gap

Land

Männer

Frauen

Gender Gap

AT

74,8

52,1

22,7

IT

69,4

41,8

27,6

BE

68.4

46,9

21,5

LV

73,1

66,0

7,7

BG

68.2

59,0

9,2

LT

68,8

60,3

8,5

CY

79,1

60,3

18,8

LU

73,9

47,7

26,2

CZ

75.1

56,1

19,0

MT

71,6

34,5

37,1

DE

72.2

49,5

22,7

NL

74,5

45,4

29,1

DK

77.2

63,8

13,4

PL

66,2

50.6

15,6

EE

73.3

64,3

9,0

PT

74,4

59.3

15,1

ES

73,1

49,1

24,0

RO

66,3

51.6

14,7

FI

72,4

65,0

7,4

SK

69,0

52.9

16,1

FR

67.8

53,7

14,1

SI

71,2

60.8

10,4

GR

75.7

47,0

28,7

SE

73,7

62.5

11,2

HU

63,5

49,2

14,3

UK

73,3

52,2

21,1

IRL

74,9

51,1

23,8

EU-27

70,9

50,7

20,2

* Stundenzahl der Erwerbstätigkeit geteilt durch die durchschnittliche jährliche Stundenzahl in Vollzeitstellen, als Proportion der Bevölkerung von 15 bis 64 Jahren Erst hier wird die erhebliche Geschlechterdifferenz deutlich. Im Schnitt aller EU-Staaten ist die Erwerbsquote von Männern in Vollzeitäquivalenten 20 Prozent höher als die von Frauen. Die Erwerbsquote von Frauen auf dieser Grundlage, nämlich an Vollzeit gemessen, liegt bei lediglich 50 Prozent. Während in einigen Ländern wie Finnland (der geringste Unterschied), den baltischen Staaten und Schweden der Unterschied zwischen Männern und Frauen unter bzw. bei etwa 10 Prozent liegt, beträgt er in Belgien, Deutschland, Spanien, Griechenland, Italien, Luxemburg, Malta, Österreich, Irland und Großbritannien über 20 Prozent, in den Niederlanden fast 30 Prozent. Ost- und Westdeutschland ist selbstverständlich hier nicht differenziert, das Geschlechtergefälle fällt in Westdeutschland noch höher aus. Die Ausnahme stellen die 57

Entnommen aus Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. Hier S. 161.

142

Uta Klein

ost- und mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten – außer Polen – dar, in denen sich Frauenerwerbsarbeit am Vollzeitmodell orientiert.58 Diese Schieflage aus Geschlechterperspektive wird weder von der Beschäftigungspolitik noch von der Gleichstellungspolitik genügend beachtet. Bezug genommen wird ausschließlich auf die Erwerbs- oder Beschäftigungsraten, aber nicht auf Vollzeitäquivalente. Deutschland beispielsweise bescheinigte die Kommission bereits 2005 einen guten Stand, da die Frauenerwerbsrate bereits über 57 Prozent lag. Legt man aber das Arbeitsvolumen zugrunde, betrug die Beschäftigungsrate von Frauen in Deutschland im Vollzeitäquivalent noch ganze 45 Prozent (die der Männer knapp 70 Prozent). Damit rangierte Deutschland mit am untersten Ende der Skala und sähe ohne die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen in Ostdeutschland noch schlechter aus. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die inzwischen offensiv betriebene Teilzeitpolitik seit 2010. Trotz aller Begleitmaßnahmen wie dem Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung steigt die Teilzeitquote von Frauen. So hat sie in Österreich von 30 Prozent 1998 über 40 Prozent im Jahre 2006 auf 45 Prozent im Jahre 2012 zugenommen (vgl. Statistik Austria).59 Zunehmend sind es Frauen, die auf Teilzeitarbeit verwiesen werden – mit den bekannten problematischen Folgen: etwa ökonomische Abhängigkeit, Renten- und Pensionsausfälle im Alter, mangelnde Karriereoptionen. Die Geschlechterfrage wird in der Europa-2020-Strategie auf Erwerbsarbeit und Wachstum reduziert und die Erwerbsarbeit dem Wachstum untergeordnet. Der Begriff und damit auch die Idee der Strategie ‚Gender-Mainstreaming‘, die solche Ungleichheiten als Folgen der Politik transparent machen sollte, wird in der Mitteilung der Kommission zur Europa-2020-Strategie gar nicht mehr erwähnt. Es kann also von einseitiger Umverteilung der Arbeit im Zuge der employability-Strategie gesprochen werden, die allerdings nicht den Anforderungen einer Geschlechtergerechtigkeit folgt, so wie diese oben definiert und skizziert wurde. Dafür wäre eine Aufteilung sämtlicher gesellschaftlicher Arbeit notwendig. Der Umfang der Erwerbsarbeit von Männern sinkt jedoch nicht, die Erwerbsarbeit von Frauen wird einseitig forciert. Es werden nicht die Sozialversicherungssysteme reformiert, die in zahlreichen Ländern lohnabhängig funktionieren. Frauen können daher in der Mehrheit nicht dasselbe Ausmaß an ökonomischer Unabhängigkeit erreichen, wie es Männer können. Dabei zeigen sich erhebliche Ungleichheitsmuster innerhalb der Gruppe der Frauen in Hinblick auf Ethnizität, in Hinblick auf Bildungsherkunft und auch in Hinblick auf Elternschaft.60 Europaweit zeigt sich jedoch: Die Kinderzahl hat 58 59 60

Vgl. im Detail Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. Hier Kap.7. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote. (21.10.2013) Die Erwerbsbiographien von gut qualifizierten Frauen (und in einigen Ländern von Frauen ohne Kinder) gleichen sich denen der Männer an. 15 Prozent der Bevölkerung

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung?

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kaum Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit von Vätern, aber gravierenden Einfluss auf die Erwerbsquote von Müttern.61 Im Sinne der Begrifflichkeit Nancy Frasers kann auch das gravierende Lohnund Gehaltsgefälle als Missachtung solcher Erwerbstätigkeiten, die nach wie vor vorwiegend Frauen vorbehalten bleiben, bewertet werden. Die Werte haben sich seit 1994, als erstmals Daten vorlagen, nicht verändert. Bezogen auf die Brutto-Stundenverdienste sind die Differenzen der Frauen- und Männerlöhne (2011) mit über 23 Prozent in Estland und Österreich am höchsten, mehr als 20 Prozent betragen sie in der Slowakei, der Tschechischen Republik, Deutschland, Großbritannien und Griechenland.62 Dabei zeigen die wenigen verfügbaren Daten, dass Zuwanderinnen besonders benachteiligt sind, Zuwanderinnen sind vorwiegend in Niedriglohnbranchen und -jobs tätig. Der segmentierte Arbeitsmarkt ist eine der Hauptursachen für das Lohngefälle. Eine ‚Teilung des Arbeitsmarktes‘, das heißt eine Arbeitsmarktsegmentation, existiert vertikal und horizontal. Horizontal bedeutet, dass sich Frauen in bestimmten Tätigkeitsbereichen konzentrieren, vertikal, dass der Anteil von Frauen sinkt, je höher die Position ist. Zudem kann nach Segregation zwischen Berufen und Sektoren bzw. Branchen differenziert werden. Mehr als 60 Prozent aller Frauen in der EU waren 2005 in den sechs größten Erwerbssektoren beschäftigt: im Gesundheitsund Sozialwesen, in Erziehung und Unterricht, in der öffentlichen Verwaltung, im Einzelhandel, in Geschäftsaktivitäten sowie im Hotel und Gaststättengewerbe (vergleiche dazu Eurostat 2008). Die Tätigkeit von Männern konzentriert sich weniger auf bestimmte Bereiche, das heißt sie sind weniger konzentriert in bestimmten Bereichen tätig. 42 Prozent der Männer war 2005 in folgenden fünf Bereichen beschäftigt: Baugewerbe (13 Prozent aller Männer gegenüber 1,5 Prozent aller Frauen), öffentliche Verwaltung (vergleichbar hoch wie Frauen mit 7 Prozent), Einzelhandel (mit 6 Prozent halb so hoch), Landwirtschaft und Bodentransport (ebenda). Die Konzentration der Frauen stimmt mit nur wenigen Schwankungen für alle alten Mitgliedsstaaten bis auf Portugal und Griechenland, da die Landwirtschaft noch Hauptarbeitgeberin für Frauen ist.

61 62

der EU insgesamt jedoch leben mit einem Armutsgefährdungsrisiko. Eine der Gruppen, die der Armut und dem Armutsrisiko starker ausgesetzt ist, sind Ein-Eltern-Familien (und hier vor allem alleinerziehende Frauen). Spezifische Risiken tragen zudem Immigranten/Immigrantinnen, Menschen mit Behinderungen, Opfer von Menschenhandel und Menschen in Hilfeeinrichtungen – Männer wie Frauen. Wir beobachten auch eine zunehmende Differenz zwischen Männern. Besorgniserregend sind die Zahlen von jungen Männern, die einen niedrigen Bildungsabschluss haben oder gar keinen Schulabschluss schaffen. Nach den Laeken-Indikatoren liegt in der Altersgruppe 25 bis 34 der Anteil der Männer mit niedrigem Bildungsabschluss im Schnitt aller EU-Staaten über dem der jungen Frauen, während es in der Altersgruppe bis 64 Jahre umgekehrt ist. Vgl. im Detail Klein, Uta (2013): Geschlechterverhältnisse und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union. Akteure – Themen – Ergebnisse, Lehrbuch. Wiesbaden. http://ec.europa.eu/justice/gender-equality/gender-pay-gap/situation-europe/index_ de.htm (23.10.2012).

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Fast 36 Prozent aller erwerbstätigen Frauen in der Union sind in sechs der über 130 Standardberufsgruppen (nach dem ISCO-Code) tätig – den so genannten Top-Six gegenüber 25 Prozent der Männer (vergleiche Eurostat 2008). Dabei handelt es sich um Berufe ohne gute Aufstiegsmöglichkeiten (zum Beispiel Pflegeberufe, Friseurin, Verkäuferin im Einzelhandel, Sekretärin). Sie gelten als ‚Frauenberufe‘ und werden meist niedriger entlohnt als Berufe, die als ‚Männerberufe‘ gelten. Während auf der Erscheinungsebene nicht selten die Berufswahlorientierung als individuelle, „freie“ Entscheidung von jungen Frauen und jungen Männern gilt, so zeigen Analysen, dass die Berufswahl ein Produkt von Prozessen der Verweiblichung bzw. Vermännlichung ist, an denen sogenannte ‚gatekeeper‘ – Eltern, Berufsberatung, Lehrer und Lehrerinnen – zentral beteiligt sind. Obwohl das Lohn- und Gehaltsgefälle in Zusammenhang mit der Steigerung der Erwerbsquote eine höhere politische Bedeutung hat, wurde bislang von der Verabschiedung einer neuen Richtlinie abgesehen. Es wird zunehmend, wie in anderen Bereichen der Gleichstellungspolitik auch, versucht, mit ‚Soft-Law‘-Instrumenten, wie Sensibilisierung, Trainings, Kampagnen, zu arbeiten. Vor allem wird auf die Sozialpartner gesetzt, da die Tarifvereinbarungen hier eine große Rolle spielen. Fazit

Gleichstellung von Frauen und Männern zählt heute zu den Werten der Euro­ päischen Union. Diese normative Setzung geht über die Gleichstellungsgesetze und Regelungen – von denen hier Einzelne dargestellt wurden – hinaus und zielt auf eine gerechte Verteilung von Chancen, Rechten und Pflichten als Grundvoraussetzungen europäischer Gesellschaften. Dabei betrifft Gleichstellung oder Geschlechtergerechtigkeit eben nicht nur das ‚Soziale‘, sondern stellt ein Erfordernis der Demokratie dar. Der Beginn und der Schwerpunkt des Gleichstellungsrechtes und der Gleichstellungspolitik liegen in Maßnahmen, die sich auf den Erwerbsarbeitsmarkt beziehen. Dabei werden zwei Hauptlinien verfolgt: zum einen das Gebot der Lohngleichheit und zum anderen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. In diesen Bereichen hat die EU eindeutig Verbesserungen der Arbeitnehmerinnen herbeigeführt. Zahlreiche arbeitsrechtliche Standards wurden zu Fragen der Geschlechtergleichbehandlung, Verbesserungen für Teilzeitbeschäftigte, Verbesserungen in Bezug auf so genannte atypische Arbeitsverhältnisse und in Hinblick auf Elternurlaub verwirklicht. Auch wenn die Fokussierung auf den Arbeitsmarkt unübersehbar ist, hat sich der Einflussbereich der EU-Gleichstellungspolitik kontinuierlich – vor allem seit dem Amsterdamer Vertrag – und deutlich erweitert. Dies ist unter anderem an Richtlinien und Maßnahmen deutlich zu sehen, die Einfluss auf Familienpolitik nehmen oder an der Richtlinie zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Auch die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes auf an-

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dere Kategorien als Geschlecht ist eine begrüßenswerte Hinwendung zu Vielfalt. Ein grundlegendes, im Sozialstaatsmodell der meisten Länder verankertes, Hindernis der Chancengleichheit ist die mangelnde eigenständige soziale Absicherung von Frauen. Es zeigt sich, dass ein Hindernis effektiver Maßnahmen noch immer in der Übernahme der unbezahlten Arbeit, des größten Teils der Kinder-, Kranken- und Altenbetreuung – eben der Care-Tätigkeiten – durch Frauen besteht. Die EU spricht sich zwar für eine ausgewogenere Mitwirkung von Frauen und Männern an Familie und Erwerbsleben aus und hat Zielquoten für den Ausbau an öffentlicher Kinderbetreuung festgelegt. In den Mitgliedstaaten zeigt sich jedoch, wie viel Widerstand einer Neuverteilung unbezahlter Arbeit und einem neuen Geschlechtervertrag entgegengesetzt wird. Während einige Veränderungen in den Mitgliedsstaaten über die Methode der Offenen Koordinierung durchaus herbeigeführt werden können, sind in anderen Bereichen verbindliche Vorgaben wünschenswert. So kann die private Aufgabenteilung durchaus mittels einer Richtlinie zur Aufteilung des Anrechts auf Elternzeit zu gleichen Teilen gefördert werden. Hiermit würden solche Väter unterstützt, deren Bedürfnis nach wirklicher Aufgabenteilung durch die Abwehr von Arbeitgebern Grenzen gesetzt sind. Durch eine einseitige Gewichtung des Beschäftigungsausbaus werden sogar neue Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bewirkt. Zwar hat eine höhere Erwerbsrate von Frauen zweifellos etwas mit Geschlechtergleichstellung zu tun, da sie ihren Ressourcenzugang und damit die Chancen auf Unabhängigkeit erhöht. Gleichzeitig sind Frauen stärker in spezifischen Segmenten des Arbeitsmarktes konzentriert, überproportional in niedrig entlohnten Bereichen, überproportional in Teilzeit und befristet beschäftigt. Ihr Gehalt ist im Schnitt geringer als das der Männer. So fällt die Steigerung der Vollzeitäquivalente der Arbeitszeit bei Frauen gering aus, ungesicherte und Teilzeit-Beschäftigungsverhältnisse haben zugenommen. Daran erinnert werden muss auch, dass sämtliche politische Maßnahmen, seien es wirtschaftspolitische oder beschäftigungspolitische, Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse haben. Die Prämisse der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die zunehmende Deregulierung und die Erhöhung von Anreizen in Niedriglohnbranchen erhöhen unsichere Arbeitsverhältnisse.63 Die EU verfolgt damit ein Modell der allgemeinen Erwerbsarbeit, das nach Frasers Kriterien einer Geschlechtergerechtigkeit nicht näher kommt, da es ausschließlich jenen Frauen zugutekommt, die einem ‚male worker‘ ähnlich sind. Es gilt dagegen, die Aufteilung der Arbeit – und hier ist die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeit gemeint –, die entlang der Geschlechtergrenzen organisiert ist, zu verändern. Eine Umverteilung der Arbeit kann nur gelingen, 63

Hier sind freilich die Differenzen unter Frauen zu beachten. Die Situation von Frauen mit niedrigem Bildungsabschluss, von Alleinerziehenden und von Migrantinnen ist im Vergleich deutlich schwieriger.

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wenn einerseits Frauen der gleiche Zugang zu Berufen und Positionen ermöglicht ist und wenn die Sorge- und Betreuungsarbeit geschlechtsunabhängig verteilt ist. Damit ist nicht nur Familienarbeit im engen Sinne gemeint, sondern gesamtgesellschaftlich erforderliche Tätigkeiten in Fürsorge-, Pflege- und Erziehungsbereichen. Fraser bemüht für diese Vision das Modell der ‚universellen Betreuungsarbeit‘. Dafür ist nichts Geringeres erforderlich als eine Neubestimmung von Öffentlichkeit und Privatheit und eine Erkenntnis darüber, dass der private Raum real keinen geschützten Raum darstellt. Handlungsspielräume, Rechte, Freiheiten und Chancen müssen geschlechtsunabhängig und auch unabhängig von anderen Grenzziehungen wie sexueller Orientierung und Ethnizität einlösbar sein. Politiken zu strukturellen Veränderungen müssen mit Politiken zur symbolischen Anerkennung einhergehen. Damit ist ausdrücklich nicht eine Anerkennung des Weiblichen oder der Frauen gemeint – die hieße eine Essentialisierung –, sondern eine Anerkennung von als weiblich erachteten Eigenschaften und Tätigkeitsfeldern, eine Aufteilung und gleiche Anerkennung von Care und Erwerbsarbeit nach Eignung und Befähigung, nicht nach Geschlecht. In der Folge wird angesichts der Bedeutung der Trennung in Erwerbs- und Care-Tätigkeiten für die Geschlechterordnung auch eine Dekonstruktion von Geschlecht beschleunigt. Insgesamt bedeutet das, dass Anerkennung sowohl in der Privat- als auch der Erwerbssphäre über die Anerkennung von Individuen hinausgeht. Nancy Fraser weist darauf hin, dass weder die Maßnahmen zur Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit noch die Maßnahmen zur staatlichen Kinderbetreuung alleine zur vollen Gleichheit der Geschlechter führen, sondern erst ein Modell der – wie sie es nennt – „Universal Caregiver“ einer Geschlechtergerechtigkeit näherkommt: „Es kommt darauf an, sich soziale Bürgerrechte für Frauen für die Erwachsenen vorzustellen, die Erwerbsarbeit, Betreuungsarbeit, Aktivitäten für die Gemeinschaft, Mitwirkung am politischen Leben und Engagement in der Zivilgesellschaft miteinander verbinden – und noch Zeit für vergnügliche Dinge ermöglichen.“64

64

Fraser, Nancy (1996): Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Nagl-Docekal, Herta; Pauer-Studer, Herlinde (Hrsg.): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität. Frankfurt am Main, S. 469–493.

Einseitige Umverteilung, mangelhafte Anerkennung?

147

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Uta Klein

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Dieter Röh

Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine ­Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung

Die Bände dieser Buchreihe fragen nach den Grundwerten der europäischen Gesellschaft(en). Dazu zählt – oder soll zählen – die Gerechtigkeit als ethischer Grundsatz und Maßstab. Doch wie weit ist es her mit diesem Grundsatz, sowohl im Inneren der jeweiligen Nationalstaaten als auch im politischen Kontext der Europäischen Union insgesamt und dabei wiederum unter bzw. zwischen den europäischen Staaten sowie auch gegenüber nicht EU-Ländern bzw. deren jeweiliger Bevölkerung oder einzelnen Personen? Was ist überhaupt Gerechtigkeit in diesem Sinne, was umfasst sie und wie kann sie verwirklicht werden? Das Drama der afrikanischen Flüchtlinge vor den Grenzen Europas, die versuchen, über die Türkei, Griechenland, Italien oder Spanien in die EU-Zone zu gelangen, um dort Asyl beantragen zu können, ist eine der größten menschlichen Katastrophen, die Europa in den letzten 60 Jahren erlebt hat. Sie stellt die europäische Politik vor die schmerzhafte Frage, wie weit es eigentlich her ist mit grenzüberschreitender Solidarität, mit Gerechtigkeit auch für Menschen anderer Nationalität (außerhalb der EU-Mitgliedsstaaten). Gerechtigkeit zu fordern ist eben weit mehr als ‚Brüllen auf Papier‘, wie man unter Bezugnahme auf Jeremy Bentham (1784–1832) sagen könnte, der diese Worte zur Charakterisierung der seines Erachtens wirkungslosen Deklaration der Menschenrechte im Rahmen der Französischen Revolution nutzte. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, einen möglichen Weg zu skizzieren, wie soziale Gerechtigkeit erreicht werden kann bzw. wie der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft, auch nach europäischem Maßstab1, aus­ sehen kann. Dieser Weg wird allerdings nicht entlang bestehender Proklama­ tionen oder rechtlicher Kodifizierungen skizziert, sondern unter Zuhilfenahme einer Gerechtigkeitstheorie, die sich in den letzten drei Jahrzehnten außerhalb der euro­päischen Diskussion entwickelt hat, von dieser aber jüngst verstärkt rezipiert wird. So hat der Capabilities Approach, neben seiner internationalen Verwendung für den Human Development Report der Vereinten Nationen2, unter 1

2

Vgl. zum Versuch, einen Weltmaßstab einzunehmen, indem über internationale Kooperationsmöglichkeiten zur Gewährleistung von Gerechtigkeit reflektiert wird: Nussbaum, Martha (2006): Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership. Cambridge/London. Hier S. 224 ff. Siehe http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr2013.

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anderem Eingang gefunden in die deutsche Armuts- und Reichtumsberichterstattung3 sowie in den 13. Kinder- und Jugendgesundheitsbericht4 und den Gleichstellungsbericht 20115. Zuletzt wurde er 2013 von der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft genutzt6. Da er zunehmend auch in der Sozialen Arbeit diskutiert wird7, kann er wohl als einer der fruchtbarsten gerechtigkeitstheoretischen Ansätze für eben diese Profession und Disziplin der jüngeren Vergangenheit angesehen werden. Daher soll an dieser Stelle mithilfe des Capabilities Approach eine Handlungstheorie Sozialer Arbeit beschrieben werden, die es ermöglicht, ein Verständnis davon zu gewinnen, wie sich Gerechtigkeit im mikro-, meso- und makrosozialen Maßstab herstellen lässt. Der humanwissenschaftlichen Profession Sozialer Arbeit wird dabei insofern eine zentrale Rolle beigemessen, als sie es vermag bzw. dazu aufgerufen ist, durch ihre spezifische Professionalität Gerechtigkeitsprozesse zu befördern. Auch wenn ihre Reichweite im großen Maßstab der ethischen und politischen Analysen und Handlungen vielleicht eher bescheiden ausfällt, so kann sie doch in den vielen einzelnen Fällen, in denen Gerechtigkeit eher im Alltag, in der Lebenswelt oder auch in Funktionssystemen ein Thema ist, wirksam sein und dies darüber hinaus mit Rückwirkung in die mesound makropolitischen Sphären. Am Beispiel der oben erwähnten Flüchtlings­ katastrophe kann vorab gezeigt werden, dass neben der dringend notwendigen Abkehr von den bestehenden supranationalen Verträgen (Dublin I–III), dem Nachdenken über eine Form globaler Gerechtigkeit sowie einer Reform der 3

4 5

6 7

BMAS (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin. http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/forschungsprojekt-a333-dritter-armuts-und-reichtumsbericht. pdf ?__blob=publicationFile. BMFSFJ (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/13-kinder-jugendbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf. Bundestagsdrucksache 17/6240; BMFSFJ (2011): Erster Gleichstellungsbericht. http:// www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Erster-Gleichstellungsbericht-Neue-Wege-Gleiche-Chancen,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf. Bundestagsdrucksache 17/13300: http://www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/Schlussbericht/index.html. Vgl. Ziegler, Holger; Schrödter, Mark; Oelkers, Nina (2010): Capabilities und Grundgüter als Fundament einer sozialpädagogischen Gerechtigkeitsperspektive, in: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Wiesbaden, S. 297–310. Vgl. Schrödter, Mark (2007): Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession. Zur Gewährleistung von Verwirklichungschancen, in: neue praxis (1), S. 3–28. Vgl. Otto, Hans-Uwe; Ziegler, Holger (Hrsg.) (2008): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden. Vgl. Sedmak, Clemens u.a. (Hrsg.) (2010): Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten. Überlegungen zur Anschlussfähigkeit eines entwicklungspolitischen Konzepts. Wiesbaden.

Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben

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europäischen Flüchtlingspolitik den hier angekommenen Menschen auch direkt geholfen werden muss. In der mikropolitischen Arbeit der Flüchtlingshilfe geht es hier (zum Beispiel in Deutschland) wie dort (an den Außengrenzen Europas und in den Herkunftsländern) nicht nur um eine humanitäre, sondern darüber hinausgehende gerechte Unterstützung derjenigen, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen die Flucht antreten. Ihnen tatsächliche Verwirklichungschancen zu gewährleisten und sie darin zu unterstützen, diese nutzen zu können, darin liegt der Auftrag der Sozialen Arbeit in diesem Bereich. So würde es praktisch um die psychosoziale Verarbeitung der Fluchtbzw. Migrationserfahrungen, das Finden geeigneter, die eigene ökonomische Existenz gewährleistender Arbeit oder kompensatorisch den Zugang zu Leistungen sozialer Sicherheit sowie eines guten Wohnraums und das Anknüpfen sozialer Kontakte und Beziehungen gehen. Dass die derzeitige Asylpolitik samt ihrer Restriktionen (Arbeitsverbot, Residenzpflicht etc.) die makropolitischen Begrenzungen darstellt, ist dabei ebenso mittels des Capabilities Approachs zu kritisieren, wie die Lebensführung der Migranten in ihrer ‚neuen‘ Lebenswelt zu unterstützen ist. Auch jenseits dieses Beispiels sind in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit solche Handlungs-Struktur-Probleme mittels einer ‚Expertise für die Zusammenhänge zwischen handelndem Subjekt und sozialer Struktur‘ derart zu bearbeiten, dass den betroffenen Menschen eine daseinsmächtige Lebensführung gelingen kann. Daher möchte der vorliegende Beitrag diese Rolle und Funktion der Sozia­ len Arbeit als Instanz zur Vermittlung zwischen dem handelnden Subjekt und den es umgebenden und es beeinflussenden Strukturen herausstellen und damit deutlich machen, wie auf diese Art Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Neben der Flüchtlingsarbeit sind also alle weiteren Handlungsfelder und Arbeitsgebiete Sozialer Arbeit angesprochen, zum Beispiel die Wohnungslosenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, die Behindertenhilfe, die sozialpsychiatrischen Angebote und vieles mehr. Zu diesem Zweck werden zunächst die professionellen Grundlagen der Sozialen Arbeit und ihre Einbindung in sozial- und rechtsstaatliche Kontexte verdeutlicht, um verstehen zu können, in welchem gegebenen, aber zu beeinflussenden Rahmen diese sozialarbeiterische Tätigkeit vollzogen wird. Im zweiten Abschnitt soll dann der Capabilities Approach insoweit vorgestellt werden, wie dessen gerechtigkeitstheoretische Analysen eine Handlungstheorie der daseinsmächtigen Lebensführung entstehen lässt. In einem wichtigen Zwischenschritt werden die sozialen wie personalen Begrenzungen aber auch Möglichkeiten in den Blick genommen, die es zur Erreichung von Gerechtigkeit ernst zu nehmen gilt, um dem pseudokonkreten Leben der Menschen und dem realutopischen Ziel der Gerechtigkeit adäquat entsprechen zu können. Dabei wird in einem Exkurs zu klären sein, inwieweit subjektives Handeln in gegebenen Strukturen eingeschränkt sein kann. Dies ist bei allen makro- und mesostrukturellen Begrenzungen autonomer Lebensfüh-

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rung ein wichtiger Punkt, will man schließlich eine an anderer Stelle8 ausführlicher behandelte Handlungstheorie einer daseinsmächtigen Lebensführung vorstellen. Soziale Arbeit ist handelnde Menschenwissenschaft der Veränderung zum Besseren

Um der Frage nach der alltäglichen, lebensweltlichen und mikropolitischen Gerechtigkeit näher kommen zu können, ist ein Blick auf die Besonderheiten der Sozialen Arbeit als helfender Profession mitsamt ihres disziplinären Verstehens-, Erklärungs- und Handlungshintergrundes sehr hilfreich. Bevor diese selbst dargestellt werden, möchte ich einige zentrale Begriffe definieren. Wie bereits im Titel angedeutet, ranken sich um die Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung die drei Begriffe ‚Gerechtigkeit‘, ‚gutes Leben‘ und ‚Soziale Arbeit‘. Soziale Arbeit wird dabei als jene Humanprofession und -disziplin verstanden, die sich als Expertise für die Zusammenhänge von Subjekt und Gesellschaft verstehend, erklärend und bei Bedarf intervenierend (beratend, vermittelnd, unterstützend, empowernd etc.) mit deren Wechselwirkungen beschäftigt. Ihr handlungswissenschaftlicher Charakter ist dabei auf zweierlei Weise bestimmbar: Zum einen geht es ihr um die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Handlungsfähigkeit in gegebenen, aber veränderbaren gesellschaftlichen Strukturen und zum anderen ist sie selbst auf eine spezifische Handlung ausgerichtet, denn: „Soziale Arbeit ist Veränderung zum Besseren!“ Wenn ihr also an Veränderung liegt, dann stellt sich sofort die Frage nach deren Richtung, Maßstab und Form, um ‚das Bessere‘ genauer bestimmen zu können. Woran soll das Bessere gemessen werden bzw. von welchem Blickwinkel aus wird es beurteilt (Maßstab)? Wohin soll die Veränderung führen, was ist das Bessere gegenüber dem Jetzigen (Richtung)? Wie sieht die anvisierte Verbesserung aus (Form)? Der Zusammenhang aller drei Dimensionen ist dabei unbedingt zu wahren, denn erst aus dieser Kombination entstehen legitime Aufträge für die Soziale Arbeit. Eine Handlungstheorie Sozialer Arbeit, wie sie hier vertreten wird, gibt darauf folgende Antworten: Erstens kann der Maßstab einer notwendigen Veränderung zum Besseren nur mittels normativer Bestimmungen gefunden werden, denn ohne sie gibt es keine Orientierung. Diese können sehr unterschiedlich ausfallen, zum Beispiel entlang ‚religiös begründeter Nächstenliebe‘, ‚Sorge‘, ‚weltlichem Humanismus (Menschenrechte/Menschenwürde)‘, ‚menschlicher Freiheit, Gleichheit, Solidarität‘, ‚Selbstbestimmung‘ oder eben auch ‚Gerechtigkeit‘. 8

Vgl. Röh, Dieter (2013): Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung. Wiesbaden.

Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben

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Gleichzeitig wird deutlich, dass diese zwar nuanciert andere Schwerpunkte setzen, sich aber im Fluchtpunkt eines besseren Lebens treffen und damit im Grunde „one big thing“9 sind. Zweitens ist die hier getroffene Entscheidung, ‚soziale Gerechtigkeit‘ und das ‚gute Leben‘ als Maßstab und gleichzeitig Richtung zu nutzen, mehr einer theoretischen Setzung als der tatsächlich besseren Wahl gegenüber den oben genannten anderen normativen Motiven entsprungen. Gerechtigkeit wird hier verstanden als die Richtung, in die gegangen werden muss, und das gute Leben gibt den Maßstab dafür ab. Im Sinne des nachfolgenden Zitats ist man dabei gut beraten, im Streben nach dem guten Leben angesichts der damit notwendigerweise tangierten Gerechtigkeit Vorsicht walten zu lassen: „In a phrase, the just draws the limit, the good shows the point.“10 In ihrer Selbstdefinition sieht sich Soziale Arbeit in jüngster Zeit wieder stärker normativ entweder als „Menschenwissenschaft“11, „Menschenrechtsprofession“12 oder auch als „Gerechtigkeitsprofession“13. Ihr Kennzeichen ist dabei, quasi theorienübergreifend, dass sie sich – als Expertise für die Zusammenhänge zwischen handelndem Subjekt auf der einen und sozialen Strukturen auf der anderen Seite – um die Vermittlung dieser beiden, auch freiheitstheoretisch ganz unterschiedlichen, Sphären14 der Gerechtigkeit bemüht. Wo es sich auf der einen Seite um die akteurstheoretisch zu verstehende alltägliche, lebensweltliche Lebensführung15 oder um Alltag und Lebenswelt an sich16 dreht, geht es auf der anderen Seite um die in ganz unterschiedlicher Qualität diese Lebensführung limitierenden Lebensbedingungen, die sich vornehmlich in Form lebensweltnaher Sozialbeziehungen bzw. Anerkennungsfragen17 und in Form abstrakt-organisationeller Funktionsbeziehungen18 ausdrücken. 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Dworkin, Ronald (2011): Justice for hedgehogs. London/Cambridge. Rawls, John (2001): Justice as Fairness – A Restatement. Cambridge/London. Hier S. 141. Engelke, Ernst; Borrmann, Stephan; Spatscheck, Christian (2009): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Freiburg. Staub-Bernasconi, Silvia (2003): Soziale Arbeit als (eine) Menschenrechtsprofession, in: Sorg, Richard (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft. Münster, S. 17–54. Schrödter, Mark (2007): Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession. Zur Gewährleistung von Verwirklichungschancen, in: neue praxis (1), S. 3–28. Vgl. Walzer, Michael (2006): Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main. Miller, David (2008): Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt/New York. Vgl. Bethmann, Stephanie u.a. (Hrsg.) (2012): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel. Vgl. Thiersch, Hans (1995): Lebenswelt und Moral. Beiträge zur moralischen Orientierung Sozialer Arbeit. Weinheim/München. Vgl. Honneth, Axel; Rössler, Beate (2008): Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen. Frankfurt/Main. Vgl. Pioch, Roswitha (2005): Funktionale Differenzierung und die Konsequenzen für eine Soziologie der Gerechtigkeit, in: Corsten, Michael; Rosa, Hartmut; Schrader, Ralph (Hrsg.): Die Gerechtigkeit der Gesellschaft. Wiesbaden.

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Ausgestattet mit diversen methodischen Herangehensweisen, die von der beraterischen Einzelfallhilfe, Case-Management als Hilfeplanungsinstrument, soziale Gruppenarbeit, sozial- oder lebensweltorientierte Hilfen bis hin zur Gemeinwesenarbeit reichen, ist Soziale Arbeit in ihrer professionellen Variante jedoch immer sozialstaatlich gerahmt. Obwohl gleichzeitig akteurs- und lebensweltnahe und systemspezifische Kenntnisse vorhanden sind, besteht die ‚Kunst des Helfens‘ doch in der geschickten Vermittlung zwischen beiden Bereichen, in der Übersetzung der verschiedenen Logiken einer lebensweltlichen Lebensführung und funktionaler Zweckorientierung, beispielsweise im Lebensbereich Arbeit. Eine solcherart, auch als intermediäre Instanz begriffene, spezifische Arbeit an der Schnittstelle bedürfnisorientierter menschlicher Handlungen und funktionsspezifischer Systemoperationalität ansetzende professionelle Tätigkeit (re-)produziert quasi (all-)täglich Gerechtigkeitsprozesse und -strukturen, da sie erheblichen Einfluss auf das Leben jener Menschen gewinnt, die als Klientel Sozialer Arbeit in präventiver wie auch sonstiger Art und Weise auf Unterstützung angewiesen sind oder darauf verwiesen werden. Es stellt sich somit die Frage, nach welchen Maßstäben diese Profession handelt, woran sie ihre Einschätzungen problematischer Zustände und Situationen misst, wonach sie ihre Entscheidungen trifft und wie sie ihre (Nicht-) Interventionen begründet. Nach mehreren Konjunkturen unterschiedlichster Leitbilder (politisch-emanzipatorische, therapeutische und sozialmanagerielle Fürsorge) gewinnen derzeit wieder normativ ausgerichtete Ideen an Bedeutung, da es angesichts neoliberaler und neosozialer Veränderungen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses ein starkes Bedürfnis nach eigenen kritischen Maßstäben gibt. Neben einer menschrechtsbasierten Variante19 haben sich jüngst verschiedene Autorinnen und Autoren20 daran gemacht, den gerechtigkeitstheoretischen Ansatz des Capabilities Approach von Amartya Sen und Martha Nussbaum für die Frage nach entsprechenden Grundsätzen zu erschließen. Im Folgenden sollen daher die wesentlichen Grundlagen des Capabilities Approachs dargestellt werden, bevor diese dann in die Formulierung eines handlungstheoretischen Ansatzes für die Soziale Arbeit einfließen.

19

20

Vgl. Ife, Jim (2008): Human rights and social work. Towards a rights-based practice. Cambridge. Vgl. Staub-Bernasconi, Silvia (2003): Soziale Arbeit als (eine) Menschenrechtsprofession, in: Sorg, Richard (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft. Münster. S. 17–54. Vgl. Fußnote 7.

Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben

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Capabilities Approach – „What a person is able to do or to be“

Gerechtigkeit und das gute Leben hängen eng miteinander zusammen, und deshalb wird im Folgenden auch auf den Capabilities Approach Bezug genommen, da es mit ihm in vorzüglicher Weise gelingt, das Gute mit dem Gerechten zusammenzubringen, wobei gerade die innere Spannung dieses Verhältnisses so entscheidend ist: Ein gutes Leben ist zwar erstrebens- und wünschenswert (wer wolle das ernsthaft bestreiten?), es muss jedoch mit grundsätzlicher Gerechtigkeit (als Achtung vor der menschlichen Freiheit) einhergehen. So postuliert, den gleich folgenden Ausführungen vorgreifend, Nussbaum, dass sich nur eine „thick, vage conception of the good“21 vertreten ließe. Denn: „The Aristotelian proceeds this way in the belief that it is better to be vaguely right than precisely wrong; and that, without the guidance of the thick vague theory, what we often get, in public policy, is precise wrongness“22. Stark sei eine Konzeption des Guten deshalb, weil damit der Umriss einer Gesellschaft gewonnen werde, deren Mitglieder wenigstens über ein Minimum an gemeinsamen Vorstellungen über das verfügen könnten, was es für alle zu garantieren gälte, um Gerechtigkeit zu erreichen. Vage müsse sie angesichts von Kontingenz, Transzendenz und Entwicklung bleiben, um nicht zu erstarren und doktrinär zu werden. Wenn das gelänge, dann erhielte man die theoretisch brauchbare und praktisch mögliche Form der daseinsmächtigen Lebensführung. Der Capabilities Approach stellt heute die Alternative zu utilitaristischen, deontologischen23 oder kontraktualistischen24, aber auch religiösen Ethiken dar, da er sich konsequent auf humanistische Grundlagen bezieht. Als wohlfahrtstheoretische Alternative zu bisherigen, vor allem nationalökonomischen, Theorien begonnen, entwickelten sich die theoretischen Überlegungen insbesondere durch die Arbeiten der prominentesten VertreterInnen, Amartya Sen25 und Martha Nussbaum26, beständig weiter und wurden insbesondere durch vertiefte philosophische Überlegungen ausdifferenziert. Zwischen Sen und Nussbaum

21 22 23 24

25 26

Nussbaum, Martha (1990): Aristotelian Social Democracy, in: Douglass, R. Bruce; Mara, Gerald M.; Richardson, Henry S. (Hrsg.): Liberalism and the Good. New York/London, S. 203–252. Hier S. 217. Ebd. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass Nussbaum jüngst (2011, S. 94) Verbindungen zur Deontologie in Betracht zieht. Gewisse Ähnlichkeiten zur Vertragstheorien sind bei Sen im Rahmen seines „so­cialchoice“-Ansatzes zu entdecken, wenngleich er sich teilweise recht deutlich von etwaigen Verkürzungen distanziert, etwa von dem starken Vertrauen auf gerechte Institutionen (2009, S. 7 und 86). Auf der anderen Seite wird aber gerade dieser öffentliche Vernunftgebrauch, den Sen (2009, S. 89) als bedeutsam ansieht, um eine gerechte Vorstellung des guten Lebens zu erhalten, für ein prozedurales Gerechtigkeitsverständnis benötigt. Zuletzt: Sen, Amartya (2009): The Idea of Justice. New York. Zuletzt: Nussbaum (2011), a.a.O.

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gibt es – bei großen Überschneidungen und gegenseitigen Verweisen – in drei Bereichen bemerkenswerte Unterschiede27: Dabei geht es erstens um den Gebrauch des Begriffs „Capabilities“, zweitens um die Frage, welche Priorität Freiheit haben sollte und drittens darum, ob man überhaupt eine definitive, wenn auch offene und veränderbare Liste an Capabilities nutzen sollte. 1. Als liberale Theorie legt der Capabilities Approach in der Lesart Sens Wert auf die Realisierungsmöglichkeit tatsächlicher Freiheiten gegenüber dem bloßen Angebot von Chancen, wobei von der Notwendigkeit einer ausreichenden Chancenausstattung ausgegangen wird, die gleichzeitig selbst ­einen befähigenden Charakter besitzt bzw. durch Befähigung der Menschen tatsächlich genutzt werden kann. Capabilities werden von Nussbaum28 daher wie folgt definiert: „What are capabilities? They are the answers to the question, ‚What is this person able to do or to be?’ In other words, they are what Sen calls ‚substantial freedoms‘, a set of (usually interrelated) opportunities to choose and to act.“ 2. Anders als Nussbaum reklamiert Sen die Freiheit als oberstes Prinzip und sieht keine Notwendigkeit, von einer feststehenden Liste dieser Capabilities (im Sinne Nussbaums die Central Capabilities) auszugehen. Vielmehr plädiert er für eine öffentliche Diskussion auf der Grundlage vernünftiger Argumente darüber, was Menschen für ein gutes Leben benötigen. 3. Nussbaum29 dagegen veröffentlicht nun schon seit mehreren Jahren ähnliche Listen von Capabilities, die für sie die Grundlage einer starken, vagen Konzeption des Guten darstellen, wobei sie sich dezidiert auf die aris­ totelische Philosophie bezieht30 und stets festhält, dass es sich um eine staatliche Aufgabe handele, diese Capabilities zu garantieren, wenigstens auf dem Niveau eines Schwellenwertes, unterhalb dessen kein menschliches Leben in Würde möglich sei: „The social goal31 should be under27

28 29 30 31



Vgl. u. a. die Analysen von Leßmann, Ortrud (2007): Konzeption und Erfassung von Armut. Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens’ Capability-Ansatz. Berlin. Robeyns, Ingrid (2011): „The Capability Approach“, in: Zalta, Edward N. (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer-2011-Edition). http://plato.stanford.edu/ar­ chives/sum2011/entries/capability-approach (24.02.2013). Vgl. Nussbaum (2011), a.a.O., hier S. 20. Vgl. Nussbaum, Martha (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/Main. Vgl. dies. (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität, Spezieszugehörigkeit. Frankfurt/Main. Vgl. Nussbaum. (2011), a.a.O. Nussbaum, Martha (2002): Für eine aristotelische Sozialdemokratie. Essen. Bemerkenswert ist hier die Verwendung des Begriffs „social goal“, wobei es nicht nur definitorisch, sondern auch programmatisch sehr bedeutsam ist, die Wortverwendung zu klären. In Frontiers of Justice (2006, S. 71) spricht Nussbaum davon, dass es sich bei der Befähigung um ein „social goal“ handle, an anderer Stelle benutzt sie Wörter wie „society“, „public policy“ bzw. „public political arrangement“ (2006, S. 193). Für die hier vorgeschlagene Handlungstheorie Sozialer Arbeit ist deshalb ‚das Soziale’ definitorisch zu bestimmen, wofür sich folgende Varianten anbieten: (a) Das Soziale

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stood in terms of getting citizens above this capability threshold“32 und weiter: The capabilities approach is not intended to provide a complete account of social justice. It says nothing, for example, about how justice would treat inequalities above the threshold. It is an account of minimum core social entitlements, and it is compatible with different views about how to handle issues of justice and distribution that would arise once all citizens are above the threshold level“33. In diesem Sinne sind Capabilities für Nussbaum „answers to the question, ‚What is this person able to do or to be? In other words, they are what Sen calls ‚substantial freedoms, a set of (usually interrelated) opportunities to choose and to act. To make the complexity of capabilities clear, I refer to these ‚substantial freedoms as combined capabilities [kursiv im Original]34. Instruktiv für die Handlungstheorie, die hier ins Auge gefasst wird, ist die Unterscheidung zwischen Capabilities und Functionings, wobei erstere die tatsächlichen Möglichkeiten35 darstellen, die dann, nach eigener Präferenz, von den Subjekten in verschiedene Tätigkeiten (Functionings) umgewandelt werden. Zu den Capabilities (in der dt. Übersetzung „Fähigkeiten“) zählen zum einen jene von Nussbaum als „external capabilities“ bezeichneten Entitäten. Meines Erachtens wären sie treffender als ‚Capacities‘ (Kapazitäten, Daseinsressourcen etc.) zu konzipieren, weil man ansonsten der Gefahr unterliegt, sie als ‚Abilities‘, das heißt als individuelle Fähigkeiten, misszuverstehen36, wobei diese von Nussbaum als „internal capabilities“ bezeichnet werden. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass diese ‚Capacities‘ im gesellschaftlichen Raum, in Lebenswelt und Gemeinschaft der Menschen sowie in Funktionssystemen vorzufinden sind

32 33 34 35

36

könnte in der Gesellschaft als öffentliche Sphäre für die jeweiligen Institutionen stehen und damit im Sinne der Systemtheorie Luhmanns als funktionell differenziertes System im Allgemeinen oder (b) im politologischen Sinne als verfasster Staat/Regierung/Verwaltung und schließlich auch (c) als Zivil- oder Bürgergesellschaft verstanden werden. Nussbaum (2006), a.a.O., hier S. 71. Nussbaum (2011), a.a.O., hier S. 75. Ebd. hier S. 20 f. Anders als das selbst gewählte Etikett ‚liberal‘ vermuten lässt, ist der Capabilities Ap­ proach, zumindest bei Martha Nussbaum, dem Grunde nach stärker ‚sozialdemokratisch‘, was sie in ihren früheren Publikationen auch betonte und zwar in dem Sinne, dass es nicht nur um Freiheit gehe, Chancen ergreifen zu können, sondern gleichzeitig auch um die reale Möglichkeit, diese ergreifen zu können bzw. zur Verfügung zu haben. Die jüngere Entwicklung bzw. Nussbaums Entscheidung, den Capabilities Approach stärker innerhalb des Politischen Liberalismus zu verorten, tut m. E. dem Argument, dass es eine starke Idee des Guten gebe und diese vom Staat zumindest als Richtung zu verwirklichen gelte, keinen Abbruch. Fast durchgängig werden „Capabilities“ in den deutschen Übersetzungen der Publika­ tionen Nussbaums (1999, 2010) als „Fähigkeiten“ und der damit korrespondierende Begriff der „Functionings“ als „Tätigkeiten“ übersetzt.

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und erst durch aktive Subjektivierung zu genutzten oder nichtgenutzten Potentialen werden. Nussbaum unterscheidet zwischen „internal capabilities“ und „combined capabilities“, wobei letztere das Ergebnis des Zusammenwirkens individueller Kapazitäten (Persönlichkeitseigenschaften, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, körperlichen Merkmalen, Gesundheit etc.) und externer Kapazitäten (aus der politischen, sozialen und ökonomischen Umwelt) darstellen37. Anders als dieses zweistufige Modell von Capabilities und Functionings vermuten lässt, muss man bei genauerer Betrachtung davon ausgehen, dass Nussbaums Theorie eine dritte, sehr basale Stufe enthält, die sie in früheren Schriften38 noch als Grundfähigkeit beschrieb, die aber auch 2006 und 2011 noch vorkommt: „First of all, the notion of human nature in my theory is explicitly and from the start evaluative, and, in particular, ethically evaluative: among the many actual features of a characteristic human form of life, we select some that seem so normatively fundamental that a life without any possibility at all of exercising one of them, at any level, is not a fully human life, a life worthy of human dignity, even if the others are present. If enough of them are impossible (as in the case of a person in a persistent vegetative state), we may judge that the life is not a human life at all, any more. Then, having identified that (extreme) threshold, we seek a higher threshold, the level above which not just mere human life, but good life, becomes possible. [kursiv im Original]“39. Diese Beschreibung eines ‚extremen‘ Schwellenwertes suggeriert also, dass dieser – was die subjektiven, vor allem aber die kognitiven Fähigkeiten anbelangt – überschritten sein muss, um darauf aufbauend nach weiteren Schwellenwerten für ein gutes Leben zu suchen. Im Umkehrschluss bedeutet dies zunächst, dass menschliches Leben unterhalb dieser Grenze nicht mehr von Anstrengungen um Gerechtigkeit erreicht werden kann, sondern dieses Leben dann so geschützt werden muss, dass es eine würdevolle Existenz ist. Die philosophisch notwendige und gemeinhin akzeptierte Vorstellung von Personalität als Abhängigkeit von einer vorhandenen Urteilskraft des Menschen kann aber auch – will man diese Formulierung so verwenden – zu einer Abstufung menschlichen Lebens führen, 37

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In früheren Schriften (z.B. 1999) nutzte Nussbaum die Begriffe „interne Fähigkeiten“, „externe Fähigkeiten“ und „Grundfähigkeiten“, die später zum Teil in anderen Begriffen aufgehoben werden, wobei diese Trias nur „verschleiert“ wird, da später nur noch die beiden ersten benannt werden, ohne jedoch die grundlegenden Fähigkeiten, die philosophisch gesehen nur Personen zugesprochen werden (Identität, Urteilskraft), aufzugeben. Die 1987 im Rahmen der WIDER Working Papers veröffentlichte Arbeit Nussbaums diente als Grundlage für die deutsche Übersetzung (1999). In diesem Papier definiert sie die Grundfähigkeit (Basic Capability) wie folgt: „A person is B-capable of function A if and only if the person has an individual constitution organized so as to A, given the provision of suitable training, time, and other instrumental necessary conditions.“ (Nussbaum 1987, S. 27.) Nussbaum (2006), a.a.O., hier S. 181.

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bis hin zu der meines Erachtens unglücklich gewählten Formulierung, dass es sich dabei nicht mehr um menschliches Leben handelt („not a human life at all, any more“)40. Um dem oft geäußerten Paternalismusvorwurf zu begegnen, betonen Sen und Nussbaum mehrfach, dass im konsequent liberalen Sinne ihres Ansatzes kein Zwang zur Nutzung der Capabilities vorgesehen ist, ja diese vielmehr auch nicht gewählt werden können. Nur wenn sie in einer konkreten Art und Weise genutzt werden, ergeben sich spezifische „Functionings“ (in der deutschen Übersetzung „Tätigkeiten“, wobei die ‚Seinszustände‘ dabei außer Acht geraten), also eine individuell ganz spezifische Lebensweise: „Functionings are beings or doings that are the outgrowths or realizations of capabilities.“41 Der zehn „central capabilities“ umfassenden Liste Nussbaums42 liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen mindestens über die Möglichkeit verfügen müssen, diese Capabilities zu entwickeln bzw. zu nutzen. Dabei sei weniger Gleichheit in der quantitativen Verteilung dieser Ressourcen anzustreben, ja es wird sogar konsequenterweise eine ungleiche Verteilung propagiert, womit dann auch Verteilungsfragen aufgeworfen sind. Vielmehr gehe es um Gleichheit in der Qualität der Ressourcennutzung, was in bestimmten Fällen auch bedeuten könne, dass zum Beispiel behinderte Menschen oder andere benachteiligte Gruppen temporär oder dauerhaft mehr dieser Ressourcen benötigten, um eine gleichwertige Realisierung ihres Lebensentwurfes zu erreichen. Gesellschaftlicher und persönlicher Möglichkeitsraum

In einer zur Sozialen Arbeit passenderen Terminologie und angesichts der oben angedeuteten Übersetzungsprobleme von Capabilities und Functionings schlage ich vor, von persönlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten bzw. entsprechenden Möglichkeitsräumen zu sprechen, wobei davon ausgegangen wird, dass es für analytische Zwecke besser ist, externe Bedingungen (external capabilities) von internen, personenbezogenen Faktoren (internal capabilities) zu trennen, anstatt sie im Begriff der „combined capabilities“ zu vereinen, wie es Nussbaum jüngst präferiert43. Der persönliche Möglichkeitsraum wird also

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41 42 43

Vgl. zu den schwierigen Implikation der Unterscheidungen von Menschen und Personen (als einer Teilgruppe der Menschen) die umstrittene Position des australischen Philosophen Peter Singer (1994): Praktische Ethik. Stuttgart. Zur Diskussion dieser Arbeit: Wertgen, Alexander (2009): Zwischen Empörung und Hilflosigkeit. Zur Kritik deutschsprachiger Sonderpädagogen an der moralphilosophischen Position Peter Singers. Müns­ ter. Zu einer hilfreichen Alternative: Brumlik, Micha (2004): Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Berlin. Nussbaum (2011), a.a.O., hier S. 25. Nussbaum (2006), a.a.O., hier S. 76 f. Vgl. Nussbaum (2011), a.a.O., hier S. 20.

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analog der internal capabilities (nicht der basic capabilities44) verstanden. Im Folgenden sollen diese beiden Räume ausgelotet werden, ein Schwerpunkt wird hierbei auf die persönlichen Möglichkeitsräume gelegt, was keine Geringschätzung der gesellschaftlichen Möglichkeitsräume bedeutet. Beginnt man mit dem gesellschaftlichen Möglichkeitsraum, der hier auf der einen Seite im Sinne von Weltaneignungsmöglichkeiten und auf der anderen Seite im Sinne von Weltaneignungsbarrieren verstanden wird, so zeigt sich, dass erstere Chancen bieten für eine daseinsmächtige Lebensführung, die wiederum subjektiv zu nutzen sind, und letztere eine diesbezügliche Lebensführung durch ihren limitierenden oder restriktiven Charakter behindern. Weltaneignungsmöglichkeiten bestehen etwa in einer ausreichenden Ressourcenausstattung, die – wie bereits erwähnt – durchaus im interpersonellen Vergleich bei angestrebtem gleichem Niveau der Lebensführung sehr unterschiedlich ausfallen kann. Genügend Einkommen zu haben, eine sichere, gesunde Wohnumgebung bzw. eine ausreichend große und komfortable Wohnung zu besitzen, bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, gleiche Rechtsansprüche, interpersonelle und staatliche Anerkennung zu erfahren und viele andere Ressourcen dienen der daseinsmächtigen Lebensführung. Wo die Weltaneignung aber durch mangelnde Ressourcen limitiert ist, wird die Lebensführung zwar nicht komplett verhindert (was angesichts der oben genannten anthropologischen Notwendigkeit, sein Leben führen zu müssen, auch nicht anders denkbar ist), aber doch im Sinne eines guten Lebens, etwa entlang der Nussbaum’schen Kategorien, erheblich gefährdet. Dem Staat bzw. den Gemeinschaften kommt dabei die Aufgabe zu, die entsprechenden Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, um Menschen ein Leben mindestens über einem definierten Mindestmaß der Capabilities zu ermöglichen. Sorge spielt deshalb als politisches Merkmal eine große Rolle und weniger, wie in anderen Moraltheorien, der Egoismus der Menschen. Betrachtet man den persönlichen Möglichkeitsraum, dem meines Erachtens. in der Sozialen Arbeit – jenseits üblicher individualpsychologischer Theorien und diese transzendierend – bislang zu wenig Beachtung in der Gerechtigkeitsfrage geschenkt wurde, so eröffnet sich eine Perspektive auf die Begrenzungen der handelnden Subjekte. Jenseits der oben gestreiften Schwierigkeiten im Umgang mit der ganz basalen Fähigkeit von Menschen, als Personen ‚urteilskräftig‘ zu sein, was zum Beispiel aufgrund schwerer geistiger Behinderung oder anderer psychischer Störungen nicht oder (vorübergehend) nicht mehr der Fall sein kann45, stellt sich nämlich noch grundsätzlicher die Frage nach der Rationalität aller Menschen. Eigentlich geht es dabei um einen umfassenderen Ver44 45

Vgl. Nussbaum, Martha (1987): Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution. WIDER-Working Papers. World Institute for Development Economics Research of the United Nations University. Helsinki. Hier S. 27. Vgl. Brumlik, Micha (2004): Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Berlin.

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nunftbegriff, der eine Fähigkeit beschreibt, eine gute Wahl treffen zu können. Als eines der bislang unbearbeiteten und damit ungelösten theoretischen Probleme innerhalb der Wissenschaft Sozialer Arbeit gilt es also, dieses ‚Rationalitäts-Vernunft-Problem‘ stärker in den Blick zu nehmen46. Die vom Capabilities Ap­proach (insbesondere in der Lesart Sens) gelieferte Unterscheidung von Rational-Choice und Social-Choice soll hier auf die Subjektperspektive angewandt werden47. Denn das ‚Zur-Verfügung-Haben‘ von Ressourcen, um bestimmte Functionings auszubilden, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist jene des diese Ressourcen nutzenden Subjekts bzw. dessen Möglichkeiten zur Ressourcentransformation. Dass diese Ressourcentransformation an sich keine rein individuelle Leistung darstellt, sondern sehr stark sozial geprägt ist, betonen Sen und Nussbaum, wenn sie das Konzept der „adaptiven Präferenzen“ bemühen, um zu zeigen, dass die Tätigkeiten/Seinszustände („doings“ und „be­ ings“), die das Individuum anstrebt, sehr von kulturellen und sozialen Werten und Normen bestimmt sind. Deshalb ist es eine Form der Solidarität, die Wahl des guten Lebens in einem öffentlichen Diskurs (Social-Choice) zu unterstützen bzw. die Menschen dazu zu befähigen, die richtige Wahl zu treffen (unter anderem durch Bildung). So gewänne jedes einzelne Subjekt im besten Falle mehr Souveränität in seinen Urteilen, als wenn es – einem simplen Rationalitätsmodell folgend – durchaus effektiv und kurzfristig erfolgreich, aber mittelund langfristig schädliche Entscheidungen träfe. Mit Holzkamp48 ist damit die Möglichkeit gegeben, so etwas wie ‚Selbstfeindschaft‘ zu verhüten oder, wie es Winkler versteht: einen „absoluten Modus der Differenz“49. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu einer staatlichen Politik der Sank­ tionierung (positiv wie negativ) von Handlungen, ein gutes Leben zu gefährden oder zu ermöglichen. Zu erinnern ist allerdings daran, dass die Einflussnahme immer gemessen werden muss am Ideal der Gerechtigkeit als Freiheit, die eine Mitte darstellt von freiheitlicher Selbstbestimmung und verantwortungsvoller Sorge, aber im Ausdruck eines starken Paternalismus50.

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Vgl. Rothermund, Klaus (Hrsg.) (2003): Gute Gründe. Zur Bedeutung der Vernunft für die Praxis. Stuttgart. Zu weiteren Einschränkungen des persönlichen Möglichkeitsraums siehe Röh (2013), a.a.O., hier S. 182–205. Holzkamp, Klaus (1985): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt am Main/New York. Hier S. 324. Winkler, Michael (1988): Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart. Hier S. 153. Vgl. zum Begriff des starken und des schwachen Paternalismus sowie weiterer Klärungen Zude, Heiko (2010): Paternalismus. Fallstudien zur Genese des Begriffs. München und zur Problematik betreuungsrechtlicher Eingriffe: Krüger, Michael (2012): Wille, Wohl und Anerkennung. Eine subjektorientierte Auseinandersetzung mit Grundkategorien der rechtlichen Betreuung. Köln.

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Subjektive Handlung und gesellschaftliche Struktur – ein systemisches Verständnis

Die bisherigen Ausführungen orientierten sich sehr stark am Capabilities Approach, vor allem entsprechend der Lesart Martha Nussbaums, und sollen im Folgenden als Grundlegung für eine Theorie menschlicher Handlungsfähigkeit in sie umgebenden sozialen Strukturen genutzt und die Grundgedanken weiter ausgearbeitet werden. Damit ist keine Kritik am Capabilities Approach an sich verbunden, sondern vielmehr der Versuch, diese noch stärker als bislang geschehen ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen‘, womit schließlich eine Handlungstheorie als Rahmung Sozialer Arbeit skizziert werden soll. Ebenso wenig wie Menschen ihrer begrenzten Rationalität hilflos ausgeliefert sind, sondern sie verändern können, so wenig sind sie auch den sozialen Strukturen um sie herum hilflos ausgeliefert. Menschen sind weder ferngesteuerte, willenlose Roboter einer sie gängelnden und steuernden Umwelt noch sind sie natürlich völlig frei von dieser Umwelt. Ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Begrenzungen hinsichtlich ihrer Lebensführung hängen eng mit den Möglichkeiten und Begrenzungen der Umwelt zusammen, können aber von ihnen transzendiert werden. Daher ist der hier verwendete Begriff der Lebensführung weder festgelegt auf die vollkommene Freiheit einer ‚Bastelbiografie‘ bzw. einer individualisierten und pluralisierten Existenz in der entgrenzten Welt, in der alles möglich ist, noch ist er festgelegt auf die klare Bestimmung und Funktionalität des Menschen in starren Strukturen. Alles in allem muss man für die Frage nach dem Verhältnis von Handlung und Struktur ein komplexes Wechselverhältnis zwischen Person und Umwelt konstatieren, das zwei Betrachtungsweisen eröffnet: Erstens sind Menschen als Kulturwesen mit der Kontingenz der Möglichkeiten in ihrem Leben konfrontiert und müssen diese als Lebensaufgabe bewältigen. Dabei sind sie wie keine anderen Lebewesen darauf angewiesen, ihr Leben aktiv und selbstbewusst führen zu müssen. Aristotelische Erkenntnisse lehren uns, dass menschliches Handeln angesichts manchmal begrenzter Rationalität und allgemeiner Kontingenz bzgl. der Handlungsfolgen nicht immer ‚erfolgreich‘ sein muss, aber dass gerade in dieser Unbestimmtheit die große Herausforderung liegt. In ähnlicher Weise äußert sich auch Marquard, wenn er daran erinnert, dass Menschen – entgegen einer postmodernen Lesart des Menschen als ‚Objekt seiner eigenen Wahl‘ – immer auch mit von ihnen nicht zu steuernden Widerfahrnissen zurecht kommen und sich daher auch mit ihnen arrangieren müssen – ja, dass Menschen vielleicht sogar stärker durch diese als durch ihre aktive Leistung geprägt werden51.

51

Vgl. Marquard, Odo (2003): Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart. Hier S. 273.

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Gleichzeitig ist, zweitens, diese Aufgabe durch strukturelle Begrenzungen limitiert, die durch menschliche Handlungen selbst, aber auch durch sozial produzierte Macht- und Strukturmuster, durch die Ausformung bestimmter machtförmiger Sozialbeziehungen, durch verinnerlichte Begrenzungen und ‚Selbstfeindschaften‘ oder dysfunktionale Handlungsweisen produziert wurden. Gesellschaftlichen Strukturen ist somit eine Art Widerstand inhärent, den es innerhalb einer auf Gerechtigkeit abzielenden Handlungstheorie Sozialer Arbeit ebenfalls zu beachten gilt. Diesen Widerstand zeigen vor allem die sozialen Systeme mit ihren jeweiligen Inklusionsregeln. Menschliches Handeln bewegt sich somit im Kontinuum von strukturellen Grenzen und kontingenter Zukunft einerseits und den aktiven Potenzialen der Daseinsmächtigkeit andererseits. Diese Erkenntnisse bleiben nicht ohne Folgen für ein Handlungsverständnis Sozialer Arbeit, da die Profession vornehmlich mit den begrenzten, dysfunktionalen und behindernden Möglichkeiten sowie mit fehlenden Ressourcen, Fähigkeiten und persönlichen Möglichkeiten konfrontiert ist und weniger mit ausreichender Daseinsmächtigkeit. Mit Hilfe eines systemischen Modells, welches gleichermaßen den persönlichen Möglichkeitsraum wie auch den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum in den Blick nimmt und an den Wechselwirkungen zwischen beiden ansetzt, kann Soziale Arbeit die alte Dichotomie von Subjekt- im Gegensatz zu Strukturverantwortung überwinden.

 

gesellschaftliche   Möglichkeiten  

(external  Capabilities)  

aktuelle  Passung   Soziale  Arbeit  mit   Einfluss  auf   Daseinsmächtige   Lebensführung  

subjektive    Möglichkeiten  

(internal  Capabilities)  

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Exkurs: Handlungsfreiheit in gegebenen Strukturen – ein Gerechtigkeitsthema?

Wenn sich also, wie ich an anderer Stelle52 ausführlicher herausgearbeitet habe, von einer „Freiheitslücke“53 zwischen „Capabilities“ – als dargebotenen Realisierungschancen eines guten Lebens – und daraus erwachsenen „Functionings“ – als tatsächlicher Realisierung dieser freien Personen in einer spezifischen Art und Weise (also auch der Nicht-Realisierung) – ausgehen ließe, dann wäre meines Erachtens damit ein Teilausschnitt sozialarbeiterischer bzw. sozialpädagogischer Aufgaben umschrieben, der auch das subjektive Handeln als Gerechtigkeitsthema thematisiert. Frei-willig oder Unfrei-willig?

In vielfacher Weise ist der Sozialen Arbeit die Klärung einer zentralen Frage aufgegeben, die bislang eher strittig diskutiert wurde: Sind Menschen eher Opfer gegebener sozialer Strukturen oder selbständige Akteure mit Willen und Verantwortung für ihr Tun, oder kann diese Frage gar nicht solipsistisch beantwortet werden? Wenn wir Handlung und Struktur gegenüberstellen und entweder behaupten, Menschen hätten einen Willen und damit auch eine Möglichkeit der Handlungssteuerung oder behaupten, dass sie mehr oder weniger entweder von biologischen, sozialisatorischen, ökonomischen, kulturellen oder politischen Strukturen ‚gesteuert‘ werden, dann rückt das Verhältnis von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in den Fokus. Handeln Menschen aufgrund ihres freien Willens? Worin besteht dieser freie Wille und wo ist er begrenzt? Und in welcher Beziehung steht dies zur Gerechtigkeit? In aristotelischer Lesart ist überhaupt nicht klar, ob – selbst wenn Menschen mit einem Willen ausgestattet sind – dieser Wille eine Handlung vollständig determiniert oder bis zu welchem Grad. Eins jedoch scheint sicher: „Unfreiwillig scheint zu sein, was durch Gewalt oder Unkenntnis geschieht“54. Also immer dann, wenn eine äußere Instanz mich zu etwas ‚zwingt‘ oder ich es nicht besser weiß, handele ich unfreiwillig und bin damit auch nicht primär verantwortlich. Komplizierter wird es schon, wenn man die Annahme hinzufügt, dass sich je52

53 54

Vgl. Röh, Dieter (2011): „… was Menschen zu tun und zu sein in der Lage sind.“ Befähigung und Gerechtigkeit in der Sozialen Arbeit: Der capability approach als integrativer Theorie-rahmen?!, in: Mührel, Eric; Birgmeier, Bernd (Hrsg.): Theoriebildung in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 103–122. Vgl. in ähnlicher Weise Leßmann, Ortrud; Otto, Hans-Uwe; Ziegler, Holger (2011): Closing the Capability Gap. Renegotiating social justice fort he young. Opladen/Farmington Hills. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1110 A1; verwendete Ausgabe: Aristoteles (2000): Die Nikomachische Ethik. Mit einer Einführung und Erläuterung von Olof Gigon. München.

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mand diesem äußeren Druck beugt oder sich sogar dafür entscheidet, diesem äußeren Einfluss zu folgen, wenn also die Entscheidung selbst zum Ursprung der Handlung wird. Dabei ist zu beachten, dass mit dem Zwangsargument nicht nur die direkte oder autoritäre Beeinflussung von außen gemeint sein kann, sondern auch die indirekte Beeinflussung, die meine Wahlmöglichkeiten verengt. Wenn ich zum Beispiel als obdachloser Mensch zwischen einem Diebstahl von Lebensmitteln und starkem Hungergefühl wählen sollte, würde ich mich mangels anderer Alternativen wohl für den Diebstahl entscheiden. Objektive Beobachter würden mir allerdings die Verantwortung für mein Verhalten zusprechen, obwohl die dahinterliegenden Gründe nicht vollständig durch meinen freien Willen determiniert waren, hier beispielsweise durch die Absenz legitimer alternativer Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Es bleibt aber auch hier das Problem bestehen, dass der Grund für eine illegitime Handlung eventuell außerhalb meiner selbst liegt, die Handlung jedoch weitgehend durch meine Entscheidung bestimmt und mir als handelndem Subjekt auch zugerechnet wird. Desweiteren ist auch das Unwissenheitsargument nicht unproblematisch, denn auch wenn sich in unserem Beispiel die obdachlose Person keiner anderen (legitimen) Mittel bewusst ist, wird sie sich doch nicht in Unkenntnis wägen, dass mit ihrer Handlung eventuell eine Schädigung anderer oder eine Straftat einhergeht. Diese Kenntnis hat sie entweder aus einem moralischen Empfinden, sozialen Werten oder aus normativen (gesetzlichen) Bestimmungen über Konsequenzen des Ladendiebstahls gewonnen. Sollte damit Reue oder ein Schuldbewusstsein verbunden sein, könnte man nach Aristoteles allerdings wiederum von einer unfreiwilligen Handlung sprechen. Weiterhin wäre es in einem moralischen Sinne nicht unbedingt schlecht, den Ladendiebstahl zu begehen, wenn es nicht aus Gier oder einem gewissen Affekt (absichtliche Schädigung des Ladenbesitzers aus Zorn über dessen Art des Umgangs mit Obdachlosigkeit) geschieht. Bereits diese wenigen Erörterungen lassen deutlich werden, wie schwierig eine ‚objektive‘ Bestimmung von Freiwilligkeit, Verantwortung und Zurechenbarkeit ist und wie daher zwischen dem ‚Phänotyp‘ des offensichtlichen Verhaltens und dem ‚Genotyp‘ der dahinterliegenden sozialen und psychischen Mechanismen unterschieden werden sollte. Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung

Mit ‚(Un-)Frei-Willigkeit‘ eng assoziiert sind die Begriffe der ‚Selbstbestimmung‘ und dessen Antonym ‚Fremdbestimmung‘. Wer sagt, ‚über sich selbst bestimmen‘ zu können, geht also davon aus, autonom, also nach eigenen Gesetzen (auto=selbst; nomos=Gesetz) zu handeln, mithin also ‚frei-willig‘. Wie aus den vorherigen Erörterungen ersichtlich, ist dieses Verständnis jedoch in weiten Teilen nicht haltbar und stellt wohl eher eine soziokulturelle Konstruktion im Zuge der Individualisierung moderner Gesellschaften als eine anthropologische Wirklichkeit dar. Diese Wirklichkeit lehrt nämlich, dass Selbstbestimmung und

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Sozialität sich wie Hintergrund und Bild zueinander verhalten, das heißt Menschen sind nicht vollständig autopoietisch, sondern vielmehr auch dependent – also von anderen Menschen, von der physikalischen, biologischen, sozialen und kulturellen Welt abhängig. Der autonome Einzelne ist ein Bild, das sich nur vor dem Hintergrund des zoon politicon, des sozialen Wesens Mensch, abzeichnet. Die soziale Umwelt beeinflusst in Wechselwirkung mit unserem Tun unsere Identität als selbstbestimmtes Wesen, sie fördert oder hindert diese Selbstbestimmung und setzt ihr zum Teil legitime, zum Teil illegitime Grenzen. Selbstbestimmung ist somit nicht als Wert an sich zu verstehen, sondern steht immer im Spannungsfeld zu der Freiheit des anderen, zur sozialen Verantwortung, und findet zugleich hierin auch eine Begrenzung. Gleichzeitig steht Autonomie als Emanzipationsergebnis spätestens seit der philosophischen Aufklärung und dem politischen Liberalismus für einerseits die Unabhängigkeit von fremder Führung (durch Kirche, König und Staat) und andererseits im Kant’schen Sinne für die Verantwortung, das eigene Wollen immer auch dahingehend vernünftig zu prüfen, ob es zu einem allgemeinen Gesetz werden solle. Im existenzialistischen Sinne fördert dies die Pflicht zu einem selbstbestimmten, zumindest aber zu einem vernünftigen Leben, in dem die Subjekte, wenn schon nicht frei, so doch zumindest reflektiert über ihre Entscheidungen nachdenken sollten und somit ihre Selbstbestimmung mit der Abhängigkeit von anderen korrelieren: Was kann oder soll ich tun, was anderen – wenigstens – nicht schadet? „Glückliche Fügung“ und Kontingenz

Doch nicht nur die schwierige Frage nach dem Verhältnis von autonomen Entscheidungen und sozialen Kontexten bleibt ein Stück weit vage. Auch ist zudem auf ein den Wechselfällen des Lebens angemessenes Handlungs-Struktur-Verständnis zu verweisen, um die Möglichkeiten menschlicher Handlungen nicht allzu übersteigert als immer ‚glückend‘, ‚erfolgreich‘ und ‚produktiv‘ anzunehmen und stattdessen auch die Schicksalshaftigkeit und Zufälligkeit einer scheinbar vernünftigen Lebensweise zu konstatieren. Aristoteles sah beispielsweise die ‚glückliche Fügung‘ als Einflussfaktor auf das Glück, indem er einerseits Tugend nicht als isoliert-absolute Eigenschaft im platonischen Sinne, sondern als eine Eigenschaft betrachtete, die sich erst in einer bestimmten Situation ‚bewähren muss‘, deren Merkmale der richtige Ort, die Begegnung mit bestimmten Menschen und auch die richtige Zeit (kairos) sind. In der griechischen Tragödie ist der Held auch deshalb ‚heldenhaft‘, weil er vor – zweifelsohne von ihm angenommene – Aufgaben heroischer Tragweite gestellt wird, und dies häufig genug durch ‚göttliche‘ Fügung. Ob dabei etwas Gutes entsteht, kann häufig erst im Nachhinein festgestellt werden, wenn die Fähigkeiten richtig angewandt, richtig geurteilt und dementsprechend gehandelt wurde sowie schließlich die entsprechende Bewährungsprobe diese Verwirklichungschance auch hervorrufen muss. Fähig zu sein wäre demnach nur die notwendige Bedingung und diese

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Fähigkeiten günstig und zum richtigen Zeitpunkt angewandt zu haben, dann die hinreichende Bedingung für eine ‚glückliche Tat‘. Eine bestimmte Situation kann meine Tugendhaftigkeit also fördern oder eben auch verhindern, kann mir eine günstige Gelegenheit verschaffen, mich zu beweisen, oder eben auch nicht. In diesem Sinne sind meines Erachtens auch die „combined capabilities“ Nussbaums zu verstehen, die im Lichte dieser fast stoischen Relativierung in ihrer Zwangsläufigkeit ein wenig entschärft werden und damit auch der Paternalismusvorwurf, der häufig die Möglichkeit, etwas zu tun, mit der Notwendigkeit des Eintretens dieser Handlung gleich stellt. Der bereits erwähnte Fall der obdachlosen Person, die erwägen muss, ob sie zur Stillung des Hungergefühls den Ladendiebstahl begeht, ist insofern nun neu zu bewerten, als die situativen Faktoren (also etwa die Gelegenheit zum Diebstahl) in die Interpretation hineinspielt. Trotzdem wird die ausgeführte Handlung in den allermeisten Fällen der handelnden Person zugerechnet, denn „im Augenblick, in dem sie [die Handlungen, Anm. D.R.] ausgeführt werden, entscheidet man sich für sie.“55 Schließlich bleibt auch in der Anwendungsnotwendigkeit die Möglichkeit des Scheiterns oder auch der schicksalhaften Fügung zum Schlechten, wie sie in der griechischen Tragödie häufig durch die göttlichen Eingriffe bestimmter Mächte repräsentiert sind. Handlung und Zufall erzeugen somit in gewisser Weise erst gemeinsam ein glückliches Ergebnis. Schlussfolgerungen für eine Handlungstheorie der daseinsmächtigen Lebensführung als Weg zu mehr Gerechtigkeit

Daseinsmächtigkeit wird als das Leitbild einer die Befähigung der Subjekte und die Veränderung der Umwelt umfassenden systemischen Betrachtung von handelnden Subjekten in sie beeinflussenden Strukturen gefasst und damit als das Produkt einer Gerechtigkeit, die persönliche und gesellschaftliche Möglichkeitsräume miteinander verknüpft. Die daraus sich ergebende Funktionsbestimmung Sozia­ler Arbeit kann folgerichtig als die bifokale Unterstützung der daseinsmächtigen Lebensführung durch Stärkung subjektiver Handlungsfähigkeit und Bildung befähigender Strukturen charakterisiert werden. Mit ihrer Expertise für die Zusammenhänge zwischen Handlung und Struktur, zwischen Person und Umwelt und schließlich zwischen Verhalten und Verhältnissen ist Soziale Arbeit die Instanz zur Unterstützung von Lebensführung. Ihr Ziel ist es, gerechte, weil befähigende Strukturen zu bilden und gleichsam die subjektive Lebensführungskompetenz zu stärken. Durch eine im besten Falle Erweiterung der gesellschaftlichen Möglichkeiten und der persönlichen Kompetenzen wird so das Ziel einer selbstbestimmten, daseinsmächtigen Lebensführung angestrebt. Gleichzeitig kann es mithilfe einer solchen

55

Nikomachische Ethik, 1110 A10. Verwendete Ausgabe: Aristoteles (2000): Die Nikomachische Ethik. Mit einer Einführung und Erläuterung von Olof Gigon. München.

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Handlungstheorie gelingen, den sozialwissenschaftlichen ‚Mikro-Makro-Gap‘ zu schließen.56 Es wird dafür plädiert, das teilweise ambiguine Spannungsverhältnis von sozialen Strukturen und subjektiver Handlung auszuhalten und produktiv zu wenden. Dabei kann eine für Gerechtigkeit und das gute Leben sich einsetzende Soziale Arbeit nicht umhin, die gegebenen sozialen Strukturen und Prozesse, die eine daseinsmächtige Lebensführung von Einzelnen, Gruppen oder Gemeinschaften behindern, zu kritisieren. Sie muss ein klares Verständnis eines guten Lebens entwickeln, das (zumindest) garantiert wird und das dann von den Subjekten aktiv aufgenommen und angestrebt wird. Deshalb kann sie auch nicht umhin, die durch verschiedene Erfahrungen gewonnene aktuelle Daseinsmächtigkeit von Subjekten dann zu kritisieren, wenn diese sich in einer für sie kurz-, mittel- oder langfristig schädlichen Weise zu ihrer Welt stellen, Ressourcen nicht nutzen oder sie in einer Art und Weise nutzen, die für sie schädlich ist. Sicherlich ist es ethisch wie auch handlungstheoretisch äußerst diffizil und kompliziert, die Grenze zwischen selbstbestimmter und gefährdeter Lebensführung zu definieren, will man nicht doch der Versuchung unterliegen, einem starken Paternalismus das Wort zu reden und sich stark in die Lebensführung der Subjekte ‚einzumischen‘. Doch mit einer ‚laissez-faire‘-Attitüde allein lässt sich das Elend vieler Menschen auch nicht beheben. Ein differenziertes ethisches Konzept des Menschen, das sowohl seine Möglichkeiten als auch seine Begrenzungen kennt, muss also zusammengefügt werden mit einem gesellschaftskritischen Bild der ungleichen und damit ungerechten Güter- und Chancenverfügung. So ergeben sich zwei zentrale Aufgabenbereiche: 1. Die Verbesserung der Handlungsbefähigung von Leistungsberechtigten bzw. von Menschen, die derzeit nicht in der Lage sind, ihre Daseinsaufgaben selbstständig zu lösen, da sie nicht über die entsprechenden tatsächlichen Chancen (Macht, Ressourcen oder Kompetenzen) verfügen. Das klassischerweise als sozialpädagogische Aufgabe zu verstehende Anliegen einer Befähigung und Bildung korreliert dabei mit der sozialarbeiterischen Funktion der Unterstützung in sozio­ ökonomischer bzw. sozioökologischer Hinsicht. 2. Die Kritik der Lebensverhältnisse entlang bestehender Normen, die sich aus sozialpolitischen (aber auch ordnungspolitischen) Grundsätzen ergeben und die die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse bzw. die tatsächliche Nutzung von Lebenschancen verhindern oder erschweren. Dabei muss Soziale Arbeit ihre politische Funktion insofern wahrnehmen, als sie ein Gradmesser für unmenschliche, sozial benachteiligende oder exkludierende Strukturen ist, da sie in der Arbeit mit diesen Menschen deren Lebenslage sehr direkt erkennen kann. Im Sinne von ‚Advocacy‘ ist damit auch die stellvertretende Deutung und 56

Heiner, Maja (2010): Soziale Arbeit als Beruf. Fälle – Felder – Fertigkeiten. München. Hier S.101 ff.

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Artikulation der Situation der Betroffenen verbunden, insofern sie hierzu nicht selbst in der Lage sind oder – wenn sie dazu fähig sind – die Ermöglichung von Wegen, dass sie selbst sprechen und ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen anbringen können. Zu welchen, zugegebenermaßen vereinfachten, Handlungsprämissen führt uns dies abschließend? Ich meine, dass sich Soziale Arbeit auf folgende Imperative beziehen sollte, will sie maßvollen Einfluss auf die Lebensführung von Menschen, auf gerechte Bedingungen dieser Lebensführung und damit insgesamt auf das gute Leben nehmen: • Schaffe und modifiziere solche strukturellen Bedingungen (gesellschaftlicher Möglichkeitsraum), die Menschen eine daseinsmächtige Lebensführung erst ermöglichen. • Ermutige und befähige sie, diese Möglichkeiten mittels kluger Wahl zu ergreifen und zu nutzen (persönlicher Möglichkeitsraum). • Wenn dies nicht auf Anhieb gelingt: Akzeptiere, dass Menschen nicht immer gleich oder aktuell die klügste Wahl treffen, wohlwissend, dass sie ihr menschlich Möglichstes tun, um die richtige Wahl zu treffen und schließlich: • Gib nie auf und versuche stets neu, sie immer (wieder) daseinsmächtiger zu machen! Eingangs wurde formuliert, dass Gerechtigkeit mit Hilfe des Capabilities Ap­ proach im mikro-, meso- und makrosozialen Maßstab verstanden und an der Zielerreichung gearbeitet werden kann. Gerechtigkeit wurde als der Weg beschrieben, Rahmenbedingungen für das gute Leben zu schaffen, wobei der Sozia­ len Arbeit ein doppelter, aber verbundener Auftrag zukommt: Sie ist einerseits konkret mit der Subjekt-Befähigung beschäftigt und muss dabei andererseits auch an der Gestaltung der Strukturen und Lebenswelten der Subjekte mitwirken, um sowohl den persönlichen als auch den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum so zu erweitern, dass mehr Menschen ein gutes Leben unter gerechten Bedingungen leben können und somit daseinsmächtig(er) werden.

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Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben

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Angela Wegscheider

Alternative Sichtweisen auf Behinderung und Gerechtigkeit

Kurzfassung

In diesem Beitrag wird erstens das Phänomen ‚Behinderung‘ in Zusammenhang mit empirischen und normativen Bedeutungen und Auswirkungen dargestellt. Zweitens werden alternative Sichtweisen auf Behinderung und die daraus resultierenden Implikationen für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen erörtert. Betroffene Menschen sind ungleich öfter mit ausgrenzenden rechtlichen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen konfrontiert und verfügen häufiger über einen eingeschränkten Zugang zur gesellschaftlichen Partizipation als nicht-behinderte Menschen. Den Disability Studies zufolge sind in der Gesellschaft je nach Kontext verschiedene Sichtweisen auf Behinderung wirksam. In der moralischen Sichtweise wird Behinderung als ‚schicksalhafte göttliche Prüfung‘ oder als ein moralischer Fehler der betroffenen Person begriffen. Die medizinisch geprägte Sichtweise empfindet Behinderung als individuellen körperlichen Defekt bzw. Fehler, der als abnormal und pathologisch einzustufen ist. Das soziale Modell von Behinderung sieht die Ursache der Behinderung nicht in den individuellen körperlichen Eigenschaften, sondern in bestimmten sozialen Handlungsweisen, Strukturen und Institutionen, die behinderte Menschen ausschließen. Das kulturelle Modell von Behinderung untersucht Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse und sieht Behinderung als Konstrukt von Kultur und Produktionsweisen, die der Konstruktion des idealisierten ‚Normalen‘ ermöglichen. In modernen Gesellschaften, die auf den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität basieren, sei, so das Fazit, die Sichtweise auf Behinderung als ‚schicksalhafte göttliche Prüfung‘ oder als individuelles Defizit zu relativieren und die soziale, kulturelle und politische Perspektive auf Behinderung zu fördern. Diese Forderungen lassen sich vor allem mit gleichberechtigter Teilhabe bzw. durch ein inklusiv gestaltetes Bildungs- und Sozialsystem und die uneingeschränkte Gewährung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen verwirklichen.

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Angela Wegscheider

Einleitung

In einem gemeinsamen Bericht zählen die Europäische Kommission und der Europäische Rat Behinderung zu den dominanten Risikofaktoren für Armut und soziale Ausgrenzung.1 Dennoch wehren sich betroffene Menschen gegen die Darstellung von Behinderung in negativer, aber auch überhöhender affirmativer Weise.2 Dieser Beitrag setzt sich nicht mit den angenommenen oder tatsächlichen Beeinträchtigungen auseinander, sondern erläutert im Lichte der Disabi­ lity Studies verschiedene Auswirkungen als auch alternative Sichtweisen, die den Umgang mit Behinderung beeinflussen. Disability Studies sind eine „sozial- und kulturwissenschaftlich reflexive, aber auch handlungsbezogene und politische Wissenschaft“3 mit explizit emanzipatorischer Zielrichtung, die ihren Untersuchungsgegenstand weniger als medizinisches, sondern als soziales, politisches und kulturelles Phänomen versteht. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die in den 1970er-Jahren in den USA und Großbritannien entstand. Ihre Begründer waren behinderte Studierende und später auch behinderte WissenschafterInnen, die auch gleichzeitig Akti­vistInnen in der Behindertenbewegung waren.4 Die Disability Studies beeinflusste auch, das sollte nicht unbeachtet bleiben, der „cultural turn und die poststrukturalistische Differenzdebatte […], die Entdeckung von Körper, Subjekt und Identität als historische und kulturell geformte Phänomene, die Problematisierung von Diskurs, Wissen und Macht als realitätskonstituierende Strategien“.5 Eine maßgebliche Inspiration der Disability Studies blieb jedoch die wachsende Anzahl an behinderten Menschen, die ihre Unzufriedenheit mit den als ungerecht empfunden Lebensbedingungen artikulierte.6 Ihre Forderungen nach mehr Gerechtigkeit würden sie vor allem durch ein inklusiv ausgerichtetes Bil1 2

3 4 5 6

Vgl. EU (2004): Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates über die soziale Eingliederung. http://ec.europa.eu/employment_social/soc-prot/soc-incl/joint_rep_ de.htm. (06.01.2014) Vgl. Radtke, Peter (2008): Das Bild von Menschen, in: Wegscheider, Angela u.a. (Hrsg.): Lebensbilder. Menschen mit und ohne Behinderung. Linz, S. 113–120. Vgl. Schönwiese, Volker (2008): Bild-Blicke – gesellschaftliche Sichtweisen von Menschen mit Behinderung, in: Wegscheider, Angela u.a. (Hrsg.): Lebensbilder. Menschen mit und ohne Behinderung. Linz, S. 128–136. Schönwiese, Volker (2005): Perspektiven der Disability Studies, http://bidok.uibk.ac.at/ library/schoenwiese-studies.html. (13.01.2014) Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Schönwiese, Volker (2005) Perspektiven der Disability Studies. in: Behinderte in Familie und Gesellschaft (5), S. 16– 21. Waldschmidt, Anne (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, http://bidok.uibk.ac.at/library/waldschmidt-modell. html. (10.01.2014) Vgl. Barnartt, Sharon; Scotch, Richard (2001): Disability Protests. Contentious Politics 1970–1999. Washington D.C. Vgl. Barnes, Colin; Oliver, Mike; Barton, Len (Hrsg.) (2002): Disability Studies Today.

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dungs- und Sozialsystem, welches die ökonomische, kulturelle als auch politische Dimension von Behinderung miteinbezieht, verwirklicht sehen.7 In diesem Beitrag wird zuerst mit Hilfe von normativen und empirischen Befunden auf die Bedeutung/en und Auswirkung/en von Behinderung hingewiesen, um anschließend alternative Sichtweisen auf das Phänomen Behinderung/en und die daraus resultierenden Implikationen für einen ‚gerechteren‘ Umgang mit Behinderung bzw. Menschen mit Behinderungen darzustellen. Bedeutung/en und Auswirkung/en von Behinderung/en

Die Disability Studies gehen davon aus, dass Behinderung in Zusammenhang mit ausgrenzenden rechtlichen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen und im eingeschränkten Zugang zur gesellschaftlichen Partizipation zu sehen ist. Sie meidet die Nennung einer klaren Definition des Phänomens ‚Behinderung‘. Vielmehr entstehen in der Auffassung der Disability Studies in Zusammenhang mit historischen Prozessen als kontingent zu bezeichnende Definitionen von Behinderung, die in bestimmte Diskurse eingebettet sind und die eine bestimmte Bedeutung haben. Die Wahrnehmung von Behinderung ist durch kulturelle Prägungen und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse kultur- und wertgebunden, insofern kann es keinen wertfreien oder objektiven Begriff der Behinderung geben.8 In vielen Gesetzen findet sich sehr häufig ein bio-psycho-soziales Modell von Behinderung wieder. Das Ziel von gesetzlich verankerten Definitionen ist es, den Nationalstaaten zu ermöglichen, jene Personengruppen zu klassifizieren und einzugrenzen, für die die spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Antidiskriminierungsgesetze konzipiert werden. Im Sinne der Disability Studies werden Menschen miteinbezogen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder angenommenen, aber immer als Defizit gedeuteten, Beeinträchtigungen oder Andersheiten in komplexen Benennungs- und Ausgrenzungsprozessen der soziokulturellen Kategorie ‚Behinderung‘ zugeordnet werden. Behinderung stellt in diesem Kontext eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit und kollektiver Identitätsbildung dar und ist somit als soziale Kategorie, wie zum Beispiel Klasse, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit, zu sehen.9 Behinderung ist aber nur bedingt vergleichbar mit sozialwissenschaftlichen Kategorien wie Ethnie und Geschlecht. Behinderung ist eher ein höchst kom7 8 9

Vgl. Dederich, Markus u.a. (Hrsg.) (2013): Behinderung und Gerechtigkeit. Heilpädagogik als Kulturpolitik. Gießen. Vgl. Wegscheider, Angela (2010): Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs. Diss. Linz. Vgl. Bösl, Elsbeth (2009): Dis/ability History: Grundlagen und Forschungstand, in: H-Soz-u-Kult, 07.07.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001. (02.01.2014)

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plexer, unscharfer Oberbegriff, der sich im allgemeinen Sprachgebrauch auf unterschiedliche körperliche, psychische und kognitive Merkmale bezieht, die als gemeinsame Bindeglieder vor allem durch negative Zuschreibungen wie Einschränkung, Hilfsbedürftigkeit, Schwäche und Unfähigkeit zusammengehalten werden.10 Behinderung und Beeinträchtigung sind keine synonym zu verwendenden Begriffe. Das Phänomen ‚Behinderung‘ ist nicht in linearer Weise auf eine dauerhafte Beeinträchtigung, die aus einer Krankheit oder einem Unfall entstanden ist, zurückzuführen. Selbst die WHO hat seit Mitte der 1990er-Jahre die sozial implizierte Dimension von Behinderung gestärkt. In der International Classifica­ tion of Functioning, Disability and Health (kurz ICF), dem WHO-Erklärungsmodell von Behinderung, spielen nun neben der immer noch dominierenden individuellen Beeinträchtigung vor allem die Faktoren Aktivität und Teilhabe (Interaktion mit dem Umfeld) und die Umweltfaktoren (zum Beispiel Einflussnahme auf den Zustand durch die Produktions- und Erwerbssituation) eine wesentlich bedeutendere Rolle. Die ICF wird vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich verwendet, um Behinderung zu diagnostizieren.11 Die 2008 völkerrechtlich in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geht noch einen Schritt weiter und definiert: „Persons with disabilities include those who have long-term physical, mental, intellectual or sensory impairments which in interaction with various barriers may hinder their full and effective participation in society on an equal basis with others.“12 In diesem Menschenrechtsdokument, das unter maßgeblicher Einbindung der Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen entstanden ist, verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Gewährleistung des vollen und gleichberechtigten Zugangs behinderter Menschen zu den allgemeinen Menschenrechten. In der ersten Staatenprüfung (September 2013) zur Umsetzung der Konvention haben die Vereinten Nationen die Republik Österreich 10

11 12

Vgl. Waldschmidt, Anne (2010): Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Bielefeld. S. 13–28. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information/WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen (Hrsg.) (2005): ICF. Einführung (Genf). http://www.dimdi.de. (02.01.2014) United Nations (2008): Convention on the rights of people with disabilities. http:// www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml. (06.01.2014) Österreichische Fassung des Textes: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BGBl. III. Ausgegeben am 23.10.2008 (Nr. 155). Österreich hat die UN-Konvention 2008 ratifiziert, in Deutschland trat sie 2009 in Kraft. Die EU hat den Menschenrechtsvertrag 2010 angenommen. Die Schweiz ist bis dato nicht beigetreten.

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auf zahlreiche Mängel aufmerksam gemacht und Empfehlungen zur Verbesserung ausgesprochen.13 Noch immer ruft das ‚Label‘ Behindert-zu-sein in vielen Menschen, wie auch die Vereinten Nationen für Österreich kritisierten, Bilder einer margina­ lisierten Existenz in der Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft oder Politik auf.14 Der Begriff Behinderung vermittelt, dass etwas nicht adäquat funktioniert, etwas be-hindert – wobei bei vielen Menschen sofort der Körper der betroffenen Person und nicht die Barrieren in der Umwelt, diskriminierende Strukturen und fehlende Ausgleichsmaßnahmen in den Blick genommen werden. Der Blick fällt hier weniger auf Länder des globalen Südens, auf Konflikt­ regionen oder auf sich entwickelnde Länder, wo Beeinträchtigungen durch mangelnde Ernährung und Hygiene, Krankheiten und fehlende medizinische Versorgung, schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen, Kriege oder Naturkatastrophen noch viel häufiger auftreten. 88 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweit leben in den ärmsten Ländern der Welt, die meisten davon in ländlichen Gebieten.15 Mit einer dauerhaften Beeinträchtigung zu leben, ist in Ländern ohne funktionierenden Sozialstaat mit anderen Risiken verbunden, als in den Ländern, die ausgleichende Assistenz- und Sozialleistungen und eine funktionierende Antidiskriminierungsgesetzgebung bereitstellen. Trotzdem bedeutet mit einer Behinderung zu leben, auch in Ländern wie Österreich verstärkt dem Risiko Armut und soziale Ausgrenzung ausgesetzt zu sein.16 Empirische Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit Behinderungen, vor allem Frauen, öfter Opfer von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch werden. Sie finden weit weniger häufig polizeiliche und gesetzliche Unterstützung, ihre Glaubwürdigkeit als Zeuge oder Opfer wird aufgrund der Beeinträchtigung auch angezweifelt.17 Menschen mit Behinderungen sind eher von schulischer Bildung und Ausbildung ausgeschlossen, die es ihnen ermöglichen würden, einen wirtschaftlich erfolgreichen Berufsweg einzuschlagen. Sie werden auch von Mainstream-Institutionen ausgeschlossen und auf segregierende, meist schlechtere Spezialinstitutionen wie zum Beispiel die Sonderschule verwiesen. 13

14 15 16 17

Vgl. United Nations (2013): Concluding observations on the initial report of Austria, adopted by the Committee at its tenth session, 2–13 September 2013. http://www. ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/Session10old.aspx (10.01.2014) Die Prüfung Deutschlands durch die UN ist für das Jahr 2015 geplant. Vgl. Schmahl, Franz (2013): Staatenprüfung Deutschlands, http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/ 27596/Staatenpr%C3%BCfung-Deutschlands.htm. (10.01.2014) Vgl. United Nations (2013): Concluding observations on the initial report of Austria. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Wegscheider, Angela (2009): Armut und Behinderung. Zur Situation von Menschen mit Behinderung in Österreich, in: Blaha, Barbara; Weidenholzer, Josef (Hrsg.): Gerechtigkeit. Beiträge zur Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik. Wien. S. 55–70. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013): Lebenssitua­ tion und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Bielefeld.

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Menschen mit Behinderungen haben deutlich weniger Machtpositionen inne und sind in staatlichen und privaten Führungspositionen unterrepräsentiert. Sie nehmen häufig in der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft eine wirtschaftlich gefährdete und an den Rand gedrängte Position ein. Nicht zuletzt sind sie häufiger von staatlicher Unterstützung abhängig.18 Die WHO geht davon aus, dass ca. 15,6 Prozent der Menschen (über 18 Jahre) mit einer dauerhaften Beeinträchtigung leben, das variiert zwischen 11,8 Prozent in reicheren Ländern und 18,0 Prozent in ärmeren Ländern. Auffällig ist, dass die Häufigkeit im Auftreten von Behinderung trotz medizinischem Fortschritt und Leben im Wohlstand im Steigen begriffen ist.19 Denn interessanterweise erhöhte sich überall auf der Welt (auch in den EU-Ländern) die Zahl der Menschen, die der Kategorie ‚Behinderung‘ zugeordnet werden. Das kann auf die wachsende Zahl an medizinischen, pädagogischen und psychologischen Diagnosen und Krankheitsbildern zurückgeführt werden.20 Aber auch rechtliche Gleichstellung, gesellschaftliche Anerkennung und Angebote ausgleichender Assistenz- und Sozialleistungen führen dazu, dass sich Menschen eher der Kategorie Behinderung zuordnen bzw. zuordnen lassen, da diese Zuordnung aus subjektiver Sicht eher Vorteile und kaum Nachteile für das Leben der betroffenen Menschen nach sich zieht. Die Prävalenz von Behinderung zeigt, dass – obwohl anders angenommen –, viele dauerhafte Beeinträchtigungen im Laufe des Lebens erworben werden, das heißt, nicht angeboren bzw. vorgeburtlich verursacht sind. Eine Erhebung der Ursache zeigte, dass, entgegen der landläufigen Meinung, nur jede fünfte Beeinträchtigung angeboren bzw. bei der Geburt entstanden (17,9 Prozent) ist. 6,8 Prozent der Beeinträchtigungen wurden durch Unfälle im Verkehr, im Haushalt, in der Freizeit und beim Sport, 50,2 Prozent durch chronische Erkrankungen und 18,9 Prozent durch die Berufsausübung erworben (13,3 Pro­ zent durch Berufskrankheit, 5,6 Prozent durch Arbeitsunfälle).21 Besonders vulnerable Gruppen wie Frauen, einkommensschwache oder alte Menschen haben ein höheres Risiko eine dauerhafte Beeinträchtigung zu erwerben.22 Eine andere Erhebung geht davon aus, dass nur 3 Prozent der Beeinträchtigungen vorgeburtlich erworben werden.23

18 19 20 21 22 23

Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. WHO (2011): World Report on Disability. Genf. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Eurostat (Hrsg.) (2003): Beschäftigung behinderter Menschen in Europa 2002. Europäische Gemeinschaft, Thema 3 – 26/2003. Bearbeitet von Dupré Didier und Karjalainen Antti. Luxemburg. Vgl. WHO (2011): World Report on Disability. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London.

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Perspektiven auf Behinderung

Das Phänomen und der Begriff Behinderung wie auch der gesellschaftspolitische Umgang mit Behinderung haben im Laufe der Zeit wie auch gegenwärtig unterschiedliche, oft sogar ambivalente Ausprägungen und Bewertungen erfahren. Die Disability Studies bieten verschiedene Perspektiven auf Behinderung an und machen darauf aufmerksam, dass die herrschende Sichtweise auf Behinderung reduktionistisch ist und selbst wissenschaftliche Diskurse fast immer einhergehen mit gesundheitlichen Auffälligkeiten, Naturalisierungsdiskursen und Marginalisierungsprozessen. Ein Ziel der Disability Studies ist es, zu erforschen wie und warum – historisch, sozial und kulturell – die Gruppe der Menschen mit Behinderungen überhaupt hergestellt und welche Implikationen sich daraus für die betroffenen Menschen ergeben.24 Im Folgenden werden im deutschsprachigen Raum dominierende Sichtweisen, die zugleich den gesellschaftspolitischen Umgang mit Behinderung beeinflussen, dargestellt. Die älteste aller Sichtweisen auf Behinderung und die noch immer weltweit wirksam ist, basiert auf der Idee, dass mit Beeinträchtigungen zu leben im Einklang mit einem göttlichen Plan, mit einem moralischen Fehler, mit einer Sünde oder mit einer Prüfung bzw. Strafe Gottes in Zusammenhang steht. In der Tiroler Tageszeitung (1979) fand Volker Schönweise die Dokumentation einer Unterredung von Papst Johannes Paul II mit „Behinderten“. Er „sprach zu ihnen: ‚Eure Gegenwart ist uns besonders wertvoll, da ihr durch das Kreuz eures Leidens in einer besonderen Weise mit Christus verbunden seid. Indem ihr eure Gebrechen nach dem Vorbild und in der Kraft des leidenden Herrn ergeben annehmt und tragt, werden diese für euch selbst und die Kirche zu einer kostbaren Quelle des Trostes, der Läuterung und der Stärkung des inneren Menschen.‘“.25 Diese moralische Betrachtungsweise ist nicht nur charakteristisch für das christliche Weltbild, sondern trifft grundsätzlich auch auf die anderen Weltreligionen zu. Gesellschaftspolitische oder rehabilitationsorientierte Interventionen sind im Sinne dieser Sichtweise nicht unbedingt nötig, da Behinderung ein von Gott gefügtes und damit gerechtes Schicksal ist, das geduldig und demütig zu ertragen ist.26 Motiviert durch die christlichen Tugenden Barmherzigkeit und Nächs­tenliebe ist aber die Glaubensgemeinschaft zu Spenden aufgerufen, um 24

25 26

Vgl. Waldschmidt, Anne (2010): Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Bösl, Elsbeth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Bielefeld. S. 13–28. Zit. nach Schönwiese, Volker (2013): Wege der österreichischen Behindertenpolitik. Vortrag auf der Tagung Aufbruch/Ausbruch – Baustellen der Gleichstellung, Verein Das Band, am 4.12.2013. Wien. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Löwith, Karl (1983): Sämtliche Schriften 2. Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart.

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damit die sogenannten ‚guten Werke‘ zu unterstützen, mit deren Hilfe man das von Gott auferlegte individuelle Leid zu lindern trachtet. Strukturell hat sich diese Sichtweise auf Behinderung dahingegen ausgewirkt, dass noch heute eine Vielzahl an christlich-karitativ orientierter Organisationen Anbieter von sozialen Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen sind.27 Nicht zuletzt fördert eine ‚milde Gabe‘ das persönliche Seelenheil. In Österreich werden jedes Jahr, vor allem in der vorweihnachtlichen Zeit, Spendenaktionen wie Licht ins Dunkel des Österreichischen Rundfunks (ORF) oder die Aktion OÖ-Christkindl, initiiert von einer österreichischen Regionalzeitung, durchgeführt. Ein Großteil der Spenden wird für Menschen (insbesondere Kinder) mit Behinderungen gesammelt und dabei deren ‚Leidensgeschichte‘ oft ohne Rücksicht auf Privatsphäre berichtet.28 Die medizinisch geprägte Sichtweise empfindet Behinderung ebenfalls als persönliche Tragödie, dabei steht aber der Defekt oder der Fehler im körperlichen System, der als grundsätzlich abnormal und pathologisch einstuft wird, im Vordergrund. Das sich seit der Aufklärung in der Medizin und den rehabiliationsorientierten Wissenschaften etablierende Modell fokussiert auf die Be­ einträchtigung als individuelles medizinisches Problem und als Ursache, die die Person einschränkt. Nicht mehr die moralische Verfehlung, sondern der Vorwurf durch bestimmtes gesundheitsbezogenes Verhalten die Beeinträchtigung verursacht zu haben, steht nun im Raum.29 Als Intervention zielt diese Sichtweise auf therapeutische und medizinische Behandlungen ab, die bestmöglich Heilung, Anpassung oder Kompensierung versprechen.30 Inspiriert werden die Interventionen durch den medizinisch-therapeutischen und technologischen Fortschritt und die Lösungsvorschläge der ProfessionalistInnen und den bevormundend wirkenden Wohlfahrtsstaat, der spezialisierte, aber auch segregierende Lebens- und Arbeitsräume errichtet.31 Dabei wurde als die beste und gerechteste Form der Integration jene von behinderten unter behinderte Menschen gesehen.32 Von den Betroffenen wird erwartet, dass sie sich dem diktierten Heilungsverfahren, den Versprechen auf Rehabilitation ausliefern und sich bestmöglich an die vorgefundenen Strukturen anpassen. Aber seit den 27 28 29 30 31 32

Vgl. Wegscheider, Angela (2010): Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs. Diss. Linz. Vgl. Wegscheider, Angela (2013): Politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen, in: SWS-Rundschau (53/2), S. 216–234. Hier 218. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Waldschmidt, Anne (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie & Gesellschaftskritik (1), S. 9–31. Vgl. Bösl, Elsbeth (2009): Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behinder­ tenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld. Wegscheider, Angela (2010): Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs. Diss. Linz. Vgl. Badelt, Christoph; Österle, August (2001): Sozialpolitik in Österreich. Allgemeiner Teil. Wien.

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1970er-Jahren, im deutschsprachigen Raum seit den 1980er-Jahren, begannen sich Menschen mit Behinderungen kollektiv zusammenzuschließen, um gegen die von ihnen als ungerecht empfunden Lebensbedingungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen zu protestieren. Sie relativierten die Vorstellung einer ‚schicksalhaften göttlichen Prüfung‘ oder eines individuellen Defizit zugunsten von sozialen und kulturellen Sichtweisen von Behinderung. Sie forderten, Behinderung als soziales, kulturelles und nicht zuletzt politisches Thema aufzufassen, welches eine barrierefrei gestaltete Umwelt, gleiche Rechte, Selbstbestimmung und alternative Sichtweisen auf Behinderung implizierte.33 Seit den 1970er-Jahren wird ausgehend von Großbritannien Behinderung als soziale Konstruktion wahrgenommen. AktivistInnen der britischen Behindertenorganisation Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) formu­ lierten: „In our view, it is society which disables physically impaired people. Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society.“34 Das soziale Modell geht in diesem Sinne davon aus, dass die Behinderung künstlich konstruiert ist und weist darauf hin, dass unabhängig von individuellen körperlichen Eigenschaften bestimmte soziale Handlungsweisen, Strukturen und Institutionen so gestaltet sind, dass manche Menschen durch diese per se ausgeschlossen werden.35 Dieser Ansatz unterscheidet Beeinträchtigung (Impairment) und Behinderung (Disability) vehement und geht davon aus, dass die primären Behinderungen Diskriminierung, soziale Isolation, wirtschaftliche Abhängigkeit, hohe Arbeitslosigkeit, nichtbarrierefreies Wohnen und Institutionalisierung sind.36 Diese Ungerechtigkeit und die daraus resultierenden Benachteiligungen sind gesellschaftlich verursacht und können demnach nur durch gesellschaftspolitische Interventionen gelöst werden. Die Interventionen einer in diesem Sinne gerecht empfundenen Behindertenpolitik beziehen sich auf die Ebene der Politik, der politischen Partizipation von Betroffenen wie auch auf die Gesetzgebung und damit auf die partizipatorisch-organisierte Gestaltung der Rahmenbedingungen. Das Ziel ist es, durch die Interventionen eine inklusiv gestaltete Ökonomie, ein inklusives Bildungs- und Ausbildungswesen und inklusiv wirkende soziale Systeme mit 33

34

35 36

Vgl. Klee, Ernst (1976): Behinderten-Report II. Frankfurt am Main. Vgl. Initiativgrup­ pe von Behinderten und Nichtbehinderten (1982): Befreiungsversuche und Selbst­ organisation, in: Rudolf Forster; Volker Schönwiese (Hrsg.): Behindertenalltag – wie man behindert wird. Wien, S. 377–390. http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppebefreiungsversuche.html#id2835659. (02.01.2014) Vgl. Wegscheider, Angela (2010): Politik für Menschen mit Behinderung am Beispiel Österreichs. Diss. Linz. Union of Physically Impaired Against Segregation (1997): Fundamental Principles of Disability. Being a summary of the discussion held on 22nd November, 1975 and containing commentaries from each organisation, eds by Mark Priestley. 4. http://www.leeds. ac.uk/disability-studies/archiveuk/UPIAS/fundamental%20principles.pdf. (04.01.2014) Vgl. Waldschmidt, Anne (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie & Gesellschaftskritik (1), S. 9–31. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London.

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bedarfs­orientierten und selbstbestimmungsfördernden Unterstützungsleistungen zu entwi­ckeln. Umfassende Barrierefreiheit, die Einbeziehung der betroffenen Menschen auf allen Ebenen sowie die Stärkung der alltagsrealistischen Wahrnehmung von Behinderung sind weitere Forderungen von Menschen, die Behinderung vor allem als soziales Phänomen wahrnehmen.37 Seit Anfang der 1990er-Jahre arbeiten vor allem in den USA (seit Anfang des 21. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Raum) Geisteswissenschaf­terInnen an Fragestellungen, die die Abgrenzung des medizinischen, pädagogischen und sozialen Ansatzes betreffen und die kulturelle, historische wie auch kulturanthropologische Sichtweisen auf Behinderung stärken sollen.38 Behinderung wird hier als Konstrukt von Kultur und Produktionsweisen aufgefasst, die bildlich die Konstitution von ‚normal‘ unterstützt.39 Der kulturelle Ansatz stellt sich gegen das Erkennen von Behinderung als individuelles Schicksal oder als soziale Randposition. Er untersucht vielmehr die Geschichte von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen. Im Zuge der kulturellen Sichtweise werden besonders historische und interkulturelle Vergleiche erstellt, struktur- und differenzierungstheoretische Ansätze diskutiert, Diskurse und Machthegemonien untersucht sowie Literatur und Kunstwerke analysiert.40 Die kulturelle Perspektive geht davon aus, dass sozialpolitische Umverteilung und rechtliche Anerkennung nicht genügen, sondern die kulturellen Darstellungen von Be-/ Hinderung und Ab-/Normalität dekonstruiert bzw. destabilisiert und relativiert werden müssen.41 Ziel dieses Ansatzes ist vor allem, Menschen mit und ohne Behinderungen zu unterstützen, die Sichtweise auf Behinderung als Ursache für eine stigmatisierende und stigmatisierte Lebenslage zu überwinden. Ohne jedoch explizit die strukturellen und sozialen Lebensbedingungen der betroffenen Menschen verändern zu wollen, zielt diese Sichtweise primär auf die Wahrnehmung des behinderten und nicht-behinderten Subjekts ab. Das kulturelle Modell von Behinderung möchte durch die Förderung der kulturellen Präsentation das Zugehörigkeitsgefühl und auch die Beteiligung in der Behindertengemeinschaft stärken, um dann auch ihre Rechte individuell einfordern zu können.42 37 38

39 40 41 42

Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Waldschmidt, Anne; Schneider, Werner (Hrsg.) (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld. Vgl. Schönwiese, Volker (2005): Perspektiven der Disability Studies, in: Behinderte in Familie und Gesellschaft (5), S. 16–21. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Waldschmidt, Anne; Schneider, Werner (Hrsg.) (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London. Vgl. Waldschmidt, Anne (2005): Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? in: Psychologie & Gesellschaftskritik (1), S. 9–31. Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London.

Alternative Sichtweisen auf Behinderung und Gerechtigkeit

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Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde den Fragen nachgegangen, welche Bedeutung/en und Auswirkung/en dem Phänomen Behinderungen zugeschrieben werden und anhand von verschiedenen Sichtweisen der Sisability Studies wird erläutert, wie in diesem Sinne eine als gerecht empfundene Interventionen aussehen könnten. Die gesellschaftliche Herangehensweise an Behinderung ist vielfältig, historisch beeinflusst und vom Kontext und von der Perspektive der Betrachtung abhängig. Neben den hier beschriebenen Sichtweisen auf Behinderung gibt noch ­einige andere, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten manifestieren,43 aber die hier nicht mehr beschrieben werden konnten. Eine säkularisierte und auf Gleichheit, Freiheit und Solidarität ausgerichtete Gemeinschaft, wie sich die Europäische Union als eine versteht, sollte versuchen, Behinderung als ‚schicksalhafte göttliche Prüfung‘ oder als individuelles Defizit zu relativieren und dem ein soziales, kulturelles und nicht zuletzt politisches Modell von Behinderung entgegenzusetzen. Die gleiche Forderung wäre ebenso an die Mitgliedsländer zu stellen. Dies könnte durch inkludierende und ausgleichende Unterstützungsleistungen, eine die Differenz anerkennende wirksame Antidiskriminierung und die politische Repräsentation und Mitbestimmung im Sinne des Mantras der Selbstbestimmt Leben-Bewegung „Nothing about us without us“ erzielt werden. Ein erster Schritt wäre schon die umfassende Sicherstellung und Gewährleistung der bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte für alle Menschen mit Behinderungen, wie es auch die UN-Konvention der Rechte für Menschen mit Behinderungen vorsieht.

43

Vgl. Pfeiffer, David (2002): The Philosophical Foundations of Disability Studies, in: Disability Studies Quarterly, (22/2). http://dsq-sds.org/article/view/341/429. (15.01.2014). Vgl. Goodley, Dan (2011): Disability Studies. London.

Globale und interkulturelle Perspektiven Henning Hahn

Globale Gerechtigkeit: Das Prinzip kosmopolitischer ­Verantwortung

Die Zahl der Menschen, die auf der Welt in absoluter Armut – also etwa von der Kaufkraft von 1,25 US-Dollar am Tag – leben, ist zuletzt leicht zurückgegangen. Dies liegt vor allem am starken Wachstum Chinas und anderer Schwellenländer. Alles in allem bleibt die Situation aber dramatisch. Nach wie vor leben knapp eine Milliarde Menschen in lebensbedrohlicher Armut. Etwa 18 Millionen Menschen sterben jährlich an armutsbedingten Ursachen; eine Zahl, die mit den Weltmarktpreisen für Lebensmittel variiert. Armut führt zu Prostitution, Kinderarbeit, Kriminalität, Sklaverei und schweren Krankheiten. Kurzum, das durch absolute Armut verursachte Leid ist so gewaltig, dass es allen, die in einer Mitverantwortung dafür stehen, schwerwiegende Pflichten auferlegen müsste. Eine Aufgabe der Politischen Philosophie besteht meines Erachtens darin, diese Mitverantwortung explizit zu machen, indem sie der weitgehend geteilten Intuition, dass globale Armut ein schreiendes Unrecht darstellt, eine Sprache gibt. Es geht darum zu zeigen, dass globale Ungerechtigkeit unsere Sache ist. Die Arbeit am öffentlichen Bewusstsein besteht einerseits darin, Argumente kritisch zu prüfen, die normalerweise dazu genutzt werden, uns vor unserer Mitverantwortung zu schützen. Andererseits geht es darum, unsere gewohnten Begriffe und Beschreibungen der Welt zu verändern und uns ins Bewusstsein zu holen, dass globale Armut nichts ist, womit wir nichts zu tun hätten oder wogegen wir nichts ausrichten können. Der meines Erachtens wichtigste Schritt in diese Richtung besteht darin, dass wir globale Armut nicht weiter als humanitäre Katastrophe beschreiben, sondern als einen Auswuchs globaler Ungerechtigkeit, der direkt in unsere politische Verantwortung fällt. Bevor ich dazu auf die vielversprechendsten Ansätze eingehe, möchte ich mit einer Übersicht über die wichtigsten Grundpositionen in der Debatte um globale Gerechtigkeit beginnen. In einem zweiten Schritt werde ich die wichtigsten Stationen der bisherigen Debatte zusammenfassen, um im dritten Teil meine eigene Sichtweise zu skizzieren. Dieser Vorschlag beruht darauf, dass wir in einer politischen Verantwortung stehen, die globalen Hintergrundbedingungen, unter denen globale Ungerechtigkeit und Armut entstehen, zu verbessern.

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Grundpositionen der Debatte

Die geläufigste Position in der Debatte um globale Gerechtigkeit bezeichne ich als moralischen Kosmopolitismus.1 Umgangssprachlich bezeichnet ein Kosmopolit eine weltgewandte Person, die viel herumgekommen ist und entsprechend einen weiten Erfahrungshorizont mitbringt. Bereits die stoische Philosophie kennt den Kosmopoliten als einen Weltbürger, der sein Handeln an einer universellen Ordnung, eben der kosmo-polis, ausrichtet. Über Kant hat die Idee des Weltbürgertums Eingang in die gegenwärtige Nomenklatur gefunden. In der heutigen Debatte bezeichnet der moralische Kosmopolitismus eine Grundposition, die sich in Anlehnung an Thomas Pogge anhand dreier Kriterien zusammenfassen lässt:2 a) Individualismus: Von letzter moralischer Wichtigkeit sind Individuen – und nicht Familien, Nationen oder religiöse Gemeinschaften. b) Universalismus: Der Status ultimativer moralischer Wichtigkeit kommt allen lebenden Menschen gleichermaßen zu – und nicht nur Männern, Christen oder Landsleuten. c) Allgemeinheit der Verpflichtung: Der universelle moralische Status von Personen bringt Verantwortlichkeiten mit globaler Reichweite mit sich – nicht nur besondere Verantwortlichkeiten gegenüber Angehörigen der eigenen Nation oder des eigenen Kulturkreises. Zusammengefasst vertreten alle kosmopolitischen Ansätze eine universalistische Moral, der zufolge alle Menschen überall und gleichermaßen von letzter moralischer Wichtigkeit sind. Im Grunde spiegelt der moralische Kosmopolitismus nur das vorherrschende moralische Selbstverständnis einer aufgeklärten Gesellschaft wider. Die goldene Regel, Kants kategorischer Imperativ, die Erklärung der Menschenrechte oder das Würdeprinzip des Grundgesetzes, all dies sind Ausdrucksweisen einer universalistischen Moral, die auf das Ideal einer vollkommen gerechten Weltgesellschaft hinauszulaufen scheinen. Entsprechend wird der moralische Kosmopolitismus oftmals mit der Idee einer gerechten Weltrepublik identifiziert. Die Vision einer gerechten Weltrepublik wird beispielsweise von Otfried Höffe3 vertreten. Höffe hält die Einrichtung einer komplementären Weltrepublik für rechtsmoralisch geboten und geschichtsphilosophisch unausweichlich. Sein Kosmopolitismus basiert auf einem kontraktualistischen Ansatz, den er als ‚transzendentalen Tausch‘ bezeichnet. Unter den Bedingungen der Globalisierung besitzt jeder Mensch ein Interesse daran, die sozialen Grundlagen seiner 1 2 3

Vgl. für alle folgenden Unterscheidungen die Einführung in Hahn, Henning (2009): Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt am Main. Pogge, Thomas W. (2011): Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. Berlin/New York. Hier S. 212. Vgl. Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München.

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Handlungsfähigkeit in Form fundamentaler Menschen- und Mitbestimmungsrechte zu sichern und entsprechenden Reformen der globalen Arena zuzustimmen. Anders gesagt findet Höffe im rationalen Interesse an der eigenen Handlungsfähigkeit den Kern einer allgemeinmenschlichen Minimalmoral, aus der er nicht nur Standards der Kritik, sondern zudem Konstruktionskriterien für das Design einer gerechten Weltordnung gewinnt. Von universalistischen Moralprinzipien auf das politische Ideal einer gerechteren Weltordnung zu schließen, ist typisch für den moralischen Kosmopolitismus.4 Allerdings hat der Versuch, auf dem moralischen Kosmopolitismus eine Gerechtigkeitstheorie zu errichten, eine ganze Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen, die ich hier in Ermangelung eines präziseren Oberbegriffs als gerechtigkeitstheoretische Partikularisten bezeichne. Der Partikularismus verfolgt folgende Grundidee: Gerechtigkeitsansprüche lassen sich nur innerhalb bestimmter Gemeinschaften stellen, weil nur diese Gemeinschaften eine für Gerechtigkeitspflichten konstitutive Beziehungsform aufweisen. Demnach gibt es zwar moralische Verpflichtungen gegenüber jedem Menschen, aber einen Anspruch auf Gerechtigkeit können wir nur gegenüber denjenigen geltend machen, mit denen wir eine kulturell geprägte Gerechtigkeitsvorstellung oder eine politische Machtsphäre teilen. Gerechtigkeitspflichten sind besondere Pflichten, die wir nicht jedem Menschen schulden. Entsprechend lässt sich diese Position noch einmal untergliedern in diejenigen, die Gerechtigkeit auf eine kulturell geteilte Idee vom Guten zurückführen – die sogenannten Kommunitaristen –, sowie in diejenigen, die Gerechtigkeitsansprüche als Gegenstück zu politischer Herrschaft verstehen – diese Gruppe bezeichne ich als politische Partikularisten. Kommunitaristen behaupten, dass Gerechtigkeitsforderungen immer schon ein gemeinsames Verständnis von Gerechtigkeit voraussetzen, das sich in gewachsenen Wertegemeinschaften herausbilden muss. Allein innerhalb solcher Wertegemeinschaften lässt sich Einigkeit darüber herstellen, welche Güter für alle Mitglieder von grundsätzlicher Wichtigkeit sind. Was in angelsächsischen Ländern als gerecht empfunden wird, kann in Skandinavien Empörung verursachen. Auf der anderen Seite halten politische Partikularisten Gerechtigkeitsforderungen nur in solchen Kontexten für begründbar, in denen Personen von gemeinsamen Institutionen beherrscht und repräsentiert werden:5 Gerechtigkeit ist die Forderung, dass wir von Institutionen fair behandelt und nicht willkürlich beherrscht werden, und diese Forderung ist in der Regel auf den Staat beschränkt. Es ist ungerecht, wenn Mitbürger, die von politischen Entscheidungen betroffen sind und sich an der sozialen Kooperation beteiligen, 4 5

Ähnlich argumentieren etwa Caney, Simon (2004): Justice Beyond Borders. A Global Political Perspective. New York oder Nussbaum, Martha (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin. Vgl. Nagel, Thomas (2010): „Das Problem globaler Gerechtigkeit“, in: Hahn, Henning; Broszies, Christoph (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zum Streit zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus. Berlin, S. 104–145.

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nicht dieselben politischen Mitbestimmungsrechte und sozialen Teilhaberechte haben; es ist aber keineswegs ungerecht, dass wir diese Rechte nicht gegenüber anderen Staaten oder ‚der Welt‘ haben. In Reaktion auf die Argumente partikularistischer Autoren hat sich wiederum eine Form des Kosmopolitismus herausgebildet, die ich als politischen Kosmopolitismus bezeichne und die ich im Verlaufe der folgenden Erörterung verteidigen werde. Der politische Kosmopolitismus räumt ein, dass sich die Frage der Gerechtigkeit nur in Hinsicht auf institutionalisierte Herrschaftsregime stellt; er hält es aber für empirisch belegt, dass wir es schon heute mit globalen Herrschaftsregimen zu tun haben, die sich dem Einflussbereich nationaler Jurisdiktionen zunehmend entziehen. Sichtbarstes Beispiel ist das globale Wirtschaftsund Finanzregime. Der politische Kosmopolitismus kontert den politischen Partikularismus aus, indem er Gerechtigkeitsforderungen allein gegenüber den sichtbaren Ungerechtigkeiten globaler Herrschaftsstrukturen erhebt. Globale Gerechtigkeit: Stationen der Debatte

In diesem Abschnitt werde ich die soeben eingeführten Grundpositionen exem­plarisch erläutern. Als Vertreter des moralischen Kosmopolitismus diskutiere ich kurz den Ansatz Peter Singers; daraufhin werde ich drei der wichtigsten Gegenargumente von Seiten partikularistischer Autoren vorstellen, um abschließend näher auf die Idee eines politischen Kosmopolitismus einzugehen. Dazu werde ich die Ansätze von Thomas Pogge und Iris Marion Young diskutieren und verteidigen. Moralischer Kosmopolitismus: Peter Singer

Einen wichtigen Anstoß für die philosophische Auseinandersetzung um Armutsbekämpfung und globale Gerechtigkeit hat Peter Singer in seinem viel diskutierten Essay Hunger, Wohlstand und Moral6 gegeben. Darin definiert Singer den Hunger in der Dritten Welt nicht mehr bloß als eine Verletzung humanitärer Hilfsgebote, denn laut ihm sollten wir Weltarmut als ein ebenso gravierendes wie verhinderbares Leid ansehen, angesichts dessen jede unterlassene Hilfeleistung ein moralisches Unrecht darstellt. Singers moralisches Grundprinzip lautet daher: Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.7 6 7

Vgl. Singer, Peter (2007): Hunger, Wohlstand und Moral, in: Bleisch, Barbara; Schaber, Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik. Paderborn, S. 27–52. Ebd., hier S. 39.

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Für die meisten von uns dürfte dieses Prinzip eine Selbstverständlichkeit sein. Es darf aber nicht übersehen werden, dass mit diesem Prinzip die herkömmliche Unterscheidung zwischen freiwilliger Wohltätigkeit (charity) und strengeren – weil einforderbaren – moralischen Pflichten einkassiert wird. Während die Alltagsmoral eine Spende gegen Armut als eine lobenswerte Wohltat bewertet, sieht Singer darin nichts weiter als eine Pflichtausübung, zu der wir von dritter Seite mit Nachdruck aufgefordert werden dürfen und derer sich zu verweigern tadelnswert wäre. Illustriert wird diese Position in Singers vieldiskutiertem Teichbeispiel: Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bedeutet zwar, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.8 Singer hält es für unbestreitbar, dass wir in dieser Situation eine Pflicht haben, das Kind zu retten. Analog argumentiert er, dass es unsere Pflicht ist, lebensbedrohliche Armut zu verringern, wo immer es uns möglich ist. Da wir dem Leben jeder einzelnen Person ein starkes moralisches Gewicht zusprechen sollten – ganz gleich, wo sie geboren wurde und welchen Geschlechts oder Glaubens sie ist –, ist es ein Gebot der Gerechtigkeit zu helfen. Ich möchte noch einmal unterstreichen, was im terminologischen Übergang von Hilfeleistung und Gerechtigkeitspflicht auf dem Spiel steht. Wenn wir von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sprechen, hat das nichts mehr mit dem appellativen Charakter humanitärer Hilfsgesuche zu tun. Denn mit ‚Gerechtigkeitspflichten‘ meinen wir eine besonders strenge Klasse moralischer Pflichten; es handelt sich nämlich um Pflichten, die Sanktionen Dritter rechtfertigen. Eine Gerechtigkeitspflicht zu erfüllen, ist keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentlich einforderbare Handlung, da es ein begründetes Interesse der Gesellschaft gibt, dass bestimmte Gerechtigkeitsnormen gelten und entsprechende Pflichten wahrgenommen werden. Die wesentlichen Einwände partikularistischer Autoren

Der Kosmopolitismus geht davon aus, dass die Bedingungen, die für innerstaatliche Gerechtigkeitsansprüche gelten, auch für globale Gerechtigkeitsansprüche gegeben sind. Der Partikularismus bestreitet das. Zu den offensichtlichen Disanalogien zählen für ihn das Fehlen einer gemeinsamen Identität, das Fehlen effizienter globaler Koordinations- und Sanktionsinstrumente sowie die immensen Machtasymmetrien zwischen den Staaten bzw. zwischen globalen Unternehmen und Staaten. Partikularistische Autoren haben in den letzten Jahren immer neue Varianten dieser Einwände ins Feld geführt. 8

Ebd., hier S. 39.

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Generell geht der Partikularismus davon aus, dass soziale Gerechtigkeitspflichten wie Umverteilung oder Chancengleichheit keine allgemeinen, sondern besondere Pflichten sind. Besondere Pflichten sind solche, die wir nicht gegenüber jeder Person aufgrund ihres bloßen Menschseins haben, sondern die nur gegenüber solchen Personen bestehen, mit denen wir in bestimmten Beziehungen verbunden sind. Diese Argumentationsweise liegt beispielsweise David Millers Ansichten zum Zusammenhang von Gerechtigkeit und Nationalismus zugrunde. Für Miller ist es legitim, Angehörigen der eigenen Nation privilegierte Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit einzuräumen: „Die Pflichten, die wir unseren Mitbürgern [fellow nationals] schulden sind sowohl verschieden von den Pflichten, die wir Menschen als solchen schulden, als auch weitgehender als diese.“9 Denn „indem ich eine nationale Identität annehme, anerkenne ich auch, dass ich Mitgliedern meiner Nation spezielle Verpflichtungen schulde, die ich anderen Menschen nicht schulde.“10 Was die Nation als Beziehungssystem so einzigartig für die Entstehung besonderer Gerechtigkeitspflichten macht, ist ihre Kombination aus identitätsstiftenden und politischen Aspekten. Auf der einen Seite gründen besondere Gerechtigkeitspflichten auf einer gemeinsamen Nationalkultur, in der eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption ihre inhaltliche Bestimmung und verbindliche Anerkennung erhält. Auf der anderen Seite braucht es eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls, damit Pflichten sozialer Gerechtigkeit motiva­ tional verankert werden; und drittens sorgt die territoriale und politische Einheit der Nation dafür, dass Ansprüche sozialer Gerechtigkeit repräsentativ artikuliert, administrativ organisiert und politisch durchgesetzt werden können. Im Zusammenspiel dieser drei Gründe markiert die Nation die für Miller größtmögliche Domäne sozialer Gerechtigkeit. Vergleichbare Voraussetzungen für globale soziale Gerechtigkeitsansprüche seien hingegen nicht zu erkennen; in der globalen Arena gelten zwar soziale Menschenrechte, die allgemeinmenschliche Mindeststandards schützen,11 aber keine Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit. Thomas Nagel12 unterscheidet sich von Miller, indem er den partikularistischen Einwand weniger auf nationale Identifikation als auf den konstitutiven Zusammenhang von Souveränität und Gerechtigkeit abstellt. Damit ist auf der einen Seite gemeint, dass Gerechtigkeitsansprüche nur unter bestimmten machtpolitischen Voraussetzungen sinnvoll sind, nämlich dann, wenn sie sich an einen identifizierbaren Souverän adressieren lassen. Die Sprache der Gerechtigkeit hat die Funktion, staatliche Gewaltmonopole zu legitimieren und 9 10 11 12

Miller, David (1995): On Nationality. New York. Hier S. 111. Ebd., hier S. 49. Vgl. Miller, David (2007): National Responsibility and Global Justice. Oxford. Hier S. 74. Vgl. Nagel, Thomas (2010): „Das Problem globaler Gerechtigkeit“, in: Hahn, Henning; Broszies, Christoph (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zum Streit zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus. Berlin, S. 104–145.

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gegebenenfalls zu kritisieren. Aufgrund dieser Funktion gelten Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ausschließlich im Kontext souveräner Herrschaft, worin sie zugleich ihren Entstehungshintergrund wie ihr Anwendungsgebiet haben. Anders gesagt formulieren Forderungen der Gerechtigkeit konkrete Rechtsansprüche, das sind Ansprüche, die erst dadurch entstehen, „dass wir mit bestimmten anderen in einer politischen Gesellschaft eingebunden sind, die unter strenger zentraler Kontrolle steht. Nur gegenüber einem solchen System und nur gegenüber seinen Angehörigen können wir Rechte auf Demokratie, gleiche Staatsbürgerschaftsrechte, Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit sowie auf die Verbesserung unfairer Verteilung sozialer und wirtschaftlicher Güter über die Institutionen dieses Systems geltend machen“.13 Für Nagel ist die Frage der Gerechtigkeit aber nicht allein auf die Legitimation politischer Zwangsverhältnisse bezogen. Zusätzlich qualifizieren sie den Anspruch des Souveräns, im Namen aller Bürger zu sprechen und zu handeln. Zusammengefasst resultieren die besonderen Forderungen der Gerechtigkeit bei Nagel aus zwei Arten von Zumutungen, die mit unserer Staatsangehörigkeit zusammenhängen. Auf der einen Seite werden wir unfreiwillig in eine staatliche Herrschaftsordnung hineingeboren, gegenüber der wir vollkommen machtlos sind. Diese Zumutung wird durch soziale Teilhabe an den Früchten sozialer Kooperation kompensiert. Die zweite Zumutung besteht darin, dass wir durch den Souverän nach außen wie nach innen repräsentiert werden. Der Anspruch, für uns in unserem Namen zu sprechen und zu handeln, begründet unsere Ambition, bei der Gesetzgebung ein Wörtchen mitzusprechen und somit politische Teilnahmerechte auszuüben. Beide Ansprüche sind aber auf die Institution souveräner Rechtsstaaten beschränkt. Denn selbst unter den Bedingungen globaler Herrschaft und in Anerkennung globaler Zwangsverhältnisse fehlt es in der internationalen Arena an den für besondere Gerechtigkeitsansprüche konstitutiven Bedingungen, nämlich globale Rechtssicherheit, der Repräsentationsanspruch eines globalen Souveräns und, wie wir mit Miller ergänzen können, die entsprechende kosmopolitische Identität. Ihren zentralen Ansatzpunkt findet die partikularistische Kritik daran, dass der Kosmopolitismus seine Forderungen nach globaler Gerechtigkeit und Weltstaatlichkeit direkt aus dem universalistischen Moralprinzip ableitet. Für den moralischen Kosmopolitismus sind interaktionale Pflichten zur moralischen Gleichberücksichtigung und institutionelle Pflichten globaler Gerechtigkeit gleichursprünglich. Das leuchtet zwar intuitiv ein, stößt bei Partikularisten aber auf gut begründete Einwände. Ich werde nun noch einmal genauer auf die drei wichtigsten Argumente eingehen. Im Grunde haben sie alle damit zu tun, dass sich öffentlich einforderbare Gerechtigkeitspflichten nicht einfach direkt aus der universalistischen Moral ableiten lassen. 13

Nagel, Thomas (2010): „Das Problem globaler Gerechtigkeit“, in: Hahn, Henning; Bros­ zies, Christoph (Hrsg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zum Streit zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus. Berlin, S. 104–145. Hier S. 121.

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Der erste Einwand gegen den moralischen Kosmopolitismus besagt, dass er in ungenügender Weise zwischen positiven und negativen Pflichten unterscheidet. Demnach bezeichnet das Gebot, einer anderen Person in Not zu helfen, eine positive Pflicht; man ist gehalten, etwas zu unternehmen, aber es ist nicht eindeutig zu klären, was der Einzelne genau zu unternehmen hat, um seiner Pflicht Genüge zu tun. Das moralische Sollen schweigt sich darüber aus, ob wir an UNICEF spenden, ein Patenkind adoptieren, Fair-Trade-Produkte kaufen oder einen Leserbrief schreiben sollen. Das bedeutet aber auch, dass von dritter Seite gar nicht eingefordert werden kann, was genau und in welchem Umfange wir tun sollen. Eine negative Pflicht gebietet hingegen, etwas nicht zu tun, vor allem: niemanden zu schädigen. Ihre Erfüllung und ebenso ihre Nichtbeachtung ist klar identifizierbar; wir müssen sie auch nicht mit anderen Verpflichtungen gewichten, da das Schädigungsverbot, von dilemmatischen Situationen einmal abgesehen, absolut gilt. Dieser Unterschied ist für den strengen Verpflichtungsanspruch, den wir in der Sprache der Gerechtigkeit ausdrücken wollen, entscheidend. Um nämlich eine dritte Person für ihre Pflichtverletzung sanktionieren zu können, müsste sich öffentlich bestimmen lassen, wer wozu in welchem Maße verpflichtet ist. Von dritter Seite ist die Bestimmung konkreter Pflichten im Falle negativer Pflichten unproblematisch. Unsere Pflicht besteht darin, eine Schädigung zu unterlassen (bzw. für eine begangene Schädigung zu kompensieren) und der Adressat dieser Pflicht ist genau derjenige, auf den sich die jeweilige Schädigung kausal zurückführen lässt. Im Falle positiver Pflichten ist die Inpflichtnahme schuldhafter Akteure wesentlich unklarer. Mit Blick auf das Weltarmutsproblem ist es erstens unklar, wer der Adressat der Gerechtigkeitspflicht ist: Ist es die Familie des hungernden Kindes, die Regierung des betreffenden Staates oder europäische Steuerzahler? Und wenn europäische Steuerzahler mit in der Verantwortung stünden, wie wäre diese Verantwortung zu gewichten, etwa im Verhältnis zur politischen Verantwortung, Schulden gegenüber späteren Generationen abzubauen, die Gleichstellung im Land zu verbessern oder Staaten, zu denen man besondere historische Beziehungen pflegt, zu begünstigen? Und wer wäre in der Position oder im Recht, diese Pflicht zu definieren und einzufordern? Es scheint, dass Singer humanitäre Hilfspflichten einfach in strenge Pflichten der Gerechtigkeit umdeklariert, ohne zu beachten, dass die Grundvoraussetzungen für die Zuschreibung einforderbarer Gerechtigkeitspflichten in der globalen Arena nicht erfüllt sind. Was fehlt, ist die eindeutige Bestimmbarkeit von Adressaten, konkreten Handlungen und Sanktionsmechanismen. Ein zweiter Einwand hat damit zu tun, dass die Idee globaler sozialer Gerechtigkeit massive kollektive Handlungsprobleme aufwirft. Fairerweise dürfte jede Partei nur zu dem Anteil verpflichtet werden, der bei allgemeiner Pflichtbefolgung ausreichen würde, um ein Übel zu beseitigen. Die geschuldete Verantwortung ließe sich unter der idealen Voraussetzung, dass jede Partei ihren an-

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gemessenen Anteil (fair share) erfüllt, erheblich eingrenzen.14 Schließlich ist es ungerecht, von einer Person mehr zu fordern, als zugleich alle anderen zu geben bereit sein müssen. Paradoxerweise hieße das ja, dass die sich kümmernde Person mit einem größeren Verantwortungsanteil ‚bestraft‘ wäre. Daraus folgt, dass sich vom Steuerzahler nur so viel einfordern ließe, wie hypothetisch – also unter der Voraussetzung, dass sich alle wohlhabenden Nationen in gleicher Weise beteiligten – hinreichend wäre, um die größte Not zu lindern. Allerdings bleibt es fraglich, ob es Sinn ergibt, bei der Bestimmung der eige­nen Mitverantwortung von hypothetischen Voraussetzungen auszugehen. Wenn zwei Personen an einen Teich mit zwei ertrinkenden Kindern vorbeigehen, wäre zwar zunächst jede Person nur für die Rettung eines Kindes zuständig. Wenn aber die zweite Person einfach weiterginge, ließe sich damit nicht rechtfertigen, dass dem verbleibenden Passanten nicht auch die Verantwortung für das zweite Kind zufällt. Die Verantwortung einer Person allein in Bezug zur Verantwortung anderer Personen bestimmen zu wollen und nicht unabhängig davon auch ihr Potential als Retter und die dringende Not des Kindes einzubeziehen, ist kontraintuitiv. Dass andere Menschen ihrer Verantwortung nicht nachkommen, ist ja gerade auch deswegen so verwerflich, weil sie damit nicht nur das Opfer schädigen, sondern darüber hinaus auch die Erfüllungsbedingungen gemeinsamer Verantwortung für andere unfair gestalten. Fest steht allerdings, dass es kompliziert ist, Gerechtigkeitspflichten über den fairen Anteil hinaus einzufordern, wenn andere ihren Anteil nicht leisten. Wer will Norwegen, das einen höheren Prozentsatz des Bruttoinlandprodukts für Entwicklungshilfe ausgibt, dafür tadeln, dass es nicht auch noch die sehr viel geringeren Anteilsleistungen der USA kompensiert? Das stärkste Argument gegen Singers moralischen Kosmopolitismus besteht meines Erachtens darin, dass wir in seiner Sichtweise weitgehend fremdbestimmt wären. Denn wenn wir als einzelne Personen im Angesicht gravierender Armut tatsächlich dazu verpflichtet wären, alles, was uns möglich ist, zu ihrer Beseitigung zu tun, dann wäre diese Verpflichtung strukturell endlos. Wir wären stark in unserer Freiheit eingeschränkt. Hierin drückt sich ein gängiger Vorbehalt gegenüber jeder konsequentialistischen Ethik aus. Ein Autor, der diesen Einwand verdeutlicht hat, ist Bernard Williams.15 Williams warnt, dass Singers Gerechtigkeitsverständnis letztlich zum Verlust unserer Integrität als eigenständige Person führt. Gemeint ist, dass wir kaum noch ein Projekt verfolgen oder in irgendeiner Form frei handeln dürften, wenn sich jede Handlung erst einmal vor der allgemeinen Pflicht gegenüber globaler Armut ausweisen müsste; altruistische Effizienzüberlegungen müssten es beispielsweise verbieten, Philosophie zu studieren, weil dies unseren Nutzen als potentielle Spender wahrscheinlich eher begrenzen dürfte.16 In dieser Sichtweise wäre es nicht mehr zu 14 15 16

Vgl. Murphy, Liam B. (2000): Moral Demands in Nonideal Theory. New York. Vgl. Williams, Bernard (1979): Kritik des Konsequentialismus, Frankfurt am Main. Zuletzt hat Peter Singer den Gedanken des effektiven Altruismus in eine politische

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rechtfertigen, irgendetwas von dem zu tun, was uns als eigenständige Personen ausmacht. Kurzum, Singers Sichtweise erscheint vielen als moralische Überforderung. Samuel Scheffler17 bringt diese Gefahr drastisch auf den Punkt, indem er von moralischem Kidnapping spricht. Wenn von uns mit Nachdruck eingefordert werden könnte, alles uns Mögliche zu tun, um globale Armut zu verringern, dann wären wir praktisch am Leid der anderen versklavt. Wir wären nicht mehr frei zu tun, was wir wollen, sondern müssten unsere Handlungen und Lebenspläne vollkommen dem Kampf gegen globale Armut widmen. Aber der Zweck von Moral und Gerechtigkeit besteht eben nicht nur darin, Notleidenden zu helfen, sondern auch darin, das größtmögliche System von Freiheit zu gewährleisten. Ein Leben nach seinen eigenen Zielsetzungen zu leben und eigene Projekte zu entwickeln und umzusetzen, ist selbst ein unveräußerliches moralisches Gut, das nicht auf dem Altar globaler Gerechtigkeitsansprüche geopfert werden darf. Ganz offensichtlich gibt es einen Widerstreit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit, zwischen dem Recht auf ein eigenes Leben und den Pflichten zur Notlinderung gegenüber anderen. Ein Weg, diesen Widerstreit aufzulösen, bietet die institutionelle Sicht auf Gerechtigkeit. In dieser Sichtweise sind einzelne Personen keine geeigneten Adressaten für globale Gerechtigkeitspflichten, da sie die damit zusammenhängenden Anforderungen als Einzelne nicht bewältigen können. Allein Institutionen sind in der Lage, die Handlungen vieler zu koordinieren, Belastungen fair zu verteilen, Handlungsregeln durchzusetzen und damit den Einzelnen vor seiner autonomiegefährdenden Verantwortung zu entlasten. Institutionen, und vor allem die Institution des Rechts, richtet Zonen ein, in denen wir willkürlich unseren eigenen Ideen und Zielen widmen können. Die gesuchte Institution ist aber wiederum der Staat, weil nur er in der Lage ist, eine moralische Arbeitsteilung zwischen sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit zu organisieren. In Abwesenheit einer vergleichbaren Institution auf globaler Ebene, so scheint es, bleibt dieser Widerstreit aber ungelöst. Politischer Kosmopolitismus

Der politische Kosmopolitismus nimmt die Kritik partikularistischer Autoren in sich auf, indem er … a) … den Kontext der Gerechtigkeit auf eine politische Herrschaftsordnung begrenzt. b) … Gerechtigkeitspflichten auf die negative Pflicht reduziert, Schädigungen zu unterlassen bzw. zu korrigieren.

17

Bewegung übersetzt, in der es um die optimierte Ausschöpfung individueller Spenden­ potentiale geht (vgl. Singer 2009). Vgl. Scheffler, Samuel (1982): The Rejection of Consequentialism: A Philosophical Investigation of the Considerations Underlying Rival Moral Conceptions. Oxford.

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c) … Gerechtigkeitspflichten an Institutionen adressiert und damit eine Lösung für das Problem der Unbestimmtheit, der unfairen Verteilung von Belastungen und der Überforderung anbietet. Ich werde hier wiederum die beiden in meinen Augen wichtigsten Modelle vorstellen, nämlich einerseits das von Thomas Pogge und andererseits das von Iris Marion Young. Thomas Pogge hat seinen gesamten Ansatz in folgendem Zitat auf den Punkt gebracht: Wohlhabende Bürger und Staaten haben gewiss positive moralische Pflichten, Menschen in lebensbedrohlicher Armut zu helfen (wenigstens sofern die Kosten solcher Hilfe für uns bequem tragbar sind). Aber das Etikett lenkt davon ab, dass hier auch strengere, negative Pflichten im Spiel sind – etwa die Pflicht, von uns verursachte schwere Schädigungen zu minimieren, und die Pflicht, ungerechte Verhältnisse nicht zum Nachteil ihrer Opfer auszunutzen. […] Um diese Verletzungen negativer Pflichten zu vermeiden, müssen wir die Armen zumindest entschädigen. Eine solche Entschädigung ist nicht Hilfe, sondern eine Verminderung der Schäden, die wir ihnen dadurch antun, dass wir ihnen einer ungerechten Weltordnung unterwerfen, von deren Durchsetzung wir auf ihre Kosten profitieren.18 Zusammengefasst lautet Pogges These, dass die gegenwärtige Weltordnung das Bestehen globaler Armut in Teilen mitverursacht. Ungerecht ist diese Weltordnung insbesondere deshalb, weil wenige mächtige Staaten allen anderen Ländern ein System politischer Institutionen und Regeln auferlegt haben, von denen sie in unberechtigter Weise profitieren, während sich diese Regeln auf strukturschwache Staaten schädigend auswirken. Der Punkt ist, dass auch in der globalen Arena nicht nur positive Hilfspflichten, sondern auch das negative Schädigungsverbot verletzt werden. Globale Gerechtigkeit erfordert kein Gutmenschentum, sondern die Entschädigung und Korrektur geltenden Unrechts. Die Ungerechtigkeit der geltenden Weltordnung macht Pogge an zwei Beispielen fest. Zum einen räumt das internationale Rohstoffprivileg selbst Diktatoren ein, Eigentumstitel an den Ressourcen des Landes rechtsgültig zu übertragen. Insbesondere für rohstoffreiche Entwicklungsländer hat diese Regelung katastrophale Auswirkungen, den sogenannten Ressourcenfluch (resource curse). Denn faktisch wirkt sich das Rohstoffprivileg als ein künstliches Anreizsystem für Putschversuche des Militärs oder organisierter Banden aus. Ganz gleich, welche Partei die Herrschaft an sich reißen kann, sie erhält umgehend ein international anerkanntes Recht, das eigene Land auszubeuten. Pogge spricht in diesem Zusammenhang von international legitimierter Hehlerei.

18

Pogge, Thomas (2003): ‚Armenhilfe’ ins Ausland, in: Analyse & Kritik. Zeitschrift für Sozialtheorie (2), S. 202–247. Hier S. 243. Vgl. ebenso Pogge, Thomas (2011): Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. Berlin/New York.

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Zum anderen verweist Pogge auf das internationale Kreditprivileg, das Diktatoren ein Recht zuerkennt, ‚ihr‘ Land – und damit auch demokratische Nachfolgeregierungen – zum eigenen Vorteil zu verschulden. Verbunden mit dem Recht, auf dem Weltmarkt Waffen zu kaufen, sorgen diese Privilegien dafür, dass Despoten ihre Machtbasis langfristig stabilisieren können. Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch Pogge sieht eine primäre Verantwortung für Armut bei den Despoten selbst. Er bezweifelt nicht, dass Armut durch heimische Faktoren wie Nepotismus oder Korruption verursacht wird. Aber diese lokalen Faktoren werden eben durch globale Hintergrundbedingungen ermöglicht und angereizt. Und für diese Hintergrundbedingungen sind wohlhabende Industrienationen verantwortlich, da sie diese Ordnung federführend eingesetzt haben, sie mit Macht durchsetzen und von ihr, etwa durch erschwingliche Ressourcenpreise, profitieren. Entsprechend kann Pogge die Frage, wer welche Verantwortung hat, präzise beantworten. So reicht die Verantwortungskette direkt zu den Regierungen und Verhandlungsführern der wichtigsten Industrieländer und schließlich zu den Bürgern wohlhabender Staaten zurück: Jeder dieser Bürger steht in der Verantwortung, im Rahmen seiner politischen Möglichkeiten auf die eigene Regierung Einfluss zu nehmen und beispielsweise das eigene Wahl- und Konsumverhalten anzupassen. Wir teilen die Verantwortung dafür, dass Schädigungen, die direkt oder indirekt aus der Grundstruktur globaler Institutionen resultieren, korrigiert und kompensiert werden. Diese Verantwortung zielt nicht auf globale Umverteilung, sondern auf die Korrektur der globalen Grundstruktur. Gegen Pogges Sichtweise ist immer wieder angemerkt worden, dass die resultierende Individualverantwortung am Ende recht schwach ist. Denn es ist schlicht und ergreifend etwas anderes, ob eine Person eine Menschenrechtsverletzung direkt begangen hat, ob sie als Komplize fungiert, ob sie von Menschenrechtsverletzungen begünstigenden Umständen profitiert oder ob sie sich prinzipiell mehr für eine gerechte internationale Ordnung einsetzen könnte. Der politische Einfluss des Einzelnen auf globale Herrschaftsregime ist eher gering einzuschätzen. Vor allem aber bleibt zweifelhaft, inwieweit sich überhaupt eine klare Verursacherkette zwischen Armut und der bestehenden institutionellen Weltordnung feststellen lässt. So plausibel es ist, dass eine ungerechte Hintergrundstruktur Missstände begünstigt, so schwer ist es doch, die kausalen Auswirkungen so genau zu rekonstruieren, dass sich präzise Verantwortlichkeiten zuschreiben lassen. An ‚begünstigenden Umständen teilzunehmen‘ ist eben nicht mit ‚verursachen‘ gleichzusetzen. Eine Position, die große Ähnlichkeiten zu Pogges aufweist, ihm aber entschieden darin widerspricht, eine schuldhafte Mitverursachung identifizieren zu wollen, wird von Iris Marion Young19 vertreten. Für Young lassen sich die Hintergründe globaler Ungerechtigkeit in der Regel gerade nicht kausal auf ein19

Vgl. Young, Iris Marion (2010): Verantwortung und globale Gerechtigkeit. Ein Modell sozialer Verbundenheit, in: Henning, Hahn; Broszies, Christoph (Hrsg.): Globale Ge-

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zelne politische Institutionen wie die Weltbank oder die Regierungen mächtiger Staaten zurückführen. Insbesondere in der globalen Arena lässt sich selten eindeutig klären, welche Institution ‚X‘ für einen Missstand ‚Y‘ haftbar gemacht werden kann. Hier haben wir es mit einem multifaktoriellen Handlungsgeschehen zu tun, an dem viele Akteure mitwirken und zwischen denen es zu kaum prognostizierbaren Wechselwirkungen kommt. Und trotzdem, so Young, stehen wir in einer politischen Verantwortung für globale Missstände, die sich aus unserer Beteiligung an diesem Handlungsgeschehen ergibt. Im Hintergrund steht eine Form von Verantwortung aus Verbundenheit, die wir laut Young gegenüber jeder Form von struktureller Ungerechtigkeit haben: Strukturelle Ungerechtigkeit existiert, wenn soziale Prozesse eine große Personenzahl systematisch damit bedrohen, beherrscht oder der Mittel beraubt zu werden, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, während diese Prozesse zugleich andere in die Lage versetzen, zu herrschen oder gute Chancen darin zu haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln oder auszuüben. Strukturelle Ungerechtigkeit ist eine Form moralischen Unrechts, das von der unrechten Handlung eines Individuums oder von bewusst unterdrückerischen politischen Entscheidungen im Staat unterschieden ist. Strukturelle Ungerechtigkeit ereignet sich als Resultat von Handlungen vieler Individuen und Institutionen, die ihre eigenen Ziele und Interessen innerhalb vorhandener institutioneller Regeln und akzeptierter Normen verfolgen. Alle Personen, die durch ihre Handlungen am fortlaufenden Kooperationssystem teilnehmen, das diese Strukturen konstituiert, sind in dem Sinne für sie verantwortlich, dass sie Teil ihres Verursachungsprozesses sind.20 Anders ausgedrückt, ist strukturelle Ungerechtigkeit nicht Resultat rekonstruierbarer Entscheidungen – im Gegenteil, die Chancen strukturell schlecht gestellter Gruppen sind weitgehend davon unabhängig, welche Entscheidungen sie treffen, wie hart sie arbeiten oder wie gut ihre Absichten und Pläne sind. Unter dem Vorzeichen struktureller Ungerechtigkeit können einzelne Entwicklungsprogramme kaum etwas ausrichten; beispielsweise kann die Finanzierung eines Bildungsprogramms in einem Entwicklungsland zu brain drain und armutssteigernder Landflucht führen, solange die dahinter stehende strukturelle Ungerechtigkeit nicht insgesamt korrigiert wird. Wenn Armut aber strukturell verankert ist, lassen sich auch keine negativen Unterlassungspflichten einzelner Akteure identifizieren. Maßgeblich ist die Struktur, die einzelne Handlungen erst ermöglicht und dabei zugleich Tendenzen vorgibt, wie sich diese Handlungen auswirken. Darum geht es Young in erster Linie darum, die politische Verantwortung für die Beteiligung an solchen

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rechtigkeit. Schlüsseltexte zum Streit zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus. Berlin, S. 329–372. Ebd., hier S. 346.

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Strukturen verständlich zu machen. Unsere politische Verantwortung erstreckt sich nicht nur auf die Auswirkungen einzelner Handlungen, sondern insgesamt auf unsere Beteiligung an der Aufrechterhaltung sozialer Strukturen. Wer sich beispielsweise als Konsument an der Praxis des globalen Marktes beteiligt, ist für die strukturellen Ungerechtigkeiten mitverantwortlich, da er gar nicht anders kann, als diese Strukturen durch jeden normenkonformen Akt zu verfestigen. Weil unsere bloße und notwendige Beteiligung an sozialen Strukturen diesen immer auch in praxi Geltung verschafft, sind wir mitverantwortlich für ungerechte Effekte dieser Strukturen. Unsere Beteiligung am globalen Markt macht uns mitverantwortlich für Ausbeutung und Umweltverschmutzung in anderen Erdteilen. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren, hat Young strukturelle Ungerechtigkeiten in der globalen Bekleidungsindustrie untersucht. Hier führt ein Zusammenspiel unterschiedlichster Akteure und Praktiken dazu, dass die Bekleidung der Bevölkerung der ersten Welt weitgehend in Ausbeutungsbetrieben der dritten Welt hergestellt wird. Die dabei buchstäblich ‚in Kauf genommenen‘ Arbeitsbedingungen sind erbärmlich: Es gibt Kinderarbeit, fehlende Arbeitnehmerrechte, schlechte Hygiene sowie mangelnde Sicherheit an Maschinen und im Umgang mit Chemikalien. Wenn auch keine Alleinverursacher, so sind doch die Regierungen, Konzerne und Konsumenten in Europa und Nordamerikas an dieser globalen Praxis beteiligt. Es wäre aber irreführend zu sagen, dass die Modekonsumenten schuldig für die Verletzung von Arbeitnehmerrechten in fremden Ländern sind, da sie diese Konsequenzen keineswegs beabsichtigt haben und selbst bloß als Teil einer ungerechten Handlungsstruktur handeln. Auch ließe sich ihre Schuld eben nicht quantifizieren, weil der Beitrag des Einzelnen in multifaktoriellen Handlungssystemen eben nicht kausal zurückzuverfolgen ist. Strukturelle Ungerechtigkeit ist das Ergebnis aus dem ungewollten Verhalten vieler Akteure, die dabei selbst nur etablierten Regeln und Sachzwängen folgen. Nichtsdestotrotz steht der Konsument qua Teilnehmer an einer Ungerechtigkeit generierenden Praxis in der Mitverantwortung, weil er die Hintergrundstruktur durch sein Verhalten reproduziert. Entsprechend definiert Young ihre Konzeption politischer Verantwortung wie folgt: Unsere Verantwortung rührt daher, dass wir mit anderen an einem System voneinander abhängiger Kooperations- und Wettbewerbsprozesse teilnehmen, in denen wir unseren Vorteil suchen und unsere Absichten verwirklichen wollen. Auch wenn wir das Ergebnis möglicherweise nicht in einer direkten Kausalkette auf unsere eigenen Handlungen zurückführen können, tragen wir eine Verantwortung, weil wir ein Teil des Prozesses sind. […] Verantwortung für Ungerechtigkeit rührt somit […] daher, dass wir an den verschiedenen institutionellen Prozessen teilhaben, die strukturelle Ungerechtigkeit erzeugen.21 21

Ebd., hier S. 354.

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Am besten lässt sich ihr Ansatz vielleicht als Ergänzung zu Pogges Ansatz verstehen, denn nun ist nicht allein der Protektionismus reicher Länder und die verfehlte Politik globaler Institutionen zu den Hintergrundbedingungen globaler Armut zu zählen. Die Ursachen globaler Armut wurzeln in gemeinsamen Strukturen, die unsere Verhaltensweisen, Praktiken und Bewertungsweisen bestimmen. Und weil es oft unmöglich ist, den einen und alleinigen Faktor innerhalb eines strukturellen Unrechtsgeschehens zu identifizieren, lässt sich die Verantwortung häufig nicht auf einen einzelnen Akteur zurückführen, sondern fällt auf alle zurück, die sich an der gemeinsamen Praxis beteiligen. Youngs Position lässt allerdings eine Reihe von Fragen offen. Nur kurz erörtert sie beispielsweise die zentrale Frage, wie Gerechtigkeitspflichten gegenüber struktureller Ungerechtigkeit bestimmt und durchgesetzt werden können. Für Young lädt sich jeder, der sich an struktureller Ungerechtigkeit beteiligt, eine politische Mitverantwortung dafür auf, die Struktur selbst zu verändern. Worin unsere Verantwortung genau besteht, soll mit unserer Position innerhalb der Struktur zu tun haben. Diese Position hängt wiederum von vier Koordinaten ab: a) von der Macht einer Person oder Institution, kollektiven Einfluss auf eine soziale Praxis auszuüben, b) von den Privilegien, die eine Person oder Institution in der gegenwärtigen Struktur genießt, c) von ihrem Interesse, die Struktur zu ändern, und schließlich d) von ihren kollektiven Fähigkeiten, sich innerhalb politischer Parteien oder anderen öffentlichkeitswirksamen Gruppen zu engagieren.22 Wer mehr Macht und politischen Einfluss hat, Grundregeln des Zusammenlebens zu verändern, trägt auch mehr Verantwortung. Ich werde an diese Betrachtung in meinen abschließenden Ausführungen zur (kosmo-)politischen Verantwortung anschließen. Kosmo-Politische Verantwortung

Im Hintergrund von Youngs Vorschlag kommt eine Auffassung von Verantwortung zum Tragen, die jenseits des eingeführten Unterschieds von negativen und positiven Pflichten liegt. Es handelt sich um die politische Verantwortung, die daraus erwächst, dass eine Person an einer Praxis beteiligt ist, aus der schwere Missstände hervorgehen, wobei ihr Wege der Einflussnahme offenstehen, die Hintergrundstruktur bzw. das soziale Regelsystem, unter dem die Praxis abläuft, fairer zu gestalten. In der alltagssprachlichen Verwendungsweise meinen wir mit politischer Verantwortung zunächst die rollenspezifische Verantwortung eines Politikers. In diesem Sinne ist beispielsweise der Innenminister eines Landes politisch für die öffentliche Ordnung verantwortlich, und zwar auch dann, wenn es zu unvorhersehbaren Unruhen kommt oder Mitarbeiter sich fehlerhaft verhalten haben, ohne dass eine Verletzung seiner eigenen Sorgfaltspflicht vorliegt. Denn 22

Vgl. ebd., hier S. 362 f.

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auch wenn die ursächliche Schuld bei anderen lag, fällt der resultierende Missstand doch in die politische Verantwortung des Ministers. Ihr oder ihm Verantwortung zuzuschreiben, ist über den Aufgabenbereich seines Ressorts und seine exponierte Machtposition begründet. Abschließend möchte ich eine Überlegung vorstellen, wie uns dieses Verantwortungsverständnis bei der Bestimmung der Verantwortung für globale Ungerechtigkeit weiterhelfen kann. Die Grundidee lautet, dass alle Bürger wohlhabender und demokratischer Gesellschaften eine kosmo-politische Verantwortung tragen, weil sie mit globaler struktureller Ungerechtigkeit verbunden und zudem in der Position sind, Einfluss auf die globale Grundstruktur zu nehmen. Es bietet sich an, diese Idee im Kontrast zu Hans Jonas‘ Konzeption politischer Verantwortung zu erläutern. Hans Jonas schreibt sein Hauptwerk, Das Prinzip Verantwortung (1979/1984), im Bewusstsein, dass das technologische Zeitalter eine kategorial neuartige Handlungskonstellation geschaffen hat. Mit den Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Eingriffstiefe menschlicher Handlungen nicht einfach verstärkt; erstmalig nimmt der Mensch eine Position ein, in der er die Schöpfung in Gänze vernichten kann. Gleichzeitig ist das Handlungsumfeld komplexer geworden; weder kann ein einzelner Mensch die Fernwirkungen seiner eigenen Handlungen verlässlich prognostizieren, noch vermag er es, Handlungen in anderen Teilen der Welt oder anderen Generationen zu kontrollieren, obwohl die Entscheidungen in anderen Ländern und zu anderen Zeiten tiefgreifend in seine Lebenswelt eingreifen. Es ist diese Konstellation, für die Jonas den Begriff einer genuin politischen Verantwortung geprägt hat. Politische Verantwortung bedeutet demnach eine zukunftsbezogene Verantwortung „für die Sache, die auf mein Handeln Anspruch erhebt“.23 Dieser Anspruch, so Jonas, tritt überall dort zutage, wo ein Mensch vom anderen bedroht oder in seinem Wohl auf die Macht eines anderes angewiesen ist, sprich wo ein nicht-reziprokes (asymmetrisches) Machtverhältnis vorliegt. Weil für Jonas Verantwortung aus einem Machtungleichgewicht hervorgeht, bezieht er politische Zukunftsverantwortung vornehmlich auf den Staatsmann, sprich auf den Amtsträger bzw. den „echten homo politicus“,24 der eine besondere Verantwortung trägt, weil er qua Amt die Macht über andere hat, die er nun für die „res publica, die öffentliche Sache“25 einsetzen soll. Emphatisch spricht Jonas von der „selbstgewählten Verantwortung des Politikers“. Selbst- oder „freigewählt“26 ist diese Verantwortung, insofern sich der Politiker die Macht erst verschaffen muss, die er dann zu verantworten hat. Insofern versteht Jonas politische Verantwortung als einen Ausdruck der radikalen Freiheit des Menschen, die ihn in einen Zustand „höchster Verantwor23 24 25 26

Vgl. Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main. Hier S. 174. Ebd., hier S. 180. Ebd., hier S. 181. Ebd., hier S. 180.

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tung“27 und damit größter Fremdbestimmung versetzt; so führt „die höchste und anmaßlichste Freiheit des Selbst […] ins gebieterischste und unnachsichtige Muss“.28 Damit liegen nun drei Grundelemente in Jonas Konzeption politischer Verantwortung vor. Der Gegenstand politischer Verantwortung ist die nachhaltige Sicherung der globalen Grundlagen für ein auch zukünftig verantwortliches Leben. Das Subjekt dieser besonderen Verantwortung ist der Staatsmann, weil er einseitig Macht über andere auszuüben vermag. Und der Grund seiner Verantwortung besteht drittens darin, dass er sich die Verantwortung selbst auferlegt, indem er sich für ein Mandat bewirbt, das ihn auf das Wohl seiner ‚Schutzbefohlenen‘ verpflichtet. Um abschließend auf mein eigenes Modell globaler politischer Verantwortung scharf zu stellen, schlage ich vor, politische Verantwortung demokratisch auszuweiten (a), sie als unfreiwillig vorhanden zu begreifen (b) und sie schluss­ endlich zu globalisieren (c). a) Zur Demokratisierung politischer Verantwortung: In einem demokratisch verfassten Staat lässt sich die politische Macht nicht einfach in wenigen Ämtern lokalisieren; im Gegenteil, die Besetzung der Ämter ist hier selbst an den öffentlichen Willen zurückgebunden, der durch den Willen aller Bürger gebildet wird. In diesem Kontext ist die politische Verantwortung kein Alleinstellungsmerkmal einzelner Staatsmänner. Dass Politiker eine besondere Macht haben und damit auch eine besondere Verantwortung tragen, ist zutreffend; dieser Umstand ist aber durchaus mit der Tatsache vereinbar, dass jeder Bürger eines demokratischen Staates eine staatsbürgerliche Verantwortung hat. Verantwortung ist ein relationaler Begriff, der ausdrückt, dass eine Person für etwa gegenüber jemanden und vor einer Sanktionsinstanz Verantwortung trägt. Die politische Mitverantwortung jedes Bürgers besteht darin, die besondere Verantwortung des Politikers mitzudefinieren, sie zu kontrollieren und gegebenenfalls einzufordern. Vor dem Hintergrund demokratisch organisierter Machtverhältnisse entsteht eine Verantwortungskonstellation, in der die besondere Verantwortung des Politikers an die zivilgesellschaftliche Inverantwortungsnahme zurückgebunden ist. In unserer Gesellschaft kann sich niemand seiner politischen Verantwortung entziehen. b) Die unfreiwillige Vorhandenheit politischer Verantwortung: Statt wie Jonas politische Verantwortung als selbstauferlegte Verantwortung zu verstehen, spreche ich von der ‚Annahme‘ der eigenen Verantwortung, um zu signalisieren, dass wir immer schon in einer bestimmten politischen Verantwortung stehen, die wir zu erkennen und umzusetzen haben. Diesbezüglich ist es hilfreich, zwischen der Annahme und der Übernahme von Verantwortung zu unterscheiden. Eine 27 28

Ebd., hier S. 181. Ebd., hier S. 182.

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Verantwortung anzunehmen, bedeutet, die Pflichten einzusehen, die mit einem bereits bestehenden Verantwortungsverhältnis einhergehen; eine Verantwortung zu übernehmen, meint hingegen das freiwillige Eingehen eines mit besonderen Pflichten verbundenen Verhältnisses. So hat etwa der Innenminister eines Staates eine klar zu bestimmende politische Verantwortung gegenüber Menschenrechtsverletzungen innerhalb dieses Staates, während der Aufruf, sich um dieses Amt zu bewerben, zwar moralisch begründet sein mag, niemals aber gegen den Willen einer Person durchgesetzt werden dürfte. So gibt es zwar unbestritten Momente persönlicher Dezision, in denen sich eine Person zu einer Amtsübernahme und damit zu einer besonderen politischen Verantwortung durchringt; aber insgesamt ist unsere staatsbürgerliche Verantwortung eine Tatsache noch vor jeder Entscheidung. Als Bürger relativ wohlhabender und demokratischer Gesellschaften tragen wir eine politische Mitverantwortung für die Regeln, die unser Gemeinwesen bestimmen. c) Zur Globalisierung politischer Verantwortung: Dass sich unsere politische Verantwortung nicht nur auf die Regeln unseres partikularen Gemeinwesens erstreckt, hat unterschiedliche Gründe. Zum einen sind unsere besonderen Sicherheitsund Wohlstandsinteressen hochgradig von globalen Hintergrundregeln abhängig. Zum anderen sind wir Subjekte einer weit voran geschrittenen politischen Globalisierung, in der sich Außenpolitik und Weltinnenpolitik immer weniger voneinander trennen lassen. Wie bei Pogge und Young beschrieben, sind wir an der Entwicklung einer globalen Ordnungsstruktur beteiligt, die schwere Ungleichheiten manifestiert. Mittlerweile führen die Kanäle zur Beteiligung an globalen politischen Prozessen mitten in unsere Wohnzimmer. Informationen und Petitionsaufrufe landen in unserer Mailbox, globale NGOs treten direkt an uns heran, politische Parteien positionieren sich zunehmend zu Menschenrechten und zur Gestaltung zukünftiger Weltinnenpolitik und selbst unser Konsumverhalten hat eine politische Dimension. Die Tatsache, dass uns zunehmend Wege offenstehen, auf das weltpolitische Regelsystem Einfluss zu nehmen, legt uns eine kosmo-politische Verantwortung für globale Gerechtigkeit auf; und zwar auch in dem Sinne, dass Dritte zu Recht von uns einfordern können, diese Verantwortung im Rahmen unserer Möglichkeiten wahrzunehmen. Resümee

Die Einsicht in unsere kosmopolitische Verantwortung verlangt von uns nicht, unser gewohntes normatives Selbstverständnis über den Haufen zu werfen. Im Gegenteil, sie verlangt nur, unsere vorhandene politische Verantwortung im Zeitalter der Globalisierung anzunehmen. Wenn ich im Gegensatz zu Hans Jonas von unserer vorhandenen politischen Verantwortung für globale Gerechtigkeit spreche, dann gibt es dafür einen entscheidenden normativen Grund, nämlich den, dass die Einforderung einer bestehenden Verantwortlichkeit in

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der Regel stärker gemacht werden kann als der Appell, eine Verantwortung zu übernehmen, die man vorher nicht innehatte. Ich hoffe plausibel gemacht zu haben, dass es sowohl eine staatsbürgerliche als auch eine weltbürgerliche Verantwortung noch vor der Entscheidung gibt, ein exponiertes Amt zu übernehmen oder sich anderweitig zu engagieren. Wir tragen eine grundsätzliche politische Verantwortung, die einerseits aus unserer Verstrickung in Ungerechtigkeit produzierende Praktiken resultiert und die andererseits aus unserer Macht herrührt, die Regeln dieser Praktiken fairer programmieren zu können. Diese Verantwortung kann dann in bestimmten Situationen durchaus dazu führen, dass wir ein Amt übernehmen, uns öffentlich positionieren oder einer Bewegung anschließen sollten.

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Anke Graneß

Gerechtigkeitskonzepte im subsaharischen Afrika – gestern und heute

Einleitung

Eine Unterteilung des afrikanischen Kontinents in Nordafrika, das gemeinhin der arabisch-islamischen Tradition zugeordnet wird, und das Afrika südlich der Sahara ist (gerade auch wenn es um die Rekonstruktion der Ideengeschichte des Kontinents geht) üblich geworden, auch wenn diese aufgrund der vielfältigen historischen Bezüge der Regionen untereinander kaum aufrecht zu erhalten ist. Die Abgrenzung Nordafrikas aufgrund seiner vom Islam geprägten Kultur und Gesellschaft vom Rest des Kontinents ist inkongruent, denn auch in Ländern südlich der Sahara wie Senegal, Mali, Dschibuti und Somalia sind fast 100 Prozent der Bevölkerung Muslime und große Mehrheiten gibt es in der Republik Guinea (85 Prozent), in Niger (80 Prozent), im Sudan (70 Prozent) oder in Sierra Leone (60 Prozent). Der Islam gehört hier zum Teil seit dem 10. und 11. Jahrhundert zur Kultur und Gesellschaft dieser Regionen. Insofern ist die Sahara eine willkürlich gezogene Grenze. Zum anderen ist die Region des sogenannten subsaharischen Afrika wiederum eine historisch, kulturell und sprachlich so vielfältige und große Region, dass sie dann ebenfalls einer weiteren Ausdifferenzierung bedürfte. Vergessen wir nicht, dass Afrika mit einer Fläche von 30,3 Millionen Quadratkilometern der zweitgrößte Kontinent der Erde und ungefähr dreimal so groß wie Europa ist! Und so können in diesem Beitrag, der sich im Wesentlichen auf das Afrika südlich der Sahara konzentriert, nur schlaglichtartig einige Gerechtigkeitskonzepte aus der Geschichte und Gegenwart dieser Region betrachtet werden. Der Beitrag unterteilt sich in drei größere Abschnitte: 1. Das Konzept der Ma’at aus dem alten Ägypten; 2. ‚Traditionelle‘ Konzepte von Gerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung der ubuntu-Ethik; und 3. Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit aus der Philosophie Afrikas in der Gegenwart. Der Gerechtigkeitsbegriff, der eine große Bedeutungsbreite umfasst, wird sich in den einzelnen Abschnitten auch mit unterschiedlichen Aspekten von Gerechtigkeit beschäftigen, von Gerechtigkeit im Sinne einer kosmologischen Ordnung (altes Ägypten) über Fragen korrektiver Gerechtigkeit (ubuntu) bis hin zur distributiven Gerechtigkeit. Beginnen möchte ich im alten Ägypten. Dessen Zuordnung zum afrikani­ schen Kontinent wurde durchaus immer wieder in Frage gestellt. So sieht He-

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gel Ägypten als nicht „dem afrikanischen Geist zugehörig“1 an, ein Vorurteil, das bis in die jüngste Zeit tradiert wird. Dies betrachte ich jedoch als einen unhistorischen Blick, der in der jüngeren Literatur zunehmend korrigiert wird. Ägypten, an der Schnittlinie zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent liegend, kann als Ursprung der Wissenschafts- und Geistesgeschichte für viele Regionen reklamiert werden.2 Ma’at – Gerechtigkeit im alten Ägypten

Fragen nach Gerechtigkeit gehören ohne Zweifel zu den philosophischen Grundfragen, die schon in der griechischen Antike einen hohen Stellenwert einnahmen. Allerdings war die griechische Antike längst nicht der Beginn solcher Überlegungen. Schon in der altägyptischen Ma’at-Konzeption gehört Gerechtigkeit zu den Grundwerten. Ma’at ist ein Konzept, das nicht einfach zu übersetzen und zu beschreiben ist. Meist wird das Konzept mit den Begriffen ‚Wahrheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Weltordnung‘ oder auch ‚Richtungssinn‘ übersetzt. Jan Assmann, einer der profiliertesten Ägyptologen und Kenner der altägyptischen Kultur, Religion und Sprache, beschreibt das Konzept der Ma’at wie folgt: Mit dem Konzept der Ma’at hat eine vergleichsweise sehr frühe Kultur auf höchster Abstraktionsstufe einen Begriff geprägt, der menschliches Handeln und kosmische Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat, Kult und religiöses Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt. Als Zentralbegriff des ägyptischen Denkens ist er unübersetzbar: Er steht und fällt mit dem ägyptischen Weltbild. Es scheint kaum eine Sprache zu geben, die ein Wort ähnlichen Bedeutungsumfangs kennt …3 Und näher führt er zum Begriffsinhalt aus: Die ägyptische Ma’at-Lehre bezieht sich auf den Ort des Individuums in der Gesellschaft, den Ort der Gesellschaft im pharaonischen Staat und den Ort des Staates im Kosmos. Als der Oberbegriff aller Bindungen und Verpflichtungen – gegenüber dem Mitmenschen, dem Staat und dem ‚Heiligen‘ – und als Oberbegriff aller Denken und Handeln steuernden Axiome entspricht sie dem, was am angemessensten als ‚ägyptische

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1848): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe, Band 9. Berlin. Hier S. 123. Vgl. bezüglich Afrika u.a.: Abiola Irele, F.; Jeyifo, Biodun (Hrsg.) (2010): The Oxford Encyclopedia of African Thought. Oxford. Assmann, Jan (2006): Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München. Hier S. 17.

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Religion‘ zu bezeichnen wäre. … als In- und Oberbegriff aller Normen, Verpflichtungen und Axiome, die das menschliche Leben in den sozialen und politischen Ordnungen des Zusammenlebens steuern, deckt sie sich mit dem, was auch ‚Kultur genannt werden könnte, sie ist eine ‚symbolische Sinnwelt‘, die alles Handeln und alle Ordnungen und Institutionen fundiert.4 Der Begriff Ma’at impliziert eine Einheit von Kosmos und Gesellschaft, Ordnung und Gerechtigkeit. Er bezeichnet zugleich ein Programm einer politischen Ordnung, die nicht nur unter den Menschen soziale Gerechtigkeit herstellt, sondern dadurch Menschen- und Götterwelt in Einklang bringen und die Welt insgesamt in Gang halten will. Denn der Ägypter lebt in einer Welt, die seiner Überzeugung nach unablässiger Inganghaltung bedurfte.5 Hier wird ein großer Unterschied zum griechischen Weltbild deutlich: Die im Ma’at-Konzept beschriebene Weltordnung wird nicht als vom Menschen unabhängig gedacht. Während die Griechen im wohlgeordneten kosmischen Sein das Wesen der Welt erblicken und dies zum Modell der politischen, sozialen und personalen Ordnung erheben, ist in der ägyptischen Kosmologie die Ordnung der Welt beständig durch das umschließende Nicht-Sein und das Chaos der Isfet, Schwester der Ma’at, die für Chaos, Leid und Verwüstung steht, bedroht. Ma’at bedeutet die ständige Aufforderung, politische Ordnung, soziale Gerechtigkeit und eine Harmonie zwischen Götter- und Menschenwelt herzustellen und die Welt in Gang zu halten. Um ein rechtes Leben zu führen, kommt es darauf an, sich selbst als Glied eines umfassenden Ganzen zu verstehen und sich im Reden und Handeln diesem Ganzen einzufügen. Dabei geht Ma’at über das, was Menschen einander schulden, hinaus: Sie bindet den Menschen in eine göttliche Ordnung des Kosmos ein: Für die Ägypter wird Gemeinschaft dadurch hergestellt und aufrecht erhalten, daß jeder einzelne die Ma’at tut und die Ma’at sagt. Dadurch knüpft und stärkt er das Netz der Konnektivität, das sowohl seinem eigenen Leben Bestand über den Tod hinaus verleiht als auch die Harmonie des menschlichen Zusammenlebens garantiert. Es kommt darauf an, sich selbst als Glied eines umgreifenden Ganzen zu verstehen und sich in Reden und Handeln diesem Ganzen einzufügen.6

4 5 6

Ebd. hier S. 18. Ebd. hier S. 34. Assmann, Jan (2002): Gerechtigkeit, Vergänglichkeit und Gedächtnis im alten Ägypten, in: Akademie-Journal (2), S. 62–66. Hier S. 63.

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Mit dem Zerfall des Alten Reiches7 (ab etwa 2285 v. u. Z.) ging ein neuer Prozess kritischer Reflexion einher, da mit der neuen politischen Situation auch dessen ideologische Entsprechung in Frage gestellt wurde. Es entstand ein Bedürfnis nach neuen Orientierungen, nach einem Diskurs über die Ma’at. Assmann bezeichnet solche Texte als Ma’at- oder Weisheitsliteratur. Die Weisheitsliteratur zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr grundsätzliche Erwägungen über Menschen und Welt anstellt, nach Regeln der Wahrheit, Gerechtigkeit und Ordnung sucht. Sie kann nach Assmann in zwei Gattungen unterteilt werden: die Lebenslehren und die Klagen. Zu ersteren gehören u.a. die Maximen des Ptahhotep. Dieser Text und die Lehre für Merikare8 werden in der Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie Afrikas oft als die ersten genuin philosophischen Texte beschrieben9 – ähnlich wie sich die europäische Philosophie mit Thales von Milet einen Anfangspunkt gesetzt hat. Ptahhotep (5. Dynastie, unter Pharao Isesi, ca. 2388 bis 2356 vor Chr.), Wesir und Stadtverwalter, ist der Verfasser von insgesamt 37 Lebensmaximen, die als die älteste vollständig erhaltene Weisheitslehre gelten. Eine Kopie dieser Maximen des Ptahhotep, der Papyrus Prisse, befindet sich heute in der französischen Nationalbibliothek in Paris. Ptahhotep beschäftigt sich in seinen Maximen mit verschiedenen Fragen des guten Verhaltens in der Gemeinschaft. Dabei ist die Habgier eine der Eigenschaften, die Ptahhotep besonders geißelt, denn ist Ma’at der Wille der Gemeinschaft, dann ist Habgier der Eigenwille, der sich dem Einfügen in die Gemeinschaft entgegen stellt und damit die Kultur der Solidarität und des Gemeinwillens zerstört und Unruhe, Unordnung und Zerstörung stiftet. Auch in den „Klagen eines Bauern“10, ein Text auf vier sich ergänzenden Papyri aus dem Mittleren Reich (12. Dynastie, ca. 1800 v. Chr.), stellt die Ordnung der Ma’at den Begründungshintergrund dar. In der hier erzählten Geschichte zieht ein niedrig gestellter Bauer namens Chui-ni-Anup aus einer Oase im Wadi Natrun ins Niltal, um seine Produkte zu verkaufen. Durch eine List wird er seiner gesamten Habe beraubt. Chui-ni-Anup wendet sich daraufhin an 7 8

9 10

Nach dem Tod von Pepi II. (6. Dynastie, etwa 2245 bis 2180 v. Chr.) zerfiel das Land in mehr oder weniger unabhängige Fürstentümer, die die Könige in Memphis immer weniger kontrollieren konnten. Die Lehre für Merikare entstand etwa um 1990 v. Chr. als eine Art Lehrschrift des Königs an seinen Sohn Merikare. Vater und Sohn werden in die 9./10. Dynastie datiert, d.h. in eine Zeit, in der die Zentralgewalt aufgehoben und Ägypten in zwei voneinander unabhängige Landesteile zerfallen war. Diese These wird heute von verschieden Philosophen, Ägyptologen und Historikern, u.a. Cheikh Anta Diop, Mubabingo Bilolo, Martin Bernal (Black Athena), Georges James (Stolen Legacy), Molefi Kete Asante oder Théophile Obenga, vertreten. pBerlin 3023 + 3025 und Ramesseum Papyrus 10499, pBM 10274, Ägyptischen Museums Berlin. Siehe auch: Hieratische Papyrus aus den Königlichen Museen zu Berlin. Band 4: Erman, Adolf (Hrsg.) (1908): Literarische Texte des mittleren Reiches. Teil 1: Vogelsang, Friedrich; Gardiner, Alan H. (Hrsg.) (1908): Die Klagen des Bauern. Umschreibung und Übersetzung. Leipzig.

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den in dieser Gegend zuständigen Großgrundbesitzer, Rensi, der zudem Obervermögensverwalter des Königs ist. Rensi lässt die Bitte des Chui-ni-Anup unbeantwortet. Daraufhin trägt der Bauer seine Klagereden höheren Ortes vor, in denen er die Ma’at, Ordnung, Recht und Unrecht erörtert und Rechtsgleichheit zwischen Arm und Reich voraussetzt. Seine Worte sind so gut gewählt, dass Rensi dem König davon berichtet. Dieser ordnet aus Interesse an, die Reden des Bauern weiterhin unbeantwortet zu lassen und sie für sich aufzuzeichnen, während er für den Lebensunterhalt des Bauern und seiner Familie sorgt. Zum Schluss der neunten und letzten Rede hält der Bauer die Lage schließlich für ganz aussichtslos und wünscht sich selbst den Tod, um sich beim Totengott Anubis über Rensi zu beschweren. Schließlich wird ihm Recht gegeben; der betreffende Dieb wird mit seinem gesamten Besitz an Chui-ni-Anup übergeben. Deutlich wird an diesem Text, dass das der Rechtsprechung unterliegende Normen- und Wertesystem bzw. die unterliegende kosmische Ordnung hier bewusst reflektiert werden und auf dieser Basis Rechtsansprüche eingefordert werden. Ma’at fungiert in den langen Klagen und Erörterungen des Bauern als Horizont letztinstanzlicher Normenbegründung. Ein distanznehmendes Bewusstseins hinsichtlich der der eigenen Weltanschauung unterliegenden Grundprinzipien scheint mir hier deutlich zu werden, denn was der Bauer dem Grundbesitzer letztlich vorwirft ist ein Verhalten, das den Regeln der Ma’at widerspricht: Wer an verantwortlicher Stelle gegen das Unrecht nicht einschreitet, wird an ihm mitschuldig. Und so gipfeln die neun Klagen in dem Spruch: Es gibt kein Gestern für den Trägen, es gibt keinen Freund für den, der für die Ma’at taub ist, es gibt kein Fest für den Habgierigen.11 Dies als kurzer Ausflug in das alte Ägypten, auf dessen kulturelles und geistiges Erbe nicht nur der Mittelmeerraum Anspruch erhebt, sondern das ebenso der Ideengeschichte des afrikanischen Kontinents zugeordnet werden muss. So argumentiert unter anderem Théophile Obenga, Ägyptologe, Historiker und Linguist aus der Republik Kongo, dass Ma’at bis heute in den afrikanischen Gesellschaften ein leitendes Prinzip ist und führt dies anhand einiger sprachlicher Beispiele aus verschiedenen afrikanischen Sprachen – wie dem Fang, Yoruba, Hausa oder Nuer – aus.12 Einer der prominentesten Vertreter dieses Arguments ist ohne Zweifel der senegalesische Ägyptologe, Philosoph und Sprachwissenschaftler Cheikh Anta Diop, der die These vom Ursprung der afrikanischen Philosophie im alten Ägypten bereits 1956 vertrat.13 Beide Autoren gehen davon aus, dass die altägyptische Sprache, so wie sie uns durch die Hieroglyphen, 11 12 13

Zit. nach Assmann, Jan (2006): Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München. Hier S. 60. Vgl. Obenga, Théophile (2006): Egypt: Ancient History of African Philosophy, in: Wiredu, Kwasi (Hrsg.): A Companion to African Philosophy. Oxford u.a, S. 31–49. Hier S. 48. Vgl. Diop, Cheikh Anta (1956): Nations Négres et Cultures. Paris.

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die hieratischen und demotischen Schriften oder das Koptische überliefert ist, die gleiche Sprachgemeinschaft mit den modernen afrikanischen Sprachen, wie sie heute in Schwarzafrika gesprochen werden, teilt. Neben linguistischen Strukturen lasse sich auch eine verwandtschaftliche Nähe zwischen kosmischen und moralischen Konzepten nachweisen. Zu den jüngeren Befürwortern dieser These gehören Charles Verharen, der das Konzept der Ma’at in den ethischen Prinzipien der Oromo (Äthiopien) wiederzufinden glaubt oder Teodros Kiros, der Ma’at als moralisches Ideal dem modernen afrikanischen Denken zugrunde legen möchte – im Gegensatz zu den individualethischen Prinzipien einer kapitalistischen Ethik.14 ‚Traditionelle‘ Gerechtigkeitskonzepte im subsaharischen Afrika: Ubuntu

Die Suche nach ‚traditionellen‘, das heißt vorkolonialen (und dementsprechend von ‚westlichen‘ Denktraditionen möglichst unberührten) Denkformen (epistemen) und Werten nimmt in der Philosophie Afrikas und anderen Sozialwissenschaften einen breiten Raum ein. Das Ziel dieser Suche ist ein Dreifaches: – Die Befreiung von kolonial aufgezwungenen Kategorien und Denkformen, die sowohl über die christliche Missionierung als auch über die kolonialen Bildungssysteme und die aufgezwungenen Landessprachen (Englisch, Französisch, Portugiesisch) eingeführt und verinnerlicht wurden. – Die Rekonstruktion der Ideengeschichte eines Kontinents, dessen Kolonisierung ab dem 19. Jahrhundert nicht nur zu einem Abbruch indigener Denktraditionen geführt hat, sondern mit einer bewussten Unterdrückung und Zerstörung indigener Institutionen, Werte- und Moralsysteme sowie Denktraditionen einhergegangen ist. Ziel dieser Rekonstruktion ist die Wiederherstellung der Würde des Afrikaners und der Anerkennung seiner kulturhistorischen Leistungen. – Die Suche nach Anknüpfungspunkten aus der Geschichte (Werte, Konzepte, Rechtstraditionen) zur Lösung heutiger Konflikte und Herausforderungen, denn indigene Konzepte bieten vielfach eine adäquatere und nachhaltigere Lösungsmöglichkeit als importierte. Zu den heute bekanntesten und politisch einflussreichsten indigenen Konzepten gehört ohne Zweifel das Konzept des ubuntu. Es erfreut sich insbesondere seit den 1990er-Jahren einer zunehmenden Diskussion15 und Wahrnehmung, 14 15

Beide Aufsätze in: Bekele Gutema/Charles C. Verharen (ed.): African Philosophy in Ethiopia. Ethiopian Philosophical Studies II. Washington 2013 (Verharen ab S. 185 u. Kiros ab S. 203). Vgl. Gade, Christian B.N. (2011): The historical development of the written discourses on ubuntu, in: South African Journal of Philosophy (30/3), S. 303–329. Hier S. 319.

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auch außerhalb des afrikanischen Kontinents. Aber was genau ist ubuntu? Ubuntu wird in der inzwischen sehr breiten Literatur meist als eine Art (lebens)philosophisches Konzept, verwurzelt in den vorkolonialen Traditionen Afrikas und im Denken der Afrikaner, beschrieben – ein Konzept, das zum ‚Wesen‘ einer spezifischen afrikanischen Seinsweise gehöre. Der Begriff selbst stammt aus der Bantusprache der Zulu und Xhosa im südlichen Afrika, findet aber Entsprechungen in vielen anderen afrikanischen Sprachen. Die Übersetzungen reichen von ‚Menschlichkeit‘, ‚Nächstenliebe‘, ‚Gemeinsinn‘ bis hin zu ‚Großzügigkeit‘. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs ist also breit. Seit einigen Jahren wird er häufig mit dem folgenden Zulu-Xhosa Aphorismus verdeutlicht: „umuntu ngumuntu ngabantu“ – „Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen.“16 Dieser Satz verweise darauf, dass jeder Mensch andere Menschen brauche, um überhaupt ein Mensch zu sein, so die geläufigen Interpretationen. Jeder Mensch sei Teil eines Ganzen, eingebunden in ein umfassendes Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten. Ubuntu betone die Existenz eines universellen Bandes, das alle Menschen miteinander verbindet – ebenso wie den Menschen mit allen anderen Arten des Seins im Universum. Ubuntu erkenne das wechselseitige Verbundensein der natürlichen und übernatürlichen, der physischen und metaphysischen, der sichtbaren und unsichtbaren Dimensionen der Welt, der Lebenden, der Ahnen und der noch Ungeborenen an. Das Konzept wird als eine Grundhaltung des wechselseitigen Respekts und der Anerkennung des anderen verstanden, die auf die Achtung der Menschenwürde und das Streben nach einem harmonischen und friedlichen Zusammenleben in der Gemeinschaft ziele. Der nigerianische Philosoph Michael Onyebuchi Eze interpretiert ubuntu wie folgt: A person is a person through other people strikes an affirmation of one’s humanity through recognition of an „other“ in his or her uniqueness and difference. It is a demand for a creative intersubjective formation in which the „other“ becomes a mirror (but only a mirror) for my subjectivity. This idealism suggests to us that humanity is not embedded in my person solely as an individual; my humanity is co-substantively bestowed upon the other and me. Humanity is a quality we owe to each other. We create each other and need to sustain this otherness creation. And if we belong to each other, we participate in our creations: we are because you are, and since you are, definitely I am. The „I am“ is not a rigid subject, but a dynamic self-constitution dependent on this otherness creation of relation and distance.17 Einer der bekanntesten Vertreter des ubuntu-Konzeptes ist Desmond Tutu, ehemaliger Erzbischof von Kapstadt, Träger des Friedens-Nobelpreises (1984),

16 17

Gade zeigt, dass die Anzahl der Publikationen zu ubuntu seit dem Ende der Apartheid geradezu explodiert ist: 1992: 57, 1994: 167, 1995: 358, 2009: 12600. Vgl. u.a. das Vorwort in Shutte, Augustine (1995): Philosophy for Africa. Milwaukee. Eze, Michael Onyebuchi (2010): Intellectual History in Contemporary South Africa. New York. Hier S. 190–191.

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prägende Gestalt der schwarzen Theologie der Befreiung (oft auch als ubuntu-Theologie bezeichnet) und ehemals Vorsitzender der südafrikanischen TRC (Truth and Reconciliation Commission, Wahrheits- und Versöhnungskommission). Er beschreibt ubuntu so: Das erste Gesetz unseres Seins lautet, dass wir in ein empfindliches Netzwerk der gegenseitigen Abhängigkeit von unseren Mitmenschen und der übrigen Schöpfung Gottes eingebunden sind. Das Wissen um diese gegenseitige Abhängigkeit nennt man in Afrika, in der Sprache der Nguni, ubuntu, oder botho auf Sotho – Wörter, die sich kaum übersetzen lassen. Es ist die Essenz des Menschseins. Es bezeichnet die Tatsache, dass mein Menschsein in dem Ihren aufgeht und unlöslich darin eingebunden ist. Ich bin Mensch, weil ich dazugehöre. Es umfasst Ganzheit, es umfasst Mitgefühl.18 Und er betont: Im Sinne von ubuntu ist Erfolg aufgrund aggressiven Wettbewerbsverhaltens und auf Kosten anderer kein hohes Gut. Letztlich sind soziale und gemeinschaftliche Harmonie und das Wohlergehen aller unser Ziel. Ubuntu sagt nicht: ‚Ich denke, also bin ich.‘ Es sagt vielmehr: ‚Ich bin Mensch, weil ich dazugehöre. Ich nehme teil. Ich teile.‘ Harmonie, Freundlichkeit, Gemeinschaft sind hohe Güter. Soziale Harmonie ist für uns das summum bonum – das höchste Gut. Alles, was dieses erstrebenswerte Gut untergräbt, unterminiert, ist zu meiden wie die Pest. Wut, Groll, Rachsucht, selbst Erfolg durch aggressiven Wettbewerb zerstören dieses Gut.19 Die südafrikanischen Philosophen Augustine Shutte und Mogobe B. Ramose sowie der in Südafrika lebende und lehrende Philosoph Thaddeus Metz sprechen explizit von einer ubuntu-Ethik.20 Charakteristisch für die Ethik des ubuntu seien Mitleid und Mitgefühl mit dem Anderen, Respekt für die Rechte von Minderheiten, ein Handeln, das auf Konsens und Verständigung ziele, ein Geist gegenseitiger Unterstützung und Zusammenarbeit, sowie Gastfreundschaft, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit. Im Anschluss an Bischof Tutu definiert Metz das einer afrikanischen Ethik zugrunde liegende Prinzip wie folgt: An action is right just insofar as it produces harmony and reduces discord; an act is wrong to the extent that it fails to develop community. 21

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Tutu, Desmond (2008): Versöhnung. Sei wahr und werde frei. Freiburg. Hier S. 110. Ebd. hier S. 112. Vgl. Shutte, Augustine (2001): Ubuntu: An Ethic for a New South Africa. Pietermaritzburg. Vgl. Ramose; Mogobe B. (1998): The ethics of Ubuntu, in: Coetzee, P.H.; Roux, A.P.J. (Hrsg.): The African Philosophy Reader. New York/London, S. 324–330. Metz, Thaddeuz (2007): Toward an African Moral Theory, in: The Journal of Political Philosophy (5/3), S. 321–341. Hier S. 334.

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Eine Handlung, die den Leitlinien einer ubuntu-Ethik entspricht, orientiert sich also daran, Harmonie herzustellen und Uneinigkeit zu reduzieren und trägt damit zur Entwicklung und Stabilisierung der zwischenmenschlichen Gemeinschaft bei – ein Motiv, dem wir bereits im Abschnitt zur Ma’at begegnet sind. Säulen dieser harmonischen Gemeinschaft sind laut Metz das Prinzip der Solidarität und der geteilten Identität. Unter Solidarität versteht er dabei die moralische Verpflichtung, sich aktiv um das Wohl des Anderen zu sorgen und ihm sowohl im Sinne von sympathisch-emotionalen Reaktionen als auch in Form von praktischer Hilfe beizustehen. Die geteilte Identität bezeichnet eine grundsätzlich wir-orientierte Betrachtungsweise des Lebens, in der das Ich sich als Teil einer Gruppe versteht und diese Gruppe wiederum das jeweilige Ich als zugehörig betrachtet, sowie die Existenz gemeinsamer Ziele und die gemeinsame Koordinierung und Durchführung von Projekten, die zu der Realisierung dieser Ziele beitragen.22 Das Gegenteil einer solchen geteilten Identität wäre die Abspaltung in Form einer Selbstbestimmung im Gegensatz zu anderen oder der Bestimmung der anderen im Gegensatz zum Selbst. Beispiel einer solchen Art der Abspaltung wäre die Armut. Unter der Perspektive des ubuntu-Konzeptes wird Armut nicht allein als Mangel an materiellen Ressourcen verstanden, sondern in erster Linie als eine Situationen, in der Menschen aufgrund dieses Mangels daran gehindert werden, ihre sozialen Beziehungen zu leben und sich im Gegensatz bzw. in der Abtrennung zu anderen Menschen erleben. Armut manifestiert sich damit in einer Form sozialer Trennung. Fragen einer gerechteren Verteilung von Chancen und Ressourcen, von Hilfe und Verantwortung für den Anderen werden unter dieser Perspektive diskutiert. Grundsätzlich wird von den verschiedenen Interpreten der ubuntu-Ethik hervorgehoben, dass diese sich vor allem darin von ‚westlichen‘ Konzepten unterscheidet, dass sie nicht den einzelnen isolierten Menschen in das Zentrum der Überlegungen stellt, sondern die relationale Bestimmung menschlichen Lebens hervorhebt und interpersonalen Beziehungen einen moralischen Status verleiht. Während im euro-amerikanischen Diskurs Verteilungsfragen und Fragen der Verantwortung gemeinhin am Individuum und dessen Freiheits- und Eigentumsrechten bzw. Pflichten gegenüber anderen diskutiert werden, betrachtet die ubuntu-Ethik, so wie sie von verschiedenen Autoren beschrieben wird, Fragen der Verteilung und der Verantwortung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Beziehungen in der Gemeinschaft. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass einschneidende Eigentumsunterschiede ebenso abgelehnt werden wie die Verschwendung von Besitz, denn Besitz geht im Sinne von ubuntu immer mit einer Verpflichtung für die Erhaltung aller Mitglieder der Gemeinschaft einher.23 22 23

Ebd. hier S. 335. Vgl. u.a. Metz, Thaddeus; Gaie, Joseph B.R. (2010): The African ethic of Ubuntu / Botho: implications for research on morality, in: Journal of Moral Education, (39/3), S. 273–290. Hier S. 277–278.

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Einer der derzeit bekanntesten und auch umstrittensten Analysten des ubuntu-Konzepts ist der Südafrikaner Leonhard Praeg, der ubuntu klar als eine Konstruktion auf der Basis anthropologisch-historischer Vorstellungen bezeichnet – allerdings als eine notwendige Konstruktion im Rahmen der Unabhängigkeitsbestrebungen Afrikas. In seinem Artikel An Answer to the Question: What is [ubuntu]?24 trifft er die wichtige Unterscheidung zwischen „the work of ubuntu“ (den Manifestationen von ubuntu im Leben der Menschen bzw. im alltäglichen sprachlichen Gebrauch) und dem Diskurs über ubuntu (‚the discourse on ubuntu‘). Im Mittelpunkt des Diskurses steht letztlich die Frage, was es heute bedeutet, Afrikaner zu sein.25 Die Debatte um ubuntu habe wesentlich zur Entstehung einer neuen abstrakten Gegenwartsethik beigetragen, wie sie unter anderem in den oben genannten Ansätzen formuliert wird. Der Grund dafür, dass eine Definition des Begriffs heute so schwierig ist, liegt seiner Meinung nach darin, dass es ein in einem Zwischenraum befindliches Konzept ist, ein Konzept, entstanden in einer Übergangsgesellschaft, dessen Bedeutung sich in der Spannung zwischen lokalen Bedürfnissen und globalen Erwartungen entfaltet. Die Bedeutung von ubuntu reproduziert sich im komplexen Raum zwischen dem lokalen Bedürfnis nach kultureller Identität und der globalen Forderung nach der Umsetzung der Menschenrechte, wobei die Bedeutung dieser Rechte durch ein lokales Verständnis aufgeladen bzw. verhandelt wird, wie eben der Vorstellung von einem spezifischen afrikanischen Humanismus, der im ubuntu-Konzept seinen Kern hat. Allerdings macht Praeg auch deutlich, dass die Orientierung auf die Gemeinschaft kein spezifisch afrikanisches Charakteristikum ist (wie oft argumentiert wird), sondern in allen menschlichen Gemeinschaften zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Geschichte eine mehr oder weniger große Rolle gespielt hat – auch in Europa. Allerdings betrachtet Europa diesen Teil seiner Geschichte mit dem Zeitalter der Aufklärung, in dem die Macht der Kirche als gemeinschaftsstiftende Kraft nachließ und Zugehörigkeit zu einer Frage des Denkens wurde (belonging became a problem of thought), als überwunden. Dieses teleologische Entwicklungsmodell stellt Praeg allerdings in Frage und verweist darauf, dass starke kommunalistische Tendenzen auch in modernen Gesellschaften weiterhin vorhanden sind, allerdings eher ignoriert werden. Praeg betrachtet den gegenwärtigen Diskurs um ubuntu Für Praeg ist der Diskurs um Ubuntu ein Versuch der Thematisierung des Problems der Infragestellung von Zugehörigkeiten (belonging) – die bislang eine unhinterfragte (unsichtbare) Tatsache waren nun aber zuneh24 25

Vgl. Praeg, Leonhard (2008): An Answer to the Question: What is [ubuntu]?, in: South African Journal on Philosophy (27/4), S. 367–385. In seine jüngsten Buch A Report on Ubuntu trifft Praeg diese Unterscheidung noch deutlicher: Hier trifft er die Unterscheidung zwischen ‚ubuntu‘ (kleingeschrieben) als einer Lebenspraxis und ‚Ubuntu‘ (großgeschrieben) als einem abstrakten postkolonialen philosophischen Konzept. Leonhard Praeg: A Report on Ubuntu. University of Kwazulu Natal Press, Pietermaritzburg, SA 2014, S. 11.

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mend in Frage gestellt werden – und individuellen Rechten und Freiheiten und damit eine Auseinandersetzung mit der Moderne.26 Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die Arbeit der ‚Wahrheits- und Versöhnungskommission‘ in Südafrika dem Diskurs über ubuntu einen enormen Auftrieb gegeben hat bzw. zu den auslösenden Momenten der heutigen akademischen Debatte gehört. Südafrikas Prozess der Versöhnung nach Jahrzehnten der Apartheid und der erfolgreiche Übergang von einer rassistischen undemokratischen Gesellschaft zur Demokratie werden in enger Verbindung zum ubuntu-Konzept gesehen, das auch der Arbeit der TRC zugrunde lag.27 Ziel der Kommission war nicht in erster Linie die Verurteilung von Verbrechern, was zu immer neuem Hass geführt hätte, da die Problemlage nach Jahren der Apartheid und des militanten Befreiungskampfes ausgesprochen komplex war und Täter und Opfer auf allen beteiligten Seiten produziert hatte, sondern Opfer und Täter in einen „Dialog“ zu bringen und somit eine Grundlage für die Versöhnung der zerstrittenen Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Thema war sowohl die Gewalt der Weißen (Polizei und Militär) gegenüber Schwarzen, als auch die Gewalt von Schwarzen gegenüber Weißen, sowie die Gewalt von Schwarzen untereinander (siehe der Konflikt zwischen ANC und ­INKATHA ab etwa 1989). Nicht die Verurteilung stand im Vordergrund, sondern die Wahrnehmung und das Verstehen des „Anderen“, um einen Versöhnungsprozess und eine gesellschaftliche Wiedereingliederung von Opfern und Tätern möglich zu machen. Den Angeklagten wurde Amnestie zugesagt, wenn sie ihre Taten zugaben, den Opfern wurde finanzielle Hilfe versprochen. Das ubuntu-Konzept wurde hier als eine Art Utopie vom friedlichen Zusammenleben in einer modernen, multikulturellen Gesellschaft verwendet, als eine politische Leitidee bei der Überwindung der Realität sozialer Konflikte auf nationaler und globaler Ebene.28 In diesem Zusammenhang wurde das Konzept zu einem Instrument, ja zur gesellschaftlichen Basis für Versöhnung und Überwindung von 26 27

28

Praeg 2014: 198. Die Kommission wurde 1996 durch Präsident Nelson Mandela eingesetzt und untersuchte bis 1998 auf der Grundlage des Gesetzes zur Förderung der nationalen Einheit und Versöhnung (Promotion of the National Unity and Reconcilation Act) Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwischen dem 1. März 1960 und 10. Mai 1994 mit dem Ziel, eine nationale Versöhnung möglich zu machen. Der Begriff ubuntu fand im Zusammenhang mit dem schwierigen Übergangsprozess auch Eingang in die Übergangsverfassung Südafrikas aus dem Jahr 1993. Hier heißt es im Kapitel 15, Punkt „National Unity and Reconciliation: „These can now be addressed on the basis that there is a need for understanding but not for vengeance, a need for reparation but not for retaliation, a need for ubuntu but not for victimisation.“ Quelle: Constitution of the Republic of South Africa Act 200 of 1993, http://www.info.gov.za/documents/constitution/93cons.htm. In der heute gültigen Verfassung aus dem Jahr 1996 findet sich der Begriff nicht mehr. Vgl. Van Binsbergen, Wim (2001): Ubuntu and the Globalisation of Southern African Thought and Society, in: Boele van Hensbroek, Peter (Hrsg.): African Renaissance and Ubuntu Philosophy. Special Issue of QUEST: An African Journal of Philosophy (15/1– 2), S. 53–89.

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Differenzen und zur Bildung einer neuen moralischen Gemeinschaft. Versöhnung wurde zu einem Leitbegriff, der als tief verankert in afrikanische Traditionen verstanden wurde, ein Prinzip, das eher auf die Heilung der Gemeinschaft, auf die Wiederherstellung der Harmonie in der Gemeinschaft zielt als auf Bestrafung. Allerdings ist dieses Prinzip und auch die Arbeit der TRC vielfach kritisiert worden. Im Focus der Kritik stand insbesondere der Umstand, dass Täter, die vor der Kommission aussagten, straflos ausgingen. Dies wurde als Zugeständnis angesehen, um die begangenen Verbrechen überhaupt aufklären zu können, führte in der Praxis jedoch dazu, dass Opfer und Angehörige oft zurück blieben, ohne das Gefühl von ausgleichender Gerechtigkeit erlangt zu haben. Finanzielle Kompensationen blieben zudem oft aus oder wurden erst sehr spät gezahlt. So entspann sich um das Thema ‚Versöhnung und/oder Gerechtigkeit‘ eine breite gesellschaftliche Diskussion in Südafrika. Fragen von Versöhnung und Gerechtigkeit sind allerdings nicht nur ein Thema in Südafrika, sondern ebenso in anderen Ländern Afrikas, die unter langjährigen Bürgerkriegen und massiven Menschenrechtsverletzungen zu leiden hatten. Unter dem Begriff „transitional justice“ (Übergangsjustiz) werden hier Möglichkeit und Grenzen der Integration indigener Rechtssysteme und Wertvorstellungen in den heutigen Nationalstaat und seine Institutionen diskutiert. ‚Transitional justice‘ wird vom International Center for Transitional Justice wie folgt definiert: Transitional justice refers to the set of judicial and non-judicial measures that have been implemented by different countries in order to redress the legacies of massive human rights abuses. These measures include criminal prosecutions, truth commissions, reparations programs, and various kinds of institutional reforms.29 Sie umfasst also juristische und andere Maßnahmen, die das Erbe massiver Menschenrechtsverletzungen helfen sollen zu be- und verarbeiten. Als Vorläufer dieser Art der Gerechtigkeit wird häufig auf das Nürnberger Gericht nach dem Ende des 2. Weltkrieges verwiesen. Ziel ist es, einen Übergang von einer durch Gewalt und Unterdrückung geprägten Gesellschaft hin zu gesellschaftlicher Stabilität auf der Basis eines gesellschaftlichen Vertrauens zu ermöglichen und zerstörte Rechts-, Regierungs- und Bildungssysteme wieder aufzubauen, und zwar auf der Basis einer möglichst breiten gesellschaftlichen Akzeptanz. Zu den wichtigsten Bestandteilen der „transitional justice“ gehören Wahrheitsund Versöhnungskommissionen, indigene Gerichte (wie die gacaca-Gerichte in Rwanda), aber auch die Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen über den Internationalen Gerichtshof, es gehören Reparationszahlungen dazu ebenso wie Versuche einer institutionellen Reform insbesondere der Exekutive und Judikative. 29

Quelle: http://ictj.org/about/transitional-justice.

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Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf indigene Formen der Rechtsprechung. Diese erfolgt aus zweierlei Gründen: – Traditionelle Rechtssysteme werden als Teil der kulturellen Identität betrachtet und ihre Wiederbelebung als Beitrag zum Prozess der Dekolonisierung. – Im Prozess der Versöhnung nach Erfahrungen massiver Menschenrechtsverletzungen, wie im Falle Ruandas oder auch Südafrikas, wird auf traditionelle Rechtssprechungs- und Versöhnungsverfahren zurückgegriffen, um einen nationalen Aussöhnungsprozess möglich zu machen. Im Focus der Diskussionen steht häufig Ruanda. Hier wurde nach dem Genozid im Jahr 1994 im Rahmen der juristischen Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung auf die Einrichtung traditioneller gacaca-Gerichte zurückgegriffen.30 Nach dem Völkermord an den Tutsi mit 800.000 Toten und 500.000 Opfern von Vergewaltigungen stand Ruanda vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Geschätzte 120.000 Anklagen mussten verhandelt werden (so viele Angeklagte befanden sich in den Gefängnissen, die allerdings nur für 15.000 ausgelegt waren). Nur 72 der Hauptanklagen gegen die Drahtzieher des Völkermordes wurden vor dem Internationalen Gerichtshof in Arusha (Tansania) verhandelt. Zugleich stand das nationale Rechtssystem nach dem Völkermord vor dem Zusammenbruch: Von den ehemals 785 Richtern gab es nach dem Völkermord nur noch 20 (die anderen waren tot, geflohen oder waren selbst am Genozid beteiligt gewesen). Angesichts dieser Situation verabschiedete die Regierung im Jahr 2003 ein Dekret zur provisorischen Freilassung von 50.000 Gefangenen, die am Genozid beteiligt gewesen waren, unter der Vorbedingung, dass über deren Verurteilung ein gacaca-Gericht entscheiden solle. 2007 waren etwa 12.000 gacaca in allen Teilen des Landes entstanden. Das gacaca-Gericht ist eine vorkoloniale Form der Rechtsprechung in Ruanda. Das aus dem Kinyarwanda stammende Wort bedeutet wörtlich übersetzt „Gras-Gerechtigkeit“ und leitet sich von dem Umstand ab, dass im Gras sitzend verhandelt wurde. Verhandelt wurden in den dörflichen Gemeinden Verletzungen von sozialen Normen und kleinere, inner- und interfamiliäre Streitigkeiten, wie Landrechte, Erbstreitigkeiten oder Eigentumsdelikte. Richter in den gacaca waren angesehene männliche Dorfälteste, die Inyangamugayo (ehrbare Personen). Diese erhielten ihre Autorität vom Mwami, dem ruandischen traditionellen Herrscher, vor dem allein Kapitalverbrechen, wie zum Beispiel Tötungsdelikte, verhandelt wurden. Die Schlichtungssprüche der gacaca beinhalteten gemeinnützige Arbeit in der Dorfgemeinschaft oder Reparationszahlungen bzw. andere Formen der Wiedergutmachung. Zum Zeichen der Versöhnung wurden die traditionellen gacaca-Gerichte oft mit einem gemeinsamen 30

Vgl. u.a. Scanlon, Helen; Motlafi, Nompumelelo (2009): Indigenous Justice or Political Instrument? The Modern Gacaca Courts of Rwanda, in: Sriram, Chandra Lekha; Pillay, Suren (Hrsg.): Peace versus Justice? The Dilemma of Transitional Justice in Africa. Scotsville, S. 301–314.

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Essen geschlossen – Ausdruck dessen, dass die gacacas letztlich nicht die Bestrafung eines Täters zum Ziel hatten, sondern den Erhalt des sozialen Friedens. Die Versöhnung von Tätern und Opfern sollte nun auch im Zentrum der modernen gacaca-Gerichte stehen. Folgende Ziele wurden mit der Wiedereinführung dieser Form des Gerichts verfolgt: das Ermöglichen der Wahrheitsfindung über den Genozid, die Förderung eines Prozesses der Versöhnung zwischen den Menschen in Ruanda, das Abschaffen einer „Kultur der Straflosigkeit“ (culture of impunity), die mit als Ursache für den Genozid angesehen wird, eine schnellere Verurteilung der am Genozid beteiligten und nicht zuletzt eine Demonstration der Fähigkeit Ruandas, seine Probleme selbst lösen zu können.31 Als Bestandteil des Prozesses der Bewältigung des Genozids stehen die heutigen gacaca-Gerichte vor einer ungleich größeren Herausforderung als die traditionellen, in denen es im Wesentlichen darum ging, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Daraus folgen eine Reihe der mit dieser Form der Gerichtsbarkeit verbundenen Probleme. Offiziell wurden die modernen gacaca-Gerichte bereits im Jahr 2000 durch ein Gesetz ins Leben gerufen, das diese Form des Gerichts als eine Form der Gerichtsbarkeit im ruandischen System verankerte.32 In den modernen gacacas werden die Richter von der jeweiligen Gemeinschaft, für die sie verantwortlich sind, gewählt. Die für diese Ämter vorgesehenen Personen (über 21 Jahre, von untadeligem Verhalten und nicht in den Genozid verwickelt) erhielten eine rechtliche Grundausbildung; auch Frauen sind heute in dieser Funktion tätig (etwa 29 Prozent). Zudem folgen die gacacas formalen Prozeduren und den Angeklagten wird mehr Raum für die Verteidigung eingeräumt. Fälle, die vor den gacacas verhandelt werden, umfassen Körperverletzung (auch mit Todesfolge) und Eigentumsdelikte. Das Maß der Verurteilungen reicht von Gefängnisstrafen über Entschädigungszahlungen bis hin zu gemeinnütziger Arbeit. Die Probleme, die im Rahmen der Arbeit der Gerichte auftraten, sind im We­sentlichen die folgenden: Internationale Organisationen wie Amnesty International kritisieren vor allem den Mangel an Standards für ein faires Verfahren, die mangelnde Unabhängigkeit und Transparenz dieser Gerichte. Ein großes Problem stellt der Schutz von Zeugen dar, für die es kein Zeugenschutzprogramm gibt. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Zeugen oder auch Richter unter Druck gesetzt oder gar getötet wurden. Zudem wird bemängelt, dass 31

32

Vgl. Scanlon, Helen; Motlafi, Nompumelelo (2009): Indigenous Justice or Political Instrument? The Modern Gacaca Courts of Rwanda, in: Sriram, Chandra Lekha; Pillay, Suren (Hrsg.): Peace versus Justice? The Dilemma of Transitional Justice in Africa. Scotsville, S. 301–314. Hier S. 302. Vgl. auch Rusagara, Frank K. (2005): Gacaca as reconciliation and nation-building strategy in post-genocide Rwanda, in: Conflict Trends (2/2), African Centre for the Constructive Resolution of Disputes (ACCORD) S. 20–29. Hier S. 22. Organic Law 40/2000, 26.01.2001 „Gacaca Jurisdiction“. (Siehe http://www.refworld. org/pdfid/452e37e84.pdf.)

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das Leid der Opfer nicht adäquat anerkannt wird, denn hier, wie im Falle der TRC in Südafrika, steht Wahrheitsfindung vor Bestrafung. Angeklagte, die ihre Verbrechen vor dem Beginn der Verhandlung gestehen, erhalten viel geringere Strafen als jene, denen ihre Beteiligung an Verbrechen erst im Laufe der Verhandlung nachgewiesen wird. Viele Haftstrafen werden in gemeinnützige Arbeit umgewandelt. Da Entschädigungszahlungen von den dazu Verurteilten oft nicht entrichtet werden können, wurde bereits 1999 ein ‚Kompensationsfond‘ von der Regierung eingerichtet. Allerdings geht damit die Grundidee, dass der Verursacher eines Schadens diesen wieder gut machen soll, verloren. Aus diesem Grund wird auch das Entschädigungsprinzip kontrovers diskutiert, ganz abgesehen von der Frage, wo die finanziellen Mittel für die hohe Zahl an nötigen Entschädigungen herkommen sollen. Problematisch ist zudem, dass die gacacas ausschließlich Verbrechen der Hutu gegen die Tutsi verhandeln, aber alle Verbrechen der RPA (Rwandan Patriotic Front, Befreiungsarmee der Tutsi) sowohl gegen Hutu- als auch gegen Tutsi-Zivilisten nur vor Militärgerichten verhandelt werden, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat. So entstehen bereits wieder durch diese Handhabung des Problems neue ethnische Spannungen. Insbesondere Frauenverbände kritisieren, dass häufig die Rechte der Frauen nicht ausreichend geschützt und dass patriarchale Strukturen verfestigt werden. So bleiben im Zusammenhang mit der kommutativen oder auch Strafgerechtigkeit, noch viele Fragen offen und ein weiterer akademischer und gesellschaftlicher Diskurs ist hier dringend gefordert. Anerkannt werden muss jedoch auch, dass die gacaca-Gerichte bis heute einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung der Verbrechen im Jahr 1994 geleistet haben. Im Rahmen eines nationalen Aussöhnungsprozesses können sie jedoch nur als ein Ausgangspunkt betrachtet werden für einen langwierigen und umfassenden Prozess, in dem sich die ruandische Gesellschaft bis heute befindet. Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit Henry Odera Orukas Konzept einer globalen Gerechtigkeit

Während die Idee ‚globale Gerechtigkeit‘ im euroamerikanischen Diskurs im Prinzip erst seit Beginn des neuen Jahrtausends eine Rolle spielt, hat der kenia­ nische Philosoph Henry Odera Oruka diesen Begriff und die damit verbundenen Fragen bereits im Jahr 1981 erstmals aufgeworfen. Dabei verwendet er diesen Begriff in einer Weise, in der er noch heute seine Bedeutung hat, nämlich als Begriff, der den Kontext von Gerechtigkeitsprinzipien auf ein globales Niveau erhebt, mit einer Verantwortung aller für die Durchsetzung von Gerechtigkeit im Weltmaßstab verbindet und damit erstmals dem Ausmaß internationaler Verflechtungen in allen Bereichen anpasst. Als Philosoph aus Kenia, und damit in einer in jeder Hinsicht marginalisierten Position, sind seine Arbeiten zu dieser Thematik bis heute weitgehend unreflektiert geblieben.

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Henry Odera Oruka (1944 bis 1995) war und ist bis heute einer der einflussreichsten und am meisten rezipierten Philosophen Afrikas. Seine philosophischen Arbeiten stechen durch zwei Merkmale besonders hervor: Sie sind zum einen geprägt durch eine erfrischende Radikalität und zum anderen durch eine besondere Nähe zur Lebensrealität der Menschen. Die Fragen, die ihn bewegt und zu philosophischer Auseinandersetzung angespornt haben, waren stets diejenigen, die aufs engste mit praktischen Fragen seiner Landsleute und deren Lebensbedingungen verknüpft waren, nämlich Fragen nach Freiheit und Unabhängigkeit in einer postkolonialen Welt, nach Werten und Leitlinien, Fragen nach Demokratie und Menschenrechten in den afrikanischen Ländern, Fragen nach der moralischen Legitimität von Entwicklungshilfe, Fragen nach dem Schutz der Umwelt und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Immer wieder mündete seine Beschäftigung mit diesen Fragen auch in die Frage nach der Relevanz der Philosophie für unsere heutige Welt. Für ihn kann Philosophie ihre Relevanz und Legitimität nur aus der Beschäftigung mit den brennenden Fragen der Gegenwart schöpfen zu deren Beantwortung sie ihren Beitrag leisten muss. Bekannt wurde er vor allem mit seinem Projekt der Weisheitsphilosophie (sage philosophy33), aber auch Armut, Freiheit und Gerechtigkeit gehörten zu zentralen Fragen in seinem Schaffen. Armut ist für Odera Oruka nicht eine moralische Frage der Wohltätigkeit oder humanitären Hilfe, auch nicht der Wiedergutmachung, sondern eine Frage der Gerechtigkeit, und damit letztlich eine Frage nach einem einklagbaren Recht. Soziale Gerechtigkeit wiederum ist für ihn von vornherein eine Frage, die nationale Grenzen übersteigt, eine Frage, die nur auf globalem Niveau untersucht und gelöst werden kann. Die beiden zentralen Artikel zum Thema Gerechtigkeit sind der Aufsatz John Rawls’ Ideology. Justice as Egalitarian Fairness34 und The Philosophy of Foreign Aid: A Question of the Right to a Human Minimum.35 Während er im ersten Artikel aus dem Jahr 1981 globale Gerechtigkeit als gleiche Verteilung des Reichtums der Welt unter der Bevölkerung ungeachtet nationaler, rassischer oder geogra33

34

35

Vgl. Odera Oruka, Henry (1990): Sage Philosophy. Indigenous Thinkers and Modern Debate on African Philosophy. Leiden: E. J. Brill. Vgl. auch Graneß, Anke (2011): Das menschliche Minimum. Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka. Frankfurt/New York. Hier ab S. 75 ff. Vgl. Odera Oruka, Henry (1997): John Rawls’ Ideology. Justice as Egalitarian Fairness, in: Odera Oruka, Henry. (Hrsg.): Practical Philosophy. In Search of an Ethical Minimum. Nairobi/Kampala, S. 115–125. Der Aufsatz erschien zuerst 1981 unter dem Titel „Rawls’ Ideological Affinity and Justice as Egalitarian Fairness“, in: Ericsson, Lars (Hrsg.): Justice, social, and global. Papers presented at the Stockholm International Symposium on Justice, held in September 1978. Stockholm, S. 77–88. Vgl. Odera Oruka, Henry (1989): The Philosophy of Foreign Aid: A Question of the Right to a Human Minimum, in: Praxis International (8), S. 465–475. Und in Graness, Anke; Kresse, Kai (1997) (Hrsg.): Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam. Frankfurt am Main, S. 47–59. Auf Deutsch: (2000): Philosophie der Entwicklungshilfe, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (6), S. 6–16.

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fischer Unterschiede definiert und zu einer grundlegenden Kapitalismuskritik, insbesondere der hier vorherrschenden Eigentumsverhältnisse ansetzt,36 relativiert er im letzteren Artikel aus dem Jahr 1989 diesen systemverändernden Ansatz. Er beschränkt das Ideal einer globalen Gerechtigkeit auf die Absicherung eines minimalen Lebensstandards für jeden Menschen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen in The Philosophy of Foreign Aid ist die Frage nach der Möglichkeit einer moralischen Begründung von Entwicklungshilfe. Dabei kritisiert er die üblichen Begründungsstrategien: Wohltätigkeit, das Eigeninteresse der Gebernationen oder die Notwendigkeit florierender Handelsbeziehungen. Das Gebot der Menschenliebe oder Wohltätigkeit seien in diesem Zusammenhang genauso wenig ausreichend wie die Forderung nach Wiedergutmachung oder das Argumentieren mit internationalen Handelsbeziehungen.37 Diese Argumente entlarvt er als Mittel zu Sicherung von Einflusszonen auf Absatzmärkte und Rohstoffressourcen. Zudem seien Mitleid und Wohltätigkeit freiwillige Leistungen, die nicht eingefordert werden können. Damit liefern sie keine ausreichende Begründung für ein Prinzip, das globale Gerechtigkeit für alle Einwohner der Erde sichern kann. Benötigt werde aber ein Prinzip unbedingter, kategorisch gültiger, genuin moralischer Verbindlichkeit. Ein solches findet er im ‚Recht auf ein menschliches Minimum‘ als grundlegender Vorbedingung für die Ausübung aller weiteren Rechte. Begründet wird der Anspruch auf ein menschliches Minimum in dem nicht mehr hintergehbaren Recht auf Selbsterhaltung als grundlegender Notwendigkeit für ein Individuum, um in den Genuss jedes anderen Rechts zu gelangen. Das Recht auf ein menschliches Minimum, als Grundlegung jeden anderen Rechts, ist für Odera Oruka ein absolutes, das von keinem anderen Recht eingeschränkt werden darf. Es kommt jedem Menschen als Menschen zu. Eine Verweigerung des menschlichen Minimums führt dazu, dass der Betroffene wesentliche Funktionen einer Person nicht mehr ausüben kann.38 Unter Person versteht Odera Oruka ein rationales, selbstbewusstes, moralisch handelndes Wesen, das in der Lage ist, ein faires Geschäft abzuschließen. Person bedeutet die Fähigkeit der 36 37

38

Vgl. Odera Oruka, Henry (1997): John Rawls’ Ideology. Justice as Egalitarian Fairness, in: Odera Oruka, Henry. (Hrsg.): Practical Philosophy. In Search of an Ethical Minimum. Nairobi/Kampala, S. 115–125. Hier S. 118. Vgl. Odera Oruka, Henry (2000): Philosophie der Entwicklungshilfe, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (6), S. 6–16. Hier S. 8 ff. Vgl. Graness, Anke; Kresse, Kai (1997) (Hrsg.): Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam. Frankfurt am Main, S. 47–59. Hier S. 48 ff. „For all human beings to function with a significant degree of rationality and self-awareness, they need a certain minimum amount of physical security, health care, and subsistence … Below this minimum one may still be human and alive. But one cannot successfully carry out the functions of a moral agent or engage in creative activity. Access to at least the human minimum is necessary (even if not sufficient) for one to be rational and self-conscious. Without it, man is either a brute or a human vegetable. Man looses the very minimum necessary for a decent definition of human being.“ (Odera Oruka in Graness; Kresse 1997, S. 53)

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Selbstbestimmung und Selbstgestaltung des eigenen Lebens und umfasst damit Qualitäten, die über die reine Zugehörigkeit zur Spezies des homo sapiens hinausgehen. Menschen, die den Personenstatus nicht erlangen, sind nicht in der Lage, ethisch zu handeln und fallen aus der ethischen Gemeinschaft heraus. Sie unterliegen nicht mehr deren Regeln und tragen für ihre Handlungen keine Verantwortung mehr. Voraussetzung, um den Status der Person zu erlangen, ist die Absicherung eben jenes menschlichen Minimums. Aber was umfasst dieses ‚menschliche Minimum‘? Im Artikel aus dem Jahr 1989 liefert Odera Oruka drei Faktoren: physische Sicherheit, Gesundheit und ein gewisses Existenzminimum (subsistence). Diese Definition wird 1991 in seinem Buch The Philosophy of Liberty erweitert. Hier entwickelt er eine Hierarchie von Freiheiten, in der die ökonomischen Freiheiten die grundlegendsten sind, auf deren Erfüllung alle weiteren Freiheiten aufbauen. Gefolgt werden sie von den politischen Freiheiten, auf denen dann wiederum die kulturellen Freiheiten aufbauen. Freiheit definiert Odera Oruka im Zusammenhang mit Bedürfnisbefriedigung: We … need freedom only because we have certain needs to fulfil and freedom is a condition for such fulfilment. It seems, therefore, proper that before giving a definition of ‚liberty for X’s‘ we must first of all give a definition of what we mean by X’s needs. We can then define X’s liberty in terms of X’s needs.39 Er unterscheidet zwischen menschlichen Grundbedürfnissen („primary needs“), deren Erfüllung notwendig ist für die Erhaltung der Existenz, und Bedürfnissen zweiten Ranges („secondary needs“), deren Erfüllung nicht überlebensnotwendig ist, sondern der Weiterentwicklung und Bereicherung des Lebens dient. Zu den Grundbedürfnissen zählt Odera Oruka nun die Folgenden:40 1. Nahrung (‚food‘) 2. Einen Schutzraum in Sinne von Unterkunft und auch Kleidung („shelter / clothes“) 3. Wissen (‚knowledge‘) 4. Die Möglichkeit zu handeln oder sich zu bewegen (‚action or movement‘) im Sinne von Bewegungsfreiheit eines Armes oder Beines, genauso wie Bewegungsfreiheit durch den Raum, also die Abwesenheit von Gefängnissen. 5. Gesundheit (‚health‘) 6. Sexualität (als eine biologische Notwendigkeit)

39 40

Vgl. Odera Oruka, Henry (1991): The Philosophy of Liberty. An Essay on Political Philosophy. Nairobi. Hier S. 53. Vgl. ebd. hier S. 64.

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Aus diesen Bedürfnissen leitet Odera Oruka die folgenden Freiheitstypen ab: 1. Freiheit von Hunger 2. Freiheit, einen Schutzraum zu finden 3. Freiheit von Ignoranz 4. Freiheit von Beschränkungen oder 5. Freiheit zu handeln und sich zu bewegen 6. Freiheit von Krankheiten 7. Sexuelle Freiheit Diese Freiheiten werden von ihm unter dem Begriff der ökonomischen Freiheiten zusammengefasst. Odera Oruka argumentiert, dass die ökonomischen Freiheiten als erstes gesichert werden müssen, da sie die Voraussetzung für den Genuss aller anderen Freiheiten sind. In der Hierarchie der Freiheiten folgt auf die ökonomische Freiheit die politische Freiheit. Diese beinhaltet unter anderem die Freiheit der Meinungsäußerung, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Die politische Freiheit ist wiederum Bedingung für die Inanspruchnahme von kultureller Freiheit. Nach Odera Oruka bedeutet diese die Freiheit von Monotonie und von den Zumutungen der Trivialkultur, die Freiheit von kulturellem Kolonialismus, die Freiheit, eine rationale Einstellung dem Leben gegenüber einzunehmen sowie die Freiheit, den eigenen Lebensstil zu verändern. Schließlich folgen auf die ökonomische, die politische und die kulturelle Freiheit die intellektuelle, die religiöse und die sexuelle Freiheit. Odera Oruka macht in seinem Konzept deutlich, dass Grundlage jeder Wahrnehmung von Freiheiten und Rechten die Sicherung der biologischen Konstitution des Menschen, die Sicherung eines menschlichen Minimums ist. Ohne die Absicherung dieser Grundvoraussetzung, die nicht selbstverständlich ist, laut WHO sterben pro Jahr etwa 18 Millionen Menschen an armutsbedingten Faktoren, braucht über menschliche Freiheiten nicht weiter diskutiert zu werden. Aus diesem Grund sind für Odera Oruka ökonomische Freiheiten allen anderen Freiheiten immer vorgeordnet. Dementsprechend betrifft sein Einwand gegen John Rawls und dessen Theorie der Gerechtigkeit vor allem die lexikalische Ordnung seiner Gerechtigkeitsprinzipien. Odera Oruka hat sich intensiv und kritisch mit Rawls‘ Theorie auseinandergesetzt, die er im Wesentlichen als im Kontext der USA verankert sieht und deren Anspruch auf universale Gültigkeit er aus diesem Grund bestreitet.41 Gleich im ersten Satz seines Artikels zu John Rawls schreibt er: In A Theory of Justice John Rawls introduces an egalitarian formula in the concept of justice. But he does so on the plane of a liberal-capitalist conception of justice that corrodes the formula, and the theory turns out as a subtle defence of welfare-capitalism.42 41 42

Vgl. Odera Oruka, Henry (1997): John Rawls’ Ideology. Justice as Egalitarian Fairness, in: Odera Oruka, H. (Hrsg.): Practical Philosophy. In Search of an Ethical Minimum. Nairobi/Kampala, S. 115–125. Hier S. 115. Vgl. ebd.

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Ein auf der Basis des Wohlfahrtskapitalismus entstandenes Konzept entspricht aber nicht den Anforderungen der Situation in den armen Ländern: But in a society where the majority are illiterate and there is widespread poverty, political and intellectual liberties are luxuries. The people either do not understand them, or they have no motivation to exercise them. Poverty-stricken people want bread, not freedom of thought and speech.43 Dass ein hungriger Wähler schnell dabei ist, seine Stimme für ein Stück Brot zu verkaufen, ist eine Erfahrung, die in vielen armen Ländern immer wieder gemacht wird und demokratischen Wahlen im Weg steht. Denn Menschen, denen es am Nötigsten fehlt, verlangen nicht nach der für sie fürs erste materiell wertlosen politischen Demokratie, sondern brauchen etwas zu essen. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen politische Freiheiten nicht anstreben, nur verlangen die Notwendigkeiten der reinen Lebenserhaltung eine andere Setzung von Prioritäten. Und genau auf diesen Punkt macht Odera Oruka hier aufmerksam: In einer Situation absoluter Armut muss die Erfüllung politischer oder intellektueller Freiheiten den ökonomischen Notwendigkeiten (Wasser, Nahrung, Unterkunft, Gesundheitspflege) nachgeordnet werden. Aber nicht nur dann: Odera Oruka stellt die Behauptung auf, dass ökonomische Bedürfnisse den politischen und intellektuellen immer vorgeordnet sind. Erst wenn diese nicht mehr in Frage gestellt sind (wie zum Beispiel in den Industrienationen), könne man fälschlicherweise annehmen, dass politische Bedürfnisse grundlegender seien als die ökonomischen. Demgemäß ist für ihn der wahre Wert bzw. der Nutzen der Freiheit erst im zweiten Rawls’schen Prinzip verankert. Das erste Prinzip sichere nur die Gleichheit jedermanns vor dem Gesetz. Das verhindere aber nicht, dass aufgrund von Vermögen und Macht und den daraus resultierenden besseren Position in der Gesellschaft einige mehr von den Freiheiten profitieren als andere. Die anderen haben dann nur die Freiheit, frei zu sein – eben auch frei von den Produkten zur Erfüllung der Grundbedürfnisse – und leben ohne den ‚Mehrwert‘ der Freiheit. Aber erst wenn ein bestimmtes Existenzminimum erreicht ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit erfüllt, ein handelndes und denkendes Subjekt und damit Träger von Rechten und Freiheiten zu sein. Das Recht eines jeden Menschen auf Sicherung seines eigenen Überlebens umschließt für Odera Oruka die moralische Verpflichtung, die Sicherung des menschlichen Minimums für jeden anderen Menschen zu gewährleisten. Das menschliche Minimum als ein universales moralisches Recht ist somit zugleich eine Verpflichtung für jede menschliche Person. Auf globaler Ebene leitet Odera Oruka davon eine Verpflichtung für die reichen Nationen ab, einen Teil ihres nationalen Überflusses in einen Reservepool für die ärmeren Nationen zu investieren bzw. ihre Verpflichtung zur Entwicklungshilfe:

43

Vgl. ebd. hier S. 123.

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Hilfe reicher Nationen an Länder, die unter Armut leiden, sollte in dem Verständnis gegeben werden, dass Menschen reicher Nationen ihrer globalen ethischen Verpflichtung nachkommen, das Recht der letzteren auf ein menschliches Minimum zu sichern.44 Dabei dürfe Entwicklungshilfe nicht zu neuen oder bleibenden Abhängigkeiten führen. Auch Odera Oruka versteht Entwicklungshilfe eher im Sinne von ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘: Entwicklungshilfe ist für ihn bis zu dem Punkt, an dem ein einzelner Mensch – oder eine Gruppe von Menschen – in der Lage ist, wieder als moralisch Handelnder am Diskurs teilzunehmen (also auch für sich selbst zu sorgen), eine Verpflichtung, für deren Erfüllung letztlich jeder Mensch auf dieser Erde in die Verantwortung genommen werden kann. Auf dieser Basis stellt Odera Oruka das Paradigma territorialer Souveränität in Frage, das gemeinhin in den internationalen Beziehungen als unantastbar gilt. Nationale Grenzen sind für ihn nicht unbedeutend, können aber sowohl zur Sicherung eines menschlichen Minimums wie auch bei der Verletzung von Menschenrechten überschritten werden. Zusammengefasst lauten seine Forderungen wie folgt: • Reiche Nationen müssen in einen Reservepool für die ärmeren Nationen investieren bzw. eine Verpflichtung zur Entwicklungshilfe annehmen • Ein Recht auf Eingreifen in die inneren Angelegenheiten einer Nation, wenn sie ihre Bürger im Rahmen ihrer Gesetze terrorisiert • Ein Recht auf Zugriff auf nationales oder privates Eigentum, denn Eigen­­tumsrechte sind Rechte prima facie (bis auf Widerruf). Als eine Art kategorischer Imperativ formuliert, könnte Odera Orukas Prinzip globaler Gerechtigkeit dann wohl so lauten: Sorge dafür, dass jedem Menschen auf dieser Welt die menschlichen Grundbedürfnisse so gesichert sind, dass er zu einem freien Entscheidungsträger wird und seine Interessen selbst argumentativ vertreten kann! Odera Orukas Konzept gibt vielfältige Anregungen zu Diskussionen sowohl innerhalb Kenias45 als auch außerhalb.46 Einen wichtigen Beitrag zur Diskussion leistet unter anderem der kenianische Philosoph Dismas A. Masolo (heute Universität Louisville, USA). Er nähert sich dem Ansatz Odera Orukas über den

44 45

46

Odera Oruka, Henry (2000): Philosophie der Entwicklungshilfe, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (6), S. 6–16. Hier S. 13. Vgl. Nyarwath, Oriare (2009): An exposition and critique of H. Odera Oruka’s philosophy. Thesis submitted in fulfilment of the requirement for the Degree of Doctor of Philosophy in Philosophy at the University of Nairobi, November 2009. Vgl. ders. (2012): Understanding social freedom and humanism in Odera Oruka’s philosophy, in: Thought and Practice: A Journal of the Philosophical Association of Kenya. New Series (4/2), S. 75–96. Vgl. Graneß, Anke (2011): Das menschliche Minimum. Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka. Frankfurt/New York.

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Begriff der Fürsorge (care).47 Masolo versteht Odera Orukas Ansatz als den Versuch, die Idee der Fürsorge auf die Ebene einer globalen Gerechtigkeit zu heben, wobei Fürsorge hier als das Ernstnehmen des Leidens („taking suffering seriously“) verstanden wird.48 Die Grundfrage, die sich ihm im Anschluss an Odera Oruka stellt, ist, warum die neue Nähe (hergestellt unter anderem durch die neuen Kommunikationstechnologien und wirtschaftliche und politische Interdependenz) nicht zu einer Überwindung der auf Nähe und Gemeinschaft beschränkten distributiven Prinzipien geführt habe. Von Aristoteles über Kant bis hin zu Rawls macht Masolo in der westlichen Ethik eine Traditionslinie aus, die vom Selbstinteresse geleitet wird, vom Ideal der Autonomie und Freiheit und der es im Wesentlichen um das Tun des Richtigen (nicht des Guten) geht – ohne Rücksicht darauf, ob das Richtige auch dem Wohle des anderen dient. Moral wird in dieser Tradition von Pflicht geleitet, nicht aber von der Sorge um den Anderen. Odera Orukas Kritik an Rawls impliziert laut Masolo eine Kritik an der individualethischen Perspektive der westlichen Gerechtigkeitskonzepte, die aus dem Blick verlieren, dass das Ich je schon verwoben ist mit einem sozialen Kontext aus dem es seine Vorstellungen von Recht und Moral und eben auch von einem guten Leben schöpft. Rawls eigene Theorie spiegelt für Masolo seine Verankerung in der amerikanischen Wirklichkeit wider. Masolo selbst sieht zahlreiche Bezüge zwischen Rawls und aktuellen politischen Problemen in den USA, wie zum Beispiel den Widerstand der Tea-Party gegen die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung oder den Umstand, dass Reiche proportional weniger Steuern zahlen als Arme. Ziel solcher Bestrebungen scheint Masolo zufolge zu sein, jegliche soziale Kontrolle über die Verwendung individueller Freiheiten abzuschaffen. Und all diese Bestrebungen, die wiederum damit begründet werden, dass eine freiere Marktwirtschaft dem Nutzen der Ärmsten der Gesellschaft diene, da sie Motor wirtschaftlichen Aufschwungs seien und Arbeitsplätze schaffen, all diese Bestrebungen scheinen durch Rawls‘ Theorie, in der die Freiheit des Einzelnen als unantastbarer höchster Wert gilt, legitimiert zu werden, so Masolo. Dies führe letztlich dazu, dass einige wenige Individuen über die Freiheit verfügen, die die Mehrheit der Menschen sich nur wünschen kann und idealisiert. Zwar argumentiere Rawls, dass der Mensch rational genug sei, um zu große Differenzen zu vermeide, dies scheine aber nicht der Fall zu sein, betrachte man die heutigen gesellschaftlichen Realitäten auf der Welt, so Masolo. Die verkannte menschliche Psyche ist damit für ihn eine Hauptschwäche der ­Rawls’schen Theorie. Aus diesem Grund fordert Masolo die Erforschung der sozio-psychologischen Grundlagen der Moral und für eine „globale Fürsorge“. 47 48

Vgl. Masolo, Dismas A. (2012): Care versus Justice: Odera Oruka and the Quest for Globale Justice, in: Thought and Practice: A Journal of the Philosophical Association of Kenya. New Series, (4/2), S. 23–49. Die unter dem Namen Fürsorgeethik (ethics of care) bekannt gewordene feministische Ethik (Carol Gilligen u.a.) steht nicht im Zentrum seiner Überlegungen.

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Es gehe dabei darum, die Suche nach den Gemeinsamkeiten der conditio humana, nach einem gemeinsamen menschlichen Gut, in den Mittelpunkt zu stellen. Teodros Kiros und die Frage: Darf Nahrung eine Ware sein?

Die von Odera Oruka favorisierte Hierarchisierung von Freiheiten scheint eine Tendenz in der neueren Philosophie Afrikas darzustellen (ähnlich auch in Lateinamerika49). Auch der äthiopische Philosoph Teodros Kiros stellt die leibliche Bedürftigkeit deutlich vor politische Freiheiten. Prägnant heißt es bei ihm: The first principle of justice commands categorically that food, shelter and clothing must be available to all beings in Africa, and the second principle defends freedom as a right to be extended to all Africans. The extension of democracy to all Africans is a possibility devoutly to be wished.50 Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Nahrungsmittelkrise in Afrika in den Jahren 1982 bis 1986. Angesichts der verheerenden Auswirkungen einer langen Dürreperiode insbesondere im Osten Afrikas begann Kiros bisherige Konzepte von ‚Entwicklung‘ und ‚Unterentwicklung‘ grundlegend zu hinterfragen – und zwar im Hinblick auf das Verhältnis zwischen ökonomisch-­politischen Konzepten und Konzepten der Moralphilosophie. Er verfolgt dabei den interessanten Gedanken, dass Nahrung für den Menschen eine Art natürliches Grundrecht sei. Das Wissen um Nahrung als absolutes menschliches Grundbedürfnis ging erst mit der Abtrennung der Nahrung von der eigenen Produktion im Zusammenhang mit der Aufgabe der Subsistenzwirtschaft verloren, so Kiros. Idealerweise müsste Nahrung als ein dem Menschen inhärentes Recht betrachtet werden. Im Gegensatz dazu wird Nahrung heute allerdings als eine Ware unter vielen anderen Waren betrachtet, die mit Geld gekauft werden kann: Food is produced, circulated, exchanged, and consumed as a commodity, as a good, an object, just like any other commodity. In the market mentality, the distinctively human quality of food is forgotten.51 Gegen diese Marktmentalität, in der Wert besitzt, was messbar produktiv ist und zur Ware werden kann, eine Mentalität, die er auch als Ideologie bezeichnet, müsse nun eingetreten werden. Eine solche Betrachtung der Welt (und der Nahrung) in ökonomischen Kategorien, die als die vermeintlich ‚natürliche‘ 49 50 51

Vgl. dazu meine Ausführungen zu Enrique Dussel in Graneß, Anke (2011): Das menschliche Minimum. Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka. Frankfurt/New York. Hier S. 173 ff. Kiros, Teodros (Hrsg.) (2001): Explorations in African Political Thought: Identity, Community, Ethics. New York/London. Hier S. 5. Kiros, Tedros (1992): Moral Philosophy and Development. The Human Condition in Africa. Ohio. Hier S. XIV. (sein Vorname wird hier offensichtlich anders geschrieben als in den weiteren Publikationen)

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Betrachtungsweise gilt, verunmöglicht eine andere Sichtweise auf die Dinge und andere Arten nachhaltiger Lebensweise. An diesem Punkt trifft sich Kiros Kritik aus dem Jahr 1992 mit den Ansätzen der Post-Development-Studien. So schreibt einer ihrer bekanntesten Vertreter Gustavo Esteva: Um das Wertesystem der Ökonomie durchzusetzen, müssen alle anderen Formen des sozialen Lebens verächtlich gemacht werden. Diese ‚Unwertbildung‘ verwandelt Fähigkeiten in Mangel, Gemeingut in Ressourcen, Männer und Frauen in die Ware Arbeitskraft; aus der Tradition wird eine Last, aus Weisheit wird Unwissenheit, aus Autonomie Abhängigkeit […] Unwertbildung ist das Geheimnis des ökonomischen Werts.52 Diese Entwertung des Gewachsenen (der Natur, der sozialen Strukturen und menschlichen Fähigkeiten) umfasst auch die aus der Natur stammende menschliche Nahrung, das Trinkwasser, ja die Luft zum Atmen, die zu Ressourcen wurden. Die Natur ist nicht mehr selbsterneuernde Lebensspenderin, sondern wurde zu einem ökonomischen Objekt, zur Ware. Kiros kritisiert, dass diese Ökonomisierung der Nahrung, dass Hunger, Armut, die ungleiche Verteilung des Reichtums und die unsymmetrischen Machtverhältnisse wichtige Themen sind, die allerdings traditionell in der Philosophie wenig behandelt werden. Dabei müssten sie im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. In seinen eigenen Überlegungen und ebenfalls im Anschluss an eine scharfe Rawls-Kritik führt er folgende zwei Prinzipien ein, die die Afrikaner in ihrem Handeln und bei der Ausarbeitung von Entwicklungsstrategien leiten sollten: The first principle is the recognition of food, health, shelter, and clothing as inalienable human rights. African resources must be used in such a way that they can, with proper scientific aids, be channelled to eventually (a) eliminate the urgent human needs of poverty and hunger, and (b) address other attendant consequences of mental and physical health, hopelessness and undermotivation. The second principle is a demand for the absolutely necessary duty hu­ mans may have in the recognition of the importance of freedom for those who think and feel that they are unfree. When the basic human material needs of the poor are met, only then may the Africans be able to think about nonmaterial human needs, such as art and religion.53 An dieser Stelle wird deutlich, dass auch Kiros sich an den zwei Gerechtigkeitsprinzipien von John Rawls orientiert und diese wiederum umdreht: die 52 53

Esteva, Gustavo (1993): Entwicklung, in: Sachs, Wolfgang (Hrsg.): Wie im Westen so auf Erden. Reinbek bei Hamburg, S. 89–121. Hier S.108. Kiros (1992): Moral Philosophy and Development. The Human Condition in Africa. Ohio. Hier S. 176.

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Erfüllung materieller (leiblicher) Bedürfnisse wird jeglichen Freiheitsrechten vorgeordnet. Für ihn ist die Erfüllung grundlegender Existenzbedingungen die Voraussetzung für die Wahrnehmung aller weiteren Rechte oder Ausübung aller anderen Fähigkeiten (geistiger Art) des Menschen. Oder wie er schreibt: „A self which is not fed cannot think, plan, or imagine.“54 An Rawls lexikalischer Ordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze kritisiert Kiros ebenso wie Odera Oruka, dass diese einem bestimmten historischen Kontext, nämlich dem des Westens, insbesondere dem Nordamerikas, entstamme und sich ausschließlich auf die Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft beziehe. Insofern sei Rawls Konzept ein regionales.55 Die Rawls’schen Prinzipien müssten den Bedingungen in Afrika erst angepasst werden. Kiros entwickelt nun eigene Prinzipien einer Moralphilosophie, die Afrika in eine zukünftige wirtschaftliche Entwicklung führen sollen. In seinem jüngsten Buch Ethiopian Discourse bezeichnet Kiros seinen Ansatz als „moral economy“ und betrachtet ihn als eine Alternative zu den herkömmlichen gesellschaftlichen Systemen des Kapitalismus und Sozialismus.56 In der Diskussion um die Möglichkeit von Prinzipien globaler Gerechtigkeit lassen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche begründungstheoretische Ansätze unterscheiden: die autonomieethische (bzw. freiheitsrechtliche) Argumentation und die subsistenzrechtliche Argumentation. Erstere lässt sich überwiegend im euro-amerikanischen Diskurs verorten und geht vom Menschen als (individuellen) moralischem Wesen mit Rechten und Pflichten aus. Letztere betrachtet den Menschen in erster Linie als biologisches Gattungswesen und stellt den Schutz fundamentaler Faktoren der Lebenserhaltung in das Zentrum der Überlegungen. Interessant ist, dass sich subsistenzrechtliche Ansätze häufig bei PhilosophInnen aus Afrika und Lateinamerika finden. Odera Oruka beschäftigte dieser Umstand bereits in seinen Betrachtungen zu einer Theorie der Gerechtigkeit. Er schreibt: I am beginning to think that it is difficult to formulate a universal theory of social justice, which, to be relevant, needs to take into account the level of economic advancement, historical traditions and experience and ideological realities of the societies for which it is meant. It is precisely these factors which would dictate what the people regard or ought to treat as primary goods and fundamental rights in any society which they must want to have whatever else they may want.57

54 55 56 57

Ebd. hier S. 168. Ebd. hier S. XIX. Vgl. Kiros, Teodros (2011): Ethiopian Discourse. Trenton. Hier S. 113–121. Odera Oruka, Henry (1997): John Rawls’ Ideology. Justice as Egalitarian Fairness, in: Odera Oruka, Henry (Hrsg.): Practical Philosophy. In Search of an Ethical Minimum. Nairobi/Kampala, S. 115–125. Hier S. 115.

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Anke Graneß

Der Einwand, dass der Ort, von dem aus philosophiert wird, einen wichtigen Einfluss auf das jeweilige Ergebnis hat, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. So ist es vor allem die Konfrontation mit absoluter Armut und deren Auswirkungen, die die genannten Denker dazu führt, der Sicherung leiblicher Bedürfnisse einen wesentlich größeren Raum einzuräumen als dies in der euro-amerikanischen Diskussion der Fall ist, wo von der Sicherung leiblicher Bedürfnisse bereits ausgegangen wird. Mit der Betonung der Notwendigkeit der Sicherung der biologischen Leiblichkeit nehmen Ansätze wie die von Odera Oruka, Teodros Kiros oder auch des lateinamerikanischen Philosophen Enrique Dussel die bittere Lebensrealität der Mehrheit der Menschen in ihren Regionen ernst – eine Realität, die bei philosophischen Überlegungen nicht einfach ausgeblendet werden darf. Es ist ein großer Mangel heutiger Debatten um Prinzipien globaler Gerechtigkeit, dass diese und andere Denker des afrikanischen Kontinents und Lateinamerikas dabei keine Rolle spielen bzw. nicht mit in die Diskussionen einbezogen werden. Nicht nur, dass sich der euro-amerikanische Diskurs mit dieser Ignoranz selbst um den Zugang zu interessanten Konzepten beschneidet – die Anerkennung des Anderen und seines Denkens ist letztlich die Grundvoraussetzung jeglicher Form der Gerechtigkeit. Und davon scheinen wir nach wie vor noch weit entfernt.

Thomas Kesselring

Entwicklungszusammenarbeit und Gerechtigkeit

Das globale Entwicklungs- bzw. Wohlstandsgefälle ist eine Tatsache mit einer eigenen Geschichte, oder, vielleicht besser, mit unübersehbar vielen ineinander verwobenen Geschichten. Einer Gruppe von über 1400 Milliardären stehen heute 1400 Millionen Menschen gegenüber, die von einem Dollar pro Tag oder weniger überleben müssen. Ist das gerecht? Oder verdient das Wohlstandsgefälle, so wie es heute besteht, das Prädikat ‚ungerecht‘? Es gibt gute Gründe, hier mit dem Adjektiv ‚ungerecht‘ zu operieren. Es gibt aber auch Gründe, das gerade nicht zu tun. Nach einer Erläuterung des Gerechtigkeitsbegriffs wird in diesem Beitrag zunächst diskutiert, welche Faktoren dem aktuellen Entwicklungs- und Wohlstandsgefälle zugrunde liegen (bzw. gelegen haben könnten). Auf dieser Basis lässt sich dann die Frage, wie weit man dieses Gefälle mit dem Prädikat ‚ungerecht‘ in Verbindung bringen kann, differenzierter erörtern. Dabei bietet sich Gelegenheit, da und dort einen kritischen Blick auf die Entwicklungspolitik zu werfen. Was bedeutet Gerechtigkeit?

Was verstehen wir unter gerecht und ungerecht? Der Gerechtigkeitsbegriff hat einen breiten Fächer an Bedeutungen. In konkreten Situationen können Urteile darüber, was gerecht und was ungerecht ist, weit auseinandergehen. Auf den ersten Blick mag man soziale Ungleichheit und jede Form von Ungleichverteilung für ungerecht halten. Aber nur auf den ersten Blick, denn soziale Ungleichheit ist keineswegs immer ungerecht: Der Lohn eines Bürgermeisters ist gewöhnlich höher als der eines Hilfsarbeiters. Und auch Gleichverteilung ist keineswegs immer gerecht: Reiche sollten eine höhere Steuerlast schultern als Arme. Wir benötigen also Kriterien. Keine zwei Personen sind exakt gleich – nicht einmal eineiige Zwillinge, denn sie werden durch unterschiedliche Erfahrungen geprägt. Die meisten Menschen leben ungleich lange, manche leiden stärker an Krankheiten, andere weniger; manche haben viele Kinder, andere keine… Welche Art von Ungleichheit ist für Gerechtigkeitsüberlegungen überhaupt relevant? Und wo ziehen wir die Grenze zwischen gerecht und ungerecht?

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Thomas Kesselring

Die Grundbedeutung von ‚Gerechtigkeit‘ hat Platon mit „jedem das, was ihm zusteht“1 angegeben. Die Wendung „was ihm zusteht“ kann dreierlei bedeuten: (a) was er verdient, (b) was er braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, (c) was ihm versprochen oder vertraglich zugesichert worden ist.2 Diese Bedeutungsvielfalt erklärt die Schwierigkeiten, die beispielsweise beim Versuch, den ‚gerechten Lohn‘ zu bestimmen, auftreten: Wer für einen Bedürfnislohn plädiert, hält den Leistungslohn für ungerecht und umgekehrt.3 Gerechtigkeitsfragen treten vor allem in drei Zusammenhängen auf:4 (a) beim Geben und Nehmen: retributive oder korrektive Gerechtigkeit; (b) bei Verteilungen: distributive Gerechtigkeit; (c) bei der konkreten Anwendung von Gesetzen, Regeln oder Maßnahmen: Gerechtigkeit als Gleichheit, Neutralität, Unparteilichkeit. (a) Geben und Nehmen: Ein Tauschakt erscheint prima facie ungerecht, wenn eine der Parteien weniger erhält, als sie gibt. Aristoteles und Thomas von Aquin haben die Auffassung vertreten, ein Tausch sei gerecht, wenn die Güter bzw. Dienstleistungen auf beiden Seiten gleichwertig sind.5 Die Werte-Relation zwischen Gütern kann sich verändern, weshalb auch eine Währung Schwankungen unterliegt. Wer sich an Marktverhältnissen orientiert, wird argumentieren: Gerecht ist ein Tausch dann, wenn er zwischen freien Akteuren zustande kommt und beide ihm zustimmen. Der Schnäppchenjäger profitiert von besonders günstigen Kaufbedingungen – er zahlt einen Preis, der deutlich unter dem Wert dessen liegt, was er dafür erhält. Da der Anbieter aber einwilligt, ist der Deal nicht ungerecht. Wenn hingegen ein Schüler für eine Leistung, die besser ist als die seiner Kollegen, eine schlechtere Note erhält (bzw. umgekehrt), ist das ungerecht, weil hier das Verhältnis von Geben und Nehmen bzw. Leistung und Anerkennung nicht an Marktbedingungen gebunden ist. Als ungerecht empfinden wir auch (außer im Verteidigungsfall) jeden Akt physischer Aggression – sei es durch Anwendung von körperlicher Gewalt oder Waffengebrauch. Ähnlich urteilen wir, wenn eine Person A eine andere Person B ihrer Würde beraubt, sie demütigt, verhöhnt, diskriminiert oder sie ihrer Rechte beraubt. (b) Verteilung: Als ungerecht empfinden wir es prima facie, wenn einige Personen (oder Gruppen) mehr zugeteilt bekommen als andere, ohne bedürftiger zu sein und ohne größere Verdienste vorweisen zu können. Oft erscheinen uns schon kleinere Verzerrungen ungerecht. Weil sie aber schwerlich ganz vermeidbar sind und sich oft über längere Zeit ausgleichen, kommt es gewöhnlich erst bei größeren Abweichungen zu einem Aufschrei. Zwei Fälle sind hier zu unterscheiden: die Verletzung von Grund- oder Menschenrechten und die ungleiche Zuordnung von Chancen. Nicht zufällig stehen die Grundrechte und die 1 2 3 4 5

Vgl. Tugendhat, Ernst (1993): Vorlesungen über Ethik. Frankfurt, S. 367. Vgl. Tugendhat, a.a.O., S. 373 f. und 381 f. Vgl. Sen, Amartya (1992): Inequality reexamined. Oxford, S. 16 f. Vgl. Aristoteles (1982): Nikomachische Ethik. 5. Buch. München. Vgl. Thomas von Aquin (1989): Summa Theologiae. A concise translation. Th. II, quaes­ tio 77.

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Chancengleichheit im Zentrum der beiden Gerechtigkeitsprinzipien von John Rawls.6 – Der Begriff der Chancengleichheit bezieht sich auf Bildungschancen, sozia­ le Aufstiegschancen, Marktzugangschancen. Im Bildungswesen spielt er seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle.7 Bildungschancen sollen nicht von der sozialen Schicht, der Hautfarbe oder der Religionszugehörigkeit abhängen, sondern allein von den Fähigkeiten einer Person. Privilegien müssen durch Leistung verdient sein. Was jemand im Vergleich zu anderen leistet, zeigt sich im Wettbewerb. Ein Wettbewerb produziert aber Ungleichheit, da immer einige gewinnen und die anderen verlieren. Diese Ungleichheit ist nur dann nicht ungerecht, wenn der Wettkampf unter fairen Bedingungen ausgetragen wird. Das Kriterium dafür ist eben die Chancengleichheit: Alle Personen, die gleichermaßen, leistungsfähig und -willig sind, sollen auch die gleichen Gewinnchancen haben, zum Beispiel die gleiche Aussicht darauf, in eine gehobene soziale Position aufzusteigen oder, als Schüler, in eine weiterführende Bildungseinrichtung überzutreten. – Menschenrechtsverletzungen: In krassen Fällen tangiert eine ungerechte Verteilung die Ebene der Menschenrechte: Einer sozialen Gruppe die Grundrechte vorzuenthalten, ist in krasser Weise ungerecht. Grund- bzw. Menschenrechte kommen allen Menschen gleichermaßen zu. Auch der Zugang zu lebenswichtigen Gütern – Nahrung, Kleidung, Behausung, Gesundheitsdiensten, zu Grundausbildung und einer Arbeitsstelle – ist grundrechtlich geschützt. Einem Teil der Gesellschaft den Zugang zu diesen Grundgütern zu verwehren, ist klar ungerecht. (Erwähnt sei, dass der indische Ökonom Amartya Sen der Freiheit im Sinn von Entscheidungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten eine ebenso hohe Bedeutung zuspricht wie den Grundgütern.)8 (c) Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Gesetze auf Verfassungsebene gelten für den Parlamentarier und den Unternehmer genauso wie für den Clochard. Auch im Hinblick auf die Grundrechte sind alle Bürgerinnen und Bürger einan­ der gleichgestellt – sie haben gleichen Anspruch auf gleiche Grundrechte.9 Asymmetrische Machtverteilung

Ungerechte Verhältnisse sind häufig die Folge einer asymmetrischen Machtverteilung. Macht bedeutet10 die Chance, anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen. Zwang auszuüben, kann legitim sein: in einer Befehlshierar6 7 8 9 10

Vgl. Rawls, John (1998): Politischer Liberalismus. Frankfurt, S. 69. Vgl. Coleman, James Samuel (1966): Equality of Educational Opportunity. Washington. Vgl. Sen, Amartya (2010): Die Idee der Gerechtigkeit, S. 93. Vgl. Tugendhat, a.a.O., S. 379. Vgl. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28, 542.

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chie oder im Strafvollzug. Das Gewaltmonopol, das heißt das legitime Recht, Zwang auszuüben, liegt beim Staat. Der Bürger hat nur in Notwehrsituationen ein solches Recht. Die Ausübung von Zwang ist aber ungerecht, wenn sie in illegitimer Weise erfolgt, sich also nicht nach ethischen Kriterien begründen lässt. Nicht legitim ist es beispielsweise, jemanden zu einer Dienstleistung zu zwingen, zu der er nicht verpflichtet ist: Ich habe kein Recht, eine Passantin zur Herausgabe ihres Geldbeutels zu zwingen. Macht zeigt sich aber nicht nur in der Möglichkeit von Zwangsausübung. Auch wer fähig ist, andere zu etwas zu überreden oder von etwas zu überzeugen, hat Macht – zum Beispiel der erfolgreiche Werbetexter, die erfolgreiche Lehrperson.11 Ohne das Phänomen der Macht wäre jede gesellschaftliche Organisation unmöglich. Machtausübung ist also keineswegs per se unethisch. In keiner Gesellschaft verfügen alle Menschen über genau gleich viel Macht. Zudem ist Macht etwas, das man gewinnen und verlieren kann. In der Politik liegt sie bei denjenigen Personen oder Gruppen, in deren Zuständigkeit es liegt, für die ganze Gesellschaft verbindliche Entscheidungen zu treffen, sie gesetzlich zu verankern und die Gesetze durchzusetzen – also bei der Legislative, der Exekutive und der Judikative. In der Wirtschaft bzw. auf dem Markt ist Macht gewöhnlich an Kapital (das heißt die Verfügung über finanzielle Mittel) gebunden. Eine weitere Quelle sozialer (und politischer) Macht stellen heute Presse, Radio, Fernsehen dar: Je mehr Einfluss jemand auf die Medien hat, über desto mehr Macht verfügt er. Welche Machtverteilung ist ungerecht?

Eine asymmetrische Machtverteilung ist nicht an sich ungerecht. Sie ist es aber dann, wenn sie eine Dynamik in Gang setzt, die dazu führt, dass der Mächtige noch mächtiger und der Machtlose noch machtloser wird. Dazu ein paar Beispiele: (1) Asymmetrische Machtverteilungen manifestieren sich in persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen: Dass Peter von Hanna abhängig ist, kann heißen, Peters Leben hängt ganz oder in wesentlichen Aspekten, zum Beispiel bei Lebensunterhalt, Wohnung usw., von Hannas Gunst ab. Es kann aber auch heißen, dass Peter in seinen Entscheidungen zu Belangen, die ihn selbst betreffen, nicht frei ist, sondern von Hanna abhängt. Peters Freiheit ist also beschnitten. Eine solche Abhängigkeitsbeziehung ist wiederum nicht an sich ungerecht. Vielleicht ist Peter minderjährig und Hanna seine Mutter oder Lehrerin; vielleicht ist Peter Patient und Hanna Ärztin; oder Peter hat Hanna als Bergführerin engagiert, die ihn sicher auf den Montblanc geleiten soll. Ungerecht ist eine Abhängigkeitsbeziehung aber insoweit, als sie auf Zwang beruht. Meistens ist Zwang mit im Spiel, wenn eine Dynamik entsteht, durch die die abhängige Person (ihre Zu11

Vgl. Kesselring, Thomas (2012): Handbuch Ethik für Pädagogen, S. 169, 173.

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rechnungsfähigkeit sei vorausgesetzt) weiter an Freiheit verliert und die Person, von der sie abhängt, an Freiheit hinzugewinnt. (2) Als ungerecht empfinden wir es gewöhnlich auch, wenn jemand, der relativ reich ist, sein Vermögen auf Kosten der Machtlosen bzw. Armen weiter erhöht: der Vermieter, der dem Mieter einen übersetzten Preis abverlangt, der Pfandleiher, der seinem Kunden die letzten Wertsachen abnimmt. Ungerecht ist aber nicht das Verfügen über ein großes Vermögen, sondern – je nachdem – die Art und Weise, wie es eingesetzt wird. Da Bill Gates, der zweitreichste Mensch der Welt, seine Milliarden legal erwirtschaftet hat und sie in Stiftungen anlegt, deren Zweck nicht darin liegt, bestehende Machtasymmetrien weiter zu steigern, gibt es keinen Grund, seinen Reichtum als ungerecht zu qualifizieren.12 (3) Ungerecht sind nicht zuletzt soziale, politische oder wirtschaftliche Systeme, die so funktionieren, dass die ohnehin schon Privilegierten auf Kosten der Benachteiligten weitere Privilegien hinzugewinnen. Es ist eine offene Frage, ob das aktuelle System der Weltwirtschaft diese Bedingung erfüllt. Zur aktuellen globalen Wohlstandsverteilung

Die globale Reichtumsverteilung und die Verteilung wirtschaftlicher Macht sind höchst ungleich: Auf die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung fällt weniger als ein Prozent des gesamten Wohlstands (‚total wealth‘), auf das reichste Zehntel der Weltbevölkerung fallen hingegen 86 Prozent und auf das reichste Hundertstel 46 Prozent. Die ärmere Hälfte besitzt so viel wie die 85 reichsten Personen zusammen.13 In den USA leben 442 Milliardäre, im asiatisch-pazifischen Raum 386, in Europa 366, in Nord- und Südamerika (ausgenommen USA) 129, im mittleren Osten und Afrika 10314 – gleichzeitig leben nach Schätzungen der Weltbank 1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut, das heißt von einem US-Dollar pro Tag (Zahlen von 2005); und 2007 litten 925 Millionen Hunger.15 Obwohl sich die Wohlstandskluft in manchen Regionen während gewisser Perioden verringert hat – in den USA und in Europa während der ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und in Lateinamerika während des vergangenen Jahrzehnts –, sind die Einkommensunterschiede im globalen Rahmen heute extremer als je zuvor.16 12 13 14 15 16

Vgl. Gates, Bill (2014): Gates Annual Letter. http://annualletter.gatesfoundation.org/ de#section=mythos-nr-3. Vgl. Credit Suisse (2013): Global Wealth Report. http://images.smh.com.au/file/ 2013/10/09/4815797/ cs_global_wealth_report_2013_WEB_l ow%2520pdf.pdf ?rand =1381288140715. Vgl. Forbes (2013): The World Billionaires. http://www.forbes.com/sites/luisakroll/ 2013/03/04/inside-the-2013-billionaires-list-facts-and-figures. Vgl. FAO (Food and Agriculture Organization) (2008): The state of Food Insecurity in the World. Vgl. Oxfam (2013): Working for the Few: Political capture and economic inequality.

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Armut als Maßstab für Ungerechtigkeit

Viele Menschen empfinden es als ungerecht, dass Investment-Banker und Konzernchefs in Ländern mit grassierender Arbeitslosigkeit und schleichender Armut exorbitante Boni beziehen. Höhere Dringlichkeit als der Kampf gegen den Missbrauch mit den Boni, so edel er auch ist, hat jedoch die Verringerung der Anzahl Menschen, die in absoluter Armut leben. Der Rawls-Schüler Thomas Pogge17 hat vorgeschlagen, zur Beurteilung, wie gerecht oder ungerecht eine Gesellschaft ist, folgendes Kriterium zu verwenden: Eine Gesellschaft ist ungerecht, wenn ein Teil der Menschen im Überfluss lebt und ein anderer im Elend, und wenn es möglich ist, die Gesellschaftsordnung so zu ändern, dass es den am stärksten Benachteiligten besser ginge. Dass ein solches System nicht gerecht ist, bedeutet eigentlich, dass es sich Unterlassungen verdankt, die sich nicht ausreichend rechtfertigen lassen. Dieses Kriterium orientiert sich an Rawls‘ Differenzprinzip: Von zwei Gesellschaften oder Wirtschaftssystemen ist dasjenige ungerechter, worin die unterste Einkommensgruppe schlechter gestellt ist.18 Je besser es also den am stärksten Benachteiligten geht, desto weniger ungerecht ist die Gesellschaft oder ihr Wirtschaftssystem. Nicht die oberste, sondern die unterste Einkommensgruppe ist das Zünglein an der Waage. Auf die globalen Verhältnisse bezogen, sollte die Entwicklungszusammenarbeit in erster Linie auf diese Gruppe ausgerichtet sein. Exkurs über Sinn und Unsinn der Entwicklungspolitik

Die Entwicklungszusammenarbeit ist heute eine florierende Branche. Ihr Sinn wird inzwischen selbst von ehemaligen Befürwortern in Zweifel gezogen: Entwicklungshilfe sei letztlich bloß ein Geschäft, sie mache die Empfänger von den Gebern abhängig und blockiere ihre Eigeninitiative.19 Sechs Jahrzehnte entwicklungspolitischer Anstrengungen haben zumindest in Schwarzafrika die Lebensperspektiven der am meisten Benachteiligten kaum spürbar verbessert. Besonders erfolgreich in der Armutsverminderung war während der letzten zwei Jahrzehnte China – in geringerem Maß auch Indien und Brasilien. Diese Länder reüssierten im Wesentlichen aus eigener Kraft, in eigener Regie, ohne fremde Hilfe. Offenbar lässt sich Entwicklungspolitik kaum von Gerechtigkeitserwägungen leiten. Doch was sind denn überhaupt die Motive, die ihr zugrunde liegen20: Sind bzw. fühlen sich die Wohlhabenden 17 18 19 20

Vgl. Pogge, Thomas (1995): Eine globale Rohstoffdividende, in: Analyse und Kritik (17), S. 183–208. Vgl. Rawls, a.a.O., S. 69. Vgl. Moyo, Dambisa (2009): Dead aid: why aid is not working and how there is a better way for Africa. New York. Vgl. Kesselring, Thomas (2006): Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik aus ethischer Perspektive, in: Ihne, Hartmut; Wilhelm, Jürgen (Hrsg.): Einführung in die Entwicklungspolitik. Münster, S. 323–345.

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moralisch dazu verpflichtet, im Elend lebende Menschen zu unterstützen und ihnen bei der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu helfen? Oder gibt es keine solche Verpflichtung? Welche Rolle spielen religiöse Motive (Nächstenliebe)? Emotionale (Mitleid)? Utilitaristische (zum Beispiel das Motiv, Leiden zu minimieren)? Das schlechte Gewissen der Nutznießer kolonialer und postkolonialer Ausbeutung? Wie weit sind eigennützige Motive, politische oder wirtschaftliche, im Spiel: das Interesse an Sicherheit, an der Erschließung neuer Märkte, am Austausch mit anderen Gesellschaften? Soll man weiterhin auf die traditionelle Entwicklungszusammenarbeit setzen und nicht vielmehr die Ursachen von Armut und Unterentwicklung bekämpfen? Dazu müsste man aber die Prozesse kennen, die zu Bedürftigkeit und Abhängigkeit führen. Durch unreflektierte Ad-hoc-Strategien lässt sich Armut aber kaum auf Dauer reduzieren. Ursachenforschung ist daher ein ethisches Erfordernis. Zur Entstehung von Gesellschaften mit asymmetrischer Machtverteilung

Um die eingangs gestellte Gerechtigkeitsfrage weiter zu klären, empfiehlt es sich, in zwei Schritten zu verfahren. Erstens ist nach den Ursachen bzw. der Genese des Entwicklungs- bzw. Armutsgefälles zu fragen und zweitens nach Möglichkeiten zu suchen, die bestehende ‚Weltordnung‘ so zu verändern, dass sich Ausmaß und Tiefe des Elends verringern. Der Vorwurf der Ungerechtigkeit ist nur dann gegenstandslos, wenn es keine gangbaren Wege gibt, dieses Ziel zu erreichen – was kaum wahrscheinlich ist. Erst recht gegenstandslos ist der Vorwurf, wenn die Ungleichheit natürliche Ursachen hat. Naturereignisse entziehen sich ethischen Kategorien: Trotz der Tatsache, dass jedes Jahr eine kleine Anzahl Menschen Blitzschlägen zum Opfer fällt, während die große Mehrheit von Blitzen verschont bleibt, würde niemand sagen, Blitzschläge seien ungerecht. Wenn jedoch Menschen aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen gezwungen sind, in Gebieten zu leben, die mit überdurchschnittlich hoher Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen heimgesucht werden, so ist die entsprechende Siedlungspolitik ungerecht. Die Frage nach der Entstehung sozialer Ungleichheit hat schon viele Geister beschäftigt – Locke etwa oder Rousseau. Die Ära der sozialen Ungleichheit begann Rousseau zufolge, als der erste Mensch Pfähle in den Boden schlug und sagte: „Dieses Stück Land ist meines!“ Soziale Ungleichheit beginnt also mit der Entstehung von Privateigentum.21 Das geschah in der Ära der Häuptlingstümer, einige Jahrtausende nach Beginn von Ackerbau und Viehzucht: Sobald es den Sippen gelang, Nahrungsmittel auf Vorrat bereitzustellen, konnte ein Teil der Gesellschaft von landwirtschaftlicher Arbeit freigestellt werden. Ne21

Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (2010): Discours sur l’origine de l’inégalité. Reinbek. Beginn 2. Teil.

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ben dem Amt des Häuptlings differenzierten sich weitere Funktionen aus – Wächter, Hüter des Feuers, Waffenschmiede, Töpfer und andere Handwerker. Der Austausch von Gütern bzw. Leistungen bedingte die Privatisierung der getauschten Güter. Als später Staaten entstanden, erreichte die Arbeitsteilung auch die Führungsspitze. Dem König oder Pharao traten Vasallen und Beamten zur Seite – die gesellschaftliche Hierarchie nahm zu. Die Klassen, die Platon im Staat beschrieb – Herrscher (Philosophenkönig), Soldaten oder Wächter, Handwerker und Bauern – findet man ähnlich auch im hinduistischen Kastensystem, mit der zusätzlichen Kaste der Kaufleute zwischen den Bauern und den Kriegern. John Locke brachte den Ursprung sozialer Ungleichheit mit der Einführung des Geldes in Verbindung.22 Im Naturzustand, so Locke, hat jeder Mensch das Recht, sich anzueignen, was er mit eigenen Händen erntet oder erbeutet. Früchte und Ressourcen aller Art erhalten erst dadurch ihren Wert, dass der Mensch ihnen seine Arbeitskraft hinzufügt. Der Wert dieser Güter besteht sogar mehrheitlich aus geronnener Arbeit. Den Anteil, den die Natur zum Wert beiträgt, schätzte Locke auf maximal zehn Prozent.23 Der Mensch ist allerdings nur soweit berechtigt, sich Naturgüter anzueignen, als er sie für den Eigenbedarf braucht. Was verdirbt, fällt in den Schoß der Natur zurück. Reichtum lässt sich so nicht bilden. Das ändert sich mit der Erfindung von Münzen, in die man den Ernteüberschuss umtauschen kann; da Geld nicht verdirbt, eignet es sich zur Mehrung des Eigentums. Lockes Narrative verweist auf die Zeit früher Staaten, vor drei- bis viertausend Jahren. So wie in Häuptlingstümern Vorratsspeicher, Paläste und Prunk, entstehen in Staaten Verwaltung, Märkte und Geldgeschäfte. Mit dem Geldverleih nimmt die soziale Ungleichheit weiter zu. Den Handel mit Geld hat schon Aristoteles gegeißelt: Wer Geld nicht zum Kauf von Gebrauchsgütern verwendet, sondern zum Geldverleih gegen Zinsen, bereichert sich, ohne produktiv zu arbeiten. Der Zweck produktiver Arbeit liegt in der Befriedigung von Bedürfnissen. Geld ist dazu bloß ein Mittel. Mit dem Geldhandel verkehrt es sich aber zum Zweck, und was ursprünglich Zweck war, die Befriedigung von Bedürfnissen, wird zum Mittel; Geld ist Mittel und Zweck in einem – seine Vermehrung ein Zweck ohne Ende.24 Die frühesten menschlichen Gesellschaften waren horizontal strukturiert. Es gab keine sozialen Schichten, keine Spezialisierung, kein Privateigentum. Das Amt des Leaders war nicht erblich, seine Behausung nicht besser als die der anderen Sippenmitglieder.25 Soziale Ungleichheit entstand erst mit der Vorratswirtschaft. Seither gilt: Je komplexer die Gesellschaft, desto vielfältiger die Me22 23 24 25

Vgl. Locke, John (1983): The Second Treatise on Government. Reinbek. § 41. Vgl. Locke, a.a.O., § 40,42. Vgl. Aristoteles (1981): Politik. München. 1257b 18–1258a 14. Vgl. Diamond, Jared M. (1998): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Kap. 13.

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chanismen der Ungleichentwicklung. Mit der Rationalisierung der Produktionsmethoden und Weiterentwicklung der Geldwirtschaft durch Schaffung immer raffinierterer Finanzprodukte – Aktien, Obligationen, Derivate, Swaps – steigt das Potential für ungleiche Verteilung weiter. Heutige Ursachen der Entstehung und des Fortbestands globaler Armut

Wir haben jetzt zwei Kriterien für ungerechte Formen sozialer Ungleichheit: Erstens ein auf Zwang beruhendes Machtgefälle. Soziale Ungleichheit ist ungerecht, wenn sie auf Zwang beruht oder wenn man ihre Entstehung bestimmten Akteursgruppen – zum Beispiel Kolonisatoren – anlasten kann. Ungerecht ist zweitens die Unterlassung wirksamer Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Bedürftigsten, vorausgesetzt, solche Maßnahmen sind realisierbar. Es stellt sich also die Frage nach den Ursachen des heute bestehenden globalen Wohlstandsund Entwicklungsgefälles und nach Möglichkeiten, diese Ursachen günstig zu beeinflussen. Die Frage nach den Ursachen wird in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutiert.26 Zur Zeit des Kalten Krieges standen sich Vertreter der ‚Modernisierungs-‚ und solche der ‚Dependenztheorie‘ gegenüber. Während die Modernisierer dafür plädierten, dass die reichen Länder den Armen helfen sollten, Industrien, Märk­te und Demokratie aufzubauen (Stichwort: ‚nachholende Entwicklung‘), denunzierten die Gegner dieses Entwicklungskonzept als neo-kolonialistisch und plädierten dafür, jedes Entwicklungsland seinen Weg selber finden zu lassen (‚autozentrierte Entwicklung‘). Denn Armut sei wesentlich eine Folge der Abhängigkeit, in der die betreffenden Gesellschaften gehalten würden. Als nach dem Ende des Kalten Krieges der Begriff ‚Globalisierung‘ in Mode kam, verschob sich die Diskussion. Nun war es die Einschätzung der Globalisierungsprozesse, was die Debatte polarisierte. Das Wort ‚Globalisierung‘ hat aber viele Bedeutungen, und wer bestimmte Aspekte ablehnte, konnte andere dennoch befürworten. ‚Globalisierung‘ steht (a) für eine Welt von Staaten, über denen eine oder mehrere globale Institutionen stehen (UNO, Weltbank, IWF, WTO); (b) ein dichtes Kommunikations- und Verkehrsnetz rund um den Globus mit überall ähnlicher Infrastruktur: Flughäfen, Fünfsternehotels und Banken; (c) die Möglichkeit, innerhalb von 48 Stunden praktisch jeden beliebigen Ort der Welt erreichen und von jedem beliebigen Ort aus mit Personen an jedem beliebigen Ort kommunizieren zu können – per Telefon, Fax und heute Internet; (d) die Ausbreitung lokaler Errungenschaften, wie der Kalaschnikow, Pizza oder Capoeira, auf beliebige Teile des Globus; (e) die Ausbreitung der 26

Vgl. z.B. Cardoso, Fernando Henrique; Faletto, Enzo (1976): Abhängigkeit und Unterentwicklung in Südamerika. Frankfurt.

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kapitalistischen Marktwirtschaft – Liberalisierung der Märkte, Universalisierung des Rechts auf Investitionen, Privatisierung der Gewinne usw. – über die ganze Welt; (f) ein Geflecht transnationaler Konzerne, transnational operierender Nichtregierungsorganisationen sowie multinationaler Verbrecher- und Terrornetze; (g) das Zusammenrücken aller menschlichen Gesellschaften zu einer Schicksalsgemeinschaft im Hinblick auf Bedrohungen, wie Wassermangel, Klimawandel, Armutsmigration, Terrorismus, Umgang mit radioaktiven Materialien oder mit gentechnologisch veränderten Organismen usw. – lauter Bedrohungen, zu deren Ausschaltung nationale Alleingänge nicht mehr genügen; (h) eine Welt, in der die Erklärung der Menschenrechte (idealerweise) überall gilt. Die Kontroversen um die ‚Globalisierung‘ krankten häufig daran, dass die Vertreter beider ideologischen Lager eindimensional argumentierten. Auf beiden Seiten unterstellten sie, die Ursachen der fortgesetzten Armut seien entweder bei den lokalen Verhältnissen oder aber in der Mechanik der ‚Globalisierungsprozesse‘ zu suchen. Die Polarisierung entsprach derjenigen in den 70er-Jahren zwischen den Parteien, die Armut überwiegend für hausgemacht bzw. überwiegend für eine Folge externer Ausbeutung hielten. In Wahrheit ist Entwicklung stets das Ergebnis eines Zusammenspiels diverser Faktoren – einschließlich solcher, die auf natürliche Gegebenheiten zurückgehen und die deswegen ideo­ logisch unverdächtig sind. Sämtliche mögliche Ursachen des bestehenden Armutsgefälles fallen also in eine von drei Kategorien: (1) Faktoren ersten Typs: Lokale Ursachen. Dazu gehören politische Strukturen, technologischer Entwicklungsstand, Qualität und Zuverlässigkeit der Infrastruktur (einschließlich Sicherheit und Rechtssicherheit). Ferner Traditionen, kollektive Lebensgewohnheiten und religiöse Einstellungen. Kollektive Lebensgewohnheiten bilden sich im Laufe von Jahrhunderten in Reaktion auf besondere Herausforderungen heraus, mit denen eine Gesellschaft zu kämpfen hat. Traditionen zeigen häufig ein Beharrungsvermögen, wenn sich die Lebensbedingungen verändern, und verzögern den sozialen Wandel. Um die Lebensstile in vorstaatlichen Gesellschaften zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Wirtschaft von Agrar- und Hirtengesellschaften zu werfen, die nicht mit funktionierenden staatlichen Institutionen (Polizeiwesen, Gerichte, Altersvorsorge usw.) rechnen können, sodass sich die (Groß-) Familien selbst organisieren müssen.27 In manchen schwarzafrikanischen und einigen indigenen Gesellschaften Lateinamerikas spielen kollektive Eigentumsformen eine größere Rolle als in den Industriegesellschaften. Wer über besondere Ressourcen verfügt, teilt sie mit den Mitgliedern des Familienverbandes. Ihre Versorgung hat Vorrang vor jeder Investition in eine Firma. Modernes Unternehmertum kann unter diesen Umständen nicht gut entstehen. Wer einen Posten gewinnt, der ihm den Zugang zu Macht und Ressourcen eröffnet, muss 27

Vgl. Tobler, Verena (2001): Lernen von den Taliban? – Für einen respektvollen Umgang mit den weltwirtschaftlichen Rändern (unpubliziertes Manuskript).

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seine Berufsrolle klar gegen seine Rolle als Clanmitglied abgrenzen. Vermischen sich die Rollen, so entstehen die sprichwörtliche ‚Vetternwirtschaft‘ und der ‚Nepotismus‘. Faktoren, die man auf den ersten Blick gerne der lokalen Kultur zurechnen würde, haben nicht selten tiefer liegende Wurzeln. Ein Beispiel ist der in einkommensschwachen Ländern vor allem Afrikas ausgesprochene Kinderreichtum. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren aber auch in Europa die Familien kinderreich. Mit wachsendem Wohlstand und sinkender Kindersterblichkeit gehen die Geburtenraten zurück – dieser Trend ist eine kulturelle Invariante. Ein anderes Beispiel ist die Schwierigkeit, in schwarzafrikanischen Gesellschaften demokratische Verhältnisse einzuführen. In armen Gesellschaften kann Demokratie zwar funktionieren, wie das Beispiel Keralas (Südindien) belegt – allerdings im Sinne einer Ausnahme. Przeworski u.a.28 zufolge sind Demokratien in armen Ländern grundsätzlich fragil: „A democracy can be expected to last an average of about 8.5 years in a country with a per capita income under US$ 1,000 per annum, 16 years with a per capita income between US$ 1,000 and US$ 2000, 33 years between US$ 2,000 and US $4,000 and 100 years between US$ 4,000 and US$ 6,000… Above US$ 6,000, democracies are […] certain to survive…“ Das klingt, als ob sich Menschen für die einvernehmliche Regelung des nationalen Gemeinwohls erst engagieren wollen (oder können), wenn ein gewisser Lebensstandard gesichert ist.29 ‚Good Governance‘ ist eine wesentliche Vorbedingung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Dass es in vielen Gesellschaften, die in Armut stagnieren, an ‚Good Governance‘ fehlt,30 ist nicht unbedingt ein Indiz kultureller Rückständigkeit. Denn erstens wird unter ‚Good Governance‘ nicht immer dasselbe verstanden: Verschiedene Geldgeber definieren den Begriff unterschiedlich, und die Empfänger müssen jeweils die Vorgaben einhalten. ‚Good Governance‘ verschmilzt im Grenzfall mit der bloßen Bereitschaft, die Vorstellungen des Geldgebers zu befolgen. Zweitens fehlt es, wie wir spätestens seit der Finanzmarktkrise von 2008 wissen, an ‚Good Governance‘ auch zuweilen in noblen Konzernetagen – vor allem (aber nicht nur) bei Grossbanken und Rohstoffkonzernen. Um entsprechende Verhaltensweisen zu studieren, braucht man also nicht nach Afrika zu reisen. Eine gewisse Sensibilität für die Versuchung, den eigenen Vorteil stärker zu gewichten als die Erfüllung öffentlicher

28 29

30

Przeworski, Adam u.a. (1996); What makes Democracies Endure?, in: Journal of Democracy, S. 39–55, S. 49 nach Moyo, a.a.O., S. 43. Die Annahme, ein demokratisches Regime sei eine Voraussetzung für Wirtschaftswachstum, gehört zwar zum Credo westlicher Entwicklungspolitik, ist aber angesichts gewichtiger Gegenbeispiele – Chile, Südkorea, China – nicht wirklich erhärtet (Moyo, a.a.O., S. 43). Vgl. Leisinger, Klaus M. (2003): Eine überfällige Kritik an Entwicklungspolitik und praktische Folgerungen, in: Küng Hans; Senghaas, Dieter (Hrsg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. München/Zürich, S. 384–415, S. 393 f.

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Aufgaben, ist wohl kulturinvariant. Mittel und Wege zur eigenen Bereicherung findet, wer privilegiert ist – leichter als der, der ums Überleben kämpft. (2) Faktoren des zweiten Typs: Ursachen, die außerhalb der lokalen Kultur liegen: In diesen Bereich fallen einerseits bilaterale und multilaterale, koloniale und postkoloniale Ausbeutungs-Beziehungen; die Verteilung politischer und wirtschaftlicher Macht auf der internationalen Ebene; die vorherrschenden Ideen über Entwicklungspolitik („Washington Consensus“); die Geschäftspraktiken der sogenannten global players, insbesondere multinationaler Konzerne, und die juristischen Bedingungen des internationalen oder globalen Austauschs. Ein Beispiel: Wirtschaftliches Kapital überwindet Landesgrenzen leichter als das sogenannte Humankapital. Deregulierung soll die Verschiebung von Kapital, Produktions­ stätten und Firmensitzen über Landesgrenzen erleichtern. Sie bezieht sich aus naheliegenden Gründen aber nicht auf Arbeitskräfte. Doch selbst wenn man davon absieht, wie viele Menschen jedes Jahr auf dem Weg in ein Wohlstandsparadies ihr Leben verlieren, bedeutet die gegensätzliche Behandlung von grenzüberschreitendem lebendem ‚Kapital‘ und Finanzkapital eine krasse Ungerechtigkeit. Es ist für ein transnationales Unternehmen leichter, in einem armen Land zu investieren und den erwirtschafteten Gewinn von dort abzuziehen, als für einen Afrikaner, in Europa Arbeit zu finden, um Geld nach Hause zu schicken. Ein weiterer Einflussfaktor, der über Landesgrenzen hinaus zu wirken vermag, ist die Zivilgesellschaft, die sich einerseits in der Arbeit Tausender international operierender Nichtregierungs-Organisationen niederschlägt, sich andererseits aber auch im grenzüberschreitenden Tourismus manifestiert. Wir sind jedoch nicht nur Mitglieder einer Zivilgesellschaft und dann und wann Touristen, sondern auch Konsumenten, und als solche unterstützen wir mit vielen unserer Kaufentscheide, obschon in infinitesimalem Ausmaß, die oft unfairen Bedingungen, unter denen unsere Handys, Laptops und Markenkleidung produziert und entsorgt werden, falls es uns nicht gelingt, unsere Konsumentscheide auf der Basis zuverlässiger Informationen über Art und Ort der Herstellung unserer Konsumgüter zu treffen. Zu den Rahmenbedingungen des weltwirtschaftlichen Austauschs zählen auch Institutionen mit globaler Ausstrahlung, wie die UNO und ihre Unterorganisationen, die Weltbank, der IWF (Internationaler Währungsfonds) und die WTO (World Trade Organization, gegründet 1994 als Nachfolge-Institution des GATT – General Agreement on Tariffs and Trade); die Regeln des Völkerrechts und der Umstand, dass miteinander interagierende Gesellschaften nicht immer denselben technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand aufweisen. Weltbank und IWF sind manchmal zu Unrecht kritisiert worden, was man bedauern mag31. Doch haben sie beide auch schwerwiegende Fehler begangen. Ein Beispiel: In den 80er-Jahren unterstützte die Weltbank das dikta­torische Regime Brasiliens bei einem Straßenbau- und Siedlungsprojekt im Urwaldbundes31

Vgl. Leisinger, a.a.O., S. 389.

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staat Rondônia (für 346 Mio US-Dollar). Diese „größte Landreform der Welt“ – so die brasilianische Regierung – löste einen immensen Mig­rationsschub aus. Entlang der neuen Straße wurden so breite Waldstreifen abgeholzt, dass man heute von der Straße aus fast bis zum Horizont kaum noch Wald sieht. Von 55 Indiostämmen verloren fast alle ihren Lebensraum, viele wurden durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert oder ausgelöscht. Die ökologische und soziale Katastrophe war so umfassend, dass die Weltbank im Februar 1992 zur Schadensbegrenzung ein Rondonia Natural Resource Management Project für 228,9 Mio US-Dollar nachschieben musste. Dabei verfügte sie bereits seit den 70er-Jahren über Erfahrung mit Siedlungs­ projekten in Tropenwäldern: Damals hatte sie in Indonesien unter Suharto zu einem gigantischen Umsiedlungsprojekt, Transmigrasi, Hand geboten. Doch erst das Schlamassel in Brasilien war groß genug, um einen Umdenkprozess auszulösen. Eine Wiederholung dieser Projektart wäre heute wohl nicht mehr möglich. Offenbar benötigen nicht nur traditionale Gesellschaften, sondern auch die Weltbank und der IWF Zeit, um sich an aktuelle Gegebenheiten anzupassen – im vorliegenden Fall zwei Jahrzehnte.32 Je gigantischer die Beträge bei mangelhaft geplanten Projekten, desto gravierender sind gewöhnlich die Kollateralschäden. Beim Rondônia-Projekt sind sie nach historischen Dimensionen unumkehrbar. (3) Faktoren des dritten Typs: Naturgegebene Ursachen und Zufälle. Eine der wichtigsten natürlichen Ursachen gesellschaftlicher Ungleichentwicklung ist das Klima. Schon Montesquieu33 stellte Mutmaßungen darüber an, wie das Klima Mentalität und Verhalten der Menschen beeinflusst. David Landes nennt diverse Gründe, weshalb wirtschaftliche Tätigkeiten unter tropischem Klima schwerer fallen als unter gemäßigtem (am schwierigsten sind sie zweifellos in arktischer oder subarktischer Kälte wie im Norden Russlands, Kanadas und Skandinaviens). Bei großer Hitze arbeiten die Menschen langsamer und setzen die Arbeit zur heißesten Tageszeit aus. Ein Nachteil tropischer Temperaturen ist auch, dass Krankheitserreger wie Bakterien und Moskitos ohne Frost das ganze Jahr überleben. Bilharziose, Schlafkrankheit, Lepra, Leishmaniose, Schistosomiasis und Malaria gedeihen am besten, wenn nicht ausschließlich, in tropischen Ländern34.

32

33 34

„Change is slow in international bureaucracies such as the IMF and the World Bank because they have organizational cultures or identities through which new norms must penetrate. Change is … costly since habits and traditions must be adapted or reinvented….Different levels of resistance can be expected according to the organizations’ mandate and professional background of staff in relation to different policy fields“. (Park, Susan; Vetterlein, Antje [2010]: Owning development: Creating Policy Norms in the IMF and the World Bank. Cambridge, S. 233.) Vgl. Montesquieu, Charles (1992): Vom Geist der Gesetze. Band 1. Tübingen. 14. Kapitel. Vgl. Landes, David (2002): Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, S. 25.

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Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung haben auch geograpische Faktoren, die Topographie eines Landes zum Beispiel: In gebirgigen Regionen sind der Transport (schmale, kurvenreiche, schadhafte Straßen) und die Verkehrsinfrastruktur (Brücken, Tunnels) besonders kostspielig. Mit der Entfernung zu Meereshäfen steigen die Transportkosten ebenfalls. Binnenländer sind zudem von der Verkehrsinfrastruktur ihrer Nachbarländer abhängig.35 Uganda zum Beispiel grenzt an den Kongo, Ruanda, Kenia und Tansania – lauter Länder mit prekärer Infrastruktur. Bolivien, Äthiopien und Nepal sind gebirgige Binnenländer – da kumulieren sich diese Nachteile. Ein weiterer Ungunstfaktor ist eine Ausstattung mit begehrten natürlichen Rohstoffen. Für viele Länder ist sie eher Fluch als Segen – sie werden zum Objekt fremder Begehrlichkeiten, was schon für die Kolonialzeit galt, und Schauplätze von Putschs, Unruhen und Kriegen.36 In Afrika sind Nigeria, der Kongo und Angola Beispiele, in Asien Aserbaidschan, Teile Afghanistans und der Irak. Da in rohstoffreichen Ländern die meisten Investitionen in die Ressourcenförderung fließen statt in Industrie und Gewerbe, bleiben diese unterentwickelt. Boomende Rohstoffeinnahmen treiben die Währung in die Höhe, was die übrigen Exporte benachteiligt. Anderer Art ist der Einfluss der Geographie auf den Umstand, dass die beiden Amerikas viele Jahrtausende später besiedelt wurden als die übrigen Kontinente. China und Indien ernähren seit Jahrtausenden große Bevölkerungen und haben einen Teil ihrer ursprünglichen Bodenfruchtbarkeit verloren: Der Grundwasserspiegel sinkt seit langem rasch, und fossile Aquifere drohen zu versiegen. In Brasilien hingegen wuchs die Bevölkerung erst seit dem 17. Jahrhundert, das Land ist noch immer relativ dünn besiedelt, auch außerhalb der Tropenwälder. Weite Ackerbauflächen werden erst seit kurzem genutzt, und die Grundwasservorkommen sind noch fast völlig intakt. Diese Unterschiede sind für die zukünftige Entwicklung dieser Länder nicht gleichgültig. Dem menschlichen Einfluss entzieht sich auch der Faktor Zufall, der in der Geschichte fast immer mit im Spiel ist. Oft gilt das Prinzip Kleine Ursachen, große Wirkung. Warum zum Beispiel haben die Chinesen im 15. Jahrhundert ihre Flotte verbrannt, mit der sie bis nach Ostafrika gekommen waren, kurz bevor Kolumbus in See stach? „Warum raffte sich China“, als es noch eine Flotte hatte, „nicht zu jener kleinen zusätzlichen Anstrengung auf, die es um die Südspitze Afrikas hinauf in den Atlantik hätte gelangen lassen?“37 China war Europa bis in die Neuzeit wissenschaftlich und technisch überlegen, verlor dann aber den Vorsprung. Doch die Dominanz des Westens im 20. Jahrhundert beruhte großenteils auf Zufall.

35 36 37

Vgl. Collier, Paul (2008): Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. München. Vgl. Collier, Paul (2009): Gefährliche Wahl wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Welt gelingen kann. München. Vgl. Collier, a.a.O. Landes, a.a.O., S. 113.

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Die Aufzählung von Faktoren, die Entwicklung behindern oder beflügeln können, ließe sich noch lange fortsetzen. Die angeführten Beispiele dürften aber ausreichen, um deutlich zu machen, wie schwer es ist, die bestehenden Entwicklungsunterschiede auf die richtige Kombination von Ursachen zurückzuführen bzw. die verschiedenen Ursachen korrekt zu gewichten. Man kann deshalb auch nie genau wissen, ob ein Entwicklungshindernis, das man kulturellen Einflüssen zuschreiben möchte, tatsächlich verschwindet, wenn sich die Tradition verändert. Mehr Kausalanalysen zu betreiben38, ist deshalb sicher angebracht. Ein schon fast klassisches Hilfsmittel solcher Analysen ist inzwischen die Erforschung menschlicher Präferenzen. Man weiß heute beispielsweise, dass das Angebot günstiger Mikrokredite unterernährte Menschen noch nicht unbedingt dazu motiviert, ihre Ernährungsgewohnheiten umzustellen. Viele Menschen, die ein paar Dollar sparen könnten, stecken ihr Geld lieber in unnötige Dinge wie Alkohol, als für Notfälle vorzusorgen. Deswegen reicht die Schaffung von Kleinkreditbanken zur Armutsverminderung meistens nicht aus.39 Das Beispiel zeigt exemplarisch, weshalb bei vielen Maßnahmen zur Armutsverminderung der Erfolg ungewiss ist. Politisch beeinflussbare Bedingungen wirtschaftlicher Entwicklung: Positive Anreize schaffen

Auch simplistische Theorien können Entwicklungshindernisse sein. So lautet beispielsweise ein altes Credo der Weltbank: Damit die Armut in der Welt abnimmt, müsse die Wirtschaft wachsen. Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, doch in manchen Regionen hat sich die Lebensqualität auch in Phasen mit deutlichem Wirtschaftswachstum kaum verbessert, während sie andernorts umgekehrt auch ohne Wirtschaftswachstum besser geworden ist. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Grad der Solidarität unter den Menschen.40 Fehlt diese Solidarität, sind Anstrengungen zur Armutsverminderung leicht zum Scheitern verurteilt: Staatliche Maßnahmen zur Umverteilung, etwa durch stärkere Besteuerung von Reichtum, zerbrechen meist am Widerstand der Privilegierten. Welche Bedingungen müssen in armen Ländern bzw. armen Regionen erfüllt sein, damit dort die Produktivität wächst und die Chancen auf eine Verringerung der Armut steigen? Daron Acemoglu und James Robinson41 nennen zwei 38 39 40 41

Vgl. Banerjee, Abhijit; Duflo, Esther (2011): Poor Economics. A Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty. New York. Vgl. Banerjee/Duflo, a.a.O., S. 194. Vgl. Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen. München. Kap. 2. Vgl. Acemoglu, Daron; Robinson, James A. (2012): Why Nations Fail. New York. Dt.: (2013): Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. Frankfurt.

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Konditionen: (1) Damit sich eine blühende Wirtschaft entfalten kann, braucht es ein intaktes Gewaltmonopol und Rechtssicherheit; denn Menschen neigen nicht zu Sparanstrengungen, wenn das Risiko hoch ist, dass ihnen alles weggenommen wird. (2) Es braucht Freiräume für Eigeninitiativen. Technische und wirtschaftliche Entwicklung beruht auf Erfindungen und regem Austausch, die beide durch eine restriktive Wirtschaftspolitik erstickt werden. In ausbeuterischen Systemen – Acemoglu und Robinson nennen sie extraktiv – verkümmert das Motiv, wirtschaftlich besonders produktiv zu sein. Die Bedingungen für Wirtschaftswachstum sind in einem sogenannt inklusiven System, das den Menschen genügend Stimuli bietet, um ökonomisch aktiv zu werden, wesentlich günstiger. Solche Stimuli sind zum Beispiel Arbeitsteilung, die Möglichkeit, ein Geschäft zu eröffnen, und die Garantie, im Erfolgsfall einen großen Teil seiner Einkünfte behalten zu können. Die Autoren vertreten des Weiteren die These, dass extraktive Systeme einen langen Schatten in die Zukunft werfen, was dazu führen kann, dass sich in Regionen mit extraktiver Wirtschaft, selbst wenn sie über längere Zeit relativ reich waren, längerfristig keine blühende Wirtschaft mehr entwickelt. In Regionen, die nie oder sehr lange nicht mehr unter Ausbeutung gelitten haben, sind die Chancen auf echtes Wirtschaftswachstum größer, selbst wenn sie zuvor arm waren. Dies belegen die Autoren anhand eines Vergleichs zwischen der Kolonisierung Australiens – eines im 17. und 18. Jahrhundert armen Kontinents – und Mexikos, das zum Zeitpunkt der spanischen Eroberung reich war. Das ausbeuterische System der Azteken unter Montezuma wurde durch die nicht minder ausbeuterische spanische Fremdherrschaft abgelöst. Die extraktive Wirtschaft blieb in Mexiko während Jahrhunderten dominant und prägt die lokale Mentalität zum Teil bis heute. In Australien dagegen wurden Institutionen geschaffen, die die Eigentumsrechte der eingewanderten Bevölkerung (nicht der Indigenen!) schützten und Investitionen begünstigten. Ein anderer Vergleich betrifft die wirtschaftliche Entwicklung Englands, das zu römischer Zeit und im Mittelalter eine ärmliche Peripherieregion war, mit derjenigen auf dem europäischen Festland, das im Mittelalter viel entwickelter war, aber unter den Römern und während der Feudalzeit unter extraktiven Verhältnissen litt. Nicht auf dem Festland, sondern in England wurde im 18. Jahrhundert eine Entwicklung angestoßen, die erst später auf den Westteil des Kontinents übergriff. In Russland, das praktisch seit jeher unter Extraktivismus gelitten hat, leben die meisten Menschen noch heute unter extrem bescheidenen Verhältnissen. Acemoglus und Robinsons Thesen sind im Grunde nicht neu. David Landes belegt anhand historischer Zitate, dass manche Autoren schon in viel früherer Zeit ähnliche Einsichten formulierten – im 18. Jahrhundert etwa Edmund Burke42: „Ein Gesetz gegen Eigentum ist ein Gesetz gegen Gewerbefleiss“, und im 5. Jahrhundert vor Christus Hippokrates: „Die menschlichen Seelen sind 42

In Tracts on the Poperty Laws, vgl. Landes, a.a.O., S. 47.

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[wo es Könige gibt] geknechtet und weigern sich, zur Mehrung der Macht eines anderen bereitwillig und bedenkenlos Risiken auf sich zu nehmen. Unabhängige Menschen dagegen, die für sich selbst und nicht für andere Risiken auf sich nehmen, begeben sich bereitwillig und begierig in Gefahr, weil sie selbst den Preis des Sieges empfangen.“43 Ist die Regel, dass wirtschaftliches Engagement Anreize voraussetzt und mit Knechtung unverträglich ist, ein Art Naturgesetz? Wenn ja, kann man sie zu den natürlichen Faktoren wirtschaftlicher Entwicklung zählen. Ob sich die Politik danach richtet, bleibt aber eine soziale oder politische Frage und gehört insofern zu den kulturellen Faktoren. Es lohnt sich, an dieser Stelle auch die globalisierungskritischen Thesen Rod­riks zu erwähnen. Dani Rodrik, ein türkischstämmiger Ökonom, der in den USA lehrt, bewertet die wirtschaftliche Globalisierung nicht grundsätzlich negativ. Er betont aber, dass es unmöglich ist, die folgenden drei Ziele gleichzeitig zu realisieren: (1) Hyperglobalisierung – das heißt ein weltweites, auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem, mit maximalem Abbau jeder Art von staatlichem Protektionismus durch Zölle, Subventionen usw.; (2) ein System von Nationalstaaten mit eigenen politischen Entscheidungsinstanzen; (3) Demokratie. Realisierbar seien nur Zweierkombinationen, und diese seien nicht alle gleichwertig. Verbinde man (1) und (3) durch Schaffung einer Art globalen Parlaments, das über die Regeln der Weltwirtschaft entscheidet, so bleibe den Nationalstaaten nicht mehr viel Spielraum für eine eigene Politik. Die Kombination von (1) und (2) sei besonders inattraktiv, denn sie erweise sich nur als möglich, wenn sich die Nationalstaaten den globalen Finanzmärkten öffnen und „dem Bestreben verschreiben, ein attraktives Pflaster für internationale Investoren und Wertpapierprofis zu werden“.44 Innerhalb der Europäischen Union häufen sich Klagen, dass das EU-Recht die Spielräume für demokratische Entscheidungen in den Einzelstaaten immer mehr einschränkt. Wie stark die nationale Autonomie durch den Druck der ‚globalisierten‘ Wirtschaft eingeschränkt werden kann, zeigt Rodrik am Beispiel der Argentinienkrise Ende der 90er-Jahre: Als 1996 das Vertrauen der Finanzmärkte in die argentinische Wirtschaft schwand, verordnete der argentinische Wirtschaftsminister Haushaltskürzungen, die zu Massenprotesten führten.45 Verbindet man schließlich (2) und (3), so gewinnt man zwar Freiräume für demokratische Entscheidungen, die allerdings den Zwängen der Finanzmärkte zuwiderlaufen. Daher wehren sich die Bürger gegen den Imperativ, global geltende Regeln – zum Beispiel die der WTO – auf nationalstaatlicher Ebene umzusetzen. Demokratie ist hier die Gegenkraft.

43 44 45

Zit. nach Landes, a.a.O., S. 51. Rodrik, Dani (2011): The Globalization Paradox. Democracy and the Future of World Economy. New York, S. 261. Dt.: (2011): Das Globalisierungs-Paradox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. München. Vgl. Rodrik, a.a.O., S. 244.

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Rodrik rät konsequenterweise zum Verzicht auf eine Hyperglobalisierung. So wie der Einzelne unternehmerische Freiheit beansprucht und die Früchte seines Engagements gerne selber einfahren möchte, will auch jede Nation über ihre eigenen Belange selber entscheiden und nicht dazu gezwungen werden, sich Regeln zu unterwerfen, auf die sie nur geringen Einfluss hat und deren Befolgung das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung empfindlich schmälern könnte. Auch hier stellt sich die Frage: Entspricht diese Präferenz einem quasi natürlichen Gesetz oder spiegelt sie eine kollektive Überzeugung, die auf bestimmten kulturellen Voraussetzungen beruht? Welchen Einfluss auf das globale Armutsgefälle haben die Wohlstandsgesellschaften?

Besonders pikant ist die Frage, inwieweit Wohlstandsgesellschaften – in ihnen konzentriert sich materieller Reichtum und politisch-wirtschaftliche Macht – an der Entstehung oder Perpetuierung von Armut in der Welt mitverantwortlich sind. Soweit sich eine solche Verantwortung oder Mitverantwortung nachweisen lässt, kann man daraus eine Pflicht zu Kompensationsleistungen, beispielsweise in Form von Entwicklungszusammenarbeit, ableiten. Damit ist der Moment gekommen, zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ist das Armutsgefälle ungerecht? Die Frage ist zu bejahen, falls das Armutsgefälle in einem Machtgefälle begründet ist (und nicht umgekehrt); und/oder falls es die Wohlstandsgesellschaften in der Hand haben, die Armut zu verringern, die entsprechenden Möglichkeiten aber nicht ergreifen. – Dass Letzteres tatsächlich der Fall ist, soll nun anhand einer Reihe von Beispielen belegt werden. Die ersten beiden übernehme ich von Thomas Pogge. Die übrigen Beispiele ergänzen die Auslegeordnung der Hindernisse, an deren Überwindung zu arbeiten sich lohnt. Das Rohstoff- und Kreditprivileg

Zu den Fakten, die sich auf ökonomisch schwach entwickelte Gesellschaften ungünstig auswirken, weil sie bestehende Probleme eher verstärken als abschwächen, gehören unter anderem völkerrechtliche Regelungen. Pogge, der diesen Sachverhalt in die Diskussion eingebracht hat, nennt vor allem zwei: das Rohstoff- und das Kreditprivileg:46 46

Vgl. Pogge, Thomas (2010): Politics as Usual. What Lies Behind the Pro-Poor Rhetoric. London/New York, S. 47 ff. Vgl. ders. (2007): Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht: Die Menschenrechte der Armen, in: Bleisch, Barbara; Schaber, Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik. Paderborn, S. 95–138, hier S. 125–129.

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(a) Rohstoffprivileg: Gewöhnlich entscheidet die Regierung eines Landes darüber, wer die heimischen Rohstoffe fördern darf, an wen sie verkauft werden und wohin die Erlöse fließen. Dies gilt in Diktaturen genauso wie in Demokratien47. Wie erwähnt, bedeutet die Ausstattung mit begehrten Rohstoffen einen Standortnachteil. Besonders heikel ist, dass das Rohstoffprivileg einen Anreiz für Putschs und Umstürze darstellt. Dieser Nachteil resultiert zwar aus einer natürlichen Gegebenheit. Er ließe sich aber minimieren, wenn das Rohstoffprivileg für diktatorische Regime aufgehoben oder durch Boykott des Rohstoffhandels unwirksam gemacht würde. (b) Kreditprivileg: Über die Aufnahme internationaler Kredite entscheidet ebenfalls die Regierung. Auch hier besteht kein völkerrechtlicher Unterschied zwischen Demokratien und Autokratien. Diktatoren verwenden erhebliche Summen für den eigenen Machterhalt und transferieren oft stattliche Beträge auf Konten im Ausland. Tritt eine demokratische Regierung in die Fußstapfen eines Diktators, so sind ihr bei der Ausgabenpolitik die Hände gebunden, bis sie die Schulden der Vorgängerregierung abbezahlt hat.48 Diesem Missstand versucht man inzwischen in verschieden westlichen Ländern halbherzig entgegenzuwirken, indem man Banken, die Potentatengelder aus dem Ausland entgegennehmen, an den Pranger stellt. Wie der Erlös aus Rohstoffexporten, so kann auch die Budgethilfe, in die heute ein Großteil der Entwicklungsgelder fließt, eine für die Empfängerländer schädliche Wirkung entfalten.49 „Letztlich macht Budgethilfe Entwicklungshilfe zu Öl: sie ist Geld für die Regierungen (…) ohne Einschränkungen seiner Verwendung“.50 Verschuldungskrise und ihre Folgen

Staatsverschuldung ist heute vor allem ein Problem mancher westlicher Industrieländer. Ärmere Staaten leiden aber ebenfalls noch unter den Folgen der Verschuldungspolitik früherer Jahrzehnte. Der Anfang der Schuldenkrise fällt in die 70er-Jahre. Damals wurden Geschäftsbanken mit Dollars aus den Erdöl exportierenden Ländern überflutet. Deshalb boten sie den Entwicklungsländern Darlehen zu niedrigen Zinsen an. Das wohlfeile Geld verleitete die Regierungen zu unsinnigen Ausgaben. Als die Zinsen stiegen, gerieten die Schuldnerländer in Schwierigkeiten. Die Bedienung der Schulden verschlang einen rasch wachsenden Anteil an den Exporterlösen – auf Kosten der Förderung sozialer Anliegen, etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Zahlungsunfähige Län47 48 49 50

Vgl. Pogge (2007), a.a.O., S. 125. Vgl. Pogge (2010), a.a.O., S. 49 f. Vgl. Moyo, a.a.O., S. 48 f. Vgl. Seitz, Volker (2009): Afrika wird armregiert oder wie man Afrika wirklich helfen kann. München, S. 58–64. Collier (2008), a.a.O., S. 134.

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der erhielten vom IWF nur noch Kredite, wenn sie sich rigorosen Bedingungen („Konditionalitäten“) unterzogen, die zu den Entwicklungsbedürfnissen des Landes oft im Gegensatz standen.51 Stiglitz52 bezeichnete den IWF deswegen einmal als „eines der größten Hindernisse für die Entwicklungsländer“. Die 80er-Jahre gingen in die Geschichte Lateinamerikas und Afrikas als „verlorenes Jahrzehnt“ ein. In den neunziger Jahren verlangte der IWF von den Schuldnerländern die Privatisierung staatlicher Unternehmen. In Russland entstand dadurch in kürzester Zeit eine Wirtschafts-Elite mafiosen Zuschnitts. Der freie Markt beschränkte sich dort auf Erdöl und Erdgas.53 Auch beim afrikanischen Moçambique band der IWF nach Ende des Bürgerkriegs (1991) Entwicklungshilfe an die Bedingung, dass staatseigene Unternehmen privatisiert würden. Die Folge war, dass die Spitzen der Regierungspartei (Frelimo) sich die staatlichen Filetstücke unter den Nagel rissen. Dieselbe Regierung, die kurz zuvor noch sozialistische Parolen ausgegeben hatte, verkam in wenigen Jahren zu einem Clan von Kleptokraten.54 Die WTO, Subventionen und Schutzzölle

Stärker als unter den Folgen der einstigen Verschuldungskrise leiden die ärmsten Länder heute unter den Regeln der WTO. Diese werden in der WTO-Ministerkonferenz beschlossen. Die Vertreter der Mitgliedsländer haben in dieser Konferenz zwar Einsitz, den LDCs (‚Least Developed Countries‘) fehlen aber die nötigen Mittel, um einen permanenten Vertreter in Genf zu finanzieren. Bei den Aushandlungsprozessen in der WTO sind sie deswegen oft schlechter vorbereitet. Gut betuchte Nationen verfügen nicht nur über mehr Verhandlungsmacht, sondern auch über mehr Mittel, um Expertisen einzu­ holen.55 Im Abbau von Zöllen und Einfuhrverboten für Produkte aus Entwicklungsländern hat die WTO nur geringe Verbesserungen für die Entwicklungsländer gebracht. Die OECD-Länder investieren jeden Tag 800 Millionen (bzw. jähr51

52 53 54 55

Vgl. Altvater, Elmar u.a. (Hrsg.) (1987): Die Armut der Nationen. Handbuch zur Schuldenkrise. Berlin. Vgl. Hinsch, Wilfried (2003): Die Verschuldung ärmster Entwicklungsländer aus ethischer Sicht, in: Martin Dabrowski u.a. (Hrsg.): Die Diskussion um ein Insolvenzrecht für Staaten. Berlin, S. 17–43. Stiglitz, Joseph (2002): Die Schatten der Globalisierung. Berlin, S. 39. Vgl. Sachs, Jeffrey (2005): Das Ende der Armut. München, S. 179 ff. Vgl. Wild, Jonathan: Das Gespenst des Bürgerkriegs. In Moçambique verschärft sich der Konflikt zwischen Frelimo und Renamo. Neue Zürcher Zeitung, 05.12.2013, S. 6. Vgl. Schefczyk, Michael (2007): Weltarmut und geistiges Eigentum. Gerechtigkeitstheoretische Anmerkungen zum ‚Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights’ (TRIPS), in: Bleisch; Barbara; Schaber, Peter: Weltarmut und Ethik S. 297– 315. Vgl. Singer, Peter (2002): One World. The Ethics of Globalization. New Haven/ London. Kap. 3.

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lich knapp 300 Milliarden) Dollar in die Subventionierung ihrer Landwirtschaft – fast das Dreifache dessen, was sie an Entwicklungshilfe leisten.56 Die EU gibt für die Subventionierung einer Kuh mehr aus als das minimale Tageseinkommen, mit dem über eine Milliarde Menschen überleben müssen. Die USA subventionieren die heimische Baumwollproduktion mit jährlich 4 Milliarden US-Dollar und torpedieren damit die Absatzchancen der Baumwollproduk­ tion in Afrika, von der mindestens 16 Millionen Menschen leben.57 Benachteiligt werden die Entwicklungsländer auch durch sogenannte Eskalationszölle – Zölle, die für unverarbeitete Stoffe am niedrigsten sind und mit jeder Verarbeitungsstufe steigen. Sie erschweren diesen Ländern den Aufbau eigener Industrien.58 Vollständige Deregulierung würde die Beseitigung der Handelsschranken einschließen und die Wirtschaft mancher Entwicklungsländer stärken. Dies liegt aber nicht im Interesse der wirtschaftlich stärkeren Nationen. Ein grundsätzliches Handicap westlicher Entwicklungshilfeprojekte sind die doppelten Standards. Man pocht auf die Einhaltung der Menschenrechte, unterstützt aber vielfach Diktatoren. Man propagiert Armutsverminderung, macht den Entwicklungspartnern aber Auflagen, die oft das Gegenteil bewirken. Man verlangt den Abbau von Zöllen, baut die eigenen aber nicht ab. Angesichts des wachsenden chinesischen Engagements in Afrika stehen die afrikanischen Gesellschaften vor der heiklen Frage, was das geringere Übel ist – der chinesische Geschäftsgeist, dem oft jede Moral zu fehlen scheint, oder die verkappte Doppelmoral der westlichen Entwicklungspolitik… Leasing von Land und von Süßwasserquellen

Neueren Datums sind zwei Arten von Geschäften, für die das globale Armutsund Entwicklungsgefälle ideale Voraussetzungen bietet: (1) Landwirtschaftlich nutzbare Flächen, vor allem in Afrika und Lateinamerika, werden langfristig – oft für 50 bis 99 Jahre – an ausländische Unternehmen oder Institutionen verpachtet. Befürworter, wie der 2012 verstorbene Ministerpräsident von Äthiopien, Meles Zenawi, argumentieren, Landleasing bringe für die afrikanische Landwirtschaft einen Modernisierungsschub, führe zu einer Vervielfachung der Nahrungsmittelproduktion und schaffe neue Arbeitsplätze. Kritiker sprechen jedoch von „Land Grabbing“.59 Weltweit sind laut der Weltbank60 allein zwischen Herbst 2008 und Sommer 2009 nicht weniger als 464 56 57 58 59 60

Vgl. Moyo, a.a.O., S. 115.; Berliner Zeitung, 3.2.2014. Vgl. Moyo a.a.O., S. 115. Vgl. Pogge (2010), a.a.O., S. 206. Vgl. ders. (2007), a.a.O., S. 106 f. Vgl. Engler, Birgit; Gräber, Barbara (2014): Landgrabbing: Landnahme in historischer und globaler Perspektive. Wien. Vgl. Weltbank: Rising Global Interest in Farmland. Can it Yield Sustainable and Equi­ tible Benefits? Papier vom 7. September 2010.

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Landerwerbs-Verträge verhandelt worden. Käufer oder Pächter von Ländereien sind häufig Firmen aus Schwellenländern: China, Südkorea, Saudi-Arabien, deren heimische Anbauflächen für die Ernährung der eigenen Bevölkerung nicht reichen. In Äthiopien erhielt ein indischer Großbauer den Zuschlag für ein Grundstück von 1000 Quadratmeilen (= 2590 km2) zu einem Pachtzins von wöchentlich 150 englischen Pfund (= 182 EUR).61 Landleasing wird aber auch zur Herstellung von Bioethanol genutzt.62 In den betroffenen Regionen ist der Boden zum Teil ein Kollektivgut (common good); seine Überführung in ausländische Hände dürfte auf Seiten der Bevölkerung, die leer ausgeht, längerfristig Proteste auslösen.63 Zudem besteht das Risiko, dass die Böden übermäßig strapaziert werden, falls sich der Pachtvertrag nicht verlängern lässt. (2) Ähnliche Probleme ergeben sich aus der Kommerzialisierung von Wasser. An der Weltwasserkonferenz von Dublin im Januar 1992 wurde gefordert, das Management von Wasserressourcen – bis dahin eine Aufgabe des Staates bzw. der Gemeinden – solle auch privaten Institutionen und Organisationen offen stehen.64 In vielen Teilen der Erde ist Trinkwasser zunehmend knapp, das Geschäft mit Flaschenwasser, das in den Händen von lediglich fünf Firmen liegt, boomt. Allein in China, Indonesien und Brasilien hat es sich zwischen 1999 und 2004 verdoppelt, in Indien verdreifacht.65 Nestlé verdient mit Flaschenwasser jedes Jahr Milliarden. Die Folgen sind zweischneidig: Wo Trinkwasser nicht über Wasserleitungen verfügbar ist, bietet Flaschenwasser den besten Schutz vor Krankheiten. Flaschenwasser verkauft sich aber auch in Gegenden mit funktionierender Trinkwasserversorgung, wo es hundert Mal mehr kostet als Leitungswasser. Am problematischsten sind aber die Privatisierung von Quellen und die Vergabe von Lizenzen für zum Teil unkontrolliertes Abschöpfen von Grundwasser.66 – Es ist unwahrscheinlich, dass Maßnahmen wie Land Grabbing und Quellen-Verkauf es den betroffenen Ländern erleichtern werden, die Bedingungen für menschliche Entwicklung67 zu verbessern. Die genannten Praktiken wären alle (oder fast alle) unmöglich, wenn sich die globalisierte Wirtschaft zwischen gleich mächtigen Partnern abspielte und nicht unter Bedingungen krasser Ungleichheit. Pogges Folgerung, dass die gegenwär61 62 63 64 65 66 67

http://ethiopiaobservatory.com/2011/08/09/meles-zenawi-says-no-land-grab-in-­ ethiopia%E2%80%94not-today-not-tomorrow-why-then-could-he-not-succeed-inrefuting-evidences-of-displacements-abuses/ Vgl. Brown, Lester R. (2011): The World on the Edge. How to Prevent Environmental and Economic Collapse. New York/London, S. 68. Vgl. Brown, a.a.O., S. 68. Vgl. ICWE (1992): The Dublin Statement and Report of the Conference. Dublin. Vgl. Dobner, Petra (2010): Wasserpolitik. Frankfurt, S. 154 und 156 f. Dobner, a.a.O., S. 163 f. Vgl. ATTAC Schweiz (Hrsg.) (2005): Nestlé. Anatomie eines Weltkonzerns. Zürich. Kap. 6. Vgl. UNDP [Entwicklungsprogramm der UNO]: Human Development Report. Erscheint jährlich.

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tige Weltordnung ungerecht ist, lässt sich jedenfalls nicht leicht widerlegen. Nach dem Verursacher- und Nutznießerprinzip gilt, dass die Urheber ungerechter Verhältnisse moralisch verpflichtet sind, etwas zugunsten der Geschädigten zu unternehmen. Noch besser wäre es allerdings, die Ausbeutungsmechanismen selbst zu entschärfen. Die Verteilung der politischen und ökonomischen Macht verändert sich allerdings inzwischen von selber: Die westlichen Länder – USA, Kanada, Europa – verlieren zunehmend an Gewicht und Einfluss an die aufsteigenden BRIC[S]-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und weitere Schwellenländer. Ausblick: Gerechtigkeitsfragen im Zeichen des Klimawandels

Zum Schluss sei daran erinnert, dass unser Umgang mit der Klimaerwärmung ein neuartiges, dringliches und ausgesprochen heikles Gerechtigkeitsproblem aufwirft, und dies in einem doppelten Sinn: Zum einen sollten die mit der Reduktion von CO2-Emissionen entstehenden Lasten gerecht aufgeteilt und zum anderen die Länder bzw. Regionen, auf die sich der Klimawandel besonders negativ auswirkt, gerecht entschädigt werden. Gemäß Voraussagen des Weltklimarats68 wird die Klimaerwärmung nicht alle Regionen der Erde gleich stark tangieren. In höherem Maße werden voraus­ sichtlich viele ärmere Gesellschaften betroffen sein, die zur Entstehung des Treibhauseffekts so gut wie nichts beigetragen haben. Manche dieser Gesellschaften leben in Gebieten, in denen die landwirtschaftliche Produktion zurückgeht69 oder der Meeresspiegel ansteigt. Ihnen fehlt sowohl das technologische Knowhow als auch die nötige Wirtschaftskraft, um sich vor diesen Folgen zu schützen oder sich daran anzupassen. In diesen Ländern wird wegen des stärkeren demographischen Wachstums künftig ein zunehmender Anteil der Weltbevölkerung leben.70 Hält man sich an das Verursacherprinzip, so müssen die ‚klassischen‘ Industrieländer, also die Gruppe der frühesten und bis vor kurzem stärksten Verursacher der Klimaerwärmung, die größten Anstrengungen zur Verringerung der Treibhausgas-Emissionen unternehmen. Sie haben (wenn man von den arabischen Emiraten absieht) die höchsten Emissionen pro Person und sind mehrheitlich in besserer wirtschaftlicher Verfassung als ärmere Länder. Nach den Berechnungen des Weltklimarats sollte Westeuropa seine Emissionen bis zum Jahr 2050 um bis zu 90 Prozent zurückfahren, die USA sogar um bis zu 97 68 69 70

Vgl. IPPC (2008): Climate Change 2007. Synthesis Report, Genf 2007. Vgl. Cline, William (2007): Global Warming and Agriculture. New Country Estimates Show Developing Countries Face Declines in Agriculture Productivity. Washington. Vgl. Birnbacher, Dieter (2011): Klimaverantwortung als Verteilungsproblem, in: Welzer, Harald; Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung. Frankfurt, S. 307–327.

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Prozent.71 Auch die Schwellenländer werden schmerzhafte Opfer bringen müssen. Diese von ihnen einzufordern, steht aber nur Gesellschaften zu, die selber mit gutem Beispiel vorangehen.

71

Vgl. IPCC, a.a.O., 2007; vgl. Hänggi, Marcel (2008): Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt. Zürich, S. 243.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Helmut P. Gaisbauer ist Politikwissenschafter und arbeitet als Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armutsforschung, Universität Salzburg. Anke Graneß ist Philosophin und zurzeit Inhaberin einer Elise-Richter-Stelle des FWF am Institut für Philosophie der Universität Wien. Henning Hahn ist Philosoph und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Ethik der Globalisierung an der Universität Kassel. Stephan Kirste ist seit 2011 Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Zuvor war er Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der deutschsprachigen ­AndrássyGyula-Universität Budapest. Uta Klein ist Professorin für Soziologie, Gender und Diversion und Direktorin am Institut für Sozialwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Leiterin der Gender-Research-Group. Dieter Röh ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Clemens Sedmak ist Professor für Sozialethik und Inhaber des F.-D.-MauriceLehrstuhls am King’s College London; er leitet das Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Jörg Chet Tremmel ist Juniorprofessor für Generationengerechte Politik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Angela Wegscheider ist Soziologin und arbeitet als Senior Scientist am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Universität Linz.