Der Abwägungsstaat: Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? [1 ed.] 9783428490073, 9783428090075


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German Pages 252 Year 1997

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Der Abwägungsstaat: Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? [1 ed.]
 9783428490073, 9783428090075

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WALTER LEISNER . DER ABWÄGUNGSSTAAT

Der Abwägungsstaat Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?

Von

Prof. Dr. Walter Leisner

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Leisner, Walter: Der Abwägungsstaat : Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? / von Walter Leisner. - Berlin: Duncker und Humblot, 1997 ISBN 3-428-09007-1

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: SiB Satzzentrum in Berlin GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-09007-1

Vorwort "Verhältnismäßigkeit" , "Abwägung" , die sie herstellen soll, sind zu Rechtsmodewörtem geworden. Wie eine rechtstechnische Pflichtübung klingt es, wenn die Begründungen immer wieder mit der beruhigenden Feststellung enden, auch die Verhältnismäßigkeit werde im "besonderen Einzelfall" nicht verletzt, von anderen Rechtsgenossen, vor allem aber vom Staat. Das Abzuwägende muß sorgfältig ermittelt, sodann im einzelnen richtig gewichtet, schließlich insgesamt zutreffend gegenübergestellt und eben abgewogen werden. Solche ebenso klaren wie banalen allgemeinen Feststellungen treffen die Gerichte mit zunehmender Selbstverständlichkeit, das Schrifttum zeichnet dies für viele Einzelbereiche nach'; doch zum Grundsätzlich-Methodischen hat es wenig mehr beigetragen als Verfeinerungen dieser Abwägungsschritte oder die Beschreibung der Gewichtung in Einzelbereichen. Dies aber kann nicht genügen: Sorgfältige Materialsuche ist selbstverständliche Pflicht; Gesamt-Gegenüberstellung mag zum richtigen Ergebnis führen - doch der Zwischenschritt der Materialgewichtung wird meist im Dunklen getan. Wie sollten auch überzeugende GewichAlbrecht, R. K, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995; Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, insbes. S. 18-26; Enderlein, w., Abwägung in Recht und Moral, 1992, insbes. S. 326 ff.; Erbguth, W. 0., u. a. (Hrsg.), Abwägung im Recht - Symposium f. W. Hoppe, 1996; Grabitz, E., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 96 (1987), S. 568 ff.; Hirschberg, L., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 101 ff., S. 173 ff.; Hubmann, H., Wertung und Abwägung im Recht, 1977; Huster, St., Rechte und Ziele, 1993, insbes. S. 129 ff., 430 ff.; Jakobs, M. eh., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1985, insbes. S. 104 ff.; Krauss, R. von, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955; Larenz, K, Methodische Aspekte der "Güterabwägung" , in: Festschr. f. Klingmüller, 1974, S. 235 ff.; Lerche, P., Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; Schlink, B., Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; Schneider, H., Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, 1979; Schneider, P., Güterabwägung im freiheitlichen Rechtsstaat, in: Integritas, Festschr. f. Holzammer, 1966, S 354 ff; Stern, K, Zur Entstehung und Ableitung des Übermaßverbotes, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens, in: Festschr. f. Lerche, 1993, S. 165 ff.; Wendt, R., Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßverbot, in: AöR 104 (1979), S 44.

6

Vorwort

tungen gewonnen werden in einer Zeit des Wertpluralismus, des Werteverfalls, der Auflösung von Konsensen? Doch gerade deshalb wird immer mehr über Abwägung gesprochen und über Verhältnismäßigkeit. Es ist, als solle hier eine Rechtstechnik die fehlenden Wertgewichtungen überspielen. Diese Abhandlung verfolgt ein doppeltes Ziel: Sie will zeigen, daß die bisherigen Gewichtungs-Anstrengungen weithin fruchtlos bleiben mußten und deshalb auch nicht ihrerseits neue unternehmen. Dann aber stellt sich eine Kardinalfrage heutiger Staats- und MachUechnik: "Abwägung" wird dennoch fortgesetzt werden, eifrig, unverdrossen; daran werden diese Blätter wenig ändern. Es gilt aber die Folgerungen daraus zu ziehen, daß Abwägung überall stattfindet, obwohl sie "eigentlich" unvollziehbar ist. Wie vor allem soll das schier Unvergleichbare "abgewogen" werden, Staatsgewalt und Grundrechte - Landesverteidigung etwa und Meinungsfreiheit? Wo hängt hier die Waage? Was bringt ein solcher "Abwägungsstaat" an Recht für den Bürger, an Macht und Machtverschiebung für die Staatsgewalten, ist dies noch der Verfassungs-, der Gesetzesstaat? In erster Linie soll hier ein Beitrag versucht werden zur Lehre vom Rechtsstaat. Lösen sich nicht seine klaren Begrifflichkeiten auf in Interessenjurisprudenz? Laufen nicht seine Kontrollen ins Leere, wenn Maßstäbe der Abwägung fehlen, was ist noch vorhersehbar, wenn alles in ihr endet? Dieser Abwägungsstaat könnte wirklich ein anderer Staat werden, mit einer neuen Gerechtigkeit - der Verhältnismäßigkeit. Kommt mit diesem Wort das Recht der frei abschätzenden Macht, das Ende der Normen? Den Unsichtbaren Staat hat eine frühere Untersuchung bereits als eine "weiche Machttechnik " erkannt. Sollte der Abwägungsstaat hier eine weitere, noch größere Gefahr hervorbringen - und diesmal nicht nur für den Bürger, sondern für den Staat selbst - oder bedeutet er eine Chance für die Freiheit in einem "privaten Staat", der überall abwägt und sich selbst abwägen läßt? Diesem Problem will sich die vorliegende Untersuchung aus vielen Richtungen vorsichtig nähern, nicht mit dem Anspruch einer neuen Abwägungslehre. Nur eines will sie erreichen: Es soll über Verhältnismäßigkeit als Machttechnik staatsgrundsätzlich nachgedacht werden, kritisch und - verhältnismäßig viel ... Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle der Rudolf Siedersleben'schen Otto Wolff-Stiftung, insbesondere Herrn Prof. Dr. Gunter Hartmann, für die großzügige finanzielle Förderung. Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis A. ..Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat . .

11

Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit . . . . . . .

11

1. Von der Tatsachenabwägung zur Gesetzesabwägung . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Recht - gegen Rechtsstaatlichkeit? ........................................ 3. Abwägung und Politik - Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

17

Die "neue Dimension der Verhältnismäßigkeit" tür Rechtsordnung und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

I.

11.

1. In Abwägung zur Einheit der Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . 2. Auf dem Weg zur Interessenjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abwägung: Rechtstechnik gegen Macht - oder Macht durch Rechtstechnik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnismäßigkeit: Staatsfonnprägung . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Abwägung und Verhältnismäßigkeit -

IV.

13

22 25 28 31

Weg und Ziel? . . . . . . . . .

33

1. Verhältnismäßigkeit als "geronnene Abwägung" . . . . . . . . . . 2. Materielle Grundentscheidungen im (Abwägungs-)Verfahren

33 36

Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in Verhältnismäßigkeit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Verhältnismäßigkeit - ein Wort für Gerechtigkeit? . . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeit - Degenerationsgefahren für ein freiheitliches Rechtssystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Namen der Verhältnismäßigkeit ein letztes, gottähnliches Richterwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

1.

Ausgewogenheit - in einer Ordnung des staatlichen Entscheidens? .................... :............................

1. Ausgewogenheit statt "Entweder-Oder"? . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeit bei unteilbaren, unabstufbaren Entscheidungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abwägung in Gleichordnung - Ansätze im öffentlich-rechtlichen Vertrag und bei den öffentlichen Ersatzleistungen . . . . 11.

Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernis? . . . . . .

42 43

46 46 49 53 61

8

Inhaltsverzeichnis 1. Absolute demokratische Egalität gegen Abwägung. . . . . . . . . 2. Gleichheit - abwägungsfeindliche Großlösung oder "Egalisierung im Einzelfall"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

HI. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begrittsinhalte . . . . . . . . . . . . .

72

1. Gleicher "Geldwert-Nenner" -

herkömmliche Grundlage aller Abwägung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwägung des Verschiedenartigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unvergleichbarkeit öffentlicher Belange untereinander .... b) Vergleich öffentlicher Interessen - ein Problem der Politik - oder gar der Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unvergleichbarkeit öffentlicher und privater Belange. . . . . . 3. "Rangstufen von Gemeinschaftsgütern"? - Die Illusion des Apothekenurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abwägung vieler Gewichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aufsplitterung des Öffentlichen Rechts in zahlreiche Einzelmaterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwägung zwischen Spezialmaterien - durch Spezialisten nur eines Bereiches oder durch Generalisten? . . . . . . . . . . . IV.

Der Verlust der Begriffsklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

72 75 75 79 82 84 88 89 92 96

1. Abwägung -

2. 3. 4. 5. V.

zwischen weiten Begriffsinhalten, "Rechtsmaterien ", "Grundrechten" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rückzug der abgrenzenden Begriffsjurisprudenz vor der Interessenjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Niedergang der Begriffsklarheit in Diskutabilität und Komplexität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratie - machtgewollter Verlust der Begriffsklarheit. . . Abwägung als wesentliche Verunklarung: Begriffsinhalte gewonnen aus Gegenbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Abwägung -

Ende der Kontrollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96 100 103 107 109 114

1. Grundsätzliche Kontrollprobleme der Abwägung -

"Kontrollferne der Fakten" ................................. Abwägung - Nachvollziehbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Praxis: Fehlende Abwägungsbegründungen . . . . . . . . . . . Abwägung - Selbstbestätigung eigener Sorgfalt. . . . . . . . . . Kontrollverlust - Gefahr für den Rechtsstaat. . . . . . . . . . . . . .

114 117 121 125 127

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen. . . . . . . . .

132

2. 3. 4. 5.

1. Abwägbarkeit des öffentlichen Interesses -

eine unbewältigte Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzgebungsdefizite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Absolutheit öffentlicher Interessen - ein Abwägungshindernis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 134 136

Inhaltsverzeichnis 4. Demokratische Interessenabwägung: "Öffentliches Interesse" nach der Zahl der Betroffenen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Staatliche Finanzbelange, öffentliches Interesse am Funktionieren des Staates - abwägungsfähig? .................. VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Der Grundrechtskatalog - Gegenteil eines Abwägungssysterns. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Individuum als Grundrechtsträger - unabwägbarer Höchstwert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von den Voraussetzungen möglicher Grundrechtsabwägung

4. Mehrere Grundrechtsträger - mehr als einer? . . . . . . . . . . . . 5. Unmögliche Grundrechtsgewichtung - unmögliche Abwägung überhaupt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat: Voraussetzungen Chancen - Gefahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

II.

Abwägung -

9

141 147 152 153 154 157 164 167

170

Machttechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170

1. Die Bedeutung der Abwägung - ernst genommen in einem "Abwägungsstaat" ................................... 2. Abwägung: Rechtstechnik - Machttechnik . . . . . . . . . . . . . . .

170 170

3. Hochrechnung: Von der Verhältnismäßigkeit des Einzelfalls zum Abwägungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

Der "private Staat" -

175

aus Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

1. Monetarisierung öffentlicher Interessen -

Rechnungskontrolle als Organ des "privaten Staates" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der" unendlich reiche Staat" - unverhältnismäßige Gewalt. "Staat in Konkurrenz" - Voraussetzung aller Meßbarkeit. . . Das Parlament - Hüter der Verhältnismäßigkeit. . . . . . . . . . . Privater Staat - Grundrechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 180 185 188 192

HI. Verhältnismäßigkeit: weder Erforderlichkeit noch Übermaßverbot .................................................

194

2. 3. 4. 5.

1. Verhältnismäßigkeit - im "weiteren" und "engeren" Sinn - Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

2. Verhältnismäßigkeit als "Übermaßverbot"? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übermaßverbot - Verbot des "an sich Übergroßen"? . . . . . .

194 198 199

Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

201

1. Proportion - aus Dynamik gewordene Harmonie. . . . . . . . . . 2. Die "innere Proportion" - einheitliche, aber "verfeinert strukturierte" Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202 204

Inhaltsverzeichnis

10

3. Verhältnismäßigkeit - Einbeziehung der ganzen Entscheidungs-Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. .. Unverhältnismäßige Dimensionen" - im Vergleich zu Nachbarbereichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.

205 214

Abwägung: Machtausübung durch Persönlichkeitsentscheidung.

219

1. Abwägung - eine Aufgabe für Persönlichkeiten. . . . . . . . . . . 2. Ende eines Entwicklungskreises: Zurück zur .. Persönlichung der Macht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

1. Abwägung als Öffnung zur Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) .. Abwägung mit Realitätsbegriffen" .... . . . . . . . . . . . . . . . b) Breite Stoffsammlung - Dominanz der Realität. . . . . . . . . c) Wertung - Kraft der Wirklichkeit - .. Interessen als Recht" d) Recht des Einzelfalles - nicht in ihm. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine neue .. normative Kraft des Faktischen" .............. a) Die Chance: Gerechtigkeit durch Normdurchbrechung . . . b) Die 3 Gefahr: Rückzug des Rechts in Willkür - oder auf außerrechtliche Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Faszination des normfrei-göttlichen Rechts. . . . . . . . . .

225 225 226 227 229 230 230

VII. Verhältnismäßigkeit -

Zwang zum Kompromiß . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

1. In Abwägung zur .. mittleren Lösung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatsschwächung aus Kompromiß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236 240

223

232 234

D. Ausblick

243

Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat J. Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit " ... so bleibt dies doch letztlich eine Frage der Abwägung im Einzelfall" - so enden oft die "reinen Rechtsausführungen" seit es Gesetze gibt, allgemeine Normen. Das Recht taucht ein in das unendlich bewegte Meer der Fakten; in ihm sollen dann die Tatbestände gewichtet werden und abgewogen, damit sich aus ihm die gerechte Entscheidung des einzelnen Falles heraushebe.

1. Von der Tatsachenabwägung zur Gesetzesabwägung

Daß der Gesetzesbefehl als solcher, in sich und anderen Normen gegenüber, abzuwägen, daß sein Inhalt erst in einschränkender Verhältnismäßigkeit zu bestimmen sei - das alles liegt sicher nicht im Wesen der Norm, auch wenn sie als allgemeiner Gesetzesbefehl verstanden wird. Im Normalverständnis des Bürgers ist sie eben politische Entscheidung, die es durchzusetzen gilt, nicht ein rational abwägendes Ordnen. Das Gesetz als solches ist und bleibt der Ausdruck der alten Maxime: sic volo, sic iubeo stat pro ratione voluntas. Abgewogen werden Interessenlagen, Tatsachen - nicht das Recht. Diese Ausgangslage des Rechts hat sich grundsätzlich gewandelt, sobald der Weg zu seiner Systematisierung1 beschritten wurde. Nun geht es darum, den Zusammenklang der Normen herzustellen, ihre Symphonie, bevor ihnen die Tatsachen untergeordnet werden können. Das Gewicht jedes einzelnen Rechtsbefehles gilt es zu ermitteln, andere sodann in seinem Licht zu sehen, sie einzuschränken, auszuweiten, inhalt1 Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 14 ff. m. weit. Nachw.; Canaris, C. w., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969; Larenz, K, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 166 ff., 420 ff., 456 ff.; vgl. jetzt Larenz, K./Canaris, C. w., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 262 ff.; Pawlowski, H.-M., Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 84 ff.; Stern, K, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 837 f.

12

A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

lich zu verändern. Ohne solche "Gesetzesabwägung" ist keine Tatsachenabwägung und damit keine Entscheidung im Einzelfall mehr möglich in einem entwickelten Rechtssystem. Sie geht jeder Interessenabwägung im Einzelfall voraus, nimmt sie sehr häufig schon vorweg. So ist es denn selbstverständlich und lediglich Ausdruck höherer Entwicklungsstufe des gegenwärtigen Rechts, daß Normabwägungen überall stattfinden. Mehr noch: Je weitergehend ein rechtliches Einzelgebiet oder ein größerer Bereich des geltenden Rechts normativiert, dogmatisiert, rechtlich durchdrungen ist, desto mehr wird dort diese Gesetzesabwägung stattfinden, als eine Form vom Recht in seinen Kategorien vorweggenommener allgemeiner Tatsachenbewertung. Ein Zeichen hochstehender Gesetzgebung2 ist es, wenn die Abwägung bereits in den Normbefehlen geleistet wird, wenn dem Gesetzgeber damit die Schaffung einer ausgebauten normativen Dogmatik gelingt, er diese also nicht der Rechtsanwendung überlassen muß. Die Kehrseite der Medaille der immer höheren, d.h.letztlich: stets nur noch komplizierteren Steigerung der Intensität des Rechtssystems ist es nun aber, daß der Gesetzgeber, wie am Ende eines großen geistigen Zyklus, zurückfällt in immer zahlreichere punktuelle Einzelbefehle3 , deren abwägende Koordinierung er jedoch der Rechtsanwendung, der Zweiten und Dritten Gewalt überläßt, anvertrauen muß. Dann aber kommt es gleichzeitig und unausweichlich, neben dieser "Entgesetzlichung nach unten", zu einer neuartigen Form der "Entgesetzlichung nach oben", einer noch kaum bemerkten neuen "Flucht in Generalklauseln,,4: Über dieses heterogene Gesetzessubstrat wird eine große, ganz allgemeine Raster-Norm gelegt: "In Abwägung sind alle Gesetze anzuwenden, damit Verhältnismäßigkeit das Ergebnis sei." Dahinter steht letztlich nur Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 69 ff., 74 f.; Karpen, 1. Aufl. 1989, S. 36 f.; Schneider, H., Gesetzgebung, 2. Aufl. 1991, S. 44 (Fn. 65). - Zur Abwägung bei der Gesetzesauslegung vgl. neuerdings Koch, H.-J., Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: Abwägung im Recht, Symposium für W. Hoppe (hgg. v. W. Erbguth u.a.), 1996, S.13, 23 f.; zur Verfassungsauslegung Ossenbühl, F., Abwägung im Verfassungsrecht, ebda. S. 25 ff. 3 Und in gewissem Sinn sind eben auch diese "Einzelentscheidungen" - Verwaltungsakte wie Gerichtsurteile - doch in die (pyramidale) Ordnung der Normen einzuordnen, wie Hans Kelsen, viel kritisiert, aber in diesem Punkt jedenfalls aus der Sicht der Allgemeinen Staatslehre - nie grundsätzlich widerlegt, nachgewiesen hat, vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925 (Nachdruck 1966), S. 42 f., 58, 62 u. insbes. S. 231 ff. 4 Dazu Ehlers, D., Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 66, 68 und passim; Naumann, R., Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, VVDStRL 11 (1954), S. 131 ff. 2 Hill, H.,

u., Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre,

1. Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit

13

ein Befehl: "Vergeßt das System des Rechtes nicht, beherzigt seine Dogmatik, denkt an die Einheit der Rechtsordnung!,,5 So ist diese Untersuchung in ihrem Ausgangspunkt ein Nachdenken über Rechtssystematisierung, über die in ihr rechtlich vorweggenommene Tatsachenabwägung. Doch ihre besondere Bedeutung ergibt sich aus dem eben erwähnten flächendeckenden Vordringen des normativen Verhältnismäßigkeitsbefehls: Was hat dies für die Gesetzesordnung, für den Staat der Normen zu bedeuten, vollendet er sich hier oder zerbricht er in einer Flucht in Großformeln, welche jede Einzeldogmatik auflösen?

2. Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Rechtgegen RechtsstaatlichkeiH Im Bereich des Öffentlichen Rechts, mit dessen Problemen sich diese Untersuchung vor allem beschäftigt, waren früher Fragen der Verhältnismäßigkeit, und damit jener Abwägung, welche sie herstellen soll, im wesentlichen auf das Recht der Polizei im weiteren Sinne beschränkt, wo sich dies alles langsam aus der Rechtsstaatlichkeit entwickeln konnte. Allgemeine Kapitel über Verhältnismäßigkeit finden sich in früheren Lehrbüchem6 nicht; nur langsam drangen diese Begrifflichkeiten, im wesentlichen erst nach 1945, in andere Bereiche des Verwaltungsrechts ein. Dem Allgemeinen Verwaltungsrecht, so wie es die Rechtsprechung in einer Art von Gewohnheitsrecht entfaltete, war "Verhältnismäßigkeit" als solche nicht in einer Weise geläufig, welche dort zu einer vertiefenden Dogmatik dieses Begriffs und der Abwägung hätte führen können7 . Heute dagegen, nach fünf Jahrzehnten rechtsstaatlicher Entwicklung, gibt es kaum mehr einen Bereich des Öffentlichen Rechts, in dem eine Untersuchung nicht spezielle Ausführungen über die zentralen Be5 Siehe Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 10 f., 31; LaTenz (Fn. 1), S. 334 ff., 487 f.; speziell zum Steuerrecht: Tipke, K.lLang, J., Steuerrecht, 14. Aufl. 1994, S. 10 f. 6 König, H.-G., Allg. Sicherheits- und Polizeirecht in Bayern, 1962, S. 27 f., 322 f.; SchiedeTmaiT, R., Einführung in das bayerische Polizeirecht, 1961, S. 105 f. (Der Grundsatz ziele auf die "Abwägung" des Schadens ab); WaldeckeT, L., Das preußische neue Polizeirecht, 1932, S. 29 f. 7 MayeT, 0., Dt. Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924; siehe allerdings (mit Bezug auf das Polizeirecht) Hatschek, J., Institution des dt. und preußischen Verwaltungsrechts, 1919, S. 147; ansatzweise auch: Jellinek, w., VerwaltungsTecht, 3. Aufl. 1931, S. 34 f.; NebingeT, R., Verwaltungsrecht, 1946, S. 203 f.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

griffe der folgenden Betrachtung enthalten müßte, kaum eine Grundsatzentscheidung, auf welchem Sektor immer, in der nicht von der Beachtung der Verhältnismäßigkeit die Rede wäre - und sei es auch nur in einer sehr allgemeinen Form, als etwas wie eine richterliche Mahnung an die Adresse der Bürger, ihres Gesetzgebers und ihrer Regierung. Die Eigenart der daraus sich ergebenden allgemein-normativen wie der judikativen Einzelfallentscheidung liegt darin: In aller Regel nimmt die Argumentation ihren Ausgang von speziellem Gesetzesrecht, seltener, und vor allem im Verfassungsbereich, von allgemeineren Aussagen des Gesetzgebers. Doch nach einer immer stärker spezialisierenden, dem Einzelfall sich nähernden Betrachtung wird am Ende wieder zurückgeschaltet zu einer höchst allgemeinen Norm: jenem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eben, der in Abwägung für den Einzelfall fruchtbar zu machen sei. Wie ein allgemeines Korrektiv wirkt dieser Rückgriff, wie eine Ankündigung oder Aufforderung zu letzter Feinarbeit der juristischen Fallgestaltung - aber eben auch immer wieder als eine Art von General-Vorbehalt, unter welchen alle vorher entwickelten möglichen Einzellösungen zu stellen seien. Pate gestanden hat hier sicher eine Entwicklung, die aus dem bürgerlichen Recht bekannt ist: Gute Sitten und Treu und Glaube8 als letztes Reserve-Korrektiv, das im Bereich des begrifflich höchst verfeinerten Privatrechts das schlechte Kodifikations-Gewissen "freirechtlich"g seit vielen Jahrzehnten beruhigen soll: Gesetzestechnisch zwingend erscheinende Einzellösungen werden auf diesem Wege mit einem Gerechtigkeitsdenken in Einklang gebracht, welches juristischen Mechanismen geopfert zu werden droht. Auf diese Weise scheint dann die stets dem Rechtsanwender vorgegebene Spannung von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit 10 aufgelöst - in Worten jedenfalls. Im klassischen Zivilrecht kommt es hier in der Tat auch fast immer nur zu einer allerletzten Gerechtigkeits-Beruhigung: Die Jahrtausende alte Verfeinerung der Begrifflichkeit in diesen Bereichen schlägt in aller Regel durch; niemand wird die Gerichte, rechtsgrundsätzlich, dafür schelten, daß sie die GeneralklauseIn des Bürgerlichen Rechts nur in 8 Mayer-Maly, T., in: Münchener Komm. zum BGB, Bd. 1, 3. Aufl. 1993, § 138 Rdnrn. 1-3; Soergel-Hefermehl, w., Komm. zum BGB, 12. Auf!. 1987, Bd. 1, § 138 Rdnr. 11.; Soergel-Teichmann, A, Komm. zum BGB, 12. Auf!. 1990, Bd. 2, § 242 Rdnrn. 6, 58 ff. g Larenz (Fn. 1), S. 59 ff.; Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 579 f1. m.w.N. 10 Bydlinski (Fn. 1), S. 2921.; Larenz (Fn. 1), S. 348 f.; Zippelius, R., Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, S. 114 ff.

I. Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit

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engsten Grenzen 11 als Korrektiv gelten lassen, immer wieder greift der Gesetzgeber hier ein, nimmt so entstandenes Richterrecht 12 auf, gießt es in neue, noch weiter verfeinerte Einzelnorrnen. Mit Recht sind daher die §§ 138 und 242 BGB nie als rechts- oder gar als staatsgrundsätzliches Problem gesehen, kritisch betrachtet worden 13 ; hier wirkt nur eine Art von Selbstkontrolle des Rechts, das den letzten Anschluß an die Gerechtigkeit hält. Doch ganz anders stellt sich die Lage im Öffentlichen Recht dar, das nach wie vor von der Befehlsordnung des Staates geprägt ist, mag es sich in der Demokratie auch inzwischen bürgerlichen Gleichordnungsvorstellungen immer weiter annähem 14 . Schon von der dezisionistischen Tradition jenes Bereiches her 15 ist es keineswegs selbstverständlich, daß am Ende rechtlicher Betrachtung wieder auf einen derartigen Generalvorbehalt zurückgeschaltet wird. Noch erstaunlicher wirkt dies in einer Rechtsstaatlichkeit, der es doch auf maximale und optimale Begriffsklarheit, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit16 allen staatlichen HandeIns in erster Linie ankommen sollte. Ist es dort denn hinnehmbar, in einer von politischen Befehlen geprägten Ordnung, daß zuerst deren Einzelheiten gesetzes-treu ermittelt werden - daß am Ende dann aber mit einem Mal der große, kaum je näher verdeutlichte Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit hervortritt? Nicht umsonst sind dem Öffentlichen Recht derartige methodische Rückschaltungen an sich fremd, wie sich dort ja auch die Anwendung der Generalklauseln des Bürgerliches Rechts 17 stets in noch engeren Grenzen gehalten hat als in diesem letzteren Bereich. Dies ist also die eigentliche Neuheit, damit aber der zentrale Betrachtungsgegenstand der nachfolgenden Untersuchung: was es denn beSoergel-Teichmann (Fn. 8), § 242 Rdnr. 9 f. Kirchhof, P., Richterliche Rechtsfindung, gebunden an "Gesetz und Recht", NJW 1986, S. 2275 ff.; von Münch, I., Staatsrecht, Bd. I, 5. Auf!. 1993, S. 146 ff.; Picker, E., Richterrecht oder Rechtsdogmatik, JZ 1988, S. 1 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 580 ff. m.w.N.; vgl. auch Leisner, w., Richterrecht in Verfassungsschranken, DVBl. 1986, S. 705 ff. = Staat, 1994, S. 889 ff. 13 Sie wurden auch in der Generalklausel-Rechtsprechung des BVerfG nicht 11

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wirklich zum Problem, Stern (Fn. I), S. 829; BVerfGE 7, 198 (206). 14 Hierzu Leisner, w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 210 ff. 15 Spätestens seit earl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 138 ff. 16 Hesse (Fn. 5), S.85; Schmidt-Aßmann, B., Der Rechtsstaat, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStR), Bd. I, 1987, § 24 Rdnrn. 81 ff; Stern (Fn. I), S. 829 ff. 17 von Münch (Fn. 12), S. 181 f.; Stern (Fn. 16); Wolff, H.J./Bachof, O.lStober, R., Verwaltungsrecht I, 10. Auf!. 1994, S. 362 ff.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

deutet, daß der Rechtsstaat und seine im letzten doch harte Befehlsordnung, die nur in Freiheit zu ertragen ist, am Ende ausläuft - oder sich vielleicht gar "hinaufpflanzt" - in eine Verhältnismäßigkeit, deren Abwägungsmechanismen ebensowenig klar sind wie Ergebnisse, die sich aus ihr ergeben sollen - im Namen der Gerechtigkeit. Liegt diese Gerechtigkeit denn nicht, in gewissem Sinne politisch vorweggenommen, bereits im Öffentlichen Recht jener Demokratie, die gar nichts anderes hervorbringen kann, nachdem sie doch von der "richtigen Lösung", der Volkssouveränität und der Entscheidung ihrer Repräsentanten, im letzten getragen ist 18 ? Was soll hier noch eine Verhältnismäßigkeit, die doch die Befehle des Allgemeinen Willens Rousseaus nur unabsehbar verwässern könnte? Nicht als ob es einen Gegensatz letztlich geben dürfte zwischen dieser Befehlsordnung der Mehrheit und der "Gerechtigkeit" - ist es aber nicht der Rechtsstaat, in dessen Rahmen und rationalen, rechtstechnischen Einzelformen allein diese Gerechtigkeit vorstellbar ist, im Namen eben des Willens des souveränen Volkes? Kann darüber noch etwas anderes stehen, eine Verhältnismäßigkeit, die irgendwelche andere Staatsorgane, in Auslegung des Willens der Volksvertretung, diesem Machtanspruch entgegenhalten, mit der sie ihn korrigieren könnten vielleicht gar in einer ganz allgemeinen Form, die dann rechts staatlich kaum mehr absehbar ist? So stellt sich hier denn im letzten eine Grundfrage heutiger Staatlichkeit: "Verhältnismäßigkeit gegen Rechtsstaat". Und darauf kann nicht die billige Antwort genügen, GeneralklauseIn seien auch in einer solchen Ordnung hinnehmbar, ja notwendig, weil diese ja nie die Unendlichkeit der Einzelfallgestaltungen ausschöpfen könne 19 . Es wird sich zeigen, daß im Öffentlichen Recht diese Proportionalität in einer ganz anderen, weit intensiveren Weise wirken kann als im traditionellen Privatrecht; dort trifft sie ja zusammen mit einer Rechtsstaatlichkeit, deren Grundprinzip es doch sein soll, strikte Befehle durchzusetzen, in den engen Grenzen einer Freiheit, welche sich aber nur darin bewähren kann, daß staatliche Eingriffe aufgrund öffentlich-rechtlicher Normen stets klar berechenbar, voraussehbar sind. In der Sicht dieser Rechts18 Böckenförde, E.-w', Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 2, 1987, § 30 Rdnm. 24 ff.; vgl. auch Leisner, w', Volk und Nation als Rechtsbegriffe der französischen Revolution, in : FS für Hans Liermann, 1964, S. 96 ff. = Staat: Schriften zu Staatslehre und Staatsrecht 1957-1991 (hgg. v. losef Isensee), 1994, S. 150 ff.; Schachtschneider, K.A., Res publica res populi - Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre, 1994, S. 23 ff. 19 Vgl. Fn. 13, BVerfGE 8, 274 (325 f.); 9, 137 (147); 13, 153 (160 f.). Dazu noch näher unten C, VII.

I. Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit

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staatlichkeit wäre es wenig überzeugend, "Verhältnismäßigkeit " ledig1ich als eine jener Generalklausein zu verstehen, ohne welche auch der Rechtsstaat die Ordnung der unübersehbaren Tatsachenwelt nicht leisten kann. Der Legalität ist es gerade eigentümlich, daß sie in streng gesetzesgebundener Einzelauslegung dem Staat den Weg des Einzelzugriffs auf Freiheit und Eigentum des Bürgers weisen will20 , ohne daß dann wieder auf ganz allgemeine Normen zurückgegriffen werden dürfte. Die folgenden Betrachtungen betreffen also, wenn sie sich vor allem um die öffentlich-rechtliche Bedeutung der Verhältnismäßigkeit und der zu ihr führenden Abwägung bemühen, eine wirkliche Staatsgrundsatzfrage: Könnte es sein, daß ein Öffentliches Recht, welches die Verhältnismäßigkeit zu einem letzten und ganz allgemeinen Korrektiv aller Gesetzesanwendung erhebt, sich damit wirklich zu etwas entwickelt, was man den "Verhältnismäßigkeits-Staat" nennen müßte - oder ist gar noch zu erwarten, daß diese Staatlichkeit ihr eigenes Wesen mit der Proportionalität identifiziert, daß sie diese nicht nur stets bewahren will, daß sie vielmehr selbst ganz wesentlich in Verhältnismäßigkeit besteht, daß also von einem "verhältnismäßigen Staat" die Rede sein muß? Gerade in der Demokratie stellt sich diese prinzipielle Frage: Hier treffen doch die Befehle der Gewählten des Volkssouveräns, hier trifft vielleicht die gesamte Politik letztlich auf etwas "ganz anderes": auf eine Rechtstechnik der Verhältnismäßigkeit. Wird diese letztere die Befehle des Souveräns abschwächen, verändern, die Herrschaftsordnung der Demokratie damit grundlegend umgestalten, auf Dauer?

3. Abwägung und Politik - Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht Es kann nicht gleichgültig sein, ob Verhältnismäßigkeit als Abwägungsbegriff im Bereich des wesentlich auf Gleichordnung und wirtschaftlichen Interessenausgleich angelegten Zivilrechts eingesetzt wird oder in der hoheitlichen Befehlsordnung des Öffentlichen Rechts. Die Besonderheit dieser letzteren gewinnt in dem Maße Gewicht, in dem selbst noch "politische" Herrschaftsentscheidungen in Proportionalität 20 Degenhart, Ch., Der Verwaltungsvorbehalt, NJW 1984, S.2184 (2185 f.); Jesch, D., Gesetz und Verwaltung, 1961. S. 1 ff., 28 ff., 117 ff., 175 ff.; Maurer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, S. 103 ff.; Ossenbühl, F., Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in : HdbStR (Fn. 16), Bd. 3, 1988, § 62 Rdnrn. 3 ff.; Stern (Fn. 1), S. 801 ff.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

korrigiert werden sollen; das zeigt sich vor allem im Verfassungsrecht, einer unbestritten wesentlich "politischen,,21 Materie. Wie immer man den Begriff des "Politischen" dort bestimmen mag 22 - er weist immer eine gewisse willensgeprägte Befehlsdynamik auf, die auf macht- oder vermögensverteilende Durchsetzung angelegt ist, nicht wesentlich auf einen Ausgleich, der möglichst "alles Bestehende" einbezieht, sodann abwägt. Wie sich noch zeigen wird, ist aber eine Verhältnismäßigkeit ohne solche Ausgleichsvorstellungen letztlich nicht vollziehbar. Dasselbe ergibt sich bei einer Definition des "Politischen" als eines besonders weiten Gestaltungsraumes23 : Auch er kann nicht durch solche Vorgegebenheiten, in der Berücksichtigung verschiedener Interessen, von vorneherein eingeengt werden. Was soll diese schließlich in einem Freund-Feind-Verhältnis24 bedeuten, das wiederum auf Kampf und Durchsetzungsversuche, bis hin zur Verdrängung entgegenstehenden Willens, ausgerichtet ist? Damit erscheint Verhältnismäßigkeit geradezu als unvereinbar, wie sie ja auch das private Wettbewerbsrecht allenfalls als übergeordneter Grundsatz 25 beherrschen kann, solange dieses irgendwie doch auf Verdrängung, ja Ausschaltung des Gegners angelegt ist. Dennoch ist gerade in der freiheitlichen Demokratie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf zwei Wegen vor allem ins Verfassungsrecht eingedrungen, der dynamischen Politisierung dieses Bereichs mit Rechtswirksamkeit entgegengetreten, und zwar gerade in den beiden Grundentscheidungen der modernen Volksherrschaft: Grundrechte sind wesentlich auf Machtmäßigung26 ausgerichtet; hier wird materiell, nicht nur prozessual, eine Gleichordnungsebene zwischen Bürger und Staat hergestellt, welche wesentlich zivilrechtliche Züge aufweist. Mit den klassischen Freiheitsrechten ist, wie sich immer wieder zeigen wird, letztlich zivilrechtliches Abgrenzungsdenken in den verfassungsrechtlichen Bereich eingebro21 Böckenförde, E.-w., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: FS für Hans Ulrich Scupin, 1983, S. 317 (319 ff., 323 f., 329); Isensee, J., Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 7, 1992, § 162 Rdnrn. 1 ff.; vgl. auch Krüger, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 697 f. 22 Leisner, w., Der Begriff des "Politischen" nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Staat: Schriften zu Staatslehre und Staatsrecht 1957-1991, 1994, S. 305 ff. 23 Vgl. Leisner (Fn. 22), S. 316 f. 24 Im Sinne von Max Weber, vgl. Leisner (Fn. 22), S. 336 f., 341 ff. 25 Vgl. Rinck, G., Wirtschaftsrecht, 5. Auf!. 1977, S. 56 (Rdnr. 175). 26 Hesse (Fn. 5), S. 127 ff.; Bleckmann, A., Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Auf!. 1989, S. 199 ff. m. weit. Nachw.; von Münch, I., in: ders./Kunig, GG, Bd. 1, 4. Auf!. 1992, Vorbem. Art. 1-19 Rdnrn. 16 ff.

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chen, hat damit das gesamte Verfassungsrecht methodisch wie inhaltlich verwandelt. Nicht nur im Raume der Abwehrwirkungen der Grundrechte hat sich dies vollzogen, der Abwägung und der Verhältnismäßigkeit sind dadurch auch jene Bereiche geöffnet worden, in welchen umverteilende Staatsleistungen gefordert werden könneni auch dort geht es ja nicht nur um einen Ausgleich zwischen der Hoheitsgewalt und den ihre Hilfe fordernden Privaten21 , sondern letztlich sogar um einen Interessenausgleich zwischen den Bürgern: Der Staat nimmt dem einen sein Gut für Staatsleistungen an den anderen, oder er beschränkt deshalb seinen Freiheitsraum 28 . Werden aber die Grundrechte so breit der Abwägung geöffnet, so kann diese auch vor deren Auswirkungen im Status activus, etwa im Wahlrecht 29 , nicht mehr Halt machen - überall gilt es nunmehr, Bürger und Staat in ein abwägendes Gleichgewicht zu setzen. -

Auf ganz anderer Ebene ist es das Dem okra tieprinzip 3 0, welches der Abwägung die Tore des Verfassungs rechts geöffnet hat. Ohne Minderheitenschutz 31 ist es nicht vorstellbar, sein Grundprinzip, die Mehrheitsentscheidung32 , würde anderenfalls ebenso zusammenbrechen wie die Marktwirtschaft ohne letzte Konzentrationsschranken im Wettbewerb33 . Wer hier politische Aktionseinheiten verfassungsrechtlich sichern muß, vor allem die bedeutendste unter ih-

Zu dieser "helfenden Staatlichkeit" vgl. Leisner (Fn. 14), S. 229 ff. Denn Umverteilung ist Freiheitsbeschränkung anderer, man denke nur an die Studienplatzvergabe (BVerfGE 33, 303 (330 ff.)) oder an Subventionen als möglichen Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit und -gleichheit (BVerfGE 32, 311 (316 ff.)). 29 So wird es etwa stets eine Frage der Abwägung in einem besonderen Konkurrenzverhältnis sein, unter welchen Voraussetzungen Parteien und Wählergemeinschaften zur Wahl zugelassen werden, vgl. Büchner, H., KommunalWahlrecht in Bayern, Komm., Art. 19 a GWG Rdnrn. 1 ff., sowie § 31 GWO Rdnr. 5; Schreiber, w., Komm. zum Bundeswahlgesetz, 5. Aufl. 1994, S. 332 ff. 30 Böckenförde (Fn. 18), Rdnrn. 12 ff.; ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 22 Rdnm. 1 ff. 31 Hierzu Herzog, R., Allg. Staatslehre 1971, S. 364 f.; Hesse (Fn. 5), S. 69 ff.; Hofmann, H./Dreier, H., Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 193 ff.; Stern (Fn. 1), S. 998 ff.; Schachtschneider (Fn. 18), S. 353 f., 513 ff.; vgl. auch BVerfGE 70, 324 (363). 32 Hesse (Fn. 5), S. 63 ff.; Heun, w., Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Grundlagen, Struktur, Begrenzungen, 1983; Scheuner, V., Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973; Stern (Fn. 1), S. 611 ff.; Zippelius (Fn. 10), S. 65 ff.; Schachtschneider (Fn. 18), S. 106 ff. 33 Emmerich, v., Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 2 ff.; Immenga, V./Mestmäcker, E.-J., GWB-Komm. zum Kartellgesetz, 2. Aufl. 1992, Einl. Rdnrn. 1 ff. 27

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nen, die Opposition34 , der wird nicht ohne eine Verhältnismäßigkeit als letztes Korrektiv auskommen, nach welcher eben doch "etwas von politischer Aktionsmöglichkeit " allenthalben erhalten bleiben muß, keine dieser Potenzen "unverhältnismäßig" gebrochen werden darf. Diese wesentliche "Horizontalwendung" aller Demokratie, in welcher Kooperationsebenen35 hergestellt werden, muß sich auf vielen Ebenen weiter fortsetzen, bis hinein in die Verästelungen des organisatorischen Staatsrechts: Da sind dann im Föderalismus wesentliche Bereiche36 der Gliedstaaten ebenso zu sichern wie der Kommunen37 , Aktionsräume der drei Staatsgewalten innerhalb der klassischen Gewaltenteilung, ja all derjenigen Staatsorgane, welche in der Verfassung genannt oder gar in ihren Zuständigkeiten rahmenmäßig geregelt sind, wie Rechnungshöfe 38 und Bundesbank39 . Überall in diesen Bereichen gilt es, unverhältnismäßiger, organ-zerstörender Beeinträchtigung vorzubeugen; hat sich nicht etwas entwickelt wie "natürliche Organ-Personen des Verfassungsrechts", durch den Willen des verfassunggebenden Volkssouveräns? Das Bundesverfassungsgericht hat dies alles zwar nicht in dogmatischer Vertiefung gesehen, wohl aber den Begriff der Verhältnismäßigkeit und eine Abwägung, welche sie herstellen soll, ganz selbstverständlich und in rasch zunehmendem Maß in das Verfassungsrecht eingeführt - so weitgehend, daß die Verfassung sich letztlich in Verhältnismäßigkeit auflösen könnte. Diese Dynamik überspringt sogar letztlich die Normstufen, nivelliert sie in gewissem Umfang. Was auf Seiten des Bürgers in Verhältnismäßigkeit bei jeder Abwägung zu wahren ist - oder auf der des Staates wird ja nicht nur erschlossen in systematisierender Gegenüberstellung ganz eigenständiger Verfassungsbegriffe; in einer letztlich eben doch 34 von Münch (Fn. 12), S. 289 f.; Schneider, H.P., Verlassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition, in: Schneider/Zeh (Fn. 31), S. 1055 ff., 1063 ff.; Stern (Fn. 1), S. 989 ff. 35 Vor allem im Bund-Länder-Verhältnis, vgl. Kimminich, 0., Der Bundesstaat, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, § 26 Rdnrn. 1 ff., 54 ff.; Leisner, w., Föderalismus als kooperativer Dialog, ZRP 1969, S. 14 ff. 36 Maunz, Th., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rdnrn. 1 ff., 17 ff.; Stern, K., in: BK, Art. 28 Rdnrn. 12 ff" 23 ff. 37 Maunz (Fn. 36), Rdnr. 17 a.E" 42 ff.; Stern (Fn. 36), Rdnrn. 60 ff.; ders. (Fn. 1), S. 405 ff. 38 Vgl. von Arnim, H.H" Grundprobleme der Finanzkontrolle, DVBl. 1983, S.665 (666 f.); Maunz (Fn. 36), Art. 114 Rdnrn. 17 ff.; Stern (Fn. 12), S. 419 f" 422 f. 39 Vgl. Maunz (Fn. 36), Art. 88 Rdnrn. 16 ff.; Stern (Fn. 12), S. 491 ff" 506 ff.

I. Das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit

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nicht auszuschließenden "Verfassung nach Gesetz ,,40 muß die Verfassungsgerichtsbarkeit immer wieder auch "von unten nach oben" argumentieren, einfachgesetzliche, ja durch Verordnungstradition festgelegte Bewertungen in ihre verfassungsrechtlichen Abwägungen einfließen lassen. Nie wird die Gerichtsbarkeit zugeben, daß es damit zu etwas kommen darf wie einer Abwägung von einfachgesetzlichen mit verfassungsrechtlichen Wertvorstellungen - und doch vollzieht sie sich laufend41 , anderenfalls könnte die Judikative hier der Dynamik des befehlsgewohnten Gesetzgebers gar nicht entgegentreten, im Namen des Rechts, besser: der Rechtstechnik, die "Politik" zurückzudrängen versuchen. Denn nichts anderes geschieht hier: Die machtlosen Richter, der gewichtlose Pouvoir - en quelque fac;on nul (Montesquieu) - setzt sich allein durch seine Existenz und die von ihm angewandte, ja verkörperte Rechtstechnik gegen den politischen Befehl durch: Ist einmal die Waage der gerichtlichen Abwägung auch im Verfassungsrecht aufgehängt, so kann von der Allmacht des Allgemeinen Willens 42 begrifflich nicht mehr die Rede sein, immer wird eben - abgewogen. Abgewogenheit, Ausgewogenheit wird jedermann dem Recht als Wesensmerkmal bescheinigen, ausgewogene Politik aber muß es nicht geben; wo sie auftritt, sind eben schon Kategorien des Rechtsstaats wirksam - wenn es denn solche sind ... Verfassung als Rahmen, als freiheitliche Schranke aller Politik soll hier wirksam werden, in größtem, flächendeckenden Maße, und dies nicht auf den Wegen materieller, naturrechtlicher Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern mit den Mitteln einer ganz "positivistischen" Rechtstechnik. In diesem Kapitel hat sich also nicht nur das Vordringen von Abwägung und Verhältnismäßigkeit gezeigt, auf breiter Front, bis in die "Politik", zugleich ist damit die staatsgrundsätzliche Dimension dieses Vorgangs bereits angesprochen; es gilt nun, sie zu vertiefen.

40 Leisner, w., Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, JZ 1964, S. 201 ff. = Staat (Fn. 22), S. 276 ff. 41 Man denke nur an das Naßauskiesungs-Urteil (BVerfGE 58, 300), neuerdings das Urteil des BVerwG über den Ausschluß von Bodenschätzen aus dem Eigentumsbegriff in der früheren DDR (BVerwG DVBl. 1993, S.1146) - in beiden Fällen wurde im wesentlichen aus der Tradition des einfachen Gesetzesrechts argumentiert, für entscheidende Fragen des Eigentums-Verfassungsrechts. 42 Im Sinne von Rousseaus Contrat sodal, nach dem die Mehrheit ja auch die "Gegeninteressen " der majorisierten Minderheit mitvertritt.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

11. Die "neue Dimension der VerhältnismäßigkeU" für Rechtsordnung und Staat 1. In Abwägung zur Einheit der Rechtsordnung Interessenabwägung ist, wie immer man sie im einzelnen definieren und aufspalten mag, eine Fundamentalmethode des Bürgerlichen Rechts der Gleichordnung. Grundanliegen der Französischen Revolution war es dagegen, die Fiskalisierung des Staatsrechts am Ende des Ancien Regime 43 zu brechen, in ihrem neuen, unbedingten, keiner Abwägung zugänglichen, bewußt" unverhältnismäßig" gedachten Öffentlichen Hoheitsrecht. Die beiden großen Erbschaften des römischen Imperiums sollten übernommen werden: das flächendeckende rechtstechnische Zivilrecht auf der anderen Seite - und, als sein herrscherliches Gegengewicht, das unbedingte und daher seinem Wesen nach "unverhältnismäßige" Imperium44 des römischen Volkes, bald seines Caesar. Dieses revolutionäre Öffentliche Recht ruhte seinerseits wiederum auf einem wesentlichen Spannungsbogen: Da war auf der einen Seite der mächtige Pfeiler eines öffentlichen Interesses, das im Namen der Souveränität45 definiert und von ihr durchaus absolut gesetzt werden durfte unzugänglich also jeder Abwägung, jedem Verhältnismäßigkeitsdenken46 . Doch gerade dies schien hinnehmbar nur, wenn auch der zweite Pfeiler den Bogen des Staates trug: die Freiheit seiner Bürger, in einem frühliberalen Denken, das dem wesentlich absoluten, unabwägbaren öffentlichen Interesse die ebenso absolute, wiederum unabwägbare persönliche Freiheit gegenüberstellte (vgl. dazu näher unten C, VII, VIII). Für die ersten Revolutionäre von 1789 konnte es auch im Grundrechtsbereich letztlich eine Abwägung nicht geben47 , zwischen einem Staat, der doch nur zur Bewahrung der Menschenrechte vorstellbar war, 43 Zu dieser "Fiskustheorie" vgl. Forsthoff, E., Lehrb. d. Verwaltungsrechts, Bd. I, Allg. Teil, 10. Aufl. 1973, S.370; Lassar, G., Der Erstattungsanspruch im Verwaltungs- und Finanzrecht, 1921, S. 1 ff.; Mayer (Fn. 7), S. 49 ff. 44 Im Sinne der Befehlsgewalt - Reges in ipsos imperium est Iovis, Horaz,

Carm. 111.1.

45 Der "Souveränität nach innen", des innerstaatlichen Rechts, der "Staatssouveränität" im Sinne der höchsten Macht, vgl. Jellinek, G., Allg. Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 484 ff., 489 f. 46 Das denn auch in neueren Behandlungen des "öffentlichen Interesses", wie etwa bei Peter Häberle, Öffentliches Interesse als Juristisches Problem, 1970, nicht im Vordergrund stehen kann (vgl. dort aber S. 357 f.). 47 Zur Theorie der Revolution als dem anarchischen Ausdruck des "an sich unverhältnismäßigen Ausbruches", vgl. Leisner, w., Die demokratische Anarchie, 1982, S. 300 ff.

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und diesen selben mit den Menschen geborenen und daher ihrem Wesen nach "unverhältnismäßigen", zu nichts in relativierendes Verhältnis zu setzenden Freiheiten. Das gesamte Öffentliche Recht ruhte also auf getrennten, überall ihrem Wesen nach unabwägbaren, unverhältnismäßigen Grundlagen, einem Verhältnismäßigkeitsdenken war es daher seinem Wesen nach vollständig entzogen. Einen "Hoheitshandel" wie im Ancien Regime sollte es nun nicht mehr geben dürfen, auf das Entweder/Oder der Mehrheit - oder Minderheit - war alles gegründet. Die Revolution und ihre caesarischen Nachfahren haben in Kauf genommen, daß die Einheit der Rechtsordnung, wie sie sich am Ende des Ancien Regime noch etwa im Allgemeinen Landrecht des Wohlfahrtsstaats48 zeigt, zerbrach, daß sie sich auflöste in ein Abwägungsrecht der Bürger untereinander einerseits - zum anderen in ein Subordinationsrecht der Gewaltunterworfenen gegenüber ihrem Souverän. Dies letztere bot feste Sicherheiten, doch nicht mehr mit den gleichordnenden Instrumentarien des Bürgerlichen Rechts. Dieser Ausbruchsversuch der Politik aus dem Zentrum des Rechts, dem "Bürgerlichen", ist nach nicht einmal zwei Jahrhunderten gescheitert; das Öffentliche Recht tritt den Rückweg an zur Mutter allen Rechts, ihrer Abwägung und Verhältnismäßigkeit, damit aber letztlich in die Einheit der Rechtstechnik, auf diesem Weg in die Rechtseinheit. Die viel erörterte Frage, ob dieselben Rechtsbegriffe in ihrem materiellen Inhalt von einem zum anderen Rechtsgebiet unverändert gelten sOllen49 , wird nie vollständig, stets immer nur nach dem Einzel-Willen des Gesetzgebers beantwortet werden. Nicht darum aber geht es letztlich beim Kampf um die Einheit der Rechtsordnung, die jeder Periode immer wieder neu aufgegeben ist: Die Einheit der Methoden ist letztlich entscheidend, und in ihnen liegt ja, wie gerade diese Betrachtung zeigen wird, auch schon so viel von einheitlichen materiellen Rechtsinhalten. Im folgenden fragt es sich also, wie weit über das Vordringen des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Öffentlichen Recht dieses nicht nur gewandelt, sondern wieder in jenes Zivilrecht zurückverwandelt werden wird, aus dem es letztlich kommt; um es mit modemen Worten zu sagen: in einer auf Verhältnismäßigkeit gegründeten Public Private Partnership 50. Dies könnte das Ende des Öffentlichen Rechts in seiner herkömmlichen Form sein, zumindest das einer Suche nach eigenständiger 48 Wieacker

(Fn. 9), S. 321 ff. Vgl. dazu die in Fn. 5 Zitierten. 50 Leisner (Fn. 14), S. 258 f.; Wolff, H.J./Bachoi, O./Stober, R., Verwaltungsrecht I, 10. Aufl. 1994, S. 189 f. 49

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öffentlich-rechtlicher Methode. Kaum eine größere Rechtsproblematik ist vorstellbar. Und sie betrifft im besonderen den Staat, seine Person, sein Wesen: Ist auch er eingebunden in die vielfachen Abwägungen der Verhältnismäßigkeit, wird er immer mehr in die privatisierende Gleichordnung mit seinen Bürgern gerade dadurch auch herabgezogen, daß deren Grundgegebenheiten ebenso zu achten sind wie die seinen, so wird er eines Tages, im Namen der Verhältnismäßigkeit, letztlich doch nur sein wie sie - oder sie werden sein wie derjenige, der doch ihr Gott hatte sein wollen. Dann allerdings wird sich auch eine Grundfrage in neuer Form stellen: die einer Rechtfertigung der Freiheit. Ist sie, in ihrer bisherigen traditionell unbedingten Form, dann noch haltbar - ist sie noch nötig dort, wo ihr Gegenspieler, die Staatsrnacht, in der Verhältnismäßigkeit ebenso elastische und zugleich allgegenwärtige Schranken findet wie das Belieben des Bürgers? Das klassische Zivilrecht kennt den politischen Freiheitsbegriff nicht, immer wieder sind Versuche gescheitert, politische Freiheiten in diesen Bereich zu tragen, zuletzt im Großen nochmals in der Drittwirkung der Grundrechte 51 (näher dazu unten C, VIII, 3). Das Privatrecht brauchte diese politische Freiheit nicht, war es doch vom Verhältnismäßigkeitsdenken der Abwägung getragen, konnte es doch auf diesen Flügeln seiner Kontinuität über alle Wechselfälle politischer, verfassungsrechtlicher Zufälle und Unfälle hinwegsehweben. Die klassischen Freiheitsgarantien im Namen dieser seI ben Verhältnismäßigkeit relativieren oder gar aufgeben52 - dieses Wagnis kann die liberale Freiheit der neuen Zeit nur eingehen, wenn es wirklich gelingt, über Abwägung Interessenausgleich ebenso selbstverständlich und sicher zu schaffen zwischen Staat und Bürgern wie zwischen den Gewaltunterworfenen. Führt dagegen die eben beschriebene und zu begrüßende Tendenz der Rückkehr zu einer Einheit der Rechtsordnung zu nichts anderem als zur Relativierung der Freiheit im Namen der Verhältnismäßigkeit, ohne daß dem eine entsprechende Relativierung der Staatsgewalt gegenüberstünde, so wird am Ende wieder das 51 Canaris, c.-w., Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 ff.; Leisner, w., Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 286 ff., 354 ff.; Schwabe, J., Grundrechte und Privatrecht, AcP 185 (1985), S. 1 ff.; ders., Die sogenannte

Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 52 In der Drittwirkungsdiskussion (vgl. Fn. 51) ist dies bereits problematisch geworden an der Schnittstelle von "öffentlicher" und "privater" Freiheit, in der Privatautonomie. An der Gefahr ihrer Relativierung durch sozialisierende öffentlich-rechtliche Grundrechtsgehalte vor allem ist die unmittelbare Drittwirkung gescheitert.

11. Die "neue Dimension der Verhältnismäßigkeit "

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sein, was es schon im Ausklang des Ancien Regime gegeben hat: viel privatrechtliche Freiheit - keine politische Libertät mehr. Die Einheit der Rechtsordnung ist ein schöner Traum, doch er könnte gegen die Freiheit geträumt werden.

2. Auf dem Weg zur Interessenjurisprudenz Es ist fast, als müsse das Öffentliche Recht, jüngere Tochter des großen Zivilrechts, einmal selbständig geworden, dieselben Entwicklungen wie jenes wiederholen - und korrigieren. Ideal der großen Pandektistik war im 19. Jahrhundert die volle, flächendeckende Systematisierung des Zivilrechts in Begrifflichkeit; mit Windscheid erreichte diese Begriffsjurisprudenz53 ihren Höhepunkt. Laband hat sie in das Öffentliche Recht übernehmen wollen, ausgehend von dessen Spitze, dem Staatsrecht. Hier schien sich ja Begriffsjurisprudenz in besonderem Maße anzubieten, um Sicherheit für den Bürger im hochliberalen Rechtsstaat zu schaffen, wo die Staatsgewalt eben nur ausnahmsweise in den Freiheitsraum des Bürgers einbrechen durfte, in den im Zweifel engen Räumen, wie sie nur juristische Begrifflichkeit abzustecken vermag. Ein vergleichbares Streben nach Rechtssicherheit fand im Zivilrecht nur begrenzte Rechtfertigung, ging es doch dort vor allem um die Flexibilität der Marktbeziehungen, nicht um die Bewahrung einer Bürgerfreiheit, die der Markt schon als solcher gewährleistete. Aus ihm und seinen Wertungen heraus kam es denn auch bald, als sich der Versuch einer Super-Begriffsjurisprudenz in den Vorbereitungs- und Frühphasen des BGB abzeichnete, zu einer Rebellion gegen derartige Verfestigungen, beginnend mit der großen Interessenjurisprudenz54 , bis hin zum Freirecht55 . In solchen Entwicklungen kehrte die Interessenabwägung ins Recht zurück, sie durchbrach die vielkritisierte Begriffssklerose, ohne daß doch, wie es schien, deren große Errungenschaft, das System, die Rechtsdogmatik, geopfert werden mußte: Ermöglichte nicht gerade das Denken in Kategorien der Verhältnismäßigkeit die volle Flächendeckung für jeden zu entscheidenden Fall, war denn nicht die Abwägung der Weg zur Lösung jenes Lückenproblems56 , an welchem die 53 Larenz (Fn. 1), S. 19 ff.; Müller, F., Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, S. 68 ff.; Pawlowski (Fn. 1), S. 66 ff., 213 ff.; Wieacker (Fn. 9), S. 400 f. 54 Heck, P., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1 ff.; Larenz (Fn.1), S. 48 ff.; ders., Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937), S. 257 (271 ff.); Wieacker (Fn. 9), S. 574 m. weit. Nachw. 55 Vgl. die in Fn. 9 Zitierten.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts zu scheitern drohte? Dem Bürgerlichen Recht ist letztlich, nach fast einem Jahrhundert läßt sich dies feststellen, eine erfolgreiche Kombination von Begriffs- und Interessenjurisprudenz57 gelungen, aus einem Grunde vor allem: Seine enge, herkömmliche Begrifflichkeit, typische immer wiederkehrende Fallkonstellationen der Wirklichkeit mit nur leichten Variationen, vor allem aber die Normsetzungsfreudigkeit des kodifizierenden Gesetzgebers haben das Begriffsgeflecht in diesem Bereich derart verengt, daß es die erweiternden, aufweichenden Stöße der Interessenjurisprudenz immer wieder aufzufangen in der Lage war. Anders dagegen verlief die Entwicklung im Öffentlichen, vor allem im Staatsrecht. Dort wirkte zwar noch viel stärker eine politisch motivierte Normsetzungsflut der demokratischen Gesetzgebun~8, in neuester Zeit vor allem in ihrer nicht aufzuhaltenden Gleichheits- und Umverteilungstendenz unabsehbar gesteigert. Zahllose neue Begrifflichkeiten59 gilt es nun juristisch zu bewältigen. Dies aber kann letztlich nur mit den Mitteln der früheren Pandektistik gelingen, eben in begriffsjurisprudentieller Erfassung, einer "Aufarbeitung" im wahren Sinne des Wortes. Hier jeweils sogleich in interessenjurisprudentielle Wertungen überleiten zu wollen, würde das Chaos bedeuten; Interessenjurisprudenz kann stets nur auf der Grundlage gesicherter Begriffsjurisprudenz wachsen. Alles spricht also dafür, daß man im Öffentlichen Recht weit näher bei der Begriffsjurisprudenz stehen bleiben müßte. Überdies verlangt der Rechtsstaat, die alles beherrschende Maxime des liberal gebliebenen deutschen Öffentlichen Rechts, zwingend eine im Zweifel verengende, ja formalisierende Begriffs-Rechtlichkeit, weil sie allein Berechenbarkeit des Staatshandelns gewährleistet; und sollten die dann eröffneten Eingriffsräume nicht ausreichen, so werden die Vertreter des Volkssouveräns schon, in unablässiger Begriffsschöpfung, neue erfinden, ein Begriffserfindungsrecht des Staates wird nicht nur im 56 Bydlinski (Fn. 1), S. 472 ff.; Canaris, C. w., Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964; Engiseh, K, Einführung in das jurist. Denken, 8. Aufl. 1983, S. 138 ff. m. zahlreichen Nachw.; Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 1934, S. 100 ff.; Larenz (Fn. 1), S. 375 ff.; Marcie, R., Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 247 Anm. 14; Müller (Fn. 53), S. 261 f. 57 Larenz (Fn. 1), S.58; Pawlowski, Problematik der Interessenjurisprudenz, NJW 1958, S. 1561 ff. 58 Hillermeier, K, Eindämmung der Gesetzesflut, BayVBl. 1978, S. 321 ff.; Leisner (Fn. 14), S. 42 ff.; ders., "Gesetz wird Unsinn ... ", DVBl. 1981, S. 849 ff. = Staat (Fn. 22), S. 579 ff. 59 Man denke nur an unbestimmte Rechtsbegriffe im Umweltrecht, vgl. Kloepfer, M., Umweltrecht, 1989, S. 10 f., 74 ff. (Vorsorgebegriff), 83 ff. (Verursacherprinzip).

H. Die "neue Dimension der Verhältnismäßigkeit"

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Steuerrecht60 praktiziert. Der Rechtsstaat ist und bleibt also der Staat der öffentlich-rechtlichen Begriffsjurisprudenz, nur in ihr hat die Legalität, die immer weiter perfektionierte Notwendigkeit der gesetzlichen Grundlage für jeden staatlichen Eingriff61 , letztlich ihren Sinn. Was sollte denn hier auch interessenjurisprudentiell abgewogen werden etwa die "Rechtsgrundlagen" mit dem auf ihnen Aufruhenden? Nicht zuletzt die politische Dynamik ist es nun aber, bis hin zu den Staatsformveränderungen, welche jene gesichert erscheinende begriffliche Basis immer wieder zerbrochen oder doch radikal verändert hat, auf der allein Abwägung die letzte Verfeinerung hin zur gerechtigkeitsorientierten Verhältnismäßigkeit der Interessen bringen könnte. 1949 hat sicher nicht einen Anfang auf grüner staatsrechtlicher Begriffswiese gebracht; doch noch nicht einmal Weimar hat die neue demokratische Verfassungsbegrifflichkeit wirklich verarbeiten können, die es hervorgebracht hatte. Erst nach Jahrzehnten der Staatspraxis, vor allem aber der Verfassungsgerichtsbarkeit, wurde in den 70er, teilweise in den 80er Jahren, das verfassungsrechtliche Begriffsnetz in den Entscheidungen aus Karlsruhe so eng geknüpft, daß es nun die freien, sachbezogenen "Sprünge" neuer Interessenjurisprudenz auch im Öffentlichen Recht aufzufangen vermochte62 . Dann erst konnte eine Rückkehr der Interessenjurisprudenz auch ins Öffentliche Recht versucht, auf diesen Wegen die methodologische Einheit des Rechts wiederhergestellt werden. Ihr besonderer Aspekt soll nun, immer mehr, so scheint es doch, nicht die Abkehr von der Begriffsjurisprudenz sein, sondern deren Überhöhung und Vollendung in Interessenjurisprudenz; das gesamte Recht fände damit zur Einheit auch seiner gestuften Methoden zurück: von Begriffen zu Interessen. Die Dimension der folgenden Betrachtungen ist gerade dadurch bestimmt, daß hier beschrieben werden soll, wie das Öffentliche Recht von der starren Eingriffserlaubnis zur flexiblen Abwägungswertung sich wandelt, in einer wahren methodologischen Revolution. Die Herausforderung an die Interessenjurisprudenz ist in diesem Rechtsbereich besonders groß: Muß nicht versucht werden, ständig sich wan60 Vgl. zum "Steuererfindungsrecht" Klein, F., in: Schmidt-BleibtreuiKlein, GG, 8. Aufl. 1995, Art. 105 Rdnm. 5 f.i Stern (Fn. 12), Bd. H, S. 1118 ff.i Tipke/ Lang (Fn. 5), S. 72 ff. 61 Schmidt-Aßmann (Fn. 16), Rdnr. 60i Schneider (Fn. 2), S. 44 ff.i Stern (Fn. I), S. 829 f.i Klarheit, Eindeutigkeit verlangt etwa das OVG Lüneburg, E 34, 367

(368 f.).

62 Und dies nur zu oft mit recht grobmaschigen Netzen, wie etwa das Beispiel der "sozialen Bezüge" zeigt, in denen Vermieter- und Mieterinteressen ihren Ausgleich finden sollen, vgl. BVerfGE 68, 361 (368).

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A." Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

delnde Begriffsgerüste, vor allem im Verwaltungsrecht, immer von neuem abzufedern in den Verhältnismäßigkeitskategorien der Interessenjurisprudenz? Deren Dynamik erscheint daher hier ungleich größer werden zu müssen, ihre Zukunft kaum durch Horizonte begrenzt wird sie aber eines Tages die Begriffe nicht mehr vernetzen, sondern auflösen? So werden Chancen und Gefahren der hier nachzuzeichnenden oder in Vorsicht vorherzusehenden Entwicklung deutlich, sie betreffen Grundfragen allen Rechts.

3. Abwägung: Rechtstechnik gegen Macht oder Macht durch Rechtstechnik?

Der Begriff der Rechtstechnik ist als solcher nicht definiert, vielleicht gar nicht definierbar63 , mag er auch oft, im juristischen Unterricht vor allem, unkritisch benutzt werden. In erster Linie wird er dort gebraucht, wo sich Begriffsjurisprudenz entfaltet, in ihrer Begriffsinhalte verschränkenden Dogmatik unklare Abwägungen ausschließt, Lücken füllt, Normanwendungsbereiche fest umgrenzt. In diesem Sinne sahen frühere Liberale "ihr Gesetz" stehen gegen Dynamik und Willkür der Politik, Rechtstechnik gegen Macht. Und waren sie nicht darin Erben einer notablierten Rechtswelt des Ancien Regime, in welcher spätestens beurkundende Notare der Machtgier der Renaissance und ihrer Nachfolgezeiten Schranken zogen - wiederum in Rechtstechnik? Mit der Verhältnismäßigkeit ist nun auch hier die Probe auf dieses Exempel angesagt: Wird es gelingen, die Abwägung zu einer Rechtstechnik in diesem herkömmlich machtbeschränkenden Sinne zu entfalten, die alte Rechtstechnik der Begriffsjurisprudenz mit ihr zu verfeinern, sie gegen Vorstöße demokratischer Politik und ihrer ständigen immanenten Revolutionsbegeisterung 64 zu immunisieren? Oder steht gerade das Gegenteil zu erwarten: Mehr Macht durch eben diese Rechtstechnik der Verhältnismäßigkeit, welche die Bürgerfreiheit relativiert, der Staatsgewalt unabsehbar ständig abgewogene - gerade darin unwägbar gewordene Eingriffsräume erschließt? Die bisherige Entwicklung mag insoweit optimistisch stimmen, als echte Rechtstechnik es noch immer vermocht hat, die Mächtigen zu63 Ansätze neuerdings bei Brenner, M., Grundrechtsschranken und Verwirkung von Grundrechten, DÖV 1995, S. 60 ff. 64

Leisner (Fn. 47).

II. Die "neue Dimension der Verhältnismäßigkeit"

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rückzudrängen, und sei es auch nur in ihrer von jenen noch nicht erlaßten geistigen Komplexität. Zu fragen wird also sein, ob Verhältnismäßigkeitsdenken sich in einer Vielzahl von Canones, Formeln und Subformeln derart steigern, sich eigene geistige Räume aufbauen kann, daß es aus ihnen heraus und im Namen der Ratio dem politischen Willen Schranken zu setzen vermag. Die volle Dimension des hier untersuchten Problems erschließt sich erst dann, wenn sich die Entwicklungschancen von Verhältnismäßigkeit und Abwägung hin zu echter Rechtstechnik, in deren Verbindung von Begriffsstrenge und Methodik, herausstellen. Auch dann noch wird allerdings die Frage bleiben, ob nicht diese Art der Rechtstechnik anfälliger ist, von der Macht instrumentalisiert zu werden, als dies mit der traditionellen Begriffsjurisprudenz geschehen konnte, ob nicht sogar eine begriffsauflösende Tendenz des Verhältnismäßigkeitsdenkens von den Herrschenden immer wieder eingesetzt werden kann, um Schranken abzubauen, zu durchbrechen, Macht zu entfesseln. Selbst wenn es soweit nicht käme - ist Verhältnismäßigkeit mehr als nur ein elegantes, selbstbestätigendes Verschleierungswort der Macht, deren verbale, allenfalls im letzten noch leicht grenzkorrigierende Flexibilisierung, damit aber letztlich sogar eben Überlebenschance, ja sogar Intensitätssteigerung allen Herrschens? Auf einer solchen Suche nach "Rechtstechnik gegen Macht" gilt es allerdings einer eingefahrenen, allzu leichten Kritik an der Begriffsjurisprudenz entgegenzutreten, die sich auf lange Tradition stützen kann: der Klage über die Komplikation des Rechts, die Kunstsprache der Juristen, welche deren Folge ist. Von der mittelalterlichen Bologna-Kritik65 bis zur modernen Forderung der "Bürgernähe" des Rechts, in welcher sich nahezu bruchlos die nach dem "völkischen Recht ,,66 fortsetzt - all diese von ständig Entkomplizierung suchenden Juristen aufgenommenen Komplexe rechtsfernen Denkens werden vor allem in der Demokratie gepflegt, in welcher jedermann seine Rechte geschrieben mit sich tragen und verstehen soll, sie also doch muß begreifen können. In eben dieser Volksherrschaft aber sollte derselbe Bürger in seinem berechtigten Anti-Herrschafts-Streben doch auch begreifen, daß nichts ihn mehr schützt als schwere Verständlichkeit des Rechts, welche dann eben auch der meist mäßige Verstand seiner Herrschenden nicht voll zu durchdringen vermag, die er ihnen also letztlich entgegenhalten kann. 65 Vgl. Laufs, A, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 4. Aufl. 1991, S. 47 ff.; Wieacker (Fn. 9), S. 45 ff., 52 ff. 66 Was etwa in Punkt 19 des Programms der NSDAP vom 24.2.1920 zum Ausdruck kommt in der Forderung nach einem "deutschen Gemeinrecht".

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

Wer die Komplikationen des Steuerrechts beklagt67 , wird immer Zustimmung finden; wann wird man erkennen, daß gerade sie auch zahllose Freiheitsräume denen eröffnet, welchen eben als vigilantibus lex scripta est? Werden also Abwägung und Verhältnismäßigkeit nur als Auflösung der "unverständlichen Begriffe" verstanden, weil jedermann nun verstehen könne, was hier an Korrektur der Macht geboten wird, soll sich darin nichts anderes entfalten als ein neues interessenabwägendes Volksempfinden? Dann wird sich die Macht der jeweils Herrschenden einer solchen "untechnischen", oft auch nur intelligenz armen Begrifflichkeit ebenso herrschaftsverstärkend bedienen wie in der Zeit, welche im Namen des Volksempfindens ihre Macht ungemessen steigern konnte. Dann kann dem gewiß nicht eine neue Form von "Rechtstechnik der Macht" Grenzen setzen. Es bleibt eben dabei: In einer Zeit steigender Komplikationen ist die wachsende "Technisierung", damit aber auch Komplikation des Rechts gefordert, als Anti-Herrschafts-Instrument kann dieses immer nur dann wirken, wenn es wenigen, einer geistigen Anwendungs-Elite allein, voll verständlich bleibt, wenn es die Betroffenen zum geistigen Kampf mit den Herrschenden herausfordert, wenn es eine Anwaltschaft hervorbringt, welche Ministerialen und Richtern geistig ebenbürtig ist. In all dem findet dann wirklich Machtrninirnierung statt. Hier aber ist zu untersuchen, ob auf diesen Wegen Abwägung und Verhältnismäßigkeit geistige Primitivierung bedeuten oder intellektuelle Höherentwicklung, damit Zurückdrängung der Gewalt, wie sie Liberale stets gefordert haben. In diesem Sinne wird hier die Frage nach der "Machttechnik " gestellt, wie bereits in den Überlegungen zum "Unsichtbaren Staat": Gelingt es dem Recht in seinen modemen Entwicklungen, in geistigen Kanälen, die überbordende, oft primitive, politische Willensmacht aufzufangen, sie an Turbinen der Macht zum Besten des Bürgers arbeiten zu lassen? Dies sind Fragen aus .dem Recht heraus, an die vor allem Recht liegende Macht. Die kelsenianische Identifizierung von Staat und Recht, von Macht und Norm68 nimmt in intellektueller Setzung voraus, was es doch noch zu begründen gilt - nicht zuletzt in Beschäftigung mit dem großen Modewort der Verhältnismäßigkeit. 67 Vgl. Kirchhof, P., Die Kunst der Steuergesetzgebung, NJW 1987, S. 3217 ff.i Tipke/Lang (Fn. 5), S. 52 f., 61 f.i Tipke, K., Steuergesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, StuW 1990, S. 308 ff. 68 Kelsen (Fn. 3), S. 16 fl., 47 ff.

II. Die "neue Dimension der Verhältnismäßigkeit"

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4. Verhältnismäßigkeit: Staatsformprägung

Der Gegenstand der folgenden Betrachtung, das Denken in Kategorien von Abwägung und Verhältnismäßigkeit, ist weit mehr als ein Beitrag zu Fragen der Rechtstechnik, auch wenn diese gesehen wird in ihrer Verbreiterung und Vertiefung zu einer möglichen Staats-, ja Machttechnik. Hier geht es nicht nur um ein Instrument, das die Herrschenden in Opportunitätserwägungen zur Verstärkung ihrer Macht einsetzen mögen, als Minimierung derselben zuzulassen vielleicht bereit sind. Verhältnismäßigkeit oder nicht - diese Frage liegt im Herzen der Macht, der Staatlichkeit selbst. Die vergangenen Jahrzehnte haben es unternommen, die Staatsformlehre der Fürsten69 , nach ihnen der Liberalen neu zu beleben und zu verfeinern. Über die punktuelle Staatsformtechnik der frühen Demokratie, mit ihrer Beschränkung auf einzelne Grundrechte und gewisse Organisationsstrukturen70 , welche so sparsam in den Verfassungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich, geregelt waren, wie eben der Staat Ausnahmeerscheinung bleiben sollte - über all dies ist schon Weimar mit seinen flächendeckenden Staatsgrundsatznormen hinweggegangen; und die Bonner Demokratie hat dies in typisch deutscher Systematisierung jahrzehntelang verdichtet. So ist die moderne "Staatsform" entstanden, mit ihren Staatsgrundsatznormen71 , welche nun sogar Staat und Gesellschaft überdecken sollen. Darin konnten auch liberale Staats denker ihren Frieden machen mit der von ihnen bekämpften Einheit von Staat und Gesellschaft72 , wie sie schon Marxismus und Faschismus hatten herstellen wollen: In der Staatsgrundsätzlichkeit, letztlich in der Staatsform73 scheint die Synthese ge69

Eine gute Zusammenfassung zur monarchischen Staatsform findet sich bei

Georg Jellinek, Allg. Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 469 ff., 669 ff., m. Nachw. 70 In diesem Sinn bietet sogar Laband, P., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911-1914, Neudruck 1964, in vielem, gemessen an heutigem Ver-

fassungsrecht, nur einen Torso - daneben viel "Verwaltungsrecht" , vgl. etwa Zweiter Band, 8. Abschnitt: Die Verwaltung; Dritter Band, 12. Abschnitt: Die inneren Angelegenheiten. 71 Badura, P., Arten der Verfassungsrechtssätze, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 7, 1992, § 159 Rdnrn. 9, 36 f.; Isensee, J., Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, NJW 1977, S.545 (547 f.); Starck, Ch., Die Verfassungsauslegung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 7, 1992, § 164 Rdnrn. 51 ff. 72 Ermacora, F., Allg. Staatslehre, 1. Teilbd., 1970, S. 331 ff.; Hesse, K., Problematik und Tragweite von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff.; Herzog (Fn. 31), S. 38 ff.; Krüger (Fn. 21), S. 526 ff.; Rupp, H.H., Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HdbStR (Fn. 16), § 28 Rdnrn. 44 ff. 73Imboden, M., Die Staatsformen, 1959, S. 14 ff., 100 ff.i Küchenhoff, E.I Küchenhoff, G., Allgern. Staatslehre, 8. Aufl. 1977, S. 209 ff.; Küchenhoff, E.,

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

lungen zu sein zwischen der These der Gesellschaft und der Antithese der gerade zu ihrer Sicherung notwendigen Staatlichkeit. So hat "Hegel doch gesiegt" - in einem Super-Staat, einer "Staats- und Gesellschaftsform zugleich" , wie sie die Verfassung grundlegt. Begonnen hat es, ganz liberal noch, mit dem Rechtsstaat. Ihm aber folgte ein "Sozialstaat", der mit jenem unversöhnlich bleiben mUß74 , nicht nur wegen der wesentlichen Ungenauigkeit seiner Inhalte, sondern vor allem in seinem Übergreifen in den gesellschaftlichen Bereich. In der Ökologie der neuen "Umweltstaatlichkeit" ist eine weitere Dimension einer solchen gesellschaftserfassenden Superstaatsform erreicht worden75 . Nun steht eben "die Staatsform" für viel mehr als für "Staatsorganisation mit einigen Grundrechtsschranken "; hier gewinnt die Staatlichkeit ihren nie aufgegebenen Totalitätsanspruch zurück, die Denkkategorien wenigstens des "Totalen Staates,,76, wie ihn Ernst Forsthoff beschrieben hat, sind nicht verloren - er gerade hat in dadurch geschulter Sensibilität erkannt, daß letztlich nur der Rechtsstaat zur Staatsformbestimmung tauge 7. Dies war der Staat der Begriffsjurisprudenz, im Öffentlichen Recht in alter, liberaler Rechtstechnik, in punktuell begrenztem Staatszugriff. Wird dies nun erweitert in einer als allgemeine Norm-Perfektionierung gedachten Verhältnismäßigkeit, so möchte wohl auch sie den Ehrentitel einer Staatsformprägung für sich in Anspruch nehmen; und wie sollte er ihr streitig gemacht werden, wo dann dieses Denken doch überall in Staat und Gesellschaft wirken muß, zwischen den Bürgern wie in ihrem öffentlich-rechtlichen Verhältnis zu ihrem Staat? Angedeutet wurde es schon: Kelsen müßte dann geradezu den Staat als Verhältnismäßigkeit sehen; wie er für ihn nicht anders wirken kann als durch Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Klarheit in der Staatsforrnenlehre, Bd. 112, 1967, S. 759 ff.; Stern (Fn. 1), S. 96 f. 74 Klassisch dargestellt bei Forsthoff, E., Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff. 75 Wie sie eine Einfügung des Umweltschutzes ins GG (vgl. dazu Klein, H.H., Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich ein Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz aufzunehmen?, DVBl. 1991, S. 729 ff.; Kloepfer, M., Umweltschutz und Verfassungsrecht, DVBl. 1988, S. 305 ff.; Rauschning, D., Aufnahme einer Staatszielbestimmung über Umweltschutz in das GG? DÖV 1986, S. 489 ff.; Schmidt, R., Einführung in das Umweltrecht, 4. Auf!. 1995, S. 37 f., neuerdings Kloepfer, M., Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20 a GG, DVBl. 1996, S. 73 ff.; Murswiek, D., Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG); NVwZ 1996, S. 222 ff.3232) mehr systematisierend vollenden als anstoßen wird. 76 Forsthoff, E., Der totale Staat, 1933. 77 Vgl. Fn. 74.

III. Abwägung und Verhältnismäßigkeit - Weg und Ziel?

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die Norm, nichts anderes also sein darf als eine solche, so müßte es nun heißen, er stehe stets unter der Grundnorm 78 der Verhältnismäßigkeit, identifiziere sich mit ihr, sei selbst nichts anderes als staatgewordene verhältnismäßige Gesellschaft. Dann allerdings - dies sei hier schon vorwß.ggenornmen - kann sich die Verhältnismäßigkeit kaum mehr in einem Verfahren erschöpfen, hier ist dann der rechtstechnische Formalismus ebenso überfordert, wie bei Kelsen, der den Staat auf Organisation beschränken wollte. Die Verhältnismäßigkeit muß vielmehr materielle Züge annehmen, bei kaum einer Begrifflichkeit fällt dies leichter: Die VerhältnismäßigkeitsHerrschaft wird dann zum "Staat der Mäßigung". Erreicht scheint wieder die alte Staatsklugheit der Temperantia, von der sich doch die ungeduldige junge Demokratie vor zwei Jahrhunderten hat lossagen wollen. Diese Dimension also gilt es stets zu beobachten im folgenden: Abwägung als Staatsinstrument - oder als Staatsform? Schon hier zeigt sich, daß es einen Gegensatz im Recht, allgemein jedenfalls, nicht gibt: "Technik oder Grundsatz ,,79; wonach hier gefragt wird, das ist: "Staatstechnik als Staatsprinzip " .

111. Abwägung und Verhältnismäßigkeit - Weg und Ziel1 1. Verhältnismäßigkeit als "geronnene Abwägung"

Die beiden Grundbegriffe dieser Untersuchung, "Abwägung" und "Verhältnismäßigkeit" , wurden bisher undifferenziert nebeneinander gebraucht, wie dies auch sonst meist geschieht; nun gilt es, sie in ihrem begrifflichen Verhältnis zueinander zu betrachten. Eine Abgrenzung liegt nahe: Verhältnismäßigkeit ist jener Zustand, jene einzelne Falllösung, welche aus Abwägung erwächst, nur aus ihr entstehen kann. Dann wäre ganz einfach sie das Mittel, die Proportionalität das Ziel. Überall dort, wo Abwägung stattfindet, käme es, und auch nur insoweit, zu verhältnismäßigen Lösungen; sie wären ein Zustand materieller Ausgewogenheit, der durch das Verfahren der Abwägung hergestellt wird. (Fn. 3), S. 249 f. Wie es heute gängiger Betrachtung entspricht (vgl. Brenner (Fn. 63), insbes. im Zusammenhang mit "Einzelregelungen in der Verfassung" (Art. 23 n.F.)) - "Rechtstechnik" ist eben mehr als nur "Konkretisierung durch Normen". - Gerade die Prinzipien sind es denn auch, welche der "rechtstechnischen " Abwägung zugänglich, vielleicht bedürftig sind (vgl. dazu grundsätzlich Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff.). 78 Kelsen

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3 Leisner

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

Der Abwägungsstaat definiert sich dann als jene Gewalt, die dauernd und ganz wesentlich, in allen Bereichen und Fällen abwägt, d. h. irgendwelche, alle möglichen oder möglichst alle Interessen anerkennt und gegenüberstellt. Er macht es zu seinem Dogma, daß sie alle irgendwie gleichmäßig berücksichtigt werden müssen, und er wird seiner "Staatsform der Verhältnismäßigkeit" gerecht, wenn gerade dies geleistet ist. Viele Rückgriffe auf Verhältnismäßigkeit80 legen eine solche Gleichung zugrunde: Es genüge abzuwägen, damit Proportionalität entstehe. Im Grunde ist dies nur Gleichsetzung eines angestrebten materiellen Zustands mit dem zu seiner Erreichung eingesetzten Verfahren, letztlich nichts als die "Definition materiellen Rechts als Ergebnis von Verfahren" . So einfach diese Bestimmung der Verhältnismäßigkeit aus dem Verfahren zu ihrer Herstellung sein mag, sie kann sich nun schon auf eine methodische Tradition stützen, welche sich gerade in letzter Zeit verstärkt. Der vielbeklagte allgemeine Niedergang materieller Werte81 , in ihrer gesellschaftlichen Überzeugungskraft, hat zu einer Aufwertung der Verfahren geführt, als könnte es gelingen, Konsens durch Technik zu ersetzen, Werte aus Prozessen zu gewinnen. Darin steckt viel von der heute verbreiteten Prozeßtechnik-Gläubigkeit82 . So wird im Rechtsbereich ein Schutz der Länder, welcher sich nicht mehr aus dem Konsens der Bürgerschaft oder der Staatsorgane gewinnen läßt, durch föderales Verfahren83 versucht, in kooperativem Dialog etwa mit der Obergewalt des Bundes. Wo es nicht mehr gelingt, Übereinstimmung hinsichtlich der Grundwerte zu finden, welche die Freiheitsrechte tragen und doch 80 Vgl. etwa Degenhart (Fn. 16), S. 123 ff.; Maunz, Th./Zippelius, R., Deutsches Staatsrecht, 29. Auß. 1994, S. 95 f.; Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 8 ff.; Hirschberg, L., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 101 ff. 81 Vgl. Hesse (Fn. 5), S. 134 ff.; Müller (Fn. 53), S. 64 ff. 82 Vor allem bei der Wahrheitsfindung im kontradiktorischen Verfahren, was zu einer mächtigen Aufwertung der Grundrechtsbedeutung des "rechtlichen Gehörs" geführt hat, vgl. Rüping, H., Verfassungs- und Verfahrensrecht im Grundsatz des rechtlichen Gehörs, NVwZ 1985, S. 304 ff.; Schuhmann, B., Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs - Dauerauftrag für das BVerfG?, NJW 1985, S. 1135 ff.; Stern, K., Qualität und Bedeutung der Prozeßgrundrechte für die Grundrechtsbindung der Rechtsprechung, in: FS für Ule, 1987, S. 359 ff.; Zierlein, K-G., Die Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ( Art. 103 Abs. 1 GG ) nach der Rspr. und Spruchpraxis des BVerfG, DVBl. 1989, S. 1169 ff. 83 Hesse (Fn. 5), S. 100 ff.; Lerche, P., Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S.66 (84 ff.); von Münch (Fn. 12), S. 240 f.; Rudolf, w., Kooperation im Bundesstaat, in: HdbStR (Fn. 16), Band 4, 1990, § 105.

III. Abwägung und Verhältnismäßigkeit - Weg und Ziel?

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heute erst recht "Heiligtümer des deutschen Volkes" sein sollten, als welche sie das Reichsgericht einst bezeichnete - da ist nun die Rede vom "Grundrechtsschutz durch Verfahren" 84. Dahinter steht die größere Problematik der Ablösung des festen Freiheits-Bereichsschutzes durch die Gerichte in einem "organisatorischen Freiheitsschutz" der Mehrheitsdemokratie als solcher: Ist der Bürger denn nicht besser gesichert durch das Abstimmungsverhalten von seinesgleichen, an dem er sich beteiligen darf, als durch Areopage, "klassenferner Gerichts-Notabeln"? Und ganz allgemein muß man vielleicht nunmehr nachdenken darüber, daß Demokratie wesentlich Verfahren der Einung85 ist, optimale Staatsform gerade dafür, daß sie darin eben auch ihre höchste, unzerstörbare Legitimation finden kann. Verhältnismäßigkeit aus Abwägungsverfahren, der Verhältnismäßigkeitsstaat aus Verfahren definiert - dies alles liegt also voll, so scheint es doch, im Zuge einer Epoche, welche ihren Wertekonsens unwiderbringlich zerbrechen sieht, sich an Mechanismen festhält, über die man sich stets leichter einigen wird, weil da noch etwas bleibt von einem Spiel mit unbekanntem Ausgang. Ernst genommen werden muß eine Auffassung, nach welcher sich Verhältnismäßigkeit geradezu im Abwägungsvorgang erschöpft, mehr als ihn gerade nicht, nirgends voraussetzt. Verhältnismäßigkeit wäre dann letztlich ohne jeden eigenständigen materiell-rechtlichen, ohne jeden Gerechtigkeitsinhalt, Gerechtigkeit entstünde allein aus einem Prozeß. Und ist nicht das materielle Recht, seit der Zeit der Praetoren86 , immer aus Verfahren und in ihm entstanden, als geronnener Prozeß? Entfaltet sich "Recht" nicht ganz wesentlich in einem Tun, einem Vorgang, eben in dem neminem laedere, suum cuique tribuere, nicht nur wenn der Staat seine Verfahren einsetzt, sondern auch wenn der Bürger seinesgleichen gegenüber gerecht - "verfährt"? Diese Frage der Verfahrensgerechtigkeit wird die folgenden Betrachtungen stets begleiten. Zunächst soll aber diese These doch vorweg kritisch betrachtet, relativiert werden. 84 Bethge, H., Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, S. 1 ff.; Bleckmann, A., Staatsrecht 11 Die Grundrechte, 3. Auf!. 1989, S. 251 f.; Hesse (Fn. 5), S. 160 f.; Ossenbühl, F., Grundrechtsschutz im und durch Verfahrensrecht, in: Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, FS für Eichberger, 1982, S. 183 ff.; grdl. neuerdings Canaris, C.-w., Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung, JuS 1996, S. 573 ff. 85 Leisner, w., Staats einung, 1991, S. 31 ff., S. 160 ff. 86 Vgl. Sohm, R., Institutionen: Geschichte und System des römischen Privatrechts, 17. Aufl. 1923, S. 72 ff.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

2. Materielle Grundentscheidungen im (Abwägungs-)Verfahren In der Abwägung soll das Verfahren der Waage zur Anwendung kommen. Wohl muß sie sorgfältig aufgehängt werden, damit sie ihre ausgleichenden, austarierenden Effekte in Selbstgesetzlichkeit hervorbringen kann. Doch dieses letztlich vom Wägenden nicht zu beeinflussende eigengesetzlich ablaufende Verfahren setzt eben eines wesentlich voraus: die Gewichtung des in seiner Bedeutung zu Bestimmenden muß erfolgen, bevor etwas in die Waagschale geworfen wird. Wie soll die Bedeutung eines funktionierenden Parlaments abgewogen werden gegen die Rechte des einzelnen Abgeordneten, in der Beurteilung des Fraktionszwangs81 , wenn nicht beides mit einer gewissen Wertigkeit verbunden wird, bevor es der Verfassungsrichter gegenüberstellt? Jede derartige Abwägung setzt also eine - entscheidende - vorgängige Gewichtung, damit aber eine bereits erfolgte Vor-Wägung voraus: Welcher Stellenwert, welches Gewicht kommt etwa der Selbständigkeit des Abgeordneten "an sich" zu - denn nur mit diesem Gewicht tritt seine Freiheit sodann der Bedeutung und den Aufgaben des Parlaments gegenüber. In aller Regel findet denn auch diese Vor-Gewichtung als Abwägung bereits andernorts, anderen Werten gegenüber statt: Es wird gefragt nach der Bedeutung des freien Mandats 88 überhaupt in der Volksherrschaft, in Rückbeziehung auf die freie Persönlichkeit des Volksvertreters, auf seine Grundrechte im allgemeinen Gewaltverhältnis zum Staat89 usw. ust. Daraus, und aus vielen anderen, ausgesprochenen und unausgesprochenen Gegenüberstellungen und Abwägungen ergibt sich dann ein bestimmtes Gewicht gerade der Abstimmungsfreiheit des einzelnen Mandatsträgers gegenüber seiner Fraktion, welche ihn in ihren Zwang nehmen will. Die Fraktionsrechte ihrerseits müssen in ähnlicher Weise bestimmt werden, auch dies geschieht in vielfachen Vor-Abwägungen, insbesondere für die Effizienz der Parlamentsarbeit90 . 87 BVerfGE 10, 4 (14); 38, 258 (277); 80, 188 ff.; Badura, P., Staatsrecht, 2. A. 1996, S. 399 f.; ders., in: BK, Art. 38 Rdnrn. 77 ff.; Karsten, H.H., Möglichkeiten und Grenzen der Disziplinierung des Abgeordneten durch seine Fraktion: Fraktionsdisziplin, Fraktionszwang und Fraktionsausschluß, ZParl 16 (1985), S. 475 ff. 88 Badura (Fn. 81), S. 399 f.; Hesse (Fn. 5), S. 255 ff.; von Münch (Fn. 12), S. 257 ff. 89 Badura, in: BK, Art. 38, Rdnrn. 38 ff.; Klein, H.H., Status des Abgeordneten, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 2, 1987, § 41 Rdnrn. 2 ff. 90 Jekewitz, J., Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen, in: Schneider/Zeh (Fn. 31), S. 1040 ff.; von Münch (Fn. 12), S. 273 f.

III. Abwägung und Verhältnismäßigkeit - Weg und Ziel?

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Soweit auf solchen Vorstufen nicht bereits Abwägungen stattgefunden haben, wenn es also zu unmittelbarer Bestimmung der Gewichte erst im Vergleich kommen soll, so muß doch jedenfalls stets etwas wie ein dritter Bezugspunkt der Wertigkeit vorhanden sein, auf den beide Waagschalen ausgerichtet werden, an dem eben die Waage insgesamt aufgehängt ist. Eine Abwägung etwa zwischen Interessen des Eigentümers und Umweltbelangen der Allgemeinheit91 läßt sich rational überhaupt nur dann nachvollziehen, wenn es einen dritten Faktor gibt, mit Bezug auf den die jeweilige Wertigkeit festgestellt und damit auf das Zurücktreten der einen oder anderen Belange geschlossen werden kann - etwa die Freiheit oder die Gesundheit der Bürger. Die bisherigen Abwägungsüberlegungen lassen keine Vertiefung in diese Richtung, sie lassen meist nicht einmal erkennen, daß dieses Problem auch nur gesehen worden wäre. Und doch verbirgt die hier angesprochene Problematik - daß materielle Wertentscheidungen jeder Abwägung vorausgehen, daß sie in deren Vorgang lediglich konkretisiert, vielleicht verfeinert werden können - eigentlich nur eine Banalität: Wie läßt sich ein Interesse bewerten, wenn es einheitlich-übergeordnete konsensgetragene Werte nicht gibt? Wenn aber Abwägung nichts ist als die nähere Ausformung eines allgemein schon vorherbestehenden Wertungssystems, seine Durchsetzung im einzelnen Fall, so ist all dies grundsätzlich nichts anderes als ein bekannter juristischer Vorgang: die Subsumtion des Einzelsachverhalts unter Normen, seine Gewichtung und dann Entscheidung nach praeexistenten Wertungscanones. Nur ein Münchhausen könnte sich aus "reinem Verfahren" in "Werte" hinaufziehen; Abwägung kann also allenfalls etwas sein wie die Fortsetzung von deren Systematisierung, in den Einzelfall hinein. Dies bedeutet nun nicht, daß das Abwägungsverfahren lediglich ein mechanischer Vorgang ohne jedes wertende Selbstgewicht wäre, daß hier immer nur praeexistente Verhältnismäßigkeit festgestellt, nichts von ihr im Verfahren neu hervorgebracht würde. Dies wäre ebenso abwegig wie die Vorstellung vom Richter als Subsumtionsautomaten. So wichtig es ist, daß in der Abwägung laufend wertende Vorentscheidungen angewendet werden, insoweit also die Verhältnismäßigkeit in ihren Grundwertungen schon praeexistent sein muß, so sehr ergeben sich auch aus der Abwägung selbst, in ihrem Vorgang, eigenständige Gewichtungen. So wird diese Abwägungsmethode etwa verlangen, daß möglichst breit "alle irgendwie in Sicht befindlichen Interessen" be91

Louis, W, Komm. z. BNatSchG, 1. Auf!. 1994, § 1 Rdnr. 18; Schmidt

S.48f.

(Fn. 75),

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

rücksichtigt werden, daß also möglichst weithin bereits wertend Entschiedenes einbezogen, daß es nicht etwa beiseite gelassen werde (dazu näher unten C IV; 3). Doch bei näherem Zusehen sind auch dies letztlich nicht verfahrensmäßige, sondern eindeutig materielle Entscheidungen, welche den Abwägungsprozeß tragen, in ihm zum Tragen kommen: Wieder werden nur gewisse Gewichte, selektiv wertend, in die Waagschale geworfen; andere zu ignorieren ist eine materielle Negativentscheidung, nicht Ergebnis eines Verfahrens. Nur an einer Stelle wohl kann das materielle Ergebnis der Verhältnismäßigkeit Resultat eines "Verfahrens an sich" sein: im organisatorischen Einsatz der Entscheidenden, insbesondere in jenen Verfahrensnormen, welche ihnen das Abwägen in dieser oder jener Form prozessual vorschreiben. Die Auswahl der Wägenden und die Bedienungsanleitungen der Waage - das ist es, was im Grunde allein die Abwägung als solche, als Verfahren verstanden, zum Ergebnis der Verhältnismäßigkeit beitragen kann. Dies ist nicht wenig - die Unabhängigkeit der Richter beweist es92 - aber längst nicht alles. Dieser Beitrag des Abwägungsverfahrens zur Herstellung materieller Proportionalität wird im folgenden stets sorgsam zu berücksichtigen sein. Klar aber muß bleiben: Abwägung und Verhältnismäßigkeit sind insoweit identisch, als Abwägung mehr ist als "reines Verfahren", als in sie bereits früher festgestellte oder in der Abwägung selbst unmittelbar ermittelte Wertigkeiten einbezogen werden. Die Vertiefung dieser Probleme würde in Grundfragen der Methodologie93 hineinführen, um die es hier primär nicht geht. Genommen werden sollte aber die Illusion, aus einem "reinen Verfahren" allein könne materielle Gerechtigkeit entstehen; hingewiesen werden sollte auf die unabdingbare Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit aus Wertungen zu entwickeln, weil es wert- und konsensfreie Abwägung nie und nimmer geben kann. Dem juristischen Methodologen mag dies als eine Selbstverständlichkeit erscheinen; die Lektüre des ersten besten Urteils bestätigt die dringende Notwendigkeit der hier unternommenen, zugegebenermaßen durchaus elementaren, Begriffsklärung. Die freiheitssichernde Funktion dieser Verfassungsverbürgung (vgl. dazu w., Zum verfassungsrechtlichen Status der Richter, in: FS für H. Schäfer, 1975, S.75 (84 ff.); ders., Die Unabhängigkeit des Richters, DRiZ 1979, 65 ff.; ders., Die Rolle des Richters, DRiZ 1982, S. 321 ff.) beweist es; ihre Bedeutung muß mit Bedeutungssteigerung der Verhältnismäßigkeit - verhältnismäßig zunehmen. 93 Nicht zuletzt der Übernahme außerrechtlicher Werte und Wertungen ins Recht, vgl. Hubmann, H., Naturrecht und Rechtsgefühl, in: Wertung und Abwägung im Recht, 1977, S. 103 (112 ff.); Larenz (Fn. 1), S. 125 ff. 92

Geiger,

N. Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in Verhältnismäßigkeit" 39

Wäre Verhältnismäßigkeit allein aus Abwägungsverfahren zu entfalten, so liefe dies auf die naive Überzeugung hinaus, Gerechtigkeit sei stets aus Sorgfalt zu gewinnen, mit ihr vielleicht gar identisch. Ob sich das Verhältnismäßigkeitsdenken zu wirklicher Verfahrens-Rechtstechnik steigern kann, muß sich erst noch zeigen. Selbst wenn dies aber zuträfe, so könnte all dies eines noch nicht bringen: jene materielle Gerechtigkeit, in deren Namen doch jede Suche nach Verhältnismäßigkeit antritt. "Verhältnismäßigkeit" wird also im folgenden als materiell-rechtlicher Endzustand verstanden, "Abwägung" als ein Weg zu ihr, der jedoch bereits mit vielen materiellen Entscheidungen gepflastert ist, dabei allerdings immer wieder auch zu der Frage führt, wieviel dabei aus "reinem Verfahren", aus der Person der Entscheidenden wie der Organisation ihres Vorgehens, zu gewinnen ist. In vielen Zusammenhängen brauchen allerdings "Weg" und "Ziel" wohl kaum unterschieden zu werden.

IV. Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in VerhältnismäßigkeU" 1. Verhältnismäßigkeit - ein Wort für Gerechtigkeit?

Die große werbende Kraft des Verhältnismäßigkeits-Denkens, der Hauptgrund für sein ständiges ebenso unkontrolliertes wie unkritisches Vordringen, liegt darin, daß unsere Zeit hier eines ihrer "guten Worte" im Öffentlichen Recht einsetzt. Manch anderes Vergleichbares, wie etwa "Harmonie ,,94, ist bereits entzaubert worden, als Beschreibungsversuch einer unbestimmt-glücklichen Welt, in der sich alles zusammenfügt. Verhältnismäßigkeit ist wohl noch ein zu junger Kernbegriff, als daß ihm bereits ähnliches nachgewiesen worden wäre, und doch beinhaltet er nichts anderes: Was "verhältnismäßig" ist, wenn nicht zu einem unbekannten Dritten, so doch innerhalb seiner Teile, also in sich, hat doch die richtige innere Struktur, Spannungen dort, wo sie noch belebend wirken, bringt im übrigen aber, und vor allem, jenen "Aus94 Von den großen "Ordnungsformeln" der Weimarer Verfassung, welche Harmonie über ewig Gegensätzlichem bringen sollten - heute sich teilweise fortsetzend in "Staatszielbestimmungen " - bis in die Niederungen der "vertrauensvollen Zusammenarbeit" von Behördenleitung und Personalrat, vgl. zu letzterem LecheIer, H., Verwaltungslehre, 1988, S. 203 ff.; Püttner, G., Verwaltungslehre, 2. Auf!. 1989, S. 276 f.; Thieme, w., Verwaltungslehre, 4. Auf!. 1984, S. 435 ff.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

gleich,,95 der ebenso, als ein schönes, unbestimmtes Wort, im Öffentlichen Recht, die härtere, aber auch klarere Entschädigung zu verdrängen beginnt. "Verhältnismäßig" ist also "etwas Gutes an sich" - weit besser noch als die zu ihr führende Abwägung (vgl. näher unten C, VIII), der man immer den versteckten Vorwurf des faulen Kompromisses 96 machen mag - "unverhältnismäßig" ist, und dies zeigt es noch klarer, etwas eindeutig Negatives, dem Wesen des Rechtes als solchen Widersprechendes. Wenn dieses Recht die Kommunikationsaufgabe unter Bürgern in erster Linie zu erfüllen hat, so verfehlt es dies eben überall dort, wo es "unverhältnismäßig" ordnet, damit verbindende Ströme unterbricht. "Verhältnismäßig" ist dagegen ein gutes Wort gerade im Recht; "Ordnung" ist gelungene Verhältnismäßigkeit. Darin liegt bereits, daß jedem das Seine, das ihm eben im Verhältnis zu anderen Zukommende, zuteil wird. Ist da überhaupt etwas anderes als Eigenlob juristischer Dogmatik? Wenn dies nur Inhaltsleere bedeutete, wäre es leicht zu entlarven und ungefährlich. Die emsige Ernsthaftigkeit aber, mit der der Begriff in unzähligen Konstellationen angewendet wird, läßt darauf schließen, daß mit ihm noch etwas anderes, dem Recht wirklich Wesentliches angesprochen werden soll: nicht mehr und nicht weniger als ein Stück materieller Gerechtigkeit, vielleicht sogar die ganze. Eine Lösung, welche im Einzelfall der Verhältnismäßigkeit entspricht, kann doch nicht wirklich ungerecht sein, und sei es auch nur deshalb, weil es zum immerhin noch faßbaren Kern des Begriffes gehört, daß keinem allzuviel von dem genommen wird, was er hat, was ihm also, nach dem im Recht immerhin bedeutsamen Bestandsschutzdenken, "irgendwie auch zusteht". Nun mag dies nicht Ausdruck einer absoluten, optimalen Gerechtigkeitsverwirklichung97 sein, so wie eben die Verhältnismäßigkeit in der Praxis auch immer nur ein letztes Korrektiv darstellt. 95 Etwa im Kriegsfolgenrecht (vgl. Bodenrefonnurteile, BVerfGE 46, 268; 84, 90), als "Ausgleich" unterhalb der Enteignungsschwelle (vgl. zum Wasserrecht Kirnrninich, 0., in: BK z. GG, Art. 14 Rdnrn. 293 ff., 346; Gieseke, P./Wiedernann, W./Czychowski, M., Komm. z. Wasserhaushaltsgesetz, 6. Aufl. 1992, § 18 und § 20 Rdnrn. 1-3), oder bei Überschreitung des Inhaltsbestimmungsrechts des Gesetzgebers (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) neuerdings in der Rechtsprechung (des BVerwG DVBl. 1990, S. 585 (587); DVBl. 1993, S. 1141; BVerwGE 77, 295 (297 f.); 80, 184 (191 f.); 81, 329 (347); 84, 361 (368)). 96 Vgl. zum "Kompromiß" Jöhr, w.A., Der Kompromiß als Problem der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsethik, Recht und Staat 1958; Schachtschneider (Fn. 18), S. 622 ff.; Canaris (Fn.84); vgl. im übrigen unten C, VII. 97 Die ja an sich in der Rechtslehre immer auf Skepsis gestoßen ist, vgl. Bydlinski (Fn. 10); Kriele, M., Kriterien der Gerechtigkeit, 1963; Krüger (Fn. 21), S. 718 f.; Rüthers, B., Das Ungerechte an der Gerechtigkeit: Defizite eines Begrif-

IV. Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in Verhältnismäßigkeit" 41

Wer sich aber nicht darüber beklagen darf, daß er unverhältnismäßig belastet werde, durch einen staatlichen Eingriff oder die Verweigerung einer Staatswohltat - wie könnte dieser geltend machen, er werde ungerecht behandelt? Andererseits ist schwer zu definieren, was denn eine "Gerechtigkeit", mit der sich Richter ja nur wenig beschäftigen98 , der" Verhältnismäßigkeit" , von der sie weit häufiger sprechen, noch hinzufügen könnte, wodurch sie sich überhaupt von ihr unterschiede. Allenfalls doch noch dadurch, daß hier nicht mit voller Genauigkeit all das getroffen, verwirklicht wird, was jeder Beteiligte im Grunde für sich in Anspruch nehmen kann - doch ist dies nicht eine Erscheinung des sozialen, letztlich rechtlichen Risikos allen Gemeinschaftslebens? Ist damit Verhältnismäßigkeit nicht nur Ausdruck einer Gerechtigkeit, die sich eben einen gewissen sozialen Risikoabschlag gefallen lassen muß? Dann aber bezeichnet das Wort doch im Grunde eine "Gerechtigkeitsannäherung" , wenn es nicht gar, positiv gewendet, Ausdruck einer kritischen Bescheidenheit im Nachdenken über die Möglichkeiten menschlicher Gerechtigkeit ist, welche den Juristen allgemein ziert, besonders in einer Zeit zerfallender Werte und kaum mehr beherrschbarer Technik. In der Tat: Hier begegnet die Betrachtung einem Gerechtigkeits-Resignationsbegriff; in dem Wort "Verhältnis" liegt bereits eingeschlossen etwas von einer Flexibilität, von einem "Mehr oder Weniger" der Annäherung an absolute juristische Richtigkeit, an das Ideal der mit Mitteln des Rechts verwirklichten Gerechtigkeit. Deshalb erscheint das Wort wie geschaffen, ein juristischer Modebegriff unserer Zeit zu werden, in welchem deren ganze Skepsis eingeschlossen ist. Verhältnismäßigkeit - das ist doch im Grunde "verhältnismäßig viel Gerechtigkeit". Die Unbestimmtheit des Begriffsinhalts macht das Wort zum guten Annäherungsbegriff - und was wäre wieder ein besseres Kernwort unserer Zeit als der vorsichtige "approach", der eben alles anspricht, nichts verspricht? Wenn die Verhältnismäßigkeit ein solches auch nur teilweises oder annäherungsmäßiges Gerechtigkeitsversprechen einlösen wollte, wäre sie vertiefender juristischer Betrachtung in dieser Studie so wenig zugänglich wie jene Gerechtigkeit, der sie zu nähern sich vorgäbe. Nicht auszuschließen allerdings ist, daß dieses Gerechtigkeitsstreben das Pafes, 1991; Sauer, w., Die Gerechtigkeit, 1959; neuerd. Dreier, R., Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, S. 580 ff. 98 In der Rechtsprechung des BVerfG kommt Gerechtigkeit, als zentraler Begriff, allenfalls vor bei der Definition der Willkür, vgl. BVerfGE 4, 352 (357 f.); 9,334 (337); 81, 156 (206 f.).

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

thos, wenn nicht sogar das Ethos darstellt, welches die Verhältnismäßigkeit heute trägt und zum öffentlich-rechtlichen Kernbegriff werden läßt. Wenn demgegenüber hier im folgenden entzaubert werden muß, so soll dies nicht bedeuten, daß der Gerechtigkeitsbezug des Begriffs als solcher ausscheiden müßte. Auch kann Verhältnismäßigkeit als eine gewisse Annäherung an materielle Gerechtigkeit durchaus dann von hohem Interesse sein, wenn der Begriff nicht mit der Iustitia identifiziert, sondern als eine Etappe auf dem Wege zu ihr, in diesem Sinn eben wirklich als eine Annäherung verstanden werden soll. Dann aber gilt es, zunächst den Inhalt dessen, was nun verhältnismäßig sein soll, mit all seinen Chancen und Risiken selbständig, in diesem Sinn "gerechtigkeitsunabhängig" zu beschreiben, ihn nicht von Anfang an mit allzu hehren Ansprüchen zu überfrachten. Dieser Versuchung muß widerstanden werden, sie müßte in Gerechtigkeitsillusion enden. Gesucht wird im folgenden allenfalls nach etwas Bescheidenem, das sich schon zufrieden gibt mit einigen Lösungsansätzen oder -korrekturen, die es dann auch verdienen, Annäherung an Gerechtigkeit genannt zu werden - und eben nicht auf einer königlichen Straße, sondern nur einem von vielen Wegen zu dem verschleierten Ideal allen Rechts.

2. Verhältnismäßigkeit - Degenerationsgefahren für ein freiheitliches Rechtssystem ~

Es genügt nicht, sich die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieses Begriffes auf der Suche nach der Gerechtigkeit stets zu vergegenwärtigen. Ein Programm seiner Betrachtung muß sich weit mehr vorgeben: Alle möglichen, vor allem auch die problematischen Wirkungen dieses nur wenig bisher entfalteten Begriffsinhalts gilt es herauszufinden und näher zu bestimmen. Wenn der Einsatz der Verhältnismäßigkeitskategorie in einem konkreten Einzelfall das ohne sie gefundene Ergebnis nicht wesentlich zu verändern vermag, so könnte dies dort, wie für das Rechtssystem und die Staatsform überhaupt, wohl unschädlich sein. Kommen darin aber Tendenzen illusionärer Gerechtigkeitsfindung, der Verharmlosung von Gefahren für die Freiheit oder für die Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Ordnungskraft zum Ausdruck, so sind dies Zeichen eines gefährlichen Degenerationsprozesses im Öffentlichen Recht als solchem. Die Betrachtung einer mit derartigem Anspruch auftretenden Begrifflichkeit muß also immer den Willen zu einer "Kritik der Verhältnismäßigkeit" einschließen, die vor allem zutage fördert, was sich an Krypto-Tendenzen dahinter verbergen könnte, welche Demokratiewidrigkeit, Frei-

IV. Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in Verhältnismäßigkeit" 43

heitswidrigkeit, Rechtswidrigkeit unter solchem Deckmantel vielleicht unbemerkt einhergeht. Vor allem gilt es stets zu prüfen, und bis in Einzelheiten hinein, ob die Anwendung dieses Begriffes in der Praxis nicht zum geraden Gegenteil jener Ausgewogenheit führt, welche doch in Abwägung hergestellt werden soll. Wohl könnte es ja sein, daß unter einem "guten Wort", unter dem Versprechen einer neuen, verfeinerten Rechtstechnik, sich am Ende nichts anderes verbirgt als Auflösung normativer Begriffe, die im ordre de moufti endet. Mit Sicherheit hat es die folgende Betrachtung mit etwas zu tun wie einem Beruhigungsbegriff - gerade deshalb sollte schon das Wort geistige Unruhe erzeugen. Vielleicht könnte es sich ja herausstellen, daß dort, wo scheinbar nur Grenzkorrekturen versprochen werden, eine Kernrnutation des Öffentlichen Rechts der Demokratie einsetzt. Dann hätte die Untersuchung ihr Ziel schon erreicht, wenn sie zur Wachsamkeit führt, jedenfalls zu Präzisierungen, durch welche die Gefahr unabsehbarer Verdeckungen gebannt wird. Nicht zuletzt wäre dann ein Beitrag dazu geleistet, daß nicht gerade dort, wo die Suche nach Verhältnismäßigkeit erhöhte Sorgfalt verspricht - die letzte Sorgfalt sauberer Begriffstechnik verloren geht. Verunklarungsbegriffe, wie etwa "Sozialstaatlichkeit,,99 oder "Wesensgehalt" 100 einer Freiheit sind schon schwere Hypotheken für das heutige Öffentliche Recht - nicht zuletzt im Namen der Verhältnismäßigkeit; eine allgemein in Verhältnismäßigkeit degenerierende Rechtsstaatlichkeit könnte Schlimmeres bringen das Gegenteil jenes Gesetzes, das sie verspricht, nach dem sie angetreten: mangelnde rechtliche Präzision. 3. Im Namen der Verhältnismäßigkeit ein letztes, gottähnliches Richterwort

Abwägung und Verhältnismäßigkeit kamen und kommen ins Recht auf leisen, bescheidenen Sohlen, meist als letztes Korrektiv oder als abschließende Bestätigung mühevoller Einzelfallrechtsprechung, nicht in blockhafter Revolution, sondern im Abschleifen von Kanten. Und doch liegt in all dem ein erstaunlicher Gerechtigkeitsanspruch - von ihm 99 Zur Problematik des Begriffs vgl. f. viele Kreuzer, P./Löw, R. (Hrsg.), Chancen und Grenzen des Sozialstaats, 1983; Neumann, v., Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, 1992; Stern (Fn. 1), S. 912 f.; Zacher, H.-F., Das soziale Staatsziel, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 25 Rdnrn. 61 ff. 100 Häberle, P., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs.2 GG, 3. Auf!. 1993; Krebs, w., in: von Münch/Kunig (Fn. 26), Art. 19 Rdnr. 22; Stelzer, M., Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1991, S. 47 ff. m. weit. Nachw.

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A. "Abwägung überall" - eine Grundsatzfrage von Recht und Staat

war bereits die Rede - im Grunde aber noch mehr: Hier darf eine letzte, korrigierende Entscheidung erwartet werden, aus der Souveränität eben des gerade im Öffentlichen Recht vielbeschworenen "letzten Wortes" heraus. Wer als Richter oder Verwaltungsbeamter abweicht vom Ergebnis gesetzesorientierter Rechtsfindung, der stellt in diesem seinem Ausspruch, im Namen der Verhältnismäßigkeit, letztlich etwas her wie einen Ausnahmezustand 101 , in dem die anzuwendende Norm ihre begründende Kraft verliert, im Namen übergeordneter systematischer Gesichtspunkte oder von normtranszendierenden Tatsachen. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt stets etwas von einem Hinwegschreiten über das Gesetz - dies wird sich noch näher zeigen - von einer normüberschreitenden Gewalt, die über den Ausnahmezustand entscheidet, sich über ihn stellt im Namen höherer Gerechtigkeit oder einfach der Sachgerechtigkeit des Einzelfalles. Damit wird sie "zum Diktator des Einzelfalles" , vielleicht wird in ihr sogar "der Einzelfall zu seinem eigenen Diktator". Der Entscheidende orientiert sich hier, bei allem Abstand, doch an etwas wie einer geradezu gottähnlichen RichtersteIlung, und gerade dies wird von ihm erwartet: daß er nämlich gesetzesgelöst, nach etwas wie einem neuen Freirecht, über dem Gesetz stehe, so wie Gott sein eigenes Gesetz in souveräner Einzelentscheidung brechen wie auch überhöhend vollenden kann. Dem Naturrecht vergangener Jahrzehnte 102 konnte entgegengehalten werden, der Urteilende trete dem weltlichen Gesetzgeber als Richter in Gottähnlichkeit gegenüber, setze sich über das Diesseits hinweg. Doch dort mußte er immerhin noch die Inhalte der von ihm als höheres Recht angewendeten Normen aus Tradition oder Glaubensgut erschließen, begründen; wer auf Verhältnismäßigkeit hin entscheiden darf, der steht in einer noch weit größeren, wahrhaft gottähnlichen Beurteilungsfreiheit über jedem Gesetz, im letzten nicht einer Verhältnismäßigkeit, sondern den Verhältnissen eines Einzelfalles verpflichtet. Etwas vom Anspruch eines gottähnlichen, normgelösten, allein der kreatürlichen Faktizität untergeordneten Richterrechts kann also durchaus in jener Verhältnismäßigkeit liegen, welche über kleinere Grenzkorrekturen hinaus vielleicht gar zu einer staatlichen EntscheidungsGrundstimmung hinaufwachsen will. Sicher tritt dies dem Leser nicht in den einfachen Sätzen am Schluß von Entscheidungen entgegen, in 101

Zum Ausnahmezustand in diesem Sinn und zum "letzten Wort" vgl.

Schmitt (Fn. 15), 110 f.; ders., Die Diktatur, Anhang: Die Diktatur des Reichsprä-

sidenten, 4. Aufl. 1978, S. 214 ff. 102 Für die Zeit nach 1945 vgl. Bydlinski (Fn. 10), S. 258 ff.; Messner, J., Naturrecht, 1966; Verdross, A., Statisches und dynamisches Naturrecht, 1971.

N. Versuchungen und Illusionen eines "Denkens in Verhältnismäßigkeit" 45

denen es heißt, daß diese auch der Verhältnismäßigkeit nicht widersprächen oder in ihrem Namen in diese oder jene Richtung zu korrigieren seien. Der an Normen gewohnten Gegenwart mag all dies gerade noch als Randbemerkung erscheinen, so selbstverständlich ist ihr das Gesetz. Doch daß sich hier jemand über dieses stellt, wie es im Grunde nur ein Gott vermag, der sein eigenes Gesetz brechen darf - dieser Anspruch gottähnlicher Gerechtigkeitswahrung trägt sicher im letzten, wenn auch unausgesprochen, eine mächtige Entwicklung in viele Bereiche. Die folgenden Betrachtungen werden sich immer wieder mit der Möglichkeit zu beschäftigen haben, daß in der Verhältnismäßigkeit eine neue Rechtstechnik versucht wird; darin aber einen Ausdruck gottähnlicher Macht oder gar göttlichen Wesens sehen zu wollen, in einem normgelösten Staat, der in die Rolle eines "Rechtsschöpfers in Freiheit" treten will - ist dies nicht absurde Übersteigerung? Und doch - dieser tiefere Hintergrund muß deutlich bleiben, denn Verhältnismäßigkeit könnte nicht in solcher Breite sich entfalten, wäre sie nicht getragen durch etwas wie einen höheren Anspruch: Anfang einer neuen Gerechtigkeit zu sein, im Sieg des Rechts über die Gesetze 103 .

103 So wie es ja auch in der "Bindung der Gerichtsbarkeit an Gesetz und Recht" gedacht war - jetzt Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI. Rdnm. 1,24,49.

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten Abwägung kann entweder verstanden werden als eine "Technik der Grenzkorrekturen" staatlicher Entscheidungen - oder sie ist eben doch weit mehr: Auf diesen Vorgang laufen letztlich die zentralen Entscheidungen der Staatsgewalt hinaus, in ihr wird das "letzte Wort" des staatlichen Souveräns gesprochen, auf sie verweisen letztlich die höchsten Norminhalte, von den allgemeinen Grundsätzen der öffentlich-rechtlichen Teilkodifikationen, des Bau- und Naturschutzrechts etwa, bis hin zu den Grundrechten. Dies spricht dafür, daß Verhältnismäßigkeit staatsgrundsätzliche Rechtstechnik ist, der Staat letztlich vor allem Hüter der Proportionen des Rechts. Die bisherige Rechtsentwicklung, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem, weist deutlich in diese letztere Richtung: Die Verhältnismäßigkeit ist heute im Öffentlichen Recht weit mehr als es eine "letzte Gerechtigkeitskontrolle" nach den Generalklausein des Bürgerlichen Rechts je sein kann. Dann aber muß dieses Rechtsinstrument - denn ein solches soll dies wohl sein, das Bild der Waage beweist es - zuallererst die technische Güteprüfung seiner Leistungsfähigkeit bestehen. Diese hat dort anzusetzen, wo, nach allen bisherigen Anwendungsaltemativen, der Sinn-Mittelpunkt aller Abwägung liegen soll: in der Verfeinerung der Gerechtigkeit, in der einzelfallnahen Einbettung der rechtsstaatlichen Normen in jene Wirklichkeit, welche der Bürger der Volksherrschaft lebt, letztlich allein annimmt. Doch gerade hier treten sogleich schwere Bedenken auf.

I. Ausgewogenheit - in einer Ordnung

des staatlichen Entscheidens1

1. Ausgewogenheit statt "Entweder-Oder"? Jede Verhältnismäßigkeitslehre wird getragen vom Gedanken der Ausgewogenheit; letztlich findet sie ihre Rechtfertigung in ihm, meist unausgesprochen. Das Idealbild der Waage ist es nicht, daß eine der Waagschalen herabsinkt, es ist ihr Gleichstand. Verhältnismäßigkeit wird nicht erstrebt, damit in ihrem Namen ein Interessenkomplex aus-

I. Ausgewogenheit - in einer Ordnung des staatlichen Entscheidens?

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gegrenzt werde, oder gar "ausgemerzt" 104; hier herrscht vielmehr ein Ausgleichsdenken, das alle Gewichte zur Geltung bringen will. Welchen Sinn könnte es haben, den Rechtsstaat als Ordnung der Verhältnismäßigkeit hinzustellen, wenn von vomeherein die Tonnengewichte der öffentlichen Interessen jeden privaten Belang überwögen? Wenn dagegen der Rechtsstaat die grundsätzliche Komensurabilität, die Meßund Vergleichbarkeit öffentlicher und privater Interessen, der einen gegenüber den anderen öffentlichen Belangen voraussetzt, so steht dahinter die Idealvorstellung von einem letzten Gleichgewicht, das eben dadurch hergestellt wird, daß so lange Gewichte in eine der Schalen gelegt werden, bis der Stillstand der Waage eintritt. Dies muß ins rechtstechnische Bewußtsein der Normanwender gehoben werden: Verhältnismäßigkeit ist mehr und etwas anderes als nur ein Wort für Entscheidung, sie ist nicht nur irgendein Ergebnis eines bestimmten formalen Vorgangs der Abwägung. Diese letztere wiederum kann sich doch nicht darin erschöpfen, daß lediglich "entschieden wird" - wenn in eine ihrer Schalen sogleich das Schwert des Brennus geworfen wird, so bedarf es feinerer Instrumente zivilisierten Rechtes nicht, Schwertes Schneide entscheidet. Wenn Abwägung und Verhältnismäßigkeit degradiert werden sollen zu anderen Worten für Entscheidung, so sind sie völlig rechtsstaats-neutral, Abwägung findet dann überall statt, ganz entschieden im Massenmord. Klarheit muß darüber bestehen, daß Abwägung und Verhältnismäßigkeit "gute Worte" nur sein können, wenn sie eine besondere Entscheidungs struktur ins Öffentliche Recht bringen wollen, Ausgewogenheit, nicht einfache Machtprobe - Übermacht. Doch hier beginnen die Probleme, gerade in der Praxis. Gefordert ist doch in aller Regel die staatliche Entscheidung, um ihretwillen wird der Gang zur Staatsgewalt angetreten; Gleichgewichte könnten die Bürger untereinander in Vereinbarung herstellen, und deshalb ist und bleibt das Öffentliche Recht, mit seinen Verträgen als Ausnahmen 105, ein Entscheidungs-Recht par excellence. Das vielberufene Gewaltmonopol106 104 Ein solches Vokabular verwendete etwa der Nationalsozialismus, als ein wesentlich und ganz bewußt" unverhältnismäßiges Regime" . 105 Denn dabei muß es bleiben, trotz der VA-Ersatzfunktion des öffentlichrechtlichen Vertrages, vgl. Erichsen, H.-U., Das Verwaltungshandeln, in: Allgem. Verwaltungsrecht (hgg. v. H.-U. Erichsen), 10. Aufl. 1995, S. 367 ff.; Kopp, F., Komm. zum VwVfG, 6. Auf!. 1996, vor § 54 Rdnr. 1 (5); Maurer (Fn. 20), S. 325 ff.; Obermayer, K., in: Maunz/ObermayerlBerg/Knemeyer, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 5. Auf!. 1985, S. 191 f. 106 Isensee, J., Staat und Verfassung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 13 Rdnrn. 71 ff.; v. Münch (Fn. 12), S. 183.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

des Staates ist letztlich nichts als sein Letztentscheidungsmonopol. Wie soll entschieden werden, also einfach "Staat sein", wenn nicht - auf die Waage schlechthin verzichtet, das schwerere Gewicht durch seine Markierung schon von Anfang an in Entscheidung festgesetzt wird? Wenn es aber überhaupt etwas gibt wie ein Ethos des Proportionalen, so liegt es gerade darin, daß noch etwas anderes möglich ist als "Entweder-Oder": etwas eben wie Gleichgewicht. Eliminiert man dieses Harmoniestreben aus der Abwägung - was ist dann mit ihr gewonnen, nachdem die Staatsgewalt eben doch letztlich entscheiden muß, ja geradezu "Entscheidung ist"? Abwägung als Abschwächung harter Entscheidungen, die Verhältnismäßigkeit als Härtekiausel 107 -läuft darauf nicht die neue re Entwicklung hinaus, die immer mehr Raum diesem letzteren Begriff gibt, sich in ihm beruhigt? Wenn aber diese Suche nach "Proportionen" etwas anderes bringen soll als ein schönes Wort vom Recht als der Kunst des Guten und Gerechten - und erinnert hier nicht vieles an derartige Kunst-Terminologie? -, so müßte man sich durchringen zu einer noch ganz anderen Grundstruktur der Entscheidung: "Sowohl-als auch" statt "Entweder-Oder". Solange jedoch noch in Entscheidungen gedacht wird im Öffentlichen Recht, nicht in Übereinstimmungen 108 , muß Verhältnismäßigkeit dort am Rande stehen, sie hat keinen wirklichen Platz in dieser Welt entscheidender Macht. Um Durchsetzung geht es hier bisher noch immer, der Interessen der einen Seite, in ihren Einzelheiten oder ihrer Globalität gesehen, gegenüber denen der anderen, nicht um ihren Ausgleich. Dieser letztere Begriff müßte aber überall eingesetzt werden, soll Verhältnismäßigkeit mehr sein als eine letzte Härteklausel. Vorstellbar wäre gewiß etwas wie ein derartiger "Umbau staatlicher Entscheidungsstrukturen zu gleichgewichtiger Verhältnismäßigkeit ": Die Staatsgewalt müßte sich dann auf Entscheidungen beschränken, welche eindeutigen Machtüberhang korrigieren, Interessenübergewichte ausgleichen, nicht sie durchsetzen. Darin mag etwas liegen von der Grundstimmung eines "Schiedsrichter-Staates " 109; ein solcher Abschied vom "Entweder-Oder" als Wesen der staatlichen Entscheidung bedeutet dann aber auch - darüber muß Klarheit bestehen - eine eindeutige Schwächung staatlicher Herrschafts strukturen, der OrdnungsP., Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 48 ff., 193 ff. Und zu letzterem bedürfte es einer wahrhaft kopernikanischen Wende, wie sie angedeutet wurde in Leisner (Fn. 85), S. 22 ff. 109 Doch selbst "der Richterstaat" , im Sinne etwa von Marcic, R., Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, ist wesentlich entscheidende, nicht ausgleichende Gewalt. Der Ausgleich wird im Verfahren gesucht, er ist kein materiellrechtliches Prinzip. 107 Lerche,

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1. Ausgewogenheit - in einer Ordnung des staatlichen Entscheidens?

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kraft des staatlichen "So und nicht anders" (vgl. dazu auch noch unten C VIII). Der Sprachgebrauch allein schon legt es nahe: Verhältnismäßigkeit wird nicht durchgesetzt, es gilt, sie herzustellen. Ob der Staat in naher Zukunft bereit sein wird, sich so weit zurückzuziehen aus seinem innersten Wesen - aus der klaren Entscheidung, aus der Majestät 110 des Unverhältnismäßigen, das über allem steht - allem gegenüber durchschlägt? Können Machtanspruch und Entscheidungsinhalt derart auseinanderfallen?

2. Verhältnismäßigkeit bei unteilbaren, unabstufbaren Entscheidungen? Wenn in der Idee der Verhältnismäßigkeit etwas liegt von einem Kompromiß der Ausgewogenheit, so ließe sich dies wohl nur dort letztlich verwirklichen, wo mehr gegeben werden kann oder weniger, wo dies vielleicht noch in eine "J e-Desto" -Formel 111 sich fassen läßt: Je mehr an Gewicht in der Waagschale des Bürgers festzustellen ist und seiner Freiheiten, desto gewichtiger müssen dann jene staatlichen Belange sein, welche all dies überwiegen können. Die "Je-Desto"-Formel ist sicher ein weiteres, meist wiederum unausgesprochenes, Denkmodell aller Abwägung und Verhältnismäßigkeit. Sie richtet den Blick auf Einzelfälle, aus denen sich "jeweils" die Gewichtungen ergeben sollen, in welchen der Staat flexibel auf das zu reagieren hätte, was er in der Sphäre seiner Bürger oder von ihm anerkannter autonomer Gewalten an Interessen vorfindet. Doch gerade hier muß die Kritik einsetzen. Die meisten Entscheidungen, welche in Verhältnismäßigkeits-Abwägung fallen sollen, sind ihrem Wesen nach nicht wirklich teilbar 112 , daher aber auch häufig der Abstufung nicht zugänglich. Dies gerade aber wäre Voraussetzung für die Anwendung einer "Je-Desto"-Formel, welche die Waagschalen jeweils gleichmäßig schwer zu belasten sucht. 110 " Majestät " wird immer ein Beiwort allein für das Hoheitliche, Hoheitsvolle sein, in dem die "Würde des Staates" (iSv. Partseh, K-J., Von der Würde des Staates, 1967) sich zeigt und, mit ihrem "Mehr-Gehalt" - durchschlägt. 111 Wie sie der Rechtsprechung des BVerfG sowohl zu Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 GG in der "Wechselwirkungslehre" zugrunde liegt, vgl. BVerfGE 7, 198 (208 f.); 71, 206 (214), wie auch zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Art. 14 Abs. 3 GG, bei der Judikatur zu den "sozialen Bezügen", vgl. etwa BVerfGE 53,257 (292 f.); 68, 361 (368). 112 In dem Sinne des BGB, daß die Teile voneinander isoliert gedacht werden könnten - oder eben nicht, wie i.F. der notwendigen Bestandteile; ähnlich bei der Auslegung von Vertragsinhalten auf solche "Teilbarkeit" hin.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Eine Demonstration wird verboten oder gestattet, einem Baugesuch entsprochen oder eben nicht. Die Unbedingtheit des Verlangens geht meist schon vom Bürger aus, der Staat reagiert auf sie in der Unbedingtheit seiner "Entweder-Oder-Entscheidung". Zwischenlösungen sind in vielen Fällen gar nicht möglich, die Norm erzwingt eine Lösung - oder sie gestattet eben nichts. Auch gilt es, einen Irrtum zu vermeiden: Die "JeDesto "-Formel läuft letztlich doch meist auch hinaus auf eine klare, oft harte Entscheidung. Sie wird dann eben, "je nach dem", pro oder contra fallen, aber keineswegs notwendig in interessenteilender, gleichgewichtender Ausgewogenheit. Diese Formel vermag also die Probleme nicht grundsätzlich auszuräumen, welche sich aus der im vorhergehenden Kapitel untersuchten Entscheidungsnotwendigkeit ergeben. Sie kann Entscheidungen verfeinern, sie schwächt deren Härte nicht notwendig ab. Nun mag man der Verhältnismäßigkeit zumindest ein Postulat entnehmen: Es sollen im Zweifel die zu entscheidenden Fälle "teilbar gemacht" werden, damit sie sodann flexibel, in verhältnismäßigen Teilbelastungen, entschieden werden. Im Verwaltungsrecht etwa würde dies auf die Forderung hinauslaufen, im Zweifel und unabhängig von Bürgeranträgen vor Ablehnung die Möglichkeit von Auflagen 113 stets zu prüfen. Damit würde das Instrument der Auflage geradezu in den Mittelpunkt der Administrativtätigkeit treten, anders als es bisher in der Praxis der Fall ist. Rechnung tragen würde dies sogar der doch immer wieder betonten Gestaltungsfreiheit114 und daher auch Gestaltungsaufgabe einer Verwaltung, die eben klüger zu sein hat als der in der Regel "absolute" Anträge stellende Bürger, die dessen Forderungen dann wenigstens zum Teil erfüllen könnte - eben "verhältnismäßig". Auch daß damit der Hoheitsgewalt-Einsatz letztlich häufig "quantifiziert" würde, stünde wohl kaum einer Vorstellung entgegen, die eben mit ihrer teilenden Abwägung gerade versucht, Qualität in Quantität zu verwandeln - mag man dem Recht auch die umgekehrte Funktion häufig zuschreiben. In solcher quantifizierender Teilung könnte sogar etwas bleiben von einem obrigkeitlichen Denken vergangener Zeiten, in dem die Hoheit des Staates sich dadurch definierte, daß seine Rede sich im -letztlich gottähnlichen - "Ja, ja / Nein, nein" erschöpfte. Und liberalem Denken entspricht es durchaus, daß der Bürger wenn schon nicht seinen Freiheitsraum, so doch seine Freiheitsforderungen jeweils 113 Maurer (Fn. 20), S. 310 f.; Schachei, J., Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten, Diss. Berlin 1979, S. 150 ff. 114 Vgl. Badura, P., Das Verwaltungsverfahren, in: Allg. Verwaltungsrecht (Fn. 105), S. 507 ff.; derB., Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 7, 1992, § 163 Rdnrn. 7 ff.

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zunächst selbst definiere 115, daß Rechtsgestaltung sich vollziehe zwischen seinem ersten Wort und dem letzten zu-teilenden Wort des Staates. Doch damit ist die Lösung einer "Verhältnismäßigkeit durch Teilbarkeit" längst noch nicht gelungen; Teilungen lassen sich auf diese Weise vielleicht nach Entscheidungsgegenstand herstellen, nicht oder kaum quantifizierbar bleiben jedoch die in die Waagschale zu werfenden einzelnen Interessen. Im Naturschutzrecht sind etwa reihenweise Belange 116 aufgeführt, welche bei der Abwägung gegenüber privaten Interessen berücksichtigt werden müssen, doch es fehlt dort an jeder auch nur ansatzweisen gesetzlichen Vorgabe für Teilbarkeiten, Gewichtsrelationen zwischen diesen Interessen, an Regelungen, wie einzelnen von ihnen durch bestimmte Auflagen Rechnung zu tragen wäre - gesetzlich gewichtet! Schon deshalb bleibt also, in aller Regel, die Entscheidung als solche eine unteilbare Einheit, in der Zusammenschau ganz unterschiedlicher Interessen, von denen eben eines in der Regel durchschlägt. Gerade dies wird ja auch in neuerer Verwaltungsgesetzgebung zunehmend angestrebt, welche die Konzentration der Entscheidungskompetenz begünstigt117; die Rechtsstaatlichkeit 118 fordert es im Namen allseitiger, aber möglichst überschaubarer, bei einem Träger zusammengefaßter Bewertung - und beruhigt sich auch rasch dabei. Wie aber soll in Teilbarkeit gewichtet und ausgewogen werden, was doch vom Ansatz her auf integrierte Unteilbarkeit der Entscheidungsfindung angelegt ist? Selbst wenn aber eine staatliche, insbesondere eine Verwaltungsentscheidung nach ihrem Gegenstand, oder wenigstens aus ihrer Motivation heraus, eindeutig teilbar wäre, so stünde alle Abwägung doch noch vor einem weiteren, ganz grundsätzlichen Problem: Normanwendung soll sie, wenn auch verfeinernd, doch immer noch bleiben. Der Sinn der normanwendenden Subsumtion119 liegt aber gerade darin, daß in der gesetzlichen Bestimmung eine gewisse Einheit der nach ihr zu treffenden Entscheidung bereits vorgedacht, ja vorweggenommen ist. Sie Isensee, J., Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980. Vgl. §§ 1,2 BNatSchG sowie Bender, B.lSpaIWasser, R.lEngel, R., Umweltrecht, 3. Auf!. 1995, S. 139 ff.; Hoppe/Beckmann (Fn. 172), S. 290 ff. 117 Vgl. etwa Baurecht und Umweltverträglichkeitsprüfung, dazu: Battis, U.I Krautzberger, M.lLöhr, R.-P., BauGB, 5. Auf!. 1996, § 1 Rdnrn. 76 d f.; Arndt, H.w., Umweltrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1992, S. 853 f. 118 von Münch (Fn. 12), S. 345 f.; Schnapp, F.E., in: von MünchlKunig (Fn. 26), Art. 20 Rdnr. 24 f.; Stern (Fn. 1), S. 796 f. 119 Larenz (Fn. 1), S. 271 ff.; Pawlowski (Fn. 1), S. 65 ff. 115

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

kann nicht aufgelöst werden in beliebige Teil-Dezisionen, welche dann leichter mit den Interessen der Betroffenen in eine ausgewogene Verhältnismäßigkeits-Beziehung gebracht werden könnten. Ausdruck dieses normativen Vereinheitlichungsstrebens ist es ja unter anderem, daß Bedingungen oder Auflagen in der Regel vom Gesetzgeber120 selbst als Teil-Lösungen ausdrücklich vorgesehen sein müssen, während sonst nur das Entweder-Oder des Erfolges oder der Ablehnung in Betracht kommt. Nicht nur der Freiheit suchende Bürger, sondern bereits der Gesetzgeber bestimmt damit weitgehend die möglichen Antragsinhalte; wäre es denn auch mit der Gesetzesunterworfenheit der Verwaltung vereinbar, "irgendwelche Verwaltungsakt-Inhalte" zu gestalten, damit elastisch der Verhältnismäßigkeit und einer aus ihr abgeleiteten "JeDesto"-Formel Rechnung zu tragen? Zu wenig ist bisher bewußt geworden, bei den immer wieder erhobenen Forderungen nach flexibel-einzelfallangepaßter, bürgernaher Verwaltungspraxis 121 , daß eine solche dem Einzelfall in Abwägung möglichst angenäherte "Entscheidungs-Teilung", ein Zerlegen der Hoheitsrnacht in einzelne Anordnungen und Orientierungen - wiederum den Rechtsstaat 122 in Gefahr bringen könnte: Er steht und fällt ja mit der Vorstellung vom großen "äußeren Freiheitsraum" des Bürgers, in den der Staat nur begrenzt, im Idealfall sogar nur punktuell, eindringen darf. Alles, was außerhalb dieser Eingriffsschranken geschieht, ist nicht etwa einem flexiblen, interessenabwägenden, Verhältnismäßigkeiten herstellenden Miteinander von Staat und Bürger in einer frei entscheidungsteilenden Gestaltung überlassen. Nach wie vor steht vielmehr der Gewaltunterworfene seinem Hoheitsstaat gegenüber, er muß versuchen, dessen Aktionen möglichst klar normativ einzugrenzen, nicht in überbordender Flexibilität" überall ein wenig wirksam sein zu lassen". Geht man aber von diesem Freiheitsdogma aus, wie es die Legalität ja verwirklichen will, so muß doch innerhalb dieser staatlichen Eingriffsräume das hoheitliche Imperium auch grundsätzlich gewahrt werden, mit dem ganzen Übergewicht einer Unbedingtheit, welche eine "Gewaltenteilung von Macht und Freiheit" 123, zwischen Staat und Bürger, ablehntdamit aber letztlich doch Verhältnismäßigkeit in ihren Beziehungen. 120 Vgl. Glitz, H., Gesetzmäßigkeitsprinzip und Übermaßverbot in ihrer Bedeutung für die Sachgemäßheit verwaltungsrechtlicher Auflagen, Diss. Münster 1975, S. 48 ff.; Roellecke, G., Gesetzmäßigkeitsprinzip und verwaltungsrechtliche Auflagen, DÖV 1968, S. 333 (337 ff.). 121 Vgl. LecheIer (Fn. 94), S. 103 f.; Püttner (Fn. 94), S. 310 ff.; Thieme (Fn. 94), S. 98 ff. 122 Gusy, Ch., Der Vorrang des Gesetzes, JuS 1983, S. 189 (191 ff.); Hesse (Fn. 5), S. 81 f.; von Münch (Fn. 12), S. 139 f.; Ossenbühl (Fn. 20), § 62 Rdnrn. 3 ff.

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Der Rechtsstaat hat nur darin als Ordnung sich bewähren können, daß Eingriffsräume vielleicht weit, aber unbedingt-unteilbar festgelegt wurden, wie man es aus dem klassischen Recht der polizeilichen Generalklausel kennt, nicht wieder unterwandert, voll relativiert durch Abwägungen im Namen der Verhältnismäßigkeit. Gewiß waren es gerade diese öffentlich-rechtlichen Generalklauseln, welche das Verhältnismäßigkeitsdenken begünstigt haben; doch die Hoheitsentscheidungen wurden dadurch nicht "wesentlich teilbar", abstufbar, was wirkliche Abwägung aber voraussetzen würde. So bleibt es denn, schon im Namen der Rechtsstaatlichkeit und seiner Normen, beim grundsätzlichen "Ja oder Nein" der staatlichen Entscheidung; die Feinabstimmung gleichgewichtender Entscheidungsteilungen kann im eigentlichen Hoheitsbereich nur sehr begrenzt stattfinden. Er kennt Divide et impera, Teilung vielleicht als Vorstufe, als präzisierende Voraussetzung der Entscheidung - stets aber als ihre Verstärkung, nicht als ihre Abschwächung.

3. Abwägung in Gleichordnung .Ansätze im öffentlich-rechtlichen Vertrag und bei den öffentlichen Ersatzleistungen

Der modeme Staat der Volksherrschaft setzt auf Über-Unterordnung, gerade in seiner Grundform der Rechtsstaatlichkeit legitimiert er sich letztlich nur daraus. Vergangene Zeiten, bis ins 18. Jahrhundert, hatten das Freiheitsproblem mit den Instrumenten des Zivilrechts lösen, letztlich überhöhen, ja eliminieren wollen; in den Formen der Fiskustheorie 124 hat sich dies bis ins öffentliche Recht des 19. Jahrhunderts fortgesetzt. Das klassische Zivilrecht kennt kein Freiheitsproblem von der Art, wie es sich "neben ihm", im öffentlichen Recht, mit gewaltiger Sprengkraft, aus zünftisch-privatrechtlichen Verkrustungen heraus, im 17. und 18. Jahrhundert entfaltet hat. Verhältnismäßigkeit und Abwägung waren deshalb im Zivilrecht von Alters her Selbstverständlichkeiten, weil sich seine Entscheidungen auf der Ebene der Gleichordnung abspielten. Ein Staat, der von seinem Souveränitätsanspruch nicht lassen will, 123 Der Begriff der "Gewaltenteilung", mit seiner immanenten Gleichgewichtigkeit, ist nicht auf die Staat-Bürger-Beziehung anwendbar, vgl. zum Begr. Badura (Fn.87), S.268; ders. (Fn. 71), § 159 Rdnrn. 11 ff., 15; Stern (Fn. 12), S. 513 ff. 124 Vgl. Forsthoff (Fn. 43); Lassar (Fn. 43); Mayer (Fn. 7), S. 49 ff.; vgl. auch Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. nUl, 1988, S. 1396 f.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

wird dergestalt verfeinerte Gerechtigkeit nie in seinen Beziehungen zum Bürger verwirklichen können, wenn er nicht wird wie dieser - in öffentlich-rechtlicher Gleichordnung. Und diese These soll hier stehen: Nur dort, wo zivilrechtsähnliche Gleichordnungsbeziehungen im Staats-Bürgerverhältnis hergestellt werden, können sich Abwägung und Verhältnismäßigkeit voll entfalten - wenn sich eben aus solchen Bereichen die Befehlsnormen der Gesetze des Volkssouveräns weithin und weit zurückziehen (dazu noch unten eIl). Dazu aber ist gerade die Demokratie, trotz mancher Tendenzen, noch immer nicht bereit, vielleicht wird sie es nie sein, aus der Sorge heraus, in gleichordnender Verhältnismäßigkeit ihren stets anarchiegefährdeten Staat125 vollends zu verlieren. Überspitzt formuliert: Das eigentliche, grundlegende Abwägungshindemis ist - die Hoheitsgewalt selbst. Einsichtig wird dies sogleich, betrachtet man Gestaltungsentwicklungen im öffentlichen, vor allem im Verwaltungsrecht, in denen sich gerade neuerdings Verhältnismäßigkeit stärker zu entfalten beginnt. a) Der öffentlich-rechtliche Vertrag 126 wird, soll er überhaupt eine Zukunft haben, in all seinen Spielarten, bis in die Vorformen des informellen Verwaltungshandelns 127 , in Interessenabwägung auszulegen sein, ganz wesentlich auf Verhältnismäßigkeit128 gerichtet. Der tiefere Sinn eines Staats-Bürger-Gesprächs, der Fixierung seiner Ergebnisse in einer Übereinkunft, kann doch nur darin gesehen werden, daß das grundsätzliche Entscheidungs-Diktat einer Seite aufhört, wie es dem Verwaltungsakt eben, nach wie vor, wesentlich bleibt. Man mag dies letztere mit Worten der Verhältnismäßigkeit beschönigen - wesentlich geht mit Erlaß eines Verwaltungsaktes eine Waagschale eben doch zunächst tief nach unten, die der staatlichen Interessen, in deren abwägenden Beurteilung ja auch die privaten letztlich " aufgehen" 129; ganz nach oben schnellt sie nur, wenn der Richter mit Kassationsentscheidung eingreift. Die Iustitia distributiva ist eben wesentlich abwägungsfeindlich; mit Waagen wird nicht verteilt oder nur aufgrund einer vorgängigen 125 Leisner

(Fn. 47), S. 344 ff. Vgl. die in Fn. 105 Zitierten, sowie Bank, H.J., in: Stelkens/Bonk/Sachs, Komm. zum VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 54 Rdnrn. 1 ff.; Scherzberg, A., Grundfragen des verwaltungsrechtlichen Vertrages, JuS 1992, S. 205 ff. 127 Bank (Fn. 126), § 9 Rdnrn. 111 ff., 164 m.weit.Nachw., § 54 Rdnrn. 2, 18 f.; Maurer (Fn. 20), S. 395 ff. 128 Kopp (Fn. 105), Vorb. § 54 Rdnr. 5; Maurer, H., Der Verwaltungsvertrag Probleme und Möglichkeiten, DVBl. 1989, S. 798 (805 f.); Obermayer (Fn. 105), S. 191 f.; Wolff/Bachof (Fn. 50), S. 789 ff. mit weit. Nachw.; siehe auch BVerwGE 23, 213 (216). 129 Leisner, w., Privatinteressen als öffentliches Interesse, DÖV 1970, S. 217 ff. =der Staat, 1994. 126

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Gleichheitsentscheidung; sie liegt jedoch aller Verhältnismäßigkeitsprüfung voraus (vgl. auch unten 11). Gleichwertiges aber wird ausgeglichen, getauscht, in Iustitia commutativa. Der öffentlich-rechtliche Vertrag überträgt das typische Bild der privaten Vereinbarung in den staatlichen Raum: Zwei Partner, welche ihre Interessen Stück für Stück, wesentlich geteilt, in ihre jeweilige Waage werfen - und wieder herausnehmen, bis diese den Stillstand verhältnismäßiger Gleichheit, ausgewogener Interessen eben, erreicht. Hier können Interessen, bis in letzte Einzelheiten hinein, geteilt, gewichtet, definiert werden, von jenen jeweils, welche allein dies wirklich vermögen, weil es die ihren sind. Das Problem der staats bezogenen Einheit der Entscheidung tritt ebensowenig auf wie das seiner normativen Unteilbarkeit, ziehen sich doch die Normen gerade aus diesem Raum zurück, den sie der Gleichordnungs-Abwägung überlassen, denn sie ist es, welche weithin an die Stelle der Gesetze tritt 130 . Der öffentlich-rechtliche Vertrag ist also weit mehr als eine punktuelle Konzession, in welcher der Volkssouverän sein Imperium gegenüber dem Bürger in Gleichordnung zurücknimmt; er kann begrifflich weder der Legalität mit ihrer strengen verwaUungsaktlichen Bindung untergeordnet, noch als nur ausnahmsweiser 131 Ersatz derselben betrachtet werden. Vielmehr ist dieser Vertrag als solcher nur als eine Grundentscheidung 132 für Gleichordnung in den Staat-Bürgerbeziehungen wirklich vorstellbar - getragen dann sogleich von einem abwägenden Verhältnismäßigkeitsdenken, welches in den Über-Unterordnungsbeziehungen nie vergleichbaren Platz finden kann. Die bisherige Dogmatik des öffentlich-rechtlichen Vertrages hat sich allerdings dieser Prinzipienfrage bisher, soweit ersichtlich, nirgends wirklich gestellt 133 ; bei ihr kann es aber keineswegs nur darum gehen, über die Hintertüre der Vertraglichkeit punktuell bürgerlich-rechtliche Interessenabwägung in das Öffentliche Recht einzuführen. Dies ist eben ein Bereich, der von politischen Grundentscheidungen der Herrschenden bestimmt ist, der sich nur schwer durch Ent-Obrigkeitlichungen in 130 Wenn auch in den Schranken der Gesetze, vgl. Erichsen (Fn. lOS), S. 371 ff.; Kopp (Fn. lOS), Vorb. § 54 Rdnrn. 7 f., § 54 Rdnm. 22 f.; Kunig, P., Verträge und Absprachen zwischen Verwaltung und Privaten, DVBI. 1992, S. 1193 (1197 f.); Maurer (Fn. 128), S. 804 f. 131 Als "Ausnahme" ist denn auch nach VwVfG der öffentlich-rechtliche Vertrag nicht zu verstehen, vgl. Kopp (Fn. 105), Vorb. § 54 Rdnm. 2 f.; sowie die in Fn. 105 Zitierten. 132 Erkannt hat dies Kormann, K. in seinem Versuch, ein "System rechtsgeschäftlicher Staatsakte" (1910) zu entwerfen. 133 Kopp (Fn. 105), Vorb. § 54 Rdnr. 5.

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Kryptovorgängen unterwandern läßt. Darin zeigt sich andererseits, welches gewaltige Unterfangen mit dem Begriff der Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Recht verbunden ist: nicht mehr und nicht weniger als die Rückgängigmachung einer mindestens 200jährigen Entwicklung der Hoheitsgewalt als einer selbständigen, das öffentliche Recht prägenden Grundkonzeption; da ist weit mehr als nur eine Rechtstechnik in jenem von allem Grundsätzlichen gelösten Sinn, daß hier lediglich eine Auswahl von jeher möglicher Äußerungsformen staatlicher Gewalt angeboten würde. Der Dimension dieses Problems - "Verhältnismäßigkeit nur im Gefolge der Gleichordnung" - würde eine Überlegung nicht gerecht: wollte man annehmen, es sei ein Attribut staatlicher Souveränität, frei die Äußerungsformen des hoheitlichen Willens zu bestimmen, darunter eben auch den der verhältnismäßigkeitsbeherrschten Vertraglichkeit. Solche Vorstellungen mag eine Konzeption nahelegen, nach welcher die Vertraglichkeit, wie übrigens auch die Formen des Privatrechts 134 , vom Staat gerade im Namen seiner Hoheit frei gewählt werden dürfen -letztlich nur als eine Art von Abwicklung der Staat-Bürgerbeziehungen, die wesentlich hoheitlich geprägt bleiben. Ein derartiges "ZweiStufen-Modell", wie es dem Verwaltungs recht seit langem bekannt 135 und auch für öffentlich-rechtliche Verträge an sich wohl einsetzbar ist 136 , würde der staatsgrundsätzlichen Bedeutung einer Vertraglichkeit aber nicht gerecht, welche Verhältnismäßigkeit überall im Öffentlichen Recht zum Durchbruch führen sollte: Dann müßte auch allenthalben der Wechsel in die Ebene der Gleichordnung durchgeführt oder wenigstens angestrebt werden, dann hätte das Streben nach Privatisierung staatlicher Veranstaltungen 137 erstmals einen wirklichen, einen tieferen, alle Rechtsanwendung in Abwägung prägenden Sinn. Doch ein Grundsätzliches bleibt dann zu bedenken: Der hoheitliche Rechtsstaat der verteilenden zieht sich dann zugunsten der austauschenden, ausgleichenden Gerechtigkeit in Abwägung zurück; die vielen staatlichen Normen, in denen Abwägung bereits stattgefunden hat, nicht mehr zu leisten ist, treten in einer solche Entwicklung zurück hinter die eine 134 Ehlers, D., Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 74 ff.; ders., Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Allg. Verwaltungsrecht (hgg. v. H.-U. Erichsen), S. 40 f.; kritisch Pestalozza, eh., Formenrnißbrauch des Staates, 1973, S. 166. 135 Ehlers (Fn. 134), S. 41 f. m. weit. Nachw.; Huien, i., Verwaltungsprozeßrecht, 2. Aufl. 1996, S. 187 ff. 136 So etwa dort, wo selbst im Rahmen hoheitsrechtlicher Satzungen die nähere Ausgestaltung der Staat-Bürger-Beziehungen durch öffentlich-rechtliche (städtebaulichen) Verträge erfolgen kann, vgl. z.B. neuerdings § 6 BauGBMaßnG. 137 Vgl. dazu Leisner (Fn. 14), S. 253 ff.

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große Super-Norm der Verhältnismäßigkeit. Ob es dazu je wirklich kommen wird? Zweifelhaft bleibt sicher, ob der Staat von seinem "HerrschaftsverHerrschaft, ob er einmal auf eine Gleichordnungs-Ebene auf breiter Front zurückkehren wird, mag dies auch heute radikaldemokratische illusion vom Bürger-Staat sein. Weit näher liegt die Annahme, daß die Vertraglichkeit stets auf gewisse Räume des Öffentlichen Rechts beschränkt bleiben wird, wo es um Machtverteilung zwischen öffentlich-rechtlichen Trägern, "technische Ausführung und Angleichung an veränderte Umstände,,139 geht, die eben einer Normierung nicht zugänglich sind. Die ständig steigende Vergesetzlichung des Öffentlichen Rechts spricht eher für einen lange noch andauernden engen Reservat-Charakter öffentlich-rechtlicher Verträge, vor allem wenn sich sozialisierende Umverteilung wieder verschärfen sollte. Dann bleibt das Abwägungs-Grunddefizit der Hoheitlichkeit als solcher eben doch erhalten. Läßt es sich aber nicht auf einem anderen Wege zumindest abmildern, der heute denn auch bereits beschritten wird: durch ein neuartiges Denken in Kategorien des "Ausgleichs", überhaupt im Recht der staatlichen Ersatzleistungen? trag,,138 jemals mehr kennen will als -

b) Der Ausgangspunkt allen Denkens in Abwägung und Verhältnismäßigkeit ist sicher, im Bürgerlichen Recht, der Vertragsbereich. Hier sind es ja die Parteien selbst, welche den Weg des Interessenausgleichs vorgezeichnet haben, der Richter braucht diese ihm vorgegebenen Züge nur zu verdeutlichen, nachzuziehen. Immerhin aber war das Gleichordnungsdenken im Zivilrecht stark genug, um Ungerechtfertigte Bereicherung, vor allem aber das Recht der Unerlaubten Handlung als eine Ordnung "gesetzlicher Schuldverhältnisse,,140 zu begreifen, auch dort die - notwendig sehr allgemeinen - gesetzlichen Wertungen durch das typisch zivilistische Denken in Abwägung und Interessenausgleich weitestgehend zu überlagern 141 . Auf diesen Wegen ist denn auch bis ins öffentliche Eigentumsrecht, das große Einbruchstor des Zivilrechts in die Herrschaftsordnung, eine vergleichbar interessenabwägende - eben eine "ausgleichende" Grundstimmung vorgedrungen. Dies war bereits im klassischen Recht der Enteignungsentschädigung der Fall, welche sich an die Schadensersatzkategorien des Zivilrechts Vgl. Hofmann, A. (Hrsg.), Der Herrschaftsvertrag, 1965. (Fn. 105), Vorb. § 54 Rdnr. 5; sowie die in Fn. 105, 128, 131 Zitierten. 140 Vgl. Fikentscher, W, Schuldrecht, 8. Aufl. 1992, S. 101; Steifen, E., in: RGRK z. BGB, 12. Auflage 1989, § 823 Rdnm. 1 ff. 141 Vgl. Schäfer, K., in: Staudinger, Komm. z. BGB, Bd. 11, 12. Aufl. 1986, § 823 Rdnm. 208, 234 sowie BGHZ 24, 80; 45, 296 (307); 50, 133 (143). 138

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

anschließen konnte 142 . Hier galt es lediglich, die typisch hoheitlich geprägte Vorstellung VOn einem etwaigen "Fiskalprivileg des in seiner finanziellen Existenz bedrohten Gemeinwesens" zu überwinden. Liberaler Steuergeiz im 19. Jahrhundert hat es lange dauern lassen, bis die Richter in voller Selbstverständlichkeit den Staat zu dem verurteilten, was auch ein Privater bei vergleichbarer Beeinträchtigung zu leisten gehabt hätte; manche Staatsprivilegien143 schleppen sich hier bis heute noch fort. Daß man aber gerade den ordentlichen Gerichten die Entscheidung über die Höhe der Entschädigung VOn Anfang an vorbehalten hat, weist auf einen tieferen Sinn hin: Dies waren eben stets Entscheidende, welche nach der Rechtstechnik der Abwägung mit dem Ziel der Verhältnismäßigkeit, des wirklichen Interessenausgleichs, ihr Recht fanden, und das Öffentliche Recht gab ihnen dabei ohnehin, in den sehr zurückhaltenden Aussagen der Verfassungen und der Enteignungsgesetze, weniges nur vor. Die Entscheidungszuständigkeit der Zivilgerichte lag ursprünglich begründet darin, daß man nur ihnen zutraute, den Staat im Entschädigungsrecht auf jene Gleichordnungsebene ganz natürlich herabzuholen, auf welcher der Zivilrichter auch zwischen Bürgern entscheidet144 . Bei den Vorarbeiten für ein Staatshaftungsgesetz wurde nicht vertieft darüber nachgedacht, daß diese Zuständigkeitsproblematik nicht eine solche der Zweckmäßigkeit war, der Rechtsvereinheitlichung, der Prozeßökonomie oder wie sonst grundsatzscheue Gedanken sich ausdrükken mögen 145 , daß damit vielmehr eine Groß-Konstellation historisch bezeichnet wurde: In einem wichtigen Bereich des Öffentlichen Rechts stand über die Zuständigkeit der Zivilgerichte, zumindest als "Reservetechnik" , als letzter Weg eines Ausgleiches, stets das Verhältnismäßigkeitsdenken bereit, welches den die Hoheitskategorien fortdenkenden Verwaltungs- und Verfassungsrichtern letztlich nicht geläufig sein kann. Ein solches im öffentlichen Recht der Ersatzleistungen traditionelles Verhältnismäßigkeitsdenken könnte Ausgangspunkt einer Wende sein, 142 Krelt, F., Öffentlich-rechtliche Ersatzleistungen, 1980, § 839 Rdnm. 2 ff., 11 ff.i Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 4. Aufl. 1991, S. 10 f.i Rüfner, w., Das Recht der öffentlich-rechtlichen Schadensersatz- und Entschädigungsleistungen, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (hgg. v. H.-U. Erichsen), 10. Aufl. 1995, S. 582 f. 143 Vgl. Ossenbühl (Fn. 142), S. 64 f.i WolfflBachof (Fn. 50), S. 236 f. 144 Zur Begründung dieser Entscheidung vgl. Dagtoglou, P., in: BK, Art. 34 Rdnm. 365 f.i Maurer (Fn. 20), S. 633 f.i Ossenbühl (Fn. 142), S. 100. 145 Bender, B., Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1981, S. 293 ff.i vgl. auch distanz. Ossenbühl (Fn. 142), S. 364.

I. Ausgewogenheit - in einer Ordnung des staatlichen Entscheidens?

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aus der Über-Unterordnung in die Gleichstellung der Waage. Hier lassen sich die Interessen wirklich gegenüberstellen und ausgleichen, weil ein gemeinsamer Nenner vorhanden ist: die finanzielle Meßlatte für den erlittenen Schaden, den die Gesellschaft nach ihren Verkehrswerten 146 , ihren Marktvorstellungen bemißt. Hier gibt es nichts, was eo ipso durchschlagen müßte, mit dem Absolutheitsanspruch der Souveränität, kein öffentliches Interesse der Staatsbewahrung oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Hier wirken auch keine gesetzlichen Vor-Wertungen von Interessen, nichts anderes ist zwischen Staat und Bürger letztlich als - der Markt mit seiner Verhältnismäßigkeit, seinen vielen auf dem Forum abwägenden Waagen. Eine Sünde wider den Heiligen Geist der Verhältnismäßigkeit wurde also dort begangen, wo das Bundesverfassungsgericht im Deichurteil147 , ohne einen Ansatz näherer Begründung, die Entschädigungshöhe auch unter dem Verkehrswert zulassen wollte. Damit brach die Unverhältnismäßigkeit in einen Bereich ein, der von jeher besetzt war durch die feinere Gerechtigkeit des Ausgleichs: in dem Versuch, öffentliche Interessen gegen eine Privaten geschuldete Geldsumme abwägen zu wollen. Die Zivilrichter des Bundesgerichtshofs sind dieser Versuchung nicht erlegen. Sie müssen sich dem Willen der demokratischen Mehrheit dort beugen, wo es sich diese nicht nehmen lassen will, von ihr in Gesetzesform definierte öffentliche Interessen an die Stelle abzuwägender Partikularinteressen zu setzen, im wahren Sinne des Wortes das Schwert der Hoheit in die Waagschale zu werfen. Doch bei der Aufopferungsentschädigung 148 bleibt der Verkehrswert eben doch Bemessungsgrundlage, mit ihm aber herrscht dort zivilistisches Abwägungsdenken. Die Verhältnismäßigkeit könnte überdies im neueren Recht der Ersatzleistungen auf einem anderen Weg zivilrechtsähnlich zum Tragen kommen: "Ausgleich" wird nunmehr zunehmend vom Gesetzgeber auch dort ins Auge gefaßt, wo die "Enteignungsschwelle" noch nicht erreicht ist, von agrarischen Kulturerschwerungen 149 bis hin zum - recht bescheidenen - Ausgleich für erlittenes Staatsunrecht bei Kriegsfolgen 150 . Zumindest in einigen Bereichen des klassischen Verwaltungsrechts soll also das harte Entweder-Oder - entschädigungslos hinzu146

Nach denen sich im Zweifel der Entschädigungsanspruch bemißt, vgl.

148

Vgl. BGH NJW 1984, S. 1169; BGH JZ 1984, S. 741. vgl. Kimminich, 0., in: BK, Art. 14 Rdnrn. 293 ff., 346. Vgl. BVerfGE 24, 364 ff., vgl. im übrigen Fn. 95.

Krohn, G./Löwisch, G., Eigentumsgarantie, Enteignung, Entschädigung, 3. Auf!. 1984, S. 141 f. 147 BVerfGE 24, 367 ff. 149 150

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

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nehmender hoheitlicher Eingriff oder grundsätzlich volle Entschädigung - nicht mehr gelten; etwas wie ein Billigkeits-Ausgleich wird angestrebt, in welchem wenigstens die bedeutsamsten Interessen berücksichtigt werden sollen, welche sich im Einzelfall gegenüberstehen, vor allem die des Bürgers. Allerdings vollzieht sich all dies gewissermaßen auf einer "niederen Gerechtigkeitsstufe ", wo Billigkeit 151 hergestellt werden, wo die konkrete Lage der Betroffenen im Einzelfall berücksichtigt werden soll. Dahinter steht auch die große Gefahr einer Sozialisierung der Entschädigung, ja des Schadensersatzausgleichs 152 , sogar noch im Bürgerlichen Recht. Damit würde zwar nicht die Abwägung als solche aufgegeben, wohl aber die Einstellung der Waage grundlegend verändert werden: von der Höhe des auszugleichenden Schadens zur Person des Ersatzberechtigten. Die Verhältnismäßigkeit würde nicht mehr Einzelfallgerechtigkeit, sondern Einzelpersonengerechtigkeit herstellen, sich damit in gefährlicher Weise von einem Gleichheitsdenken entfernen, das den finanziellen Maßstab des konkreten Schadens aufgäbe, den einzigen, der in einer Marktwirtschaft letztlich faßbar ist (vgl. unten IV; 1; eIl). Rechtstechnisch aber bliebe immerhin eines bestehen, wäre damit sogar verstärkt: ein Denken in Abwägung, in Spezialnorm-verdünnten Räumen. Auf diesem Wege könnte nun wirklich weithin im öffentlichen Recht Verhältnis mäßigkeit im Sinne des klassischen Zivilrechts hergestellt werden: daß bei Eingriffen in die Rechtssphäre verschiedener Betroffener deren ja nie voll vergleichbare Interessen über Ausgleichsleistungen - eben ausgeglichen würden, in einer Feinabstimmung, welche hier bis zu einer Monetarisierung der Freiheit, der Grundrechte vordringen könnte. In einem neuartigen "Dulde und liquidiere" würde der Staat zwar seine Hoheit mit hartem Nein gegenüber dem Demonstrations- oder Bauwilligen, dem berufstätigen oder gewerbetreibenden Bürger durchsetzen, er könnte jedoch immer wieder zu feinerem Ausgleich in Anspruch genommen werden; Verhältnismäßigkeit wäre nicht eine weitere Ablehnungsbegründung, sondern eine Grundlage teilweisen, flexibel beurteilten partiellen Erfolges über Ersatzleistungen. Vieles spricht jedoch dafür, daß zumindest der "Ausgleich" diese Entwicklung nicht nehmen, daß er vielmehr nur als Form neuartiger Sozialisierung des Entschädigungs- und Schadensersatzrechtes eine Zukunft haben wird. Bewußt muß aber bleiben, daß hier immerhin in Kategorien gedacht wird, welche eines Tages, wenn auch vielleicht nur für einige Bereiche, echte, interessenabwägende Verhältnismäßigkeit auch im öf151 Bydlinski 152 Leisner,

(Fn. 10), S. 363 ff.; Larenz (Fn. 1), S. 282 f., 332 ff.

w., Degressive Ersatzleistungen? NJW 1993, S. 353 ff.

H. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernis?

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fentlichen Recht zum Tragen bringen könnten - wenn der Staat dazu zu bringen wäre, die Unverhältnismäßigkeit seiner lastenden Hoheitsgewalt durch die Unverhältnismäßigkeit seines virtuellen Reichtums ausgleichend zu kompensieren. Vielleicht werden selbstbewußte, monetaristisch denkende Bürger ihm eines Tages gerade dies Schritt für Schritt abnötigen. Das wäre dann allerdings ein neuartiger "Abwägungsstaat" ; doch davon ist das öffentliche Recht heute noch weit entfernt - und dies gilt nicht nur für den "Ausgleich", sondern für das gesamte Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen wie für den "Gleichheitsbeginn der Hoheitsgewalt" im öffentlich-rechtlichen Vertrag. Ist es dann aber nicht ebensoweit bis zu einer Verhältnismäßigkeit im öffentlichen Recht wie zu einer "Gleichheit des Ausgleichs zwischen Staat und Bürger"?

11. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernisl 1. Absolute demokratische Egalität gegen Abwägung

Aus der Sicht der Verhältnismäßigkeit ist die Gleichheit, die Grundnorm der Demokratie, auf den ersten Blick ambivalent: Abwägung kann es zwar begrifflich nur geben zwischen Gleichen - und hier gerade hat sich ja die prinzipiell übergeordnete Hoheitsgewalt als Abwägungshindernis schon gezeigt - Rechtsbeziehungen zwischen Rechtsträgern mit gleichen Rechten und Pflichten sind also stets Voraussetzung wägender Gerechtigkeit. Doch im öffentlichen Recht geht es gerade nicht um das Verhältnis des Bürgers zu seines-Gleichen, sondern zu einem Staat, für den die Gleichheit nicht gilt, grundsätzlich weder im Verhältnis zu seinen Bürgern 153 , noch innerhalb seiner Organisationseinheiten, etwa zwischen den Ländern 154 ; in diesem Sinne ist gerade der demokratische Staat für sich selbst vollständig gleichheitsblind. So viel also auch die 153 Mehrheitsgewalt definiert sich aus Ungleichheit. Lediglich vor Gericht ist auch dieser Hoheitsstaat der Waffengleichheit unterworfen, vgl. Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I Rdnr. 50; Hufen (Fn. 135), S. 593 f.; von MangoldtiKlein/Starck, GG, Bd. 1, 3. Auf!. 1985, Art. 3 Rdnr. 146. 154 Vgl. Dürig (Fn. 153), Art. 3 Abs. I Rdnr. 291, Art. 19 Abs. III Rdnrn. 33 ff.; Gubelt, M., in: von Münch/Kunig, GG, 4. Auf!. 1992, Art. 3 Rdnr. 60 rn.weit. Nachw.; BVerfGE 35, 263 (271), zum föderalistischen Vielfaltsprinzip, das eben "Gleichschaltung" nach NS-Vorbild ausschließt.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Verhältnismäßigkeit im Bürgerlichen Recht aus der Gleichheit gewinnen mag - obwohl sie übrigens längst vor dieser bestanden hat 155 - so wenig läßt sie sich im öffentlichen Recht bei näherer Betrachtung auf Egalität gründen. Dem steht nicht nur der Staat entgegen als der gegenüber dem Bürger "ganz andere", sondern ein Staatsgrundprinzip: der unbedingte Geltungsanspruch der Gleichheit, so wie ihn die Französische Revolution über die Welt getragen hat. Wenn es nur darum ginge, daß auf alle Gewaltunterworfenen gleichmäßig die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und einer zu ihr führenden Abwägung angewendet werden müssen, wenn also Gleichbehandlung allein der Sinn der Gleichheit wäre, so wäre auch dies wiederum eine ebenso notwendige wie selbstverständliche Voraussetzung für jede Abwägung: Die Waage der Iustitia hängt eben über jedem Rechtssuchenden, der den Gerichtssaal betritt. Doch angelegt ist in dem Begriff der Egalität ja weit mehr, und es wird heute in raschen Schritten verwirklicht: (möglichst) Gleiches allen. Darin aber liegt ein Zug zur "materiellen" Gleichheit l56 : Nicht jedem das Seine, sondern jedem das Gleiche - nicht das "Verhältnismäßige", das "seinen besonderen Verhältnissen Entsprechende"; das könnte ja gerade materielle Ungleichheiten eher noch verstärken, wo aber doch der Gleichheitsstaat sie abbauen sollte. Hier zeigt sich daher eine harte Spannung zwischen grundsätzlich bewahrender Verhältnismäßigkeit und prinzipiell verändernder Gleichheit. Noch in einem anderen Sinn steht der Staat der Gleichheit der Abwägung entgegen, jedenfalls soweit diese im Staat-Bürger-Verhältnis stattfinden soll. Eine solche "zivilrechtliche" Abwägung orientiert sich an Bewertungen auf Märkten. Die Gleichheit bedeutet jedoch eine grundsätzliche Absage an einen Staat des Hoheits-Handels, der seine Macht auf Märkten den Bürgern feilböte. Nicht nur daß der Staat und seine Vertreter nicht käuflich sind - sie haben gar nichts Käufliches anzubieten, nichts, für das der eine Bürger mehr, der andere weniger bieten dürfte; denn der Staat leistet immer nur eines: die eine, gleiche Lösung für alle. Deshalb ist ja auch diese Egalität Schranke aller Verwaltungsvertraglichkeit; auch hier steht nichts zur Disposition des Staates, nichts 155 Und sei es auch nur, weil, etwa im Gewande der aequitas, stets moderierende Verhältnismäßigkeit wirken konnte, ist doch in diesem lateinischen Begriff Billigkeit als eine Art von Vorstufe - oder Minimalausprägung - der (späteren) politisch akzentuierten Egalität mitgedacht. 156 Zu diesem Zug von der Gleichbehandlungs- zur "materiellen" , zur Gleichmachungsgleichheit, vgl. Leisner, w', Chancengleichheit als Form der Nivellierung, in: FS f. H. Klecatsky, 1980, S. 535 ff. = Staat (Fn. 22), S. 642 ff.; ders., Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 114 ff.

11. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernis?

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darl er "je nach Verhältnissen" anbieten oder nicht, höher oder niedriger bewerten. Bisher hat, soweit ersichtlich, die Verlassungsrechtsprechung die Problematik der Gleichheit für eine Verstärkung des Verhältnismäßigkeitsdenkens nicht fruchtbar gemacht - eher trifft das Gegenteil zu. Gewiß könnte man Verhältnismäßigkeitsentscheidungen gerade begründen mit ,,(un)gleichen Fällen", der ,,(un)vergleichbaren Lage der Betroffenen", die eben in einem Fall diese, in einem anderen die entgegengesetzte Wertung zwingend verlange. Doch das Verlassungsgericht hat einer solchen "aus der Lage des Einzelfalls erwachsenden Verhältnismäßigkeit als Rechtsprinzip " bereits in einem Entscheidenden den Boden entzogen: Der Gesetzgeber dürle, bis an die Grenzen des rational nicht mehr Nachvollziehbaren, Tatbestände bilden 157 , damit definieren, was "gleich" sei. Ist dies aber einmal geschehen - und es geschieht immer häufiger, und zwar gerade mit dem Ziel zunehmender egalisierender Flächendeckung - so gibt es, im Namen gerade der Gleichheit, nichts mehr abzuwägen, nichts mehr in Verhältnismäßigkeit zu gestalten; das Wort des Gesetzes tritt an die Stelle der Abwägung. So hat denn die Gleichheit die Abwägung ganz allgemein in eine Subsidiarität zurückgedrängt, gegenüber der Entscheidung des Gesetzgebers. Im Namen der Egalität mag er sich über Normen hinwegsetzen, aber nicht mit dem Ziel differenzierender Verleinerung der Proportionen, sondern nur auf dem Weg zur stets noch mehr vereinheitlichenden, angleichenden Groß-Lösung. Diese Dynamik treibt den Gleichheitsstaat in immer neue, letztlich über vordergründige Differenzierungen doch am Ende wieder nivellierende Gesetzgebung 158 . Die Gleichheit egalisiert auch noch die Verhältnismäßigkeit; sie begründet diese nicht, steht vielmehr über ihr, bildet ihren Rahmen. Dieser egalitäre Gesetzgebungsstaat ist der Feind einer Verhältnismäßigkeit, welche sich nur jenseits von gleichsetzenden Normen verwirklichen läßt, vor allem im Namen eines von diesen nicht zu erlassenden Einzelfalles. Selbst wenn aber gleichheitsgebundene Gesetze gegeneinander "abgewogen", auf solche Weise näher konkretisiert werden, so bedeutet auch dies immer nur weitere Vereinheitlichung, Absage an Differenzierungen, bis hin zur Einebnung. Die Gleichheit ist - und das ist ihre größte Kraft - auch bei Abwägungen wesentlich normschaffend, Vgl. BVerfGE 11, 245 (254); 77, 275 (285); 77, 302 (338). Besonders deutlich wird dies im Abgabenrecht: die Steuergleichheit verlangt zwar die verhältnismäßige Belastung, vgl. BVerfGE 21, 12 (26 f.); 84, 239 (269), und diese soll durch zahllose Differenzierungen hergestellt werden doch all dies orientiert sich dann doch wieder am angestrebten Ergebnis immer stärkerer Einebnung. 157 158

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

weil sie immer zuerst auf einen möglichen Vergleichsfall blickt, von diesem dann zurück zu dem zu entscheidenden Einzelfall eine echte Norm-Brücke schlägt, wie wenn eben der Abwägende als Gesetzgeber zu entscheiden hätte 159 . Gleichheit ist der große Norm-Befehl zur Schließung aller Lücken; Verhältnismäßigkeit denkt nicht an Lücken, sie wendet etwas an wie das Gesetz des Einzelfalls. Verhältnismäßigkeitsdenken müßte daher umgekehrt verlaufen: Abwägung nach der Interessenlage des Einzelfalles zuerst, sodann ein vorsichtig grenzkorrigierender Blick auf andere vergleichbare Konstellationen, der lediglich vermeiden will, daß die Ungleichheit überhand nehme. Letztlich muß eine Entscheidung fallen: Entweder man sieht Gleichheit nur als Grenzkorrektur der Verhältnismäßigkeit - so ist sie im Zivilrecht immer verstanden worden, wo elementare Egalität eben so selbstverständlich war wie Libertät; oder Verhältnismäßigkeit wird degradiert zur Grenzkorrektur der Gleichheit, damit etwas wie "höhere Einzelfall-Gleichheit" hergestellt werde - diesen Weg geht unsere Zeit, damit aber weg von einer Abwägung, die Ungleichheiten ins Gleichgewicht bringen, nicht gleich machen will. Egalität ist schließlich der große Revolutionsbegriff 160 ; nur mit der explosiven Gewalt einer staats- und gesellschaftsverändernden Umwälzung konnte er die Staatlichkeit besetzen. In ihrem Namen, mit ihrer einheitlichen, blockhaften Stoßkraft sind Kontinente erobert worden; will man dies im Namen der fein abwägenden Verhältnismäßigkeit auch nur versuchen? Hier könnte sich lediglich Ohnmacht zeigen; die Waage verträgt weder Begeisterung noch Macht. Im letzten stehen sich mit Gleichheit und Verhältnismäßigkeit zwei Welten gegenüber: in der Gleichheit das wesentlich Absolute am modemen Staat - in der Verhältnismäßigkeit seine Relativierung.

2. Gleichheit - abwägungsfeindliche Großlösung oder "Egalisierung im Einzelfall"?

Die stärkste, vor allem auch politisch wirksamste Macht des Gleichheitsdenkens liegt in seiner normativ systembildenden Kraft 161 . Seine 159

Die gesetzesvertretend entscheidende lückenfüllende Auslegung (vgl.

Bydlinski (Fn. 10), S. 472 ff. m. weit. Nachw.; Merz, H., Auslegung, Lückenfül-

lung und Normberichtigung, AcP 163 (1964), S.305 (331 ff.) steht als Normierungsakt primär unter der Gleichheit, nicht die Verhältnismäßigkeit. 160 Leisner (Fn. 47), S. 93 ff.; ders. (Fn. 156), S. 22 ff., 316 ff.

II. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernis?

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Lösungen lassen sich "horizontal fortdenken", bis nicht nur annähernde, sondern vollständige Flächendeckung erreicht ist - so wie es eben die "für alle gleiche Lösung,,162 verlangt. Damit wird notwendig - was zu wenig betont worden ist - eine andere, doch ebenfalls zentrale rechtstechnische Denkform zurückgedrängt, jenes "distinguendum est", ohne welches etwa das Zivilrecht und seine verfeinernde Unterscheidungs-Begrifflichkeit nicht vorstellbar ist. a) Die Gleichheit bedeutet eine Absage an Einzelfallgerechtigkeit, an alle dÜferenzierenden Rechtstechniken, welche nach einer solchen streben - vor allem an Abwägung und Verhältnismäßigkeit. Ziel der Gleichheit kann es nur sein, bestimmte Norrninhalte auszuweiten, ihren Anwendungsbereich zu verbreitern; hier ist Analogiedenken 163 gefordert, welches im Namen der Gesetzesnorm über einzelne Besonderheiten von Fallkonstellationen hinwegzugehen bereit ist. Wohl darf der Gesetzgeber solche spezielle Fallgruppen im Namen seines Imperium bilden, bis hin an die Grenzen der Beliebigkeit. Doch sogleich wird über all dieses Besondere der große Verfassungs-Raster der Gleichheit gelegt; Vergleichbarkeiten werden gesucht, Abstände dürfen nicht allzu groß werden 164 , das Ziel ist eben eine Vereinheitlichung der Normgeltung, soweit nur irgend möglich. Und dies ist einer der wenigen Punkte, an denen die Gerichtsbarkeit sogar bereit ist, im Namen einer höchsten, vorstaatlichen Norm 165 der Verfassung, über den Wortlaut des gesetzgeberischen Befehls hinwegzugehen, im Namen eben der stärkeren Anordnung der Gleichheit. Von einem "Naturrecht" ist praktisch sie allein geblieben. In ihr liegen zugleich Kraft und Aufforderung zu einem ständigen "normativen Hochrechnen", in welchem schließlich der Gleichheitsstaat in die Monumentalgestalt des "Staates der großen Lö-

161 Soweit das (selbstgewählte) System den Gesetzgeber bindet, beruht dies auf Gleichheit, vgl. Degenhart, eh., Die Systemgerechtigkeit, 1976, S.5, 14 ff., 19 ff., 49 ff., 89; Gubelt (Fn. 154), Art. 3 Rdnr. 30; von MangoldtlKlein/Starck (Fn. 153), Art. 3 Rdnm. 33 ff. 162 Obwohl in der neueren Rechtsprechung zur Gleichheit gegenzusteuern versucht wird, mit der Forderung nach Verhältnismäßigkeit von Unterscheidungsgründen und Unterscheidungsfolgen, vgl. Zippelius, R., Der Gleichheitssatz, WDStRL 47 (1989), S. 7 ff. 163 Ist nicht die Gleichheit normwirksames Ergebnis einer riesigen Rechtsanalogie? Vgl. Bydlinski (Fn. 1), S. 478 f.; Larenz (Fn. 1), S. 383 ff. 164 Hier gewinnt die Gleichheit noch Kraft aus jener Sozialstaatlichkeit, die allzu große soziale Abstände verhindern soll, vgl. BVerfGE 1, 97 (104); 5, 85 (198); 36, 237 (abweichende Meinung); 45, 376 (387). 165 Vgl. BVerfGE 1, 208 (233); zustimmend von MangoldtlKlein/Starck (Fn. 153), Art. 3 Rdnr. 151 m. Hinweis auf BVerfGE 35, 263 (272); 38,225 (228).

5 Leisner

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

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sung" 166 hinaufwächst. "Gleichheit" heißt die höchste Nonn nicht; sondern: Differenzierung (nur) nach Ungleichheit. Denn dies ist der systembildende zentrale Sinn der Gleichheit: daß alle Entscheidungen des Gesetzgebers systematisch fortgedacht und verbreitert werden; hier verbindet sich die wesentlich nonnativ gedachte Rechtsstaatlichkeit mit einer demokratischen Gesetzlichkeit, der von ihren französisch-revolutionären Anfängen an stets etwas von einem Maßnahmegesetz 167 , von einem Einzelbefehl in Gesetzesfonn, anhaftet. Weiter kann das in seinem Parlament stürmisch erregte "peuple en miniature " oft gar nicht denken als bis zum Einzelfall, der sich "die Nonn ruft"; die Systematisierung seiner Anordnungen übernimmt sodann, aus dem Nonnbegriff heraus, die egalitäre Rechtsstaatlichkeit. In diesem Spannungsverhältnis zwischen volkssouveräner Dynamik der Einzelbefehle und nonnativ-egalitärer Verbreiterung der Rechtsordnung ins System hinein hat sich der modeme Gesetzesstaat entfalten können. Seine Nonnen verfielen weder der überzeitlichen Starrheit der Zwölf Tafeln, noch verloren sie ihre Legitimität unter dem Vorwurf des Einzelbefehles, der einen venneintlichen Sünder für das Volk sterben lassen will. Die Egalität hat endlich dem demokratischen Gesetz seinen Platz geschaffen zwischen Ostrakismus und ratio scripta: Geworden ist daraus die Nonn, das Gleichheitsdiktat des Nonnalfalls. Doch diese Gesetze haben ihre bestimmten Inhalte, anderenfalls könnten sie vor jener Rechtsstaatlichkeit nicht bestehen, welche sie doch, im Bündnis mit der Gleichheit, legitimierend hervorbringt. Wie soll nun in diese systematisierende Gleichheit und ihre meist bereits systemgewordenen Groß-Lösungen eine Verhältnismäßigkeit sich einfügen, die all dies mit Blick auf den Einzelfall immer wieder zu flexibilisieren verspricht, damit am Ende vielleicht zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen dort gelangt, wo doch ein rascher "nonnativer" Blick über Oberflächen zunächst nichts anderes feststellen konnte als "gleiche Sachverhalte"? Da mag zwar später differenziert werden im Namen vertiefender Betrachtung - doch bedeutet nicht die Egalität gerade den Befehl zu einer Oberflächlichkeit, welche sich an den ersten, in die Augen springenden Zügen einer Fallkonstellation festhält? Verhältnismäßigkeit kann demgegenüber stets nur wesentlich entsystematisierend gedacht werden, als Auflösung nonnativer Groß-Lösungen wirken. Nicht umsonst wird das Wort "Abwägung" so oft, ganz wesens-natürlich, verbunden mit dem Beiwort "Einzel-", diese EinzelabLeisner, w., Der Monumentalstaat, 1989, S. 171 ff. Dazu Herzog (Fn. 103), Rdnrn. 46 ff.; auch: Menger, Ch.-F., Das Gesetz als Norm und Maßnahme, VVDStRL 15 (1957), S. 3 (7 f.). 166

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II. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindemis?

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wägung ist stets und zuallererst zu leisten. Sie muß den normativ nicht faßbaren Interessenlagen des Einzelfalles Rechnung tragen, im Subsumtionsvorgang gewissermaßen über den Befehl der anzuwendenden Norm auch hinwegzugehen bereit sein. Dann aber ist und bleibt das Verhältnismäßigkeitsdenken, in seinem Ausgangspunkt jedenfalls, wesentlich egalitätsfeindlich, die durch seine Technik bewirkte Verfeinerung der Normwirkungen läuft auf Differenzierung hinaus, nicht auf Egalisierung. b) Gleichheitsdenken im Recht, ohne welches demokratische Ordnungen nicht vorstellbar sind, muß nun versuchen, auch die AbwägungsRechtstechnik der Egalität zu unterwerfen, sie zu ihrem Instrument werden zu lassen, wo es sie ganz nicht zu verdrängen vermag: Solche "Gleichheit durch Abwägung" soll ein heute schon gängiger Kunstgriff bringen: Angestrebt wird, über die Abwägung, eine letzte, möglichst allgemeine Belastungs-Gleichheit; sie nimmt es in Kauf, daß dem einen Bürger mehr an Eingriffen zugemutet wird als dem anderen, wenn er nur, bei einem Global-Vergleich mit der Lage seines Nächsten, den staatlichen Zugriff in gleicher Weise zu spüren bekommt wie jener. In diesem Sinn liegt etwa im Begriff der steuerlichen Leistungsfähigkeit168 der Versuch, differenzierende Verhältnismäßigkeits-Abwägung zu verbinden mit der Vorstellung der "gleichen Last" , die jedem Mitglied der Gemeinschaft aufgebürdet werden soll. Zum Ausdruck kommt dies plastisch in dem Steuer-Grundbegriff der Französischen Revolution, der "Gleichheit der Bürger vor den öffentlichen Lasten": Nicht die Lasten sollen gleich sein, ihre Wirkungen auf den Bürger werden unter den Begriff der Egalität gestellt. Man hat damals wohl noch nicht klar gesehen, daß darin eine wesentliche Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes liegen könnte, und diese auch nicht so gewollt, wie sie die modeme Theorie der Leistungsfähigkeit nun vollzogen hat: von der gleichen Last hin zu deren gleichmäßiger Fühlbarkeit. Darin liegt der Übergang von einem Denken in Eingriffsgegenständen zu einem solchen in Eingriffsadressaten, deren vermögensrechtliche, ja persönliche Gesamtsituation in die Betrachtung einbezogen wird 169 . Auf diese Weise ist das Abgabenrecht zum Sozialisierungsinstrument geworden, das in allem Wichtigen gleichgeschnittene Persönlichkeiten hervorbringen will. Diese Funktion könnte die "J e-Desto" -Formel der Verhältnismäßigkeit noch verfeinernd erfüllen, wenn ihr letztes Ziel zwar die Differenzierung der Lösungen nach dem Einzelfall wäre, aber nur zu einem Ziel: Herstellung Tipke/Lang (Fn. 5), S. 57 ff. Was dem herkömmlichen wie deutschen Enteignungsrecht wie überhaupt dem Schadensersatzrecht fremd ist, vgl. Leisner, w., Die Höhe der Enteignungsentschädigung, NJW 1992, S. 1409 ff. 168

169

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

möglichst gleicher materieller Lage für alle Bürger, über den Begriff der "gleichen Fühlbarkeit eines Staats eingriffs " , der seinerseits nur darauf abzielt, Gleichmachungs-Gleichheit zu erzeugen. Auf diesen Wegen mag die Verhältnismäßigkeit zur Magd der modernen demokratischen Gleichheit werden, so wird sie denn auch wohl radikaldemokratisch gedeutet - soweit sie nicht ein differenzierendes Alibi bieten, den Eindruck erwecken soll, durch Abwägung würden denn doch noch viele Innenräume der Differenzierung unter den großen Gewölben der Gleichheit erhalten. Diese Ambivalenz, diese Wandlungsfähigkeit des Verhältnismäßigkeitsbegriffs, vom klaren Gegensatz der differenzierenden Einzelfallbetrachtung zu einer flächendeckenden Verstärkung der Egalität in Einzelabwägung - bis hin zur Herstellung von "Gleichheit überall" durch eben diese Abwägung: All dies macht die hier betrachtete Technik so fruchtbar und furchtbar zugleich in einer zur Gleichheit aufgebrochenen Gesellschaft, durch die Illusion, als handle es sich letztlich nur um einen anderen Weg zur einen, großen Egalität. Doch an einem kann dieser demokratische Königsweg nicht vorbeiführen: Das Verhältnismäßigkeitsdenken darf letztlich die große, systematisierende Lösung nicht kennen, sie jedenfalls nicht bewußt und gezielt einsetzen. Daher muß es immer wieder notwendig zu "Systemabweichungen" führen, zu Einzelfall-Gerechtigkeiten, in welchen auch die "höhere Gleichheit" noch verfehlt wird, in fallgewendetem Gerechtigkeitsdenken. Solange sich die Abwägung am Einzelfall orientiert - und dies ist und bleibt ihr innerstes Wesen - läßt sie sich weder als solche noch mit ihren "besonderen" Lösungen wirklich "hochrechnen" j damit wird sie wesentlich zum Systemrisiko, ja zum System-Defizit in einer egalisierten Normenwelt. Entgehen können die Abwägenden diesem in der Gleichheitsdemokratie kaum erträglichen Vorwurf nur durch eine rechtstechnische Wendung, die man wiederum als Kunstgriff bezeichnen könnte: Die abzuwägenden Gewichte müssen bereits mit Blick auf die Gleichheit bestimmt, sie müssen daher so "groß geschnitten" sein, daß ihre Abwägung nichts anderes mehr zu sein braucht, als eine Gleichheits-Koordination der Normen, die Verhältnismäßigkeit nichts anderes mehr als deren möglichst harmonisches Zusammenspiel. An einem heute zunehmend wichtigen Einzelfall mag dies verdeutlicht werden. c) Die Nutzung von Grundstücken zu gewerblichen oder agrarischen Zwecken wird immer weiter, und für die Eigentümer sehr belastend, beschränkt im Namen des Umweltschutzes. Hier wäre nun, so möchte es auf den ersten Blick scheinen, ein ideales Feld der Abwägung eröffnet: Im einzelnen läßt sich ja der Konflikt zwischen den Umweltbelangen der Gemeinschaft und den Eigentümerinteressen normativ kaum befriedigend lösen, hier muß es doch, fast notwendig, zu einer wertenden Ab-

11. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindemis?

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wägung kommen, wie die entsprechenden Gesetze dies denn auch, ausdrücklich oder implizit, vorschreiben. In der Praxis könnte dann Verhältnismäßigkeit wohl nur auf einem Wege hergestellt werden: durch Anwendung des - bereits klassischen - Schwerekriteriums 170 zur Bestimmung der Enteignungs-, heute der Inhaltsbestimmungs-Schwelle des Eigentums l71 . Was über sie im Einzelfall an Belastung hinausginge, müßte durch Geldleistungen der Gemeinschaft ausgeglichen werden. In der Bestimmung von deren Höhe käme Verhältnismäßigkeitsdenken voll zum Tragen. Doch gerade hier schiebt sich die Gleichheit unter den Mantel der Verhältnismäßigkeit: "Abgewogen" werden nicht mehr Einzelsituationen, auch nicht mehr nur spezielle, bereits weithin konkretisierte Norminhalte, sondern allerallgemeinste Werte, wenn dieses Wort hier überhaupt noch angebracht ist: "Belange des Umweltschutzes" werden gegenübergestellt "den Eigentümerinteressen". Darüber wird sodann, in wenigen Worten, ein Globalurteil gefällt l72 , in welchem sich "in der Regel" der Umweltschutz gegenüber einem Grundrecht des Bürgers durchsetzt, "gleichermaßen" in allen Fällen. Was hier an Abwägungstechnik eingesetzt wird, wie überhaupt eine solche Abwägung sich vollziehen, ihren Namen noch verdienen soll, wird in den dürren Sätzen der obersten Gerichte auch nicht in Andeutungen mehr faßbar. Im Namen der Gleichheit ist die Verhältnismäßigkeit zur Gegenüberstellung von Großformeln verkommen. "Wenn die eine von ihnen die andere überwiegt", so hat dies mit Abwägung nichts mehr zu tun; in Wahrheit wird hier nur mehr ein Verhältnis "stärkerer und schwächerer Normen" hergestellt, verfassungstechnisch ein großer Gesetzesvorbehalt eingeführt und ausgenützt 173 , allenfalls noch der Begriff einer Subsidiarität zum Tragen gebracht, in welcher die "allgemeinere" Norm des Eigentumsschutzes gegenüber der" spezielleren" der Umweltsicherung zurücktritt. Dies sind zwar altbekannte Techniken der Normauslegung, letztlich führen sie auf Instrumentarien der Begriffsjurisprudenz zurück 174 , 170 Ständige Rechtsprechung des BVerwG seit E 5, 143; vgl. auch Lege, J., Enteignung und "Enteignung", NJW 1990, S. 864 (865); Papier, H.J., in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 14 Rdnr. 362. 171 Vgl. Kimminich, 0., in: BK, Art. 14 Rdnr. 202; Nüßgens, K.lBoujong, K., Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987, S. 155. 172 Hoppe, W/Beckmann, M., Umweltrecht, 1989, S. 56 f.; Nüßgens/Boujong (Fn. 171), S. 95 f. m. Nachw. zur Rspr.; BVerwGE 67,84 (87); BGHZ 90,17 (24 f.); Leisner, W, Eigentum - Gesammelte Schriften zum Eigentumsrecht (hgg. v. Josef Isensee), 1996, S. 428 ff., 449 ff., 458 ff., jeweils m. weit. Nachw. 113 Und in diesem Sinne wird dies nun durch die "Staatszielbestimmung Umweltschutz" verdeutlicht, vgl. Meyer-Teschendorf, K.G., Verfassungsmäßiger Schutz der natürlichen Lebensgrundlage, ZRP 1994, S. 73 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

nichts gemein haben sie mit Techniken wertender Interessenabwägung, in deren Namen sie aber eingesetzt werden. Weit schwerer wiegt jedoch die darin liegende Entwicklung, welche den Hauptgegenstand dieses Kapitels bildet: Diese sogenannte Verhältnismäßigkeit endet hier in einer normativierenden Globalisierung der abzuwägenden Gewichte, welche vorher flächendeckend bestimmt worden sind - im Namen der Gleichheit. Darin liegt eine schwere Gefahr für das Verhältnismäßigkeitsdenken als solches, die letztlich aus der Egalität kommt, der sich eben auch diese Rechtstechnik nicht mehr zu entziehen vermag: Anstatt immer kleinere Gewichte zu bilden, mit ihrer Hilfe den Gleichstand der Waage optimal auszutarieren, werden riesige normative rochers de bronze in die Waagschalen geworfen, ihre Globalität läßt bei der Umwelt-Abwägung das private Eigentum unwiderruflich in die Höhe gehen 175 . Doch dies wird eben, von Verwaltungen wie Gerichten, immer noch "Abwägung" genannt; das totale, unwiderstehliche Durchschlagen eines Interessenkomplexes wird dargestellt als die "verhältnismäßige Lösung" -, obwohl doch die Bedeutung des Umweltschutzes als solchen ersichtlich "außer jedem Verhältnis steht" zur Sicherung konkreten privaten Besitzes. Dann aber ist Verhältnismäßigkeit nur mehr ein Deckname für den harten Staatsbefehl des "immer gleichen" Vorrangs der" Umwelt", der sich als Gerechtigkeit ausgibt 176 . Oder die Verhältnismäßigkeit wird reduziert auf ausnahmsweise Berücksichtigung von Rechten Privater: Verhältnismäßigkeit als Ausnahme? Die - gewollte - Begriffsverwirrung könnte größer kaum sein. "Abwägung" und "Vermutung" haben methodisch nichts gemein; die letztere wird aufgestellt l77 bevor es zum Abwägungsvorgang kommen kann, dessen Gewichte sie vielleicht vorprägt, der sie aber nur allenfalls noch in engen Grenzen zu korrigieren vermag, und auch diese müssen dann ja normativ vor-festgelegt sein, etwa im Begriff der "außergewöhnlichen Umstände". Dies wiederum hat nichts zu tun mit einer Abwägung: Sie geht ohne Vorfestlegungen heran an die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit, vorgegeben sind ihr allenfalls Gewichte, nie Vorfestlegungen in der Form normativer Geltungsvermutung. Selbst wenn man hier aber noch Verbindungen sehen wollte und Übergänge - das (Fn. 1), S. 265 f. (Fn. 172), S. 56 f.; Schmidt (Fn. 75), S. 111 f. 176 Wie ja auch in der Willkürrechtsprechung des BVerfG zu Art. 3 Abs. I GG die Verbindung von "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" hergestellt wird, vgl. BVerfGE 1, 14 (52); 3, 58 (135); 4, 144 (155); 29, 148 (153 f.); 81, 156 (206 f.). 177 Vgl. dazu Schneider (Fn. 2), S. 220 ff.; Häfener, V., Vermutungen im öffentlichen Recht, in: FS für Eichenberger, 1982, S. 625 ff., Rosenberg, L.I Schwab, K.H./Gottwald, P., Zivilprozeßrecht, 15. Auf!. 1993, S. 655 f. 174 Larenz

175 HoppelBeckmann

II. Gleichheit: Abwägungsgebot oder Abwägungshindernis?

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Verhältnismäßigkeitsdenken verliert seine eigentliche Legitimationskraft dann, wenn es so offen nur mehr eines leisten soll: Grenzkorrektur von Großformeln, an deren Geltung es "im Grunde nichts mehr zu ändern gibt". Das "Regel-Ausnahme-Schema" reduziert die doch meist geradezu majestätisch eingeführte Verhältnismäßigkeits-Formel zu einer solchen Grenzkorrektur, welche nicht nur die Vermutung stets gegen sich hat, in der das öffentliche Recht sogar letztlich versucht, die ihm doch sonst gänzlich unbekannte materielle Beweislast11B unter der Hand einzuführen und zu Lasten des betroffenen Bürgers, entgegen aller Rechtsstaatlichkeit, umzukehren. In der Praxis, vor allem des traditionellen Polizeirechts, mag die Verhältnismäßigkeit als eine solche letzte, grenz korrigierende Handhabe der Gerechtigkeit eine gute Tradition finden 119 ; hier hat sie sich ja auch immer wieder, im Namen spezialisierender Grundrechtlichkeit, gegen die über-weiten polizeilichen Generalklausein durchzusetzen vermocht, weit mehr bewirkt als die Durchsetzung einzelner Ausnahmen. "Sicherheit und Ordnung" ist eben ein Begriff, der als solcher "nicht überall in Gleichheit durchschlagen" kann - in einem Rechtsstaat. Soll jedoch die Technik der Proportionalität eingesetzt werden gegen das Vordringen flächendeckender Globalformeln für die Beschreibung öffentlicher Belange, wie sie im Umweltschutz neuerdings, in anderen Bereichen wie der "Volksgesundheit " oder der "Landesverteidigung " aber schon seit langem geläufig sind, so ist nichts anderes festzustellen als eine völlige Degeneration des Verhältnismäßigkeits-Begriffes als solchen: Die Verhältnismäßigkeit verkommt hier zu einem Tambegriff der Gleichheit, der anderes im Grunde nicht mehr zulassen kann als kleine Reservate in den großen Herrschaftsräumen der Egalität.

Vgl. etwa zum Verwaltungsprozeß Hufen (Fn. 135), S. 632 f.; Schmitt GlaeVerwaltungsprozeßrecht, 13. Aufl. 1994, S. 308; Schenke, W.R., Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1996, S. 7. 179 Vgl. insbes. Drews, B.lWacke, G.lVogel, K.lMartens, w., Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 389 ff.; aber auch Gallwas, H.-U./Mößle, w., Bay. Polizei- und Sicherheitsrecht, 1990, S. 143 ff.; Götz, v', Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, S. 118 ff. 178

ser,

w.,

72

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

111. Unabwägbarkeit unvergleichbarer BegriffsinhaUe 1. Gleicher "Geldwert-Nenner"herkömmliche Grundlage aller Abwägung

Wer abwägen will mit dem Ziel der Herstellung ausgewogener Verhältnismäßigkeit, der sollte die Anfänge aller Abwägung bedenken. Das klassische Zivilrecht hat sie zu leisten vermocht im Namen von etwas wie einer "monetaristischen Reduktion"; Die Interessen wurden zurückgeführt auf den gemeinsamen Nenner finanzieller Bewertbarkeit der jeweiligen Belastung; nun konnte abwägend beurteilt werden, ob denn Vertragsparteien in einer bestimmten Interessenlage eine Klausel noch mit einem konkreten Inhalt gewollt haben könnten, ob ein bestimmtes Ergebnis einer Partei eines Rechtsverhältnisses noch zugemutet werden könne, verglichen mit dem Wert der Lösung für die andere. Diese Wertigkeiten wurden und werden eben fast immer in Geld ausgedrückt, damit auf vielfachen Gemeinschaftskonsens zurückgeführt, der sich vorher bereits, gänzlich gelöst vom nun zu entscheidenden Einzelfall, gebildet hat. Diese Monetarisierung ist in deutsch-rechtlicher Polemik dem Römischen Recht zum Vorwurf gemacht worden 180 , am Ausgang des 19. Jahrhunderts, als hinter solcher Kritik bereits ein beginnender Katheder-Sozialismus stand. Der Liberalismus hatte seinen Zenith geistig überschritten, mit ihm die unbedingte Hochschätzung des Marktes und jener monetären Wertigkeiten, auf denen das hochentwickelte Römische Recht aufbaute. Nun sollten, vor allem in Deutschland, im Zuge sich verstärkender "Germania-Spätromantik", andere, "höhere", ideelle Werte definiert, in die Abwägung eingeführt werden. Alsbald erwies sich, mit der Gesetzlichkeit eben einer hochentwickelten Rechtsordnung, daß der Rückfall in monetaristische Bewertungen, Abwägungs-Voraussetzungen unvermeidlich war, vom Urheberrecht 181 bis hin zum Schmerzensgeld. Soweit hier nicht mehr in monetär zu beziffemder Linderung ausgeglichen werden konnte, blieb kaum mehr als der Rückgriff auf kompensierende Freuden 182 - sie aber sind eben letztlich wiederum käuflich, damit in Abwägung bewertbar. 180 Enneccerus, L.lNipperdey, H.C., Der Allg. Teil des BGB, 15. Auf!. 1959, S. 44 ff.; Wieacker (Fn. 48), S.468 (477 ff.) - bis hin zur Ablehnung des "der materialistischen Rechtsordnung dienenden römischen Rechts", vgl. Punkt 19 des Programms der NSDAP vom 24.2.1920. 181 Zu den Anfängen des Urheberrechts vgl. etwa Hubmann, H.lRehbinder, M., Urheber- und Verlagsrecht, 7. Auf!. 1991, S. 14 f.; Ulmer, E., Urheber- und Verlags recht, 3. Auf!. 1980, S. 112 f.

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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Wo immer neuere Rechtsentwicklung zur "Persönlichkeitsbewertung", ihrer Abwägung gegenüber anderen Werten, übergehen wollte, kam es rasch entweder zu exorbitanten, jeder rationalen Begründung unzugänglichen Übersteigerungen 183 , zur Überbewertung der Verluste ideeller Güter, für welche niemand je so viel zu geben bereit gewesen wäre, mit Ausnahme des Verletzten, oder zu einer Minderbewertung, welche den Nächsten zur Schädigung freigab. Eines hat sich auf all diesen Irrwegen eines Persönlichkeits-Idealismus immer wieder gezeigt: Wo man auch glaubte, den gemeinsamen Nenner des Geldes aufgeben zu können, wo man in antikapitalistischer Kritik vergaß, daß Geldwertigkeit eines Gutes nichts anderes ist als Ausdruck gemeinschafts-konsensgetragener allgemeinerer Vorbewertungen - da mußten sogleich Abwägung wie Verhältnismäßigkeit zum Problem werden, weil eben nichts mehr anderes blieb als persönliche Wertungen, allenfalls noch parteipolitisch oder gar ideologisch gebündelt und verfestigt 184 . Die Abwägungserfolge des Römischen und die Abwägungsprobleme des neueren Bürgerlichen Rechts sollte sorgfältig beachten, wer Verhältnismäßigkeit und Abwägung gar noch im Öffentlichen Recht einsetzen will: Denn hier tritt das Problem der Herstellung eines gemeinsamen monetären Nenners in noch weit größerem Umfang auf als im Privatrecht, wo es auf Randgebiete beschränkt bleibt, da sich Abwägung meist doch auf von Anfang an irgendwie in Geldwert faßbare Interessen beschränken läßt. Im öffentlichen Recht war es das Eigentumsrecht mit seinen Entschädigungsgrundsätzen, in dem der Geldwert beherrschend blieb 185 , der dort dann eben auch Abwägung, die Herstellung von Verhältnismäßigkeiten gestattet hat, solange man dem " kapitalistischen" , gemeinsamen Nenner treu blieb. Nicht zuletzt deshalb war es Martin Wolf, einer der führenden Vertreter des Zivilrechts in Deutschland, der im öffentlichen Eigentumsrecht den entscheidenden Durchbruch erreicht hat zum "Eigentumsschutz" aller geldwerten Rechtspositionen 186 , damit zu ihrer 182 Mertens, H.-J., in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 3 2. Hbbd., 2. Aufl. 1986, § 847 Rdnr. 2; Krelt, F., in: RGRK-BGB, Bd. 11/6, 12. Aufl. 1989, § 847 Rdnm.6ff. 183 Vgl. Hubmann, H., Rationale Wertung im Recht, in: Wertung und Abwägung im Recht, 1977, S. 3 (41 ff.). 184 So etwa dann, wenn man die "Angemessenheit" der Entschädigung in Art. 14 Abs. 3 GG anders bestimmen will als durch Rückgriff auf den Marktwert des entzogenen Gutes, vgl. Kimminich, 0., in: BK, Art. 14 Rdnm. 447 ff.; Papier (Fn. 170), Art. 14 Rdnm. 607 ff., insbes. 615. 185 Ossenbühl (Fn. 142), S. 11, 92, 116, 220. 186 Wolf, M., Reichsverfassung und Eigentum, in: FS f. Kahl, 1923, S. 3 ff.

B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

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Entschädigungsfähigkeit; diese wird stets dort problematisch, wo die "Persönlichkeit" als solche von der Staatsrnacht getroffen wird: Verliert sie Entfaltungs-, insbesondere Berufs- und Gewinnchancen, so läßt sich dies in Geld nicht ausdrücken, nicht bewerten, daher auch nicht entschädigen 187 . Ein angeblich "persönlichkeitsschützendes Denken" das aber gerade in die von ihm doch so kritisch betrachteten kapitalistisch-monetaristischen Kategorien zurückfällt - möchte hier immer wieder Bezahlung für entgangene Fortune verlangen, so etwa die Opfer von Gewaltherrschaften entschädigen188 , wenn möglich noch auf Kosten derer, welche ja "nur in ihrem Eigentum" getroffen worden sind. Verkannt wird dabei, daß der besondere Wert der Persönlichkeit gerade darin liegt, daß sie als solche nicht bewertbar ist, weil sie stets ganz Chance bleibt, ganz Virtualität. Dies aber sollte denen zu denken geben, welche unkritisch Verhältnismäßigkeit in jenes öffentliche Rechte übernehmen wollen, in welchem in der Tat andere Konstellationen vorherrschen, von Politik, nicht vom Markt geprägt: die parlaments-, jedenfalls staatsbestimmten Wertigkeiten der einzelnen öffentlichen Interessen, die der Wille der Mehrheit setzt und verändert; sie aber sind gerade deshalb nur selten, grundsätzlich vielleicht gar nicht, einer Abwägung zugänglich, weil sie nicht über dem gemeinsamen Nenner des konsens getragenen Geldes stehen. Hier muß die Frage gestellt werden, ob denn Abwägung als Rechtstechnik überhaupt vorstellbar ist jenseits von Geld und Gut, "Gut als Geld". Im Öffentlichen Recht ist dies, soweit ersichtlich, bisher nur mit Worten beantwortet worden - und mit meist höchst bestreitbaren Abwägungen. Wenn hier nicht nur eine "Kritik der Verhältnismäßigkeit" geboten werden soll, "Kritik einer unkritischen Abwägung", wenn es auch gilt, Wege aufzuzeigen, auf denen die königliche Technik des abwägenden Privatrechts auch das jüngere Öffentliche Recht erreichen, letztlich sogar erst "verrechtlichen" könnte - dann müßte hier eine Aufforderung stehen zur Monetarisierung öffentlich-rechtlicher Beziehungen, eine Absage an die Eigenständigkeit eines Imperiums, welches "über allem Geld gedacht werden" soll. Dann muß es heißen - was die spätromantisierenden Nationalsozialisten gerade nicht wollten gelten lassen189 "Das Beste ist ein Preis, nicht ein Befehl". Von all dem ist eine heutige Welt weit noch entfernt, in deren Öffentliches Recht sich auch viele antikapitalistische Affekte zurückgezogen 187 188 189

Vgl. BVerfGE 68, 193 (222); 74, 129 (148); auch BGHZ 62, 96. Vgl. BVerfGE 84, 90 (126 ff.). Vgl. Fn. 180.

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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haben. "Herrschaft in Armut" mag immer ein Ideal gewesen sein seit dem platonischen Philosophen-Königtum190 , in welchem stets auch Diogenes mitgedacht war. Macht hat auch immer Armut zu kompensieren vermocht, solange Herrschende ihren Einfluß nicht zuletzt auf ihre Unbestechlichkeit stützen konnten, von den Bettelorden bis zu - vermeintlich oder wirklich - uneigennützigen Gewaltherrschern. Doch klar muß dann eines sein: Geherrscht werden kann auch ohne den gemeinsamen Nenner des Geldes, abgewogen werden - nie.

2. Abwägung des Verschiedenartigen? a) Unvergleichbarkeit öffentlicher Belange untereinander

Wenn im Öffentlichen Recht die Abwägungs-Brücke des GeldwertVergleiches nicht so allgemein zur Verfügung steht wie im Bürgerlichen Recht, so müßten dort andere gemeinsame Nenner gefunden oder gesetzt werden. Gerade dies aber ist höchst problematisch, schon im Grundsätzlichen. Bei Umschreibungsversuchen der Interessenlage des Staates begegnen, wenn in Gesetzen "Berücksichtigung" von öffentlichen Belangen in Abwägung untereinander vorgeschrieben wird, heterogene Groß-Begrifflichkeiten, etwa "Erholung " - "Gesundheit" - " UmweltsChutz,,191, nicht selten sogar in größerer Zahl. Solche in sich schon unklare, rechtlich nur unvollständig definierte Begriffe weisen oft auch noch zahlreiche inhaltliche Überschneidungen auf, aber eben wiederum nur teilweise, was die begriffliche Unklarheit noch erhöht: Die "Erholung " dient nicht nur jener Volksgesundheit192 , welche andererseits doch wieder auf den im engeren Sinne medizinischen Bereich beschränkt bleiben soll, allenfalls noch auf einen bereits wenig bestimmten Vorsorgebereich erstreckt werden mag. "Erholung " ist zugleich auch" Tourismus mit Bildungswert" , sie hat gewiß nicht stärkere Beziehungen zur Volksgesundheit als etwa die "Volksernährung" , ohne deren hohe Qualität es ebenfalls einen befriedigenden medizinischen Standard nie geben kann. Ihre Wertigkeit zeigt sich aber auch mit Blick Platon, Politeia, 484 ff. Ein geradezu schon klassisches Beispiel findet sich bei den "Zielen des Naturschutzes", vgl. Louis, H. w., Komm. zum Bundesnaturschutzgesetz, 1. Auf!. 1994, § 1 Rdnm. 1 ff. 192 Dazu BVerfGE 7, 377 (414); 9, 39 (52); 17, 269 (276); BVerwGE 65, 323 190

191

(339).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

etwa auf (früheres) außenpolitisches Autarkiestreben, oder heute in volkswirtschaftlicher Sicht. Der "Umweltschutz" ist sicher angetreten mit medizinisch-sanitären Ansprüchen, aus ihnen zieht er noch heute allgemein-überzeugende Kraft. Doch seine eigentliche Expansionsmächtigkeit liegt gerade darin, daß er sich von Vorstellungen der "Volksgesundheit " mehr und mehr lösen, sich jedenfalls über sie hinaus verbreitern kann 193 . Wenn dort von dem "Wert der Schöpfung als solcher" die Rede ist, so sind damit ebenso theologische Gedanken angesprochen wie in der franziskanisch anmutenden Forderung der Achtung einer" Würde des Tieres" 194. Wie aber soll nun all dies in abwägende Beziehung gebracht werden? Die Worte hört man wohl, doch es fehlen ihnen Gewichte. Mit einer "JeDesto"-Formel ist hier wenig zu gewinnen; sie würde ja voraussetzen, daß entweder der eine Begriff den anderen inhaltlich kompensieren könnte, oder daß, umgekehrt, ein "Hochschaukeln" stattfinden müßte. Beides würde - die eben erwähnten Beispiele zeigen es - im Absurden enden: Weder kann doch der Umweltschutz der "Volksgesundheit" auch nur in Grenzen, als seiner Kompensation, geopfert werden - und wo lägen diese? - noch wäre es vernünftig, jeweils die "Erholung" um so höher zu bewerten, je größeres Gewicht dem Umweltschutz beigemessen werden soll. Zutrifft gerade in der Regel das Gegenteil: Auch innerhalb der "öffentlichen Belange" bezeichnen diese Worte "Begriffe in Gegensätzlichkeit,,195 - und gerade dies ist ja die Voraussetzung für ihre untereinander abwägende Berücksichtigung. Wie weit aber ist es hier von der heute überall feststellbaren irrational wirkenden Begriffsanhäufung bis zu einer verfeinernd-abwägenden Zusammenschau, welche den Namen einer Rechtstechnik rechtfertigen könnte? Mehr wird doch ersichtlich nicht geboten als eine sich immer noch weiter globalisierende Beschreibung des "Guten - alles in allem" , mit immer neuen, immer nur noch unbestimmteren Begriffen. Der gemeinsame Nenner fehlt allenthalben, keine Gesetzgebung hat ihn bisher zu setzen versucht. "Öffentliches Interesse" insbesondere ist hier nichts als ein noch allgemeineres Wort. Soll es beispielhaft verdeutlicht werden, mit den oft begegnenden "Insbesondere-Formeln", so mag darin das Streben nach einer einheitlichen Nenner-Bildung zum 193 Als Beispiel diene jener Artenschutz (vgl. Hoppe/Beckmann (Fn. 172), S. 316 ff.; Louis (Fn. 191), § 2 Rdnr. 17 und §§ 20 ff. passim), der eine kaum mehr faßbare Beziehung zur Volksgesundheit aufweist. 194 Vgl. Mühe, G., Das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht, NJW 1990, S. 2238 ff.; LOTz, A., Das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht, MDR 1990, S. 1057 ff. 195 Man denke nur an die Belastung der Umwelt durch "Erholungsabfälle" .

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

Ausdruck kommen: Alle diese Begriffe sollen dann berücksichtigt werden bei der Bestimmung des durch sie exemplifizierten Oberbegriffs. Wie aber, wenn sie (teilweise) Gegenläufiges bezeichnen, und wie sind sie überhaupt zu gewichten? Die "Insbesondere-Verdeutlichungen" sind allenfalls Krücken der Begriffsjurisprudenzi die Abwägungsprobleme einer Interessenjurisprudenz lösen sie nicht. Man stelle etwa, als ein Beispiel für das, was nahezu unbegrenzt variabel auftritt, "Landesverteidigung" und "Vollbeschäftigung" gegenüber. Beides sind heute sicher "Wertbegriffe" - oder doch Beschreibungen von Werten - denen besonders hoher Rang zukommen soll. Beide treten täglich bereits an der politischen Spitze in oft nur schwer auflösbaren Gegensatz: Das Verteidigungsressort verlangt finanzielle Mittel, welche der Arbeits- und der Wirtschaftsminister zur Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen einsetzen möchten. Dies ist nicht nur "irgendein Gegensatz" innerhalb höchstrangiger öffentlicher Interessen, es handelt sich um eine wesentlich typisierbare Gegensätzlichkeit, wenn nicht Widersprüchlichkeit. Wie aber soll nun in der Praxis abgewogen werden, was orientiert hier schwerwiegende politische GroßEntscheidungen? Es geht doch um politische Grundpositionen, welche sich seit Jahrhunderten unversöhnt gegenüberstehen: hier die "konservative" Betonung einer Wehrhaftigkeit, ohne welche es weder den Staat noch eine durch ihn vernünftig, "sozial" geordnete Gesellschaft geben könne 196 - dort die "sozialistische" Grundidee eines "Labour first", nach welcher alles, einschließlich der außenpolitischen Sicherheit, denen hinzugegeben wird, welche im Inneren Arbeitszufriedenheit, "soziale Gerechtigkeit" schaffen 197. Da gibt es rechtlich nichts abzuwägen, da ist einfach - politisch zu entscheiden, nicht mehr und nicht weniger. Die Wertigkeiten solcher Begriffe werden im täglichen politischen Kampf gesetzt, nicht im abwägenden Urteil des Richters oder in administrativer Effizienzsuche. Hier geht politische Tagestaktik in Langzeitstrategie über, diese wird meist durch die, vermeintlich weitsichtigen, Feuerleitstellen der jeweiligen Ideologie orientiert. Wenn aber der Einsatz von Begriffen wie Verhältnismäßigkeit und Abwägung geradezu als unsinnig erscheint, betrachtet man solche politischen Großphänomene an der Spitze des Staates - warum sollte sich et196

Zur "Landesverteidigung" als Höchstwert vgl. BVerfGE 69, 1 (21 f.)i auch

Kirchhof, P., Bundeswehr, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 3, 1988, § 78 Rdnrn. 7 ff. 197 Zur "Vollbeschäftigung" als Grundwert vgl. § 1 Abs. 2 StWG, sowie Klaus, J., in: Herders Staatslexikon, Bd. 1, 7. Auf!. 1985, S. 710 f.i Maunz (Fn. 36), Art. 109 Rdnrn. 27 f.i Vogel, K./Wiebel, M., in: BK, Art. 109 Rdnr. 114.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

was dort ändern, wo die Harmonisierung derartiger Gegensätze auf "niederer Ebene" gefordert ist, auf welcher der Beamte oder der Richter im Einzelfall abzuwägen hat - etwa ob Gewerbegebiete angesiedelt oder Verteidigungsanlagen ausgebaut werden sollen, welcher dieser gleichermaßen zu berücksichtigenden öffentlichen Belange den Vorrang verdient? Entweder der Richter entscheidet hier überhaupt nicht, läßt sich die Wertigkeiten ad hoc vom Verteidigungsminister vorgeben oder vom Gewerbesteuerstreben einer Großkommune - oder sein Urteil fällt genauso "politisch", also in reiner, rechtsfreier Dezision, wie wenn solches am Kabinettstisch geschähe. In beiden Fällen kann von Abwägung auch nicht entfernt die Rede sein. Man mag versucht sein, in gleichmäßige Berücksichtigung der gegenläufigen Belange über eine "sowohl-als auch"-Formel auszuweichen, den goldenen Mittelweg als Verhältnismäßigkeit auszugeben, der "jedem etwas" gewährt. Doch im Grunde ist dies - und es wird sich später noch vertiefend zeigen - nicht wirklich Abwägung, sondern eine materielle Kompromißentscheidung, eine "Lösung auf halben Wegen" (unten C VIII). Jedem Belang wird eine gewisse, im Zweifel sogar gleiche Wertigkeit zuerkannt. Es mag hier offenbleiben, ob sich in solchen Vorstellungen nicht erneut das Gleichheitsdenken in die vermeintlichen Abwägungsvorgänge hineinschiebt, ob nicht eine derartige "alles berücksichtigende Gleichheit" erst die Gleichartigkeit des wesentlich Unvergleichbaren herstellt198 . Auch dies wäre aber nichts als ein politischer Vorgang, welcher sogar mit einer Gewaltsamkeit abliefe, wie sie der Gleichheit von ihren revolutionären Anfängen an stets eigen war: das Ungleiche eben in Gleichheit zwingen, mit Gewalt das Verschiedenartige in die Waagschalen der Gleichheit zwängen. Dies aber hat nichts mehr gemein mit einer Abwägung, welche sich doch zwischen "irgendwie Vergleichbarem aufdrängen" muß, soll das Wort noch einen faßbaren Inhalt haben. Abgesehen von all dem stellt sich hier bereits ein noch zu vertiefendes weiteres, kaum auflösbares Problem (vgl. unten VII): Dem Begriff des "öffentlichen Interesses" ist in all seinen Einzelausprägungen, von seiner hoheitlichen Begrifflichkeit her, eine Durchschlagskraft, ja eine 198 Auf solche Weise führt etwa im Subventionsrecht die dort ja besonders zu berücksichtigende Gleichheit (vgl. Henke, w., Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, 1979, S. 105; Ipsen, H.P., Subventionen, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 4, 1990, § 92 Rdnr. 72) fast schon regelmäßig zur Anwendung des Gießkannenprinzips.

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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Unbedingtheit eigen, welche nur schwer oder überhaupt nicht abwägbar erscheint: Wie sollte Verhältnismäßigkeit zwischen wesentlich absoluten, weil eben "unverhältnismäßig gewichtigen" Größen hergestellt werden? Oder was wäre der Oberbegriff, der gemeinsame Nenner eines über Landesverteidigung und Volksgesundheit noch anzusiedelnden öffentlichen .Interesses - etwa "funktionierende Staatlichkeit", kann diese aber nicht in zahllosen Formen "funktionieren"?

b) Vergleich öffentlicher Interessen - ein Problem der Politik - oder gar der Ideologie

Es bleibt also dabei: Einen gemeinsamen Nenner über den öffentlichen Belangen kann es nicht geben, hier ist nichts als wesentliche Heterogenität, welche Abwägung grundsätzlich problematisch erscheinen läßt, wenn nicht völlig ausschließt. Dies ist ja auch bereits historisch vorgezeichnet: Die unterschiedlichen öffentlichen Belange, welche nun in der Gegenwart "abgewogen" werden sollen, haben sich zu verschiedenen Zeiten verschieden-wertig entwickelt, sich sozusagen zu einem gemeinsamen öffentlichen Interesse in der Geschichte angehäuft. Dies betrifft insbesondere ihre Wertigkeit: Einer Periode war die Kriegstüchtigkeit als solche wichtig, in der folgenden wurde sie bereits in Verteidigungsbereitschaft umbenannt, damit doch auch umbewertet; sodann traten allgemeine wirtschaftliche Prosperitätswertungen in den Vordergrund, sie wieder wurden relativiert durch Gewichte sozialer Sicherung, diese durch Umweltschutz usw. usf. All diese Gewichte traten, von eindeutig politischen Erdstößen hervorgebracht, zunächst gewollt-beziehungslos nebeneinander; sie müssen nun gegeneinander abgegrenzt, in Spannungsrelationen und Wechselwirksamkeiten relativiert werden. Man mag dies "Abwägung" nennen - in Wirklichkeit ist es der in ständiger politischer Dynamik ablaufende Vorgang des Hervor- und Zurücktretens immer neuer Werte, wie sie der Tag eben setzt199 . Mit der Statik oder gar Zeitneutralität von Abwägungsvorgängen hat all dies nichts gemein. Es drängt sich daher sogar eine noch weiterreichende kritische Schlußfolgerung auf: daß Abwägung und Verhältnismäßigkeit nichts anderes seien als ein euphemistischer Versuch, mit Worten die politische Dynamik in die relative Überzeitlichkeit des Rechts zu heben, ihre kurzen Wellen wenigstens in längere Wogen umzuformen. Dann aber 199 Dies spiegelt sich etwa in der viel umstrittenen Theorie der "wesentlichen" Staatsaufgaben, vgl. Bull, H.P., Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 99 ff. mit weit. Nachw.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

gehören letztlich diese Anstrengungen in den Bereich des Politischen (vgl. schon oben I, 3), nicht in den eines Rechtes, das es mit bereits Vergleichbarem, irgendwie eben doch schon in seine Waagschalen Passenden zu tun hat. Gefordert ist hier vielmehr die Politik als Kunst nicht des Möglichen, sondern des Ausgleichs des Unvergleichbaren. Der Verdacht liegt nahe, daß dabei das öffentliche Recht nur gebraucht wird zur Verstetigung einer Politik, deren Diskontinuitäten es ja gerade in der Demokratie der wechselnden Mehrheiten immer wieder zur glättenden Kontinuität bringen soll. Doch ist dies Aufgabe - oder auch nur Möglichkeit - des Rechts in der (Un-)Ordnung der Volkssouveränität? Wird es damit nicht überfordert? Jedenfalls aber sollte bewußt bleiben, daß diese Form der Abwägung wenig oder nichts gemein hat mit der verfeinerten Rechtstechnik des Bürgerlichen Rechts; ihr Ziel wäre es vielmehr, Rechtstechnik auf breiter Front gegen die Dynamik einer Politik zu setzen, deren Begriffe man in das Recht verfestigend übernimmt. Doch das Grundproblem ist, bei all diesem anerkennenswerten Beruhigungsstreben, auch noch nicht in Ansätzen gelöst, vielleicht nicht einmal wirklich erkannt: daß Heterogenes, wie es die Politik ständig eruptiv hervorbringt, ohne gemeinsamen Nenner eben nicht in Verbindung gesetzt werden kann. Gemeinsame Bewertungskriterien, am besten ein einziges, müßten daher erst einmal in wahrer politischer Staatsgrundentscheidung200 gesetzt werden, dann erst könnte, nach dem jeweiligen Gehalt dieses Grundwerts in jedem öffentlichen Belang, etwas wie Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Recht hergestellt werden. Dies gerade war der in sich folgerichtige Grundansatz eines "realen Sozialismus", solange dieser wirklich auf den einen, alle Wertigkeiten bestimmenden Grundwert der Diktatur der Masse, jedenfalls nicht auf die Interessen einer wie immer definierten Oberschicht hin, ausgerichtet war. Diese einheitliche Ideologie konnte dann ihre Wertigkeiten überall hin differenzierend verbreiten; so bedeutsam war jedes öffentliche Interesse, wie es an dieser höchsten Werthaftigkeit teilhatte. Damit nähern sich die Betrachtungen einer eigenartigen, nahezu paradoxen Überlegung: Fast scheint es, als könne im Öffentlichen Recht abgewogen, Verhältnismäßigkeit hergestellt werden nur aus einer einheitlichen, alle öffentlichen Belange "prägenden" Ideologie heraus; und "prägen" ist hier das richtige Wort, die Ideologie drückt dann ja ihren 200Irgendwie ist dies in der neueren Diskussion um die "Staatszielbestimmungen " (zum Umweltschutz vgl. Kloepfer, M., Umweltschutz und Verfassungsrecht, DVBl. 1988, S.305 (311) und die in Fn. 75 Zitierten) wohl bewußt, aber keineswegs bereits gewichtend gelöst.

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einheitlichen Wertigkeitsstempel den vielfachen öffentlichen Belangen auf, welche sie auf diese Weise zum "Geld der von ihr geschaffenen Staatsordnung" macht. Damit wäre wirklich das kapitalistische Zahlungsmittel ersetzt durch die ideologisch geprägte Münze der an sich in ihrem Totalitätsanspruch allmächtigen - und doch in ihrem unterschiedlichen Ideologiegehalt abwägbaren, vergleichbaren, einzelnen öffentlichen Belange. Das Paradox aber liegt dann allerdings darin: Jene Abwägung gerade, welche doch, als Ausdruck gemäßigter Staatsform, der westlichen Welt und ihrer Rechtsstaatlichkeit eigen, wenn nicht heilig ist - gerade sie kann nicht funktionieren, wird sie nicht durch die geistig wesentlich "unmäßige" Ideologie mit ihren gemeinsamen Wertigkeits-Nennem erstmals ermöglicht, wird nicht das kapitalistische Geld, der gemeinsame Nenner des "Bürgerlichen" Rechts, ersetzt etwa durch die über-monetäre Proletariatsprägung - oder "Führungs-Prägung" - autoritärer, ja totalitärer Staatlichkeit. Soll nun am Ende dieser Überlegung wirklich das Ergebnis stehen bleiben, Abwägung sei als Rechtstechnik nur dort vorstellbar, wo Ideologie letztlich herrsche, sie sei nur deren technische Fortsetzung mit den "anderen" Mitteln des Rechts? Dann könnte es letztlich im Öffentlichen Recht der freiheitlichen Demokratie Abwägung ebensowenig geben201 , wie dort je ein statischer Zustand der Verhältnismäßigkeit herzustellen wäre - und dies entspräche letztlich auch der notwendig fluktuierenden Dynamik-Vorstellung der Volksherrschaft. Ihre Verhältnismäßigkeit würde sich vielmehr zurückziehen müssen in Bereiche, wo auch sie, freiheitsuI).schädlich, etwas wie eine echte Ideologie entfalten kann: wo der Geldwert gemeinsamer Nenner ist. Und war nicht in diesem Sinne, von ihren Anfängen her, die amerikanische demokratische Groß-Entwicklung von einer solchen privat-monetaristischen Ideologie geprägt - aber eben freiheitsschonend auf die "Gesellschaft beschränkt", nicht auf einen Staat erstreckt, der jene nur von außen, letztlich doch als Nachtwächter, behüten sollte? Mit dem "realen Sozialismus" ist jedenfalls der Großversuch einheitli cher politisch-ideologischer Gewichtung gescheitert: die wesentlich heterogenen öffentlichen Werte zur über-monetären Vergleichbarkeit zu bringen. Darin lag gewiß etwas Großartiges, das wohl erst spätere Generationen in seiner Schwungkraft würdigen werden: der immer wieder gepredigte und gepriesene Versuch, Geld durch Geist zu ersetzen, das Private Recht durch das Öffentliche als eine höhere Entwicklungsstufe abzulösen, die Dynamik menschlicher Auswandererängste in der Statik 201 Es sei denn, man setze die volkssouveräne "Ideologie der Öffentlichkeit" wertigkeitsbestimmend ein, vgl. dazu Leisner (Fn. 14), S. 58 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

eines Paradieses des historischen "Es ist erreicht" zur Ruhe kommen zu lassen. Geschehen ist das gerade Gegenteil: Die Waage ist in Stillstand verrostet, die Verhältnismäßigkeit zur vernichtenden Herrschaft der proletarischen Ideologie geworden - in einem historisch wahrhaft beeindruckenden Umschlag menschlichen Strebens in sein Gegenteil. c) Unvergleichbarkeit öffentlicher und privater Belange

Was hier an Problemen entfaltet wurde, aus der Sicht der Abwägung heterogener öffentlicher Belange, muß sich nun eher noch verschärfen dort, wo die Abwägung sogar eine Verhältnismäßigkeit herzustellen versucht zwischen öffentlichen und privaten Belangen, zwischen Herrschaft des Staates und Freiheit des Bürgers. Sind öffentliche und private Interessen wirklich vergleichbar, "Landesverteidigung " etwa oder "Volksgesundheit ", mit einer bestimmten Grundstücksnutzung durch einen Bürger? Vergeblich wird man Gerichtsentscheidungen suchen, nach denen "öffentliche" Belange grundsätzlich hinter privaten zurücktreten. Allenfalls wird Behörden bescheinigt, sie hätten so weit nicht in die Rechte Privater eingreifen müssen zur Sicherung des öffentlichen Interesses. Was hier dann aber geschieht, ist nicht etwa eine Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Gütern, sondern lediglich eine Erforderlichkeitsprüfung: Die Staatsgewalt handelt rechtswidrig deshalb, weil eine bestimmte Maßnahme gar nicht nötig war zur Sicherung des aber unbedingt schützenswerten öffentlichen Interesses. Mit "Abwägung" , mit "Verhältnismäßigkeit" hat dies nichts zu tun, mag auch - wie sich noch zeigen wird: zu Unrecht 202 - die Erforderlichkeitskontrolle in eine "Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne" einbezogen worden sein. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat sich auch nicht entwickelt aus der Grundvorstellung einer Abwägung öffentlicher und privater Interessen, weil diese irgendwie "kommensurabel" wären. Vielmehr war es - im 19. Jahrhundert noch ganz eindeutig - ihre Aufgabe, den "exces de pouvoir" der Verwaltung zu unterbinden: Die Administration sollte nicht über ihre Ermächtigungsgrundlagen hinausgehen dürfen. Deutlich hat sich dies im deutschen Verwaltungsrecht in der Kontrolle des Ermessens erhalten: Die Verwaltung darf die "äußeren und inneren Schranken ihres Ermessens nicht überschreiten" 203, innerhalb derselben schlägt das öffentliche Interesse durch. Die VerwaltungsgerichtsVgl. unten C, III. (Fn. 20), S. 125 ff.; Peine. F.-J., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Auf!. 1995, S. 45 f. 202

203 Maurer

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barkeit ist also kein Beweis für die Vergleichbarkeit öffentlicher und privater Interessen, ihre Entwicklung belegt eher deren grundsätzliche Inkommensurabilität. Ins Verwaltungsrecht ist die hier untersuchte Abwägungs-Verhältnismäßigkeit vielmehr eingeführt worden auf einer späteren, erst Mitte des 20. Jahrhunderts voll erreichten Stufe: mit dem Einfließen von Grundrechts-Wertungen, insbesondere mit dem Versuch, einen "Wesensgehalt" dieser Freiheitsrechte zu wahren - in Abwägung 204 . Dies hat aber die traditionellen Grundlagen des Verwaltungsrechts nicht zu verändern vermocht: Wo das öffentliche Interesse auftritt, muß es durchschlagen - oder es ist eben nicht zutreffend definiert worden. Jedenfalls fehlt es an jedem Ansatz einer Vergleichbarkeit zu den privaten Belangen - es sei denn wieder über den gemeinsamen Nenner des Monetären: Wie wird ein öffentlicher Haushalt, wie der eines Bürgers belastet? Doch auch dies ist schwer vergleichbar - für einen Bürger bedeutet eine Summe den Ruin, die ein öffentlicher Haushalt kaum fühlt. Noch mehr kompliziert sich die Frage der Vergleichbarkeit von öffentlichen und privaten Belangen, wenn es gilt, private Interessen durchzusetzen, deren Wahrung zugleich im öffentlichen Interesse liegt205. Hier kann nicht einfach abgehoben werden auf - weitgehend - "monetarisierte" private Belange. Denn das öffentliche Interesse, welche diese überlagert, gestattet eine Wertigkeitsbestimmung des Privaten im zivilrechtlichen Sinne nicht. Wie aber ist dann zu gewichten oder auch nur zu vergleichen - mit anderen privaten Interessen, mit öffentlichen, jeweils nach welchen Kriterien? In der Regel wird den Staatsorganen die Berücksichtigung in sich bereits heterogener, gegenüber der Bürgerfreiheit erst recht andersartiger Gemeinschaftsbelange vorgeschrieben - und dann Abwägung all dieser Interessen gegenüber den Bürgerinteressen. Diese letzteren können aber allenfalls innerhalb der privaten Interessenlagen nach zivilrechtlichen Grundsätzen untereinander abgewogen, ausgeglichen werden. Werden die privaten Belange jedoch, jedes Interesse für sich genommen, auf die heterogene Vielfalt der öffentlichen Interessen bezogen, so bleibt das Problem der Unvergleichbarkeit voll bestehen. Es verschärft sich sogar noch dadurch, daß nun in die abwägungsmäßig zu berücksichtigenden Interessenbewertungen zwischen Bürgern ständig der Staat sich schiebt mit seinen "ganz anderen Wertungen"; es besteht die Gefahr, daß auch noch die Gleichordnungs-Verhältnismäßigkeit da204 Vgl. Häberle (Fn. 100), S. 276, 282, 288 ff.; Stelzer (Fn. 100), S. 83 ff., 95 ff., passim. 205 Vgl. Leisner (Fn. 129), S. 217 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

durch verfälscht wird: Ein privates Interesse wird höher bewertet als ein anderes, an dem "weniger öffentliches Interesse" besteht. Sachgerecht wäre eine durchgehende Trennung privatrechtlicher Titel, auf ihnen beruhender Rechtsbeziehungen, von den öffentlich-rechtlichen Bezügen; doch nun wird im Verwaltungsrecht zunehmend gleichzeitiger "Drittschutz" öffentlich-rechtlicher Normen angenommen 206 . In ihm werden Abwägungen gegenüber dem Staat und gegenüber anderen Privaten, z.B. im Nachbarrecht, zusammengefaßt, oft heillos verwirrt. Im Baurecht etwa muß sich der Nachbar Abwägungen zwischen den Interessen des Bauwerbers und den eigenen gefallen lassen, welche der Allgemeinheit gegenüber vielleicht noch berechtigt sein mögen, in den privaten Beziehungen aber eine Härte darstellen können - und umgekehrt. Primär bleibt eben - das Beispiel des Drittschutzes zeigt es - im öffentlichen Recht stets die Abwägung zwischen Bürger und Staat; die Mitberücksichtigung privater Interessen verkümmert meist zu einer Annex-Überlegung bei solcher Abwägung, die nur zu oft zugunsten des öffentlichen Interesses und nur über dessen Drittschutzwirkung zugunsten anderer betroffener Bürger ausgeht. Wie immer hier aber auch das Ergebnis im Einzelfall ausfallen mag dem beurteilenden Staatsorgan wird in vielen Fällen schier Unmögliches abverlangt: Einerseits soll es agieren als " Zivilrichter" , in wirklich interessenausgleichender Abwägung auf der Gleichordnungsebene zugleich aber stets das gemeine Beste im Auge haben, dessen in aller Regel ja doch durchschlagende Gewichtigkeit. Damit wird die Heterogenität staatlicher Belange auch noch, indirekt, in die Verhältnismäßigkeitswertungen zwischen privaten Betroffenen getragen; und insgesamt geht man dabei von der Illusion aus, daß es eine einheitliche Methode der Abwägung privater und öffentlicher Belange geben könne. Aus der Sicht einer Marktwirtschaft ist all dies unvollziehbar, wenn nicht schlechthin ein Unding: ein Versuch, für völlig unterschiedliche Waren einheitliche Preise festzusetzen.

3. nRangstufen von Gemeinschaftsgütern"? Die Illusion des Apothekenurteils

Die Verhältnismäßigkeit hätte im deutschen Öffentlichen Recht die zentrale Bedeutung nicht erlangen können, vor allem nicht im Verfas206 König, H.-G., Bay. Baurecht, 2. Aufl. 1988, S. 81 ff., 268 ff.; lamss, H.D., Komm. zum BImSchG, 3. Aufl. 1995, § 6 Rdnrn. 34 ff.; Oldiges, M., Baurecht, in: Steiner (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1992, S. 548 ff.

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sungsrecht, hätte sie das Bundesverfassungsgericht nicht zum Ausgangspunkt einer ganzen Verfassungsdogmatik erhoben, mit der wirklich epochemachenden Entscheidung im Apothekenfa1l207 . Hier hat eine traditionelle, "rechtstechnisch" anmutende Begrifflichkeit auf höchster Normstufe durchbrechen können, seitdem beherrscht sie die gesamte Rechtsordnung als eine Art von begrifflicher Reservegewalt. Wie so oft konnte dies nur geschehen, weil die Richter aus einer gesetzgeberischen Not ihre judikative Tugend machen mußten. Gesetzestechnisch war das heute so hoch gelobte Grundgesetz ja gerade dort eher von mäßigem Verstande, wo es Neues hervorbringen sollte, wie bei jener Berufsfreiheit208 , welche die herkömmliche Gewerbefreiheit erweitern wollte. Dabei geriet nun das gesamte System der Gesetzesvorbehalte 209 in Verwirrung, ein Instrumentarium wurde durch defekte Gesetzesformulierung unanwendbar, mit dem die Begriffsjurisprudenz das Staatsrecht, im zentralen Bereich der Freiheitsrechte, seit langem zu gestalten begonnen hatte. Der Gesetzesvorbehalt, der bei der Berufsfreiheit begrifflich nicht sachgerecht ausgebildet war, sollte, mußte daher "fortgedacht" werden durch den Zauberbegriff der Verhältnismäßigkeit, in einem ebenso eindeutigen wie kaum bemerkten Übergang von einer Grundmethode des Rechts in die andere, von der Begriffs- in die Interessenj urisprudenz. Was auf der "begrifflich-horizontalen" Ebene, mit den Mitteln des Gesetzesvorbehalts und seiner Einschränkungen, nicht gelingen konnte, wurde nunmehr "vertikal", in Stufen aufgebaut; und die Fortune dieser Formel lag von Anfang an darin, daß sie mehrere Stufen anbot, damit geradezu etwas wie ein sicheres, volles dogmatisches Gerüst vorzugeben schien, als ob es Juristen vermöchten, überall Dogmatik zu konstruieren, wo von "Stufen" die Rede ist, wie formal, ja inhaltslos immer diese bei näherem Zusehen sich erweisen mögen. Hier schien jedoch die Verstufung der Verhältnismäßigkeit gelungen, damit zugleich die Verwandlung eines schwammigen Wertungsbegriffs in eine Begrifflichkeit harter, geradezu begriffsjuristisch anmutender Dogmatik. Noch die Kelsen-Merklsche Stufenlehre 210 war vom Formalismus der Begriffsjurisprudenz, von inhaltlichen Abgrenzungsversuchen, weBVerfGE 7, 377 ff. Und nicht nur dort, sondern auch bei anderen Neuerungen, man denke nur an Art. 2 Abs. 1 oder Art. 16 GG. 209 Zum Begriff des "Gesetzesvorbehaltes" vgl. Lerche, P., Schutzbereich, Grundrechtsprägung, Grundrechtseingriff, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 5, 1992, § 121 Rdnrn. 45 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 369 ff. 210 Kelsen (Fn. 5), S. 231 ff., 248 ff. 207

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nigstens im Ausgangspunkt getragen, zwischen Verordnung und Gesetz, Gesetz und Verfassung gibt es nichts abzuwägen, immer nur gilt es abzugrenzen, und sei es auch nach formalen Kriterien. Daß sie inhaltsarm, nahezu inhaltslos zu werden drohen, ist dieser Lehre von Anfang an und gewiß nicht zu Unrecht zum Vorwurf gemacht worden. Dennoch hat sie sich, zumindest in dieser ihrer Formalität, durchzusetzen vermocht, eben auf den dogmatischen Stützen der die Juristen faszinierenden Stufen. Solche Begriffsarmut, ja Begriffsleere wegen der Formalisierung der Verhältnismäßigkeitsstufen, ist dagegen dem Apothekenurteil nie in vergleichbarer Strenge zum Vorwurf gemacht worden, und doch wäre dazu wahrhaft Grund gewesen, fast vier Jahrzehnte lang. Kaum wagt man, angesichts eines so allgemeinen Konsenses, noch kritisch zu fragen: Was bietet denn das oberste Gericht an zur Bestimmung seiner Stufen - auf der ersten "vernünftige Gründe des Gemeinwohls", auf der zweiten "wichtige Gründe des Gemeinwohls", auf der dritten schließlich "überragende Gemeinwohlinteressen,,211. Und auf jeder Stufe darf dann der Staat, entsprechend, soweit beschränken, wie das Gewicht der so allgemein beschriebenen öffentlichen Interessen wirkt. Im Grunde ist all dies nichts als reine Verbalität. "Vernünftig", "wichtig", "höchstrangig" - wer soll dies nun mit Sinn erfüllen, wie soll es geschehen? Daß die Staatsgewalt den Bürger soweit belasten darf, wie dies durch Gemeinschaftsinteressen gerechtfertigt ist, ist nicht mehr nur banal. es ist rechtsstaatliehe Tautologie. Entweder der Gesetzgeber bestimmt hier die Wertigkeiten - dann wird nichts geboten als "Verfassung nach Gesetz,,212, ohne selbständige Verfassungsbegrifflichkeit. Oder man versucht die Bewertung dieser "Güter" nach dem Wortlaut der Verfassung selbst; dann wird in den meisten Fällen das Problem nur verschoben, von einer Begriffsarmut, der des Art. 12 GG, hin zu anderer Begriffsleere, im Bereich der höchsten Normen, die eben nicht gewichtbar zum Ausdruck bringen, wie wichtig denn nun etwa "Landesverteidigung" sei, im Verhältnis zu anderen Werten, die sogar manchen "allerhöchsten Wert" gar nicht nennen, wie den der" Volksgesundheit " , oder doch nur sehr indirekt im Schutz von L8586eben und Gesundheit 213 , wieder andere, insbesondere kulturelle, Belange als solche schlechthin nicht ansprechen. BVerfGE 7, 377 (408 f.); vgl. dazu Leisner (Fn. 172). (Fn. 40), S. 201 ff. 213 Zu diesem Begriff des Art. 2 Abs. 2 GG im Sinne einer ,,(Volks-)Gesundheit" vgl. Dürig (Fn. 153), Art. 2 Abs. II Rdnr. 39; Gubelt, M., in: von Münchl Kunig, GG, 4. Aufl. 1992, Art. 12 Rdnr. 67 f. 211

212 Leisner

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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Das Bundesverfassungsgericht hat also wortreich Abwägung postuliert, nicht aber hat es gezeigt, wie sie denn nun geleistet werden soll. Selbst heute noch ist es kaum möglich, exakt zu bestimmen, was insbesondere die "höchstrangigen Gemeinschaftswerte,,214 sein sollen, wann diese eine Wertigkeit erreichen, die sie besonders "dringlich" schutzwürdig werden läßt, denn auch diese weitere, wieder völlig inhaltslose Stufung hat das Gericht seiner Stufenlehre noch als Stütze zu geben versucht. Nun hätte man vielleicht erwarten dürfen, daß es in jahrzehntelanger Rechtsprechung gelingen würde, eindeutig zu klären, welche Werte denn hoch-, welche höchstrangig seien. In Wahrheit findet sich hier nichts als bis zur Inhaltslosigkeit allgemeine Formeln, von der" Volksgesundheit" bis hin zu jener "funktionierenden Rechtspflege,,215, unter die nun wirklich alles und jedes subsumiert werden kann, was der Staat auf diesem Groß-Bereich betreiben will. Im Grunde ist bis heute nicht mehr aufgestellt worden als Wertungskategorien, ihre Ausfüllung ist kaum begonnen, will man rechtsstaatliche Maßstäbe hier ernsthaft anlegen. Richterrecht, mit in Abwägung ausfüllenden Feststellungen, ist darin nicht faßbar; denn so allerallgemeinste Formulierungen wie etwa "höchstrangig" konnten eben letztlich gar nichts anderes hervorbringen als - wiederum bis zur Inhaltsleere allgemeine Globalbewertungen wie "Volksgesundheit" und "Landesverteidigung" . Alles andere wäre ja sogleich überzeugend kritisiert worden; eine Flucht nicht mehr in Generalklauseln, sondern in schiere Inhaltsleere hat die Richter vor solcher lästiger Diskussion bis heute bewahrt. Zugleich hat sie ihnen die wirkliche Souveränität nicht nur des letzten, sondern des unvorhersehbaren Wortes gesichert. Ohne das dogmatische Bemühen des Bundesverfassungsgerichts leugnen und viele sachgerechte Einzelfallentscheidungen kritisieren zu wollen, welche in solchen Worthülsen sich einnisten konnten - dogmatisch könnte man diese Art, Verhältnismäßigkeit in einen ganzen Staat einführen zu wollen, eine juristische Katastrophe nennen. Hier hat man sich einfach mit Worten zufrieden gegeben; eine spätere Zeit wird darüber richten, ob die obersten Richter hier nicht im letzten die Freiheit einem nur in Abwägungspostulaten verkleideten System der Staatsgewalt geopfert haben.

214 Vgl. zu diesem Begriff: Breuer, R., Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 6, 1989, § 148 Rdnrn. 50 ff.; GubeIt (Fn. 154), Art. 12 Rdnr. 67. 215 Heyde, w., Rechtsprechung, in: Handbuch des Verfassungsrechts (HdbVfR), 2. Auf!. 1994, S. 1600 ff.; Schäfer, K., in: Löwe/Rosenberg, Komm. z. StPO, 24. Auf!. 1988, Einl. Kap. 6 Rdnrn. 1 ff. (13 f.).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Weiterwirken wird von all dem wohl nur eines: daß hier anstatt von "öffentlichem Interesse" von" Gemeinschaftsgütern " und von" Werten" die Rede war. Doch auch die Werte-Jurisprudenz, welche all dem Pate gestanden hat, ist vergangen, zugleich mit dem materiellen Naturrecht der unmittelbaren Nachkriegszeit216 . Geblieben ist von ihr die Stufentheorie, besser die Stufen-Bezeichnungen des Apothekenurteils und seine Verfassungsdogmatik; mehr ist das nicht als ein Aufruf dazu, in die Wertungen und Gewichtungen, welche das oberste Gericht postuliert, stets nur das aufzunehmen, was "echte Werthaftigkeit" in sich trägt, dessen Gewicht also, in Überzeugung oder in Glauben bestimmt, anderen Belangen gegenüber darin abgewogen werden kann. Doch wie soll dies rechtlich faßbar geschehen? Skeptische Kritik wird in all dem letztlich nichts mehr anderes sehen, als Ansätze zu einer "freiheitlich-demokratischen Ideologie"; und Kritiker solcher Werte werden diese Abwägungen stets als ideologieverdächtige Relikte früherer politischer Überzeugungen bekämpfen. Und doch: Wenn schon jede Zeit, wie es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts scheint, ihre Verhältnismäßigkeit braucht, so ist wohl auch jeder Periode ihre "Ideologie" abverlangt, und sei es auch die eines in dubio pro libertate. Im Grunde ist dies aber bereits eine Anleihe bei der Begriffsjurisprudenz; doch wenn sie nicht aufgenommen wird, dann bleiben nur die schönen Worte des Apothekenurteils, von aller Abwägung und Verhältnismäßigkeit bleiben hohe, immer - nur noch höhere Worte ...

4. Abwägung vieler Gewichte Wo ein einheitlicher Nenner verschiedene Belange vergleichbar, damit aber abwägbar macht, lassen sich auch mehrere, ja viele Interessen berücksichtigend koordinieren - immer eben bezogen auf dieselbe, etwa vermögensmäßige, Wertigkeit. Anders gelagert ist jedoch die Problematik im öffentlichen Recht nicht nur dadurch, daß diese vermögensrechtliche Vergleichbarkeit fehlt; das Problem wird hier noch entscheidend verschärft durch die Notwendigkeit, untereinander gänzlich heterogene Wertigkeits-Inhalte zu koordinieren (vgl. dazu bereits oben 2). Dies ist hier nun noch unter einem speziellen Gesichtspunkt zu vertiefen: dem der Vielzahl solcher Interessen. 216 Vgl. dazu Hötte, 0., Naturrecht I.-III., in: Herders Staatslexikon, Bd. 3, 7. Auf!. 1987, S. 1296 ff.; Leisner (Pn. 51), S. 11 ff., 30 f.; Schlaich, K., Naturrecht, in: Evang. Staatslexikon, Bd. 2, 3. Auf!. 1987, S. 2223 ff.

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Da sind öffentliche Belange wie Wirtschaftswachstum und Landesverteidigung, Umweltschutz und Arbeitsplatzsicherung - sie alle sollen zusammengesehen, diese Vielfalt des Verschiedenartigen soll abgewogen, zwischen ihren Teilen oder Aspekten müssen verhältnismäßige Lösungen hergestellt werden. Wo schließlich derartige Groß-Begriffe durch Gesetzgebung und Rechtsprechung näher bestimmt, konkretisierend in Sub-Formeln aufgelöst werden, wie es etwa im Umweltschutz geschieht, vom Gewässerschutz bis zur Sicherung gegen übermäßige Lärmeinflüsse, da ergibt sich in der Regel nicht etwa Begriffsverdeutlichung, Abwägungsklarheit als Folge, im Gegenteil: Die zahlreichen untereinander bereits heterogenen großflächigen Globalbegriffe werden in ihrerseits wieder kaum vergleichbare, sich oft nur in Randzonen berührende Interessenkomplexe aufgelöst; Vielfalt und Vielzahl der abzuwägenden Größen nimmt entsprechend zu, exponentiell wächst die Schwierigkeit, Abwägungsbeziehungen zwischen all diesen einzelnen Belangen herzustellen, die nur zu oft zueinander in Widerspruch treten.

a) Aufsplitterung des Öffentlichen Rechts in zahlreiche Einzelmaterien

Hier begegnet jeder Abwägungsversuch einem Grundproblem des Öffentlichen Rechts als solchen: Es bildet keine systematische Einheit ratione materiae, wie dies aber weithin im Bürgerlichen Recht der Fall ist, das eben an vielfachen und doch vergleichbaren Vermögensinteressen laufend vereinheitlichende Orientierung findet. Das Öffentliche Recht jedoch ist, von allen großen Rechtsbereichen, der einzige, der noch immer, und vielleicht mit wesensmäßiger Endgültigkeit, aufgeteilt, wenn nicht zersplittert bleibt in gänzlich unterschiedliche Rechtsmaterien, welche dementsprechend auch unterschiedlichen Grundprinzipien untergeordnet sind, weithin unvergleichbare dogmatische Grundstrukturen aufweisen. Gewiß wird auch hier Systematisierungsstreben Kodifikationen begünstigen, im Baubereich hat es begonnen, im Umweltrecht setzt es sich fort. Doch abgesehen von föderaler Regelungsvielfalt in Deutschland, welche immer wieder "Heterogenes" auch innerhalb dieser Materien entstehen läßt - zunächst wirkt diese Entwicklung eher noch stärker im Sinne der Auflösung der Vergleichbarkeiten als in dem einer Herstellung von Abwägungsvoraussetzungen durch Gleichartigkeit. Nun wird ja erst wirklich bewußt, welche eigenständigen Grundsätze die einzelnen Materien beherrschen, sie damit aber auch trennen, unvergleichbar werden lassen im Verhältnis zu benachbarten Bereichen. Solange dies alles in einem ungeschriebenen Allgemeinen

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Verwaltungsrecht, grundsatzmäßig wenigstens, zusammengefaßt war, trat viel weniger in die Augen, daß das Recht der Sicherheit und Ordnung eben andere Ausprägungen der Bestimmtheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit kennt als das Wasserrecht. Wenn aber zusammenfassende Gesetze für jede Materie an ihrer Spitze "Grundsätze" aufstellen217 , dort häufig auch die Verhältnismäßigkeit ansprechen, so kann es leicht zu etwas kommen wie einer" Unvergleichbarkeit der Abwägungen"; nicht einmal die Verhältnismäßigkeit als solche ist dann mehr ein einheitlicher öffentlich-rechtlicher Begriff, der seine Erfüllung in der Zusammenschau ganz unterschiedlicher Rechtsmaterien fände, damit aber auch als ein Begriffsraster eine gewisse begriffliche Vergleichbarkeit, Abwägbarkeit zwischen ihnen, herzustellen vermöchte. Verhältnismäßigkeit und Interessenabwägung bedürfen im Zivilrecht weder der gesetzlichen Einzelnormierung, noch kann es unterschiedliche Begriffe der Verhältnismäßigkeit nach den einzelnen Sparten dieser Groß-Materie geben; der Begriff findet eben seine Einheit im Bezug auf die vermögensrechtliche Lage. Im Öffentlichen Recht wird man dagegen zunehmend versuchen müssen, etwas aufzubauen wie einzelne Verhältnismäßigkeits-Begriffe; in sie fließen dann bereits jeweils bestimmte materielle Abwägungs-, in Wahrheit: Prioritäts entscheidungen ein, welche für die betreffende Materie zum Ausdruck bringen, was in den Vordergrund, was zurücktreten muß. Im Verkehrs bereich wird dies etwas ganz anderes sein als im Recht der Gewässer, im Naturschutz wieder unvergleichbar mit der Ordnung des nichtstehenden Gewerbes. Man mag einwenden, der Verhältnismäßigkeitsbegriff als solcher werde nie wirklich zersplittert sein, immer müsse doch dasselbe Abwägungs-Postulat erfüllt werden. Doch was dann an Gemeinsamem bleibt, in den verschiedenen Bereichen des Öffentlichen Rechts, das ist eben nicht mehr eine differenzierte, ausgebaute oder auch nur auszubauende Rechtstechnik, sondern nur mehr ein nahezu vollständig formales Denkschema, welches erst dadurch in den einzelnen Materien überhaupt anwendbar wird, daß deren Prioritäts- und Subsidiaritätswertungen bereits in die "jeweilige Verhältnismäßigkeit" einfließen, sie erst praktikabel machen. Also wird sich doch eine gewisse Auflösung nicht nur der Einheit von Wertbegriffen über den einzelnen Interessen, sondern des Verhältnismäßigkeitsbegriffs selbst nicht aufhalten lassen, sie 217 Und gerade dies geschieht ja bei allen neuen Teilkodifikationen des öffentlichen Rechts (vgl. § 1 BauGB, §§ 1-3 Entwurf UmweltGB), und sei es auch in der früher schon geläufigen Form der Herausstellung allgemeiner gesetzgeberischer Ziele (vgl. §§ 1,2 BNatSchG).

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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wird sich vollziehen mit der Verselbständigungsbewegung der einzelnen öffentlich-rechtliche Materien 218 . Selbst wenn dies aber nicht oder nur in Grenzen zuträfe, wenn einheitlich-formale Abwägungskriterien dennoch erhalten blieben, vom Bagatellbegriff bis zum Übermaßverbot, so muß doch in einem Punkt die zunehmende Verselbständigung der Materien sich als immer größeres Abwägungsproblem erweisen: Die jeweiligen Wertigkeiten der abzuwägenden, insbesondere der öffentlichen Belange werden in vielen Gesetzen zersplittert, in denen unterschiedlich bewertet wird, vor allem in jenen "allgemeinen Bestimmungen", welche an der Spitze der jeweiligen Spezial-Kodifikation sich finden. Es sind dies eben die "Ziele des Gesetzes", deren eine Interessenjurisprudenz dringend bedarf, will sie ihre Abwägungen verfeinern, vielleicht überhaupt erst beginnen können. Man hat nicht vertiefend darüber nachgedacht, weshalb zivilrechtliche Kodifikationen keine Präambeln brauchen, die ihre Hintergründe und Zielvorstellungen, damit die Wertigkeit der hier zu schützenden Interessen näher bezeichnen. Dies ist hier überflüssig, weil es in einen Satz sich fassen läßt: abgewogener Schutz vermögensrechtlicher Interessen, diese aber sind durch einen gemeinsamen Nenner definiert, jederzeit abwäg bar festzustellen. Das Öffentliche Recht hatte in seiner begriffsjurisprudentiellen rechtsstaatlichen Frühphase ebenfalls auf derartige Ankündigungen, Wertigkeits-Hilfen verzichten können, sie allenfalls auf das Niveau politischer Programm-Proklamationen zurückgedrängt. Die Integrationslehre Smends, der erste große Versuch einer verfassungsrechtlichen Interessenjurisprudenz, in der Wertigkeitsbestimmung der Schutz güter der obersten Normen, hat demgegenüber den Blick vor allem auf die Präambeln gelenkt219 , aus ihnen Ziel und Richtung des neuen Öffentlichen Rechts, damit aber auch seine GrundWertigkeiten zu bestimmen versucht, bis hin zu den Grundrechten als "Heiligtümern des deutschen Volkes". Je weiter im Öffentlichen Recht die Kodifikationsbemühungen fortschreiten, desto mehr wird man versuchen, in allgemeinen Vorsprüchen, Zielbestimmungen, etwas wie 218 Schon heute kommt es dazu, und gerade durch die Gerichtsbarkeit, die Herrin der Verhältnismäßigkeit: Wenn etwa dem Umweltschutz bei Abwägung "in der Regel" Vorrang vor den Eigentümerinteressen eingeräumt wird (vgl. BGH NJW 1977, S. 945; BGHZ 90, 4 (11); BVerwGE 67,93 (95); BayVerfGHE 12, 1 (8, 39); BayObLG 1978, 69 (77); OVG NW NuR 1989, S.230 (231); vgl. dazu auch Leisner (Fn. 1721)), so läßt sich dies gewiß nicht ins Polizeirecht übertragen. 219 Isensee, J., Staat und Verfassung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 13 Rdnrn. 4 ff.; Smend, R., Integration, in: Evang. Staatslexikon, Bd. 1,3. Auf!. 1987, S. 1354 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Wertigkeitsvorgaben der Abwägung zu setzen; schon deshalb wird dies sich als unumgänglich erweisen, weil mit steigender Kodifikations-Flächenausdehnung die Ermessensräume zunehmen müssen, innerhalb deren dann die Rechtsstaatlichkeit sich gerade durch innere Ermessensbindungen, also in interessenabwägender Ziel-Teleologie, zu bewähren hat.

b) Abwägung zwischen Spezialmaterien -

durch Spezialisten nur eines Bereiches oder durch Generalisten?

Nun ist Teleologie, mit ihren Bemühen um Verdeutlichung gesetzgeberischer Ziele, weder unvereinbar mit Abwägung, noch aber auch, und dies ist hier entscheidend, mit ihr identisch. Wenn der Gesetzgeber durch Zielvorgaben überhaupt einen Beitrag zur Gewichtung der vielen in Abwägung zu bringenden öffentlichen Interessen leisten kann, so bleibt doch das Grundproblem der Verhältnismäßigkeit, es verschärft sich noch: Dann treffen eben nicht nur schlagwortartig bezeichnete, damit dem Rechtsanwendenden Flexibilität gewährende Globalbegrifflichkeiten aufeinander; sie werden getragen jeweils durch eine ausgebaute zielbestimmte Einzeldogmatik des betreffenden Bereichs. Es gilt dann, nicht nur global definierte Belange abzuwägen, sondern ganze dogmatische Wertungsgeflechte, die sich aber auf völlig Heterogenes beziehen, aus dieser jeweiligen Materie erwachsen sind 220 . Wie aber soll nun der eine Verwaltungsrichter, der eine, Verwaltungsakte erlassende Beamte der Exekutive in der Lage sein oder auch nur versuchen, diese vielen "Dogmatiken" der Einzelmaterien zueinander in Beziehung zu setzen, sie abzuwägen, aus ihnen verhältnismäßige Lösungen zu gewinnen? Dem stehen bereits unüberwindliche Zwänge der Behördenorganisation entgegen. Die eigentlichen Abwägungsentscheidungen fallen doch in aller Regel nicht im Ministerialbereich, ja nicht einmal auf jener Regierungsebene, in welcher die staatsorganisatorische Grundidee von einer Zusammenfassung der öffentlich-rechtlichen Entscheidungen in einer Kabinetts-Instanz 221 ausgeht, wo sich also wohl noch am ehesten etwas wie eine abwägende, Proportionalität herstellende Gesamtschau bilden 220 Und diese aus Teleologie entwickelten "Einzeldogmatiken" stehen heute erst noch am Anfang ihrer Entfaltung, wie die "allgemeinen" oder Grundsatzkapitel etwa der Lehrbücher des Umweltrechts zeigen (vgl. Bender, B.lSpaIWasser, R.I Engel, R., Umweltrecht, 3. Auf!. 1995, S. 1 ff.; Hoppe/Beckmann (Pn. 172), S. 3 ff., 287 ff.) - bis hin zum Europarecht (vgl. Schweitzer, M.lHummer, w., Europarecht, 3. Auf!. 1990, S. 253 ff.).

III. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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könnte. Diese Spitzen der Administration sind in der Einzelfall-Praxis weitestgehend auf Reaktivität beschränkt, auf Überwachung nachgeordneter Entscheidungsfindung, welche nun "wirklich abwägt", nahe am Einzelfall: in Landratsämtern und Kommunalverwaltungen. Wie aber sollten dort einzelne Verwaltungsvertreter immer mehr sich verzweigende Dogmatiken so beherrschen, daß sie diese interessenabwägend kombinieren könnten? Dies würde ja voraussetzen, daß solche Abwägende, wie es das Bild denn auch will, irgendwie "über allem stehen" , in Generalistenausbildung und breitester Praxis all dies Vielfältige wirklich zu "verinnerlichen" vennöchten, damit es sich dann zur verhältnismäßigen Lösung integriere. In der Praxis werden sie stets einer bestimmten Dogmatik und deren Grundprinzipien folgen, jenem Bereich eben, der den Schwerpunkt ihrer gesetzesanwendenden Tätigkeit ausmacht. Alles andere wird allenfalls grenzkorrigierend zur Kenntnis genommen. Man betrachte gerade hier die Praxis näher: Eine Behörde ist in der Regel entscheidungsbefugt222, denn eine volle, damit aber auch nach außen wirkende Kombination von Entscheidungsträgem soll es im Rechtsstaat doch grundsätzlich nicht geben - die aber gerade eine echte, alle Interessenlagen berücksichtigende Abwägungs-Zusammenschau leisten könnte. In der Praxis bleibt jedoch der regelmäßig entscheidende Spezialist eines Bereichs, der staatlichen Schwerpunktdomäne eben, verwiesen auf die Berücksichtigung von Äußerungen der "Träger anderer öffentlicher Belange" 223. Er wird sie zur Kenntnis nehmen' zum Tragen bringen, soweit sie sich nicht widersprechen, im übrigen aber einfach zurücktreten lassen - Abwägung findet in alle dem kaum statt. Wenn schließlich noch jedes einzelne unter diesen gesetzgeberisch vorgegebenen Wertungssystemen öffentlicher Belange abgewogen werden soll gegenüber den privaten Interessen der Bürger, so kann dies nur in der völligen Überforderung der Praxis enden224 , sich letztlich im Vorrang irgendwelcher staatlicher Interessen auflösen, ohne nähere Prüfung anderer.

221 Kölble, J., Ist Art. 65 GG (Ressortprinz~p im Rahmen von Kanzlerrichtlinien und Kabinettsentscheidungen) überholt?, DOV 1973, S. 1 (8 ff.); Oldiges, M., Die Bundesregierung als Kollegium, 1978, S. 52 ff.; Stern (Fn. 1), S. 1012 f. 222 Typisch die Konzentration der Kompetenz im Baurecht, vgl. Art. 65, 66, 88, 89 BayBO. 223 Battis, U.lKrautzberger, M.lLöhr, R.P., BauGB-Komm., 5. Aufl. 1996, § 4 Rdnr. 2 f. 224 Die hier ja mit geradezu zivilrichterlicher Kompetenz zugleich handeln müßte, wofür ihr aber kaum Anhaltspunkte geboten werden, vgl. Battis/Krautzberger/Löhr (Fn. 223), § 1 Rdnm. 96 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Mit der Entwicklung immer mehr verselbständigter Spezialverwaltungen wird die Abwägung nicht gefördert, sondern behindert, ja als solche letztlich unmöglich. Innerhalb der Verwaltungen muß ein Generalistentum225 immer mehr abgebaut werden, das aber doch die ausbildungsmäßige, ja geradezu menschenbezogene Voraussetzung für eine zusammenschauende, gesamt-abwägende Lösung darstellt. Angestrebt wird und der Karriere dienlich ist in erster Linie die möglichst vollständige Beherrschung eines Bereichs, seiner gesetzgeberischen Zielvorgaben, seiner Abwägungsbegrifflichkeiten, Prioritäten und Subsidiaritäten. Dies ist es ja gerade, was immer mehr, immer noch stärker spezialisiert, bereits aus den ministerialen Leitzentralen der Exekutive die Verwaltung berieselt, sich dort kapillar verteilt: Wertungsspezialisierungen, die schon kaum mehr wissen oder zur Kenntnis nehmen wollen, was sich in den Räumen der benachbarten Spezialabteilung gedanklich abspielt226 . Und dann soll auf mittlerer und unterer Ebene abwägend zusammen gesehen und verarbeitet werden, was in den vielen höchst spezialisierten, gerade darin besonders qualifizierten Ministerialentscheidungen für die Einzelbewertung ständig vorgegeben wird, aus jenen Münzen staatlicher Interessen, in denen deren monetäre Abwägungs-Gewichte täglich neu bestimmt, ständig umgeprägt werden, im wahren Sinne. Personelle Folge der Abwägung müßte der Verwaltungs-Generalist sein und ein Verwaltungsrichter, der laufend, wenn möglich im Jahresturnus, mit immer neuen Materien betraut würde. Das schiere Gegenteil ist Sach- und damit Organisationsnotwendigkeit. Wenn schon theoretisch eine Abwägung zwischen zwei öffentlichen Belangen nur schwer vollziehbar, eine solche gegenüber der Freiheit des Bürgers mit politischen Grundsatzproblemen belastet ist - wie sollen dann die praktischen Abwägungshindernisse überwunden werden, die erst jenseits von alle dem beginnen, dort, wo man dem Verwalter öffentlicher Interessen, um es banal zu formulieren, nicht nur Äpfel und Birnen zum Vergleich anbietet, sondern den ganzen reichen Fruchtkorb öffentlicher Belange? Dann aber fragt es sich, ob Verhältnismäßigkeit und ihre Abwägung mehr sein können als beruhigende Worte für das schlechte Gewissen von Rechts-Spezialisten, die sich hier wenigstens verbal beschei225 Püttner (Fn. 121), S. 195 ff.; Weber, H., Die Bielefelder einstufige Juristenausbildung - Reminiszenz oder Vorbild für eine zukünftige Juristenausbildung, JuS 1989, S. 678 (681). 226 Verstärkt wird dies noch durch die ständig, aus oft wenig durchdachten Freiheitsvorstellungen heraus erhobenen Forderungen nach mehr Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf die Mitarbeiter, vgl. dazu Lecheier (Fn. 121), S. 157; Püttner (Fn. 121), S. 280 f. m. weit. Nachw.; Thieme (Fn. 121), S. 438 f.

111. Unabwägbarkeit unvergleichbarer Begriffsinhalte

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nigen wollen, daß sie "das Ganze" letztlich doch nicht aus den Augen verlieren. Diesen guten Willen wird einer noch immer am abwägenden Gerechtigkeitsdenken des Zivilrechts geschulten rechtskundigen Beamtenschaft kein billig Denkender bestreiten, deren Abwägungswillen auch dort noch loben, wo er von dogmatischer Ratio nicht mehr unterstützt, getragen wird. Praktische, in Verhältnismäßigkeit grenzkorrigierende Vernunft wird darin ohnehin öfter sich in Abwägung durchsetzen, als es der Theoretiker für möglich hält. Fraglich aber bleibt, ob hier mehr zu leisten ist als eine Billigkeits-Annäherung227 an das nicht zu erreichende Gerechte. Und wie sollte man von "Technikern" Abwägung über ihr Spezialgebiet hinaus verlangen können? Jedenfalls sollte dieser Blick auf Ausbildungs-, ja Persönlichkeitsprobleme einer zur Abwägung im öffentlichen Recht verurteilten Praxis, der doch entsprechende rechtstechnische Instrumente nicht zur Verfügung gestellt werden, zu einem mahnen: die Einheit einer juristischen Ausbildung zu bewahren228 , mit Schwerpunkt in jenem Zivilrecht, das später auch dem Rechtsanwendenden des Öffentlichen Rechts, seinem Richter vor allem, stets noch etwas mitgeben wird von dem großen Atem zivilrechtlicher Abwägung. Mit der Einbeziehung immer weiterer zu berücksichtigender öffentlicher Belange in die Abwägungsformeln der öffentlich-rechtlichen Gesetze will der demokratisch-interessenwahrende und zugleich immer stärker spezialisierte Gesetzgeber sein schlechtes Gerechtigkeitsgewissen beruhigen; in Wahrheit werden damit fast nur Formelkompromisse - im eigentlichen Sinne des Wortes - geboten und befohlen. Dabei wäre doch seit langem, gerade hier, weniger mehr gewesen: Ein oder zwei Interessenkomplexe lassen sich vielleicht, mögen sie auch heterogen gelagert sein, im öffentlichen Recht noch abwägend verbinden, bei zehn oder zwanzig Belangen ist dies schlechthin unmöglich; ihre Aufzählung will nurmehr besagen, daß der Gesetzgeber sie nicht völlig übersehen hat, doch die gesetzesausführende Praxis muß und wird sie sogleich vergessen. Wer aber der geschichtlichen Betrachtung mehr an kritischer Erkenntnis zutraut als spezial-technische Fortschrittsgläubigkeit wahrhaben will, der wird zugeben, daß das Öffentliche Recht der wenigen, punktuellen, geradezu ausnahmsweisen Eingriffe weit mehr 227 Billigkeit ist an sich schon durchaus kein Zentralbegriff des öffentlichen Rechts (vgl. Larenz (Fn. 1), S. 279 f.; Bydlinski (Fn. 1), S. 363 ff.; Schachtschneider (Fn. 18), S. 881 ff.), schon die Rechtsstaatlichkeit schließt dies mit strenger Verwaltungs bindung aus. 228 Vgl. dazu Kleinknecht, V., Plädoyer für eine andere Juristenausbildung, JuS 1992, S. 532 (533); Vgl. kritisch Roellecke, G., Erziehung zum Bürokraten? Zur Tradition der deutschen Juristenausbildung, JuS 1990, S. 337 (342 f.).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

die Chance zu echter Verhältnismäßigkeit hatte als die flächendeckend sich verbreitende Verwaltungsgesetzlichkeit unserer Tage. Ihre Gefahr ist es, daß sie überall den Staat zum Tragen bringen will- überall aber durchschlagend möglichst mit nur einem Interesse, einem der seinigen: unverhältnismäßig. Wenn schon die Abwägung öffentlicher und privater Belange problematisch, fast unmöglich erscheint - ist es da nicht am besten, der Staat, sein Gesetzgeber und seine Verwaltung "kennen möglichst wenige Interessen-Begriffe", stehen dann nicht in der Versuchung, immer mehr öffentliche Interessen einzusetzen - um letztlich doch nur im Namen eines Belanges zu befehlen?

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit 1. Abwägung - zwischen weiten Begriffsinhalten,

"Rechtsmaterien" , "Grundrechten"

Technik muß, wie immer sonst der Begriff verstanden wird, mit vielfältigen, feinen Instrumenten umgehen, Rechtstechnik mit dem Instrumentarium verfeinerter Begrifflichkeit. Dieses Erbe jedenfalls hat die Begriffsjurisprudenz, hat das abwägende Bürgerliche Recht unverlierbar auch dem abwägungsbereiten Öffentlichen Recht der Gegenwart hinterlassen. Doch der Gesetzgeber weiß es anders. Die Worte, welche er zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit einsetzt, mit welchen er die Staatsorgane zur Abwägung zwingen will, sind von einer inhaltlichen Weite, die sich in neuerer Zeit eher noch vervielfältigend steigert. Daß dies eine schwere Gefahr für jede Abwägung darstellt, ja zur Unabwägbarkeit führen kann, wird bisher kaum gesehen. Wo immer von Verhältnismäßigkeit die Rede ist, werden meist ganz unkritisch Begriffe von eben jener Weite zur angeblichen "Abwägung" eingesetzt, wie sie der Gesetzgeber zunehmend in seinen legislativen Zielvorgaben verwendet. Dies muß nun aber einmal praktisch nachvollzogen werden: Was soll es dem Rechtsanwendenden an Orientierung bringen, wenn er zur Beachtung von "Belangen des Umweltschutzes" oder des "dringenden Wohnbedarfs von Bevölkerungsgruppen mit besonderen Wohnungsversorgungsproblemen" verpflichtet wird? Im letzteren Fall findet er zumindest noch einen Materienbegriff229 , der ihm aus der Beschäftigung BauGB-MaßnG § 6 Abs. 2 Ziff. 2, vgl. zur "Bestimmung" dieses Begriffes w., in: ErnsVZinkahn/Bielenberg, BauGB-Komm., § 6 Rdnr. 2 BauGB-MaßnG; Schrödter, H., BauGB/BauGB-MaßnG, 5. Auf!. 1994, § 6 Rdnr. 4. 229

Bielenberg,

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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mit Einzelfragen als solcher bekannt ist, im ersteren wird er auf naturwissenschaftlich-technische, soziologische oder ökonomische Daten und Theorien verwiesen, die er auch nicht mehr im Umriß kennt. Erstaunlich ist es schon, mit welcher Leichtigkeit der Gesetzgeber davon ausgeht, dem DurchschniUsjuristen sei klar, wie der Begriff des "Umweltschutzes", und damit die Belange desselben, zu bestimmen seien. Ein Blick in Lehrbücher der betreffenden Materie 230 , auf Begriffsbestimmungsversuche derselben zeigen, daß hier kaum mehr sich findet als Beschreibungen oder Verweise auf "Materienbündel ", mehr auch gar nicht zu erwarten ist bei Bereichen, welche in voller Entwicklung stehen, frühestens nach Jahren - vielleicht - einmal jene Abgrenzungspräzision erreichen können, wie sie im Zivilrecht selbstverständlich ist. Daß letztlich kaum jemand weiß, was" Umweltschutz" heute bedeutet, oder was alles zum Recht des Sozialen Wohnungsbaus und seiner Förderung gehört, all dies kümmert den Rechtsanwendenden in diesen Einzelmaterien solange nicht, wie es ihm nicht aufgegeben wird, abwägende Bewertungsverbindungen zu anderen Bereichen zu ziehen. Die Rechtsanwendung kann sich dann eben von den globalen Entscheidungen des Gesetzgebers leiten lassen, diese zu verfeinern versuchen. Wenn aber Verhältnismäßigkeit zwischen Rechtsmaterien-Begriffen hergestellt werden muß - "Umweltschutz gegen sozialen Wohnungsbau" - so schlägt deren Unbestimmtheit voll auf den Einzelfall durch; er kann dann nicht in einem einzelfall-nahen, bestimmten Wort des Gesetzgebers seine Lösung finden, das der Rechtsanwendende nur noch weiter zu konkretisieren bräuchte, die Lösung muß vielmehr im "großen Sprung" von der allerallgemeinsten Materien-Umschreibungsnorm hin zur Einzelkonstellation gefunden werden - ein methodisch unmögliches Unterfangen. Die Verhältnismäßigkeitsforderung drängt immer mehr in die GroßBegrifflichkeit, welche zwar "Belange des ... " anspricht, in Wahrheit aber ganze Materien umfaßt. Wie wenig sie an klarer Bewertung hervorzubringen vermag, zeigt sich schon bei den Versuchen, die Inhalte jener Gesetzgebungsmaterien zu erfassen, welche das GG zwischen Bund und Ländern aufzuteilen unternimmt 231 . Letztlich hat all dies in den meisten Fällen in einer wenn nicht uferlosen, so doch immer weiter extensiven Auslegung geendet232 - oder in einer ebensowenig rational 230 Etwa Kloepfer, M., Umweltrecht, 1989, S. 15; Prümm, H.P., Umweltschutzrecht, 1989, S. 4 f. 231 Für viele Stern (Fn. 1), S. 677 ff.; Vogel, H.-J., Die bundesstaatliche Ordnung des GG, in: HdbVfR (Fn. 215), S. 1041 ff. (1065 ff., 1073 f.). 232 Vgl. etwa das "Recht der Wirtschaft", Art. 74 Nr. 11 GG - dazu BVerfGE 4, 7 (13); 11, 105 (110 ff.); 26, 246 (255 f.).

7 Leisner

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

begründbaren, dem Wortlaut jedenfalls kaum zu entnehmenden Einschränkung. Dabei steht dort noch immer eine lange Staatstradition zur Verfügung, ein Gesetzgebungsherkommen, aus dem die "Materien" sinnerfüllt werden können. Weit schwieriger gestaltet sich die Lage, wo solche Materien-Begriffe geradezu Gewichte der Abwägung sein sollen. Dann fehlt ja in der Regel jenes föderale Spannungsverhältnis, das im Bund-Länder-Streit Begriffsklarheit in die Verfassung bringen mag. Soll etwa der Naturschutz gegenüber dem Eigentum abgegrenzt werden, so bietet es dem betroffenen Bürger keinen klaren Anhalt, daß die Naturschutzbelange zwischen Bund und Ländern aufgeteilt233 zu sichern sind; er muß jedenfalls mit immer weiterer Ausdehnung, mit immer höherem Gewicht dieser Gesamtmaterie gerade deshalb rechnen, weil ihm hier gleich mehrere Hoheitsträger auf einmal gegenüberstehen, deren Mächtigkeiten sich ihm gegenüber potenzieren. Solange die Abwägungsdogmatik im Öffentlichen Recht nicht darüber hinauskommt, die Abwägungsgegenstände letztlich mit Rechtsmaterien-Begriffen zu bezeichnen, im Grunde nur zu umschreiben, kann von einer verfeinernden Rechtstechnik nicht die Rede sein, denn eine "abgrenzende Begriffsdogmatik der Rechtsmaterien als solcher" gibt es nicht, wird es auf lange Sicht, vielleicht endgültig nicht geben können. Der Sinn eines Materien-Begriffs ist eben an sich schon ein ganz anderer - vor allem ein föderal abgrenzender, - so daß auf diese Weise nicht einzelne Interessen bezeichnet, in Abwägung anderen gegenüber umschrieben werden können. So wirken denn die Materienbegriffe als solche bereits begriffs-verunklarend - als Abwägungshindernis. Nicht anders im Bereich der Freiheitsrechte, am anderen Pol der Großabwägung zwischen Staat und Bürger. Auch hier sind es in aller Regel nicht etwa verfeinernde Interessenumschreibungen, welche das rechtsanwendende Staatsorgan zu berücksichtigen, den Belangen der Allgemeinheit gegenüberzustellen hätte. Vielmehr geht es um "die Rechte der Eigentümer", die "Belange der Presse,,234 und wie sonst immer derartige Interessenlagen bezeichnet sein mögen - wiederum: nicht einmal wirklich umschrieben. Alles Nähere bleibt dem Rechtsanwender überlassen; mag er dann einzelne Eigentumsausstrahlungen definieren, die durch einen bestimmten Staatseingriff besonders getroffen werden. Doch gerade in diesem Eigentumsbereich zeigt sich die Unvollständigkeit der Abwägungsbegrifflichkeit bei den Freiheits233 Kloepfer (Fn. 230), S. 61 f.; Schmidt-Bleibtreu, B., in: Schrnidt-Bleibtreul Klein, GG, 8. Auf!. 1995, Art. 75 Rdnr. 12. 234 Dazu Bullinger, M., Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 6, 1989, § 142 Rdnr. 42 ff.

IV, Der Verlust der Begriffsklarheit

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rechten besonders deutlich: Wenn der Gesetzgeber nicht klar vorgibt, welche Eigentumsausstrahlungen es gibt, welche besonders zu berücksichtigen, welche anderen zu vernachlässigen sind, seien es nun die des Erwerbes, des Besitzes, der Verwaltung, der Nutzung oder der Veräußerung, wenn innerhalb all dieser Aspekte nicht noch weiter gesetzgeberisch düferenziert wird - wie soll dann ein immissions- oder landschaftsschützender Eingriff in seiner Verhältnismäßigkeit abgewogen werden "gegenüber den Belastungen des Bürgers"? Der Hinweis auf ein Freiheitsrecht, von der Weite etwa des Eigentums, kann doch Abwägung und Verhältnismäßigkeit nicht einmal in Ansätzen orientieren, solange jedenfalls keine Rechtssicherheit schaffen, wie bei Subsumtion jederzeit von der einen Interessenlage des Eigentums zu einer anderen, vom Bestandsschutz etwa zum Wertschutz, übergewechselt werden kann235 . " Belange des Grundeigentums" - das ist, als solches, überhaupt kein Abwägungsbegriff, es bedeutet nicht mehr als die Aufforderung, an private Belange hier "irgendwie zu denken". Wer mehr erreichen, der Freiheit einen Schutz durch verfeinernde Rechtstechnik bieten will, der muß zuallererst jener Begriffsverunklarung entgegenwirken, welche sich auf der Seite der Bürgerinteressen ebenso, immer mehr, einschleicht wie bei den Definitionsversuchen staatlicher Belange. Der Verlust der Begriffsklarheit beginnt entscheidend mit dem Versuch, den Abwägungen Raum dadurch zu schaffen, daß die hierbei zu berücksichtigenden Elemente in kaum mehr faßbarer Allgemeinheit beschrieben werden. Der Rechtsstaat verlangt, daß selbst bei der Abwägung jenes Minimum an Berechenbarkeit erhalten bleibe, welches aber Materienbegriffe der Gesetzgebung und Bezeichnungen von Freiheitsrechten als solche nie hervorbringen können. In ihrer Verwendung liegt nichts als die Illusion, daß die Verfassungsbegrifflichkeit bereits die durchgeformte Präzision der Rechtsstaatlichkeit erreicht habe - davon ist sie noch weit entfernt. Die Verfassung postuliert den Rechtsstaat; schaffen muß ihn der Gesetzgeber mit klaren Begriffen236 , nicht mit Abwägungsaufforderungen, welche Verfassungsworte wiederholen - oder nicht einmal solche. Sonst käme es paradox dahin, daß der Verfassungsstaat den Rechtsstaat ersetzen soll ...

235 Beides wird vom BVerfG zwar unterschieden, ersteres stärker betont, eine klare Gewichtung aber fehlt, wird letztlich wieder - der Verhältnismäßigkeit überlassen, vgl. BVerfGE 24, 367 (400 f.)i 38, 175 (184 f.)i 89, 1 (7). 236 Der Rechtsstaat verlangt Gesetzesklarheit, nicht Verfassungsklarheit, vgl. Stern (Fn. 1 ), S. 829 m. weit. Nachw.

7*

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

2. Der Rückzug der abgrenzenden Begriifsjurisprudenz vor der Interessenjurisprudenz Abwägung und Verhältnismäßigkeit sind, dies wurde schon erwähnt (A II 2), Erscheinungen jener Interessenjurisprudenz, welche sich im 20. Jahrhundert immer mehr gegen die Begriffsjurisprudenz durchsetzen konnte. Mit den Kodifilcationen des deutschen und des italienischen Zivilrechts hat diese, am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des folgenden, ihren Höhepunkt überschritten. Ihre große Zeit war die jener Pandektistik, welche den goldenen Trümmer-Schatz des Römischen Rechts mit den Mitteln der modemen geisteswissenschaftlichen Kritik gehoben hatte, aufgearbeitet im wahren Sinne des Wortes. Dies konnte nur mit jenem Streben nach klaren Begriffen geschehen, welches die Aufklärung dieser juristischen Romantik als Erbe hinterlassen hatte; in der Begriffsklarheit wuchs denn auch das Recht rasch aus romantischen Traditionsnebeln heraus. Daß das Klarste immer auch das Banalste sei, mochte über dem Schaffen eines Otto von Gierke stehen; doch all dies wurde überrollt durch den großen Aufbruch zur Begriffsklarheit, der den entscheidenden Sieg der Begriffsjurisprudenz bringen sollte, mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Das Wesen dieser Begriffsjurisprudenz 237 läßt sich, aus heutiger Sicht, in dem Satz zusammenfassen: "Recht ist Abgrenzung", ganz wesentlich. Stand nicht geschrieben: "Deine Rede sei Ja Ja - Nein Nein "? Diese Jurisprudenz entwickelte sich als Rechtswissenschaft zu derselben Zeit, welche, gerade in Deutschland, die mächtige Bewegung zur alles klärenden Mathematik und Naturwissenschaft gebracht hat. Konnte nicht die Subsumtionsmaschine der voll berechenbaren Begriffsjurisprudenz mit ihrem ständigen "Entweder-Oder" in harten Abgrenzungen eine quasi-mathematische Rechtsklarheit schaffen, auch wenn, vielleicht weil weitergelten mußte iudex non calculat? Die entscheidende Frage an diese neue Kodifikation war doch immer: Was haben die Väter des BGB gewollt mit ihren Begriffsinhalten, den entscheidenden Bausteinen ihrer Begriffsmechanismen? So ist denn das Deutsche Zivilrecht zum Abgrenzungsrecht par excellence geworden, es hat seine höchste begriffsklärende Steigerung in jenem Sachenrecht erfahren, in welchem sogar alte deutschrechtliche Begrifflichkeit eingesetzt - und geklärt - werden konnte gegen so manche interessenabwägende Jurisprudenz der entwicklungsmäßig weit späteren römischen Zeit 238 . Ihre Spitze geradezu hat die Begriffsjurisprudenz erreicht in ihrer - Künstlichkeit um der Klarheit 237

Vgl. die in Pn. 53 Zitierten.

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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Willen - Trennung des obligatorischen vom dinglichen Rechtsgeschäft. Da kann es keine Abwägungen geben, keine Proportionalüberlegungen. Pereat iustitia, fiat ius - definitum! Das könnte man über ein Denken schreiben, dem schon deshalb Klarheit und Gerechtigkeit eine Einheit waren, weil es vom großen deutschen Liberalismus geprägt war: Der Staat brauchte dem Bürger nicht mehr zu geben als Rechtsklarheit, alles übrige würde dieser dann, in seiner freien Entscheidung, schon hinzufügen, zur Gerechtigkeit. Suchet zuerst die Klarheit des Rechts - alle übrige Gerechtigkeit wird euch hinzugegeben werden! Eines stand einem solchen Rechtsdenken besonders wohl an: Selbstbescheidung im Namen dieser Begriffsklarheit. Man mag den Vätern des Bürgerlichen Gesetzbuches Systemillusion vorhalten - eine letztlich doch liberale Grundprägung konnte sie hier gar nicht zu wirklicher Übersteigerung verleiten. Wer sich von Begriffen leiten läßt und deren Abgrenzungskraft, der muß immer auch die Begrenzung der Normwirkungen bedenken, die er auf solche Weise zu erzielen vermag. In der Bescheidenheit einer Regelungspunktualität wird er sich also stets bewegen, welche den größeren "Guter Space" der Rechtsbeziehungen dem Vertrag, der Bürgerfreiheit überläßt. Die Begriffsjurisprudenz mag einzelne Bereiche begrenzend absichern, sie verfährt inselschaffend, nicht netzknüpfend. Damit ist die Dimension aufgezeigt, aus der die Interessenjurisprudenz mit ihren Spätphasen der Verhältnismäßigkeit und der Abwägung herausgewachsen ist - jene Begriffsjurisprudenz, die man nicht aufzuheben, aber unschwer zu relativieren vermochte, weil sie von Anfang an mit der Bescheidenheit des Klarheitsstrebens einherging. Zugleich wird darin aber auch deutlich, daß der große Angriff auf die Begriffsjurisprudenz, wie er bereits von Jhering239 begonnen, wenig später von der Freirechtsschule bis ins Extrem vorgetragen wurde, daß also jener geistige Ausgangspunkt des heutigen Verhältnismäßigkeitsdenkens eine große, grundsätzliche Bewegung war, in welcher auch das hier beschriebene Phänomen letztlich noch immer, wenn auch weithin seinen Vertretern unbewußt, steht. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als den Kampf zwischen dem punktuellen und dem allgegenwärtigen Recht. Nicht um den "Kampf des Rechts gegen die Gesetze", sondern 238 Heinrich Mitteis hat dies in seinem Deutschen Privatrecht (3. Aufl. 1959, S. 4 ff.) gültig beschrieben. 239 Vgl. von Jhering, R., Der Zweck im Recht, 4. Aufl. 1904, 1. Bd., S. 462; zur Abwendung Jherings von der Begriffsjurisprudenz vgl. Wieacker (Fn. 9), S. 451 ff.; Larenz (Fn. 1), S. 43 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

um den Kampf der (vermeintlichen) Gerechtigkeit gegen Rechtsbegriffe, Rechtssprache, Rechtstechnik - wobei dann diese Verhältnismäßigkeit und Abwägung geradezu, wie bereits dargelegt, eine neue Rechtstechnik hervorbringen soll. Wenn irgendwo die Rechtsphilosophie, ganz grundsätzlich, gefordert ist, so hier. Und die Staatsphilosophie, die Allgemeine Staatslehre. Nach dem Zusammenbruch der alten staatlichen Ordnung im Jahre 1918, mit der Notwendigkeit und dem großangelegten Versuch einer neuen verfassungsrechtlichen Kodifikation in Weimar, erreichte alsbald dieser Kampf der Interessen- gegen die frühere Begriffsjurisprudenz auch das Staatsrecht, in eigenartigen Ausprägungen. Im Dezisionismus earl Schmitts sollten sich die öffentlich-rechtlichen Spitzennormen auf den eng abgegrenzten, dafür aber um so härteren Bereich des Befehls zurückziehen; hier wurde noch in Punktualitäten gedacht, aus ihnen heraus selbst noch ein Systemversuch unternommen240 . Da galt es nicht abzuwägen, sondern zu gehorchen, eingegraben in den festen Abgrenzungen der entscheidenden Normen, die letztlich punktuell herrschen, nicht systematisch .ordnen sollten. Hier war noch Begriffsjurisprudenz. Völlig anders wirkte jene Integrationslehre Rudolf Smends, welche bereits die Türe zum "verhältnismäßigen Recht" geöffnet hat. Hier galt es doch, Analogien zu bilden, zusammenzubauen zu Werten, in deren Namen dann Einheit herzustellen war. Integriert sollte eben werden, nicht ausgegrenzt, abgegrenzt. Elemente mußten den Begriffen entnommen, mit anderen Begriffselementen zu neuen Einheiten, über immer weiter verbreiterte Analogiebrücken, verbunden werden241 - all dies in einer Rechtstechnik, welche die Begriffsjurisprudenz letztlich ablehnen mußte. Da sollte "etwas von Meinungsfreiheit" zusammenfließen mit "etwas von freiheitsbewahrender Staatsräson" -, damit dann die "freiheitliche Meinungsordnung,,242 entstehen konnte. Überhaupt war das Denken in grundrechtlichen Ordnungen243 , wie es die letzte Konsequenz der Integrationslehre sein mußte, bereits die entscheidende staatsrechtliche Überhöhung der Begriffsjurisprudenz im 240 Insbes. im Recht des Ausnahmezustandes, vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Der Hüter der Verfassung (Fn. 101). 241 Smend, R., Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 18 ff. 242 Dies wirkt noch nach 1945 nach, etwa in den Vorstellungen von Ridder zur Meinungsfreiheit, in: Neumann, F.L./Nipperdey, H.C./Scheuner, U., Die Grundrechte, 2. Bd., 1954, S. 243 ff. 243 Bis hin zu den "institutionellen Garantien", in denen diese Lehre ihre Verbindung zu Carl Schmitt fand (vgl. diesen in: Verfassungslehre, 7. unveränd. Aufl., 1989, S. 170 ff.).

IV. Der Verlust der Begrilfsklarheit

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Namen interessenausgleichender Zusammenführung vielfacher Begriffselemente. Dies ist der geistige Hintergrund, auf dem wir auch heute das Verhältnismäßigkeitsdenken sehen, in seiner grundsätzlichen Bedeutung erfassen müssen. Auf den ersten Blick mag dieser unbestreitbare und deutlich schon in der unmittelbaren ersten Nachkriegszeit einsetzende Rückzug der Begriffsjurisprudenz aus dem Öffentlichen, insbesondere dem Staatsrecht der Demokratie erstaunen. Muß nicht gerade diese Staatsform die Akzeptanz ihrer Verfassungsgrundsätze in allen Bereichen der Bürgerschaft suchen, sind es nicht gerade punktuelle, möglichst klar abgrenzende Begriffe, bei denen solches zu erwarten steht? Hat die Volksherrschaft nicht begonnen im Namen jener wenigen, aber klaren Aufklärungs-Begriffe, welche jeder Bürger in seiner Verfassung sollte nachlesen können, die ihn von seinesgleichen ebenso wieder abgrenzen konnten, wie ihn die Solidarität der Volksherrschaft anderen Bürgern angenähert hatte? Doch die Demokratie in Deutschland hat insgesamt gerade den Gegenweg beschritten: einerseits, weil sie in eine allgemeine begriffsausschleifende, begriffsauflösende Entwicklung hineingezogen wurde, diese durch ihre Mechanismen und Grundwerte auch noch verstärkt hat, zum anderen, weil sich die Dynamik der Volksmacht nicht in die Gefäße der klar abgrenzenden Rechtsbegriffe fassen läßt, diese vielmehr immer wieder zerbricht, in Verbindungen von Verhältnismäßigkeit und Abwägung. Von beidem soll nun die Rede sein.

3. Der Niedergang der Begriffsklarheit in Diskutabilität und Komplexität

Hier sollten nun vielleicht kulturphilosophische Betrachtungen folgen, über den Niedergang der Begriffsklarheit, der Begriffskraft am Ende des zweiten Jahrtausends. Dies kann nicht geleistet, nur einiges darf angedeutet werden, aus der Sicht des Rechts, des Staatsrechts im besonderen. Die deutsche Begriffsjurisprudenz hatte sich, gerade in diesem Lande, in einer besonderen Phase der sprachlichen Gesamtentwicklung stark entfalten können: Im 19. Jahrhundert vollendete sich im deutschen Gesamtraum die weithin wahrhaft schöpferische Neuentfaltung der deutschen Sprache, jenseits von Veraltetem und Fremdländischem. Auch die Rechtswissenschaft, insgesamt sicher nicht in der Vorhut dieser Entwicklung stehend, folgte all dem nach, in wissenschaftlicher Bescheidenheit, zugleich aber auch in der Finderfreude der ersten Stunde, der

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

erstmals gelungenen abgrenzenden Sprach-Klarheit. Da war der Rechtsbegriff wirklich als solcher eine ordnende Macht; aus ihm konnte, mit der Virtualität der sprachlichen Schöpfer oder Übersetzer, immer Neues erschlossen, in ihm konnte gesellschaftliche und politische Dynamik aufgefangen und verfestigt, vielleicht restauriert, ja versteinert werden, wie es dem noch immer zu dieser Zeit mächtigen Historismus entsprach. Mit dem eben erst Gewonnenen wurde noch nicht verbreiternd Mißbrauch getrieben, die schönen neuen Begriffe wurden nicht totgeredet in Staat und Gesellschaft. Inzwischen hat sich, über die Druck- und die audiovisuellen Medien, ein Auswaschungsprozeß der Begrifflichkeiten vollzogen, dem sich das Recht einer Demokratie nicht entziehen kann, deren Führer dem Volk aufs Maul schauen müssen wie nirgends sonst. Im allzuvielen Reden sterben die Begriffe. Welchen Inhalt hat letztlich eine Meinungsfreiheit, wenn alles meint, alles Meinung ist244 ? Was grenzt der Begriff "Sozial" noch ab, wenn jeder ihn gebraucht - irgendwie 245 ? Das Recht mag sich auf Kunstsprachen-Begriffe zurückziehen - auch sie werden alsbald von der großen Auswaschungs-Bewegung erreicht und unterspült 246 . Man versucht in alt-neue, etwa angelsächsische, weithin aus dem Lateinischen abgezogene Fremdsprachlichkeiten auszuweichen 247 - dies kann erst recht Begriffsklarheit nicht retten. Was sich hier noch halten kann, gerät rasch in den Verdacht des Künstlichen, in die Kritik des Bürokratischen, Bürgerfernen; in der Demokratie ist diese Kritik vernichtend. Wem aber so die Begriffe entgleiten, der kann nur mehr - ihre Trümmer abwägen ... Der Versuchung des allzuvielen, begriffsausschleifenden Redens ist vor allem der Gesetzgeber der Demokratie rasch erlegen. Die Normen sollten einst Dämme der Begriffsklarheit befestigen, heute werden sie von den Normfluten unterspült. Fast jedes Gesetz bringt neue Begriffe, versucht, sie zu definieren; aber zugleich, und zumindest, werden neue Begriffsinhalte gesetzt - meist eben nicht hinreichend definiert, schon 244 Zum weiten Begriff der Meinungsfreiheit vgl. u.a. Herzog (Fn. 103), Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 49 (55); Leibholz/Hesselberger/Rinck, GG, Art. 5 Rdnrn. 26 f.i Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG, 4. Aufl. 1992, Art. 5 Rdnr. 8; v. Mangoldtl Klein/Starck, GG, 3. Aufl. 1985, Bd. 1, Art. 5 Rdnrn. 16 ff. 245 Zu den möglichen Inhalten des Begriffs des "Sozialstaats ", vgl. Zacher, H.F., Das soziale Staatsziel, in: HdbStR, (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 25 Rdnrn. 19 ff.; zu den Begriffsinhalten "gesellschaftsverantwortlich " - "schwächerenschützend "/ "umverteilend " vgl. Leisner, w., Eigentum, Konrad Adenauer Stiftung (Hg.), 1994, S. 32 f., 40 f. 246 "Wohlerworbene Rechte", "Bestandsschutz " sind Beispiele dafür. 247 Von den "Property Rights" bis zum "Process of Law".

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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weil dies bei derartigen Massen-Phänomenen und kurzfristigen Ordnungsversuchen kaum mehr möglich ist. Gesetzgeber und Verwaltung lassen, als normative Vielredner, den Richtern und der Rechtswissenschaft gar keinen anderen Bewegungsraum mehr - paradoxerweise weil sie ihnen allzuviel Räume öffnen - als den der abwägenden Verbindungen dessen, was sich anders auch gar nicht mehr in greifbare Rechtswirklichkeit umsetzen läßt. Und wenn sie gar noch dem Phantom der bürgernahen Rechtssprache nachjagen, schwemmt die Gesellschaft mit ihrem tagtäglichen Begriffsverständnis nur noch mehr interessenbelastete, oft bewußt gesteuerte Unklarheit ins Recht. "Begriffsbesetzungen ", gesellschaftliche Semantik als politisches Kampfmittel- dies alles wird seit Jahrzehnten offen, geradezu gezielt eingesetzt, vor allem aber mit einem negativen, einem Verunklarungseffekt: Wer etwa den Streikbegriff in Richtung auf jede Protesthaltung ausweitet 248 , kann ihn dann auch in jenes Beamtenrecht einführen, in dem er in harter Begriffsklarheit nicht gelten dürfte 249 ; wer den politischen Streik im Beiwort des "Politischen" immer weiter öffnet250 , kann das strenge, antigewerkschaftliche Begriffsverbot lockern; und in beiden Fällen lassen sich dann interessenabwägende Gesichtspunkte unschwer zu einer weiteren Erosion der Begriffshülsen einsetzen. Doch eine solche Entwicklung darf keineswegs nur in gesellschaftlichen Entlarvungsversuchen kritisch betrachtet werden. Vielleicht liegt in all dem ein großes Höher- oder Spätentwicklungsphänomen einer rechtlichen und politischen Zivilisation, eingebettet in entsprechende allgemeingesellschaftliche Entwicklungen. Auch für unsere Zeit mag das resignierende Wort des jüngeren Cato in Sallusts Catilinarischer Verschwörung gelten: nos vera re rum vocabula amisimus: Wir können mit unseren Worten, unseren Begriffen die wirklichen Sachinhalte nicht mehr fassen. Immer mehr müssen wir ausformen, verstärken, normverdeutlichen - reden. Und am Ende bleibt dann nur mehr das "gute Schlußwort": Alles ist berücksichtigt worden - verhältnismäßig. Vielleicht ist nun dieser Verlust der Begriffe und ihrer abgrenzenden Klarheit im Recht nur eine heilsame Reaktion gegen die immer engeren, so rasch sich intensivierenden Kontakte der heutigen, von technischen Verflechtungen geprägten Zeit. Wenn sie Verkehr und menschliche BeBis zum "Schüler-" und "Studentenstreik" . Beamtenstreik, 19t1, insbes. S. 33 ff., 'i'3 ff. 250 Bis hin zu einem ausufernden Verständnis der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Art. 9 Abs. 3 GG (vgl. krit. Scholz, R., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rdnrn. 255 ff.; ders., Koalitionsfreiheit, 1971, S. 46) im Sinn der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik. 248

249 Isensee, J.,

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

rührungen, deren Möglichkeiten jedenfalls, schon bis ins Unübersehbare, vielleicht ins Unendliche steigert, wenn das Recht dem mit allen Schutzmitteln informationeller Selbstbestimmung251 kaum mehr wirksam entgegentreten kann - gilt es dann nicht, zu Formen eines geradezu fernöstlichen Geheimniskultes überzugehen, im Namen der Persönlichkeit, der Bewahrung ihrer Reste, in bewußter Begriffsverunklarung? Wo die Bürger derart eng zusammenleben, immer näher in technischen Verflechtungen zusammenrücken, sind da nicht rechtliche Abgrenzungsbegriffe das generell untaugliche Mittel, etwas von ihrer Persönlichkeit noch zu retten, muß nicht alle Hoffnung gesetzt werden auf die Abwägung im Einzelfall, welche die Verbindung bejaht, sie aber gestalten will, wobei dann Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu Hilfe kommen, nicht mehr der Gesetzgeber? Können nicht nur auf diese Weise dessen in Begriffserosion relativierte Begriffe wenigstens im Einzelfall wieder gehärtet werden? Der große Umfang, in dem gerade das Allgemeine Persönlichkeitsrecht über Abwägungen allein judiziert werden kann 252 , scheint eine solche Sicht zu bestätigen. Zeigt sich hier, daß nicht mehr Begrifflichkeit das Individuum retten kann, den Bürger und seine Freiheit, sondern nur mehr Abwägung? Die "Komplexität moderner Lebenssachverhalte" ist zum Schlagwort geworden, gerade sie soll das Recht bewältigen. Damit aber wird der Gegenstand des rechtlichen Ordnens bezeichnet mit etwas wie einem "Anti-Begriffs-Begriff" . Wenig überzeugend wirkt die Gegenthese, solche Komplexität werde vom Recht erst hervorgebracht; weithin findet es sie eben vor, mag es sie auch durchaus noch mit seinen Begriffen verschärfen. Daß hier etwas stattfindet wie ein Spiralvorgang zwischen außerrechtlicher, insbesondere technisch bedingter Komplizierung und Begriffsjurisprudenz, soll nicht bestritten werden; aus diesem Teufelskreis wird nun ein Ausbruch versucht, je rascher, so scheint es, desto besser: im Machtwort der Verhältnismäßigkeit, in welcher am Ende die Komplexität der Lebenssachverhalte zumindest allgemein-erträglich, wenn schon nicht gerecht, geordnet wird. Was aber bleibt anderes, wenn Vereinfachungsversuche mit den Mitteln herkömmlicher Begriffsjurisprudenz problematisch sind, welche etwa kurzerhand Genehmigungspflichten und Behördenkontrollen "enthauptisieren", aber eben deshalb einzelfallnah geregelte Steuervorteile abschaffen wollen? 251 Vgl. dazu von MangoldtiKlein/Starck, GG, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 2 Rdnr. 80; Vogelgesang, K., Grundrecht auf infonnationelle Selbstbestinunung? 1987; im

wesentlichen wird hier ein Schutz bestimmter enger Entfaltungsräume geboten, weniger gegen bestinunte Angriffsfonnen auf diese. 252 Von MangoldtiKlein/Starck (Fn. 251), Art. 2 Rdnm. 115 f., Art. 5 Rdnr. 209; Hubmann, H., Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 155 ff.

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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Doch gerade dies gefährdet am Ende wiederum die Rechtsklarheit, verlagert staatliche Machtausübung wieder in Abwägungsformeln denn auf eine generalklauselartige Überprüfungs- und Korrekturmöglichkeit kann und will die Staatsgewalt hier nicht verzichten. Kaum anders sind Systematisierungsversuche zu beurteilen, welche sperrige Einzelbegriffe ("Eigentum") in Begriffsnetzen ("Sozialbindung") flexibilisieren wollen: Abgesehen davon, daß die dazu erforderliche geistige Systematisierungskraft heute allgemein und in den meisten Einzelfällen kaum ausreicht - am Ende gelingt diese Systematisierung doch meist wiederum nur im Ausweichen auf Harmonisierungsformeln der Verhältnismäßigkeit. Läßt sich das "Komplexe" denn wirklich besser "bewältigen" im "System", wenn man am "Begriff" bereits gescheitert ist'?

4. Demokratie - machtgewollter Verlust der Begriffsklarheit Unsere Zeit verehrt keine Götterbilder, sie erwartet von ihnen keine Wunder mehr. So wie in ihnen Wahrheit zusammengefaßt, gesetzt oder gebrochen wird, so hat es das Recht in der Begriffsjurisprudenz mit seinen Begriffen versucht: Etwas von der Kraft der Fiktion liegt in jedem von ihnen, ganz wesentlich. Wie aufklärerisch-demokratisches Denken aber das Göttliche vergeistigt hat - sollte heute nicht die Vergeistigung der Gerechtigkeit gelingen, in einer Demokratie, die gegen Begriffsjurisprudenz steht, damit aber Abwägung fordert? Entscheidend aber ist dabei immer eines: der machtgewollte Verlust der Begriffsklarheit; denn in ihrem Namen stellt sich ja frühere Macht der heutigen entgegen. Der politischen Macht aber ist entscheidend die Zeitdimension eigen: Sie "ist nur heute", ganz und wesentlich; ihr eigentlicher Feind ist die frühere Macht. Und wenn politische Macht Änderungsmöglichkeit bedeutet, so darf sie gerade darin nicht begrenzt, also nicht definiert, nicht in Begriffe gegossen werden; denn sie sind politisch weit schwerer, oft in ihrer Traditionalität gar nicht veränderbar. Soviel haben die Herrschenden, vor allem in der Demokratie, wirklich an Macht, wie ihre Befehlsrechte letztlich unklar bleiben. Dies aber wird leichter erreicht in einer Verhältnismäßigkeit, welche den oft nur umrißhaft hervortretenden Machtwillen im Einzelfall dynamisch nachzeichnet, als durch die Anwendung von Begriffen, deren Klarheit sich der Virtualität einer Macht entgegenstemmt, die wesentlich immer im Werden ist, in fieri 253 ; dies gilt vor allem für die Demokratie. 253 Leisner,

18), S. 247.

w.,

Imperium in fieri, in: Der Staat 8 (1969), S. 273 ff.

= Staat (Fn.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Eigentlich hätte doch die heraufkommende Volksherrschaft zu einer Renaissance der Begriffsjurisprudenz führen müssen, nicht nur aus dem ihr historisch immanenten Klarheitsstreben heraus, sondern vor allem, weil nur Rechtsbegriffe jene Machtbeschränkung bringen können, in deren Namen das frühere, virtuell unbegrenzte Gottesgnadentum gebrochen werden konnte. Konsequent war in diesem Sinne die Staatslehre von Hans Kelsen: Sie wollte gerade für die Volksherrschaft ein "Reich der Rechtsbegriffe" , des in seiner Begrifflichkeit Reinen Rechts schaffen. Irgend etwas, im Grunde Beliebiges, sollten diese Begriffsrahmen dann aufnehmen können, eben die jeweilige "Realität", die augenblickliche politische Macht254 . Die Reine Rechtsschule postulierte die abgrenzende Kraft der Rechtsbegriffe, damit geradezu eine staatskonstituierende Kraft der Begriffsjurisprudenz. In diesem Rahmendenken war grundsätzlich für Verhältnismäßigkeit und Abwägung kaum Raum, es sei denn innerhalb der normativen Begriffsrahmen, zu ihrer Einzelausfüllung. Doch selbst der Richterspruch, die Verwaltungsentscheidung wurden ja eingeordnet in diese Normenpyramide, auch sie waren letztlich ein norrnförmiger, eben deshalb auch staatsförmiger Ausdruck des Rechts 255 . Gerade bei der Norrnförmigkeit dieser Anwendungsakte ist der Kelsenianismus gescheitert: Seine neue staatsrechtliche Rahmen-, im Grunde Begriffsjurisprudenz hat sich nicht durchzusetzen vermocht, weil sie für Abwägung, Übermaß, Verhältnismäßigkeit nicht im eigentlichen Sinne offen sein konnte, hätte dies doch ständigen Ausgriff auf Außernormatives bedeutet. Vor allem die demokratische Macht wollte sich nicht in diese strengen Rahmen zwängen lassen, sie schuf sich alsbald ihre eigenen Formen, viel weitere Rahmen und Gefäße, in denen Abwägung wirken konnte -letztlich eben ihre Macht. So ist denn die Entwicklung wohl gerade umgekehrt verlaufen, als es Kelsen sich vorstellte: Die alten feudalistisch-monarchischen Kräfte besaßen nicht jene dynamisch-reale Macht, welche nun mit der Volksherrschaft heraufkam; gerade sie hielten sich daher fest, - darin wahrhaft "konservativ" -, an einzelnen Begriffen, das Staatsrecht der Monarchie war die Begriffsjurisprudenz eines Paul Laband. Die Macht wollten sie nicht in das Recht einbinden, in seine Rahmen, sie wollten sie vielmehr aus den Rechtsideen entwickeln, so wie dies seit Jahrhunderten in der Reich-Legitimation mit Begriffen des Römischen Rechts gelungen war 256 . Macht aus Recht - die Volksherrschaft hatte dies nicht mehr nötig, sie kam im Namen wirklicher, indiskutabler, physischer Über254 255

Vgl. Kelsen (Fn. 3), S. 44 ff. Vgl. Kelsen (Fn. 3).

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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macht; Begriffsjurisprudenz war deren Entfaltung eher hinderlich. Die ihr eigenen Machtfluktuationen konnte die Demokratie weit besser in Abwägungen auffangen, rechtlich faßbar gestalten, soweit dies eben den Ordnungsnotwendigkeiten des Gemeinschaftslebens entsprach. Das ist jenes "flexible" Recht, dessen sich die Demokratie berühmt257 . Sie "hat" letztlich bereits die Macht, ihr Allgemeiner Wille ist wahre, nicht begriffsgebundene Mächtigkeit, daher nicht in Gefäße der begrenzenden Begriffsjurisprudenz zu fassen, die sie vielmehr zerbrechen muß - im Namen der Verhältnismäßigkeit, in einer auch für sie wichtigen geordneten Macht-Kombination. Und etwas ist da ja auch immer. von dem Schäumend-Völkischen, das über jede Begrifflichkeit hinwegspült. So hat denn diese Demokratie, im Grunde die Staatsform der rationalen, damit begriffsfreundlichen Machtbegrenzung, nur noch den Niedergang einer Begriffsjurisprudenz beschleunigt, der schon in ihren geistigen Vorphasen, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, deutlich eingesetzt hatte. Die heutige Entwicklung zu immer stärkerer Abwägung steht also in einer großen, bereits säkularen geschichtlichen Entwicklung: vom Begriff zur Wertung.

5. Abwägung als wesentliche Verunklarung: Begriffsinhalte gewonnen aus Gegenbegriffen

Abwägung setzt begriffliche Klärung voraus, sie kann eine solche nie schaffen. Sie müßte daher wesentlich aufruhen auf der Begriffsjurisprudenz - in Wahrheit jedoch, im Ergebnis jedenfalls, bekämpft sie diese, versucht, sie zu ersetzen: Begriffe des Rechts sollen bereits in Abwägung geschaffen, nicht erst in ihr verfeinert, grenzkorrigiert werden. Deutlich zeigt sich dies etwa in der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik. Ihre drei begrifflichen Grundschritte werden heute überall, formal jedenfalls, vollzogen: Zuerst wird der Schutzbereich des Freiheitsrechts bestimmt, sodann der Eingriffscharakter der zu beurteilenden Maßnahme festgestellt, am Ende deren mögliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung behandelt. Erst in dieser letzten Phase, und auch hier 256

1958.

Beschrieben bei Koschakel, P., Europa und das Römische Recht, 3. Aufl.

257 Die "offene Verfassung" (vgl. Bleuel, R., Freiheit des Berufs, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 6, 1989, § 147 Rdnrn. 43 ff.; Stern (Fn. 1), S. 83 f. m.weit.Nachw.), getragen von der "offenen Gesellschaft" (vgl. Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

wieder erst nach Behandlung aller verfassungsrechtlichen Begriffs-Abgrenzungen, dürfte die Verhältnismäßigkeit eigentlich ihren, vergleichsweise bescheidenen, Platz finden. In Wahrheit setzt ihr Denken weit früher ein. In den Begriffsraum des Schutzbereiches, der doch rein in Begriffsjurisprudenz bestimmt werden sollte, werden bereits erste Abwägungsüberlegungen vorverlegt: Wie weit etwa der Begriff der "Meinung", der "religiösen Überzeugung" nach der Verfassung zu bestimmen sei, ist häufig bereits das Ergebnis von Abwägungen der Interessenlagen der Kirchen oder Medien einer-, der durch ihre Aktionen möglicherweise Beeinträchtigten andererseits. Noch deutlicher ist dies erkennbar beim Begriff "Kunst" (Art. 5 Abs.3 GG)258. Ja sogar die staatlichen Eingriffs-Gegeninteressen werden bereits im begrifflichen Raum des Schutz bereichs berücksichtigt, man denke nur an jenen Begriff des "Berufes", in den schon die moralische Zulässigkeit, ja sogar die grundsätzliche rechtliche Statthaftigkeit einer Tätigkeit einbezogen wird259 . Nichts anderes erfolgt dann bei der Bestimmung des Eingriffscharakter einer staatlichen Veranstaltung. Ob sie nun" wirklich gezielt" erfolgt, ob ihre indirekte Regelungswirkung für die Annahme eines Eingriffs ausreicht - all dies wird, betrachtet man die jeweiligen Beurteilungsvorgänge näher, ebenfalls bereits mit abwägendem Blick auf sich gegenüberstehende Interessen beurteilt. So soll es eben darauf ankommen, wie weit der Staat an Lenkungen generell interessiert sein darf dann wird ihm ein "allgemeines", damit aber wesentlich ungezieltes Vorgehen gestattet260 . Dahinter stehen letztlich bereits Abwägungsüberlegungen zu Breite und Intensität staatlicher Regelungsbelange. Die gesamte Beurteilung der Bürger-Staatbeziehungen im Raum der Freiheitsrechte erfolgt also, von Anfang bis Ende - in "Abwägung" , Begrifflichkeiten werden auf diesem Wege, von den ersten Denkschritten an, erfüllt, ja geradezu geschaffen. Abwägung sollte eigentlich letzte Grenzkorrektur der Grundrechte bedeuten, eine Feinarbeit an den Rändern allzuweit ausfasernder Schutzbereiche. Daß sie die Begriffsjurisprudenz jedoch nicht zu perfektionieren, sondern zu kompensieren trachtet, zeigt sich wohl nir258 Vgl. von MangoldtiKlein/Starck (Fn. 251), Art. 5 Rdnrn. 185 (187 ff., 206 ff.); Knies, w., Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 230 ff.; ErbeI, G., Inhalt und Auswirkung der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966, S. 102 ff., 115 ff.; Schick, M., Der verfassungsrechtliche Begriff des Kunstwerks, JZ 1970, S. 645 ff. 259 BVerfGE 7, 377 (397); BVerwGE 22, 286 (287). 260 Bleckmann, A., Staatsrecht 11 - Die Grundrechte, 3. Aufl. 1989, S. 335 ff.; Pieroth, B.lSchlink, B., Grundrechte - Staatsrecht 11,11. Aufl. 1995, S. 65 ff.

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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gends klarer als im Bereich des Eigentums. Dessen Begriff hatte frühere Begriffsjurisprudenz in § 903 BGB noch als den eines absoluten Ausschlußrechtes festgelegt, das jedem anderen jede Einwirkung auf den Eigentumsgegenstand verbieten sollte. Das schlechte Gewissen eines angesichts der sozialen Frage verunsicherten Großbürgertums ließ bereits beim Erlaß des BGB den im Grunde überflüssigen Zusatz beifügen, dies gelte nur, soweit gesetzliche Bestimmungen nichts anderes vorsähen. Sogleich zog auch die öffentlich-rechtliche Eigentumsdogmatik daraus die entsprechenden begrifflichen Folgerungen: Dieses "Eigentum" sei, schon von seinem Begriff her, nie etwas "Absolutes" gewesen, stets sei es relativiert durch Gegenrechte der Gemeinschaft, anderer Bürger verstanden worden. Die Geschichte des Eigentumsrechts ist die seiner Beschränkung - anders ausgedrückt heißt dies nicht weniger als: Der Eigentumsbegriff wird mitkonstituiert durch Gegenrechte, welche gegenüber den Eigentümerbelangen abzuwägen sind261 . Dies hat Eingang in die Weimarer Reichsverfassung und nunmehr in Art. 14 GG gefunden, in seinen Schutz gegen die Staatsgewalt. Dieses Eigentum ist begrifflich soviel wert, wie bei seinem Entzug an Entschädigung gewährt wird. Insoweit gehört also die Entschädigungshöhe zum Eigentumsbegriff. Wenn nun aber in Art. 14 Abs. GG bestimmt ist, daß diese Entschädigung in gerechter Abwägung der Interessen des Grundrechtsträgers und der Allgemeinheit zu erfolgen habe 262 , so wird die Abwägung nicht eingesetzt nur zu einer Grenzkorrektur des Eigentumsbegriffes, sondern zu seiner zentralen Festlegung. Die heutige Eigentumsdogmatik versteht daher, wenn auch meist unausgesprochen, den Eigentumsbegriff als Abwägungsergebnis. Abwägung wirkt also immer mehr von vorneherein begriffskonstitutiv, nicht begriffskorrektiv; sie will so rasch wie möglich einen "Begriff in Abwägung definieren", dies geschieht durch Hereinnahme von Gegen-Werten in den Rechtsbegriff, in den Schutzbereich der Freiheit selbst, der dadurch von vorneherein wesentlich relativiert wird: Wenn im verfassungsrechtlich geschützten Eigentum bereits "Sozialbindung mitgedacht" ist, so findet eine Abwägung im eigentlichen Sinn, zwischen festen Begriffsinhalten, gar nicht mehr statt, die Abwägung wirkt grenzüberschreitend, begriffsauflösend, verunklarend - im Grunde gibt sie sogar ihr eigenes Wesen darin auf, das einer Gegenüberstellung einigermaßen "fester" Größen. Aus einer Fortsetzung der Begriffsjuris261 BTeueT, R., Die Bodennutzung im Spannungsfeld zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 162 ff.; Schulte, H., Das Dogma Baufreiheit, in: DVBl. 1979, S. 133 ff; krit. LeisneT (Fn. 172). 262 Vgl. Kimminich (Fn. 184), Art. 14 Rdnm. 447 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

prudenz mit verfeinernden Mitteln wird sie zu deren Gegenpart, zur Auflösung von Voraussetzungen, auf denen sie doch aufruhen müßte. Da sie die eindeutigen Begriffsinhalte durch Kombination heterogener Begriffselemente zerstört, kann sie sich dann nur als Ersatz, nicht als Perfektion der Begriffsjurisprudenz anbieten. Diese Verunklarungsentwicklung ist deshalb besonders gefährlich, weil in der Rechtsdogmatik, in der Anwendung der Normen, nach wie vor die Illusion aufrechterhalten wird, Abwägung perfektioniere die Begriffe, in ihrem Einsatz könne gewissermaßen etwas wie eine "modeme, flexiblere Begriffsjurisprudenz " entstehen. Im Grunde aber weiß niemand, was er denn nun wirklich abwägt, wenn in jedem seiner Gewichte, wie in einem trojanischen Pferd, bereits der Feind sitzt. Dies alles ist nicht nur eine Gefahr für den Bürger und seine Freiheit, es verunsichert in gleicher Weise auch die Staatsgewalt in der Wahrnehmung ihrer Rechte. So wie heute, in einer "solidarisierenden", wenn nicht gar sozialisierenden Grundhaltung Gemeinschaftsbindungen "von vorneherein" in Freiheitsbegriffe "hineingeschoben" werden beim Eigentum zeigt es sich ja besonders deutlich - so war man, nach 1945 und unter dem Eindruck autoritärer, wenn nicht totalitärer Staatlichkeit, vom geraden Gegenteil ausgegangen: Zu den "Belangen der Allgemeinheit" gehörten, so hieß es, in erster Linie die Freiheitsinteressen des einzelnen Grundrechtsträgers 263 ; jene Staatsgewalt also, welche mit Eingriffen den Schutzbereich des Bürgers einengen dürfe, müsse, wenn sie ihre Belange in die Waagschale werfe, darin sogleich auch die Freiheit des Bürgers berücksichtigen, sich diese zum Ziel nehmen. Abgesehen davon, daß damit eine Schizophrenie, zumindest eine schwer erträgliche Doppelrolle den Vertretern der Staatlichkeit zugemutet wird, vergleichbar etwa der ebenso problematischen Verpflichtung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren, zugleich auch die Rechte des Angeklagten zu wahren 264 - die Rechtsklarheit auf der Staatsseite muß darunter doch ebenso leiden, wie sie zu Lasten des Eigentümers gefährdet ist: Die Harmonisierungsformel von der notwendigen Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen läßt völlig offen, wie weit im einzelnen nun der Staat die Freiheit des Bürgers gleichzeitig zu wahren hat. Im Eigentumsrecht verlangt die Rechtsprechung vom Bürger, er solle handeln wie jener "verständige Eigentümer ,,265, der das "Wohl der Allgemeinheit bei seinen Entscheidungen nicht außer acht läßt" 263 "... Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG); Dürig (Fn. 153), Art. 1 Abs. I Rdnr. 48. 264 Vgl. § 160 Abs. 2 StPO und im einzelnen m. w. N. RieB, P., in: Löwe-Rosenberg, Komm. z. StPO, 2. Bd., 24. Aufl. 1989, § 160 Rdnm. 47 ff.

IV. Der Verlust der Begriffsklarheit

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umgekehrt ist dem Staat, als dem "Schützer der Grundrechte" dann zuzumuten, seine Vertreter müßten als "verständige Beamte" zugleich Anwälte der Bürgerfreiheit sein - nur immer wieder: wie weit? Auf diese Schicksalsfrage der Staat-Bürgerbeziehung kann die wesentlich verunklarende Abwägung eine Antwort nicht geben. Eine letzte Hochform dieser in die Begriffsbildung der Freiheitsrechte bereits vorgezogenen, diese aber relativierenden Abwägung, welche man geradezu die" totale Abwägung" nennen könnte, ist erreicht worden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten "Wechselwirkungslehre" im Grundrechtsbereich. So soll etwa bei der Bestimmung des Schutzbereiches der Meinungsfreiheit bereits berücksichtigt werden, was dieser an Gegeninteressen, insbesondere an Gemeinschaftsbelangen, entgegensteht266 . Die Gewichte einer der Waagschalen werden also bereits mit Gegengewichten der anderen gefüllt. Sodann aber wiederholt sich dasselbe auf der anderen Waagschale: Die staatlichen Beschränkungsmöglichkeiten sind ihrerseits wiederum im Lichte dieser, bereits in Abwägung bestimmten, Meinungsfreiheit des Bürgers zu definieren - damit dann am Ende eine Abwägung zwischen diesen beiden, in sich bereits abgewogenen Gewichten stattfinde. In einem derartigen "grundrechtlichen Dreisprung" muß alles verlorengehen was man auch nur entfernt noch Rechtsklarheit nennen könnte. All dies ist aber in der Grundrechtsdogmatik und in der Verfassungsrechtsprechung heute bereits gängig, die Praxis folgt unkritisch. Die Abwägung, als Aufhebung aller Gegensätze begrüßt, wird darin ihrer Aufgabe untreu: Sie konkretisiert nicht mehr, sie synkretisiert auf breiter Front, wirft alle Begriffselemente in eins zusammen - durcheinander. Der von Anfang an unglückliche, weil unklare Begriff der "Sinnerfüllung,,267, bei dem nie deutlich wurde, wieviel an Begriffselementen wohin über ihn laufen sollte, schon nicht bei der gerade darin von Anfang problematischen Drittwirkungslehre - er war im Staatsrecht ein früher Sündenfall einer sich nach 1949 immer mehr auflösenden Begriffsjurisprudenz. Diese Harmonie in Unklarheit - denn um nichts anderes handelt es sich - bedeutet nicht weniger als den Verlust rechtlicher Ordnungs265 Aust, M.lJacobs, R., Die Enteignungsentschädigung, 3. Aufl. 1991, S. 210, 288; Krohn,G.lLöwisch, G., Eigentumsgarantie, Enteignung, Entschädigung, 3. Aufl. 1984, S. 34 f., 39 m. Nachw. z. Rspr.; Nüßgens, K.lBoujong, K, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987, S. 92 f. 266 BVerfGE 7, 198 (208 ff.); 21, 271 (281); 60, 234 (240); 71, 206 (214). 267

8 Leisner

Kritik bereits bei Leisner (Fn. 51), S. 362 f.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

kraft überhaupt, einen Rückzug des Rechtes aus der Bewältigung seiner Klärungs- und Ordnungsaufgaben. Mit dem Begriff "Kultur" werden in zunehmendem Maße weite Bereiche sprachlich zusammengefaßt, in virtueller Globalität - politische Kultur, Rechtskultur. Wenn darin etwas wie eine geistige Ordnungs aufgabe zum Ausdruck kommen soll, welche in zivilisierter, d.h. doch: geistig-machtferner Form zu verwirklichen ist, dann lebt soviel an Rechtskultur in einer Gemeinschaft, wie man sich dort klarer Rechtsbegrifflichkeit beugt, jenseits aller bewertenden Machtversuche. Wenn irgendwo, so sollte also dort von einem Verlust der Rechtskultur die Rede sein, wo im Namen irgendwelcher Abwägungen Begriffe verunklart werden, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Abwägung ist angetreten im Namen eben dieser Rechtskultur, eines Gesetzesstaates, in dem sich nicht eine harte, militärähnliche Abgrenzungsgewalt in normativer Form fortsetzen, sondern in den Abwägungsformen des Zivilrechts - zivilisiert werden sollte. Dazu bleibt Abwägung gefordert, aber eben auch nur in diesen Räumen, innerhalb der Begriffe. Solche Abwägung bietet einen Schatz von Einzelfallentscheidungen, aus denen sich dann neue, feinere Rechtsbegrifflichkeit entwickeln mag. Hier liegen geradezu normative Virtualitäten der Abwägung, hier wirkt sie im letzten normschöpfend, nicht normzerstörend. Doch Abwägung nur in Großformeln der Gesetzgebung oder gesetzesvertretender Verfassungsgerichtsbarkeit - das kann nur gegen die Rechtskultur wirken. Abwägung war und ist gedacht als eine rechtsmethodische Erscheinung der Höherentwicklung unserer Zivilisation. Diese ist geprägt durch steigendes Klärungsbedürfnis, weil zunehmende technische Komplexität rational bewältigt werden muß. Das Gegenteil droht sich zu entfalten: Aus Angst vor normativ nicht mehr zu überblickender Komplexität beginnt der Rückzug aus der Begriffsklarheit, aus Rationalität in Unkontrollierbarkeit.

V. Abwägung - Ende der Kontrollen 1. Grundsätzliche Kontrollprobleme der Abwägung -

"Kontrollferne der Fakten"

Allzurasch begnügt sich gegenüber der Kontrollfrage die Rechtsdogmatik mit dem Hinweis auf die allgemeinen Kategorien, in welche sie die Abwägung einordnet: Diese ist ein Rechtsbegriff268 j in Art und 268 Soweit ersichtlich, ist nirgends je ernstlich behauptet worden, Abwägung erfolge innerhalb eines unüberprüfbaren Ennessensraumes (vgl. Hirschberg, L.,

V. Abwägung - Ende der Kontrollen

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Weise ihrer Durchführung unterliegt sie voller rechtsaufsichtlicher wie gerichtlicher Nachprüfbarkeit. Dasselbe gilt für die Gewinnung der Elemente, welche hier gegenübergestellt, zu einem Ausgleich gebracht werden sollen: Auch sie ist rechtlich voll überprüfbar, dasselbe muß für das Ergebnis dieser Feststellungen gelten. Damit scheint auch die durchgehende inhaltliche Nachprüfbarkeit gesichert. Kann aber dann nicht letztlich stets ein unabhängiger Richter, vor ihm bereits eine dem Recht verpflichtete Exekutivspitze, diesen in seiner Verunklarung so gefährlich erscheinenden Vorgang von Anfang bis Ende begleiten, ihm damit alle seine Gefahren in rechts staatlicher Kontrolle nehmen? Müßte man nicht mit derselben Begründung mangelnder Kontrollierbarkeit erst recht alles Ermessen aus dem Öffentlichen Recht verbannen, damit aber die Gestaltungsmöglichkeiten der Staatlichkeit unerträglich einschränken? Der Vergleich ist unbehilflich. Ermessensräume werden in gesetzgeberischer Entscheidung festgelegt, ihre äußeren Schranken sind in Begriffsjurisprudenz fixiert; selbst die inneren Ermessensgrenzen lassen sich, wenn auch weniger eindeutig, in der teleologischen Wirkung rechtlicher Begriffe noch immer einigermaßen klar bestimmen269 . All dies ermöglicht wirksame Kontrolle. Der Abwägung aber sind solche begriffliche Grenzen, wie aufgezeigt, nicht zu ziehen, weil es ihrem verunklarenden Wesen eben entspricht, diese selben Begrenzungsbegriffe wiederum zu unterwandern. Ermessen ist "begrifflich lokalisiert", Abwägung hat, einmal eingesetzt, einen Zug zur "Allgegenwart ihrer Wirkungen". Vor allem aber entzieht sich die Abwägung von vorneherein rechtlicher Kontrolle in einem wenig bemerkten praktischen Phänomen: Sie ist weithin nichts anderes als eine - verdeckte - Tatsachenfeststellung, Tatsachenbewertung. In ihr siegt, wird sie wirklich als Grundentscheidung ernst genommen, das "Faktum" über das Recht; darauf wird unten noch vertiefend zurückzukommen sein (C VI). Trifft der Verwaltungsbeamte oder der Richter eine Entscheidung "in Abwägung", so Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 153 ff.; Schlink, B., Abwägung im Verfassungsrecht, Diss. Heidelberg 1976, S. 48 ff., 127 ff.; Jacobs, M., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Osnabrück 1985, S. 7 ff.; Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, Diss. Hamburg 1989, S. 14 ff.; Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 1985, S. 143 ff.). Verunklart wird dies allerdings, wenn in der Verfassungsgerichtsbarkeit von Gestaltungsermessen oder Prognosespielräumen des Gesetzgebers die Rede ist (vgl. für viele BVerfGE 49,89 (131 ff.); 50, 57 (102)) - gerade dort findet ja auch Abwägung statt. 269 Ossenbühl, F., Rechtsquellen und Rechtsbindungen der Verwaltung, in: Alig. Verwaltungsrecht (hgg. von H.-U. Erichsen), 10. Auf!. 1995, S. 111 (184 ff.); Maurer (Fn. 20), S. 125 ff.; Wolff/Bachof/Stober (Fn. 50), S. 378 f.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

heißt dies doch nur selten, daß er damit rechtliche, etwa gar noch Verfassungswertungen rational gegeneinander setzt und wägt; zu derart verfeinernder Dogmatik ist er in aller Regel, jedenfalls auf nachgeordneten Rängen, gar nicht in der Lage; gerade ihre Wertungen aber werden dann bis an die Spitze der jeweiligen Gewalt fortgeschleppt, meist einfach übernommen. Was vielmehr abgewogen wird, sind doch die Tatsachen und ihre Bewertung - diese letztere wieder als ein Tatsachenurteil verstanden. Da sind etwa die wirtschaftlichen Interessen einer Seite, ihre Beurteilung als Existenzbedrohung270 - oder etwas, worauf sich der Betroffene unschwer hätte einstellen können, was ihm auch heute vielleicht noch möglich ist. Tatsachenbewertungen sind dies, letztlich oft nichts als Tatsachenfeststellungen; sie sind der kontrollierenden Regierung am Ende ebenso vorgegeben wie der Revisionsinstanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit, welche das Recht fortbilden soll: Gegenüber einer Feststellung und Beurteilung von Tatsachen ist all dies nur in engsten Grenzen mehr möglich. Hier nämlich wirkt ein Grundprinzip nicht nur des Öffentlichen, sondern des Rechtes überhaupt: Die Tatsachenfeme der Kontrollmechanismen und Kontrollkriterien, die Macht des tatsachennahen Staatsorgans, dessen erstes Wort dann so oft zum rechtlichen letzten Wort wird. Wenig kann in der Praxis die Kontrolle hier rügen, immer weniger, je höher sie angesiedelt ist, je weiter sie sich damit auch von den - aber entscheidenden - Fakten entfernt sehen muß, sich kritisch so auch selbst betrachtet. Die Tatsachenbindung der Revision insbesondere wird zum tatsächlichen Hindernis der Abwägungsüberprüfung271 . So muß sie sich denn meist auf die Rüge jener schweren Rechtsverstöße beschränken, die, in der Abwägung begangen, auch noch aus der weiten Entfernung des Kontrollorgans - eben aus der Distanz des kontrollierenden Rechts - wahrnehmbar sind, das sich hier aus den Fakten zurückzieht. Meist sind es dann nur mehr "Denkgesetze,,272, deren Verletzung noch zum Eingreifen der Kontrolleure führt, allenfalls noch die Folgerichtigkeit273 , mit welcher die Abwägungsinstanz vorgegangen 270 "Existenzbedrohung" mag, im Berufsrecht ("Erdrosselung") wie im Entschädigungsrecht, ein Rechtsbegriff sein (vgl. BVerfGE 14, 221 (241); 23, 288 (315); 30, 250 (272)) - in Wahrheit ist er nichts als ein Tatsachenblankett. 271 Eine ausgebaute, dogmatisch gegliederte Abwägungsjudikatur oberster Gerichte ist schon deshalb nicht zu erwarten, sie müssen bei jenen allgemeinen Formeln stehenbleiben, welche ihnen eine Kontrolle (der Gewinnung und Bewertung) des Sachverhalts, "aller Sachverhalte", gestattet. Dies aber kann die Kontrollproblematik der Abwägung nicht ausschöpfen. 272 Vgl. Kopp, F., VwGO-Komm., 10. Aufl. 1995, § 137 Rdnrn. 19, 25 f.i § 98 Rdnrn. 22 ff.; Larenz (Fn. 1), S. 288, 305.

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ist. Damit wird diese oft noch in immer größere, weil eben dann "folgerichtige" Fehler getrieben, die ihr kein Kontrolleur anlastet, wenn sie von Anfang an begangen wurden. Die Abwägenden aber werden rasch erkennen, daß sie sich den gefährlichen Kontrollen, den auch ihren Berufsweg beeinflussenden Sanktionen übergeordneter Instanzen am besten auf einem Wege entziehen können, wiederum "von vomeherein ": Wenn sie mit der Abwägung "nicht allzu spät beginnen", damit diese eben dann auch eine in späteren Phasen unkontrollierbare, weil folgerichtige bleibe. So wird dann Abwägung von Anfang an praktiziert, bereits beim ersten Faktum, das auftaucht und sogar beim "ersten Begriff", der in die Waagschale geworfen wird. Die Folge ist eine ab initio-Abwägung, schon im begrifflichen Bereich, welche im vorstehenden Kapitel kritisch beleuchtet wurde. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat auf diesen Wegen versucht, sich in seiner Wechselwirkungslehre der Kritik der Doktrin und der Öffentlichkeit zu entziehen: Wenn das Göttliche der Abwägung "alles in allem durchwirkt", nichts also ohne Freiheit gedacht wird - wer sollte schließlich das Ergebnis angreifen können, und wenn die Entscheidung noch so hart gegen diese Freiheit gefallen ist? Am Ende steht dann neben der Begriffserosion, und als ihre Folge, die Kontrollabschleifung: Eingegriffen wird nur mehr gegen" Willkür", sie wieder wird auf die Verletzung der Denkgesetze oder auf eine schwere Inkonsequenz reduziert, ein Unwerturteil, das dann aber kaum droht, wenn man von Anfang an nicht so sehr Recht, als vielmehr Fakten "gebogen" hat. Dann endet die Kontrolle beim Vorwurf mangelnder Sorgfalt, beim Disziplinarvergehen; vom Rechtsstaat, der mehr verlangt als disziplinarrechtliche Korrektheit, bleibt wenig. Fast möchte man hier eine letzte Frage stellen: Sind nicht Abwägung und Kontrolle überhaupt inkommensurable Begriffe, kann der Abwägende nicht in aller Regel auf hinreichende Selbstkontrolle seines Tuns verweisen?

2. Abwägung - Nachvollziehbar? Alle Kontrolle hat die Frage zu beantworten, ob die Abwägung "einen Rechtsfehler erkennen lasse". Dies setzt die volle Nachvollziehbarkeit des Abwägungsweges voraus, bis in dessen Einzelheiten hinein. Der vorgesetzte Beamte und nach ihm der Richter müßten also nach273 Eyermann, E.lFröhler, L.,

VwGO-Komm., 9. Aufl. 1989, § 137 Rdm. 9.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

vollziehen, wie der Abwägende die Gewichte im einzelnen bestimmt, wie er sie sodann in eine Waage-Lage der Verhältnismäßigkeit gebracht hat. Diese Vorgänge sind an sich schon überaus komplex, wird doch über jene Verhältnismäßigkeit, die am Ende stehen soll, meist bereits bei der Bestimmung der Abwägungsgewichte entschieden. Dem Erstabwäger müßte daher die rechtliche Bedeutung zahlreicher, kompliziert strukturierter, öffentlich-rechtlicher, ja verfassungsrechtlicher Begriffe klar sein. Er mag in der Lage sein, unter deren Begriffsinhalte zu subsumieren; wird er aber auch ihre Bedeutung richtig feststellen, diese sodann bewertend, anderen gegenüber, einsetzen können? Wie wichtig ist Meinungs-, Demonstrationsfreiheit insgesamt - diese Frage muß doch zunächst beantwortet werden, bevor sie gegenüber der Bedeutung des Verkehrs auf öffentlichen Straßen abgewogen werden kann, was aber jeden Tag in Polizeieinsätzen geschehen muß. Was hier in der Regel vor sich geht, ist lediglich ein Rückzug auf Allgemeinformeln, wie man sie aus der Verfassung oder aus Gesetzen herausliest, wie das Bundesverfassungsgericht sie geprägt hat: daß die Meinungsfreiheit besonders wichtig für die Demokratie sei, daß diese nicht ohne jene vorstellbar sei274 , usw. usf. All dies mag vor dem Forum in Karlsruhe, im Geiste hochspezialisierter Richter und Prozeßvertreter, eine nachprüfbare Bedeutung erlangen können - auf der Ebene des Polizeieinsatzleiters, des Sachbearbeiters in einer kleineren Gemeinde sind dies nichts als Floskeln; mit ihnen wird nicht verfeinernd abgewogen, mit ihnen wird hantiert, sie werden in die Waagschale geworfen, wo eben gerade noch etwas fehlt zum gewünschten Ergebnis. Von der allgemeinen, staatspolitischen Bedeutung derartiger Grundrechte gegenüber Eingriffsnotwendigkeiten des Staates weiß der Erstanwender meist nur sehr wenig, oder doch nur Umrißhaftes - und doch soll er nun im Einzelfall dies alles abwägen gegenüber Interessen des Bürgers, die er vielleicht konkret zu beurteilen vermag, weil er sich in dessen Rolle versetzen kann, nicht aber in der Regel in ihrem "grundsätzlichen Gewicht". Damit aber droht die Versuchung, zum öffentlich-rechtlichen Keulenschlag gegen die Bürgerfreiheit auszuholen, diese mit undifferenzierten Formeln zu Boden zu schlagen, in einem Vorgang, der überhaupt nichts mehr von Abwägung bringt, vor allem aber von keiner Kontrollinstanz mehr "nachvollzogen" werden kann, weil gar nichts zu Überprüfendes stattgefunden hat. Die übergeordneten Instanzen mögen eine klarere Sicht der Bedeutung auch der höheren Normen haben, der in ihnen verkörperten Staats-Werte, so wie ihnen auch die Konse274 BVerfGE 5, 85 (134 f., 205); 7, 198 (208); 20, 56 (97); 76, 196 (208 f.); 77, 65

(74).

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quenzen der Gefährdung konkreter Bürgerfreiheiten noch klarer sein werden. Doch wie sollen sie, selbst in diesem helleren Licht höherer Rechtserkenntnis, den Erstabwäger wirksam kontrollieren können, wollen sie ihm nicht laufend, und aus seiner Entscheidung kaum begründbar, staatsgrundsätzliche Unkenntnis bescheinigen? Eine weitere Problematik schließt sich sogleich bei jeder Kontrolle an: Um wirksam nachvollziehen zu können, muß sie sich an die Begründung der kontrollgegenständlichen Entscheidung halten. Hier aber findet sie doch, in aller Regel, neben den bereits erwähnten allgemeinen Floskeln, nichts anderes vor als ebenso generelle Wertungen, die mit ärmlichem verbalen Instrumentarium dargeboten werden: Da sind dann die landschaftsschützerischen Belange der "Schönheit" eines Gebietes eben "sehr bedeutsam", "besonders schützenswert,,275, und wie die Steigerungs- oder Verkleinerungsformen im wenig differenzierten, holzschnitthaften behördlichen Sprachgebrauch noch lauten mögen. Eine nähere Begründung für diese "Abwägung zwischen sehr und gering" kann sich der Erstabwäger in aller Regel ersparen, er muß so handeln, will er Kontrollsanktionen entgehen, vor allem aber: nicht in Begründungsarbeit ersticken - es wird die Kontrollinstanz solche Enthaltsamkeit schon deshalb zu schätzen wissen, weil sie anderenfalls ja auch allzuvieles nachvollziehen müßte ... "So weit in die Einzelheiten" kann sie, schon wegen chronischer Arbeitsüberlastung, in aller Regel nicht gehen; diese Art von Abwägung überläßt sie eben dem Erstentscheidenden, an dessen Sorgfalt zu zweifeln sie doch in den meisten Fällen keinerlei Anlaß hat. Diese Feststellung bleibt dann im Grunde übrig von der "nachvollziehbaren Abwägung" ... Man vergleiche dies, mit der Kontrolle begriffsjurisprudentieller Subsumtion: Hier fällt dem Kontrolleur doch sogleich, beim ersten Blick oft schon, auf, daß eine bestimmte Veranstaltung, etwa nach Demonstrationsrecht, die Verbotsvoraussetzungen nicht erfüllt; ist er aber erst bis zur Abwägung vorgedrungen, so will er sich nicht mehr auf alle möglichen Bestreitbarkeiten und Alternativen einlassen. Unterstellt jedoch, er unterziehe sich der Mühe, alle einzelnen Abwägungselemente in ihrer Gewinnung zu überprüfen, so wird der Nachvollzug fast immer daran scheitern, daß ihm der überzeugende Kontrollmaßstab für die Abwägung selbst fehlt. Die ebenso einfache wie schwer zu beantwortende Frage lautet etwa: Wie stark müssen private Interessen entwickelt sein, damit sie dem Druck des öffentlichen Interesses standhalten? Selbst 275 Vgl. Leisner, w., Eigentumsschutz im Naturschutzrecht eine Ausnahme?, DÖV 1991, S. 781 (784) m. weit. Nachw. = Leisner, w., Eigentum, 1996, S. 449 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

wenn die Kontrollinstanz genau wüßte, was an Gewichten in der öffentlichen Waagschale liegt - sie muß dann doch erst die Waage einstellen oder nachstellen, damit klar werde, wie hoch oder tief die private Schale steigt oder fällt. Die Rechtslehre, die Staatstheorie läßt hier Kontrolleure nahezu völlig im Stich. Wo der "Bruchpunkt" liegt, an welchem Bürgerbelange die der organisierten Gemeinschaft überwiegen, - danach werden der Abwägende wie seine Kontrolleure in den Traktaten des Staatsrechts oder der allgemeinen Staatslehre vergeblich suchen. Allenfalls werden sie auf angebliche "absolute Werte" der Persönlichkeit verwiesen, die sie aber im nächsten Satz bereits durch Gemeinschaftsbelange relativiert finden, und dies nicht nur im Bereich des Eigentums, das ja, in engsten Bereichen, auch einen absoluten Höchstwert darstellen kann 276 . So bleibt ihnen denn nur ein Rückzug auf die Kernbereichlehre, wie sie der Verfassunggeber im Art. 19 hat einführen wollen. Doch hier geraten sie rasch in einen Zirkel: Schließen sie sich der Lehre vom relativen Wesensgehalt277 an, so öffnet sich sogleich eine neue Abwägung, wo sie doch absolute Abwägungskriterien hätten finden müssen. So bleibt denn nichts als der dornige Weg zur absoluten Wesensgehaltstheorie 278 : Alles ist im Namen des Staates erlaubt, was dem Bürger auch nur etwas noch von der betreffenden Freiheit übrig läßt. Und hier hat in der Tat nun etwa die Eigentumsdogmatik ihren Endpunkt gefunden und den dieser Freiheit: Nach der neuesten Rechtsprechung kann sie, etwa im Umweltschutz, soweit eingeschränkt werden, wie dem Eigentümer noch "irgend etwas" an Nutzen übrig bleibt, und sei dieser auch noch so gering. Oder der Staat darf jedenfalls vordringen bis zur Existenzgefährdung des Eigentümers 279 - was doch mit dessen Recht an einem konkreten Gut nichts mehr zu tun hat. Die beiden Wege nähern sich dem selben letzten Ziel, in dem sich die Abwägung vollends ad absurdum führt: Die Kontrolleure greifen nur mehr in den ärgsten Fällen ein, wenn das Ergebnis der "Abwägung" schlechthin unerträglich wird, in der Existenzvernichtung der einen Seite. Kontrolle auf ärgste Fälle beschränkt, Fehlerevidenz als Kontrollrnaßstab - das bedeutet die fast völlige Kontrollosigkeit der Abwägung. Sie wird nicht mehr nachvollzogen, sie wird dort kassiert, wo ihre Vgl. BVerfGE 84, 90 (123 ff.). (Pn. 100), S. 326 ff.; Leisner (Pn. 51), S. 152 ff.; Maunz (Pn. 36), Art. 19 Abs. II Rdnm. 1-15; Stelzer (Pn. 100), S. 83 ff. 278 Häberle (Pn. 100), S. 326 ff.; Jäckel, H., Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, 1967, S. 49; Stelzer (Pn. 100), S. 49 ff. 279 BVerwG DVBl. 1993, S. 1141 ff. 276

277 Häberle

V. Abwägung - Ende der Kontrollen

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Ergebnisse unerträglich werden. Dies kann letztlich nur auf nahezu vollständigen Rückzug der Kontrolleure hinauslaufen; denn im Regelfall - und im Zweifel- genügt es ja sogar, daß der Abwägende sich einfach nur auf sein Verfahren beruft. Die Abwägung endet in Selbstlegitimation verbaler Globalbegründung.

3. Die Praxis: Fehlende Abwägungsbegrundungen a) Das Fehlen greifbarer Kontrollmaßstäbe wirkt sich in der Praxis aus, bei der Abfassung von Verwaltungs entscheidungen und deren verwaltungsinterner Überprüfung, wie auch in der Rechtskontrolle der Judikative. All diese Prüfungen, vor allem aber die Überprüfungen, beschäftigen sich, in der Regel, im wesentlichen nur mit Rechtsfragen der Subsumtion, in Anwendung der herkömmlichen Begriffsjurisprudenz. Meist erst am Ende folgen dann noch kürzere Ausführungen zur Abwägung, oft im Anschluß an gesetzliche Vorschriften, welche diese der Verwaltung zur Pflicht machen. In aller Regel beschränken sich hier Entscheidende wie Kontrolleure auf wenige Sätze, welche eher den Eindruck einer juristischen Pflichtübung erwecken. Ein Nachvollzug der Abwägung, bis hinein in ihre Gewichtungsschritte, ist im einzelnen nur selten feststellbar. Die Gerichte insbesondere beschränken sich auf kurze Bemerkungen: Die erforderliche Abwägung habe stattgefunden, ihr Ergebnis sei nicht zu beanstanden. Die notwendig sachfemere Gerichtsbarkeit kann auch, dem Wesen ihrer Entscheidungsmöglichkeiten entsprechend, oft gar nicht anders verfahren: der Abwägung gegenüber bleibt der Richter meist Ratifikationsorgan. Allenfalls mag er noch das Fehlen der Verhältnismäßigkeitsprüfung feststellen; doch auch dann schiebt er sie häufig nach, mit wenigen Worten: auch eine Abwägung, wie das Gesetz sie vorsehe, könne am Ergebnis nichts ändern. Der Komplex Abwägung lädt übrigens geradezu ein zu einem Verfahren, das heute in steigendem Maße in der Judikative praktiziert wird, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht: zum "richterlichen Nachschieben von Gründen ,,280, welches die Rechtssuchenden nicht selten unvorbereitet trifft. Der Normalfall der Überprüfung müßte demgegenüber gänzlich anders aussehen: Nachzeichnen der Bewertungs- und Abwägungsvor280 Vgl. Schmitt Glaeser, w., Verwaltungsprozeßrecht, 13. Aufl. 1994, S. 299 ff.; Rupp, J.-J., Nachschieben von Gründen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, 1987; Horn, H.-D., Das Nachschieben von Gründen und die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, Die Verwaltung 25 (1992), S. 211 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

gänge im einzelnen, Beurteilung des Abwägungsergebnisses darauf, wie weit die Abwägungsbegründungen es sachlich tragen. Immer mehr aber beschränkt sich die Kontrolle darauf, ob die Abwägung überhaupt stattgefunden habe - als ob sie etwas ändern könnte. Auf diese Weise wird das zur Formel, ja zur judikativen Floskel, was doch gerade das Gegenteil leisten sollte: die Beurteilung einer Verhältnismäßigkeit, welche einzelfallangepaßt erfolgen müßte, wenn dadurch eine Flexibilisierung der Normen in Richtung auf "mehr Gerechtigkeit" errreicht werden soll. Doch gerade dies verhindert das Wesen der Kontrollmechanismen, insbesondere bei den Gerichten: Sie würden dadurch einerseits in übersteigerte Nachprüfungen der Tatsachenlagen gedrängt, andererseits in die Auseinandersetzung mit von ihnen kaum zu übersehenden staatsgrundsätzlichen Bewertungen. Ein horror pleni i.S. einer verständlichen Angst vor der Aufblähung von Sachverhalten und Entscheidungsgründen, wird die Richter nur zu oft davon abhalten - und dies legt im Ergebnis dann alle Macht in die Abwägungshände der jeweils Erstentscheidenden. Geprüft wird Einhaltung des Verfahrens, nicht Richtigkeit seiner Ergebnisse. Die Kontrolleure können sich damit beruhigen, daß die Lehre ja immer stärker die auch materiell-rechtliche Schutzwirkung der Verfahren 281 betont. Genügt es dann nicht, wenn sie überhaupt abgelaufen sind? Ein verhängnisvoller Weg wird damit rasch zurückgelegt: von der materiell-rechtlichen Überprüfung der Entscheidungsergebnisse zur Einhaltung des "Verfahrens" im weiteren Sinne des Wortes - denn auch die Abwägung erscheint hier eher als "Verfahren" denn als materielle Entscheidung - von dort zu dessen unnachprüfbarem "irgendwie-Ablauf"; damit aber geht auch dessen gerechtigkeitsschaffende Kraft verloren. b) Abwägungsentscheidungen haben überhaupt etwas an sich von Begründungschwäche. Hier werden wenige Worte in aller Regel nur geboten, häufig wird einfach das Gesetz abgeschrieben, wenn es denn überhaupt etwas zur Abwägung aussagt. Die verständliche Versuchung, sich vertiefendem Nachdenken über eine Entscheidung zu entziehen, steigert sich hier zu einer nicht nur in diesem Bereich immer häufiger festzustellenden Fehlentwicklung: "These als Begründung" wird geboten: Verwaltung wie Gerichte stellen ein Abwägungsergebnis mit besonderer Entschiedenheit heraus; verbale Verstärkungen ("offensichtlich", "eindeutig" usw.) ersetzen nachvollziehbare Gedanken281 Ule, Ch./Laubinger, H.-w', Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Auf!. 1995, S. 8 ff.; Kopp, F.O., VwVfG, 6. Auf!. 1996, Vorbem. § 1 Rdnrn. 4 f.; BVerfGE 37, 141 (148); 53, 30 (65 f.), sowie die in Fn. 84 Genannten.

V. Abwägung - Ende der Kontrollen

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gänge der Abwägung 282 . Wo ein Ergebnis so "evident" ist - bedarf es da noch einer Begründung? Kaum irgendwo zeigt sich deutlicher die Gefahr der "Evidenz ,,283; was "in die Augen fällt", stellt eben immer zuallererst der Sehende, hier: die entscheidende Staatsgewalt fest auch ohne Begründung. Beim Subsumtionsurteil der Begriffsjurisprudenz auf normativer Grundlage sind derartige Worte entbehrlich; denn hier ist eben das Ergebnis "ganz einfach richtig". Schon längere Abwägungsentscheidungen sind selten anzutreffen, Grundsatzentscheidungen über Verfahren, vor allem über Methoden der Abwägung fehlen, soweit ersichtlich, völlig. Welchem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts etwa sollte man einen Canon methodischer Abwägungsgesichtspunkte entnehmen können - die Richter wären gerade damit überfordert. Zweifeln mag man schon daran, ob ein höchstrichterliches Urteil überhaupt der richtige Ort für die Entwicklung einer Abwägungsmethode ist, oder gar eines Abwägungssystems. Wie aber sollte dann ein solches rechtswirksam entfaltet werden, wenn doch den Richtern mit Sicherheit nicht die Zeit bleibt, komplizierte Abwägungstheorien der Doktrin zur Kenntnis zu nehmen 284 ? Und doch wäre dringend erforderlich - damit Abwägung überhaupt systematisch funktioniere, den Platz ausfülle, den sie heute allenthalben schon einnehmen will - daß die höchstrichterliche Rechtsprechung, aus Anlaß einer zentralen und typischen Abwägung, Zweierlei entwikkelte, mit der üblichen Präjudizienwirkung gegenüber nachgeordneten Instanzen und der Verwaltung: zunächst ein faßbares System der Gewichtung der einzelnen abzuwägenden Tatsachen- und Normkomplexe. Deren jeweilige Wertigkeiten müssen zuallererst in der gesamten materiellen Rechtsprechung des betreffenden Bereichs entfaltet wer282 Vgl. f. zahllose Entscheidungen etwa VGH München, NuR 1989, S. 182 (183); BayObLG, NVwZ-RR 1989, S. 290 (292); VGH München, NuR 1994, S. 449 (451); VGH München, NuR 1989, S. 182 (183); OVG Münster, NuR 1989, S. 188 (189). 283 Die Problematik der Evidenz zeigt sich ja auch dort, wo sie zur Begründung der "Nichtigkeit" von Verwaltungsakten eingesetzt werden soll, vgl. Kopp (Fn. 281), § 44 Rdnm. 9 f.; Maurer, H., Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auf!. 1995, S. 245 f. 284 Vgl. etwa Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989; Hirschberg, L., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981; Larenz, K., Methodische Aspekte der "Güterabwägung" ,in: Festschr. f. Klingmüller, 1974, S. 235 ff.; Hubmann, H., Wertung und Abwägung im Recht, 1977; Gassner, E., Methoden und Maßstäbe für die planerische Abwägung: Theorie und Praxis abgeleiteter Bewertungsnormen, 1992; neuerdings Erbguth, w., u.a. (Hrsg.), Abwägung im Recht, Symposium für W. Hoppe, 1996.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

den, in Grundsatzentscheidungen sollte dies dann jedoch zusammengefaßt werden. Wenigstens rahmenmäßig wäre festzustellen, welche einzelnen Gesichtspunkte diese Abwägungs-Gewichtung bestimmen. Nur so könnte etwa das Abwägungsgewicht der "Erholung" oder der "Schönheit einer Landschaft" überhaupt justiziabel werden. Darüber hinaus müßte ein Abwägungssystem als solches entfaltet werden, was wiederum wirksam nur in Grundsatzentscheidungen oberster Gerichte geschehen könnte. Hier wäre insbesondere zu klären, ob es eine typische normative Rangstufenordnung von Abwägungsgesichtspunkten geben kann, wie beim Zusammentreffen mehrerer Abwägungselemente zu verfahren ist, wie diese einander überhaupt zuzuordnen sind. Nur eine solche Judikatur kann den Verlust der Kontrollen bei der Abwägung aufhalten. cl Eine judikative Verstärkung der Kontrolldichte darf aber nicht einer Versuchung erliegen, die heute bereits zur Gefahr geworden ist: daß von "einer" Abwägung, einer Methode, vielleicht sogar von einem einheitlich anzustrebenden Ergebnis der Verhältnismäßigkeit gesprochen wird. Bereichsunabhängige Abwägungslehren und -systeme sind mindestens ebenso problematisch wie die Versuche einer bereichsunabhängigen allgemeinen Interpretationslehre, die zu ihrem begriffsjuristischen Gegenstück, zur Norm-Auslegung, angestellt worden sind285 . Abwägung ist ihrem Wesen nach materielle Rechtsentscheidung, sie kann daher nicht ohne weiteres zu gleichen Ergebnissen führen beim Denkmalschutz wie im Immissionsschutzrecht, im Parteienrecht und im Landschaftsschutz. Verhältnismäßigkeit ist, soll sie noch irgendwie kontrollabel bleiben, ein Sammelbegriff für viele materiell-rechtliche Ausgewogenheitszustände; und daraus ergibt sich notwendig die Frage, ob es nicht auch eine Mehr- oder gar Vielzahl von Abwägungsmethoden geben muß, die aus den jeweiligen materiellen Rechtsbereichen heraus zu entwickeln sind. Da der begriffliche Sprachgebrauch, allgemein und im Recht besonders, sich auf den Singular der einen Abwägung festzulegen scheint, muß der Kontrollierende die kritische Frage stellen, ob dies nicht bereits unzulässige Vereinfachung bedeutet. Erst wenn hier die Praxis der Verwaltungen, vor allem aber der Gerichte erkennt, daß Abwägung keinen vereinfachenden Zauberstab zur Bewältigung unübersichtlicher Komplexität der Erscheinungen bietet, daß sie vielmehr selbst ein höchst vielschichtiges rechtliches Prüfungsphänomen darstellt - dann erst wird man dem Verlust der Kontrolle Einhalt gebieten. 285 Siehe hierzu insbes. den klassischen Groß-Versuch einer eigenständigen Interpretationslehre von Betti, Emilio, Teoria deli' interpretazione, Rom 1954 f.

V. Abwägung -

Ende der Kontrollen

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4. Abwägung - Selbstbestätigung eigener Sorgfalt

Bemerkungen über Abwägungen stehen meist am Ende der Entscheidungen286 . Hier wird dann, in einem raschen Rundblick, nochmals das Ergebnis zusammengefaßt, daran die Feststellung geknüpft, daß es richtig sei, auch im Lichte abwägender Überprüfung. Auf ein derartiges Bestätigungskürzel, fast schon nach Art des früheren "Von Rechts wegen", mag offenbar der staatliche Entscheidungsapparat, wollen vor allem die Richter nicht verzichten. Damit aber droht die Abwägung zur finalen Selbstbestätigung der Entscheidenden zu verkommen, nachdem insbesondere die Kontrollinstanzen diesen Aufbau in der Regel übernehmen, wird er ihnen doch bereits durch den Kontrollgegenstand vorgegeben. Dieser Typ-Aufbau der Entscheidungen und ihrer Kontrollen muß schon an sich Bedenken wecken. Verhältnismäßigkeitsprüfung kann doch nicht im Sinne eines technischen Check up verstanden werden, in dem nur noch ein letztes Mal ab geprüft wird, ob jede begriffsjuristische Schraube richtig sitzt. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen sollte vielmehr die Entscheidungsfindung gerade mit derartiger Abwägung beginnen, zuerst einmal feststellen, ob überhaupt rahmenmäßig diese Voraussetzung für den entsprechenden Zugriff der Staatsgewalt auf Freiheit und Eigentum des Bürger, auf die Organfreiheit der betreffenden Staats- oder Verfassungsinstanz, gegeben ist. Auch dies wäre doch durchaus eine diskutable Methode: Abwägung nicht als Endkontrolle, sondern als Anfangsmontage, Abwägung als erster Rahmen und dann, vielleicht, am Ende nochmals als bestätigender Abschluß. Derartige Gedanken gehen über das hier behandelte Kontrolldefizit hinaus, führen zu grundsätzlichen Erwägungen darüber, wo denn methodisch die Abwägung einzusetzen sei, wann sie einzusetzen habe. Doch es drängen sich solche Fragen gerade in diesem Kapitel auf, weil die Kontrollpraxis bei der Abwägung zu einer "Bestätigung der Selbstbestätigung" zu werden droht. Mit den üblichen Schlußfloskein, das gefundene Ergebnis entspreche auch gerechter Abwägung, bestätigen sich die Entscheidungs-, nach ihr die sie kontrollierenden Instanzen nicht so sehr die Richtigkeit ihrer Ergebnisse als vielmehr die eigene Sorgfalt der Prüfung. Bei unbefange286 Vgl. z.B. BVerwG NJW 1993, S. 870 f.; BVerwG DVBI. 1974, S. 297 (300); BVerwGE 74, 109 (114); vgl. auch v. Brünneck, A., Das Wohl der Allgemeinheit als Voraussetzung der Enteignung, NVwZ 1986, S. 425 (427). Im Polizeirecht ist dies geradezu durch den Aufbau der gesetzlichen Regelung vorgegeben, vgl. Art. 4, 5 BayPAG.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

nem Lesen haben diese meist nur wenigen Sätze doch keineswegs den Sinn, daß hier neue Richtigkeitsargumente vorgetragen werden sollen; vielmehr heißen sie, in Bürgersprache übersetzt: Hier ist alles geschehen, was prüfungsmäßig möglich ist, nichts wurde übersehen, mehr und Besseres ist schlechthin nicht zu erwarten. Alle diese Überlegungen werden dann oft sogar in eine Formel, vielleicht in einen Satz zusammengefaßt; weiter kann Pauschalierung der Begründung kaum mehr gesteigert werden. Entscheidend ist dabei die rechtspsychologische Wirkung auf den Betroffenen, den Gegner in späteren, höherstufigen Verfahren: Ihm soll klargemacht werden, daß Angriffe gegen diese Entscheidung sich nicht lohnen, da hier ohnehin alles Wichtige, vom Gesetz Gewollte berücksichtigt worden sei. Deshalb werden auch selten alle in den Gesetzen erwähnten Abwägungsgesichtspunkte dargestellt, vielmehr wird meist mit Beispielen gearbeitet, mit einzelnen Abwägungen, die im Verfahren bereits eine Rolle gespielt haben287 . Das dann, ausdrücklich oder stillschweigend, nachfolgende "usw." macht die Abwägungsfloskel zu etwas wie einer "Anti-Einwendungs-Generalklausel". Gerade hier wird ja der Betroffene häufig, wenn nicht in der Regel, ansetzen wollen, wenn er sich doch noch gegen eine Entscheidung wendet, eben hier sieht er meist seine letzte Angriffsmöglichkeit. Derartige Pauschal-Formulierungen sind also nicht nur, was im folgenden noch zu vertiefen sein wird, rechts staatlich höchst bedenklich, sie vermindern auch wesentlich die Akzeptanz der (angeblichen) Abwägungsentscheidungen beim Bürger. Kaum etwas wird diesen ja schwerer treffen, seinen Unmut, seine Rechtsbehelfsbereitschaft höher steigern als Abwägungsfehler; und nirgends kann er leichter davon überzeugt werden, von vorneherein schon überzeugt sein von seinem Recht als dort, wo er fehlerhafte, vor allem aber ungenaue Abwägung vermutet. Die Abwägenden und ihre Kontrolleure begegnen dem daher, verständlicherweise, mit Selbstbestätigungs-Formeln, welche gerade diesen Akzeptanz-Einwand mangelnder Sorgfalt ausschließen sollen; doch sie bewirken meist das Gegenteil288 . Über begriffsjuristische Subsumtionsfehler läßt sich im einzelnen rational diskutieren; die Erfahrung lehrt, daß die Betroffenen hier von ihrer Sicht abweichende Vorstellungen der Staatsinstanzen 287 Vgl. VGHMannheim, NJW 1984, S. 1700f.; BVerwGE 67, 85 (87 ff.); 67, 93 (97 f.). 288 Letztlich wirken sich solche Selbstbestätigungen im Ergebnis dann ja geradezu als etwas aus wie "erschwerende Zusätze" in Rechtsbehelfsbelehrungen, die das geltende Recht gerade verbietet, vgl. Kopp, F.O., VwGO, 10. Auf!. 1994, § 58 Rdnr. 12 m. weit. Nachw.; VGH München, BayVBl. 1991, S. 469; OVG Schleswig, NVwZ 1992, S. 385 f.

V. Abwägung -

Ende der Kontrollen

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eher hinzunehmen bereit sind, wenn um diese eben eine rationale Diskussion geführt werden kann, in aller Regel auch, mit der Verwaltung oder vor den Gerichten, im einzelnen geführt worden ist. Ganz anders im Falle von Abwägungsvorgang und Verhältnismäßigkeitsziel: Hier führt die Selbstbestätigung der Sorgfalt nicht weiter, weil der Bürger die richtige Entscheidung wünscht, nicht eine trotz "angemessener" Sorgfalt dennoch unrichtige. In aller Regel wird er mit sich auch nicht, wiederum abwägend, darüber streiten lassen, wieviel an Abwägungs-Sorgfalt denn der Beamte oder der Richter in seinem Fall anzuwenden habe. Wenn nun gar, wie es nicht selten geschieht, die wenigen Sätze über erfolgte Abwägung den Eindruck von "Selbstgefälligkeits-Kürzeln" erwecken, so muß die Streitbereitschaft gegen unkontrollierte Staatsentscheidungen noch wesentlich zunehmen. An diesem Punkt ist also selbstkritische Besinnung der staatlichen Abwägungsinstanzen, vor allem auch der Judikative, dringend gefordert. Richter stehen ohnehin in ständiger Selbstbestätigungs-Versuchung; greifen sie nicht auf eine "ungeschriebene Begründung" stets zurück, die ihnen auch in höheren Instanzen nur schwer widerlegt werden kann: daß sie eben "sorgfältig abgewogen" haben? Ein solches Vertrauen muß der Bürger in seine Gerichte haben, ganz allgemein. Es darf jedoch nicht aufs Spiel gesetzt werden durch ausdrückliche Selbstbestätigungs-Floskeln, bei denen sich dann unschwer zeigen läßt, daß diese Sorgfalt gerade nicht obwaltet hat. Der Bürger erwartet Gerechtigkeit, nicht Selbstgerechtigkeit.

5. Kontrollverlust - Gefahr für den Rechtsstaat

Wo immer Kontrolle sich abschwächt, ist der Rechtsstaat in Gefahr; denn wirksame Kontrolle aller Staatstätigkeit bleibt sein unverzichtbarer Kernbereich 289 . Erstaunlich ist es daher, daß im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit und ihren Abwägungsvorgängen nicht stets zugleich die Frage der Vereinbarkeit mit dem Rechtsstaat gestellt wird. Dies überrascht um so mehr, als hier allen Grundelementen der Legalität Gefahr droht, wie immer man sie im einzelnen bestimmen will: a) Legalität verlangt die klare Erkennbarkeit, damit aber die rationale Bestimmbarkeit290 nicht nur der Ergebnisse, sondern auch und vor al289 Vgl. Fn. 16 sowie Stern (Fn. 1), S. 850 (zur gerichtlichen Kontrolle) und die ausführlichen Nachw. bei Leibholz, G.lRinck, H.-J.lHesselberger, D., Komm. z. GG, Art. 20 Rdnrn. 641 f., 681 ff., 731, 1026 ff. 290 BVerfGE 14, 13 (16); 17,306 (314); 21, 73 (79).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

lern der Gründe, ja der Motive des staatlichen Handeins; nur dann kann der Betroffene sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzen. Dies alles gilt unabhängig davon, ob eine gesetzliche Grundlage im einzelnen gegeben, ob sie tragfähig ist für die Entscheidung als solche. Dem Staatshandeln muß an sich rationale Erfaßbarkeit eigen sein, bis in seine Begründungen hinein. Hier steht der Bürger vor einer größtflächigen Generalklausei, mit völlig unbestimmtem Inhalt im einzelnen. Im Namen dieser" Verhältnismäßigkeit" soll vielleicht eine Entscheidung gegen ihn fallen, bei der er wenig weiß von den sie tragenden Gewichtungen, nichts meist von der Art und Weise der Abwägung als solcher. Die Verfassungsrechtsprechung hat den Staatsinstanzen die Berufung auf Generalklausein dort gestattet, wo nach dem Wesen der zu regelnden Sachverhalte genauere normative Festlegungen nicht möglich erscheinen291 . Die Judikatur beschränkt jedoch diese Legitimation solcher "normativer allgemeiner Rechtsgrundlagen" im wesentlichen auf herkömmliche Räume, in denen sich eben das Unvermögen der Gesetzgebung zu näherer Einzelregelung bereits in längerer Zeit überzeugend herausgestellt hat292 . Davon ausgehend werden dann manchmal auch weitere Generalklausein gebilligt, wo vergleichbare Schwierigkeiten auftreten - immer aber subsidiär, in nicht normierbaren Resträumen der Staatsgewalt293 . Von ganz anderer Qualität ist die Verhältnismäßigkeits-Formel: Hier wäre sicher vieles näher normierbar, häufig ist dies bereits geschehen, nur werden daraus eben nicht die begriffsjurisprudentiell möglichen, rechts staatlich erforderlichen Folgerungen gezogen, es bleibt vielmehr beim abkürzenden, selbstbestätigenden Rückgriff. Von der Subsidiarität der Generalklauseln gegenüber den Einzelfestlegungen der Gesetze, welche letztlich doch die gesamte Rechtsprechung, insbesondere des Bürgerlichen Rechts 294 , trägt, ist bei der Abwägung kaum, jedenfalls nicht vergleichbar die Rede. Ohne weiteres kann es in ihrem Namen auch zu contra-legem-Entscheidungen kommen, zu nahezu beliebigen Korrekturen auch und gerade näherer gesetzlicher Aussagen. Man verBVerfGE 21, 73 (79); 49, 168 (181 f.); 81, 70 (88). So etwa im Falle des technischen Sicherheitsrechts, BVerfGE 49, 89 (134 f.), des Steuerrechts, BVerfGE 48, 210 (222); 78, 214 (226) und des Wirtschaftsrechts, BVerfGE 13, 153 (161). 293 Z.B. BVerfGE 49, 168 (181 f.). 294 Heinrichs, H., in: Palandt, BGB-Komm., 55. Aufl. 1996, § 242 Rdnr. 2; Gernhuber, J., § 242 BGB - Funktionen und Tatbestände, JuS 1983, S. 764 (767); Teichmann, A, in: Soergel/Siebert, BGB-Komm., Bd. 2/1, 12. Aufl. 1990, § 242 Rdnrn. 6, 58 ff. 291

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V. Abwägung - Ende der Kontrollen

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gleiche den Einsatz der Verhältnismäßigkeitsformeln mit denen von Treu und Glauben oder den guten Sitten: Abwägungserwägungen finden sich, wenn auch höchst pauschal, nahezu in jeder öffentlich-rechtlichen Entscheidung; was aber würde man zu einer Zivilrechtsjudikatur sagen, welche jedes Urteil auf seine "Richtigkeit" oder gar nur auf "Sorgfalt" ausdrücklich, wenn auch nur kurz, am Maßstab der guten Sitten überprüfen wollte? Im Falle der Abwägung wirkt also eine eigenartige Form von "globaler Überlagerungs-Generalklausel", wie sie sonst unserem Rechtssystem nicht bekannt ist, zugleich materiell und methodisch von keiner Subsidiarität begrenzt. Schon weil ihre Wirkungen nahezu völlig unberechenbar sind, tragen sie, jedenfalls für den Bürger, im wahren Sinn des Wortes Irrationales in die Entscheidungen. Dies widerspricht diametral der Rechtsstaatlichkeit. b) Nicht nur Berechenbarkeit, sondern auch Vorhersehbarkeit verlangt der Rechtsstaat bei allem Staatshandeln, im Hoheitsbereich jedenfalls 295 . Gerade darin wird der Bürger durch den Einsatz der Abwägung grundsätzlich, unabsehbar verunsichert. Ihre Ergebnisse lassen sich weder von ihm noch von dem besten Rechtsbeistand auch nur annähernd voraussehen; vor Gericht insbesondere befindet er sich hier nun wirklich auf dem hohen Meer fluktuierender Abwägungen und Unwägbarkeiten. Mag der begriffsjurisprudentielle Weg noch so klar vorgezeichnet erscheinen - in einem buchstäblich "letzten Augenblick der Abwägung" kann das Steuer in völlig andere Richtung herumgeworfen werden. Dogmatisch gesehen ist der Abwägung in besonderem Maße etwas eigen wie eine "Ergebnisveränderungswirksamkeit" , die sich mit einem Mal, aus unvorhersehbarer Begründung heraus, bisher überschaubarer dogmatischer Begründung überlagert296 . Ihr Effekt vermag sorgfältigste Begriffsbegründung in ihr Gegenteil zu verwandeln, selbst wenn diese im übrigen unangetastet bleibt. Die Abwägung kann überdies noch von Instanz zu Instanz, von Verwaltung zu Gerichtsbarkeit immer wieder anders ausfallen; hier wirken Entscheidungsgrundstimmungen, bis in persönliche, ja politische Überzeugungen hinein, welche der Bürger selbst bei sorgfältigster Praxisbeobachtung nicht abzuschätzen vermag. Die Waage ist an sich schon, nach ihrem Urbild, das wesentlich Unabsehbare in ihren Ausschlägen, vor allem in jenen Einzelheiten, auf die 295 Vgl. Schnapp, F.E., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf!. 1992, Art. 20 Rdnr. 23; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Rdnr. 26; BVerfGE 8, 274 (325); 9, 137 (147) u.a.m. 296 Vgl. etwa BVerwG BayVBl. 1978, S.472 (473 f.); VGH BW, MDR 1980, S. 696 f.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

es dem Betroffenen in aller Regel entscheidend ankommt; Wägen ist im Vorgang Präzision, in der Wirkung oft Roulette. Der Bürger mag die blinde Iustitia auch in einem Rechtsstaat noch in Kauf nehmen, der ihm zugleich das Idealbild der Vorhersehbarkeit vor Augen stellt; wenn dann aber allzuviel an zitterndem Wägen hinzukommt, dann wird der Rechtssuchende selbst blind, im Dunkeln tastet er sich zur Waage, zur Abwägung. Dann verdämmert der Rechtsstaat. c) Legalität verlangt eindeutige gesetzliche Grundlage 297 . Allgemeine Bewertungen durch Verwaltungen und Gerichte ersetzen die klare Begrifflichkeit der Normen nicht. Liegt das eigentliche Schwergewicht der Abwägung bei solchen Wertungen der Zweiten oder Dritten Gewalt, nicht mehr bei den Vor-Bewertungen durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber, so verlassen die Verwaltung und eine sie bestätigende Gerichtsbarkeit jene "gesetzliche Grundlage", die sie aber beide bei Eingriffen in Freiheit und Eigentum streng zu wahren haben. Eine Abwägungsfreiheit 298 kennt der Rechtsstaat nicht, seit Jahrhunderten ist hier Unbedingtheit gefordert, im Kern jedenfalls. Ein Abwägungs-Eigentum299 wäre nur die Karikatur jener festen, sichernden Grundlage der Legalität, welche vor 200 Jahren Liberale geschaffen haben. Im Namen von Abwägungsgrundrechten ist niemand je auf Barrikaden gegangen. Es tut schon einmal Not, die abwägenden, abwiegelnden Gerichtsund Verwaltungs entscheidungen heutiger Zeit zu konfrontieren mit dem mächtigen Pathos der Unabwägbarkeit absoluter Werte 300 , mit dem der Rechtsstaat gewonnen, erkämpft worden ist. Welchen Sinn haben seine "gesetzlichen Grundlagen", wenn die anderen Gewalten im Staat sie beliebig abwägen dürfen - und ist denn das Abwägen nicht 297 Leibholz/Rinck/Hesselberger (Fn. 290), Art. 20 Rdnr. 681; Klein, F., in: Schmidt-BleibtreulKlein, GG-Komm., 8 Aufl. 1995, Art. 20 Rdnr. 11, m. Nachw., etwa BVerfGE 21, 73 (79); 78, 205 (212). 298 Mit Wirkungen ähnlich der eines Beurteilungsspielraumes im Sinne von Bachof, O. Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, JZ 1955, S. 97 ff.; vgl. weiterhin Wolff, H.J.lBachof, O.lStober, R., Verwaltungsrecht I, 10. Aufl. 1994, S. 365 ff.; Maurer (Fn. 283), S. 130 ff. 299 Hier liegt die tiefe, ungelöste Problematik des Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG, vgl. Kimminich, 0., in: BK, Art. 14 Rdnrn. 447 ff.; Opfermann, w., Die Enteignungsentschädigung nach dem GG, 1974, S.61. Selbst die Jakobinerverfassung von 1793 spricht in Art. 19 ihrer Rechteerklärung nicht etwa von "Abwägung" , sondern von einer "necessite publique", sodann von einer "juste indemnite" . 300 In dem Rapport du comite de constitution der Jakobinerverfassung, die vielen als das erste "fortschrittliche" GG gilt, heißt es am Ende (Ausgabe Dijon 1793, XXIV) man könne hier eine "Säule der Freiheit umarmen" - wer umarmt eine Abwägung?

V. Abwägung - Ende der Kontrollen

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immer der erste Akt eines Verkaufsvorgangs gewesen, seit den römischen Ursprüngen, werden hier nicht Werte des Rechtsstaats verkauft, das wesentlich unveräußerliche allgemeine Gesetz zuallererst? d) Die Verwaltung vor allem will der Rechtsstaat an die Fessel des Gesetzes legen 301 ; sie in erster Linie befreit sich durch jene Abwägung von der Gesetzesbindung, welche sie als erste, meist als endgültig beurteilende durchführt. Weithin ohne Gesetzesbindung schöpft sie, dies wurde bereits dargelegt, aus den Fakten des Falles; über harte gesetzliche Einzelbewertungen kann sie dabei, meist ohne weiteres, hinweggehen. Dies geschieht sogar noch "im Namen der Gesetze", ihrer vielfachen Wertungen, die es angeblich hier, in Abwägung, zu kombinieren gilt. Warum sollten dann die Einzelwertungen allzu ernst genommen werden, wo doch das Ziel die Zusammenschau bleibt? Wenn es aber der Administration freisteht, solche Wertungen nahezu nach Belieben aufzusuchen, jedenfalls fast beliebig zu kombinieren, so gelingt der Verwaltung ein Wesentliches, aber Rechtsstaatswidriges: Sie geht über "das Gesetz hinweg im Namen der Gesetze". Nicht umsonst verlangt jedoch die Legalität Unterworfenheit der Zweiten und Dritten Gewalt nicht unter von ihr in Abwägung herzustellende Gesetzeslagen, sondern unter "das Gesetz", soweit wie nur irgend möglich, in seiner einzeInen, harten, isolierten Aussage zualiererst302 . In der Verhältnismäßigkeit, so wie sie heute weitgehend verstanden wird, maßen sich jedoch die Gesetzesanwender ein neues Recht an, unausgesprochen, vielleicht ungewollt, jedenfalls unkritisch: Sie werden zu Instanzen der Gebung nicht "des Gesetzes", sondern "der Gesetze" in deren abwägender, aber recht freier Kombination. "Gerichtsgesetzgebung durch Gesetzessystematisierung" hat es immer gegeben, muß immer geleistet werden. Hier aber erreicht sie eine Allgemeinheit, eine Freiheit, welche den Gesetzesstaat als solchen in Gefahr bringt. Dieser Abschnitt sollte eines vor allem zeigen: daß sich Abwägung und Verhältnismäßigkeit rechtlichen Kontrollen entziehen, schon weil sie selbst auf kaum kontrollierbaren, rational eben nicht nachvollziehbaren, weil oft gar nicht vollzogenen Überlegungen aufruhen. Daß dies bei der Verwaltung so geschieht, ist im Rechtsstaat, schon aus der Gesetzesbindung dieser Zweiten Gewalt heraus, nicht hinnehmbar. Daß damit aber die Rechtskontrolle der Gerichte ebenfalls wenn nicht un301 Schnapp, F.E., in: v. MünchlKunig (Fn. 295), Art. 20 Rdnrn. 36 f.; Stern (Fn. 1), S. 801 ff. 302 Nicht umsonst hat die Französische Revolution mit der Devise begonnen: "La Loi et le Roi", vgl. das Titelblatt der Collection generale des Decrets rendus par l'Assemblee Nationale (Recueil Seguin), Avignon 1789 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

möglich, so doch weit zurückgedrängt wird, darin liegt ein legalitätsgefährdender Effekt von größtem Gewicht; denn die gerichtliche Kontrolle ist unverlierbares Kernelement jeder Rechtsstaatlichkeit303 . Die Richter mögen auch hier noch immer unabhängig sein, von Rechts wegen; doch von den Einzelbewertungen und der auf sie folgenden Abwägung sind sie meist so weit entfernt, daß sie damit doch abhängig werden - von ihrem Entscheidungsgegenstand. So ist denn - hier zeigt es sich nochmals bei vertiefender Betrachtung - der Abwägungsstaat der Gegensatz zum Rechtsstaat; vielleicht läßt sich sogar sagen, die Verhältnismäßigkeit sei etwas wie ein Gegenbegriff zur Norm. Gäbe es Verhältnismäßigkeit als etwas wie einen natürlichen, ungeschriebenen Grundsatz des Rechts, so bedürfte es der Gesetze nicht, jedenfalls nicht als der ersten, stets primär zu achtenden Setzung des Rechts. Niemand kann bestreiten, daß heute die Gefahr immer größer wird, daß die Abwägung das Gesetz überrollt. Es muß darüber nachgedacht werden, ob das Gesetz etwas sein könnte, als was es wohl noch nie bezeichnet worden ist: das seinem Wesen nach Unverhältnismäßige, die Durchbrechung vorgesetzlicher Ausgewogenheiten, wie sie der Praetor "ohne Gesetz" hergestellt hätte, durch einen neuen Befehl. Jedenfalls darf dann aber jener Normbefehl, der vielleicht gerade etwas wollte wie den Bruch einer bisherigen Balance, nicht solange hin und her gewogen werden, bis er wiederum - aus-gewogen ist ... Vielleicht gar Lückenfüllung aus Verhältnismäßigkeit304 ?

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen 1. Abwägbarkeit des öffentlichen Interesses -

eine unbewältigte Frage

Mit einer Leichtigkeit, die man bewundern könnte, wäre sie nicht vorkritisch-naiv, werden öffentliche Interessen, ja "das" Öffentliche Interesse als solches, als abwägungsfähig angesehen. Sie sollen eingebaut werden können in eine größere Verhältnismäßigkeit. Die Vertreter der Rechtsstaatlichkeit mögen darin sogar deren höchste Steigerung se303 Stern (Fn. 1), S. 838 ff.; Degenhart, c., Gerichtsverfahren, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 3, 1988, § 76 Rdnrn. 1 ff. 304 Es käme ja zu etwas wie einer Umkehr des berühmten ZGB-Grundsatzes zur Lückenfüllung (vgl. Larenz (Fn. 1), S. 370 ff.), nach der der Richter die Regel zugrundelegen muß, die er als Gesetzgeber aufstellen würde: Hier dürfte er dann, trotz Vorliegens einer Gesetzesnorm, so entscheiden, als ob der Gesetzgeber gerade nicht gesprochen hätte - nach Verhältnismäßigkeit.

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen

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hen, daß sich nun, insbesondere vor den Verwaltungsgerichten, Bürger und Staat mit letztlich kommensurablen Interessen gegenübertreten. Und doch muß vor all dem die oben bereits angesprochene 305 , bisher nicht hinreichend vertiefte Frage stehen, ob denn gerade öffentliche Belange einer solchen Abwägung überhaupt, ihrem Wesen nach, zugänglich seien. Daß die Gesetze, daß sogar das Grundgesetz von solcher Abwägbarkeit ausgeht - Art. 14 Abs. 3 S. 3 beweist es - kann nicht die letzte Antwort sein; denkbar wäre immerhin ein stets anzunehmendes, vielleicht sehr weitgehendes, "grundsätzliches" Überwiegen öffentlicher Belange, in einem Sinne, der ja gerade die Anwendung der erwähnten Verfassungsvorschrift heute trägt306. Zumindest aber müßten die Abwägungs-Strukturen bei den öffentlichen Interessen in besonderer Weise herausgearbeitet, vielleicht überhaupt erstmals begründet werden, bevor man so allgemein zur Abwägung übergehen dürfte. Dabei ist jedenfalls - daran sei hier nochmals erinnert - eine doppelte Problematik zu berücksichtigen: Einerseits müssen gewisse öffentliche Belange gegen andere, ihnen entgegenstehende "abgewogen" werden - im Bau- und im Umweltrecht eine täglich zu bewältigende Aufgabe. Wenn dies aber, wie so oft, nach Einflußkraft der jeweiligen Behörden oder Ressorts entschieden wird, so ist doch keineswegs sichergestellt, daß dies auch dem Recht entspricht - oder sollte dieses bei der Abwägung auf derartige verwaltungspolitische Mächtigkeiten global verweisen? Eine zweite und noch weit schwierigere Frage erhebt sich, auch wenn öffentliche Interessen untereinander abwäg bar gestellt werden: Wie hat ihre, doch in der Regel entscheidende, Abwägung gegenüber privaten Belangen zu erfolgen, ist hier Gleichartigkeit überhaupt festzustellen, wenn ja, gibt es in keiner Richtung grundsätzlich etwas wie ein "Staatsprivileg" oder, andererseits, einen "Bürgervorrang" ,wie ihn die grundrechtlich geprägte Volksherrschaft nahelegen könnte? Die Unsicherheit, mit welcher die Lehre vor dem Grundsatz in dubio pro Libertate steht307 , zeigt, daß alle diese Fragen im Grunde bisher ohne überzeugende Antworten geblieben sind - und doch wird täglich gewogen. Vgl. oben B, IV, 2. Siehe dazu Bryde, B.-O., in: v. Münch/Kunig (Fn. 301), Art. 14 Rdnr. 94; Kimminich (Fn. 299), Art. 14 Rdnr. 53; nur bei einem solchen Verständnis ist auch die "Entschädigung" nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz zum "Eigentum Ost" verfassungsrechtlich haltbar (vgl. dazu Leisner, w., Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz - ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S. 1513 ff.) = Leisner, w., Eigentum, 1996, S. 673 ff. 307 Siehe v. Münch, I., Staatsrecht, Bd. 1, 5. Aufl. 1993, S. 14 f.; Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 27. 305

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

2. Gesetzgebungsdefizite

Der Gesetzgeber müßte es eigentlich sein, der im Rechtsstaat die öffentlichen Interessen bestimmt und gewichtet, denn nur auf sein Wort lassen sie sich ja zurückführen; etwas wie" natürliche" öffentliche Interessen kann der Rechtsstaat kaum anerkennen308 , der andererseits "natürliche" Rechte seiner Bürger achtet. Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers wäre daher die sachgerechte, von den Anwendungsinstanzen nachzuvollziehende und zu konkretisierende Gewichtung der einzelnen öffentlichen Interessen; überdies müßte er Grundsätze zum Überwiegen dieser Belange, über andere öffentliche Interessen festlegen. Schließlich wäre es seine Pflicht, Orientierungen über eine Integration verschiedener öffentlicher Interessen zu einem einheitlichen Öffentlichen Interesse festzulegen, welches dann den privaten Belangen gegenüberzustellen wäre. Denn es ist weder theoretisch nachvollziehbar noch praktisch leicht zu realisieren, einzelne private Belange einzelnen öffentlichen Interessen gegenüber abzuwägen309 . Der Gesetzgeber hat grundsätzlich diese Problematik in den letzten Jahren erkannt. Das Parlament mußte einsehen, daß immer häufiger von ihm beschlossene Abwägungsformeln entweder überhaupt unvollziehbar bleiben, oder doch rechtsstaatliehe Bedenken zunehmend wecken, wenn der Gesetzgeber nicht selbst orientiert. Die eigentliche Bewußtseinswende ist hier wohl mit den neue ren Umweltgesetzen eingetreten: Schon die Naturschutzgesetzgebung hatte ja die Normierung von Abwägungsgesichtspunkten versucht; der Umweltschutz kann nur wirken, wenn er sein größtes Problem zu lösen vermag: die Kombination all jener öffentlichen Interessen, welche es hier schon deshalb abzuwägen gilt310, weil sie nicht selten gegenläufig wirken. Hier tritt also, in ganz neuer Form, ein wesentlich staatsinternes Abwägungsproblem auf, bevor es zu der dann meist nur mehr formelhaft angesprochenen Abwä308 Eine ganz andere Frage ist es, ob in den völkerrechtlichen Beziehungen derartige "natürliche Grundrechte der Staaten" anzuerkennen sind, vgl. dazu Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Auf!. 1990, S. 330 ff.; Seidl-Hohenveldern, I., Völkerrecht, 8. Auf!. 1994, S. 309 ff. m. weit. Nachw. 309 Eine, soweit ersichtlich, noch nicht vertiefend behandelte Problematik. Schwer vorstellbar ist es allerdings, daß einzelne öffentliche mit einzelnen privaten Belangen abgewogen werden; vielmehr sollten wohl beide i.d.R. zunächst zu jeweils einheitlichen Interessenkomplexen integriert und diese dann einander gegenübergestellt werden. Dafür sprechen auch gesetzliche Formulierungen ("untereinander" und (wohl doch: dann) "gegeneinander" abwägen, vgl. § 1 Abs. 2 BNatSchG, § 1 Abs. 6 BauGB). 310 Vgl. Kloepier, M., Umweltrecht, 1989, S. 94 ff.; Hoppe, W./Beckmann, M., Umweltrecht, 1989, S. 72.

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen

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gung gegenüber den privaten Belangen kommen kann. Abwägung wird damit, in größtem Umfang, auch zu einem neuen Problem des Staatsorganisationsrechts, im Zentrum geradezu des Öffentlichen Rechts; und diese innerstaatliche Abwägung kann sogar verwaltungsgerichtlich erzwungen werden311 . Auf diese Weise weitet sich der bisher übermäßig auf die Grundrechtlichkeit fixierte, ja gebannte Blick zur Erkenntnis der Gesamtproblematik der Abwägung im Öffentlichen Recht. Der Gesetzgeber selbst geht, wie gesagt, in zunehmender Deutlichkeit von der Abwägbarkeit öffentlicher Interessen untereinander aus. In immer längeren Katalogen zählt er jene Belange auf, welche untereinander und gegenüber den Interessen der Eigentümer312 , etwa im Naturschutzrecht, abzuwägen sind. Seine Umweltgesetzgebung wandelt sich mehr und mehr zu Lehrbüchern der Technik, der Medizin, vor allem aber der Biologie, in der Aufzählung kaum mehr zu überblickender, von der Verwaltung aber zu wahrender öffentlicher Belange. So weitgehend werden hier rechtliche Wertungen naturwissenschaftlich-technischem Spezialschrifttum entnommen, daß sich, für die betroffenen Behörden wie Bürger, bereits eine Frage der Rechtsstaatlichkeit i.S. der Verständnismöglichkeit dieser Normen stellt, welche öffentliche Interessen beschreiben wollen 313 . Hier erhebt sich ein neuartiges Problem jeder Abwägung: Soll sie gesetzlich vorgeprägt sein, so droht eine beschreibende Verweisung oder Übernahme - immer umfangreicherer technisch-naturwissenschaftlicher, vermeintlicher oder wirklicher augenblicklicher Erkenntnisse; das Gesetz wird zum Abwägungs-Leitfaden, muß gerade deshalb immer eingehender nicht mehr "normieren", sondern "beschreiben". Dann aber kommt es zu einer weiteren, noch größeren Gefahr: daß der Gesetzgeber sich nun seines eigentlichen Auftrages, "des Ideals der wenigen Tafeln", doch immer wieder erinnert, solche Beschreibungen preßt in zusammenfassende Kurzforrneln. Darin geht dann aber die eigentliche Direktivkraft der Gesetzgebung für die Abwägung weitestgehend wieder verloren. Entweder der Gesetzgeber verstärkt also die schon kaum mehr erträglichen Normfluten durch noch unverhältnismäßig höhere Interessen-Beschreibungsfluten - oder seine Aussagen ver311 Selbst dort, wo ein verwaltungsgerichtlicher Insichprozeß unzulässig wäre (vgl. BVerwGE 2, 147 (149)). Hier kann der Bürger gerichtlich immerhin erzwingen, daß seinen Belangen ein "integriertes öffentliches Interesse" gegenübergestellt wird. 312 Vgl. Battis, U.lKrautzberger, M.lLöhr, R.-P., BauGB-Komm., 5. Aufl. 1996, § 4 Rdnr. 3; Bielenberg, w., in: ErnsVZinkahn/Bielenberg, BauGB-Komm., § 4 Rdnr. 5; Leisner (Fn. 172). 313 BVerfGE 21, 73 (79); 31, 255 (264).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

unklaren eher noch eine Abwägung, der irgendwelche Interessen-Begriffe unsystematisch vorgegeben, besser: vorgeworfen werden, deren Bedeutung sie dann aus techniscJa,-naturwissenschaftlichen Lehrbüchern erst sich selbst und den Betroffenen verdeutlichen muß, fernab von jeder Allgemeinverständlichkeit314 . Gesetzgeberische Orientierung der Abwägung ist also bisher - in dieser Härte muß es gesagt werden - eine reine Illusion geblieben. Gesetzliche Abwägungsgewichtungen sind kaum ansatzweise ersichtlich. Sie lassen sich auch nicht, in einer Auslegung der einfachen Gesetze im Lichte der Verfassung, aus Interessenwertungen der Verfassungsgerichtsbarkeit gewinnen, so daß etwa klar würde, wo bedeutsame, hohe, höchstrangige Interessen des Staates zu finden wären. Wie bereits dargelegt ergeht sich hier auch das Bundesverfassungsgericht in Verbalismen, ohne klar faßbare Inhalte (oben IV, 3). Hier wäre nun eigentlich die "Wesentlichkeitstheorie,,315 des Bundesverfassungsgerichts anzuwenden: Da es in aller Regel um Grundrechtseingriffe geht, im übrigen innerhalb der Bewertung öffentlicher Interessen um höchst bedeutsame Festlegungen derselben, müßte dies vom Gesetzgeber selbst geleistet werden; davon aber kann bisher nicht die Rede sein, es ist auch nicht ersichtlich, auf welchen Wegen er dieser Wesentlichkeitsjudikatur entsprechen könnte. Damit ergeben sich weitere, letztlich aber doch wieder auf die Rechtsstaatlichkeit zurückführende Bedenken gegen Interessenabwägung öffentlicher Belange: Wie sollte sie über derartige kaum aussagefähige legislative Kataloge hinauskommen? Jedenfalls ist hier eine gänzlich neue Abwägungsdogmatik der öffentlichen Interessen gefordert, nicht eine Fortschreibung von Interessen- und Behördenkatalogen, die gerade das Entscheidende nicht leistet: eine Bewertungs- und Abwägungshilfe zu sein. Muß man sich dann aber nicht von allgemeinen Abwägungsformeln entfernen, sich eben doch wieder der alten, guten Begriffsjurisprudenz zuwenden?

3. Die Absolutheit öffentlicher Interessen ein Abwägungshindernis

Bedenken gegen eine aus Abwägung gewonnene Verhältnismäßigkeit kommen aber nicht nur aus liberal-rechtsstaatlichen Grundvorstel314 Kloepfer (Fn. 311), S. 19 ff.; Hoppe/Beckmann (Fn. 311), S. 40 ff.; Murswiek, D., Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), S. 207 ff. 315 BVerfGE 33, 125 (163); 33, 303 (336 ff.); 34, 165 (192 f.) usw.

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen

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lungen einer Rechtsklarheit. Wem es darum geht, die Staatsautorität in erster Linie zu befestigen, gegen Erosionen durch Freiheit, der wird mag man ihn nun "konservativ" nennen oder nicht - offen oder unterschwellig die Frage stellen, ob und in welcher Weise öffentliche Belange denn überhaupt einer Abwägung zugänglich sein können, vor allem gegenüber privaten Interessen der Bürger, vielleicht auch untereinander. a) Das "öffentliche Interesse" wird, gerade in seinem herkömmlichen Verständnis, aus einer Bedeutung für die Allgemeinheit heraus definiert 316 , hinter der eine gewisse Unbedingtheit seiner Durchsetzungsnotwendigkeit steht. Selbst wo diese relativiert erscheint, geht doch der Rechtsanwendende nicht selten vom Grundverständnis einer prinzipiellen Höchstrangigkeit jenes Belanges aus, den er mit dem Beiwort "öffentlich" versieht. Daß dies allerdings eine Abwägbarkeit öffentlicher Interessen nicht grundsätzlich ausschließen darf, folgt bereits aus der Abwägungsnotwendigkeit der öffentlichen Belange untereinander; sie aber hat es immer gegeben, selbst in autoritären Staatsformen, die den obersten Primat des öffentlichen Interesses betonten; in dieser pyramidalen Machtkonzentration nach oben war eine Pyramide öffentlicher Interessen staatsgrundsätzliche Notwendigkeit317 . Aus dieser Abwägbarkeit öffentlicher Interessen untereinander ergeben sich im Rechtsstaat grundlegende dogmatische Folgerungen: Im Bereich des Staates muß zunächst etwas herrschen wie Vergleichbarkeit in einer "privatrechtsähnlichen Gleichordnung,,318 der verfolgten öffentlichen Interessen, damit auch der sie tragenden Organe. Dies schließt eine Höher- oder Minderbewertung in der Abwägung nicht aus, ermöglicht vielmehr erst eine solche; wichtig bleibt die grundsätzli316 Vgl. Maurer (Fn. 283), S. 5; Ehlers, D., Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: Allg. Verwaltungsrecht (hgg. v. Hans-Uwe Erichsen), 10. Auf!. 1995, S. 16 ff.; Häberle, P., Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 17 ff. 317 Die Höchstrangigkeit der vom "Führerwillen " umfaßten öffentlichen Interessen, vgl. Huber, E.R., Verfassungs gericht des Großdeutschen Reiches, 2. Auf!. 1939, S. 194 ff. (Kap. IV, §§ 17-25), schloß dies nicht aus; denn gerade danach galt es dann innerhalb dieser Belange - abzuwägen. 318 Dem steht nicht bereits der Verfassungs grundsatz entgegen, daß der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG innerhalb der Staatsorganisation nicht gilt (vgl. Dürig, G., in: MaunzlDürig, GG-Komm., Art. 3 Abs. I Rdnr. 291); dies verbietet lediglich den "innerstaatlichen Gleichheitsprozeß" zwischen Rechtsträgem und Staatsorganen, verbietet aber die Annahme einer gewissen Gleichordnungsebene nicht, auf der sie alle stehen - schon aus der Abwägungsnotwendigkeit heraus.

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ehe auch organrechtliche Gleichordnungsebene, von welcher eine Abwägungslehre selbst für den Staatsbereich auszugehen hat. Vielen mag bereits dies, aus traditionellem Staatsverständnis heraus, geradezu als ein Paradox erscheinen; es führt nun aber weiter zu der entscheidenden Frage, ob die, ja dennoch bestehenbleibende, Hierarchie der Staatsgewalten und Staatsorgane nicht auch Anhaltspunkte für eine Gewichtung der als "prinzipiell gleichgeordnet " zu berücksichtigenden öffentlichen Interessen gibt. Kann vom Staatsorganisationsrecht auf die Abwägungsbedeutung der von den einzelnen Organen verfolgten öffentlichen Interessen geschlossen werden, so daß diese nicht alle gleichermaßen als "höchstrangig " erscheinen? In einem föderalisierten und kommunalisierten Gemeinwesen wie dem deutschen sind bereits gewisse Stufungen der Organe und damit Wertigkeiten auch der von ihnen vertretenen öffentlichen Interessen verfassungsnormativ vorgezeichnet. Es ist aber problematisch, allein schon aus einer Organstufung, einer Hierarchie der Träger öffentlicher Belange, auf Höher- oder Minder-Wertigkeit der jeweils vertretenen öffentlichen Interessen in der Abwägung schließen zu wollen319 . Derartige organrechtliche Anknüpfungspunkte für die Abwägung bietet denn auch das geltende Verfassungsrecht kaum; dann müßte es etwa besondere Vorrechte einzelner Bundes- oder Landesressorts geben, etwa des Finanzministeriums, aus der erhöhten Wertigkeit dort vertretener öffentlicher Interessen. Es läßt sich daher sogar die Auffassung vertreten, das Kollegialprinzip der Bundesregierung und der Landesregierungen, eine hergebrachte Grundstruktur des deutschen Verfassungsrechts 320 , zeige eine grundsätzliche Gleichordnung der öffentlichen Interessen und überlasse deren gewichtend-wertende Abwägung dem Kollegialorgan Gesamtregierung oder dem Entscheidungswort des Regierungschefs. Dann fehlen allerdings jedenfalls verfassungsnormative staatsorganisationsrechtliehe Direktiven für die Abwägung öffentlicher Interessen untereinander; und diese Problematik setzt sich, nach unten, in die Verwaltung hinein fort: Gerade die Mittelinstanz der Regierung, mit ihrer grundsätzlichen Zusammenfassung der Verwaltungstätigkeiten, könnte als eine bürokratische Wiederholung des Kollegialprinzips auf niederer 319 Im Kommunalbereich gilt dies jedenfalls insoweit nicht, als gewisse öffentliche Interessen, etwa die Bauplanungshoheit der Gemeinden, dem verfassungsrechtlich geschützten Kern der Kommunalautonomie zugeordnet werden, vgl. Masson, C.lSamper, R., Bayerische Kommunalgesetze, Art. 1 GO Rdnr. 2. 320 Beinhofer, P., Das Kollegialitätsprinzip im Bereich der Regierung, Diss. München, 1981; Stern (Fn. 1), S. 1013 f.; Losehelder, w., Weisungshierarchie und persönliche Verantwortung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 2, 1988, § 68 Rdnr. 43.

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Ebene gedeutet werden, indem ebenfalls, bei grundsätzlicher Gleichartigkeit der verschiedenen Abteilungs-Interessen, die Abwägung und damit die Verhältnismäßigkeit im Verfahren einer einheitlichen Instanz festgelegt wird - ohne daß aber organisationsrechtlich ersichtlich wäre, wie die Gewichte zu verteilen seien. Es fragt sich daher, ob jener Staat, der, nach dem Willen des Gesetzgebers, vielfältige öffentliche Interessen untereinander zum Ausgleich bringen muß, dafür auch nur ansatzweise organisationsrechtlich gerüstet ist. Vieles spricht dafür, daß hier nichts ist als allgemeine, im weiteren Sinne eben doch "politische", jedenfalls aber weitestgehend normfreie Abwägung. Nichts ändert dies allerdings daran, daß die öffentlichen Belange nach wie vor, auch in einer derartigen Organisationsstruktur, grundsätzlich abwägbar, damit aber "irgendwie vergleichbar - gewichtig" bleiben sollen. Nun müssen sie allerdings, und darin liegt eine Besonderheit des öffentlichen Bereichs, nach Abwägung untereinander zu einem öffentlichen Interesse zusammengefaßt werden. Gesetze mögen viele öffentliche Einzelbelange aufzählen, die Dogmatik des Öffentlichen Rechts verlangt deren Integration zu einem, einheitlichen interet public. Immer stehen sich gegenüber: "das öffentliche Interesse" und "die privaten Interessen". Daran kann auch die Formel von "den Belangen der Allgemeinheit" (Art. 14 Abs. 3 GG) nichts ändem 321 . Dieses eine öffentliche Interesse ist die notwendige Folge der Annahme einer letzten Staats einheit; wird diese interessenmäßig in einzelne Belange aufgelöst, so gerät "der Staat als Träger des öffentlichen Interesses" in Auflösungsgefahr, nachdem er seine natürliche Einheit ja auch nicht in einer dem Recht vorgegebenen "natürlichen Person" findet. Wieder werden die Vertreter eines unbedingten, damit der Abwägung letztlich gar nicht zugänglichen, öffentlichen Interesses daraus die Folgerung ableiten, zumindest dieses eine, integrierte öffentliche Interesse müsse allen Bürgerinteressen gegenüber als grundsätzlich höherrangig gesehen werden, was aber mit Grundrechtlichkeit und überdies mit der Institution einer Verwaltungsgerichtsbarkeit unvereinbar ist. Doch dies wäre ein Fehlschluß: Die Einheit des öffentlichen Interesses mag eine staatsgrundsätzliche Notwendigkeit sein, aus der Einheit der Staatspersönlichkeit heraus; daraus folgt nicht die Höherwertigkeit die321 Aus dieser Formulierung wird denn auch, soweit ersichtlich, nicht abgeleitet, daß die öffentlichen Interessen nicht "untereinander auszugleichen", damit eben untereinander abwägbar und zu einem einheitlichen öffentlichen Interesse integrierbar seien, vgl. Papier, H.l., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 14 Rdnm. 580 ff.; Bryde, 8.-0., in: v. Münch/Kunig (Fn. 295), Art. 14 Rdnm. 80 ff.

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ses selben Interesses gegenüber den Bürgerinteressen. Im "öffentlichen Interesse" sind vielfältige, in sich nicht notwendig "höchstwertige" , Belange zusammengefaßt, die ja auch untereinander abwägungsfähig, daher eben nicht höchstrangig sind. Auch ihre Integration kann grundsätzliche Höchstrangigkeit des öffentlichen Interesses nicht bewirken. Das Ergebnis einer Betrachtung der Wertigkeit öffentlicher Belange ist also zunächst durchaus abwägungsgeneigt: Öffentliche Interessen sind im Rechtsstaat ebenso grundsätzlich abwägungsfähig wie private Belange des Bürgers, denn sie sind nicht alle grundsätzlich "höchstwertig". b) Aus dieser Abwägbarkeit öffentlicher Belange müssen nun aber die rechts staatlichen Folgerungen im Verhältnis zu den Bürgerinteressen gezogen werden; hierfür ist ein grundlegender Bewußtseinswandel erforderlich, will man das Abwägungsprinzip überhaupt ernst nehmen. Rechtsstaatlichkeit bedeutet: Die einzelnen öffentlichen Belange sind untereinander, daher auch wesentlich gegenüber den Interessen des Bürgers abwägungsfähig. Von einer generellen Höherwertigkeit öffentlicher Belange darf nicht ohne Gegenüberstellung mit Bürgerbelangen im einzelnen ausgegangen werden. Daher ist es von vorneherein unzulässig, auf der einen oder der anderen Seite dieses Abwägungsverhältnisses globalisierte Begriffe von der Art einzusetzen, daß sie dann eine grundsätzlich überwiegende Wertigkeit mit in ihre Waagschale bringen. Wenig überzeugend wären etwa Gegenüberstellungen wie die einer "Volksgesundheit", die immer wichtiger sei als "privater Verkehr", oder die heute schon zur herrschenden Rechtsprechung - entartete, nichtssagende Aussage, Eigentumsnutzung habe "grundsätzlich" oder "in aller Regel" gegenüber Belangen des Umweltschutzes zuTÜckzutreten322 . Die Unzulässigkeit derartiger Globalisierungen, die, wie bereits dargelegt, letztlich jede Abwägung pervertieren könnten, zeigt sich bereits dann, wenn diese Pseudo-Gewichte eines öffentlichen Interesses anderen, ebenfalls öffentlichen gegenübergestellt werden: Dann findet entweder reine Politik statt - in der Durchsetzungskraft des Gesundheitsministers gegenüber dem Umweltminister - oder es muß eben doch sachgerecht aufgeteilt, spezialisiert, die Einzelbelange müssen gegenübergestellt werden. Zwar mag also "das öffentliche Interesse" in sich letztlich zu einer Einheit integriert werden; dies darf aber nicht durch Einsatz übermäßig globaler Interessenwertung geschehen, die jede Abwägung privaten Belangen gegenüber unmöglich macht. Im Verhältnis zum Bürger bedeutet dies jedoch nicht mehr und nicht weniger als den Zusammenbruch eines unterschwelligen vorrechtlichen 322

Etwa BVerwGE 67, 84 (86 ff.l; BGH NJW 1987, S. 1320 (1321); krit. Leisner

(Fn.172).

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Gesamtbildes des öffentlichen Interesses, welches, meist unbewußt, auf den grundsätzlichen Vorrang sogar einzelner Staatsinteressen vor denen der Gewaltunterworfenen gegründet war. Es mag der Bürger zwar weithin "vor dem Staat zurückweichen" müssen, in vielen, wenn auch keineswegs in allen Räumen; vor allen einzelnen öffentlichen Belangen müssen seine Rechte jedoch nicht weichen, denn diese sind ebenso grundsätzlich abwägungsfähig wie jene. Wenn schon Abwägung, dann "wie im Himmel (des Staates), also auch auf Erden (des Bürgers)". Noch immer werden Vorstellungen von etwas wie einer prinzipiellen Höherwertigkeit öffentlicher gegenüber privaten Belangen im Verwaltungsrecht fortgeschleppt; die Freiheit mag ihnen gegenüber wirksam Flagge gezeigt haben, doch das Eigentum wird im Namen solcher Vorstellungen noch immer an vielen Stellen allzurasch geschlagen. Was der Staat jedoch in seinem Bereich von jeher abwägungsfähig gestaltet hat, das muß er nun auch gegenüber dem Bürger in eine Waagschale werfen. Darin liegt eine grundsätzliche "erststufige Privatisierung" der Staatlichkeit, die sich auf etwas wie eine Gleichordnungsebene mit dem Bürger begibt. Sie muß voll akzeptiert werden, längst bevor man zu weiteren Stufen des Staatsprivaten übergeht. Ein voll gegenüber Bürgerbelangen abwägbares öffentliches Interesse ist längst vor Formen der "Staats-Aktiengesellschaft" anzuerkennen, oder gar der Überlassung von Staats aufgaben an Private. Eine bedeutsame juristische, ja staatspolitische Bewußtseinsveränderung müßte sich also noch vollziehen, damit die Abwägung im öffentlichen Recht nicht bereits an einem Punkt scheitert: an der einfach, vielleicht auch nur unterschwellig, unterstellten Absolutheit des öffentlichen Interesses. Dahin ist noch ein weiter Weg; auf ihm wird bisher mehr politisch abgewogen als rechtlich gewichtet.

4. Demokratische Interessenabwägung: "Öffentliches Interesse" nach der Zahl der Betroffenen? Wenn der Begriff der "Staatsform" überhaupt konkrete normative Bedeutung für einzelne Rechtsbereiche gewinnen kann 323 , so darin, daß die rechtsideellen Grundstrukturen eines Regimes in eben diese Einzel323 Wovon aber heute die führende Verfassungsdogrnatik ausgeht, jenseits aller Demokratisierungseuphorie, vgl. dazu die Grundsatzabhandlungen zur "Staatsform" im Handbuch des Staatsrechts: Isensee, J., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 3, 1988, § 57 Rdnm. 41 ff., Rdnm. 88 ff., Rdnm. 123 ff.; Böckenförde, E.-w., Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 2, 1987, § 30 Rdnm. 12 ff.

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bereiche ordnend hineingetragen werden. So ist das Recht überhaupt, das Öffentliche Recht im besonderen, einst feudalisiert, sodann monarchisiert worden; das Führerprinzip hat später alle seine Bereiche geprägt - und nun scheint die Zeit der Demokratisierung angebrochen, wenn schon nicht in der "Gesellschaft,,324, so doch in allen Räumen der Staatlichkeit, vor allem aber in der Bedeutung des öffentlichen Interesses. Unschwer läßt sich dieses ja, so scheint es, mit demokratischen Wertungen durchdringen, und dabei kann sich der Interpret durchaus auf längere, sogar "vordemokratische " Traditionen berufen: " Öffentliches Interesse" wird dann eben primär nach der Zahl der Rechtsträger, insbesondere der Bürger, bestimmt, welche einer Veranstaltung des Staates gegenüber Rechte oder doch - schwächere - Interessen haben (können). Je größer etwa die Zahl derjenigen ist, welche im konkreten Fall an Gesundheit oder gar Leben gefährdet werden könnten, desto höher ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung oder Verringerung solcher Gefährdung. Ist die Zahl der konkret Betroffenen gar nicht zu ermitteln, kaum zu schätzen, oder mag sie gar beliebig hoch werden, kann schließlich jeder einzelne Bürger jederzeit gefährdet sein, so erreicht das öffentliche Interesse am Schutz die Absolutheitsgrenze. Beispiele sind geläufig: Atomsicherheitsinteressen haben, schon nach der möglichen Zahl der Betroffenen, welche hier immer im Vordergrund stand325 , höchste Priorität; wasserrechtliche Sicherungsinteressen stehen besonders hoch, wiederum aus der unbestimmbaren, jedenfalls aber sehr großen Zahl möglicher Verletzter. Das öffentliche Interesse geht sodann stufenweise über in den Bereich jener privaten Belange, die - "als öffentliches Interesse" - zugleich ein Parallelinteresse der Gemeinschaft hervorbringen können. Wiederum ist es dabei vor allem die Zahl der möglichen privaten Interessenträger, welche deren Belange zugleich zu solchen der Gemeinschaft werden läßt. Wenn ein einzelner betroffener Bürger sich selbst rechtlich gegen einen anderen wehren kann, schließt dies das öffentliche Interesse zwar nicht aus, es tritt aber die Polizeigewalt in Subsidiarität hier zurück326 . Werden in solchen Fällen überhaupt öffentliche Interessen beeinträchtigt, so nicht wegen des Schutzbedürfnisses der (wenigen) Betroffenen, sondern infolge einer exemplarischen Wirkung auf viele, wegen der Unruhe, welVgl. Böckenförde, aaO., § 31 Rdnm. 3 ff. BVerfGE 53, 30 (57 ff.); 49, 89 (132). 326 So erklärt sich letztlich die polizeirechtliche Regelung über das polizeirechtliche Eingreifen zum Schutz privater Interessen, vgl. Honnacker, H.lBeinhafer, P., PAG, 16. Aufl. 1995, Art. 2 Nr. 6; Bemer, G.lKöhler, G.M., PAG, 13. Aufl. 1994, Art. 2 Rdnr. 14. 324

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che dies in der Gemeinschaft erzeugen kann - wieder eben bei vielen. Belange, welche eindeutig nur von einem Bürger einem anderen gegenüber verletzt werden können, liegen letztlich jenseits des öffentlichen Interesses. Darin ist eindeutig eine Quantifizierung des öffentlichen Interesses nach der Zahl der Betroffenen wirksam, und sie wiederum ist nichts als Ausfluß demokratischer Prinzipien, insbesondere des Majoritätsgrundsatzes. Was die Mehrheit gefährden kann in einer Gemeinschaft, dessen Ordnung oder Beseitigung liegt jedenfalls im öffentlichen Interesse. Doch das demokratische Credo geht darüber weit hinaus und wirkt auch mit dieser seiner überschießenden Tendenz in die Strukturen des öffentlichen Interesses hinein: Das größte Glück der größten Zahl327 nicht notwendig der Mehrheit - legitimiert im Grunde diese Staatsform, Majorität ist nur eine Technik zur Erreichung dieses Zieles. Diese "größte Zahl" ist aber eben bereits in der "großen Zahl" mitgedacht und zu schützen, nicht erst in der gefährdeten Mehrheit. Zu eng wäre es zwar, in der heutigen Struktur des öffentliches Interesses einfach nur Majorisierungsgedanken der Demokratie entdecken zu wollen; daß ihre Ausstrahlungen dieses öffentliche Interesse wesentlich prägen, ja tragen, läßt sich jedoch nicht bestreiten. Nun mag man solcher Quantifizierung gegenüber einwenden, allein die Zahl der (möglichen) Beeinträchtigten könne doch nie das öffentliche Interesse in seiner Wertigkeit bestimmen, selbst wenn zugegeben werden muß, daß es dann erstaunlicherweise am höchsten anzusetzen ist, wenn wirklich "alle" betroffen werden, bei der Abwehr fremder Angriffe auf Staat und Land. Immerhin spielt hier doch, wie auch im Bereich des Umweltschutzes, zugleich die Schwere der Beeinträchtigung eine Rolle: Gefahren aus dem Grundwasser sind eben, in möglicher Lebensgefährdung, in ganz anderer Intensität im öffentlichen Interesse zu verhindern als eine Herabsetzung des Erholungswertes eines Gebietes. Doch an der grundsätzlichen Wertigkeitsbestimmung des öffentlichen Interesses nach Quantifizierung der Betroffenen ändert dies wenig. Ein neben ihr stehendes Kriterium der Schwere der Beeinträchtigung gewinnt ebenfalls rasch den Anschluß an die Zahl der Betroffenen - über den Begriff der potentiellen Gefährdung, die weit vorverlegte Vorsorge im Umweltschutz zeigt es: Im Gewässerrecht greift der Staat nicht erst dann ein, mit besonderer Intensität öffentlicher Interessenverfolgung, wenn konkrete Lebensbedrohung einzelner zu erwarten steht, kleine, ja kleinste, kaum noch bestimmbare Gefahrenpotentiale können ihm bereits genügen, weil eine "Hochrechnung" zur Lebensbedrohung einer 327

Vgl. Zippelius, R., Allg. Staatslehre, 12. Aufl. 1994, S. 116 ff.

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größeren Zahl dann ja nahezu in allen Fällen möglich ist. Entscheidend bleibt also immer letztlich, daß viele gefährdet werden. Vor allem aber zeigt sich der Primat der quantitativen Betroffenheit gegenüber der Nähe und Größe von Gefahren deutlich im Sozialbereich. Keine Rede kann davon sein, daß alle oder auch nur die wichtigsten Formen der Sozialbindung des Eigentums einzelner - immerhin der Zurückdrängung, wenn nicht Aushöhlung eines elementaren Grundrechts - sich sogleich mit besonders intensiven Gefahren für elementare Grundrechte der vielen dadurch begünstigten "Schwächeren" legitimieren ließen. Meist geht es lediglich darum, ob eine allerdings nun hier sehr große Zahl etwas, oft nur sehr wenig, mehr an Leistungen auf Kosten der Eigentümer erhalten kann328 . Es ist also doch meist die große Zahl, die über das öffentliche Interesse entscheidet; damit droht eine Abwägung nach rein oder weit überwiegend quantitativen Gesichtspunkten, eine "Demokratisierung im größten Glück der größten Zahl". In letzter Konsequenz muß dies bei der "Zahl als Wert" in aller Abwägung öffentlicher Interessen enden; und ist dies nicht, unausgesprochen aber überall, heute schon ständige Praxis? Darin scheint ja endlich ein greifbares Abwägungskriterium gefunden zu sein, das einerseits den hohen Ansprüchen der Rechtsdogmatik entspricht, sich andererseits unschwer in die Banalsphäre der Wahlpolitik übertragen läßt: Zahl und Quantität sind noch immer die klarsten Ansatzpunkte für eine Interessenbewertung, die sich auf die Neutralität wertfreier Mathematik zurückziehen will. Sollte also nicht der Abwägungsvorgang gerade über solche Größen, wenn möglich allein, ablaufen, damit den Abwägungsgrößen des monetarisierten Zivilrechts nacheifern, durch Human-Quantifizierung? Wichtiger aber ist hier "Politik": Je mehr Bürger durch eine Staatsveranstaltung in der Wahrung ihrer Interessen "erreicht" werden, desto mehr Wähler werden es dem Träger der Staatsgewalt danken, desto stärker ist damit zugleich die einzelne Staatsaktion, und nicht nur das sie tragende Staatsorgan, im öffentlichen Interesse "demokratisch legitimiert" . Mag es einen "Allgemeinen Willen" im Sinne der Quasi -Totalität der Bürgerwillen nicht geben können - die Waagschale sinkt doch immer tiefer zugunsten des öffentlichen Interesses, je mehr sich eine Staatsaktion diesem Ideal der Volonte generale nähert, indem sie von "immer mehr einzelnen Willen", einzelnen Interessen getragen ist. 328 Etwa über ein "Recht auf Naturgenuß", in dessen Namen Annehmlichkeit für viele schwerer wiegen kann als erhebliche Vermögenseinbußen eines einzelnen, vgl. Engelhardt, D.lBrenner, w., Naturschutzrecht in Bayern, Art. 21 BayNatSchG Rdnrn. 1 ff.

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Die Gefahr einer solchen Radikaldemokratisierung des gesamten öffentlichen Interesses liegt auf der Hand. In ihm sollten sich doch nun wirklich alle Bürger mit ihren Belangen wiederfinden; in diesem Sinne ist das öffentliche Interesse ein Solidaritäts-, kein Majoritätsbegriff. Die Verfassungs organe , alle Staatsorgane mag man demokratisch, damit auch über Quantifizierungskriterien der Bürgerwahl, legitimieren329 die Demokratie herkömmlicher Prägung läßt aber doch an dieser Stelle Legitimationskraft und Legitimierungsbedürfnis der Mehrheit enden. Nun kennt zwar die Verfassung, jenseits dieser Majoritäts-Legitimation, eine solche der Träger der Staatsgewalt nicht durch Wahrung der Interessen" vieler", sondern "aller"; darin definiert sie auch das "öffentliche Interesse". Art. 38 GG bringt dies in dem schönen Wort zum Ausdruck, daß der Abgeordnete nicht Diener nur einer Partei ist, und sei es auch der der Mehrheit. Regierungsmitglieder und Beamte sind durch ihren Eid nicht der Mehrheit, sondern der Gesamtheit verpflichtet, zur Wahrung des öffentlichen Interesses; hier wird der promissorische Eid zum Konstitutivelement des öffentlichen Interesses. Doch all dies bleiben Verfassungstheoreme, die Praxis läuft in anderen Bahnen, insbesondere auf den Gleisen der Abwägung. Denn sie gerade unterliegt der Doppelversuchung majorisierender Quantifizierung des öffentlichen Interesses: einerseits der leichten Bestimmbarkeit der Wertigkeiten, zum anderen des erwarteten Dankes in Wahlentscheidungen und in Medienlob. Und dies ist eine der größten Gefahren der Abwägung: daß sie immer mehr eingesetzt wird mit dem Hintergedanken, die öffentlichen Belange nur deshalb abwägbar sein zu lassen, damit sie abgewogen werden nach Betroffenheitszahlen. Mag die Verfassung dies nicht fordern, vielleicht nicht zulassen wollen - bietet sie denn ein anderes, besseres Kriterium der Abwägung? Abwägung im öffentlichen Interesse "nach Betroffenenzahl" könnte nur überwunden werden durch "Abwägung nach Grundrechtsgehalt" der öffentlichen Interessen: Doch dahin ist es noch weit (vgl. dazu auch noch unten VIII, 3). Die "Verfassungswerte-Dogmatik als Grundrechts-Dogmatik" ist, daran führt kein Weg vorbei, nach einem halben Jahrhundert kontinuierlicher demokratischer Praxis, und nach guten Ansätzen bereits in der Weimarer Zeit, nicht entscheidend vorangekommen. Mehr als allgemeine Philosophemata über die "grundlegende" Bedeutung des einen oder des anderen Grundrechts, ohne Bewertungs- und Abwägungsmut, 329 Was bei der Regierung schon nicht unproblematisch ist (vgl. Böckenförde, E.-W., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HdbStR (Pn. 16), Bd. 1, 1987, § 22 Rdnr. 24), schwerer noch zu vollziehen i.F. des unabhängigen BVerfG.

10 Leisner

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ist nicht festzustellen; die Rechtsprechung erschöpft sich in vagen Sinnerfüllungsgedanken330 . Es fehlt eben vor allem an einer eindeutigen Entscheidung für Grundrechtswerte - gegen die Macht des demokratischen Allgemeinen Willens. Der immanente Gegensatz von Freiheitsrechtlichkeit und Demokratizität ist vielleicht nicht auflösbar, die Pole sind aber noch nicht einmal einander klar gegenübergestellt worden. In der Abwägungsproblematik beim öffentlichen Interesse wird letztlich, wenn auch unausgesprochen, nach einem Bewertungskriterium verfahren, das man umschreiben könnte als "Allgemeine-Willens-Haltigkeit" des jeweiligen Gemeinschaftsbelanges; zuallererst müßte dies ersetzt werden durch ein anderes: die "Grundrechts-Schutz-Haltigkeit". Zu ergänzen wäre dies dann freilich im Sinne einer "Kompensationstheorie " : Zuallererst müßte auf den Freiheitsgehalt der vom Staat im öffentlichen Interesse zu schützenden Rechtsposition abgestellt werden, im Lichte der Grundrechte; bis zu einem gewissen Grad könnte dies sodann kompensiert werden durch Zahlenüberlegungen der (möglicherweise) Betroffenen; schließlich wäre noch an eine weitere Kompensation des Grundrechts-Schutzgehalts eines so bestimmten öffentlichen Interesses durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Betroffenheit zu denken, welcher im Namen des öffentlichen Interesses vom Staat verhindert werden dürfte. Derartiges ist bereits im herkömmlichen Polizeirecht vorgedacht worden, in der (beschränkten) Kompensationsmöglichkeit der Schwere auszuschließender Gefahren durch die Eintrittswahrscheinlichkeit331 . Nur das Bundesverfassungsgericht könnte in einer nun wirklichen Grundsatzentscheidung einer Abwägung der öffentlichen Interessen untereinander und gegenüber den Belangen des Bürgers einen solchen Weg weisen, besser: eröffnen, in entschlossener Rückbindung an die Grundrechte, die erst damit wirklich zu Grundlagen aller Staatlichkeit würden. Ansätze für solches "öffentliches Interesse als Grundrechtsschutz" gibt es in der Judikatur; es fehlt aber der große Wurf, der die zunehmenden Abwägungen verfassungserträglich machen könnte. Einem Problem sähe sich eine solche Abwägungslehre aus den Grundrechten sicher alsbald gegenüber: Wie ist zu verfahren, wenn einer, sogar erheblichen, Grundrechtshaltigkeit eines öffentlichen Interesses für viele Fälle auf der anderen Seite, beim Bürger, eine unbedingt 330 Und dies nicht nur seit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 ff.), sondern etwa auch im Problembereich des sog. spezifischen Verfassungsrechtes, der Wirkungen, welche die Grundrechte auf niederrangiges Recht ausüben und damit praktisch im Gesamtbereich der Urteilsverfassungsbeschwerden. 331 Vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 223 f.; Berner/Köhler (Fn. 326), Art. 2 Rdnr. 10.

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zu wahrende grundrechtliche Rechtsposition gegenübertritt? Muß dann nicht auch eine schwere Grundrechtsbedrohung, die größte Zahl der Betroffenen, die höchste Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr zurücktreten oder hingenommen werden, nur damit eine einzige Menschenwürde, eine einzige Bürgerexistenz gewahrt bleibe? Die Rechtsprechung hat mit ihrem Existenzsicherungs-Kriterium mit sicherem Instinkt diesen Weg zu beschreiten begonnen332 : Was immer Abwägung von Grundrechtswerten weniger und vieler Bürger ergeben mag - ein letzter Grundrechtsschutz muß gewahrt bleiben. Nur sollte dies nicht zur Härteklausel verkommen, elementare Grundrechte sind nicht nur in seltenen Ausnahmelagen zu schützen, ihre Achtung muß immer Staatsgrundsatz, sie darf nie Ausnahme sein. Sonst wird sie rasch zum Staatsgeschenk nach Haushaltsmitteln pervertiert. Auch davor sollte sich die staatliche Abwägungsgewalt hüten, bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses und seiner Abwägung gegenüber privaten Belangen, daß sie hier nur schwächerenschützende Sozialvorstellungen berücksichtigt, wie es allerdings bei der Anwendung des Existenzsicherungs-Kriteriums in der Abwägung naheliegen mag. Schwächerenschutz mit seinen kleinen Schritten, seiner unausschöpflichen Fortsetzungsfähigkeit, ist gerade nicht geeignet, jene absoluten Grenzen zu bestimmen, an denen alle noch so grundrechtshaltigen öffentlichen Veranstaltungen vor einem Grundrecht eines Bürgers zurücktreten müssen. Die absolute Grundrechtsschranke kann ihrem Wesen nach wohl überhaupt nie eine "soziale" im herkömmlichen Verständnis sein; diesem letzteren Begriff ist eine allgemeine Dynamik, damit aber auch Flexibilität eigen - die Eigentumsdogmatik des Sozialversicherungsrechts zeigt es - die unvereinbar ist mit dem Absolutheitsanspruch, den es hier zu wahren gilt333 . Doch wie weit ist noch der Weg vom Abwägungs-Schutz der Mehrheit, der Vielen, zum Grundrechtsschutz des Einzelnen im öffentlichen Interesse .. ,

5. Staatliche Finanzbelange. öffentliches Interesse am Funktionieren des Staates - abwägungsfähig~

a) Noch ein anderes müßte die Verfassung ergeben, und hier scheinen die Probleme kaum lösbar zu sein: Welche Wertigkeit ist jener viel berufenen, nie aber dogmatisch bewältigten "Staatserhaltung" zuzuerkennen, die noch immer das öffentliche Interesse dort legitimiert hat, 332 Vgl. BVerfGE 87, 153 ff. 333 Vgl. BVerfGE 53, 257 (292 f.).

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wo alle anderen Begründungen versagten, die in einer Globalität wirken konnte, welche bei allen Abwägungen schlechthin durchschlug? Im Falle der bewaffneten Macht mag man dafür noch die überragende Grundrechtsbedeutung für alle Bürger bemühen334 . Weit schwerer ist es, die Abwägungsbedeutung der finanziellen Bedürfnisse des Staates festzustellen, die doch ständig in Gegensatz treten zu den privaten Interessen. Entscheidend ist oft ihre Wertigkeitskraft bei Abwägungen gegenüber anderen staatlichen Veranstaltungen, wo immer eben Einschränkungen hinzunehmen sind, wenn die Mittel anderes nicht mehr gestatten. Spricht dies für eine Höchstwertigkeit der öffentlichen Finanzinteressen schlechthin? Die Frage stellt sich ständig bei der Steuerlegitimationj mit höchst allgemeinen Formulierungen wird dabei immer wieder auf die besondere Bedeutung des Eingehens der Finanzmittel und damit funktionierender Abgabengewalt hingewiesen. Gerade hier, wo doch eingehende Abwägung gegenüber den Bürgerbelangen erforderlich und grundsätzlich auch im einzelnen möglich erscheint - es geht immer um quantifizierbare, weil monetarisierte Größen - bleibt die Abwägung in pauschalierender Verbalität stecken. Mindestens ebenso drängend müßte sich die Abwägungsfrage der Finanzinteressen gegenüber anderen Gemeinschaftsinteressen stellen, ist doch die Finanzkraft des Staates Voraussetzung für die Wahrung nahezu aller anderen öffentlichen Belange. Dagegen läßt sich nicht einwenden, eine Abwägung im eigentlichen Sinne könne hier schon deshalb nicht stattfinden, weil es stets zunächst gelte, den Finanzrahmen zu bestimmen, während erst in einem weiteren Schritt dann, innerhalb desselben, die Abwägung der öffentlichen Belange durchzuführen sei, eben aller, aber auch nur derjenigen Interessen, welche nach der jeweiligen Haushaltslage zu befriedigen seien. In vielen Fällen sind die öffentlichen Steuerinteressen als solche unmittelbar anderen öffentlichen Belangen gegenüberzustellenj bei der Belastung mit Abgaben zum Zwecke der Subventionierung im Bereich des Umweltschutzes335 ist regelmäßig zu entscheiden, ob Abgabenerhebung oder der Einsatz der so gewonnenen staatlichen Finanzmittel mehr Vor- oder Nachteile bringt, allgemein und nicht nur für die Erfüllung der öffentlichen Umweltaufgaben. Überhaupt besteht grundsätzlich stets dort ein unmittelbares Spannungsverhältnis zwischen der Erhebung von Steuern und mit deren Aufkommen zu erfüllenden Gemeinschaftsaufgaben, wo es darum 334 Zur Legitimation des Verteidigungsauftrages vgl. etwa Kirchhof, P., Bundeswehr, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 3, 1988, § 78 Rdnrn. 7 ff. 335 Hoppe, W./Beckmann, M., Umweltrecht, 1989, S. 155.

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen

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geht, ob die Steuerbelastung aus allgemein-ökonomischen Gründen eher gesenkt oder vielmehr auf die Erfüllung gewisser Staatsaufgaben, etwa aufwendigere Landesverteidigung, verzichtet werden solle. Das unbestreitbare öffentliche Interesse an möglichst niedriger allgemeiner Steuerlastquote steht dabei unmittelbar gegen das mindestens ebenso drängende Interesse an wirksamem Schutz aller. Abwägung wäre hier also, zur Bestimmung des Gewichts der öffentlichen Finanzinteressen, wie sogar der einzelnen Haushaltsansätze, an sich unbedingt erforderlich. Praktisch jedoch wird sie entweder überhaupt nicht, oder in rein politischer Entscheidung geleistet. Rechtliche Abwägungskriterien sind auch nicht ansatzweise ersichtlich; der Verweis auf angebliche aus dem Grundgesetz abzuleitende Wertigkeiten (" besondere Bedeutung der Landesverteidigung ")336, ist nichts als ein unsubstantiierter Hinweis auf Verfassungsaussagen, die als solche keine Wertungen bringen wollen, nach ihrer sprachlichen Fassung keine solchen bringen können. Zwei Auswege führen nicht weiter: entweder über den grundsätzlich "unendlich reichen Staat", der eben zuerst, "finanzfrei" , seine Aufgaben zu bestimmen, sodann deren Finanzierung unbedingt sicherzustellen habe. In der Realität der Politik endet dies im Abseits; Finanzmittel sind ein wenn nicht vorgegebener, so jedenfalls ein vorzugebender Rahmen. Oder die Wertigkeit der öffentlichen Finanzinteressen wird, im Verhältnis zu den über sie zu erfüllenden (anderen) öffentlichen Interessen, mit Blick auf die Durchsetzbarkeit der steuerlichen Belastung der Bürger bestimmt337 . Dann aber fehlt ebenfalls jede nähere verfassungsrechtliche Abwägungsorientierung. Die Abwägung endet in reinen Durchsetzbarkeits-Überlegungen - im Mittelpunkt des Politischen. b) Was hier "abgewogen" werden soll an öffentlichen Interessen, anderen ebensolchen Belangen und den privaten der Bürger gegenübergestellt wird, ist wohl nur eine besondere Art, wenn nicht geradezu Kategorie von öffentlichen Belangen: das Interesse an dem "Funktionieren" staatlicher Einrichtungen338 , von der Justiz bis zur Landesverteidigung, in allen Bereichen der Staatlichkeit. Hier zeigen sich die Gefahren einer grundrechtsgeprägten Verfassungsrechtsprechung: Eingeschworen auf die Methode der Abwägung der Freiheitsrechte Vgl. BVerfGE 69, 1 (21). BVerfG NJW 1995, S.2615 (2617); allgemein Leisner, w., Verfassungsrechtliche Belastungsgrenzen der Betriebe, dargestellt am Beispiel der Personalzusatzkosten, 1996, insbes. S. 40 ff. 338 Lecheler, H., "Funktion" als Rechtsbegriff, NJW 1979, S. 2273 ff.; Lerche, P., "Funktionsfähigkeit" - Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung, BayVBl. 1991, S. 517 ff; Leisner (Fn. 211), S. 99 ff. 336 337

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

untereinander und gegenüber der Staatsgewalt - wie problematisch gerade dies auch sein mag; vgl. im folgenden VIII - verallgemeinern die Entscheidungsinstanzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dieses Vorgehen in alle Bereiche hinein, wo noch irgendwie etwas "abwägbar" erscheint, in welchem Sinne auch immer. Da wird dann etwa das staatliche Interesse am "Funktionieren der Justiz" den Freiheitsrechten der Bürger gegen Durchsuchungen und Beschlagnahmen339 gegenübergestellt, eine Kategorie des "verhältnismäßigen Funktionierens " geradezu in dieses Zentrum der traditionellen Menschenrechte getragen. Nach welchen Gesichtspunkten, ja ob hier überhaupt noch abgewogen werden kann, welcher Sinn diesem "guten Staats-Wort" dabei noch zukommen könnte, bleibt völlig im Dunkeln. Die nachgeordneten Instanzen der Gerichtsbarkeit - immerhin entscheidet hier zunächst, und meist de facto ja endgültig, der Amtsrichter - wären auch überfordert, wollten sie Überlegungen über die Wertigkeit des Funktionierens der Strafjustiz, über die Bedeutung der Aufdekkung von Straftaten anstellen, diese allerallgemeinsten staatsgrundsätzlichen Philosophemata den auf der anderen Seite stehenden ganz konkreten Freiheitsinteressen gegenüber abwägen. In Wahrheit wird dabei nur mehr eine Worthülse (Funktionieren) auf die andere (Verhältnismäßigkeit) geklebt; das harte Urteil intellektueller Unehrlichkeit muß sich hier gefallen lassen, wer so hohe Worte des Gerechtigkeitsstrebens wie Abwägung und Verhältnismäßigkeit in derartiger Weise wahrhaft pervertiert. Hier gibt es nichts abzuwägen, der Gesetzgeber hat zu entscheiden, wenn überhaupt ist im Strafprozeß harte Begriffsjurisprudenz angesagt, nicht weiche Verhältnismäßigkeit; sie muß sich schon in der Verfassungskontrolle der normativen Befehle des Parlamentes bewähren. Das in dubio pro reo ist340 ein derartiger durchaus sinnvoller Ausdruck begriffsjurisprudentiellen klaren Ordnens; in problematischen Bereichen wird eine, nur eine Lösung geboten, nicht etwa das, was doch in zweifelhaften Fällen so nahe läge: die Abwägung. Eine Abwägung von "Funktionieren" gegen "Freiheit" ist vollends abwegig, schon im Ansatz. Letztlich läuft sie sogar auf die höchst bedenkliche Gegenüberstellung einer Freiheit des Bürgers gegenüber einem "Freiraum des Staates" im Namen der Verfassung hinaus, in welchem allein sich dieses "Funktionieren" ja vorstellen läßt. Handlungsfreiheit des Staates gegen Bürgerfreiheit - dies wäre das Ende der 339 Vgl. BVerfG BB 1994, S.851 (853) sowie BVerfGE 33, 367 (387); 38, 312 (324 f.). 340 Vgl. Roxin, c., Strafverfahrensrecht, 24. Aufl. 1995, S. 97; Kleinknecht, Th./ Meyer-Goßner, L., Komm. z. StPO, 42. Aufl. 1995, § 261 Rdnr. 26 f.

VI. Die Problematik der Abwägung öffentlicher Interessen

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Grundrechte überhaupt, der Staat ist nicht in seinen Freiheitsräumen von der Verfassung gesichert; er ist Freiheitsgegner, nicht Freiheitsträger341 , dies gilt es gerade hier ernst zu nehmen. Nicht mehr hinnehmbar ist insbesondere die Globalität, welche zugunsten des "Funktionierens" staatlicher Einrichtungen eingesetzt wird. "Funktionierende Justiz·, "funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen", "funktionierende Landesverteidigung " - diese und ähnliche Umschreibungen von Großbereichen der Staatstätigkeit lassen sich auch nicht damit abwägungsfähig gestalten, daß hier auf die Sicherung entsprechender Grundrechte der Bürger zurückgegriffen wird. Was und wieviel von diesen und wie wirksam es letztlich "gesichert" wird, ist doch nicht einmal in Ansätzen zu sehen, wenn ein öffentliches Interesse am Funktionieren staatlicher Groß-Verwaltungen gegenüber Einzelgrundrechten abgewogen werden soll. Das Ergebnis kann dann immer nur sein: Durchschlagen der Staatseffizienz - denn um nichts anderes handelt es sich - gegenüber der Bürgerfreiheit. Wer das Wort vom "funktionierenden Justizapparat" in den Mund nimmt, der hat bereits entschieden - gegen den Bürger. Oder läßt sich auch nur entfernt vorstellen, daß ein Verfassungsgericht einmal aussprechen könnte, das Interesse des Staates an funktionierender Gerichtsbarkeit habe zurückzutreten? Allenfalls wird es noch darlegen, ein solches Interesse sei im Einzelfall nicht beeinträchtigt. Dann aber verfährt es, sachgerecht, nach begriffsjurisprudentiellen Maßstäben, das Deckwort der Abwägung wird abgeworfen. Der neue, heute geradezu moderne " Funktionalismus " in der Beurteilung der Rechte des Staates und seiner Grenzen erweist sich also als eine methodische Perversion der Abwägungstheorie, die hier in ihr Extrem gesteigert wird. Daß dies nicht offen geschieht, daß sich über Voraussetzungen wie Vorgang gerade solcher Abwägung im einzelnen jener Verunklarungsschleier legt, den diese Betrachtungen hier immer wieder zu lüften versuchten, bekräftigt grundsätzliche Zweifel an der Berechtigung einer derartigen Methode. Läßt sie sich mit solcher Unbekümmertheit grundsätzlich gegen die Freiheit wenden, ohne daß dabei irgendein Schritt noch erkennbar wäre, der den Namen der "Abwägung" wirklich verdiente, so fällt es schwer, hier überhaupt noch von einer "Methode,,342 zu sprechen. 341 Krebs, W, in: v. Münch/Kunig (Fn. 301), Art. 19 Rdnr. 41; v. Mutius, A., in: BK, Art. 19 Abs. 3 Rdnm. 78 ff.; Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 19 Abs. III Rdnm. 33 ff. (37). 342 Vgl. Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auf!. 1991, S. 78 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Abwägung der öffentlichen Interessen, untereinander und gegenüber dem Bürger, wird also meist nur eines bringen: begründenden Einsatz einer "Methode" im Namen der Freiheit - gegen diese, unter Verzicht auf all das, was den Namen der Abwägung verdient. Liegt aber nicht gerade darin eine typische Steigerung eines einzelnen rechtsmethodischen Ansatzes zur größeren, machtbefestigenden Technik - zur Machttechnik?

VII. Grundrechte nach VerhältnismäßigkeiU Bei der "Abwägung öffentlicher Interessen" bot sich, als einzig im Grunde faßbarer Verfassungsmaßstab, die Bewertung mit Blick auf den Freiheitsgehalt der staatlichen Schutzveranstaltungen an. Dies aber würde voraussetzen, daß Grundrechte an sich abwägbare Größen wären, dem Staat und den Ansprüchen seines Funktionierens gegenüber ebenso wie untereinander, zwischen Bürger und Bürger. Mit Selbstverständlichkeit wird denn auch seit Jahrzehnten grundrechtlich gewertet und gewogen 343 , im Grunde lag dies schon der Integrationslehre von Rudolf Smend zugrunde, welche ja jedem Grundrecht seinen Bedeutungsplatz im Gesamtvorgang der Zusammenschau der Freiheiten und des auf sie zu gründenden, sie schützenden Staates bieten mußte. Begünstigt wurde all dies durch die Schwierigkeit, hier" begriffsjurisprudentiell", nach Gesetzesvorbehalten etwa344 , zu verfahren: Diese erscheinen eben leicht, bei vertiefender, insbesondere historischer Betrachtung, als geschichtliche oder dogmatische Zufälligkeiten. Es gilt also, das" Wesen eines Grundrechts" , damit aber auch seine Wertigkeit, schon vor allen derartigen Einschränkbarkeiten zu bestimmen, diese letzteren dann entsprechend, in Abwägung, wieder zu relativieren 345 • So richtig dies an sich methodisch sein mag, mit solchen Versuchen einer Bedeutungs-Festlegung, rein aus dem Inhaltlichen heraus, dringt die Abwägung schon in die Inhaltsbestimmung des Grundrechts ein. Grundrechte nach Abwägung? Wie selbstverständlich die Berufung auf "Verhältnismäßigkeit" bereits geworden ist, zeigt sich gerade in diesem Bereich, aus dem heraus 343

1962.

Vgl. f. viele Zippelius, R., Wertungsprobleme im Bereich der Grundrechte,

344 Versucht etwa bei Leisner, w., Die schutzwürdigen Rechte im Besonderen Gewaltverhältnis, DVBl. 1960, S. 617 ff. = Staat, 1996, S. 659 ff. 345 Dies ist der tiefere Sinn der "Wechselwirkungslehre" des BVerfG, vgl. BVerfGE 7, 198 (208 ff.) - Lüth-Urteil; BVerfGE 12, 113 (124 f.); 20, 162 (176 f.).

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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sie in den letzten Jahrzehnten wesentlich entwickelt worden ist. Doch eben hier muß endlich wieder der Blick auf die geschichtlichen Ausgangslagen gelenkt werden: Wenn je im Recht eindeutig in Werten gedacht, der Versuch einer Bewertung unternommen worden ist, so hier, im Bereich der Grundrechte - und doch zugleich in einem Denken in absoluten Höchstwerten jeder einzelnen Freiheit wie jedes einzelnen ihrer Träger; die Betrachtung steht hier vor einem historischen Dilemma.

1. Der Grundrechtskatalog Gegenteil eines Abwägungssystems

Zuwenig wird darüber nachgedacht, welche Bedeutung der eigenartigen Form zukommt, in welcher die Grundrechte in die Historie des Rechts eingetreten sind: im Grundrechtskatalog. Nicht ein neues, höherrangiges Rechtssystem sollte sich den bisherigen normativen und judikativen Geflechten überlagern; einzelne Aussagen wurden hier nebeneinander gestellt, katalogmäßig wesentlich gleichgeordnet. Dies konnte auch nicht anders geschehen, stand doch ein Wesentliches hinter dieser Anordnung: die gleichmäßige, gleichgewichtige, wertungsmäßig gar nicht differenzierbare Höchstwertigkeit jeder einzelnen Freiheitsverbürgung. Man mag in der ersten längeren Grundrechtsentwicklung, der der Französischen Revolution, gewisse Akzentverschiebungen feststellen, etwa von der stärker freiheitsgeprägten Grundrechtlichkeit der Verfassung von 1791 zur mehr egalitär akzentuierten Charta der Jakobiner von 1793; dies aber sind wechselnde Grundstimmungen der Gesamtkataloge dieser Verfassungsgrundrechte, die sich immer wieder als völlig neue, geradezu grundsätzlich erstmalige Ausprägungen der großen Menschenrechtsidee verstehen. Nichts ändert dies an der gleichmäßigen Höchstrangigkeit der in all diesen Dokumenten verbrieften Menschenrechte. Sie werden denn auch proklamiert, deklariert, nicht gesetzgeberisch fixiert; was aber aus einem höheren Rechtsbereich kommt, der aller Staatlichkeit vorgegeben ist, wie könnte der staatliche Verfassunggeber dies in Abwägung eben doch - relativieren? Über der gängigen, täglich angewendeten Rechtsdogmatik sind diese abwägungsfremden Ausgangspunkte der Freiheitsrechte weitgehend in Vergessenheit geraten. Sie zeigen sich aber doch umso deutlicher, als jene Katalog-Form, in welcher dies rechtstechnisch zum Ausdruck kommt, in einer Zeit gewählt wurde, welche auch im übrigen das gerade Gegenteil der Abwägung ständig praktizierte: die systematische,

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

Abwägungen in Begriffsschemata gießende Kodifikation - Begriffsjurisprudenz. Eine höchst bedeutsame Erscheinung liegt doch darin, daß die amerikanischen346 und französischen ersten Grundrechts-Proklamationen in eine Periode fallen, in welcher letzte Hand an die großen österreichischen und preußischen Kodifikationen gelegt wurde, in der, sozusagen unter ihnen hinweg, in Frankreich der große rechtliche Kodifikationsstrom weiterlief und, wenige Jahre nur nach den letzten französischen revolutionären Grundrechtskatalogen, im Code civil ganz natürlich und mächtig an der politischen Oberfläche wieder erschien. Die Grundrechtskataloge brachen also durch, mit ihren HöchstwertAufzählungen, gerade in der späteren Zeit jenes Naturrechts, das sich bereits zur systematischen Naturrechtlichkeit seit Jahrzehnten hochentwickelt hatte 341 . Dies aber sollte nachdenklich machen über den Grundcharakter der Grundrechte: Wenn schon nicht Systematisierungsfeindlichkeit überhaupt, so doch jedenfalls Unabwägbarkeit der nebeneinandergestellten rechtlichen Höchstwerte. Gerade nicht jene systematische Wohlfahrtsstaatlichkeit sollte hier geboten werden, in der, etwa im Allgemeinen Landrecht Preußens, durchaus bereits freiheitsrechtlieh, grundrechtlich gedachte Werte eben doch wieder unter Staatskuratel gestellt wurden. Die Grundrechtskataloge sind demgegenüber ein großer Aufschrei des befreiten Individuums, das nicht Abwägung will, sondern seine Freiheiten, als wertungsmäßig gleichberechtigte Ausprägungen seiner einen, großen menschenrechtlichen Freiheit. Kaum lassen sich in den Diskussionen der französischen Nationalversammlung nach 1789 Ansätze zu einem Verhältnismäßigkeitsdenken finden; mehr als systematische Vernünftigkeitsüberlegungen, Aufrufe zur Mäßigung, waren hier auch nicht zu erwarten.

2. Das Individuum als Grundrechtsträger unabwägbarer Höchstwert

Nicht nur die Freiheiten stehen unsystematisch, weil eben als Höchstwerte, gleichgeordnet in den Katalogen nebeneinander; ihr Träger, der einzelne Mensch, wird eindeutig, in der Geburt der Grundrechte, als Höchstwert gesehen. Kein einziger dieser Freiheitsträger darf seiner Zu diesen siehe, gerade auch für diesen Zusammenhang, Jellinek, G./Jelw., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Auf!. 1927. 347 Siehe dazu Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 322 ff. 346

linek,

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

155

Rechte beraubt, niemandem dürfen sie auch nur verkürzt werden. Mit der Freiheit jedes einzelnen wird die Freiheit aller geschlagen - ohne diese Überzeugung wäre der gesamte revolutionäre Schwung unvorstellbar, seine unvergleichliche Solidarisierungskraft hätte es nie geben können. Hier hieß es nicht "Wir sind das Volk", sondern "Ich bin das Volk" . Eine Bewertung öffentlicher Interessen nach ihrem GrundrechtsSchutzgehalt. wie sie im vorstehenden Kapitel angedeutet wurde. steht dem noch nicht grundsätzlich entgegen; der Staat mag die Freiheiten der großen Zahl der Bürger mit größeren Anstrengungen schützen als die nur einzelner Gefährdeter. Doch so weit darf es nie kommen, aus der Grundidee der Menschenrechte heraus, daß auch nur ein Bürger um seine Freiheit gebracht wird, im Namen der Freiheiten vieler. Man mag das ins Reich der Utopien verweisen, und mehr als ein Jahrhundert lang ist dies selbst in Frankreich immer wieder geschehen. Deutlich aber muß bleiben: Ethos und Pathos der Grundrechte sind verloren, wenn man von diesem absoluten Höchstwert des einzelnen Grundrechtsträgers abgeht, in welchem der ideelle Höchstwert der Freiheit, jeder Freiheit, faßbar zum Ausdruck kommt 348 . Abwägung der Grundrechte, oder gar ihr Abwiegeln am Ende, wäre den Revolutionären ein Greuel, ein Frevel gewesen. Für Abwägungen stirbt man nicht; Verhältnismäßigkeit ist unbegeisternd. Wenn schon derartige Kategorien in der täglichen Praxis endlich befriedeter Staatlichkeit zum Einsatz kommen sollen, so müßte dies doch stets mit einer ganz anderen Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber den vorstaatlichen Menschenrechten geschehen, als es jenes tägliche, geradezu rechtstechnische Abwägungs-Hantieren zeigt, in welchem heute ewige Werte in kleine Münze gewechselt werden. Daß eine Verfassungs gerichtsbarkeit an sich solcher Achtung fähig sein kann, hat sich in zahlreichen staatskirchenrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gezeigt: Immer wieder zog sich die Staatsgewalt schon im Vorfeld dessen zurück, was transzendent geprägten religiösen, kirchlichen Werten auch nur zu nahe hätte treten können 349 . Abwägungen von sonst üblicher Selbstverständlichkeit wird 348 Dies ist auch der gute dogmatische Sinn der Anbindung der Grundrechte an die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 3 GG: Diese Menschenwürde hebt grundsätzlich alle Freiheiten - und nicht nur einen Menschenrechtskem, wie es der h.L. entspricht (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG-Komm., 8. Auf!. 1995, Art. 79 Rdnr. 13; Maunz, Th.lDürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 79 Rdnr. 42) - auf die höchste normative Stufe, aus der höchstwertigen Einheit des Rechtsträgers heraus. 349 Typische Beispiele bietet die Anerkennung karitativer Tätigkeit als Religionsausübung, BVerfGE 24,236 (247 ff.); 53,366 (392 f., 399); 57, 220 (243).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

man zwischen Staat und Kirchen, dem religiös überzeugten Bürger und seinem staatlichen Widerpart vergeblich suchen350 . Berechtigt ist daher die Frage, warum ähnlicher Respekt nicht den Grundrechten überhaupt gezollt wird, warum die anderen Freiheiten mit einer gewissen Leichtigkeit, ja Selbstverständlichkeit "abgewogen" werden. Im Staatskirchenrecht ist eben die - richtige - Überzeugung noch immer lebendig, daß es "verhältnismäßige Kirchenfreiheit " , "verhältnismäßige religiöse Überzeugung" nicht geben kann, daß hier wirklich nur allerletzte Grenzen gezogen werden dürfen, dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit. Dies aber geschieht weniger in Abwägung, als vielmehr, entgegen selbst mancher dabei gebrauchter Abwägungsformel351 , in letzter begrifflicher Schrankenziehung. Lebendig ist hier noch die Überzeugung, daß mit dem religiös-Kirchlichen etwas Unbedingtes hineinragt in die staatliche Welt - bei den übrigen Menschenrechten ist die entsprechende Höchstwertigkeit in Vergessenheit geraten, obwohl sie doch weithin historisch nicht anders zu erklären ist denn als eine weltanschauliche Säkularisierung früherer religiöser Höchstwerte352 . So viel aber läßt sich ein Staat, der sich den Fesseln des Staatskirchentums entzogen hat, seinen Respekt vor Höherem nicht mehr kosten - außerhalb des engsten Bereiches von Weltanschauung und Religion. So sind denn die Grundrechte gerade am Absolutheitspostulat rechtlich immer wieder gescheitert. Die französische Tradition republicaine et revolutionnaire 353 mußte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert den verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz opfern, nur um den demokratischen Höchstwert des Allgemeinen Wahlrechts, des Allgemeinen Willens halten zu können; hier brauchte Abwägungs-Relativierung nicht befürchtet zu werden - bei den Grundrechten wäre sie kaum zu vermeiden gewesen. So war es wohl nicht ein Paradox, daß man die Freiheitsrechte als zu hochwertig in Frankreich stets angesehen hat, als daß sie in die Niederungen der Rechtsgarantie hätten gezogen werden dürfen354 . 350 So ist übrigens auch die umstrittene Kruzifix-Entscheidung des BVerfG (NJW 1995, S. 2477 ff.) LS.d. Schutzes negativer religiöser Überzeugung nicht Ergebnis einer Abwägung, sondern des Durchschlagens absolut gesetzter grundrechtlicher Wertigkeit. 351 Vgl. v. Münch/Kunig (Fn. 301), Vorbem. Art. 1-19 Rdnr. 56 f.; Pieroth, B./ Schlink, B., Staatsrecht 11, 11. Auf!. 1995, S. 82 ff. 352 Entsprechend der Grundthese von Jellinek (vgl. Fn. 346). 353 Vgl. dazu Leisner (Fn. 18). 354 So sind sie denn auch in der Verfassung der 5. Republik von 1958 noch immer Deklaration geblieben, aus der nun der Conseil constitutionnel und der Conseil d'Etat allerdings einzelne grundrechtsähnliche Ansprüche ableiten.

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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In der deutschen Entwicklung wich Weimar in den GrundpflichtenKatalog aus, ein an sich bemerkenswerter Versuch, einschränkende Abwägung der Grundrechte zu vermeiden durch klare, begriffsjuristische Setzung von Gegenrechten des Staates355 . Auch dies sollte keine Zukunft haben356 , und so mußte denn die unbedingte Höchstwertigkeit der Freiheiten deren Verhältnismäßigkeit grundsätzlich geopfert werden. Dies erschien nun nicht zuletzt deshalb als möglich, ja nötig, weil sich zur selben Zeit, ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sozialistische Strömungen so weit durchsetzten, daß die Absolutheit des grundrechtlichen Individualismus sich in verbreiteter Abwägung abschwächen konnte, diesmal nicht primär aus Rechtsprinzipien heraus, sondern in einer politischen, überaus wirkmächtigen Grundstimmung: Grundrechtsabwägung wird nunmehr getragen, und auch rechtlich legitimiert, durch die laufende Abwägung zweier Größen, die als solche eben, politisch gesehen, vergleichbar erscheinen: der Einzelne und die demokratische Gemeinschaft. Gäbe es diese "soziale Grundrechtsabwägung " nicht, wäre sie nicht durch eine große geschichtliche Bewegung heute Wirklichkeit, man müßte vergeblich nach Legitimationen der Abwägung dessen suchen, was wesentlich unabwägbar ist - die Freiheit. Das rechtshistorisch begründete Problem allerdings löst all dies nicht: ob Abwägung und Verhältnismäßigkeit nicht doch eine Grundentscheidung gegen die Grundrechte sind. Wenn Rechte "mit uns geboren sind" - sind es dann vielleicht auch Abwägungsgesichtspunkte, Verhältnismäßigkeitsüberlegungen, ist der um seine Freiheit ringende Mensch das "natürlich verhältnismäßige Wesen" - oder ist all dies nicht doch nur Grundrechts-Dekadenz?

3. Von den Voraussetzungen möglicher Grundrechtsabwägung

Die Betrachtungen sollen nun die Historie verlassen, wenn sie dort schon nur Argumente gegen all das finden, was heute überall praktiziert wird. Nicht aufgegeben werden darf aber das Postulat, daß eine solche Grundrechts-Abwägung ihren Namen verdienen, daß sie mehr 355 Vgl. dazu Thoma, R., in: Nipperdey, H.C., Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1929, Bd. 1, S. 28 ff., vgl. weiterhin die jeweiligen Kommentierungen zu den Grundpflichten in Bd. 2 und 3,1930. 356 Vgl. Stern (Fn. 1), S. 880, 931 m. weit. Nachw.; Merten, D., Grundpflichten im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, BayVBl. 1978, S. 554 ff.; Götz, V./Hofmann, H., Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 7 ff.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

als nur ein Wort oder gar eine Floskel sein muß. Zu prüfen ist also, zusammenfassend, was hier in den letzten Jahrzehnten geboten wurde, vor allem aber, was geleistet werden müßte. Ein Überblick über Versuche der Grundrechtsabwägung, über die Anstrengungen zur Entfaltung der Verhältnismäßigkeit gerade in diesem Bereich, zeitigt ein bescheidenes Ergebnis. Im einzelnen wurde schon dargelegt, daß die Stufentheorie357 des Bundesverfassungsgerichts im letzten nichts gebracht hat als Verbalien, daß für die Wechselwirkungstheorie 358 und die Wesentlichkeitstheorie359 nichts anderes gilt. Im Grunde sollte man nicht mehr von Theorien, man dürfte allenfalls noch von methodischen Orientierungen sprechen, aber eben durch nahezu völlig inhaltsentleerte Begriffe. Wo schließlich auf der staatlichen Seite das Funktionieren der Gewalt gegen die Freiheit abgewogen werden soll- am Ende des vorhergehenden Kapitels wurde auch dies deutlich - da ist dann im Grunde nur mehr harte, grundsätzliche Absage an die Freiheit festzustellen, ihr Zurücktreten hinter die Macht. Eines ist und bleibt eben begrifflich unvollziehbar: Abwägung von Freiheit gegen Macht. Hier muß in Beschränkungskategorien gedacht werden, in Begriffs-, nicht in Interessenjurisprudenz. a) Eine Chance hatte Grundrechtsdogmatik der Abwägung, als in der vollen Bewußtwerdung der Bedeutung der Grundrechte die Drittwirkungsdiskussion360 nach 1950 einsetzte. Sie ist von vorneherein, auf beiden Seiten, mit übersteigerten Ansprüchen geführt worden, mußte daher in unklaren Harmonisierungsformeln enden. Auf der einen Seite wurde versucht, aus der Unbedingtheit der Freiheitsrechte heraus deren Geltung auch im Privatrecht, ebenso wie im Öffentlichen Recht gegenüber dem Staat, durchzusetzen. Dies mußte den entschlossenen Widerstand nicht nur des traditionellen Privatrechts, sondern der Vertreter der Privatautonomie hervorrufen, im Namen wiederum der Freiheit. Die Verfassung hatte aber, diese ganze Problematik eben letztlich nicht voraussehend, wie es schien, keine klaren Grenzen vorgegeben, zwischen der Dispositionsbefugnis des Einzelnen über seine Freiheit im Namen derselben und den unbedingt zu achtenden Werten der Grundrechte. Ausgehend vom Apothekenurteil, BVerfGE 7, 398 ff., vgl. oben B, IV, 3. Vgl. oben Fnen. 345, 266, 111. 359 Vgl. Degenhart, c., Staatsrecht I, 11. Aufl. 1995, S. 109 f.; v. Münch, I., Staatsrecht, Bd. 1,5. Aufl. 1993, S. 143; BVerfGE 49,89 (127); 61, 260 (275). 360 Zur Drittwirkung vgl. Leisner, w., Grundrechte und Privatrecht, 1960, seither vor allem die in Fn. 51 Genannten sowie Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IHI1, 1988, S. 1509 ff.; Rüfner, w., Drittwirkung der Grundrechte, in: Gedächtnisschrift F. W. Martens, 1987, S. 215 ff.; ders., Grundrechtsadressaten, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 5,1992, § 117 Rdnrn. 54 ff. 357 358

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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Überdies stießen in dieser Auseinandersetzung auch noch grundsätzliche politische Positionen von Liberalismus und Sozialismus, jedenfalls Solidarismus aufeinander. So ist es denn zu jener verbal verlockenden, für die Begriffsklarheit aber unglücklichen Lösung des Bundesverfassungsgerichts im Lüth-Urteil361 gekommen, welche die Praxis seither, ohne größere erkennbare Fortschritte, trotz aller Anstrengungen der Lehre362 , mit sich fortschleppen muß: Die Sinnerfüllungstheorie der privatrechtlichen GeneralklauseIn ist nichts als eine Kapitulation der Rechtsklarheit, ein Sieg, wenn man will, der Abwägung, der aber gerade zeigt, daß diese im Grundrechtsbereich nicht gelungen ist. Einfließen sollen in die Rechtsbeziehungen des Privatrechts die "Wertungen der Grundrechte" über die Generalklauseln, insbesondere von Treu und Glauben und den Guten Sitten. Welche Wertungen das sein könnten, in welches Verhältnis sie zueinander treten, wenn sie gerade im Privatrecht wirksam werden sollen - all dies bleibt offen. Welche Wirkungen überdies die solche Werte aufnehmenden privatrechtlichen GeneralklauseIn ihrerseits auf diese Werte, im Sinne von Rastern oder Kanalisierungen, entfalten, wird ebensowenig klar. Ja es ist noch nicht einmal die Frage überzeugend beantwortet worden, ob damit nicht die Maßstäbe der "Guten Sitten", von "Treu und Glauben" schlechthin überfrachtet werden, politisch denaturiert, wenn ihre Wirkkraft aufgefüllt werden soll durch Entscheidungen die, wie hoch immer man sie in einer bestimmten historischen Konstellation ansetzen mag, doch mit Blick auf das Gesamte der Rechtsordnung immer nur politisch kontingent sein können363 - eben auch die Grundrechte. Die Frage muß auch nach über drei Jahrzehnten nochmals gestellt werden, da sie nie beantwortet wurde: Ist denn nicht Treu und Glaube mehr, jedenfalls etwas ganz anderes als jede Freiheitsrechtlichkeit? Wird und muß es Gute Sitten nicht auch dort geben, wo westliche Freiheitsrechte nicht anerkannt werden? Im Völkerrecht jedenfalls war während jener ganzen Zeit, in der der Sozialismus des Ostens westliche Grundrechte verabscheute, immerhin der Rechtsmißbrauch, waren Gute Sitten, Treu und Glauben Interpretations-, ja Verständnisgrundsätze völkerrechtlicher Verträge, völkerrechtlicher Normen überhaupt364 . Weiter kann man die Verunklarung jenes Rechts, das doch das klarste und sicherste sein soll, der Verfassungsnormen, nicht treiben, als daß man Ausdrücke wie "Sinnerfüllung" einsetzt und damit jene Wertun361 362 363 364

BVerfGE 7, 198 ff. Vgl. Fn. 360. Dies hat der Verfasser bereits 1960 betont, vgl. Fn. 360. Vgl. Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 504 f., 860.

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

gen, die schon im Öffentlichen Recht nicht klar definiert sind, in ihrem Übergang ins Privatrecht noch weiter verunklart. So ist denn im Öffentlichen Recht das Ergebnis der Grundrechtsabwägung mager, ins Privatrecht hat all dies nur Unklarheit getragen und dies auch noch unter dem Deckmantel der Begriffsjurisprudenz365 . Die Interessenjurisprudenz aber war es, welche eben diese Generalklauseln zu hoher Bedeutung geführt hatte, mit ihrer "allerletzten Abwägung". Sie können gewiß nicht, in einem vermeintlichen Schritt der Rückkehr zur Begriffsjurisprudenz, "sinnerfüllt" , näher begrifflich präzisiert werden. b) Grundrechtsabwägung wäre nur praktikabel, wenn ein ganzes System "stärkerer und schwächerer" Grundrechte entwickelt worden wäre, in welchem jede einzelne Grundrechtsverbürgung ihren eindeutigen Platz fände. Dann allein könnten diese Wertigkeiten als Gewichte in die Waagschalen geworfen, jedenfalls zwischen den Bürgern abgewogen werden; und der Staat fände dann feste Anhaltspunkte dafür, was er in seinen Ordnungen der einen Bürgerkategorie zumuten darf im Namen der anderen - selbst wenn letzte Abwägungsprobleme zwischen der Sicherung der Staatsgewalt als solcher und den Rechten der Bürger auch dann bleiben würden; wobei hier dahingestellt sein mag, ob "Normstufen" das Abwägungsproblem überhaupt lösen können, denkt man hier doch in Kategorien des Vorrangs, also letztlich begriffsjurisprudentiell. Die Rechtslehre hat dies wohl gefühlt, sich bemüht um eine Theorie "stärkerer und schwächerer Normen in der Verfassung ,,366. "Stärker" müßten in einem auf Freiheit gegründeten Staatswesen die Grundrechte gegenüber allem Organisationsrecht der Staatsgewalt sein. Doch eine solche Stufung müßte sich, ihrem Wesen nach, wie nach dem Ziel einer Festlegung VOn Normstufen innerhalb der Verfassung, auch noch innerhalb der Grundrechte fortsetzen, zu einer Grundrechtspyramide der Wertigkeiten führen. Die Schwäche des Theorie-Ansatzes lag VOn vorneherein darin, daß er auf eine solche Folgerung nicht gerichtet war, welche dann zu einer Abwägung der Grundrechte untereinander hätte führen können. Vielmehr sollten offenbar nur Komplexe "stärkerer" und "schwächerer" Normen gegenübergestellt, also zwei Normstufen innerhalb der Verfassung anerkannt werden. 365 Denn "Sinnerfüllung" ist letztlich ja kein Interessen-, kein Abwägungsbegriff, sondern ein Versuch begriffsjurisprudentieller Inhaltsverschränkung. 366 Klar ist das Problem schon erkannt bei Bachof, 0., Verfassungswidrige Verfassungsnormen? 1951, S. 36 ft., aber auch in den Versuchen eines grundrechtlichen Wertesystems bei Dürig, G., in: MaunzlDürig, GG-Komm., Art. 1 Rdnrn.6ft.

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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In der Rechtsprechung ist übrigens sogar diese Zweistufigkeit zwischen "stärkeren" und "schwächeren" Verfassungsnormen nur selten zum Tragen gekommen, so etwa wenn im KPD-Urteil einst die "höchste Staatsorganisationsnorm der deutschen Wiedervereinigung" über Parteien- und Meinungsfreiheit gestellt wurde 367 . Allzuleicht fällt auch die Gegenargumentation: Ein Organisationsrecht der Staatlichkeit kann nicht generell hinter Grundrechtswerten zurückstehen, welche ja überhaupt erst durch eben die Organisation einer freien Gemeinschaft gesichert werden. Noch weit weniger ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, innerhalb der Grundrechte auch nur zwei Wertigkeitsstufen, eben "stärkere" und "schwächere" Freiheitsrechte, zu unterscheiden. Der "Menschenrechtscharakter" konnte dazu kaum überzeugend herangezogen werden, wenn dieser Begriff vor allem den "Deutschenrechten " gegenübergestellt wurde. Der anerkannte Begriff der" unantastbaren Verfassungsnormen " hätte als Ausgangspunkt einer Stufung dienen können, liegt es doch nahe, "einfache Grundrechte" unter diejenigen zu stellen, welche keine staatliche Gewalt brechen kann. Doch dies hat letztlich, und wieder nur ansatzweise, nicht etwa zu einer Stufung der unterschiedlichen Grundrechte als solcher geführt, sondern zur Anerkennung von "Menschenrechtskernen" , innerhalb jeweils eines und desselben Grundrechts 368 . Selbst das sonst so zurückhaltend in der Verfassungsrechtsprechung behandelte, weitestgehend relativierte Eigentumsrecht soll ja einen derartigen unabänderlichen Menschenrechtskern enthalten, wie es das Bodenreformurteil des Bundesverfassungsgerichts nunmehr anerkannt hat369 . Doch damit wird das Abwägungsproblem der Grundrechte nicht gelöst, sondern eher noch, durch Differenzierungsnotwendigkeit, weiter kompliziert: Nun gilt es ja, die unabänderlichen Menschenrechtsbereiche jedes einzelnen Grundrechts gegeneinander abzuwägen; letztlich können sie nur mehr kombiniert, nicht eigentlich darf der eine dem anderen in einer Abwägung geopfert werden. Den Menschenrechtskern eines Grundrechts aber dessen abänderlichen Inhalten abwägend, und letztlich mit Vorrang, gegenüberzustellen oder den nicht so stark geschützen Bereichen anderer Grundrechte - dies hätte eine differenzierende Dogmatik erfordert, die es nicht gibt. Damit steht fest: Das Wertigkeitsproblem der Grundrechte ist ungelöst; auch einzelne Bemerkungen in Verfassungsurteilen, dies oder je367 Vgl. BVerfGE 5, 85 (125 ff.); nur sehr vorsichtig ist dies aufgenommen worden im Bodenreform-Urteil, BVerfGE 84, 90 (127). 368 Vgl. die in Fn. 348 Genannten. 369 BVerfGE 84, 90 (126 f.).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

nes Grundrecht sei "fundamental" oder "besonders wichtig ,,370, können hier nicht weiterhelfen. Sie dienen zur Begründung der konkreten Entscheidung, welche das Gericht gerade treffen will. So bleibt ein kaum weiterführendes Fazit: Die Lehre von den "stärkeren" und "schwächeren" Normen in der Verfassung läßt sich für die Grundrechtsabwägung heute schlechthin dogmatisch nicht nutzbar machen. Ob dies eines Tages gelingt, ist mehr als fraglich. Damit sind letztlich sämtliche großen Ansätze einer allgemeinen Grundrechtsdogmatik in diesem Jahrhundert gescheitert, vor allem die Fortsetzung der Kelsens ehen Stufenpyramide innerhalb der Verfassung. Doch auch die Lehre Rudolf Smends müßte ja letztlich auf Unterscheidungen der Grundrechte nach ihrer Wertigkeit aufbauen können, soll Integration mehr sein als eine Allgemeinformel für Rechtsanalogien im Bereich der Freiheitsrechte; geklärt müßte werden können, von welchem Grundrecht denn die größere, die letztlich entscheidende Integrationswirkung ausgeht. Und der Dezisionismus, der dritte große Ansatzpunkt der "Deutschen Allgemeinen Staatslehre" ist wiederum letztlich, im Grundrechtsbereich wie überhaupt, nicht ohne klare Wertigkeitsentscheidungen vorstellbar; auch hier kann es nicht genügen, der "Freiheit" oder der organisationsrechtlichen Anordnung das größere Gewicht, den entscheidenden Wert zuzuerkennen: Die Wertigkeiten der Freiheiten untereinander müßten sich bestimmen lassen. All dies ist einer auf Grundrechtsharmonisierung angelegten, letztlich eben entscheidungs scheuen Verfassungsrechtsprechung nicht möglich gewesen. Ein Ansatzpunkt hätten, wie bereits angedeutet, die Formulierungen der Gesetzesvorbehalte bei den einzelnen Grundrechten sein können371 ; dann allerdings wäre den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten schlechthin Vorrang, durchschlagendes Gewicht einzuräumen. Auch dies ist in allgemeinen Floskeln von" besonderer Bedeutung" gerade dieser Normen, etwa der Gewissensfreiheit372 , untergegangen. Im Gegenteil: Die Verfassungsrechtsprechung hat sogar auch noch diese vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte unter den nebulösen immanenten Vorbehalt anderer gleich- oder höherrangiger Verfassungswerte gestellt373 . In der Drittwirkungsdiskussion der Grundrechte im Privatrecht ist denn auch der Vorschlag, die "Stärke" der jeweiligen Grund370 Vgl. Leibholz, G.lHesselberger, D.lRinck, H.J., GG-Kornrn., Art. 5 Rdnr. 16, Papier, H.J., in: MaunzlDürig, GG-Kornrn., Art. 14 Rdnr. 1. 371 Vgl. Leisner (Fn. 344). 372 v. Mangoldt, H.lKlein, F./Starck, Ch., GG-Komm., 3. Auf!. 1985, Bd. 1, Art.

4 Abs. 1 und 2 Rdnrn. 1 f. 373 v. Münch (Fn. 301), Art. 4 Rdnr. 54 m. weit. Nachw.

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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rechtswertung im Privatrecht danach zu bestimmen, was die jeweiligen Gesetzesvorbehalte nach dem Wortlaut der Verfassung festlegen374 , nicht aufgenommen worden; statt dessen kam es zu der bereits beschriebenen allgemeinen und gänzlich verwaschenen Formel von einer "Sinnerfüllung", welche letztlich auf jede Gewichtung, damit aber Abwägung verzichtet. c) Daß die Grundrechte nicht in eine Bewertungsskala eingeordnet und daher letztlich nicht abgewogen, sondern allenfalls harmonisiert375 werden - wenn auch bisher nach völlig unklaren Kriterien - ergibt sich nicht nur aus ihrem Wesen, aus der staatsrechtlichen Form ihrer Anerkennung als einer Vielfalt von Sicherungen durch einen "abwägungsfeindlichen Katalog". Dahinter steht etwas Grundlegendes: Es fehlt der "Bewertungsbezugpunkt Freiheit", die einheitliche Freiheitsvorstellung, eine Sonne, von welcher aus jeder der grundrechtlichen Sterne sein Licht empfangen müßte, damit er heller oder ferner leuchte am Himmel der Freiheit. Punktuell haben sich eben die Grundrechte in engen, politisch hart erkämpften Räumen entwickelt. In einem großen napoleonischen Schlag ist dagegen die modeme Organisation des Einheitsstaats entstanden; doch den Napoleon der Freiheit, der einen, die wir im Grunde alle meinen, den hat es nie gegeben. Vielleicht hätte ihr Zentrum die persönliche Bürgerfreiheit gegen Verhaftung und Kerker werden können 376 ; doch die "geistigen Freiheiten" meldeten sich und wie sehr zu Recht - eben historisch gleichzeitig und mit dem gleichen moralischen Anspruch zu Wort: Gewissens- und Meinungsfreiheit. Und dann war da von Anfang an jenes Eigentum, das doch wieder eine völlig andere Blickrichtung brachte, mit seinem nun wirklich liberalen Sonnenlicht zeitweise alle anderen Freiheiten verdunkeln konnte. Mindestens diese drei Komplexe von Grundrechten traten von Anfang an in schwer auflöslichen Gegensatz zueinander, in Wertigkeiten haben sie sich nie voll ausdrucken und damit auch nicht vergleichen lassen. Beim Eigentum hat es das Bundesverfassungsgericht durch dessen Rückbeziehung auf die Freiheit377 noch einmal versucht. Doch sogleich trat dann das Grundproblem der Wertigkeiten im Freiheitsbereich hervor: Freiheit ist eben etwas "an sich Durchschlagendes". Sie duldet keine Relativierung in Gewichten. Sobald persönliche Freiheit mit die374 LeisneT (Fn. 360), S. 394 ff. 375 Weshalb denn auch weit häufiger von Grundrechtsharmonisierung, Grundrechtskonkurrenz die Rede ist als von Grundrechtsabwägung. 376 Welche wohl heute im wesentlichen den Kern der "Menschenrechte" im internationalen Bereich darstellt, vgl. Frowein, J. AbT., Übernationale Menschenrechtsgewährleistungen, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 7, 1992, § 180 Rdnrn. 1 ff. 377 Vgl. BVerfGE 24, 367 (389); 30, 292 (334); 31, 229 (239); 50, 290 (339).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

ser "Freiheit des Eigentums" in Verbindung gebracht, das Eigentum mit Blick auf Freiheit gewichtet werden soll, stellt sich nahezu mit Notwendigkeit ein fatales Dilemma ein: in der grundsätzlichen "Geringerwertigkeit des Materiellen", gegenüber dem "Geistigen", hinter dem die "Krämerwerte" stets zurücktreten sollen. Oder wollte wirklich jemand das "Grundrecht auf Gelderwerb" par excellence, die Berufs- oder gar Gewerbefreiheit, im selben Atemzug mit der Gewissensfreiheit nennen, das Recht auf Verteidigung von Reichtum mit der Bürgerfreiheit des Trägers der Volkssouveränität gegen Verhaftung? Politisch aktiv sind von jeher weit eher die besitzschwachen als die besitzstarken Bürgergruppen, vor allem im Aufbruch zum Fortschritt. Sie haben bereits eine weitestgehende Relativierung der "wirtschaftlichen Grundrechte" in den letzten Generationen durchgesetzt, daran wird sich wenig ändern. Wenn es also überhaupt etwas wie Abwägung innerhalb der Grundrechte geben kann, so die zwischen "geistigen" und "materiellen" Freiheiten, vielleicht noch eine solche zwischen "reiner Freiheit" und "Freiheit der Freiheitsmittel" , insbesondere der Medienfreiheit. Alles muß dann aber eigentlich im Höchstwert der Demonstrationsfreiheit enden, vielleicht noch in einer Stufung der Grundrechte nach "Demokratiebezogenheit,,378 - denn nichts anderes steht hinter den erwähnten Gewichtungen. Damit aber ist das Freiheitsethos verlassen, das Demokratieethos drängt an seine Stelle. Nachdem ein Wertesystem als Bezugspunkt der Gewichtung nicht gelungen ist379 , bleibt nur mehr der Höchstwert der Herstellung funktionierender Mehrheit. Er aber und sein Fortschrittsprimat muß wiederum an der konservierenden Grundstimmung einer Verfassungsgerichtsbarkeit scheitern, welche die Grundrechte immer über abstimmungsbestimmte Wertigkeiten stellen wird. Dem Patt zwischen Progressismus und Konservatismus wird also eine gewichtmäßig ungelöste Spannung zwischen Freiheit und Mehrheitsentscheidung in Zukunft wohl ebenso entsprechen wie zur Zeit Rousseaus. Wie soll es dann aber zu einer Gewichtung der Grundrechte untereinander, damit zu einer Grundrechtsabwägung kommen?

4. Mehrere Grundrechtsträger - mehr als einer? Gewisse Wertigkeitsunterschiede zwischen den Grundrechten werden heute anerkannt, sind sie auch keineswegs indiskutabel. Warum Vgl. BVerfGE 5, 85 (205); 7, 198 (208); 12, 205 (259 ft); 52, 283 (296). Wie es noch Günther Dürig vorschwebte, vgl. ders., in: MaunzlDürig, GGKomm., Art. 1 Rdnrn. 6 ff. 378 379

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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der eine Bürger seine wirtschaftliche Erwerbsfreiheit, ja sogar seine persönliche Bewegungsfreiheit soll opfern müssen380 , weil es einem anderen gefällt, seine politische Überzeugung durch eine Straßendemonstration zum Ausdruck zu bringen - das läßt sich an sich rational überhaupt nicht, allenfalls noch unter Rückbeziehung auf den absoluten Höchstwert jener Demokratie begründen, von der soeben die Rede war. Doch der Bereich des Nachvollziehbaren wird schlechthin verlassen, Wenn dabei Grundrechte zur Abwägung stehen, die in sich gleichartig sind und nur durch ein Gewicht allenfalls unterschieden werden können: dem quantitativen der Zahl ihrer Träger. Einer Massendemonstration von hunderttausend aufgebrachten Bergarbeitern oder Bauern, welche den Abbau von Staatsleistungen für ihren Bereich verhindern wollen, wird man unschwer die Sperrung eines ganzen Autobahnsystems und damit den Primat vor "zurücktretenden" Grundrechten zahlloser anderer Bürger streitig machen können. Doch ähnliches wurde nun bereits von wenigen hundert Ausländern versucht, welche gegen politische Verhältnisse außerhalb Deutschlands protestieren wollten. Auch hier war es letztlich nicht eine Frage des Demonstrationszieles, sondern der Demonstrantenzahl, ob sich dies durchsetzen konnte oder nicht. Sind wir also so weit, daß fünf Grundrechtsträger, damit letztlich fünf Grundrechte der Meinungsfreiheit, einhunderttausend Grundrechte auf wirtschaftlichen Erwerb nicht überwiegen können, während dies jedoch zehntausend Grundrechtsträgem, zehntausend Grundrechten ohne weiteres gestattet wird? Rechtfertigt der Verfassungsrichter am Ende nicht doch nur den "starken Arm", der eben die Räder stillstehen läßt, der kräftiger ist als die Muskeln der Polizeibeamten? Ist Grundrechtsabwägung mehr als einfach der Sieg der stärkeren Bataillone? Ist es ein Zeichen der Glaubwürdigkeit der Demokratie, daß diese Frage kaum je auch nur ansatzweise gestellt wird? Oder ist es umgekehrt neuerdings ein "Grundrechtssieg" , eine neue Höherbewertung der Freiheitsrechte, wenn vergleichsweise wenige Demonstranten sich auch gegen höchstrangige Gemeinschaftswerte in Sitzblockaden durchsetzen können381 ? Ein anderes Abwägungsproblem ist noch weit schwieriger: Darf ein Grundrecht auf Leben, damit ein Leben, vom Staat durch Befehl, durch hoheitlichen Zwang geopfert werden, damit zwei, zehn, hundert, hunderttausend andere gerettet werden können? Die Problematik des mili380 Und davon geht doch die neuere Demonstrationsjudikatur des BVerfG aus, vgl. BVerfGE 69, 315 (344 f., 346 f.); 84, 203 (209 f.); 87, 399 (409). 381 Wie in der Sitzblockadenjudikatur des BVerfG - vgl. BVerfGE 69, 315 (346 f.); BVerfG NJW 1995, S. 1141 (1142 f.).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

tärischen Befehls im "Himmelfahrtskommando" zeigt es in Überschärfe. Doch sie wiederholt sich fast täglich, bei jedem Einsatzbefehl an Polizei oder Feuerwehr unter wirklich lebensgefährlichen Umständen, wo dem Befehlsempfänger kein hinreichender Raum mehr bleibt, sein Leben in freier Entscheidung zu retten oder einzusetzen382 . Erhebliche Grundrechtsgefährdung aber wird, nach allgemeiner Dogmatik, einer Verletzung oder gar dem Verlust des Grundrechts gleichgeachtet, man denke nur an die Wertungen des Atomrechts 383 . Mit dem Hinweis auf die freiwillige Übernahme von Berufsrisik0 384 läßt sich dies nicht lösen, besteht doch ein entscheidender Unterschied zwischen dem Boxer, der privatautonom in den lebensgefährdenden Ring steigt, und dem Staat, der Lebensgefährdung im Namen des Berufsrisikos befiehlt. Ja man könnte selbst für den ersteren Fall die Frage stellen, ob derartig lebensgefährliche Veranstaltungen vom Staat nicht verboten werden müssen; dahinter steht die Frage des Grundrechtsverzichtes. Selbst wenn man ihn beim Selbstmord anerkennen will, also auch den lebensgefährdenden Befehl demjenigen gegenüber billigt, der sich dazu in freier Entscheidung verpflichtet hat - der Selbstmörder kann jederzeit noch sein Vorhaben aufgeben; kann, darf der Feuerwehrmann, der Polizist, der Soldat sein Einverständnis zurücknehmen? Er darf es nicht. In diesen Fällen stellt sich wieder die Frage nach der Quantifizierung der Grundrechte, nach der Zahl ihrer Träger. Läßt sich danach, einfach numerisch, abwägen, zwischen Grundrechten der Geschützten und der Schütz er, der" Geopferten"? In der Praxis wird es immer wieder geschehen, grundrechtsdogmatisch ist es unerträglich. Jedes einzelne Grundrecht muß, auf seiner Ebene jedenfalls, unendlich gesetzt werden, so wie das einzelne menschliche Leben. Zweimal unendlich aber kann begrifflich nicht mehr sein als eine Unendlichkeit. Was für die "Höchstwerte" von Leben und Gesundheit gilt, oder gar für die Menschenwürde, müßte eigentlich, wenn auch auf einer anderen Wertigkeitsstufe, ebenso gelten etwa für die Berufs- und Gewerbefreiheit; auch hier sollte die Freiheit eines Wirtschaftenden soviel bedeuten wie die von einhunderttausend anderen. In der Wirklichkeit kann davon nirgends die Rede sein: Wird eine große Zahl in ihren wirtschaftlichen Grundrechten schwer getroffen, so ist das wirtschaftslenkende Gesetz verfassungswidrig; sind es wenige, so mag ihnen ein AnVgl. Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 2 Abs. 11 Rdnr. 17. BVerfGE 49, 89 (131 f., 140 f.)i 53, 30 (57 f.). 384 Vgl. Schütz, E., Komm. z. Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Teil C § 57 Rdnr. 3 zur Übernahme von Lebensgefahr, Teil D § 37 Rdnr. 4 b (BeamtVG). 382 383

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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spruch auf Härteregelung385 zustehen; ist es eine noch kleinere Zahl, so wird sie schlechthin geopfert. Denn die "große Grundrechtszahl " wird zum öffentlichen Interesse (vgl. dazu schon oben VII, 5), aus ihm gewinnt sie stärkeres Gewicht, Durchschlagskraft. Im Grunde findet hier Grundrechtsabwägung gar nicht statt, die Freiheitsrechte erhalten ihre durchschlagende Wertigkeit erst aus Werten, deren Widerpart sie doch sind - aus den Interessen der Gemeinschaft, des Staates; ein weiteres Paraaox. So läßt sich, am Ende, eine Wertigkeitsstufung entdecken, die der Zahl, der Quantität der Träger. Ist dies aber nicht ein höchst bedenkliches Ergebnis in einem Bereich, in dem doch nur Höchstwerte anerkannt werden, jedenfalls nur von ihnen gesprochen wird? Das Gesamtfazit der Grundrechtsabwägung ist also an sich fragwürdig wenn nicht widersprüchlich: durchschlagende Wertigkeiten nach "reiner Freiheit" oder "geistigen Inhalten" - gegen wirtschaftliche Werte, und dies auch noch in einer Marktwirtschaft, welche gerade über die Ausübung wirtschaftlicher Freiheiten die Freiheitsmittel erst bereitstellt, darin dem freiheitsbedrückenden Kommunismus letztlich überlegen war. Und dann eine weitere Wertigkeitsskala, innerhalb solcher zweifelhafter Stufungen: allein nach der Zahl - wen soll dies begeistern oder auch nur überzeugen? Wenn dies dem Richter noch praktikabel erscheint - läßt sich damit Staat machen, Staats ethos gewinnen? Und selbst in all dem zeigen sich nur ferne, unklare Tendenzen; wer wollte oder könnte daraus schon etwas wie eine echte Dogmatik der Grundrechtsabwägung entfalten?

5. Unmögliche Grundrechtsgewichtung unmögliche Abwägung überhaupt? Wenn Grundrechten die begeisternde Unbedingtheit eigen sein soll, in deren Namen sie einst geschaffen und heute noch verehrt werden, so müßten sie als Abwägungssperre wirken. These wäre dann: Freiheitsrechte mag man einschränken, muß man harmonisieren - abwägen kann man sie nicht. Die Dogmatik der "immanenten Schranken" bringt auch nicht mehr, meist endet sie überhaupt in Worthülsen; was sind denn jene "gleichwertigen oder höherrangigen Rechtsgüter" , in deren Namen auch das noch eingeschränkt, zurückgedrängt werden darf, 385 als eine solche "im Einzelfall", bei der "ganz kleinen Zahl", BVerfGE 17, 21 (23 ff.); 27, 220 (229 f.).

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B. Abwägungsfehler - Unabwägbarkeiten

dem doch der Verfassunggeber uneinschränkbare Wertigkeiten verleihen wollte? Diese rational unüberwindlichen Schwierigkeiten der Verhältnismäßigkeit im Grundrechtsbereich sind nichts anderes als die Folge des Wesens der Freiheitsrechte, wie sie sich eben geschichtlich entfaltet haben: als höchster Ausdruck der Begriffsjurisprudenz, welche hier, im Zeitalter des Rationalismus, über der bereits hochgesteigerten romanistischen Begriffsklarheit im Zivilrecht, auch noch die große neue Errungenschaft, die Freiheit, in Begriffsjurisprudenz gießen wollte. Sie hat seinerzeit geglaubt, gerade damit auf Abwägung verzichten zu können, so wie die zahllosen Einzelaussagen des Corpus Iuris einst Interessenjurisprudenz entbehrlich machen sollten. Die weitere, noch allgemeinere These ist durchaus plausibel: Ein Staat, der sich auf Grundrechte gründet, darf Abwägung überhaupt nicht kennen. Denn die Freiheitsrechte sind in einem solchen Gemeinwesen letztlich allgegenwärtig, sie finden sich in jeder Gesetzesnorm, in welche hinein die Grundrechte ausstrahlen 386 - mit eben dieser ihrer Unverletzlichkeit. Wenn Freiheitsrechte durch die Gesetzgebung "konkretisiert" werden, wie kann es dann geschehen, daß solche Norminhalte anderen gegenüber an sich, oder auch nur in ihrer Anwendung im Einzelfall, "abgewogen" werden, wenn doch das Absolute der Unabwägbarkeit in ihnen überall lebendig sein soll? Zumindest auf der niederen Stufe des einfachen Gesetzes müßten also eigentlich die Grundrechte, gerade damit sie diese Ebene wirklich beherrschen, geistig orientieren können, schiere Begriffsjurisprudenz, Abwägungsarmut oder gar Abwägungsferne erzwingen. Dann wäre Gesetzesabwägung zumindest möglich, zwischen festen Bausteinen, in welche gewissermaßen die Grundrechtswertungen gegossen, dort verfestigt wären. Wird aber die Rede von der Ausstrahlungskraft der Grundrechte in die Gesetzgebung hinein auch nur irgendwie ernst genommen, so infizieren die Freiheiten mit ihrer Unabwägbarkeit die einfache Gesetzgebung; dann aber kann diese gar nicht gegenüber anderen gleichrangigen Normen "abgewogen" werden, jedenfalls dort nicht, wo in diesen letzteren andere Grundrechtswertungen stecken, die sich gegenüber jenen eben nicht abwägen lassen. Mit anderen Worten: Die Unwägbarkeit der Grundrechte müßte sich in einer zumindest weitgehenden Unabwägbarkeit auf den niederen Normstufen widerspiegeln - oder es müßte jeweils möglichst gen au der Grundrechtsge386 Eine Begrifflichkeit, welche, vor allem bei der Urteilsverfassungsbeschwerde, letztlich die Abgrenzung zwischen "einfachem Gesetzesrecht" und "spezifischem Verfassungsrecht" trägt, vgl. BVerfGE 62, 338 (343); 65, 317 (322).

VII. Grundrechte nach Verhältnismäßigkeit?

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halt und damit die jeweilige Wertigkeit aller niederrangigen Normen mit Blick auf die Grundrechte bestimmt werden; dies aber geschieht nirgends, die Praxis wäre mit all dem völlig überfordert. Es bleibt also dabei: Die "Grundrechtsabwägung" wird zum allgemeinen Abwägungsproblem in unserer Rechtsordnung. Was soll denn auch "abgewogene Freiheit" heißen? Freiheit ist eben - einfach Freiheit oder sie ist, weil beschränkt, nicht. Gilt dies übrigens nicht auch für die Egalität, vielleicht sogar für die sozialstaatliche Fraternität, sind nicht auch sie, eben als jene Höchstwerte, welche einst die Große Revolution proklamierte, absolut - absolut abwägungsfeindlich? Man mag dem entgegenhalten, hier werde doch nur dogmatische Grundlagenkritik geboten. Es ging aber auch um Entzauberung einer "Rechtstechnik der Abwägung" in einer Ordnung freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit. Diese Technik wird weiter eingesetzt werden, aber sie wird an diesen Fragen auf lange Sicht nicht vorübergehen können. Und wenn auch nur eines bleibt von dieser Kritik: Bei der "Abwägung für oder wider Abwägung" sprechen weit überwiegende Gründe, spricht vielleicht geradezu eine Vermutung - gegen Abwägung.

C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat: Voraussetzungen - Chancen - Gefahren I. Abwägung - Machttechnik 1. Die Bedeutung der Abwägung ernst genommen in einem "Abwägungsstaat"

Der erste Teil dieser Betrachtungen (A) sollte die staatsgrundsätzliche Bedeutung der Verhältnismäßigkeit zeigen und der zu ihr führenden Abwägung: Dies ist keine "Staatsmarginalie ", sondern Element einer Staatsform. Der zweite Teil (B) war einer eingehenden Kritik herkömmlicher, allzu leicht genommener Verhältnismäßigkeit gewidmet. Praktiziert wie heute kann sie ihrem Anspruch nicht gerecht werden. Doch der Begriff wird aus dem Öffentlichen Recht nicht mehr verschwinden, sich in ihm ausbreiten. Selbst wenn, vielleicht gerade weil er zur Rechtserweichung führt, gilt es, ihn ernst zu nehmen, in seiner allgemeinen Bedeutung als Machttechnik. Vor allem aber sind aus ihm staatsgrundsätzliche Folgerungen zu ziehen: Was prägt einen solchen Abwägungsstaat, kann er ein Rechtsstaat der Freiheit bleiben, vielleicht sogar mehr Freiheit bringen? Auszugehen ist von der Grundsatzkritik der vorhergehenden Kapitel. Doch dann ist Aufbruch angesagt, zu positiven Ufern eines "privaten Staates" - oder dem negativen einer normfreien Macht. Es muß im folgenden konsequent nicht quer-, sondern vorgedacht werden: Deshalb soll nun von Voraussetzungen und Chancen (I - IV), aber auch von Gefahren (V - VII) der Abwägungsstaatlichkeit die Rede sein.

2. Abwägung: Rechtstechnik - Machttechnik Am Anfang dieser Betrachtung muß nochmals ein Wort zu dem stehen, worum es gerade bei einem solchen Aufbruch zu neuer Staatlichkeit gehen könnte: um den Einsatz einer "Machttechnik" . Die Verhältnismäßigkeit soll, nach dem täglichen Willen aller Organe der Drei Ge-

I. Abwägung - Machttechnik

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walten, weit mehr sein als ein schönes Wort, welches das schlechte Gewissen der Mächtigen beruhigt, sie vor den Beherrschten rechtfertigt als sorgfältige Verwalter fremden Gutes. Die staatsgrundsätzliche Dimension des Problems ist im ersten Hauptteil deutlich geworden; die Gefahren der Verunklarung, welche von der Abwägung ausgehen können, hat der zweite Hauptteil gezeigt; vor allem drohen sie jener Freiheit, von welcher doch die Verhältnismäßigkeit dem Bürger jedenfalls ein Eckchen belassen will, gerade daraus sich Iegitimierend387 . Diese Gefahren zeigen weit mehr als machtblinde, machtunabhängige Rechtstechnik, längst nicht nur Instrumente notwendigen technischen Verwaltens. Bestätigt haben sich die Aussagen zu Eingang der Untersuchung: Hier ist Machtentfesselung im Lauf; und wenn dabei noch etwas bleibt von jener "Technik", in deren Namen gewichtet und gewogen werden soll, so könnten beide Begriffe verbunden werden. Die These würde dann lauten: Hier wird etwas eingesetzt, was die Bezeichnung "Machttechnik" verdient. Gerechtigkeit soll zwar gesucht werden, indem jedem nicht das Seine, aber doch jedem etwas zugeteilt wird und bleibt. Darin liegt jedoch zugleich Machtentfaltung, Machtlegitimation - und ständig etwas wie "bescheidene Zinsen der Macht", vergleichbar jenem Mehrwert von Kapital und Macht, den Karl Marx unübertroffen gezeigt hat. Doch die These von der Abwägung als Machttechnik muß kritischer Betrachtung standhalten. "Machttechnik " - das ist heute nicht viel mehr als ein Wort. Nicht einmal jene Rechtstechnik, aus der sie doch noch am ehesten entwickelt und erklärt werden könnte, hat einen vollständig faßbaren Begriffsinhalt gefunden; wie könnte dies bei einer "Machttechnik" ohne weiteres gelingen, welche doch gerade - wir sahen es bereits - jene Begriffsjurisprudenz ablösen will, die bisher noch immer, meist unausgesprochen, als Ausgangspunkt aller "Technik" im Recht galt? Von Abwägung als Rechtstechnik war oben bereits, im Zusammenhang mit der Begriffsjurisprudenz die Rede (A, H, 3); nun sei dies nochmals im Lichte bisheriger kritischer Betrac.htung aufgenommen in der Fragestellung" Verhältnismäßigkeit als Rechtstechnik - oder als Machttechnik "? Der Einsatz vieler, komplizierter Begriffe, ihr Zusammenklang, bis hin zum mechanistischen Geklingel, soll "Dogmatik" zur "Technik" erst steigern; so lebt das Wort in unserem Begriffsbewußtsein zuallererst. "Technik" soll sein, wo immer mehr Einzelheiten geregelt werden und am Ende daraus sich ein systematischer Selbstlauf entwickelt. In diesem Verständnis wird" Rechtstechnik " neuerdings zu einem Kernpro3B7

Die "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn", vgl. Stern (Fn. 1), S. 866 f.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

blem größerer Verlassungsänderung388 , wenn immer mehr in Einzelheiten hinabsteigende, sich dort verlierende Regelungen die große Grundsatzdiktion der Charta durchbrechen. Ähnlich, und wiederum eher abwertend, wird das Wort gebraucht, wenn politische Direktiven zurücktreten hinter dem Selbstgewicht des juristischen Handwerks, bis hin zum geistigen Selbstlauf schwer verständlicher Begriffskombinationen. "Bürokratie" wird schließlich kurzerhand mit "Rechtstechnik" gleichgesetzt389 , neuerdings vor allem in der Europadiskussion: Wiederum ist es selbstlaufende Mechanik einerseits, Politik-, ja Grundsatzferne auf der anderen, welche unseren Begriff von "Rechtstechnik" entscheidend prägen - wenn auch letztlich ohne wirkliche Begriffsklarheit. All diesen meist kritischen Strömungen sind Abwägung und Verhältnismäßigkeit kaum ausgesetzt. Da ist vor allem nicht jene Freude am Detail, welche vom "Rechtsingenieur" im Namen seiner Technik erwartet werden darl - im Gegenteil: Ein großer, weithin undifferenzierter Raster wird, wie ein letztes Korrektiv, gerade über solche Feinarbeit geworlen, er soll sie davor bewahren, ihren "rechtstechnischen Zwängen" in abwegigen, realitätsfernen Ergebnissen zu erliegen. In diesem Sinne könnte man geradezu Machttechnik setzen gegen Rechtstechnik, wenn denn die Abwägung diese erstere Bezeichnung verdiente. Auch die andere Dimension des Begriffes "Rechtstechnik" wird in der Abwägung, so scheint es, kaum erreicht: Grundsatzferne, Politikdistanz. Zwar mag die Entbindung von Kräften und Zwängen des Politischen durchaus das Verhältnismäßigkeitsdenken tragen, ihm gerade in der überpolitisierten Wahldemokratie entscheidende Legitimationsimpulse verleihen. Doch zurückgedrängt wird hier allenfalls der Einfluß massivblockhafter Parteipolitik, nicht "politisches Denken" als solches, wenn dieses Wort unpolitischer Rechtstechnik gegenübergestellt werden soll. An die Stelle großgesteuerter Parteipolitik tritt mit Abwägung und Verhältnismäßigkeit eine politische Feinsteuerung; in ihr setzt sich zwar der einzelne Verwaltungsbeamte oder Richter an die Stelle des parlamentarischen oder staatsleitenden Spitzenpolitikersj doch politisches Denken, in rechtsfernen Wertungen, bis hin zur Ideologie, wird nicht eliminiert, sondern allenfalls konkretisiert: Der Richter sollte die Gesetze fortdenken, in Abwägung denkt er oft nichts weiter fort als - Politik. Eine Rechtstechnik der Verhältnismäßigkeit ließe sich die politische Demo388 Vgl. dazu neuerdings den Beitrag von Brenner, M. über die "Rechtstechnik" bei der Verfassungsreform (Fn. 63). 389 Jedenfalls im Sinn des "Selbstlaufes" nach dem Parkinsonschen Gesetz, vgl. ZippeJius, R., Allg. Staatslehre, 12. Auf!. 1994, S. 364 f.; Ermacora, F., Allg. Staatslehre, 2. Teilbd., 1970, S. 927.

I. Abwägung - Machttechnik

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kratie nie gefallen, doch sie braucht sie auch nicht zu befürchten: Ihre typischen Fluktuationen von Geltungsbedürfnis und Neid setzen sich fort in den unzähligen kleinen Wellen der Abwägung - eben weil diese doch letztlich Macht ist. Der Politik ist eine Verhältnismäßigkeit nicht nur dort weit geöffnet, wo sie gehorsam alle Wertungen des Gesetzgebers nachvollzieht, wo immer sie in irgendeiner Nachbarschaft zu dem zu entscheidenden Fall sich finden mögen. In ihr ist der Rechtsanwendende auch darin klüger - und politischer - als der politische Gesetzgeber, daß er in vorauseilendem Gehorsam all das bereits zum Tragen bringen darf, was der Gesetzgeber normativ noch nicht wagen durfte. Zur Grundsatzfeme schließlich mag man - dies wird sich noch erweisen - die Verhältnismäßigkeit hochentwickeln, will man ihr Wesen in entideologisierender Realitätsnähe ansiedeln. Hier zeigt sich vielleicht die einzige Stelle, an welcher unsere Kemworte Verbindungen erkennen lassen zu herkömmlichen Inhalten des "Rechtstechnischen" . Doch auch hier ist stets zu berücksichtigen, daß der Verhältnismäßigkeit und ihrem Abwägungs-Instrument jene Begriffsklarheit fehlt, in welcher letztlich allein Rechtstechnik den Rechtsgrundsatz voll ersetzen kann. Abwägung ist also nicht Rechtstechnik, in welchem Sinne auch immer. Sie bleibt ein eigentümliches Instrument, das man, angesichts eines flächendeckenden Einsatzes, "Machttechnik" nennen mag, wenn die aufgezeigten Unterschiede zur "Rechtstechnik" klar bleiben: Legitimierende Kraft kommt ihr nicht aus der Hoffnung auf einen "Automatismus der richtigen Lösung", aus der Subsumtionsautomatik des Rechtstechnischen. Ihr Wesen und ihre Bedeutung als eine solche Machttechnik kann vielmehr gefunden werden einerseits in ihrer legitimierenden Kraft, in einer" Volksherrschaft der Unzähligen", deren Gewicht bei Abwägung eben - überwiegt, zum anderen in der Möglichkeit, sich zu verschleiern und im begrifflichen Untergrund auszudehnen. Als Drittes, und damit eng verbunden, tritt hinzu eine große Virtualität, die Kraft flexiblen Hervorbringens immer neuer Lösungen. Daß die Abwägung all das in sich trägt, selbst in den Formen scheinbar machtferner Privatisierung, werden die folgenden Betrachtungen erweisen. So baut sich denn "Machttechnik" auf im dreifaltigen Erscheinungsbild hegelianischer Dialektik: Aus dem Spannungsverhältnis öffentlichkeitsgewendeter Legitimation und, auf der anderen Seite, verschleiernder Kryptogewalt - über beiden als Synthese die eine, stets sich erneuernde flexible Macht für jede Stunde, für jeden Ort. Nur eines dürfen wir nie erwarten: daß wir Festigkeit, Sicherheit hier finden könnten in Rechtstechnik, wo es doch immer geht um Technik der Macht.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

3. Hochrechnung: Von der Verhältnismäßigkeit des Einzelfalls zum Abwägungsstaat

Daß mehr zu erwarten ist von der Verhältnismäßigkeit, mehr in ihrer Abwägung liegt als isolierte Gerechtigkeitssuche im Einzelfall, wurde eingangs schon klar: hinter den Begriffen steht eine Staatsgrundkonzeption. Die kritische Betrachtung des vorangehenden Hauptteils hat dies nicht entkräftet, sie hat nur Schwierigkeiten und Widersprüche aufzeigen können. Abwägung werden wir immer unter uns haben, dieses Wort ist gut und beruhigend, allzusehr eingefahren in allen Bereichen des Öffentlichen Rechts, eine bewährte Selbstverständlichkeit darüber hinaus in jenem Raum, aus dem alles Recht stets kommt: im Privatrecht. Chancen einer wesentlichen Wende, zurück zur Begriffsjurisprudenz, sind nirgends erkennbar, gerade steigende Begriffs- und Normfluten lassen sich vielleicht nur mehr in der Vereinfachung einer Verhältnismäßigkeits betrachtung kanalisieren. Ihr Ziel hat daher diese Untersuchung schon erreicht, wenn sie Probleme und Gefahren dieser Machttechnik aufzeigen konnte, wenn sie die schwerste unter ihnen, primitivierende Vereinfachung in Selbstgerechtigkeit, vermeiden hilft. Weil aber mit Sicherheit vieles, das meiste, bleiben wird von der bisher so bequemen "Abwägungstechnik" , muß die oben (A, H, 4) bereits angedeutete "Hochrechnung zum Abwägungsstaat" eben doch, heute erst recht, stattfinden. Deutlich soll nun werden, was eine "Staatsformprägung aus Abwägung" im einzelnen bedeuten kann, obwohl diese doch so problematisch, oft so inhaltsleer und inhaltsleerend sich darstellt, wie wir sie fanden. Vielleicht steht uns etwas Überraschendes, ja Aufregendes bevor: daß gerade hinter solchen Worthülsen Grundentscheidungen auftauchen, die bisher kritische Betrachtung noch nicht hat sichtbar werden lassen. Bringt diese Machttechnik, obwohl juristisch weithin unvollziehbar - vielleicht gerade deshalb - nicht doch wirkliche Grundentscheidungen hervor in der Demokratie? Eine Sichtveränderung gegenüber dem ersten Teil dieser Betrachtung ist allerdings Voraussetzung für solche Entdeckungen: Abwägung und Verhältnismäßigkeit mögen abgelehnt oder in möglichst engen Grenzen gehalten werden; es gilt aber auch, die Dynamik dessen zu sehen, was sich aus ihnen jedenfalls, nach aller Voraussicht, wohl entwikkeIn wird. Nur dann wird man ihren Gefahren entschlossen begegnen, ihre Chancen nutzen. Vor allem darf daher unser Urteilen nicht, wie es so viele Urteile nahelegen, "in Verhältnismäßigkeit enden"; sie ist kein Schlußpunkt, son-

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dem ein staatsrechtlicher, staatsdogmatischer Anfang: Was folgt aus ihr, nach ihr, wenn sie nun schon auf das Staatsbanner des Abwägungsstaates geschrieben ist? Wer darin einen Versuch sieht, eine staatsgrundsätzliche Dogmatik jener Verhältnismäßigkeit zu entwickeln, welche vorher ebenso grundsätzlich abgelehnt wurde, der mag darin Resignation sehen, gegenüber unvenneidlichen Entwicklungen, aber auch einen weiteren Versuch der Schadensbegrenzung zugunsten der Freiheit, in juristischer Bewußtseinsbildung. Und schließlich mündet auch dies in die bereits früher, in anderem Zusammenhang gestellte Frage: Machtverschleierung - oder doch Machtabbau; dann aber könnte am Ende sogar noch eine positive Wende stehen. Denn dies ist nun unser Gegenstand: die wesentliche Ambivalenz der Verhältnismäßigkeit im Abwägungsstaat, als Möglichkeit allgemeiner Stärkung der Freiheit - und zugleich ihrer Aufhebung in nonngelöster staatlicher Beliebigkeit: wahrhaft ein Doppelgesicht.

11. Der "private Staat" - aus Verhältnismä6igkeit Beginnen wir mit einer Freiheitschance im Abwägungsstaat. Abbau der Staatlichkeit ist in aller Munde, das Bürgerreich soll zu uns kommen, der Bürgerstaat. Nur Nachhutgefechte mit vergangenem Sozialismus verdecken noch eine tiefere Erkenntnis aus dieser Entwicklung: Eine derartige Staatlichkeit ist allein vorstellbar, wenn die Gewalt wird wie ihre Gewaltunterworfenen - privat. Eingangs wurde gezeigt, wie sich Verhältnismäßigkeit und Abwägung in ihren heutigen Ansätzen nur begreifen lassen, wo der Staat auf die Ebene der Bürger herabsteigt. Doch nunmehr gilt es einen weiteren, entscheidenden Schritt zu tun: Der Staat der Verhältnismäßigkeit muß ein Wesen annehmen, das dem Bürger und dessen Rechten voll entspricht, nur dann kann er "ins rechte Verhältnis gesetzt werden" zu Interessen und Nöten derjenigen, aus denen er sich aufbaut, nur dann hat im Öffentlichen Recht die Verhältnismäßigkeit den Platz eingenommen, welchen ihr der Rechtsstaat geben will. Es mag vielen nicht nur als Paradox, sondern als Häresie erscheinen: Der Rechtsstaat von morgen wird der "private Staat" sein - oder er wird nicht sein; dahin zuallererst läßt sich Verhältnismäßigkeit hochrechnen, soll sie wirklichen Sinn gewinnen. Der "totale Staat,,390 ist viel kritisiert worden -letztlich zu Unrecht, denn damit sollte nur etwas in letzte Konsequenz gesteigert werden, 390 Durchaus im Sinne der berühmten Monographie von Ernst FOIsthoff, Der totale Staat, 1933.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

was das Öffentliche Recht seit der Französischen Revolution charakterisiert: der absolute Staat, der Staat als Setzer absoluter Größen. Darin konnte ja sein Wesen gefunden werden, dies bedeutet "sein Gewaltmonopol sichem,,391: daß er allein die im letzten alles durchschlagende Wertung einführen, "absolut gewichten" darf. Nur wenn dieses Privileg fällt, wenn sich das Gewaltmonopol beschränkt auf die Durchsetzung des Verhältnismäßigen, nicht des absolut Gesetzten, ist der neue Rechtsstaat, der private Staat Wirklichkeit geworden, nur dann fällt das sonst stets bedrohliche Gewaltmonopol auf die Stufe der Durchsetzung des Verhältnismäßigen zurück - in die Instrumentalität. Hier bedarf es einer wahrhaft totalen Mutation gegenwärtigen Staatsdenkens, soll der Staat etwas "Vergleichbares" werden - nur darin kann seine Gewalt letztlich verhältnismäßig sein. Die Entwicklung hat bereits begonnen, mit dem mächtigen Schwung einer Bewegung, die weit mehr ist als Vergangenheitsbewältigung: in der Privatisierung des Staates - den man noch immer nicht als einen "privaten Staat" zu denken wagt392.

1. Monetarisierung öffentlicher Interessen Rechnungskontrolle als Organ des "privaten Staates"

a) Privatisierung, wie sie hier verstanden wird, als Absage an den "absolut setzenden Staat", darf sich nicht erschöpfen in einer "Flucht ins Privatrecht"; sie gefährdet den Bürger, verstärkt immer weiter Staatsgewalt. Wo Privatisierung nur betrieben wird, um den Staat von Zwängen freizustellen, denen er in langer Entwicklung unterworfen wurde, um seiner übermäßigen Gewalt willen, da findet nichts anderes statt als Rückkehr zum Staatsfeudalismus: Der Staat bleibt der Herr des Absoluten, er herrscht weiter im Namen unbedingter öffentlicher Interessen, die er allein zu setzen hat - und er wird zudem noch entfesselt, vom Beamtenrecht393 und von den parlamentarischen Kontrollen394 . Ob 391 Ein ja auch heute wieder zentraler Begriff, vgl. dazu Isensee, J., Grundlagen von Staat und Verfassung, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, § 13 Rdnr. 77; Schachtschneider (Fn. 18), S. 551 f. 392 Leisner, w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 253 ff. 393 Muß er doch nun nicht mehr jene Staatsdiener einsetzen, die in ihrer besonderen Sicherung nach dem BVerfG ein Gegengewicht zum demokratischen Parteienstaat bilden, BVerfGE 7, 155 (162). 394 Vgl. Püttner, G., Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1989, S. 85 f.; Thieme, W., Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1984, S. 208 ff.

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er dann vor ordentlichen Zivilgerichten oder vor Verwaltungs gerichten sein Recht nehmen muß, bleibt letztlich gleich, ebenso unwichtig ist es, in welchen Rechtsformen er sich zeigt - wenn er sie auch noch frei soll wählen dürfen 395 . Jene große Staatsrnutation, die allein zum Staat der Verhältnismäßigkeit und der Abwägung führen kann, verlangt mehr und etwas ganz anderes im Namen der Privatisierung: Alles öffentliche Interesse muß monetarisiert werden, in Mark und Pfennig ausgedrückt werden können; das wurde schon oben (B, IV; 1) im Grundsätzlichen klar. Daraus sind nun vertiefend Folgerungen zu ziehen. Denn dann allein ist der entscheidende Parameter gefunden: "Übermäßige" Aufwendungen sind "unverhältnismäßig", damit rechtswidrig; übermäßig aber sind solche Anstrengungen, welche den Staat als Unternehmen überfordern, wie sie jedes private Unternehmen überfordern müßten. In diese Entwicklung läuft die Staatspraxis nun schon seit vielen Jahren konsequent, hier allein wird Verhältnismäßigkeitsdenken im Öffentlichen Recht wirklich faßbar: Da heißt es etwa, die Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln "stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen", dieser letztere wird damit ebenso monetarisiert, wie die zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel es, ganz selbstverständlich, stets sind. Wird allzuviel aufgewendet zu allzuwenigem öffentlichen Nutzen, so ist dieses letztere öffentliche Interesse bereits monetarisiert, vollständig vergleichbar geworden privaten Veranstaltungen. Der Staat ist in all dem nichts anderes mehr als ein großer, kollektiver Privater, die Idee von der Staats-AG mag belächelt und verworfen werden - hier ist sie voll im Kommen. b) Bewußt sollte endlich werden, daß nicht nur die tägliche Praxis, sondern geradezu die Grundidee der staatlichen Rechnungskontrolle mit Notwendigkeit diese Vorstellung vom "Großunternehmen Staat" voraussetzt. Sie muß in den betriebswirtschaftlichen Kategorien von Input und Output denken. Da mag nun herkömmliche Dogmatik dem Staat das absolute Zielsetzungsprivileg geben, es ihm gestatten, die zu verfolgenden öffentlichen Interessen "absolut" zu setzen396 , und bisherige Dogmatik beruhigt sich bei Betrachtung der Eigenständigkeit der staatlichen Rechnungsprüfung damit, daß diese nur die Zweck-Mittel-Relation zu diesem vom Staat gesetzten absoluten öffentlichen Interesse zu überwachen habe. Doch wer Ziele absolut setzt, hat auf diese Weise die Mittel zu ihrer Erreichung letztlich ebenfalls verabsoluBGH DVBl. 1978, S. 108 (109 f.)i NJW 1977, S. 197 (198). Siehe dazu näher m. Nachw Leisner, W, Staatliche Rechnungsprüfung Privater, 1990, S. 84 f. 395

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tiert, kritischer Prüfung der Zweck-Mittel-Relation bleibt kein Raum mehr, außer dem der offensichtlichen Vergeudung, und auch er kann nur mit Blick auf privatwirtschaftliche Vergleichsmaßstäbe bestimmt werden. In der Wirklichkeit ist die staatliche Rechnungskontrolle über all dies längst weit hinausgegangen: Sie kritisiert eben auch die Ziele, wenn sie allzu hohe Kosten verursachen397 . Instrumentale Ziele mißt sie an höheren, staatsgrundsätzlichen Zwecken - und damit befindet sie sich voll in einer Kontrolle der "Erreichung satzungsmäßiger Ziele", wie sie jeder private Wirtschaftsprüfer privaten Gesellschaften gegenüber durchzuführen hat. Immer wieder leisten die Staatsinstanzen dieser typischen "Kontrolle des privaten Staates" Widerstand, unter Hinweis auf von ihnen in Unbedingtheit zu setzende Zielvorgaben - immer von neuem werden auch diese hinterfragt von den Prüfern der staatlichen Rechnung. Ihnen bleibt immerhin ein Weg offen: Sie fügen allzu hochgezogene Einzelzielsetzungen ein in die Gesamtzwecksetzung des einen öffentlichen staatlichen Interesses; dabei dürfen sie daran erinnern, daß die vorgegebene Finanzkraft des Staates Grenzen hat, daß sie durch unverhältnismäßige Kosten zur Erreichung eines Zieles aus den Fugen gerät. Damit aber geht die Rechnungsprüfung von im letzten vorgegebenen Mitteln, damit aber vom "Unternehmen Staat in seiner begrenzten Budgetmacht" aus - alle öffentlichen Interessen sind so, in Rückführung auf durchsetzbare Einnahmemöglichkeiten, monetarisiert, vergleichbar, der Übermaßkategorie geöffnet. Abwägungen werden dann möglich zwischen einzelnen öffentlichen Interessen - eben nach den Kosten, welche sie verursachen; und den staatlichen Leitungsinstanzen bleibt im Ergebnis kaum größerer Gestaltungsraum als der Leitung eines privaten Gesellschaftsvorstandes, der unter den strengen Augen seiner Kontrolleure tätig wird, anvertraute öffentliche Mittel in verhältnismäßige Zielsetzungen und Zielerreichungen umzusetzen hat 398 . Letztlich kommt es bereits mit der Monetarisierung der Einnahmen, der politisch durchsetzbaren Abgaben vor allem, zu einer rahmenmäßigen Monetarisierung auch der öffentlichen Interessen. Die kommunistische Staatlichkeit bestand letztlich nur in einer Grundentscheidung: daß sie dies nicht anerkannte, daß sie den Primat der bedürfniserfüllenden Ausgaben in zahllose absolute Größen öffentlichen, vor allem soziaVgl. Leisner, aaO., S. 80 ff. Weshalb denn auch die öffentliche Rechnungskontrolle das PIÜfungsrecht privater Subventionsempfänger in Anspruch nimmt, vgl. Leisner, aaO., S. 96 ff. 397

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len Interesses ständig umsetzte, ohne all dies in Monetarisierung "ins Verhältnis zu setzen" zu dem, was dem Staat allenfalls noch zur Verfügung stand. Diese kommunistische Ordnung war wirklich "Staat" im alten, traditionellen Sinne auch des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Daß er vergangen ist, zeigt die unentrinnbare Notwendigkeit, den "verhältnismäßigen Staat als Unternehmen" in all seinen öffentlichen Interessen auf vorhandene Mittel zu beziehen, damit sämtliche öffentliche Belange zu monetarisieren. Nur wenn dergestalt privatisiert ist, Meßbarkeit hier nach Input-Output-Kategorien hergestellt werden kann, läßt sich sagen, ob ein bestimmtes öffentliches Interesse überhaupt noch verhältnismäßig erfüllbar ist, damit aber dem Öffentlichen Recht entspricht. c) Daraus ergibt sich denn auch, daß Verhältnismäßigkeit nicht primär mit Blick auf "Außerstaatliches ", etwa auf Rechte, auf wirtschaftliche Interessen der Gewaltunterworfenen, zu bestimmen ist; vielmehr handelt es sich um etwas, das man füglich als eine staatsinterne Rechnungsprüfungskategorie bezeichnen darf. Es ist dies das erste und wichtigste Staatsorganisationsprinzip, nur in seinen Reflexen wirkt es sich letztlich auch bürgerschützend aus. Und weil heute alle Augen stets gerichtet sind auf diese betriebswirtschaftlich-monetarisierende Verhältnismäßigkeit, kommt es zu steigender Grundrechtsmüdigkeit, werden jene Freiheitsrechte zu libertes inutiles, aus denen heraus man dem absoluten Staat vergeblich "von außen" hat Schranken setzen wollen. So wie der betriebswirtschaftliche Zwang für jedes private Unternehmen weit bedeutsamer, mächtiger ist als alle Rechtsschranken, die ihm seine Partner oder Konkurrenten von außen errichten könnten, so wirkt auch die Verhältnismäßigkeit, als inneres Organisationsprinzip aller Staatlichkeit verstanden, mit ganz anderem, mit einem wirklich unverhältnismäßigen Zwang durch alle Verästelungen der Staatsorganisationen. Überall steht das Verbot der "allzu großen Kosten", und es läßt sich stets auch definieren aus dem erzielbaren Nutzen, aber nur dann, wenn auch dieser wieder ein in Geldgrößen faßbarer ist. Auf der Strecke mag dabei viel Geistiges bleiben, viel sozial Gutes, das sich eben nicht beziffern läßt. Doch wenn jene Bezahlbarkeit etwas bedeuten soll, die heute in aller Munde ist, so nur dies: Irgendwie muß sich auch alles Kulturelle und Soziale in monetär ausdrückbarem Nutzen gewichten lassen, und sei es auch in der bitteren Erkenntnis, daß für den Staat ein Arbeitsloser mit all seinen Ansprüchen besser sein kann als ein unproduktiver Arbeitsplatz. Diese "nach innen gewendete Verhältnismäßigkeit" ist eine wirkliche Grundentscheidung der Staatlichkeit, nur sie verdient den Namen der 12*

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Privatisierung: das Meßbar-Abwägbarwerden der Hoheitsgewalt399 als solcher und all ihrer bisher als" unbedingt" geltenden Veranstaltungen. Hier erst erreichen wir, in dieser "Monetarisierung durch Privatisierung", welche Verhältnismäßigkeit erzwingt, das eigentliche Ende aller Hoheitsgewalt. Der Staat wird vom Gewaltträger zum Kostenträger; das goldschimmernde Machtprestige wandelt sich zum Service, der sich in den Geldzahlen seines Nutzens ausdrücken läßt. Mit der Privatisierung sind wir zu etwas ganz anderem aufgebrochen als zu dem billigeren, dem "effizienten Staat,,400; wir sind unterwegs zum Staat der monetären Abwägbarkeit, der wahren Verhältnismäßigkeit des Privatrechts, zum "privaten Staat".

2. Der "unendlich reiche Staat" - unverhältnismäßige Gewalt a) Die gesamte bisherige Grundkonzeption der Staatlichkeit beruht auf dem Recht der souveränen Gewalt, nicht nur ihre Ziele und Aufgaben selbst zu bestimmen, sondern sie auch absolut zu setzen. Der aus der Französischen Revolution hervorgegangene Staat ist eine Organisation "um jeden Preis". Grundsätzlich ohne Rücksicht auf Verluste darf sie tätig werden, ja sie muß, bei der Bestimmung ihrer Zwecke und deren Wertigkeiten, prinzipiell nicht nach Preisen fragen, sind doch ihre Kassen stets und grundsätzlich gefüllt: Die Theorie des Steuerstaates geht aus von dem "unendlich reichen Staat", sein Steuererfindungsrecht401 ist nicht nur Einnahmetechnik, sie setzt das Einnahmevolumen stillschweigend, aber ebenso grundsätzlich, unendlich. Seine Grenzen werden in das Reich des Politischen verbannt, um die praktische Durchsetzbarkeit immer schwererer Belastungen hat sich das Recht nicht zu kümmern. Gerade darin ist es in Formelhaftigkeit erstarrt, in Realitätsferne, abgehoben von aller Betriebswirtschaft; es gilt wirklich allgemein "iudex non calculat": Die Staatsgewaltigen kalkulieren ihre Einnahmen nicht, 399 Die rechtsstaatliche Kategorie der "Meßbarkeit" aller Staatsgewalt wurde bisher "von außen bestimmt", aus der Sicht des Bürgers, der sich darauf "soll einstellen können" (vgl. dazu Schmidt-Aßmann, E., Der Rechtsstaat, in: HdbStR (Pn. 16), Bd. 1, 1987, § 24 Rdnr. 81; Herzog, R., in: MaunzlDürig, GG-Komm., Art. 20 VII. Rdnm. 57 ff.). In organisationsrechtlicher Verhältnismäßigkeit muß dies nun "innen" bestimmt werden - nach dem, was eine Staatsveranstaltung "kosten darf". 400 den es als "Hoheitsstaat" nicht geben kann, würde er doch zum "Durchgreifstaat" , wie schon früher nachgewiesen (vgl. Leisner, w., Effizienz als Rechtsprinzip, in: Staat (Pn. 353), S. 53 (97 ff.)). 401 Vgl. Tipke, K, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 1993, S. 532 ff.

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sie beschließen sie. Das Finanzrecht des Rechtsstaates beschäftigt sich mit Einnahmequellen und Verteilung des Eingehenden, nicht mit Begrenzungen möglicher Einnahmen. Nur der Verschuldung, einer durchaus sekundären Einnahmequelle, wird eine äußerste betriebswirtschaftlich gedachte Grenze gesetzt402 . Darin liegt eine grundlegende und erstaunliche Vorstellung von einem Gemeinwesen, die in ihren Grundzügen eben typisch hoheitlich gedacht ist: Die "Innere Souveränität,,403 des Staates wird, potentiell jedenfalls, unendlich gesetzt. Dies darf sich aber, um der Freiheit willen, nicht in grenzenloser Macht gegenüber den Gewaltunterworfenen ausdrücken, die Macht, und damit die Ausgabenseite, ist rechts staatlich beschränkt. Unbegrenzt jedoch bleibt die Einnahmenseite, der eigentliche Souveränitätsbereich des unendlich reichen Staates. Täglich sagen ihm seine Rechnungsprüfer, daß er nur verhältnismäßig ausgeben dürfe; verhältnismäßig wozu? Die Frage bleibt offen, solange die Staatsgewalt noch beliebig, ohne jede Schranke der Verhältnismäßigkeit, einnehmen darf. Einer unendlich reichen Kasse kann man Verschwendung in einzelner Zielverfolgung bescheinigen; doch sie darf ohne weiteres "verschwenderisch Ziele setzen", unendlich Teures sich vornehmen, weil sie eben die Mittel dafür bereitzustellen vermag. b) Daran scheitert bisher letztlich jeder Versuch nicht nur "verhältnismäßiger Staatsorganisation" und damit der Durchsetzung des (angeblichen) Staatsgrundsatzes der Wirtschaftlichkeit, sondern auch eine Begrenzung staatlicher Machtäußerungen aus organisationsrechtlichen Zwängen: Grundsätzlich vermag der Staat eben jedes seiner Ziele absolut zu setzen - von der inneren Sicherheit bis zum totalen Umweltschutz404 ; auf in Verhältnismäßigkeit zu achtende Gegenpositionen des Bürgers wird dabei kaum Rücksicht genommen, solange der unendliche Reichtum des Souveräns anhält. Die Vertreter des Rechtsstaats mögen dies gelassen hinnehmen, scheint doch die Bfugerfreiheit durch Staatsreichtum als solchen nicht gefährdet: Gegen den Staatseinfluß stehen ja die Schranken der Verfas402 Friauf, K.H., Der Staatskredit, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 4, 1990, § 91 Rdnrn. 17 ff.; v. Arnim, H.H., Begrenzung öffentlicher Ausgaben durch Verfassungsrecht, DVBl. 1985, S. 1286 ff. 403 Die "souverainete de Droit interne" im Sinne der französischen republikanischen Tradition, vgl. Leisner (Fn. 18). 404 Bei der Einfügung des "Staatszieles Umweltschutz" in die Verfassung ist über "Verhältnismäßigkeit" zu möglichem Mitteleinsatz, soweit ersichtlich, nicht diskutiert worden (Hoppe/Beckmann (Fn. 311), S.51, Fn. 26) - und es wurde das Ziel ja auch nur vage formuliert; so kann auch Normierung "an der Verhältnismäßigkeit vorbei" die rechtsstaatliche Normenpräzision schwächen ...

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sung, vor allem der Grundrechte. Genügt dies nicht für Verhältnismäßigkeit im Verhältnis zum Bürger? Wenn aber der Staat aus "unendlichem Reichtum" heraus handeln kann, wird er stets in der Versuchung stehen, die Gewichtung seiner Interessen zu steigern, getrieben durch die Macht seiner Mittel. In dieser Gefahr liegt eine Wurzel jener Bürokratie405 , die sich gerade dann zum Selbstzweck entwickeln, in Ausgaben sich entfalten muß, wenn der einsammelnden Abgabengewalt grundsätzliche Grenzen nicht gesetzt sind. c) Doch die Gefährdung der Freiheit durch das Dogma vom" unendlich reichen Staat" beschränkt sich keineswegs auf solche Versuchungen der Absolutsetzung staatlicher Zwecke, damit einer indirekten Zurückdrängung von Bürgerfreiheiten im Namen der Verhältnismäßigkeit. Ebenso bedenklich mindestens ist ein anderer Effekt der Grundannahme unbegrenzten Staatsreichtums: Mit ihm bricht zusammen, was die Dogmatik des Staatsrechts immer wieder, wenn auch nur in Ansätzen, als einen "organisatorischen Freiheitsschutz " hat entwickeln wollen, von klarer Kompetenzordnung über rechtsstaatlich gebotene Durchschaubarkeit und Vorhersehbarkeit der Macht - deren "Einfachheit" also - bis hin zum "Grundrechtsschutz durch Verfahren "406. Dies alles sollte doch stets auch in Verhältnismäßigkeit eingesetzt werden. Problematisch wird es aber dann, wenn in dieser selben Staatsorganisation Verhältnismäßigkeit der Tätigkeit zu den vorhandenen Mitteln nicht mehr herstellbar, jedenfalls nicht mehr kontrollierbar ist. Eine" unverhältnismäßige Staats organisation " kann organisationsrechtlich nicht schützen, sie wird stets gefährden. Daß großer Reichtum die Versuchung birgt, fremde Rechte zu mißachten, hat die Sozialgeschichte hinreichend belegt. Soll einer gerade davon ausgenommen werden, der Staat? Ist das auf ihn stets rechtsstaatlich angewendete Wort, jeder, der Macht habe, sei versucht, sie zu mißbrauchen, nicht fortzudenken zu dem Satz: "Der unendlich reiche Staat steht in der Versuchung des Machtmißbrauchs "? d) Wenn dies aber zutrifft, wenn darin gerade nicht nur praktisch jede Verhältnismäßigkeit gebrochen wird, wenn sie, angesichts "unendlicher öffentlicher Zielsetzungen", schon im Ansatz scheitern muß, inner405 Hier liegt der zutreffende Ansatz einer Bürokratiekritik, die auf die Kosten dieses "schlecht laufenden Apparats" hinweist (Püttner, G., Verwaltungslehre, 2. Auf!. 1989, S. 270 f.), welche durch organisatorischen Autismus noch spiralenförmig verstärkt wird. 406 Vgl. Stern (Pn. 1), S. 788 ff.; Schmidt-Aßmann, E., Der Rechtsstaat, in: HdbStR (Pn. 16), Bd. 1, 1987, § 24 Rdnm. 31 f.; neuerdings Canaris, c.-w., Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung, JuS 1996, S. 573 ff.; vgl. auch die in Pn. 84 Genannten.

H. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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halb des Staates und deshalb auch im "Außenverhältnis" zu seinen GewaltunterwOIienen - dann kann nur eine Folgerung zwingend sein: Weg vom" unendlich reichen Staat", verfassungsrechtliche Begrenzung des Steuerstaates ist gefordert. Auch er darf eben nur mehr "verhältnismäßig" einnehmen - zu Zielen, die er dann nicht in voller Beliebigkeit setzt, sondern nach seinen Einnahmen, wie jeder Private auch. Wenn es die Verhältnismäßigkeit verbietet, daß der Staat irgend etwas absolut setzt, unendlich, weil er damit notwendig und sogleich aus jeder Proportionalität fallen muß, so müssen auch seine Mittel von Anfang an beschränkt sein, vorgegeben wie in jedem seriösen Unternehmen des privaten Bereichs. Und ein Ausweg darf hier der Staatlichkeit ebenfalls nicht eröffnet werden, welchen die Kommunistische Staatspraxis gegangen ist, der sich für sie aber zur Sackgasse verengt hat: daß der Staat jedenfalls, wie allerdings jedes Unternehmen, zumindestens ausgeben dürfe, was er erwirtschafte. Im Namen der Bürgerfreiheit darf er gerade nicht beliebig erwirtschaften407 . Er bleibt daher grundsätzlich dazu verurteilt, nur das aufzuerlegen, was er zur Verwirklichung verhältnismäßiger Staats ziele braucht, diese Verhältnismäßigkeit darf nicht, auch nicht indirekt, über unverhältnismäßige Mittel wieder außer Kraft gesetzt werden, grundsätzlich-normativ wie praktisch-politisch. e) Daß dies eine Revolutionierung des staatlichen Finanzbewußtseins, eine grundlegende Veränderung öffentlicher Finanzpolitik erfordert, liegt auf der Hand. Die staatlichen Ziele müssen an den möglichen Einnahmen ausgerichtet werden, Zielvorgaben an einer allerletzten Vorgabe der "Finanzierbarkeit,,40B. Nicht weiter darf man sich im finanzpolitischen Teufelskreis drehen: Die Einnahmenseite wird in einem äußersten Rahmen bestimmt, dieser muß dann - die Haushalte sind ja wesentlich stets angespannt - selbstverständlich ausgefüllt werden durch staatliche Ausgaben, und so können diese nirgends im einzelnen in Verhältnismäßigkeits-Bezug gesetzt werden zu den vorhande407 Das gemeindeutsch geltende Subsidiaritätsprinzip des Kommunalrechts (Knemeyer, F.-L., Bayer. Kommunalrecht, 8. Aufl. 1994, S. 216; Masson, C.lSamper, R., Bayer. Kommunalgesetze, Art. 89 GO, Rdnm. 1 ff.), welches die Gemeinde hier auf das beschränkt, was Private nicht ebensogut leisten können, kann dann, aus solch neuartigen Prämissen heraus, nicht weniger, es muß erst recht für die Staatswirtschaft gelten, die sich nur in diesem Rahmen auf Privatautonomie berufen darf, nicht aber auf Grundrechte. 408 Diese wird zwar neuerdings gelegentlich als Verfassungsgrundsatz behauptet (vgl. Leisner, W, Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz - ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S.1513 (1518); Schmidt-Preuß, M., Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, NJW 1994, S. 3249 (3255)). Es kann allerdings dort nicht gelten, wo die Verwendungszwecke bereits rechtlich festgelegt sind, durch Gesetz oder Verfassung, wie etwa bei Entschädigungsverpflichtungen.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

nen Mitteln; notwendig ist dann stets, wofür Mittel vorhanden sind. Reichen diese doch nicht aus, so wächst eben der Druck auf den globalen Einnahmenrahmen; dieser ist nie ein absoluter, er wird stets soweit nachgeben, daß die souverän gesetzten Staatsziele erfüllt werden können. Die Folge ist dann immer wieder: Einnahmen nach Zielen, nicht, wie in jedem Unternehmen, Ziele nach Einnahmen. Nur wenn dies letztere erreicht wird, ist der "private Staat" Wirklichkeit, die Verhältnismäßigkeit im Innenbereich der Staatsorganisation. Nur dann ist die Gefahr gebannt, daß der Staat als "unverhältnismäßige Macht" unverhältnismäßig auch "nach außen" wirkt, gegenüber dem Bürger. Diese Revolutionierung des Finanzdenkens im Staatsbereich verlangt vor allem eine grundlegende Veränderung der Finanzplanung, ihre Verselbständigung, weg von einem Annex der Zieleplanung, hin zu eigenständigen Staatsgrundsatzentscheidungen auf der Einnahmenseite: Wieviel soll dem Bürger und auf welchen Wegen soll es ihm entzogen werden? Nur ein solcher Staat verdient das Beiwort des liberalen, der zuerst fragt, wieviel er denn überhaupt dem Bürger entziehen dürfe, sodann erst, was damit zu geschehen habe. Solange jedoch die Finanzplanung409 ihrerseits bereits auf vorausgesetzten staatlichen Zielen beruht, solange in ihr schon staatliche Handlungsplanung steckt, von Subventionen bis zu all dem, was man dem Bürger "gerade noch" gestatten will- solange wird es nie zu einer Finanzpolitik kommen können, welche Verhältnismäßigkeit als Rechtsgrundsatz durchzusetzen vermag. Die Mittel müssen eben fest, zielunabhängig vorgegeben sein, sonst werden die Ziele ebenso unendlich wie sie. Dies aber gilt nicht nur für die Haushalte in ihrer Gesamtheit, für die globale Staatstätigkeit: Die verhängnisvolle Zielausweitung aus dem Staatsreichtum kann ja bei jedem einzelnen Staatszweck ansetzen; werden gewisse Sozialtätigkeiten erweitert, so müssen dafür die Mittel beschafft werden, auf Dauer geschieht dies meist nicht durch Einsparungen in anderen Bereichen, sondern durch einzelne Ausbuchtungen, Erweiterungen des Gesamt-Einnahmerahmens. Und solchen Ausuferungen sind - steigende Staats quoten zeigen es - grundsätzlich keine Grenzen gesetzt. Verhältnismäßigkeit verlangt also: Wer sie ernst nimmt, innerhalb der Staatsorganisation wie in deren Verhältnis zum gewaltunterworfenen Bürger, wer sie meßbar ausgestalten will, der muß zuallererst Grundentscheidungen für feste Größenordnungen von Mitteln treffen, welche dem Bürger entzogen werden dürfen. Nur dann hört die größte Gefahr 409 Wie gegenwärtig, vgl. Stern (Fn. 12), S. 1080 ff.; Kisker, G., Staatshaushalt, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 4, 1990, § 89 Rdnrn. 78 ff., 88.

11. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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für die Proportionalität auf: eine Staatlichkeit, welche irgendwo irgendetwas absolut setzen darf. Der" unendlich reiche" Staat ist nicht nur die Negation der Verhältnismäßigkeit, jeder Abwägung, ist doch eine seiner Waagschalen stets goldgefüllt; er ist eine unausweichliche Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit als solcher. Denn dies ist der unendliche der totale Staat.

3. "Staat in Konkurrenz" - Voraussetzung aller Meßbarkeit

a) Der Staat als Unternehmen wird nie Wirklichkeit, steht er nicht grundsätzlich und überall im Wettbewerb. Konkurrenz allein bringt jene Vergleichbarkeit, ohne welche der Output nicht in seiner "Verkäuflichkeit" bestimmt, daher der daraus allein sich ergebende Input nötiger Investitionen niemals sachgerecht bestimmt werden kann. Nur der Wettbewerb macht jene Chancen meßbar, in denen auch der Output von morgen zum Input von übermorgen, damit allein eine "Unternehmensplanung Staat" denkbar wird. Das Verhältnis von Staatsveranstaltung zu Bürgernutzen läßt sich nie ermitteln, damit die Verhältnismäßigkeit nicht feststellen, wenn nur einer anbietet - die staatliche Monopolgewalt. Die Herausnahme der hoheitlichen Staatstätigkeit aus der Kartellgesetzgebung410 ist eine auf Dauer unerträgliche Anomalie; begrifflich fortgedacht muß sie notwendig beim allein Brot backenden Staat enden, schon im Namen des Sozialstaats und seiner Befriedigung "elementarer Bedürfnisse". Hier kann es auf Dauer halbe Lösungen nicht geben, und daher dürfen die gegenwärtigen großen, grundsätzlichen Privatisierungsanstrengungen für alle Staatsbereiche nur ein Anfang sein: Die sogenannte "Daseinsvorsorge,,411 hat sich bisher noch nie überzeugend von reiner Fiskaltätigkeit, von privatwirtschaftlichem Verhalten des Staates abgrenzen lassen412 , Verkehrspolitik zeigt dies ebenso wie der Wohnungsbau. Daher muß überall der Staat auf lange Sicht voll in die Konkurrenz geworfen werden; nur dann wird in allen Bereichen sein Mittel410 Bunte, H.J., in: Langen/Bunte, Komm. z. deutschen und europäischen Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, Eint. z. GWB, Rdnrn. 17 ff.; Immenga, U./Mestmäcker, E.J., GWB, Komm. z. Kartellgesetz, 1981, Einl. Rdnrn. 1 ff. 411 Für welche ja die Beschränkung der kommunalen Wirtschaftstätigkeit nicht gelten soll, vgl. dazu Knemeyer, F.-L., Bayer. Kommunalrecht, 8. Aufl. 1994, S.218; Masson, C./Samper, R., Bayer. Kommunalgesetze, Komm., Art. 89 GO Rdnr.1. 412 Erichsen, H.-U., Das Verwaltungshandeln, in: Allg. Verwaltungsrecht (hgg. v. H.U. Erichsen), 10. Aufl. 1995, S. 205 (404 ff.).

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

einsatz meßbar, die damit verbundene Bürgerbelastung verhältnismäßig, alles was die Hoheitsgewalt dem Bürger zumuten darf. Ihre obrigkeitliche, einseitige Ausgestaltung zu Lasten der Betroffenen ist dann wirklich nur mehr eine äußere Form, auf Dauer wird sie entbehrlich, die Staatsgewalt fällt in Allgemeine Geschäftsbedingungen zurück; hier lassen sich die Belange der Anbieter und der Kunden privatrechtlich-verhältnismäßig abwägen und ausgleichen413 . b) Wieviel hier einer entschlossenen Politik möglich ist, haben die letzten Jahre gezeigt; äußerste Grenzen lassen sich allenfalls noch aufzeigen im Bereich von Sicherheit und Ordnung und bei der Landesverteidigung. Doch auch hier kann und wird in Zukunft sehr vieles über Zulieferung privatisiert, untemehmensmäßig in Wettbewerb ausgestaltet werden; wenn der Staat schon nicht selbst in den Wettbewerb eintritt, mag er wenigstens optimale Konkurrenz bei Ausrüstung und Unterstützung seiner Veranstaltungen herstellen. Dann wird im Bereich der Staatsmittel Verhältnismäßigkeit hergestellt, und sie pflegt auf Dauer auch eine Proportionalität der Zielsetzungen nach sich zu ziehen. Überdies wird in diesen "typischen Hoheitsbereichen " wohl eine ganz neue Vergleichbarkeit in "Konkurrenz" hergestellt werden, vor allem in der Europäischen Union: Wenn sich hier allgemeine Sicherheitsoder Umweltstandards herausbilden, muß und wird sich zeigen, wie diese finanziell und grundrechtsbelastungsmäßig am günstigsten gewahrt werden können, der Wettbewerb der Mitgliedstaaten wird es an den Tag bringen. Ähnliche Konkurrenzen können über Militärallianzen den Verteidigungsbereich in Verhältnismäßigkeit effizient gestalten, von der notwendigen Truppenstärke bis zur Ausrüstung. Dann wird nicht mehr die unsinnige Abwägung zwischen "Belangen deutscher Landesverteidigung" einerseits und "Grundrechten junger Deutscher auf Entfaltungs- oder Berufsfreiheit " andererseits stattfinden; die Bewertung der Landesverteidigung, in ihrer Globalität wie ihren einzelnen Voraussetzungen, kann in Konkurrenz innerhalb einer größeren, in sich vergleichbaren Staatengemeinschaft erfolgen; kein Staat wird mehr behaupten können, daß etwa eine bestimmte Dauer des Wehrdienstes unbedingt erforderlich sei, daß alle Grundrechte seiner jungen Bürger hinter ihr in "Verhältnismäßigkeits-Abwägung" zurücktreten müßten. Weite Bereiche, welche heute faktisch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt nicht zugänglich erscheinen, weil sogleich irgendwelche vom Staat "absolut" gesetzte Werte durchschlagen Volksgesundheit, Verteidigungs bereitschaft, Sicherheit und Ordnung, "sozialer Friede" - werden dann erst dem Verhältnismäßigkeitsdenken 413

Heinrichs, H., in: Palandt - BGB, 55. Auf!. 1995, § 9 AGBGB, Rdnrn. 6 ff.

H. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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vollständig geöffnet werden. Dieses Europa der Hoheits-Konkurrenzen ist eine große Chance für einen in Verhältnismäßigkeit sich selbst privatisierenden Staat. Ein großer Problembereich wird stets die Erziehung bleiben, darf doch kein Staat auf das billigere, aber geistig niedrigere Niveau anderer hinabgezwungen werden. Doch auch hier wird sich, jedenfalls im instrumentalen Bereich, Konkurrenz Verhältnismäßigkeits-schaffend bewähren können: In Grenzen jedenfalls ist geistige Leistungsfähigkeit prüfungsmäßig in Europa meßbar; was sie kosten darf an Belastungen und an Mitteln, läßt sich wohl wenigstens rahmenmäßig in Konkurrenz bestimmen. cl Föderalismus schließlich und Kommunalisierung bieten eine große, bereits heute weithin genutzte Chance für eine "öffentliche Konkurrenz innerhalb der Staats organisation ": Was die eine Stadt mit geringerem Mitteleinsatz, unter zurückhaltenderer Auferlegung von Anschluß- und Benutzungsverpflichtungen, von Enteignungen, Betretungsrechten und ähnlichen hoheitlichen Geboten und Verboten wirksamer vermag, das darf keine andere Kommune belastender bewirken. Nicht allein der Blick auf irgendwelche Bürgerfreiheiten kann hier Grenzen aus Verhältnismäßigkeit aufzeigen, welche ja immer bestreitbar sein würden; nur Effizienzmessung in Vergleich schafft den "verhältnismäßigen Staat", mag er auch solange, zwischen Kommunen und Ländern, noch unvollständig bleiben, wie diese eben nicht auf demselben Markt anbieten. Doch hier vermag, ausnahmsweise einmal, Politik den Markt zu ersetzen, in "Vergleichbarkeitsentscheidung" : Was in einer Kommune unter geringerer Belastung gelungen ist, werden und müssen kommunale Mehrheiten, schon unter dem Druck von Oppositionen, welche in Nachbarkommunen gelernt haben414 , früher oder später auch zu Hause verwirklichen. Dies ist ein eigentümliches und höchst interessantes Phänomen, mit welchem die Demokratie den Anschluß an ihr wirtschaftliches Gegenstück findet, den Markt: Hier kann sie nun endlich einmal den Markt nicht nur bewenzen, sondern kompensierend erweitern, in den Hoheitsbereich hinein. Dies sind denn auch die drei großen Konkurrenzen, in welche die heutige deutsche Staatlichkeit ganz bewußt eintritt, sich in ihnen schon bewegt: der Wettbewerb zu privaten Unternehmen, die Konkurrenz zwischen den Kommunen und Ländern und das europäisch-internationale Mit- und Gegeneinander. Um ein Extrem zu nennen: Selbst der Be414 Etwa im Rahmen kommunaler Zusammenarbeit, vgl. dazu Knemeyer, F.L., Bayer. Kommunalrecht, 8. Aufl. 1994, S. 265 ff.; Rengeling, H.-W., Interkommunale Zusammenarbeit, in: HKWP, Bd. 2, 2. Aufl. 1982, S. 385 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

griff einer "verhältnismäßigen Rüstung" läßt sich heute, bei wirklicher, und nicht nur verbaler Friedfertigkeit, durchaus im Verhältnismäßigkeit-Vergleich zwischen bewaffneten Mächten dieser Erde konkretisieren415 . Entscheidend ist, daß dieser Begriff Wettbewerb hier ernst genommen wird, in allen Diskussionen und Beratungen, daß er stets als ein Menetekel an den Wänden der Staatlichkeit erscheint. Er allein bricht jene Statik, in welcher die Waagen nicht mehr ausschwingen können, mit Gewalt in Stillstand gezwungen werden. In diesem Wettbewerb findet die ständige Neu-und Umbewertung aller bisherigen Staatlichkeit, ihrer Notwendigkeiten und Belastungen statt; hier läßt sich die laufende, ununterbrochen in Einzelfällen fort- und hochgerechnete Verhältnismäßigkeit herstellen, und nur dies kann man auf Dauer und einheitlich "Verhältnismäßigkeit" nennen, jeweils in Raum und Zeit hergestellt. Wann immer ein Richter, ein Beamter von Verhältnismäßigkeit redet, spricht dies letztlich nicht den schwachen, nachgiebigen Staat an - mag es auch so gemeint sein -, sondern den in strenger Selbstdisziplin leistungsfähigen, den Staat in Konkurrenz. Wann aber werden solche Erkenntnisse unser Denken prägen, wann wird einmal Verhältnismäßigkeit im Abwägungsstaat stehen nicht mehr für Staats schwäche, sondern für Staatsleistung? Dies war ein Plädoyer für "Staat im Wettbewerb". Mag man es nun radikal nennen oder folgerichtig - an eine Grenze stößt es immer wieder: an die Meßbarkeit des staatlichen Output, deshalb bleibt, für nicht wenige Bereiche, ein Fragezeichen. Nur eines muß dann klar sein: Verhältnismäßigkeit verliert dort ihren tieferen Sinn, Zielsetzungen insbesondere kann sie nicht steuern. 4. Das Parlament - Hüter der Verhältnismäßigkeit

Ist dies nicht ein Paradox, sind wir nicht gewohnt, Verhältnismäßigkeit als "letztes Korrektiv" von der Judikative zu erwarten, vielleicht noch, in norrnverfeinernder Anwendung, wenn nicht geradezu an den Gesetzen vorbei, von den Vertretern der Zweiten Gewalt? Und doch: Verhältnismäßigkeit wird nie ernst genommen, sie bleibt stets ein reines Beruhigungswort, oder nichts als Inanspruchnahme normfreien Bewer415 Die verfassungsrechtliche Festlegung der Bundeswehr auf" Verteidigung" (Art. 87 a GG) zwingt gerade hier zu solcher "verhältnismäßiger Rüstung", in Verbindung mit dem damit sicher innerstaatlich aufgenommenen völkerrechtlichen Verbot "übermäßiger" Selbsterhaltungs- und Selbstverteidigungsreaktionen der Staaten, vgl. dazu Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 891 ff.

H. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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tungsrechts, wird nicht gerade die Volksvertretung zum Hüter der Verhältnismäßigkeit. a) Auf den ersten Blick mag man eben diese Vertretung des Volkssouveräns in ihren zentralen Kompetenzen, ja geradezu in ihrer Legitimation, bedroht sehen, wenn sich der Staat zum Unternehmen wandelt; denn im privaten Bereich ist zwar vieles durchaus "staatsähnlich", etwas wie staatliche Gewaltenteilung sogar wird auch dort zunehmend durchgesetzt - nicht aber das Parlament und seine typischen volkssouveränen Rechte. Soll es vielleicht gar zur "Hauptversammlung der Bürger en miniature" in einer Staats-AG degenerieren? Manche Erscheinungen der Parlamentskrise unserer Zeit mögen dafür sprechen; doch die Demokratie steht und fällt eben doch mit einer ganz anderen, einer wahrhaft staatszentral-bestimmenden, einer "souverän bewertenden", VOlksvertretung416 . Heute ist das Parlament weithin ein Organ kontrollierender Ratifizierung und grenzkorrigierender Überprüfung gegenüber der Exekutive, sind einmal die normativen Grundlagen für deren Tätigkeit geschaffen. Innerhalb dieser Zweiten Gewalt sind Politik der Mittel und Politik der Staatszwecke wie ihrer Verwirklichung herkömmlich417 , wenn auch noch nicht hinreichend, getrennt; im Kabinett wird beides zum Ausgleich gebracht, durchaus weithin auch in einer - meist stillschweigenden - Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. In der Parlamentsorganisation spiegelt sich dies in den verschiedenen Ausschüssen wieder: Die einen kontrollieren die Einnahmen, die anderen die globalen Ausgaben, wieder andere Zweckverwirklichung durch Einzelausgaben. In alledem fehlt eines, nicht nur in der Grundstimmung, sondern auch organisatorisch: eine parlamentarische Verhältnismäßigkeitsprüfung, in welcher alle Zwecksetzungen in ein ausgewogenes, proportionales Verhältnis zu den allein möglichen Einnahmen gesetzt werden. Ein solcher "Regierungs-Ausschuß" ist eben - das Plenum; aber unvollkommen. b) Das parlamentarische System entspricht an sich, in seiner Grundanlage, durchaus einem solchen Wächteramt über Verhältnismäßigkeit; deshalb gerade erstatten ja die Rechnungshöfe den Volksvertretungen Berichte über verhältnismäßigen Mitteleinsatz418 . Doch zur Kenntnis 416 Vgl. Gusy, Ch., Der Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (hgg. v. Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh), 1989, § 60 Rdnr. 37; Schneider, H.-P., Das parlamentarische System, in: Handbuch des Verfassungsrechts (hgg. v. Ernst Benda u.a.), 2. Auf!. 1994, § 13 Rdnrn. 59 ff.; Schachtschneider (Fn. 18), S. 637 ff. und 981 ff. 417 Die verfassungsrechtlich verfestigte Sonderstellung des Bundesfinanzministers mit seinem Einspruchsrecht (Art. 112 GG) zeigt es.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

nehmen die Parlamentarier dies allenfalls als Material zum Angriff auf den politischen Gegner, dort, wo ganz ersichtlich alle Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten worden sind. Leisten sollten sie weit mehr, etwas anderes: Sie selbst müßten im Grunde überwachen wie Rechnungsprüfer, stets mit der Verhältnismäßigkeit in ihrem Denken und auf ihren Lippen. In die richtige Richtung weist die Notwendigkeit, die Kosten von Gesetzgebungsvorhaben jeweils anzuführen; doch es fehlen weithin die Grundsatzdebatten darüber, ob denn ein bestimmtes Vorhaben nicht - einfach zuviel koste, als solches, deshalb nicht nur in einzelnen Spitzen, sondern bis hin in seine Grundkonzeption verändert werden müsse. Derartiges wird heute zwar praktiziert etwa bei Großvorhaben der Beschaffung im Verteidigungsbereich - aber gedankenlos kritisiert als Eingriff in Entscheidungen, die doch im "Interesse der Landesverteidigung liegen", d.h. eben nichts anderes als: "außerhalb jedes Verhältnismäßigkeitsdenkens getroffen" werden. Ähnliche Überlegungen müßten parlamentarische Kontrollen vor allem auch in jenen immer mehr ausufernden Sozialbereichen leiten, wo sie aber meist durch ideologieähnliche Vorgaben von vorneherein abgebrochen erscheinen. Schlagworte wie "soziale Errungenschaften", "sozialer Fortschritt", "soziales Netz" zeigen hier die Gefahren einer typischen auch, wenn nicht vor allem, im Parlament erfolgenden - Verabsolutierung gewisser staatlicher Zwecke, welche damit aus jeder Verhältnismäßigkeit herausfallen. Dies ist schon deshalb ein parlamentarisches Problem, weil im Grunde hier ein Rückfall droht in jenes hoheitliche, ja obrigkeitliche Denken, welches parlamentarische, bürgerfreundliche Fortschrittlichkeit doch so häufig und grundsätzlich bekämpfen will: Staatsgewalt kann nur abgebaut werden, ihr typischer, absoluter Zwang nur zurücktreten, wenn sie nichts mehr Absolutes durchzusetzen hat, vielleicht gar noch gegen jede wirtschaftliche Vernunft. Wenn es im Parlament nicht gelingt, den Staat der Umverteilung zurückzudrängen, der ja ex definitione stets unendlich reich ist, weil er immer weiter abschöpfen muß419 , wenn nicht gerade hier auch die "soziale Konkurrenz", fern von jeder Ideologie, ganz ernst genommen wird, dann kann das Parlament seine Rolle als Hüter der Verhältnisrnäßigkeit nicht ausfüllen; die Abgeordneten werden und müssen sich dann stets als Zahlmeister, nicht als Buchhalter der Nation fühlen - gerade als letztere sollten sie aber gewählt sein. 418 Denn "Wirtschaftlichkeit" bedeutet hier gerade dies, vgl. Leisner, Staatliche Rechnungsprüfung Privater, 1990, S. 80 ff. m. weit. Nachw. 419 Leisner, w., Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 143 ff., 304 ff.

w.,

11. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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Die große, oft übennächtige Gewalt, welche heute in den Parlamenten bei Ausschüssen für Haushalt und Finanzen liegt, weil sie eben, mit einer gewissen Gewaltsamkeit, eine letzte Ausgewogenheit herstellen müssen, die ebenso "unverhältnismäßige", faktisch absolute Macht der Finanzminister, welche diese aber doch nur ausüben als "Verhältnismäßigkeitsminister" - ein weiteres Paradox - all dies müßte sich wandeln: Die anderen Ministerialressorts, die übrigen Ausschüsse müßten ebenfalls weit mehr, und nicht nur mit Blick auf vorgegebene Mittel, "in Verhältnismäßigkeit denken". Für amerikanische Parlamentarier mag dies eine Selbstverständlichkeit sein, weil sie eben ihren Staat, dessen gerade von ihnen zu verwaltenden speziellen Bereich, stets irgendwie als ein Unternehmen sehen, das in der Ausgewogenheit von Zwecken und Mitteln zu handeln hat. In den europäischen Parlamenten lebt noch der alte Ungeist des Allgemeinen Willens Rousseaus, der politischen Allmacht des Volkssouveräns. Überspitzt ausgedrückt: Er denkt unverhältnismäßig, läßt dann seinen Willen durch die anderen, ihm untergeordneten Gewalten in Verhältnismäßigkeit "richten". c) Das Grundproblem liegt tiefer noch als in den Organisationsstrukturen des Parlamentarismus: in jener Voikssouveränität420 , welche die Volksvertretungen geistig trägt und orientiert. Verhältnismäßigkeit kennt von vorneherein keine Souveränität, sie ist immer auf etwas anderes hin in Begrenzung orientiert, um eben abzuwägen, nicht durchzubrechen. Controller sollen die Abgeordneten sein im demokratischen Staat, nicht phantasievoll gestaltende Vorstände; und wann hätte man je einen Controller im Sinne moderner Betriebswirtschaft, bei aller Mit-Gestaltungsmöglichkeit, souverän nennen dürfen? Nun aber verlangt man von den Parlaments-Kontrolleuren die großen Orientierungen der Gesamtpolitik, bis hin zu einem volkssouveränen Ideal, in welchem die Regierung nur mehr ausführender Ausschuß der Nationalversammlung sein darf. Hier zeigt sich, sagen wir es offen heraus, die Romantik der Volkssouveränität mit ihrer ganzen Kraft, als Erbe der athenischen Volksversammlung, die auch das Unvernünftige beschließen darf, vielleicht muß, weil sie eben, auch oder gerade darin, dem "Volk" entspricht. Sicher - ein politisches Parlament wird nie lediglich oberster Wirtschaftsprüfer der Nation sein. Doch gerade weil all deren Kräfte und Strömungen in ihm lebendig sein sollen, muß sich in seiner Mitte bereits Ausgewogenheit durchsetzen, Verhältnismäßigkeitsdenken überall 420 Vgl. Kirchhof, P., Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 1, 1987, S. 806 f; Böckenförde, E.-W., Demokratie als Verfassungsprinzip, ebda., S. 888 ff; Stern (Fn. 1), S. 587 ff., 604 ff; larass, H.D.lPieroth, B., GG-Komm., 3. Auf!. 1995, Art. 20 Rdnr. 4.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

zum Durchbruch kommen. Das Parlament vermag eben, wie das "Volk", nicht "alles", sondern immer nur alles Verhältnismäßige. Der Begriff dieses "alles" ist stets nur horizontal zu verstehen, nie vertikal: Alle Belange der Gemeinschaft hat das Parlament sicher, ganz wesentlich, zusammenzusehen - eben in Verhältnismäßigkeit; "alles" vermag es dann nicht, wenn es an einer Stelle ansetzt zum Turmbau zu Babel, immer höher hinaus, aus einer absoluten Konzeption heraus. Gerade das Parlament steht in der modemen Versuchung, "irgend etwas" mit einem Mal, aus einer politischen Aufwallung oder Mode heraus, "absolut" und dann normativ durch-zusetzen. In diesem Sinne ist es das Organ der politischen Begeisterung - gerade in unverhältnismäßigen Aufschwüngen. Doch es steht, wie auch die Volkssouveränität, von der vielleicht nur mehr leise gesprochen werden sollte, in verhältnismäßiger Lautstärke eben, unter dem höchsten Gebot der Proportionalität, es ist eine Versammlung der Abwägung, nicht des ungestümen Aufschäumens. Einer solchen Kammer sollte auch nicht eine andere als Gremium der Nachdenklichkeit gegenübergestellt werden, als ob etwa in Deutschland gerade und nur der Bundesrat421 verhältnismäßig denken dürfte. In jeder einzelnen Entscheidung Mittel und Ziele kritisch vergleichen, sich durch nichts "mitreißen" lassen, überall nicht nur "wollen" , sondern zugleich wägen - dies wäre eines modemen Parlaments würdig. Wenn nicht gerade die Erste Staatsgewalt sich zur verhältnismäßigen Macht wandelt, kann Verhältnismäßigkeit nie zu dem werden, als was sie aber allein letztlich wirksam werden darf: zur obersten Norm des organisatorischen wie des bürgerbeschränkenden Staatsrechts, zur Grundnorm der demokratischen Verfassung. Wann aber wird Parteipolitik je in den Parlamenten nur die Kunst des Möglichen üben, nicht vor allem das Unmögliche wagen? Verliert sie dann nicht die wichtigste, die Medien-Legitimation - in Langeweile?

5. Privater Staat - Grundrechtsstaat

Allgemeine Wirtschaftsentwicklungen werden, so scheint es heute, eine Bewußtseinsänderung im Bereich der Parteipolitik wie der Parlamente auf Dauer bringen; der Zusammenbruch des Kommunismus hat 421 Zur Legitimation des Bundesrates als einer "chambre des reflexion" wie sie der französische Senat einst unter Kaiserreich und III. Republik hatte sein sollen, vgl. Herzog, R., Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesstaat, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. 2, 1987, § 44 Rdnrn. 27 ff.

11. Der "private Staat" - aus Verhältnismäßigkeit

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das Ende des "Staates des allmächtigen Willens" gebracht, der Staat der Verhältnismäßigkeit tritt hervor in betriebswirtschaftlichem Kalkül. Damit muß sich die gesamte Staatskonzeption ändern, welche seit der Französischen Revolution dominiert: Vom Hoheitsstaat führt der Weg zum Abwägungsstaat, dem und in dem nichts mehr absolut sein darf. Er steht zuallererst unter den Gesetzen der nationalen und internationalen Marktwirtschaft422 , keine von beiden kann er aufheben, oder auch nur wesentlich verändern. Seine Organe sind nicht frei bis hin zu Grenzen, jenseits deren nur mehr Sinnlosigkeit herrschte; in all ihren Entscheidungen müssen sie abwägen, was und wie auch immer. Es gibt etwas wie eine grundsätzliche "Abwägungsmentalität" , sie verbietet den absoluten, durchbrechenden Willen. In diesem Sinne ist ein solcher Abwägungsstaat, auf den wir uns vielleicht zubewegen, Ausdruck der Rationalisierung der Macht und damit ein "gutes" Wort heutiger Staatssprache. In der entscheidenden Phase der vor aller Abwägung stehenden Bewertung mögen noch voluntative Elemente bedeutsam sein; im kritischen Vergleich überwiegt dann sogleich reinere Rationalität, in der eigentlichen Abwägungsphase dominiert sie vollständig. Die abwägende Gewalt ist die eines Staates des Denkens, des Erkennens, nicht mehr nur des Willens. Hier wurde der "private Staat" dargestellt, der "Staat als Unternehmen", wie er heute in aller Munde ist. Doch dahinter steht nicht reine Effizienzsuche, sondern Staatsgrundsätzlichkeit - Grundrechtsschutz der Freiheit. Denn nicht um eines gewinnmaximierenden Wirtschaftsstaates willen darf heute, wenn überhaupt, in den Kategorien der Verhältnismäßigkeit gedacht werden; gerade die möglichen Exzesse einer solchen Ordnung sollen in Abwägung gebrochen werden. Der Betriebswirtschaft mag ein derartiges Denken viel an Kategorien verdanken, an unideologischer, kritischer Realitätsnähe. Im Grunde aber ist Ziel nicht die Herstellung größter allgemeiner Wohlfahrt, mag auch neueste Geschichte gezeigt haben, daß sie rasch der Abwägung auf Märkten folgt. Entscheidend bleibt, im Namen der Verhältnismäßigkeit, die Absage an alles Absolute am Staat und in ihm, so wie es im privaten Bereich, im Unternehmen der Privatwirtschaft, Absolutes nie geben kann. Darin könnte unsere Ordnung eines Tages in einem ganz anderen Staat enden, unbemerkt wohl von den meisten, die nur einen Verlust von Staatspathos anstreben und erkennen. Ein gerechter Staat wird dies dann darin sein, daß er sich selbst unter die Gerechtigkeit stellt, auf die Schalen ihrer Waage. 422 Zur Marktwirtschaft als Verfassungsbeschränkung der Staatsgewalt vgl. nun Leisner, w., Die verfassungsrechtlichen Belastungsgrenzen der Betriebe,

1996, S. 40 ff.

13 Leisner

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

Weil sie den "privaten Staat" erzwingt, muß Verhältnismäßigkeit, wird sie nur ernst genommen, diese Ordnung ganz durchdringen. Verhältnismäßigkeit ist nichts, was nur in einem coin de terrain der Staatlichkeit zu praktizieren wäre; sie ist in ihm ganz und überall - oder gar nicht. Verzichten aber kann eine Staatsgewalt auf allgegenwärtige Verhältnismäßigkeit dann nicht, wenn sie, wie die moderne Demokratie, sich versteht als eine Synthese über der großen Antithese, in welcher es in Abwägung Verhältnismäßigkeit herzustellen gilt: zwischen ihrer möglichen Gewalt und der Bürgerfreiheit. Was derart fundamental allem staatsrechtlichen Bemühen zugrundeliegt, darf an keiner Stelle des Öffentlichen Rechts mißachtet werden, nirgends in der Organisation eines "privaten Staates". Wäre dieser dann nicht eine Staatsgrundentscheidung aus Verhältnismäßigkeit? Er würde wohl darin, zum ersten Mal, ein Grundrechtsstaat.

IH. Verhältnismäßigkeit: weder Erforderlichkeit noch Übermaßverbot Was ein "Abwägungsstaat" vor allem voraussetzt - Wandlung zum "privaten Staat" - ist deutlich geworden. Bevor der Versuch unternommen wird, sein Wesen noch näher zu erfassen, die Gefahren auch, welche er bringen könnte, muß eine Begriffsklärung erfolgen: Abwägungsstaat ist mehr als Absage an "übermäßige" oder "unnötige" Staatlichkeit. 1. Verhältnismäßigkeit - im "weiteren" und "engeren" Sinn - Kritik

Verhältnismäßigkeit kann im Öffentlichen Recht nur dann Sinn gewinnen, wenn der Staatsrnacht nicht mehr das Recht zusteht, ihre Zwecke absolut zu setzen, wenn eine große Vergleichbarkeit hergestellt wird zwischen dem nicht mehr unendlich reichen Gemeinwesen und seinen Konkurrenten, wenn das Gewaltmonopol des Staates nur mehr ein Verfahrensprivileg bedeutet. Wie aber steht nun eine auf solche Voraussetzungen gegründete Verhältnismäßigkeit zu den heutigen Vorstellungen, welche die Verfassungs gerichtsbarkeit mit diesem Begriff verbindet, und mit dem" Übermaßverbot,,423? Findet hier jenes flexible zu423 Dessen Dimensionen Peter Lerche bereits vor Jahrzehnten aufgezeigt hat, Übermaßverbot und Verfassung, 1961.

III. Verhältnismäßigkeit: weder Erforderlichkeit noch Übermaßverbot

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einander-in-Beziehungsetzen statt, jene "Abwägung" , welche unvereinbar ist mit jedem Recht zur Verabsolutierung? Ganz herrschender Auffassung entspricht es heute, im Anschluß an die Verfassungsgerichtsbarkeit, von einem "doppelten Verhältnismäßigkeitsbegriff" auszugehen: Im weiteren Verständnis sei Verhältnismäßigkeit zu begreifen als etwas wie ein Oberbegriff über mehreren Kriterien, welche im Rechtsstaat. entwickelt aus dem klassischen Polizeirecht, heute an alle Staatstätigkeit angelegt werden: Bestimmtheit, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. (Zumutbarkeit). Jedenfalls über der Erforderlichkeit und einer enger zu verstehenden Verhältnismäßigkeit soll sich dann der weitere Begriff der Verhältnismäßigkeit wölben424 . Hier herrscht eine allgemeine Begriffsverwirrung, die wohl noch lange überdauern wird: Von Verhältnismäßigkeit im "engeren" Sinn ist die Rede, wo doch dieses selbe Wort in einem "weiteren" Verständnis mit ganz anderem Inhalt gebraucht wird; und so kommt es dann häufig zu einer Begriffskonfusion von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Hier zeigt das Öffentliche, vor allem das Staatsrecht, daß ihm noch nach vielen Jahrzehnten nicht eine distinktive Begriffsklarheit gelungen ist, wie sie in privatrechtlichen Bezügen selbstverständlich wäre. Erforderlichkeit, das sei hier sogleich betont, hat nichts zu tun mit einem Verhältnismäßigkeits-Begriff, wie er in dieser Untersuchung zugrundegelegt und allein behandelt wird. Dies ergibt sich schon aus der oben (A, III) dargelegten untrennbaren Verbindung von Abwägung und Verhältnismäßigkeit: Was erforderlich ist, läßt sich nie, im Bereich der Staatlichkeit wie auch sonst, durch Abwägung feststellen, solange ein Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht aufgegeben wird: die grundsätzliche Freiheit des Bürgers von hoheitlichem Zwang. Aus ihr allein folgt unmittelbar und selbstverständlich der Grundsatz, daß stets nur der geringste nötige Eingriff gerechtfertigt sein kann425 . Alles was an staatlicher Belastung über ihn hinausgeht, ist unnötig und damit Freiheitsverletzung, rechtswidrig in sich. Dafür kann es keinerlei Rechtfertigung geben, weil jede Abwägung hier schon begrifflich ausscheidet, weil eben die beiden Ziele, das staatliche und das der Freiheitsbewahrung des Bürgers, in dieser Weise nicht gleichzeitig erreicht werden können, wohl aber auf andere Art. 424 Vgl. Hirschberg, L., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 50 ff.; Huster, S., Rechte und Ziele, Diss. Heidelberg 1993, S. 131 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IIII2, 1994, S. 775 ff. 425 Vgl. Jacobs, M.Ch., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Osnabruck 1985, S. 66 ff.; Hirschberg, aaO., S. 56 ff.

13'

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

Das Prinzip des geringsten Eingriffs mag im Einzelfall nicht immer problemlos anzuwenden sein, grundsätzlich stellt es eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit dar. Darin hebt es sich denn auch von der Geeignetheit426 ab, daß nach dieser mehrere Wege an sich zum staatlichen Ziel führen mögen, nur der "kürzeste", weil am wenigsten freiheitsbelastende, aber der rechtsstaatlich erforderliche sein kann. Der Verhältnismäßigkeitsbegriff darf in einem solchen Verständnis also gar nicht gebraucht werden. Bei der Erforderlichkeitsfrage geht es allein um eine Betrachtung, welche den "Mitteleinsatz" , insbesondere die Bürgerbelastung durch Eingriff, von einem bereits festgelegten Ziel her beurteilt. Abzuwägen ist hier nichts, die Entscheidung darf immer nur zu Gunsten der geringsten Belastung des Bürgers fallen, nicht in einer Abwägung von "Belangen" des eingreüenden Staates und des Bürgers. In diesem Raum kann es überhaupt nicht zu Bewertungsfragen kommen, denn, und dies ist nun entscheidend, feststehen ja immer bereits die betreffenden Ziele, Staatszwecke, Staatsaufgaben. Erforderlichkeit hat überhaupt nur dann Sinn, wenn diese Zwecksetzung von der Staatsgewalt schon geleistet ist, für sie aber ergibt sich allein aus der Erforderlichkeit heraus keinerlei Begrenzung. Sie hat es nur mit klaren, festen Größen zu tun, die auch absolut gesetzt werden mögen dann ist eben jeder denkbare Eingriff insoweit rechtmäßig, als es keinen gibt, der den Bürger weniger belastet. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit im "engeren", im Sinne dieser Untersuchung, im einzig möglichen dieses Wortes, stellt sich dagegen nur dort, wo staatliche Zwecksetzungen wegen etwaiger übermäßiger Belastungen der öffentlichen Haushalte oder der Bürger, zu korrigieren sein könnten. "Ziele" und "Mittel" zu ihrer Erreichung, insbesondere Belastungen, sind dann abzuwägen, gegebenenfalls müssen die Ziele geändert werden, was bei der Erforderlichkeitsprüfung nie in Betracht kommt. Hier ist also die gesamte Zweck-Mittel-Relation in sich flexibel, die Erforderlichkeit dagegen bedeutet nur den Zwang zu rationaler, insbesondere wirtschaftlicher, Durchsetzung der Staatszwecke. Erforderlichkeit kennt auch das gewalttätigste Regime, sie ist lediglich Ausdruck einer "Betriebswirtschaft" der vorgegebenen Staatszwecke. Sie kann daher zum eigentlichen Staatsgrundsatzproblem nie werden, solange nicht Freude an purer Gewalt herrscht, reine Willkür. Gerade weil diese Erforderlichkeit die Staatszwecke, auch wenn sie absolut gesetzt sind, bereits voraussetzt, ist es nicht nur bedenklich, sondern gefährlich, eine derartige Erforderlichkeitsprüfung als eine sol426 Vgl. Stern (Fn. 424), S. 776 f.; Albrecht, R.K., Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, Diss. Tübingen 1994, S. 69 f.

III. Verhältnismäßigkeit: weder Erforderlichkeit noch Übermaßverbot

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che der Verhältnismäßigkeit auch nur zu bezeichnen. Die Verhältnismäßigkeit der flexiblen, in Abwägung bestimmten, Zweck-Mittel-Relation ist nicht etwa ein "engerer" Begriff gegenüber dem der Erforderlichkeit, sie hat mit diesem letzteren gar nichts gemein, kann also weder mit ihm gleichgesetzt, noch unter ihn subsumiert werden. Von Verhältnismäßigkeit im engeren und weiteren Sinn sollte nirgends und nie mehr die Rede sein. Denn dies letztere könnte nur dazu führen, daß auch die Verhältnismäßigkeit im eigentlichen, hier behandelten Sinn unter eine Vorgabe gestellt wird, welche in ihrem Namen gerade nicht akzeptiert werden kann: daß es eben nur um die Erreichung bereits gesetzter, auch außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit bestimmter Staatsziele gehen dürfte. In Wahrheit ist Verhältnismäßigkeit eine Form der Bestimmung von Staatszielen, Erforderlichkeit setzt diese schlechthin voraus. Diese erstaunliche Begriffskonfusion ist nicht von ungefähr entstanden: Sie kommt wohl vor allem aus der traditionellen Scheu des Öffentlichen Rechts, die absoluten Setzungen des Staates in Frage zu stellen, grenzzukorrigieren, darin dessen souveränes Recht anzutasten. Da nun aber Verhältnismäßigkeit allgemein, nicht zuletzt auch im Privatrecht, immer mehr in den Mittelpunkt rückt, glaubte man wohl, mit der Verpflichtung zum geringsten Eingriff schon dem Gebot der Verhältnismäßigkeit gerecht geworden zu sein, ohne bis zur eigentlichen Grundsatzproblematik, der der Korrektur der Staatsziele in Verhältnismäßigkeit, vorzudringen. Die Folge war: Weil diese Unterscheidung "weiterer" und "engerer" Verhältnismäßigkeit oft die Instanzgerichte gar nicht erreicht hat, weil sie vom Bundesverfassungsgericht selbst nicht immer klar herausgestellt wurde, konnte sich die irrige Vorstellung halten, einer Verhältnismäßigkeit sei schon dann Genüge getan, wenn Erforderlichkeit geprüft worden sei; oder diese letztere wird - was noch weit bedenklicher ist - als ein kurzer, unselbständiger Anhang der ersteren abgetan. Wird "Verhältnismäßigkeit" nur das genannt, was hier untersucht wird, so ist die eigentliche Staatsgrundsatz-Problematik der "verhältnismäßigen Staatszwecke " weit schärfer erfaßt, dann erst wird sie vertiefend von der Verfassungsgerichtsbarkeit behandelt. Eine Begriffsklärung, welche nur eine Verhältnismäßigkeit kennt, die bisher fälschlich als "engere" bezeichnete, kann die methodischen Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieser Begriff auch wirklich ernst genommen wird; vor allem läßt sich nur auf diesem Wege vermeiden, daß eben doch, bei der Bestimmung der Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Recht, aus absoluten Staatszweckbestimmungen heraus, von "absoluten Größen" aus gedacht wird - gerade dies aber verbietet die Verhältnismäßigkeit. Wer jenen "privaten Staat" anstrebt, von dem die Rede war, wird dieser Ver-

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

suchung nicht erliegen; denn das Privatrecht geht nicht von absolut notwendigen Zwecken aus, es bestimmt die zulässigen Ziele in flexibler Abwägung - in Verhältnismäßigkeit.

2. Verhältnismäßigkeit als "Übermaßverbot"?

Ausgangspunkt einer Bestimmung der "Verhältnismäßigkeit " kann nur der Begriff der Abwägung bleiben: Etwas Wesentliches von diesem Vorgang muß sich stets finden bei der Bestimmung aller Proportionalität. Dies verbietet es von vorneherein, staatlich vorbestimmte Wertigkeiten von absolutem Gewicht in eine der Waagschalen weIfen zu lassen, es bedeutet, wie dargelegt, die Abkehr vom "absoluten Staat" in all seinen Ausprägungen. Vielmehr muß stets das wesentliche Spannungsverhältnis von Zielen und Mitteln gesehen, die Staatszwecke müssen wesentlich auch aus den zur VeIfügung stehenden "Mitteln", vor allem auch aus den damit eIforderlichen Belastungen der BürgeIfreiheit, definiert werden. Diese flexible Balance des Zweck-Mittel-Verhältnisses charakterisiert jede Verhältnismäßigkeit, will man dieses Wort ernst nehmen. Mittel und Wirkungen müssen sich gegenseitig, wechselseitig bedingen und beeinflussen; nur in dieser Flexibilität gesehen kann Verhältnismäßigkeit im Öffentlichen Recht eine Zukunft haben, kann sie nicht nur ein anderes Wort sein für die Durchset~ung politisch gewünschter einseitiger Zwecksetzungen durch den Staat. Geht man von diesen Ergebnissen der bisherigen Untersuchung aus, so läßt sich Verhältnismäßigkeit durchaus mit dem Begriff des "Übermaßverbotes" in Verbindung bringen42t , vielleicht gleichsetzen; fraglich bleibt allerdings, ob dies zur Klärung des Begriffs der Proportionalität Wesentliches beitragen kann. Die Problematik des Begriffs "Übermaß" liegt darin, daß der Begriff auch etwas ganz anderes, mit dem eben beschriebenen Wesen der Verhältnismäßigkeit nicht zu Vereinbarendes, beinhalten kann. Deshalb gilt es zunächst, die beiden möglichen Grundaussagen des Übermaßverbotes zu unterscheiden. Das in dem Worte steckende "Maß" mag dafür sprechen, daß hier etwas "gemessen" wird oder wurde - auch oder gar wesentlich in Abwägung. Nichts ist jedoch darüber ausgesagt, wie dieses "Maß" denn bestimmt, ob nicht im Grunde nur "bereits Gemessenes", vom Staat von vorneherein und mit Absolutheit Festgesetztes, zugrundegelegt wird. Wird das" Übermaßverbot" so verstanden, so gibt dieser Begriff, als 427

Vgl. Lerche (Fn. 423).

III. Verhältnismäßigkeit: weder Erforderlichkeit noch Übermaßverbot

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"Verhältnismäßigkeit" verstanden, nicht mehr her als jenen Festlegungsprimat des Staates, der vorstehend als mit wahrer Verhältnismäßigkeit unvereinbar erkannt wurde. "Übermäßig" ist dann eben alles, was zur Erreichung, zur Verwirklichung dieses Maßes nicht erforderlich ist - die dogmatische Kategorie" Übermaß" wäre so nichts anderes als jene Erforderlichkeit, mit welcher sie aber, wie bereits nachgewiesen, nicht verwechselt werden darf. Anders dann, wenn das "Maß" des Übermaßverbotes im Sinne eines "Maßhaltens" verstanden wird - dann mag dies auch im Sinne eines "jeweils beweglichen Ziel-Maßstabes" verstanden werden; das Übermaßverbot würde bei solchem Begriffsinhalt alles verhindern, was nur realisiert werden könnte unter Mißachtung eines wie immer verstandenen Spannungsverhältnisses von öffentlichen Zwecken und öffentlichen Eingriffs-Mitteln, einschließlich der dem Bürger auferlegten Belastungen. Dieses zweite Verständnis des Übermaßverbotes läßt sich also mit richtig erfaßter Verhältnismäßigkeit vereinbaren, es fügt diesem Begriff jedoch inhaltlich oder an Klarheit seiner Konturen kaum etwas hinzu; gemeint ist dann nur, daß "übermäßig" sein soll, was außerhalb eines durch Abwägung flexibel bestimmten Maßes vom Staat veranstaltet, insbesondere erzwungen wird. Die Zweideutigkeit des Begriffes "Maß" - "fest vorbestimmt" oder "gemäßigt-beweglich" - entwertet das "Übermaßverbot" bei der Bestimmung der Verhältnismäßigkeit; es wird eben auch immer schwer halten, die verhängnisvolle Nähe zur Erforderlichkeit zu vermeiden.

3. Übermaßverbot -

Verbot des "an sich Übergroßen"?

In einem dritten Sinn allerdings könnte man das "Übermaßverbot" ebenfalls verstehen: Als Absage an alles "in sich allzu Große", an das "an sich allzu Viele", was der Staat in einem Bereich verwirklichen möchte. Dann wäre wiederum die Verhältnismäßigkeit bestimmt durch einen festen, von vorneherein feststehenden, aus sich selbst letztlich verständlichen Größen-Begriff. An ein sprachliches Verständnis könnte dies wohl anschließen, welches alles "Übermäßige" eben auch als "überproportional " begreüt. Doch auch dies kann nicht weiterführen, es verfälscht vielmehr den Begriff der Verhältnismäßigkeit. In ihm liegt wesentlich, geradezu als sein Kern, die "Relation" - eben zwischen zwei Größen. Niemals kann also das Überproportionale rein aus sich heraus definiert werden. Weder kann eine "große" Steuerreform, an sich betrachtet, "übermäßig" sein, noch läßt sich dies von einem staatlichen Riesenbau von vorneherein

200

C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

behaupten, ohne Blick auf die Zwecke des Vorhabens, auf andere vergleichbare Bauwerke einer-, erforderliche oder verfügbare Mittel andererseits. Und wenn Verhältnismäßigkeit stets das Spannungsverhältnis von Ziel und Mitteln im Blick behalten muß, so gilt gerade für den Staat eben: Ganz Großes darf er auch - er vielleicht allein - mit ganz großem Einsatz verfolgen; etwas von Monumentalität muß dem Staat im letzten sogar wesensnotwendig stets bleiben428 . Verhältnismäßigkeit will nicht den "kleinen Staat" erzwingen, nachdem sie den Bürger zum "kleinen Mann" gemacht hat. Damit würde die letzte bedeutende Dimension der Volkssouveränität aufgehoben werden: Ihre Vertreter müssen sich zwar auch stets als Rechnungsprüfer des Souveräns fühlen (vgl. oben 11, 4), Rechnungen dürfen sie aber auch "ganz groß aufmachen", sonst geht noch der letzte revolutionäre Schwung dieses mächtigen historischen Begriffs der Volkssouveränität verloren, die Demokratie wird von keiner begeisternden Virtualität mehr getragen; dann würde diese Staatsform der "großen Reform" schlechthin nicht mehr fähig sein, deren Tore ihr jedoch sogar das vorsichtige Bundesverfassungsgericht offenhalten wil1429 , und die auch leiser als bisher geöffnet werden können. Bald wäre sie dann abgelöst von einer Persönlichen Gewalt, deren Vertretern man jedenfalls eines wird nie absprechen können: eine gewisse "Größe an sich,,430. Aus der reinen, isolierten Quantität einer Projektdimension läßt sich also für oder gegen Verhältnismäßigkeit an sich nichts ableiten; nichts ist zu gewinnen aus einer Betrachtung, welche nur auf den Zweck blickt - genauso wenig wie die Staatsgewalt diesen isoliert, vor aller Abwägung, bestimmen und auch absolut setzen darf. Das "an sich" bereits, nicht erst in einem Vergleich, "allzu Große" bedarf zu seiner Bestimmung als" unverhältnismäßig" nicht mehr der Abwägung - daher ist dies kein Weg zur Proportionalität. Sie ist nur erreichbar, wo es heißt: "Ziel nach Mitteln (Belastungen)" - "Mittel nach Zielen" , wo beides in die Waagschalen gelegt wird. Die "überdimensionierte" Staatsveranstaltung ist solange nicht unverhältnismäßig, wie sie den Bürger nicht überproportional belastet - etwa dann, wenn sie "allzuviel kostet", in monetarisierendem Vergleich. Die kritische These, das "allzu Große" sei stets, an sich, "unverhältnismäßig", darf im Öffentlichen Recht ebensowenig Platz greifen wie 428 Vertieft bei Leisner, w., Der Monumentalstaat - Staatlichkeit als "große Lösung", 1989, S. 261 ff. 429 Vgl. BVerfGE 31,275 (285); 83, 201 (212). 430 Vgl. Leisner, w., Der Führer - Persönliche Gewalt - Staatsrettung oder Staatsdämmerung? 1983, S. 110 ff., 127 ff.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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ihre größenverehrende Gegenthese: "Der Zweck heiligt die Mittel" der große Staatszweck vor allem. Wird er ähnlich unendlich gesetzt wie der Schöpfergott, aus dessen Verehrung die Maxime kommt, so kann es auf Erden kein Übermaßverbot mehr geben, wie ja auch Seinen Dienern im Namen dieser Maxime alles erlaubt sein sollte. Absolute Begriffsinhalte, feste Setzungen und Abgrenzungen lassen sich der Verhältnismäßigkeit nicht entnehmen, auch nicht im Öffentlichen Recht, jener traditionell normgewordenen Absolutheit. All dies mag zwar helfen, einen Staatsgrundsatz-Begriff der Verhältnismäßigkeit im Negativen ernst zu nehmen, rasche, herkömmlich erscheinende Vorfestlegungen der Zwecke durch "souveräne Staatsgewalt" hier zu vermeiden. Wie aber läßt sich der Begriff nun positiv wenn nicht definieren, so doch in Annäherungen beschreiben?

IV. Die Verhältnis mäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen" Verhältnismäßigkeit ist, im Staat wie überhaupt, nichts Eindeutiges, in sich Selbstverständliches, das hier und jetzt aufzufinden und zu heben wäre wie ein Schatz. Das so einfache, bescheiden klingende Wort "verhältnismäßig" bezeichnet ein ewiges Menschheitsstreben, eine wahre Menschheitshoffnung, welche deutlicher mit dem schöneren Wort der Harmonie in unser Bewußtsein tritt. Diese hohe Geistigkeit durchwirkt auch die Turbulenzen der Politik wie die Prosaik der Rechtstechnik, die sich im öffentlichen Recht verbinden. Sollten wir uns nicht diesem Zentralbegriff aus dem Denken jenes Bereichs nähern, in welchem zuallererst und am tiefsten Proportionen gesucht und in Klassik bestimmt worden sind: in der bildenden Kunst? Nicht als ob hier irgendetwas wie ein methodischer Brückenschlag versucht werden sollte zu einem Gebiet, das juristischem Denken ferner zu liegen scheint als jedes andere431 . Der Begriff der Verhältnismäßigkeit weckt aber, auch im Recht der Staatlichkeit gebraucht, ganz natürliche Assoziationen zur Statue, zum Bild, zur Architektur. Und sind nicht gerade diese Bereiche 431 Das unauflösliche, vielleicht ewige Dilemma der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheit zeigt dies, vgl. Häberle, P., Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff.; Henschel, J.F., Zum Kunstbegriff, in: Festschr. f. Wassermann, 1985, S. 351 ff.; Steifen, E., Politische Karikatur und politische Satire im Spannungsfeld von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz, in: Festschr. f. Simon, 1987, S. 359 ff.; Knies, w., Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem 1967, S. 128 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

in der Geschichte stets der Staatlichkeit besonders nahe gekommen in Staatsbauten, Standbildern der Macht oder der Freiheit, staatssymbolisierenden Gemälden? Daran konnte verbürgerlichende Verkleinerung zur Genre-Kunst, daran wird staatsfern-genießende Verlandschaftlichung des Vaterlandes nichts ändern: größere Kunst bleibt monumental-staatsnah bis nach Guernica; und so wird immer die Staatlichkeit in diesen ihren Abbildern auch etwas finden vom Geheimnis ihrer Proportionen. Die folgenden vorsichtigen Annäherungsschritte lassen sich leicht kritisieren, schwer nur negieren.

1. Proportion - aus Dynamik gewordene Harmonie

Das Verhältnis von Abwägung zu Verhältnismäßigkeit mußte diese Betrachtungen von ihrem Anfang an beschäftigen. Die enge, untrennbare Verbindung beider Begriffe hat sich uns immer wieder gezeigt: Wo Verhältnismäßigkeit nicht im Verfahren der Abwägung wird, entsteht sie nicht wirklich432 . Hier geht es nun um einen weiteren Schritt: Gibt es "Proportionensuche schon im Verfahren" der Abwägung? Die bildende Kunst bemüht sich, vor allem anderen, stets um Proportionen: Sie muß abmessen und vergleichen, "ins Verhältnis setzen" von Anfang an, im Geiste des Künstlers jedenfalls, bevor noch sein Pinsel die Leinwand berührt. Abwägung war und ist hier stets alles Schaffen, in etwas wie einem zusammensehenden Vergleich. Und ein "Zusammensehen eines Ganzen" muß daher stets auch die Verhältnismäßigkeit in den Räumen der Staatlichkeit tragen. Hier begegnen all jene Begriffe, die aus beiden Bereichen geläufig sind: "Einbettung" ist zu leisten und "Integration" von staatlichen Veranstaltungen in größere Grundentscheidung, wie bei "picturalen Fakten", im Sinne von Braque, in ihre Umgebung, Isolierung ist ebenso ausgeschlossen wie möglichste Gesamtschau angesagt. Dies alles bleibt herzustellen in ständigem Wägen, Verschieben, doch das Ergebnis ist am Ende mehr und etwas anderes als all dieses Verfahren; die Banalität, daß der Weg nur zum Ziel führt, muß in einem Öffentlichen Recht immer wiederholt werden, das allzuleicht, aus dem Verlust materieller Werte heraus, Verfahren schon als Freiheit mißverstehen könnte. Grundrechtsschutz auch durch Verfahren433 ist eine notwen432 433

Zu "Verhältnismäßigkeit aus Verfahren" vgl. oben A, III. Vgl. oben Fn. 84.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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dige Erkenntnis; "Grundrechtsschutz im Verfahren allein" kann sowenig richtig sein wie Verhältnismäßigkeit sich nie in Verfahren erschöpfen darf, immer am Ende zu einem Ergebnis gerinnen muß. Wenn die Alten nach dem Geheimnis der Proportionen suchten, einer "Harmonie", in welcher die Teile sich zusammenfügen, eben zusammenpassen sollten, so ging es ihnen letztlich, wie auch heute noch der Kunst, um das statische Element eines "sich zueinander Verhaltens", nicht nur um die Dynamik einer "ständig zusammenfügenden Änderung" . Verhältnismäßigkeit ist in unserem Denken letztlich, von der Antike her, etwas statisch-Endgültiges, wie ihr erster, größter Ausdruck, die klassische Plastik der Griechen. Abwägung mag der dynamische Vorgang sein, in welchem sie entsteht, er kann das Ergebnis nie ersetzen, zu dem er - wird. Aus solcher Allgemeinheit ergeben sich für das Öffentliche Rechte erstaunlich konkrete Folgerungen: Als Selbstzweck mißverstandene Dynamik im Staat muß eine Harmonie stören, die letztlich immer etwas Prästabiliertes hat, ruhig in sich schwebt. Eine Staatsform, welche allzuviel und zu oft abwägen will, immer nur Bewegung solcher Art "um der Bewegung Willen" hervorbringt, wird die ruhende, dauernde Verhältnismäßigkeit mit Sicherheit verfehlen, die allein Proportionen halten kann. Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei: Verhältnismäßigkeit ist, in ihrer Abwägung, dynamisch, letztlich aber, in ihrem Ergebnis, ein Begriff der Entdynamisierung des Staates; gerade deshalb fällt sie keiner Staatsform schwerer als der Demokratie. Ein Denken in zu Harmonie gesteigerter Verhältnismäßigkeit muß davor warnen, Staatsgestaltung allein aus politischer Dynamik entstandenen, in politische Einbahnen gerichteten Instanzen anzuvertrauen. Verhältnismäßigkeit und Progress stehen in Spannung zueinander; wer Fortschritt verabsolutiert, zum Selbstzweck auch nur erhebt, schreitet fort von der Harmonie. Die Bewahrung der Verhältnismäßigkeit ist in erster Linie "statischen Instanzen" anzuvertrauen, welche ihrem Wesen nach in einer gewissen Kontinuität stehen, der Gerichtsbarkeit also vor allem, wie sich noch zeigen wird. Verhältnismäßigkeit ist - diese einführenden Bemerkungen zur Annäherung an sie aus dem Wesen der Proportions-Suche bestätigen es ganz wesentlich geronnenes Verfahren, das aber als solches nicht Selbstzweck werden darf, das an sich gewichtlos ist, nur Gewichte zur Ausgewogenheit führt. Endziel ist ein Zustand: eine Ausgewogenheit, das "sich verhalten zu ... ", wozu?

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

2. Die "innere Proportion einheitliche, aber "verfeinert strukturierte" Entscheidung U

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Proportionen kann es nicht geben, wenn die Staatsgewalt eine Entscheidung als rocher de bronze in die politische Landschaft setzt. Verhältnismäßigkeit bedeutet im Öffentlichen Recht das unbedingte Gebot zu einer in sich, nach innen strukturierten Entscheidung. Hier kann die Betrachtung sogleich in höchst Konkretes hinabsteigen: Eine baurechtliehe Entscheidung wird dem gerecht, wenn sie differenziert, vertikal in der Vertiefung baurechtlicher Probleme im engeren Sinn, horizontal in der angliedernden Berücksichtigung immissionsschutz rechtlicher, wasserrechtlicher, denkmalschützender und vieler anderer Belange434 . Damit ist noch nicht die in einem weiteren Schritt anzustrebende Berücksichtigung vergleichbarer" benachbarter" Problemlagen als solche angesprochen. Hier kommt es zunächst nur auf die Erkenntnis an, daß jede Verwaltungs- oder die sie fortsetzende Gerichtsentscheidung sich als Mikrokosmos vielfacher Probleme verstehen muß, in einer Absage an leichte Simplifizierung und Schwerpunktbildung, als Ausdruck eben einer ins Detail gehenden juristisch-geistigen Hochkultur. Diese innere Aufgliederung zusammenzusehender Problemlagen trägt den Grundsatz möglichster Konzentration der staatlichen Entscheidungen in einer Hand. Formal sollen sie Ausdruck des Willens einer Instanz sein, weil ja die Herstellung der Verhältnismäßigkeit stets etwas von echtem Dezisionismus zum Tragen bringen muß; sie ist Absage an reinen Norm-Subsumtionismus. Wo aber Kompetenzen allzusehr zersplittert erscheinen, kann nicht mehr eine Entscheidung Proportionen vielfacher Probleme zum Tragen bringen. Deshalb muß dieser einen Instanz eine gewisse materielle Vielfalt von Fragen anvertraut werden, damit sie eben, in innerer Verfeinerung der Entscheidung, Proportionen herstelle435 . Diese Verfeinerung der Entscheidung in sich ist Selbstzweck, die notwendige materielle Aufgliederung und zugleich Zusammenfassung bei einer Instanz bleibt Voraussetzung jeder Verhältnismäßigkeit, die sich hier, wieder einmal, als ein Grundprinzip des Staatsorganisationsrechts 434 Dürr, H.J./König, H., Baurecht für Bayern, 3. Auf}. 1995, S. 151 ff.; Simon, A., BayBO-Komm., Art. 74 a.F. Rdnr. 10 d; BVerwGE 48,242 (244). 435 Der Grundsatz, daß Verwaltungsakte grundsätzlich einer Behörde zugerechnet werden sollen, ein "Zusammenwirken mit Außenwirkung" tunlichst zu vermeiden ist (etwa beim gemeindlichen Einvernehmen als mehrstufigen Verwaltungsakt, § 36 BauGB, vgl. Maurer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Auf}. 1995, S. 189 f.) dient also dem Rechtsschutz des Bürgers, er verwirklicht Verhältnismäßigkeit.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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erweist. Im Grunde setzt sich in diesem Verfeinerungsgebot nur eines fort: Die kompetenzielle Absage an eine staatliche Absolutsetzung einzelner Zwecke, die, an vielen Stellen isoliert, fast immer mit ungegliederter Massivität, damit aber in geistiger Primitivität verfolgt werden. Der Großbau darf ebensowenig "für sich" in die Landschaft gesetzt werden, wie Landesverteidigung lediglich als schimmernde Wehr aufpoliert, über berufliche und soziale Belange der Bürger nur mehr in Panzerplatten hinweggedacht werden darf. Ideal bleibt für die Verhältnismäßigkeit in jeder staatlichen Entscheidung die "Herstellung eines Bildes", ein "Dinge-ins-Bild-Setzen", damit sich die freie Bürgerschaft davon "ein Bild machen" könne. Ein Gesamtbild muß entstehen, gegliedert, nicht gekleckert, aber auch nicht gekleckst. Diese und viele andere, ganz natürliche, sprachliche Verbindungen zur bildenden Kunst zeigen, was "inneres Proportionieren " verlangt: Einheit der Lösung, die sich aber notwendig aus einer Vielheit von Problemen aufbaut. Hier läßt sich ein Hohelied auf die Form, die Formalisierung im Recht, im Öffentlichen Recht vor allem singen; nur sie führt zu jener proportionierenden inneren Lösungs-Verteilung, die sich zusammenfügt zu einer Dezision, welche dann wirklich gibt suum cuique, in einem neuen, typisch öffentlich-rechtlichen Sinn: jedem Teilproblem, jedem Entscheidungselement sein Gewicht - in Proportion, nach dem Wortursprung der proportio, also in analoger, vergleichender Beantwortung der Einzelfragen. 3. Verhältnismäßigkeit - Einbeziehung der ganzen Entscheidungs-Umwelt

Nicht nur die innere Verhältnismäßigkeit der Entscheidung muß hergestellt werden, von der soeben die Rede war. Einfügen muß sie sich vor allem in ihre" Umgebung", in ihre" Umwelt". Dies wiederum ist unter zwei Aspekten vor allem zu prüfen: zum einen in der Beachtung eines weiten Berücksichtigungsgebotes in der Vorbereitung der Entscheidung; sodann in einem Verbot einer isolierten Entscheidung als solcher, die umgebungs blind zu ordnen versucht. a) Das "Berücksichtigungsgebot des gesamten Entscheidungsfelds" ist eine besondere Ausprägung des Gebotes sorgfältiger Entscheidungsvorbereitung. Sie mag sich, in den Grundlinien, bereits aus jener Rechtsstaatlichkeit ableiten lassen, welche Sachlichkeit436 verlangt, da436 Vgl. Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 87 t., S. 89 t.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

mit aber, bei Meidung des Willkürvorwurfs, angemessene Vorbereitung der Entscheidung. Doch die Verhältnismäßigkeit, mit welcher sich die Entscheidenden ja so gerne selbst solche Sorgfalt bescheinigen, führt zu einer erheblich weitergehenden Konkretisierung dieser allgemeinen Sachlichkeitsforderung. Nur einige Aspekte seien hier genannt; in ihrem Feld bewegt sich bereits heute weithin die Verwaltung, doch hier sollte ihre gute Praxis noch grundsatz-bewußter werden, darin kann sie einen "Staat der Verhältnismäßigkeit" vorbereiten. Jeder Entscheidung muß eine ihrer Bedeutung nach Umfang und Genauigkeit entsprechende - und auch hier bereits wirkt Verhältnismäßigkeit - Voruntersuchung vorausgehen. Manches fordert hier schon ausdrücklich die modeme Gesetzgebung, wie etwa in den Voruntersuchungszwängen des Baurechts437 . Doch mehr noch bleibt zu tun, im traditionellen Verwaltungsrecht. Begründungszwang ist hier ganz allgemein anerkannt, mit Blick eben auf den gerichtlichen Rechtsschutz438 , Begründungslosigkeit trägt das Stigma der Unrichtigkeit, wenn nicht der Willkür. Vorbereitungszwang bleibt demgegenüber noch immer unterentwickelt: Soll der Staat sämtliche Vorphasen seiner Willens bildung offenlegen müssen? Doch die Unterscheidung von Vorbereitungs- und Begründungszwang ist nicht berechtigt; beides kann verbunden, das Voruntersuchungsgebot dann Inhalt des Begründungsgebotes werden. Im Ergebnis muß gelten: Was nicht sorgfältig vorbereitet ist, dem steht die Vermutung der Unrichtigkeit entgegen. Es sollte nicht darin nur ein Verfahrensfehler gesehen werden, der entweder, angesichts "offensichtlich richtiger" Entscheidung, überhaupt nicht ins Gewicht fällt, oder unschwer nachträglich geheilt werden kann, durch einige formale Gesten. Die Problematik darf auch nicht auf das "Nachschieben von Gründen" reduziert werden439 ; Begründungen lassen sich nachholen, mangelnde Vorbereitung nicht. Mehr als bisher müßte der Gesetzgeber dafür Sorge tragen, daß sich aus ungenügender Vorbereitung die Vermutung der Unrichtigkeit, der Rechtswidrigkeit ergibt. Solange der Voruntersuchungszwang nicht gerichtlich sanktioniert ist, kann Verhält437 Als Beispiel sei die wichtige Voruntersuchungsverpflichtung in § 165 Abs. 4 S. 4 BauGB genannt, eine entscheidende Zulässigkeitsvoraussetzung jeder städtebaulichen Maßnahme nach §§ 165 ff. BauGB. 438 Vgl. UIe, C.H.lLaubinger, H.-W., Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, S. 7; Kopp, F., VwVfG-Komm., 6. Aufl. 1996, § 40 Rdnrn. 114 ff.; Badura, P., Das Verwaltungsverfahren, in: Allg. Verwaltungsrecht (hgg. v. H.U. Erichsen), 10. Aufl. 1995, S. 471 f. 439 Zum "Nachschieben von Gründen" in der Verwaltungsgerichtsbarkeit siehe Rupp, J.-J., Nachschieben von Gründen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, 1987; Schenke, W.R., Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1996, S. 230 ff.; Hufen, F., Verwaltungsprozeßrecht, 2. Aufl. 1996, S. 450 ff. m. weit. Nachw.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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nismäßigkeit nicht Wirklichkeit werden. Berücksichtigungsgebote im einzelnen haben erst Sinn, wenn dieses Grundprinzip allgemein anerkannt, wo nötig näher normativ ausgestaltet ist. Verhältnismäßigkeit verlangt ferner, und vor allem, daß in solchen Voruntersuchungen die gesamte" Umwelt der Entscheidung" - mehr als ein" Umfeld" - erkundet werde, mit welcher diese in Proportion zu setzen ist. Gefordert ist hier, in einer wirklichen Grundentscheidung für alle Verwaltungstätigkeit, eine breite Stoffsammlung allen zu berücksichtigenden Materials. Immer wieder wird ja als die erste Stufe des Abwägungsvorganges hervorgehoben, daß alle irgendwie bedeutsamen Belange, vor aller gewichtenden Wertung, erlaßt werden440 . Diesen ersten, in der Lehre mit Recht stets besonders betonten441 und auch gerichtlich überprüfbaren Schritt kann man nicht ernst genug nehmen; nicht nur weil ein breiter Weg in die Abwägung bereits allenthalben beschritten wird, wo sorgfältige Verwaltungspraxis herrscht. Vor allem bringt eine derartige, die ganze Umwelt der Entscheidung berücksichtigende Stoffsammlung meist bereits wichtige Vorentscheidungen zur Bewertung, hier beginnt schon ein Vergleich, welcher Gewichtung erst ermöglicht. Über das Berücksichtigungsgebot dringt immer mehr verhältnismäßiges Denken auch bei Bewertung und Abwägung, die späteren, weitaus problematischeren Vorgängen der Herstellung der Verhältnismäßigkeit, ins Recht ein: Auf den leisen Sohlen der scheinbar gewichtlosen Berücksichtigung schleicht sich Verhältnismäßigkeit ins Recht; Wissen bereitet den entscheidenden Willen vor. Von zentraler Bedeutung ist, in diesem Zusammenhang, das Gebot einer nicht nur vertiefenden, sondern vor allem einer möglichst weiträumigen Anlage der Sammlung des zu berücksichtigenden Stoffes. Die Umgebung der Entscheidung muß ausgeleuchtet werden in allen kantischen Kategorien: zeitlich, örtlich, sachlich-kausal. Die "zeitliche Umgebung" der Entscheidung gebietet die Erschließung ihrer Dimension in zwei Richtungen: in die Vergangenheit, mit Bezug auf eine etwaige Tradition442 , in die Zukunft in Prognose. Das erstere handhabt eine geübte Verwaltung von jeher, in der vielbelächelten Kontinuität der Entschei440 Daß die "Materialsammlung" des Abzuwägenden der erste Schritt jeder Abwägung sein muß, ist Gemeingut - aber auch eine Banalität. Dogmatischen Sinn gewinnt hier Verhältnismäßigkeit erst, wenn sie die "im Zweifel weiteste" Materialberiicksichtigung verlangt - vgl. neuerdings zu dieser Frage Hoppe, w., Planen und Abwägen, in: Vertrauen in den Rechtsstaat, Festschr. f. Remmers, 1995, S. 231 (241 ff.). 441 Vgl. Louis, H. w., Komm. z. Bundesnaturschutzgesetz, 1. Auf!. 1994, § 8 a Rdnr. 35; Battis, U.lKrautzberger, M.lLöhr, R.-P., BauGB-Komm., 5. Auf!. 1996, § 1 Rdnr. 96.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

dungen zu bisheriger Praxis, begründet oft allein aus ihr. Doch meist ist Kritik daran allzu leicht, mit Blick gerade auf die Verhältnismäßigkeit: Bisherige Entscheidungen sind nun wirklich "benachbart" zur heutigen, und nicht nur im Baurecht; Verschiebungen können ein ganzes Gefüge von Proportionen aus den Angeln heben. Auch die zeitliche Prognose-Dimension in die Zukunft hinein wird als" Umgebung" durchaus schon heute häufig gewahrt, wenn auch nicht in bewußter Verbindung zur Proportionalität: Ein fehlsamer Blick auf das, was morgen entscheidungs-benachbart sein kann, schafft eben heute bereits unrichtige Verhältnisse einer Dezision, die ja meist länger in die Zeit hineinwirken soll. Prognose ist also weit mehr als ein besonderes intellektuelles Gütesiegel des Verwaltens; sie ist eine normative Notwendigkeit aus einer Verhältnis mäßigkeit heraus, welche auch, insbesondere, in der Zeit wirkenmuß443 . Nicht anders steht es um die "örtliche Umgebung", wo die Begrifflichkeit noch eindeutiger ihren Platz findet. Im klassischen Verwaltungsrecht, im Bau- und Gewerberecht von jeher, werden die Proportionen einer Entscheidung stets mit Blick in die "Nachbarschaft" ihrer Lokalisierung bedacht und entschieden. Der Nachbarschaftsbegriff444 muß als ein Kernkriterium der Verhältnismäßigkeit erkannt werden, ohne seine sachgerechte, gerade im Lichte der Verhältnismäßigkeit erfolgende Bestimmung kann eine solche nie gewahrt bleiben. Die Übersteigerung der Begrifflichkeit, etwa im Atomrecht - "Nachbarschaft" über viele Kilometer hinweg - sollte zu denken geben, und in der Tat droht ja gerade dieses Rechtsgebiet, aus verständlichen, aber weit überdimensionierten Angstvorstellungen heraus, damit regelrecht "außer Verhältnis" zu geraten. Eine sachgerechte Bestimmung schließlich der "kausalen Nachbarschaft" von Interessen und Problemlagen, bei jeder zu treffenden Entscheidung, wird davor bewahren, die" Umgebung" allzuweit abzustekken; so können sachwidrige Entscheidungskombinationen, die sich bis zum Etikettenschwindel steigern würden, verhindert werden. Verhältnismäßig kann es eben nicht sein, "alles Mögliche" zusammenzuse442 In diesem Sinn ist "Tradition" ein Verhältnismäßigkeitsbegriff, als solcher sollte er stärker in der Judikatur des BVerfG herausgestellt werden, das doch nicht selten seine Entscheidungen zentral darauf stützt - man denke nur an die wasserrechtliche Tradition im Naßauskiesungsurteil (BVerfGE 58, 300 ff.). 443 Auch die "Prognosegewalt" (der Verwaltung wie des Gesetzgebers, siehe zur letzteren BVerfGE 53, 30 (57)) ist daher Teil der Abwägungsgewalt. 444 Seine Ausweitung im Baurecht (siehe Dürr, H.J.lKönig, H., Baurecht für Bayern, 3. Auf!. 1995, S. 155 f., nicht nur i. S. der Linienanlieger) ist sachgerechter Ausdruck eines umfeldberücksichtigenden Verhältnismäßigkeitsgebots.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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hen445 , damit würde etwas entstehen wie ein Riesengemälde, in dessen Betrachtung sich der Blick verliert, weil es nicht mehr durch picturale durch administrative Entscheidung zur Einheit zusammengefaßt ist, weil ihm das geistige Zentrum fehlt. Gerade hier muß auf eine Gefahr hingewiesen werden: im Namen der Verhältnismäßigkeit allzuviel einbeziehen zu wollen; der Abwägungsstaat würde geschwächt, zur Entscheidungslosigkeit verkommen. so wie der allzu viel lesende, berücksichtigende Beamte schließlich entscheidungsunfreudig werden muß. Am Ende würde auch der "Berücksichtigungsstaat " nur mehr - rückwärts sehen ... Datenverarbeitung zeigt sich, in diesem Zusammenhang des zu berücksichtigenden Materials, als Chance und als Gefahr zugleich für groß dimensionierte Verhältnismäßigkeit: Einerseits könnte leicht allzuviel einbezogen werden, Entscheidung in Berücksichtigung verloren gehen; zum anderen kann aber auch, und immer rascher, die Entscheidungsumgebung nun wirklich ausgeleuchtet werden mit all ihren Daten, den" Vorgaben" eben der Entscheidung. Dies sollte zum mächtigen Schwung werden für eine "verhältnismäßige Verwaltung", eine "Gerichtsbarkeit in Proportionalität": Diese Instanzen entscheiden nun immer mehr als "voll informierte", und dies wird, bedauerlicherweise, zu oft als Selbstzweck gesehen, oder zu allgemeiner erhöhter Sachlichkeit verwässert446 • Dahinter steht weit mehr: eine Chance zur Durchsetzung des Staates der Verhältnismäßigkeit - überall und vertieft.

Auch darin wirkt die Verhältnismäßigkeit staatsorganisatorisch, daß sie Verstärkung der Vorbildung, Ausbildung und Fortbildung im gesamten öffentlichen Dienst verlangt, ohne welche allenthalben unverhältnismäßige, damit aber rechtswidrige Entscheidungen drohen447 . Die "Umgebung einer Entscheidung" kann nur berücksichtigt, damit diese allein dann in volle Verhältnismäßigkeit gestellt werden, wenn eine gewisse fachübergreifende Bildung sichergestellt ist. Der enge Spezialist eines Bereiches vermag die Relationen zu benachbarten Problemen gar nicht zu erkennen, aus denen aber allein sich volle Verhältnismäßigkeit entfalten läßt; verhältnismäßigkeitsfreundliche, erweiterte Entschei445 Ein Beispiel bietet die Mahnung an den Gesetzgeber der Sozialversicherung, er dürfe nicht beliebige Konfigurationen zusammensuchen und daraus kausal die Notwendigkeit schwächerenschützender Sicherung ableiten, vgl. BVerfGE 75, 108 (158). 446 Diese Bedeutung einer modernen datengestützten Verwaltung wird bisher in den Darstellungen der Verwaltungslehre noch zuwenig beachtet, vgl. Thieme, w., Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1984, S. 532. 447 Leisner, w., Legitimation des Berufsbeamtentums, 1988, S. 154.

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c. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

dungsvorbereitung ist, aus der Sicht eines solchen obersten Staatsgrundsatzes, noch wichtiger als spezialisierende Problemvertiefung. Daraus mag sich dann geradezu eine Tendenz, wenn nicht ein Zwang, zur Entfaltung eines Generalistentums dort ergeben, wo letzte Entscheidungen in Verhältnismäßigkeit fallen sollen - in der Zusammenschau und Abwägung des Zusammenzusehenden. In dem wohl ewigen Streit zwischen Spezialisten und Generalisten448 ist dies eine modeme und überzeugende Begründung für stärkere Betonung einer "generellen Entscheidungs-Ausbildung". Zugleich ergeben sich daraus Bedenken gegen Ausweitung der Team-Arbeit449 : Sie mag zu breiter Berücksichtigung der gesamten Entscheidungsumwelt die geeignete Gestaltungsform sein; doch wenn dies alles dann zu einer Entscheidung führen soll, so droht dort der kompilierende Kompromiß, weil jedes Team-Mitglied eben etwas, das Seinige, beisteuern soll und dies schon aus Gründen der Profilierung versuchen wird. Bei aller noch zu vertiefender Bedeutung des Kompromisses - Verhältnismäßigkeit bedeutet nicht, daß alle zu berücksichtigenden Elemente in der Entscheidung gleichmäßig zum Ausdruck kommen, sondern daß sie zueinander in einheitlicher Dezision ins angemessene Verhältnis gesetzt werden. Dies aber vermag nur die Entscheidungsgewalt einer höheren, eben der Generalistenebene. Verhältnismäßigkeit wirkt damit schlechthin generalistenfreundlich, mehr noch: autoritätsschaffend. Um noch einmal das Gewicht des Berücksichtigungsgebotes für die Verhältnismäßigkeit zusammenzufassen: In der Auswahl des Stoffes liegt - der Verwaltungspraxis ist dies geläufig - häufig schon eine Vorentscheidung, auch zu späterer Verhältnismäßigkeit: Die zu berücksichtigenden Relationen werden damit nicht selten bereits festgelegt, erdrückendes Material in einer Richtung drückt die eine Waagschale an sich schon, vielleicht mit einer geradezu quantitativen Mächtigkeit der Stoffmasse. Daß in der Auswahl der Tatsachen deren Bewertung bereits liegen kann, ist aus der Dogmatik der Meinungs-, insbesondere der Pressefreiheit durchaus geläufig450 • Über die erste Stufe im herkömmlichen Schema der Abwägungsschritte, die Stoffsammlung, schiebt sich also häufig Verhältnismäßigkeitsdenken auch in ihre zweite bereits hinauf: in eine Bewertung, welche durch die Auswahl des Stoffes präjudiziert erscheint. Weil sich beides nicht voll trennen läßt, liegt darin G., Verwaltungslehre, 2. Auf!. 1989, S. 215 ff. Verwaltungslehre, 1988, S. 157. 450 Deshalb kann ja "Meinung" im Sinne von Art. 5 Abs. 1 GG auch bereits durch Tatsachenauswahl gebildet werden, vgl. v. MangoldtlKlein/Starck (Fn. 372), Art. 5 Abs. 1,2, Rdnr. 19; Herzog, R., in: MaunzlDürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. I, 11 Rdnrn. 51-54. 448 Püttner,

449 LecheIer, H.,

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das" Geheimnis der Proportionen"

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Chance zugleich und wiederum Gefahr: Einerseits mag sorgfältige Sammlung auch zu sachgerechter Bewertung führen, diese bereits in jener liegen; doch wie hier übersteigert werden kann, so daß am Ende Blockade steht oder schlechter Kompromiß, das zeigt etwa die aufgeblähte Einschaltung von Trägem öffentlicher Belange im Bau- und Gewerberecht, welche geradezu die Verhältnismäßigkeit schon verfahrensmäßig ad absurdum zu führen droht: Proportionen zwischen so vielen Größen - wie soll sich dies noch herstenen Iassen451 ? b) Die Entscheidungsstruktur selbst ist sodann, nach solcher Vorbereitung, mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit unmittelbar proportional zu gestalten: In der zugleich einheitlichen und möglichst problem-breit angelegten Dezision, im Verbot der "isolierten Entscheidung" in einem weiten Sinn.

Mit dieser Forderung gerät allerdings die Verhältnismäßigkeit in Spannung zu einem anderen Grundprinzip des Rechtsstaats: zur klaren Ordnung, zur Teilung, ja isolierenden Abgrenzung der Kompetenzen, welche allein eine wirksame Kontrolle über deren Ausübung ermöglicht452 . Nicht nur die Rechtsklarheit kann darunter leiden - diese hat sich schon als Gefahr aller Verhältnismäßigkeit herausgestellt (oben B, V) - die Sorge vor unsachlicher Entscheidung ist dann begründet: Eine Entscheidungsinstanz berücksichtigt zu vieles, ein Beamter stellt zu viele Fragen, zu lange braucht er zu deren Beantwortung. Die Spannung auch zur rechtsstaatlichen, insbesondere auch gerichtlichen Kontrolle wird deutlich: Will die Administration allzuviel in ihre Willensentscheidungen einbeziehen, so wird der Richter ebenso "aus der Kontrolle des Unüberschaubaren gedrängt", wie wenn sie ihm keine Gründe oder nur verbal solche nennt. Mehr noch: Die Bürgerfreiheit gerät in einem solchen Verständnis der Verhältnismäßigkeit in Gefahr, welches alle Nachbarbereiche jeder Entscheidung auszuleuchten unternimmt: Es kommt zur Versuchung allzu weiter und damit, gerade im Lichte der Proportionalität, letztlich allzu belastender Entscheidung - und auch noch in ihrem Namen. Häufig ist ja die punktuelle Dezision zugleich auch die den Bürger am wenigsten berührende; darauf beruht letztlich die gesamte Tradition einer Grundrechtsstaatlichkeit, welche stets eingegrenzten Eingriffen eben auch nur den beschränkten Schutz der einzelnen Freiheiten gegenüberstel451 Vgl. Bielenberg, W, in: Ernst, W.lZinkahn, W.lBielenberg, W., BauGBKomm., § 4 Rdnrn. 1. ff.; Battis, U.lKrautzberger, M.lLöhr, R.-P., BauGB-Komm., 5. Auf!. 1996, § 4 Rdnrn. 1 ff. 452 Vgl. Hesse, K, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, S. 86.

14 •

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

len wollte. Der Rechtsstaat ist an sich schon auf eine Punktualität gerichtet, innerhalb deren Verhältnismäßigkeit, mit all ihren Vielschichtigkeiten, oft nur schwer vorstellbar ist. Damit erzwingt er eine gewisse Begrenzung der Staatsmacht, weil eben der große Outer Space stets der Freiheit bleiben muß. Eine "flächendeckende" Administration453 , die sich überdies auch noch in allen zeitlichen Relationen, wie bereits erwähnt, absichern soll, steht in der Versuchung, in einer nach vorne schauenden Planung möglichst viele Bereiche eines Bürgerlebens sogleich erfassen zu wollen, was isolierte, punktuelle Dezision von vorneherein nicht versuchen wird; und schwerere Belastung durch vertiefendes Eindringen der Staatsgewalt läßt sich nicht selten leichter ertragen als flächenmäßig verbreiterter Eingriff454 . Dennoch, trotz all dieser unzweifelhaften Gefahren: Für das Verhältnismäßigkeitsdenken bedeutet "richtige", damit allein rechtmäßige Entscheidung grundsätzlich nicht den punktuellen, sondern den breiteren, weil eben schon breit informierten Zugriff. Nur sollte jedenfalls das schon erwähnte, hier notwendig kompensierende, dezisionistische Element nicht fehlen, auf der Stufe der Bewertung des Zusammengetragenen: Verhältnismäßigkeit verlangt eben auch den mutigen Schnitt, den König, der über dem materialsuchenden Kärrner entscheidet. Verhältnismäßigkeit erweist sich darin als eine Grundentscheidung, wird sie ernst genommen und " hochgerechnet " im Öffentlichen Recht, daß sie dieses voll in eine weite "Nachbarschaftsöffnung" treibt, in die Betrachtung der Allseitigkeit seiner Wirkungen. Nur allzulange hat das öffentliche Recht in der Eindimensionalität einer Betrachtung verharrt, welche fast nur den Betroffenen kannte, den Bürger allein vor seinem Hoheitsstaat. Wiederum ist ihm hier ein Privatrecht weit voraus, das, jedenfalls in der Flexibilität seines Deliktsrecht, in den Schutz- und Unterlassungsansprüchen seines Sachenrechts, stets auch "in die Nachbarschaft blickt", jede Rechtsbeziehung in ihren weitestgehend monetarisierten Auswirkungen in alle Richtungen hin verfolgt. Dem öffentlichen Recht war dies und es ist ihm heute noch zum Teil wenigstens versagt durch die Unterentwicklung des Drittschutzes455 gegen Verwaltungsentscheidungen: Wo Normen nur ihren primären Adressaten, nicht zugleich auch Dritte schützen, die "Nachbarn der Entscheidung", 453 Wie sie etwa neuerdings vor allem im Naturschutzrecht angestrebt wird, in Biotopvemetzungen, kartographischen Erfassungen und Umweltbeobachtung. 454 So ist denn auch das klassische "Schwerekriterium " des Enteignungsrechts (vgl. BVerwGE 5,143 (145); 7, 297 (299); 11,68 (75); 36, 248 (251 f.) (std. Rspr.)) insgesamt eher "vertikal" als "horizontal" gerichtet. 455 Vgl. Peine, F.-J., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 54 f. m. weit. Nachw.; Dürr, H.J.lKönig, H., Baurecht für Bayern, 3. Aufl. 1995, S. 185 ff.; Mau-

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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da besteht für die Entscheidungsinstanz insoweit keine Notwendigkeit, die Beziehungen zur "Umwelt" ihrer Entscheidungen auszuleuchten, Verhältnismäßigkeit auch in diesen, so oft entscheidenden Bezügen herzustellen. Die Versagung des Drittschutzes wirkt daher nicht selten gewaltsam, geradezu als ein Staatsprivileg, "in diese Richtungen verhältnismäßig nicht denken zu müssen". Hier hat allerdings die Wandlung bereits begonnen456 , in einem Staat der Abwägungen muß sie sich, bis hin zu optimalem Drittschutz in allen Bereichen, fortsetzen. Eine Frage des Verfahrensrechts wird es dann sein, durch angemessene Steigerung des Prozeßrisikos beim "Nachbarn" dafür zu sorgen, daß ein Zivilprozeß auf diesen Wegen nicht unterlaufen werde, der von Anfang an Drittschutz gewährt, aber dafür stets auch hat bezahlen lassen. cl In all dem steckt ein großes, noch kaum fruchtbar gemachtes staatsorganisatorisches Potential der Verhältnismäßigkeit: ein Zwang zur Sorgfalt in der Administration, in allem und jedem, wenn das Vorstehende denn ernst genommen wird - sonst wird umgekehrt" Verhältnismäßigkeit" zum verbalen Alibi gerade für mangelnde Sorgfalt; der Zwang zur breiten Berufsbildung im ganzen öffentlichen Dienst; der Zwang zu konzentrierender Organisation. Verhältnismäßigkeit wird also zum großen Staatsaufbauprinzip, anschließend an Grundprinzipien des Beamtenrechts, welche damit in die Staatsorganisation hinein erweitert werden457 . In all dem wird Verhältnismäßigkeit aber auch zur Forderung an den Gesetzgeber; er vor allem muß das zu berücksichtigende Entscheidungsumfeld jeweils möglichst genau normativ umschreiben, in "nachbarschaftsfreundlichem Sinn" . Er sollte auch immer mehr gewichten im Verhältnis zu anderen Belangen, mit deutlicheren Festlegungen, nicht nur mit der Kraft von Verstärkungsworten. Klar muß dabei sein, daß Verhältnismäßigkeit ein zwingender allgemeiner Rechtsbegriff ist, der nicht dem verwaltungs- oder einem gerichtlichen Ermessen geöffnet werden, der nicht weite Beurteilungsspielräume eröffnen, vor allem aber auch nicht durch allzuviele ebenso unbestimmte Rechtsbegriffe pseudo-konkretisiert werden darf. Hier ist das öffentliche Recht mit seinem Umweltschutz, in eine Zone neuer Turbulenzen, Unklarheiten vor allem, eingetreten. Im Namen der dort besonders betonten Verhältnismäßigkeit458 , in Abwägungsvorgänrer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Auf!. 1995, S. 151 ff.; Erichsen, H.U., Das Ver-

waltungshandeln, in: Allg. Verwaltungsrecht (hgg. v. H.U. Erichsen), 10. Auf!. 1995, S. 326 ff. 456 Vgl. Jarass, H.D., BImSchG-Komm., 3. Aufl. 1995, § 6 Rdnm. 36 ff. 457 Auf diese Grundsatzdimension macht aufmerksam Isensee, J. im Vorwort zu Leisner, w., Beamtentum, Schriften zum Beamtenrecht und zur Entwicklung des öffentlichen Dienstes 1968 - 1991 (hgg. v. Josef Isensee), 1995.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

gen, bei denen aber Materialauswahl wie Gewichtung offen bleiben, treibt der Gesetzgeber Beamte und Richter im Namen der Proportionalität immer mehr aus dem Recht, das ihnen vertraut ist, in außerrechtliche Räume. Biologische oder technische Begrifflichkeiten aber vermögen sie meist schon nur unvollständig zu erlassen, mit Sicherheit nicht mehr bewertend abzuwägen, zu ordnen. In dem Augenblick, in welchem naturwissenschaftlich-technische Begriffe dominieren459 , kann das Recht Verhältnismäßigkeit zwischen all diesen ihm unbekannten Größen schlechthin nicht mehr herstellen: Außerstaatliche Instanzen entscheiden dann an Stelle der demokratisch legitimierten Gewalten, der Rechtsstaat mit seiner besonderen Sicherung unabhängiger Richter läuft leer in Expertenmeinungen; diese wiederum lassen sich aber zueinander nicht in Beziehung setzen, wenn nicht durch eine höhere Instanz - eben doch den Beamten oder Richter, im Namen des Rechts. "Biologisiertes Recht", im Namen des Umweltschutzes, bedeutet das Ende nicht nur des Rechtsstaates, sondern auch der Verhältnismäßigkeit, die immer nur in geistig, kompetenzmäßig beherrschbaren Gegenüberstellungen gelingen kann.

4. "Unverhältnismäßige Dimensionen" im Vergleich zu Nachbarbereichen

Daß nichts allzu groß werde im Staat und in dessen Entscheidungen, kann an sich nicht ein Anliegen der Verhältnismäßigkeit sein; dies wurde bei der Betrachtung des Übermaßverbotes bereits deutlich (oben III, 4). Proportionierte Staatlichkeit bedeutet nicht den "Staat mittlerer Größe", keine Absage an die "große Lösung" als Wesen aller Staatlichkeit. Problem der Verhältnismäßigkeit ist es nicht, daß staatliche Veranstaltungen, Entscheidungen dem Bürger gegenüber vor allem, "an sich" nicht zu groß werden dMen, sondern daß dies nicht geschehe im Verhältnis zu anderem, wiederum zu allem "Benachbarten", in disproportionierter, einseitiger Staatlichkeit. Diesen letzteren Begriff wird unser Öffentliches Recht vielleicht nie kennen; allzusehr würde er in seiner Allgemeinheit die souveräne Entscheidungsmacht der Demokratie eindämmen. Und doch ist hier etwas wie eine wirkliche Staatsbau458 Vgl. etwa Bender, B.lSparwasser, R.lEngel, R., Umweltrecht, 3. Aufl. 1995, S. 102 ff.; Gassner, E., Das Recht der Landschaft, 1995, S. 44 ff. 459 Murswiek, D., Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), S. 207 ff.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das "Geheimnis der Proportionen"

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Kunst im Öffentlichen Recht gefordert; einige Annäherungs-Regeln ihrer Proportionen mögen dies verdeutlichen. - Je "näher Benachbartes" neben einer Entscheidung steht, einer Regelung, desto mehr muß es, zumindest nach der Größenordnung, in jener Berücksichtigung finden. Daß ein "disproportionierter Staatsbau " benachbarte Bfugerwelt nicht erdrücken darf, gilt heute als Selbstverständlichkeit. Vor protzigen Gewaltsamkeiten in Marmor und Beton hat die Bescheidenheit der Demokratie ihre Bürgerschaft schon faktisch, finanziell nicht zuletzt bewahrt. Was hier aber mit architektonischer Selbstverständlichkeit im Lauf ist, bedarf noch weithin der Umsetzung in den Raum normativer Gestaltungen des Bürgerlebens. Gewiß kann der Staat immer nur an einer Stelle mit großem Neuen in Gesetzgebung und Administration einsetzen, damit auch unerwartet groß dimensionierte Belastungen für den Bürger hervorbringen. Doch dies wird sogleich unverhältnismäßig dort, wo deutlich benachbarte Belange nicht mit einer auch nur annähernd gleichen Intensität verfolgt, benachbarte Interessen nicht geschützt werden - verhältnismäßig. Groß angelegte Biotopuntersuchungen und -vernetzungen sind an sich nicht unverhältnismäßig, wie immer man ihre unbedingte Notwendigkeit beurteilen mag; doch sie unterliegen dann der Kritik des Disproportionierten, wenn nicht, parallel zu ihnen, entsprechend dimensionierter Gewässerschutz einhergeht, Gesundheitsschutz im weiteren Sinne erfolgt, und Denkmalschutz, Agrarinteressen breit Berücksichtigung finden. Der staatliche Umweltschutz darf nicht Staatlichkeit als Elfenbeinturm wissenschaftlicher Laboratorien aufbauen. Geschieht dies dennoch "ohne Blick in die normative Umgebung", so drohen derartige Planungen, Gebote und Verbote rasch "überdimensioniert" zu werden, als Ausdruck unrichtiger, unzulässiger Absolutsetzung einzelner öffentlicher Belange, wie berechtigt diese an sich sein mögen. - Entsprechende Proportionsgebote gelten aber nicht nur gegenüber "sachlich nahe Benachbartem" , sondern auch in weiteren Umfeldern normativ ordnender Staatlichkeit. Grundsätzlich bedenklich ist es daher - und denn auch entsprechend kritisiert worden - wenn Staatszielbestimmungen nur einen Sektor herausgreifen, damit das allgemeine Gleichgewicht traditioneller Staatsziele schlechthin brechen460 . Umweltschutz mag "heute besonders wichtig" erscheinen; 460 Rupp, H.H., Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz?, DVBl. 1985, S. 990 (991 f.); Hoppe/Beckmann (Pn. 311), S. 50 ff. m. weit. Nachw.; Murswiek, D., Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG), NVwZ 1996, S. 222 f.; Uhle, A., Das Staatsziel "Umweltschutz" und das Sozialstaatsprinzip im verfassungsrechtlichen Vergleich, JuS 1996, S. 96 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

doch es ist nicht Aufgabe einer in größerer Zeitdimension wirkenden Verfassungsgewalt, dies besonders zu betonen, sie verfällt damit einer Spezialität, die ihr schon aus dem Verfassungsbegriff heraus fremd sein sollte. Wie könnte man denn auch behaupten, Bildung oder Kultur seien "heute weniger bedeutsam" als ein Umweltschutz, der ohne sie doch unvorstellbar ist. Die Verhältnismäßigkeit wirkt auch im Bereich der obersten Staatszwecke: Ein Staat, der überall groß denkt, mag sich in jedem seiner Sektoren große Normwerke leisten, Belastungen erlauben, so wie es Napoleon unwiederholbar vorgelebt hat. Die große Armee neben der großen Verwaltung, die große Bildung neben dem großen Recht - dies war wirklich eine Welt der Größe in Gesamt-Proportion. Ein solcher Staat darf sich andere Entscheidungen, Veranstaltungen erlauben als einer, der nur irgendwo, mit einem Mal, klotzen will, wie um seine Existenz zu beweisen, an allen anderen Stellen aber klekkert. Schon über die Gleichheit kann solche Disproportion rechtswidrig werden, bis hinunter in Entschädigungs-Streitigkeiten461 : Warum sollte der Landwirt mit einem Mal soviel an neuen Belastungen ertragen im Namen des Umweltschutzes, der Gastronom für die Volksgesundheit Opfer bringen, während doch andere Veranstaltungen sich höchster liberaler Freiheit erfreuen dürfen? Irgendwann wird der Richter das Kriterium des Unverhältnismäßigen an solche Belastungen anlegen im Namen der Gleichheit, und er wird es gar nicht mehr näher zu begründen brauchen, weil es Akzeptanz überall findet - eben aus der Unverhältnismäßigkeit dessen, was der Staat dort fordert, hier zuläßt. -

Verhältnismäßigkeit zu "Benachbartem" verlangt Rücksicht auf die gesamte jeweilige historische Entwicklung, welche von jeher die Dimension zulässiger staatlicher Gestaltungen und Umgestaltungen vor allem bestimmt hat. Im Grunde ist dies nichts anders als die Beachtung der "Verhältnismäßigkeit zu Naheliegendem in ihrer zeitlichen Dimension". Hier bedarf es auch keiner grundlegenden Neuerungen, sondern nur der Bewußtwerdung dessen, was Gesetzgebung und Gerichte ohnehin seit langem zugrundelegen, wenn auch meist ohne staatsgrundsätzliches Bewußtsein.

461 Im Rahmen der bei der Bestimmung der Entschädigungsschwelle enteignender und enteignungsgleicher Eingriffe noch anwendbaren (BGHZ 60, 145 (147); 90, 17 (26)) Sonderopfertheorie (BGHZ 6,270 ff.) wird und muß die "Vergleichbarkeit" immer weiter ausgedehnt werden - im Namen der Verhältnismäßigkeit.

IV. Die Verhältnismäßigkeit und das" Geheimnis der Proportionen"

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Im Berufsrecht etwa hat sich das, was "verhältnismäßig ist" und als solches bei Beschränkungen geachtet werden muß, meist in langer Entwicklung entfaltet; die in diesem Zusammenhang stets erforderliche Stufen-Vergleichbarkeit, bis hin zu (noch) nicht allzu Fernem, wird gewissermaßen in der Zeit hergestellt. Dies ist der tiefere Sinn von Berufsbildern, in deren Betätigungsräume in der Regel eben nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden darf. Letztlich ist das Berufsbild eine dogmatische Hilfskategorie der Verhältnismäßigkeit, gerade weil ihm, wie jener, ein besonderer Bezug zu außerrechtlicher, wirtschaftlich-professioneller Realität eigen ist462 , wie sie für die Verhältnismäßigkeit allgemein noch zu betonen sein wird. Aus ihrer Tradition heraus hat die berufsbildkonforme Tätigkeit eine gewisse Vermutung für Verhältnismäßigkeit für sich, die Abwägung hat hier eben bereits in der Zeit stattgefunden - sie wird in ihr immer wieder erneuert.

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Bestandsschutz ist ebenfalls eine mit Verhältnismäßigkeit verbundene Kategorie mit Bezug auf" Umgebung". Der Vertrauensschutz in Bestehendes, als Sicherung eines "konsolidierten" Rechts, verleiht stets ein besonderes Gewicht, wiederum aus "umgebender Realität", welches die rein zukunftsgewendete Gewinnhoffnung grundsätzlich überwiegt. Dies ist denn auch ein Grundprinzip des gesamten öffentlichen Wirtschaftsrechts: Bestandsschutz hat höheres Gewicht als Chance zukünftiger Gewinne; sie liegen noch "außerhalb jeder Proportion". Bestehendes hat sich, gerade in seiner Größenordnung, in seinen damit verbundenen Auswirkungen, bereits in längerem Zeitablauf an seine Umgebung angepaßt, zu ihr seine Proportion gefunden - vielleicht eine Gesamtproportion gestaltet463 . Daß das Bestehende nie unverhältnismäßig sei, mag als eine überspitzte Formulierung solcher Erkenntnis Kritik hervorrufen; eine Vermutung spricht dafür sicher: Das längere Zeit Bestehende hat sich eben seine Proportionen zu allem Umgebenden örtlich geschaffen, in dauernder Abwägung auch in der Zeit.

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Wer den Grundsatz ernst nehmen will, welchem diese Untersuchung gewidmet ist, ihn als Staatsprinzip anerkennt, nicht nur als grundsatzlose Orientierung ungerichteter Praxis, der wird einen gewissen konservierenden - nicht notwendig politisch konservativen -

462 Vgl. Schalz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 12 Rdnr. 268; Hesse, H.A., Der Einzelne und sein Beruf - Die Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GG durch das BVerfG aus soziologischer Sicht, AöR 95 (1970), S. 451 (468 ff.). 463 Dürr, H.J./König, H., Baurecht für Bayern, 3. Aufl. 1995, S. 176 ff.; König, G., Bayerisches Baurecht, 2. Aufl. 1988, S. 6 ff.

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c. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

Grundzug aller Verhältnismäßigkeit nicht leugnen können. Zukunftsgerichtete Staatsveranstaltungen zu Lasten des bestehenden Privateigentums müssen besonders sorgfältig auf ihre Verhältnismäßigkeit untersucht werden; die inneren Proportionen einer vorgegebenen Eigentumsordnung dürfen wohl verschoben, sie können nie, ohne Verletzung der Verhältnismäßigkeit, grundlegend gewandelt werden. Große Bodenreformen bringen stets eine Problematik des Unverhältnismäßigen mit sich: Nichts trägt so sehr wie das Grundeigentum "seine Proportionen in sich", in den über lange Zeit hinweg stabilisierten Beziehungen zu den vielen Nachbarn, wie vor allem zu dem einen großen Nachbarn, dem Staat. Die vielbeschworene Situationsgebundenheit464 des Bodeneigentums, welche dem Staat entschädigungslosen Zugriff gestattet, wirkt andererseits auch, im Namen der Verhältnismäßigkeit, seinen Reformbestrebungen entgegen: "Situation" ist nichts anderes als Ausdruck vielfacher Verhältnismäßigkeits-Relationen, in die ein Grundbesitz in der Zeit hineingewachsen ist, aus denen er nicht, durch übermäßige Eigentumsbelastungen, gewissermaßen isolierend, herausgerissen werden darf, ohne daß angemessene, d.h. eben wieder: eine diese Verhältnismäßigkeit beachtende Entschädigung dafür geleistet würde. Wenn Besitz, örtlich und historisch "eng beieinanderliegend entstanden ist", so darf er nicht, durch staatlichen Zugriff, aus diesen Proportionen gerissen werden, indem das eine vollends belassen wird, anderes nahezu aufgegeben werden muß; dieser Vorwurf wird der Aufrechterhaltung der kommunistischen Bodenreform im Osten Deutschlands bleiben: Hier hat man eine bisher unbekannte, geradezu in ihrer Größenordnung revolutionierende und revolutionäre staatliche Gestaltung gewissermaßen isoliert "in der politischen Landschaft stehenlassen,,465, ohne den ernsthaften Versuch der Herstellung einer Verhältnismäßigkeit des Opfers über Entschädigung und Ausgleich.

Reformieren mag der Staat ein bestimmtes Rechtsgebiet mit seinen Institutionen; doch die Verhältnismäßigkeit verbietet es ihm, disproportionierend einen Teil herauszugreifen, eine Lage zu schaffen, in welcher Privilegien dann zu Belastungen, wie es der gemeine 464 Vgl. Peine, F.-J., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 254 ff. m. weit. Nachw.; Leisner, w., Situationsgebundenheit des Eigentums, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 19, 1990, S. 5 ff. = Leisner, w., Eigentum, 1996, S. 206 ff.; BGHZ 72, 211 (216 ff.); 87, 60 (71 ff.}; 90, 17 (25). 465 Vgl. Leisner, w., Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S. 1513 ff. = Leisner, w., Eigentum, 1996, S. 673 ff.

V. Abwägung: Machtausübung durch Persönlichkeitsentscheidung

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Sprachgebrauch ausdrücken würde, "in gar keinem Verhältnis mehr stehen" - weil eben die einen wie die anderen " ohne jeden Blick in die Umwelt" konzipiert erscheinen. -

Eine solche "Disproportion in umgebender Landschaft", welche jeden Rahmen von Staats harmonie zu sprengen droht, erwächst immer wieder aus politischen Moden, Strömungen des "Zeitgeistes". In juristischer Sicht mußte das stets bedenklich erscheinen; in vertiefender Betrachtung der Verhältnismäßigkeit findet es nun die Anknüpfung an eine Staatsgrundsätzlichkeit: Diese Ausgewogenheit verlangt klare Absage an einen" Staat der Staatsmoden " . Die Staatlichkeit muß sich, im Namen des hier untersuchten Prinzips, eben grundsätzlich fortbewegen in einer gewissen Kontinuität, in "ihrer ganzen Zeit", mit ihr, rechtlich gesehen aber vor allem: "auch nach nach ihr". In diesem Sinn ist alle Staatlichkeit stets wirklich konservativ zu verstehen, ganz notwendig, weil sie sonst flattern müßte wie eine Sturmfahne, wo sie doch ein festes, erzenes Monument bleiben sollte; sonst bricht das in modischer Kurzatmigkeit aus seiner Umgebung Gerissene in Unverhältnismäßigkeit die Gleichheit; die andere Waagschale bleibt leer. So führt die wesentlich flexible Verhältnismäßigkeit, mit ihren vielfachen, stets durchgehend zu berücksichtigenden Bezügen, am Ende in Ausgewogenheit zur" temperierten Staatsform" , zur mäßigenden, alles in Verhältnismäßigkeit einbauenden Mischung. Und läge nicht auch darin ein tieferer Sinn der aristotelischen gemischten, der eben darin besten Staatsform?

Wenn sich der Abwägungsstaat in diese Richtungen bewegt, welche in den vorstehenden Kapiteln angesprochen wurden, wenn ihm dies in rechtsstaatlicher, normativer Faßbarkeit gelingt, so liegt hier die Chance zur Entfaltung einer wirklich neuen, "guten" Staatsform. Doch Abwägungsstaatlichkeit muß auch, konsequent fortgedacht, zu Entwicklungen führen, welche die Freiheit, ja den sie bewahrenden Staat, gefährden könnten. Daher sei Wachsamkeit angesagt gegenüber einer solchen ambivalenten Machttechnik, wie das folgende zeigen wird.

v. Abwägung: Machtausübung durch Persönlichkeitsentscheidung Annäherungen an den Begriff der Verhältnismäßigkeit wurden, aus der klassischen Suche der Proportionen und in Verbindung mit vielfachen, meist wenig reflektierten Entwicklungen der Praxis, vorstehend

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

versucht. Nun gilt es, jene "Hochrechnung zum VerhältnismäßigkeitsStaat" zu be enden in Betrachtungen zu dem, was er, wird das Wort nur ernst genommen, letztlich bringen muß, darin manche Grundstrukturen heutiger Staatlichkeit verändernd - und nicht ohne Gefahr für die Freiheit.

1. Abwägung - eine Aufgabe für Persönlichkeiten

"Persönlichkeit" ist ein "an sich unverhältnismäßiger Begriff"; in ihrem absoluten verfassungsrechtlichen Höchstwert der Menschenwürde schlägt sie wertungsmäßig immer durch, sie überwiegt nicht nur (siehe schon oben VIII, 2). Doch zugleich soll Verhältnismäßigkeit als Rechtsprinzip verhindern, daß die Staatsgewalt allzu tief eindringt in weitere, ebenfalls persönlichkeitsgeprägte Bereiche der Grundrechte. Nicht um diese Bedeutung des Verhältnismäßigen aber geht es hier, sondern um Persönlichkeit als letzten Entscheidungsträger aller Abwägung. a) Abwägung ist letztlich stets ein Vorgang "in Distanz zur Norm": Diese mag einfließen in ihre entscheidende Phase, in die Gewichtung des Abzuwägenden. Sie aber wird stets einer persönlichen Entscheidung des berufenen Staatsorgans im letzten vorbehalten bleiben, in einer Unkontrollierbarkeit, welche als rechts staatliche Gefahr bereits erkannt wurde (oben B, VI). Hier sollte aber die Legalität ihren Frieden mit der Persönlichkeit ihrer Abwäger machen: Sie muß ihnen das große Organvertrauen immer weiter schenken, in dem sie Beamte und Richter, im Namen gerade einer möglichst alles berücksichtigenden Verhältnismäßigkeit, nicht nur vertiefend, sondern vor allem verbreiternd ausgebildet hat und ständig in diesem Sinne fortbildet - als Einheitsjuristen vor allem, die größere Proportionen zu übersehen vermögen. Das Geheimnis der menschlichen Persönlichkeit, der Person im Recht schlechthin, ist vom Grundgesetz in seiner Menschenwürde "dogmatisiert", als höchster, unantastbarer und undurchdringlicher Wert gesetzt, dem Staat vorgegeben worden. Dies prägt auch die Staatsorganisation: In den Abwägungsvorgang, in dessen letzte Höchstpersönlichkeit, kann und darf der Staat nicht mehr normativ eindringen, den Persönlichkeiten, welche hier die Staatsgewalt tragen, in ihrer letzten und entscheidenden Phase zur Anwendung bringen, muß sich eben der Bürger anvertrauen; darin ist er nicht mehr gewaltunterworfen, er bleibt jedoch, in einem neuen Sinne, persönlichkeitsunterworfen. Die rechts staatliche Hoffnung, daß nur mehr Gesetze herrschen sollen, nicht mehr Menschen, ist für immer unerreichbar, eine staatsrechtliche Fata Morgana.

V. Abwägung: Machtausübung durch Persönlichkeitsentscheidung

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Den Rahmen der Betrachtungen würde es sprengen, hier nun vertiefend darüber nachzudenken, daß dies eine ganz natürliche Folge aus dem Persönlichkeitsbegriff der abendländischen Kultur schlechthin sein könnte. Woraus erklärt sich denn, wodurch definiert sich die "Persönlichkeit" in unserer Geistesgeschichte, wenn nicht aus ihrer abwägenden Entscheidungskraft, in welcher der Wille schaffende Folgerungen aus berücksichtigend Erkanntem zieht? Persönlichkeit "ist" darin, daß sie nicht nur denkt, sondern abwägt, daß sie darin die beiden entscheidenden Persönlichkeitskräfte verbindet, den erkennenden Geist wie den entscheidenden Willen, einbindend vielleicht sogar noch ein Gefühl, welches so oft den letzten Ausschlag gibt, auch in den kühlen Räumen staatlicher Entscheidung. Der Abwägungsvorgang ist etwas Höchstpersönliches, letztlich in den Kern der Persönlichkeit des Abwägenden verlagert; hier endet jede Unterscheidungsmöglichkeit zwischen "Grundverhältnis" und "Betriebsverhältnis,,466, etwa des Beamten, in der Einheit seiner Persönlichkeit. Irgendwo wird damit jeder so Entscheidende zu etwas wie einem unabhängigen Richter; der Staat verzichtet, jedenfalls de facto, auch in der anordnungsunterworfenen Administration, weithin auf Vorgesetzte und Befehle; darin liegt eine tiefe Legitimation des Berufsbeamtentums. Und wenn sie es noch nicht sind - Persönlichkeiten werden in Abwägung. Wer also dieses Wort, oft so leichthin, ausspricht, muß wissen, daß er damit in die traditionelle normative Rechtsstaatlichkeit eine gewisse Schwäche legt, ihr jedenfalls aber eine neue Richtung gibt: Sie findet ihre Vollendung, ihren höchsten und letzten Ausdruck, nicht mehr in Normen, sondern in Persönlichkeiten, welche diese wägen, Verhältnismäßigkeit herstellen in abwägender Subsumtion der Realität unter sie. Deshalb auch nur konnte das klassische Zivilrecht eine Ordnung des interessenausgleichenden Abwägens von Anfang an sein, weil hier nicht der befehlsunterworfene Beamte zunächst die rechtlichen Daten setzte, sondern, von Anfang an und in unmittelbarem Realitätsbezug, die freie Persönlichkeit des Praetor; das Recht entfaltete er aus seiner Abwägungsgewalt und in ihr, als Personifikation des römischen Imperiums, in seiner vollsten Wortbedeutung, von der Befehlsgewalt bis zur Reichsordnung. Etwas von dieser alten Magistratur lebt fort, in der Zweiten wie in der Dritten Gewalt unseres Staates, wenn er Verhältnismäßigkeit walten läßt - vielleicht sollte es heißen: zu ihr zurückfindet. b) Wer ist nun aufgerufen zu solcher Abwägung - das ist die weitere, verfassungsorganisatorische Grundfrage an eine Staatsform, die sich 466 Ule, C.H., Beamtenrecht, 1970, § 126 BRRG Rdnr. 1; Hilg, G., Beamtenrecht, 3. Aufl. 1990, S. 412 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

wohl in Verhältnismäßigkeit wandeln wird. Es sind die "in Persönlichkeit bleibenden Staatsgewalten " , nicht die "in Politik sich wandelnden" . Abwägung ist, das zeigte sich schon (oben IV, 3, 4), ein Vorgang in notwendiger Kontinuität, stets wesentlich in der Zeitdimension. Dies ist übrigens sogar eine notwendige Konzession an den normförmigen Rechtsstaat: Nur in dauerndem Wägen, in ständig gleichförmigen derartigen Vorgängen, mit gleichgeeichten Waagen, kann das unbedingt nötige Minimum an Normförmigkeit auch in dieser Normverfeinerung noch hergestellt werden - vielleicht sogar noch als ein erwünschtes Gegengewicht zu wechselnden Normfluten demokratischen Regierens 467 . Denn dies darf ja nicht vergessen werden: Das Vertrauen in die Verhältnismäßigkeit, der steigende Gebrauch dieses Wortes, auch ohne jenes Grundsatzbewußtsein, welches wir hier entfalten wollten - all dies zeigt eine für die Staatsform gefährliche Demokratiemüdigkeit: In Verhältnismäßigkeit sollen doch die ständigen Normspitzen gebrochen werden, in welchen die Volksherrschaft zu ihrem Fortschritt anstacheln möchte. Nicht die ständig oder auch nur periodisch in ihrer Zusammensetzung wechselnden Organe sind die eigentlichen, die geborenen Abwäger; es ist vielmehr jene Verwaltung, die besteht, auch wenn politikgetragene Verfassung mit ihren Organen vergeht, wenn in ihrem Namen politische Mehrheiten abtreten müssen. Vor allem aber wird das Zentrum der Abwägung stets bei einer Gerichtsbarkeit liegen, die in einer persönlichkeitsmäßig nur unmerklich sich verschiebenden Machtpyramide stehen bleibt. Hier müßte nun eigentlich eine Dogmatik des unfaßbarsten Rechtsbegriffs beginnen: jener "Praxis", welche Abwägung zur vertrauenschaffenden para-normativen Kraft emporwachsen läßt. "Gesetzgebungspraxis " ist in der Demokratie auf Gesetzgebungstechnik letztlich beschränkt - oder sie ist ein undemokratisches Wort, weil Abwägung, bei aller Verantwortung des Gesetzgebers, auch für sie, (oben U, 4), immer primär bei anderen Gewalten liegen wird, die eben fest in ihrer "Praxis" stehen, und deren Proportionen von ihr getragen werden: Exekutive und Judikative. Darin gerade bewährt sich ja auch die Persönlichkeit des Abwägenden, daß er sich dem demokratischen Grundmuster entziehen kann, welches letztlich zu einer Form der Entpersönlichung führen muß, auch wenn es gerade im Namen der Persönlichkeit angelegt ist: der ständigen "Verantwortung", der Drohung mit den negativen Konsequenzen 467 Was das BVerfG als Legitimation für das Berufsbeamtentum angesprochen hat (BVerfGE 3, 58 (136 f.); 64, 367 (378 f.)), und was für die Richterschaft, jene "Super-Beamtenschaft in Sicherheit", erst recht gilt.

V. Abwägung: Machtausübung durch Persönlichkeitsentscheidung

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jeder unrichtigen Entscheidung. Abwägung braucht solche Sanktionen nicht zu befürchten, soweit geht sie an sich schon nicht, daß ihren Trägem Entlassung drohen müßte; skandalträchtige Übertreibung, Einseitigkeit sogar ist ihr eben wesensfremd. Unabhängig kann nicht der "Volksrichter" sein, der politische Schauprozesse in Sonderrecht entscheidet, reine Dezision einsetzt, nicht vorsichtige Abwägung. Die richterliche Unabhängigkeit ist nichts als das Folgeprivileg der wesentlichen richterlichen Abwägung. Weil politische Verantwortung im letzten entpersönlichend wirkt, ist auch der demokratische Richter niemandem verantwortlich - er bleibt Persönlichkeit. Viel bedeutsamer noch ist eine weitere Folgerung: Selbst die richterähnlich abwägende vor-judikative Verwaltung steht in ihren wesentlichen Abwägungsvorgängen gerade nicht in "demokratischer Verantwortung", was immer Verfassungsdogmatik zu parlamentarischer Verantwortlichkeit der Exekutive bisher gefordert haben mag. Ihre Abwägungsentscheidungen kann keine politische, zwischengewaltliche Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament je wirklich erfassen. Erst die große, ihrem Wesen nach aus jeder Verhältnismäßigkeit tretende Entscheidung ist es vielmehr, welche im wesentlichen das Parlament "sehen kann", eben in ihrer abwägungsfreien, unverhältnismäßigen, hochpolitischen Größenordnung. Deshalb sollte auch der Begriff der "Kontrolle,,468 für die Überwachung der Exekutive durch das Parlament nicht mehr verwendet werden, hat er doch nichts zu tun mit jener gerichtlichen Überprüfung, aus welcher der juristische Kontrollbegriff kommt. 2. Ende eines Entwicklungskreises: Zurück zur "Persönlichung der Macht" Der Staat der Verhältnismäßigkeit bewegt sich, langsam, vielleicht unmerklich, in einer Kreisbewegung zurück zu persönlichen Strukturen der Machtausübung469 . Am Anfang der modemen Staats entwicklung stand, wie überall, Persönliche Gewalt, eine Macht, die nicht nur in ihren Trägem, sondern auch in den durch jene geprägten Strukturen, ihr Zentrum in der Einmaligkeit des "personenhaften" Befehlens fand. Dem Feudalismus sollte es am Ende nicht gelingen, seine an sich un-, wenn nicht antipersönlichen Machtelemente hinreichend zum Tragen zu bringen, in seinen vielfachen "Traditionen", den Vorstellungen eines Stern (Fn. 1), S. 973 f., 988 ff. Leisner, w., Der Führer - persönliche Gewalt Staatsdänunerung? 1983. 468

469

Staats rettung oder

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

"aristokratischen Hauses", einer Familie, welche die nötige oligarchisierende Mäßigung der fürstlichen Befehlsgewalt hätte schaffen können, zu Zeiten hervorgebracht hat. Die "Extrempersönlichung" der absoluten Monarchie rief, ein für allemal, die extremen Gegenkräfte des Demokratismus auf den Plan, mit ihnen setzte die grundsätzliche Wendung moderner Staatlichkeit zur Entpersönlichung ein. Zwar fand in der rechtlich souveränen Gewalt, in der Gesetzgebung, eine Vervielfachung der Persönlichkeit statt, in den Parlamenten, welche Bürgerpersönlichkeiten spiegeln sollten. Gerade darin aber erfolgte bald der Umschlag ins Unpersönliche, soweit nicht Parlamentsführerschaft sich durchzusetzen vermochte. Überlagert wurde dies noch durch entpersönlichende Normvorstellungen, Normfiktionen. So geriet die Demokratie immer mehr zum "unpersönlichen Staat". Im laufenden Wechsel der Herrschenden, durch die Mechanismen demokratischer Verantwortung, entfernte sich die Volksherrschaft immer weiter von jenem Persönlichkeits begriff, aus dem sie doch geboren war: bis sie ihre eigenen Kinder vertilgte, jene Persönlichkeiten, die sich ihren rasch wechselnden Moden zu widersetzen versuchten. Gegen all diese Entwicklungen gibt es kein demokratie-immanentes Heilmittel, keine institutionelle Gegenbewegung, welche Demokraten nicht odios erscheinen müßte. Nur in institutioneller Verdeckung, in den unverantwortlichen obersten Leitungsgremien von Bundesverfassungsgericht, Bundesbank, Rechnungshöfen, begibt sich die Volksherrschaft auf die Suche nach ihrem Gegenbild, in neuer nicht Persönlicher Gewalt, sondern Persönlichung der Gewaltausübung. So können heute bereits Instanzen genannt werden, welche wesentlich dem Abwägungsstaat zuzurechnen sind, deren eigentliche Aufgabe die Herstellung einer flexiblen, schwebenden, aber doch einer nicht revolutionierenden, nicht Proportionen durchbrechenden Verhältnismäßigkeit stets sein wird; und zu ihnen gehört letztlich alle Gerichtsbarkeit, die letzte Hoffnung in niedergehender persönlichkeitsloser - oder persönlichkeitspervertierter - Parteiendemokratie; Italien hat es gezeigt. Dann aber gilt es, am Ende einer Betrachtung der Verhältnismäßigkeit diesen Begriff staatsorganisatorisch noch weiter "hochzurechnen": Wo immer er auftritt, werde er nun systematisch oder, wie so oft, scheinbar nur im Einzelfall eingesetzt - überall dort wird ein Kreislauf zu Ende gegangen, der einst mit persönlicher Gewalt begonnen hatte. So weit auch der vorsichtig abwägende Beamte und Richter unserer Tage entfernt sein mag von den wuchtigen Persönlichkeiten der Führung in alten Zeiten - gemeinsam ist beiden, daß sie aus ihrer Persönlichkeit heraus im letzten entscheiden, mag diese sich auch in vielen Generationen verfeinernd entwickelt haben; es bleibt eine letzte Gemeinsamkeit

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VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht"

zwischen dem, was einst aus Nonnunwissenheit kam, und einem anderen, das nunmehr, in Verhältnismäßigkeit, zur Nonnüberhöhung werden wird. So ist denn Verhältnismäßigkeit in diesem Sinne wirklich eine" Technik der Macht" - einer persönlichen, heute humanen, humanisierten. Solange sie aus gebildetem Geist kommt, wird sie sich selbst ihre Grenzen setzen, vielleicht allzusehr oft nur aus Grenzen zu bestehen scheinen. Doch hohe Verfeinerung des Rechts kann umschlagen in wahrhaft barbarische Gewalt, und immer dann droht dies schon heute, wenn die Waagen in Hände gelegt werden, die nicht mehr ein Geist des großen, klassischen Proportionendenkens hält. Verhältnismäßigkeit bleibt darin beides zugleich: höchste Gerechtigkeitschance und furchtbare Machtversuchung.

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht" 1. Abwägung als Öffnung zur Realität

In Verhältnismäßigkeit will sich der Staat der Nonnen vollenden doch gerade sie wird ihm zur Gefahr; wenn sich diese Entwicklung steigert, dann tritt "Abwägung an die Stelle der Gesetze". Rechnet man ihre vielen, kleinen Phänomene hoch zum Abwägungsstaat, so könnte darin eine viel größere Entwicklung beginnen: Vom Rückzug der Gesetze zum Rückzug des Rechts. Der Rechtsstaat hatte, in seinen dogmatischen Anfängen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, wohl die wunderbare Geburt des Rechts aus der Realität erkannt, das alte ex facto oritur ius als "nonnative Kraft des Faktischen" zum Axiom zugleich und zum Dogma der neuen Staatlichkeit der Gesetze erhoben. Doch dann sollten seine Nonnen die Realität eben doch gestalten; außerhalb ihrer großen dogmatischen Gebäude wollte das Recht die Wirklichkeit bald nicht mehr kennen, mit Kelsens Staatslehre war es erreicht. Doch das tandem usque recurret der aus den Portalen des Rechtstempels vertriebenen Wirklichkeit ließ sich nicht aufhalten: In unseren Tagen kehrt sie zurück, insgeheim und leise, vor allem im Abwägungsstaat. Die rechtsschöpfende Kraft der Realität wirkt hier nicht bewußt, doch damit nur um so stärker. a) "Abwägung mit Realitätsbegriffen

11

Abwägung findet im Recht gewiß nicht nur statt zwischen gesammelten und gewichteten Tatsachen; mit Nonnabwägung beginnt vielmehr 15 Leisner

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

alle Verhältnismäßigkeit, dies hat sich bereits gezeigt (oben I, 1). Nur in den vielfachen Rahmen gesetzlicher Vor-Wertungen findet der Abwägende zu seiner Freiheit. Doch die Gesetze, deren Hannonie es hier herzustellen gilt, sind eben "realitätsgeöffnet" , deshalb nur in Wägung anwendbar. Die Flucht aus der Begriffsjurisprudenz tritt der Staat an mit einem Recht, das immer mehr, immer weitere Begriffsinhalte hereinnehmen will in seine Ordnungen, welche in anderen Bereichen sich entfaltet haben, in Technik und Biologie, Kultur und Ästhetik. Natur- und Denkmalschutz sind heute geradezu schon klassische Beispiele einer weiten begrifflichen Öffnung des Rechtes zur Realität, in welcher die Nonnabwägung letztlich bereits übergeht in Hannonisierungsversuche von Fakten. Jedenfalls werden diese durch andere Begrifflichkeiten geordnet als solche des Rechts; für dieses jedoch bleibt es bedeutungslos, ob eine bereits geistig vor-geordnete Wirklichkeit in seine Begriffe drängt oder nur unmittelbar das rohe Faktum. Darin vor allem fühlt sich der Jurist von den Geboten der Abwägung so häufig überfordert, daß er Realitäten ordnen soll, ohne daß ihm das Recht die gewohnten Kanäle seiner Begrifflichkeit bereitstellt. Mit dem Zauberstab des "unbestimmten Rechtsbegriffs " sollen dann Fakten zu Recht werden; doch diese Begriffe sind unbestimmt nicht als Rechtsbegriffe, sondern eben darin, daß sie letztlich mit dem Recht nichts gemein haben, daß es Tatsachenbegrifflichkeiten sind, welche hier in das Recht einbrechen. Denn eines sollte doch, als Erbe der Begriffsjurisprudenz, klar sein: Den "unbestimmten" Rechtsbegriff dürfte es eigentlich als solchen nicht geben - das Recht bestimmt sich aus Bestimmtheit. Wenn hier nun aber die "Schönheit der Landschaft" abzuwägen ist gegen das "Erholungsbedürfnis des Bürgers" - was ist da anders als ein Zusammenstoß rechtsfreier Räume? In einer Abwägungsbegrifflichkeit, die rechtlich gesehen keine solche ist, werden unmittelbar Fakten zum Recht. b) Breite Stoffsammlung -

Dominanz der Realität

Abwägung ohne Stoffsorgfalt kann es nicht geben (oben IV, 3). Gerade diese erste, noch am deutlichsten faßbare Phase des Abwägungsvorgangs bringt einen Einbruch der Realität ins Recht. Dessen "unbestimmte Begriffe" müssen nun ja erfüllt werden, nicht in rechtlichen Überlegungen, sondern in Tatsächlichkeit. Mit der Rechtstatsachenforschung hat dies Bibliotheken hervorgebracht, ohne daß bewußt geworden wäre, wie sich hier das Recht wandelt, und sein Staat. Dabei findet der erwähnte Einbruch der Wirklichkeit sogar auf zwei Stufen statt: zunächst schon auf nonnativer Höhe, in der Transfonnation der Rechtstat-

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht"

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sachen-Erkenntnisse in Norminhalte; sodann, bei der Subsumtion des Einzelfalls unter derart "faktizierte Gesetze", in einer Rechtstatsachensuche ad hoc. Mit derselben Methodik sollen die Norminhalte festgestellt, das Maß bestimmt - und die Subsumtion im Einzelfall darunter geleistet werden. Eine Betrachtung der Abwägungspraxis zeigt, welche Übermacht hier die Realität gewinnt über rechtliche Überlegungen und Wertungen: Die Aufbereitung der Sachverhalte beschäftigt den entscheidenden Richter, wie den gestaltenden Verwaltungs beamten, in der Regel unverhältnismäßig mehr und länger als die darauf folgende Gewichtung und der Abwägungsvorgang selbst. Mehr noch: Hier zeigt sich, daß in der Stoffsammlung bereits, spätestens in der "besonderen Sorgfalt", mit welcher sie erfolgen soll zur Herstellung einer Verhältnismäßigkeit, die Wirklichkeit übermächtig wird, daß das Außerrechtliche mit seinen Ordnungskategorien, wo es denn solche bereits gibt, das Recht überzieht, verdrängt, ersetzt. Anwender des viel diskutierten "Rechts der Technik" können ein Lied davon singen; doch die Dogmatik des öffentlichen Rechts hat es bisher kaum vermocht, mehr beizutragen als eine Betonung der letzten Schiedsrichterrolle von ~ichtern, Juristen überhaupt, obwohl deren Realitätsferne meist schlechthin zur Inkompetenz werden muß. Doch selbst wo sich Realitätserfassung und ihre rechtliche Bewertung noch trennen lassen, wo sich die Realität noch einigermaßen ordnen läßt durch die herkömmlichen Kategorien des Rechts, da beginnt eben der in Stoffsammlung die Abwägung Vorbereitende, auf grund immer längerer, realitätsnäherer Beschäftigung, als "außerrechtlicher Spezialist" zu denken. So begegnet man Bau-Richtern, die sich mehr als Architekten fühlen denn als Wahrer der Rechtsordnung, Immissions-Richtern, welche ihre technische Berufung erkannt haben, ihr sich hingeben. Ein anderer Ausweg bleibt solchen Abwägern auch nicht, sollen sie nicht zu dem werden, was Juristen am meisten verabscheuen - die Abwertung von "Liebhaberpreisen", "Amateurtätigkeiten" zeigt es -, zu Rechtsamateuren, zum Spielball der Experten. So drängt die Sorgfalt der Stoffsammlung Richter und Administratoren immer mehr aus ihrem Recht, in die Wirklichkeit ihrer Materie. c) Wertung -

Kraft der Wirklichkeit -

"Interessen als Recht"

Wird nach solcher, bereits den Geist der Abwägenden wahrhaft "entrechtlichenden " Stoffsammlung die Wertungsphase der Abwägung erreicht, ist sie als selbständiger Vorgang überhaupt noch bewußt, nicht bereits in der Materialsuche aufgegangen, so gewinnt erst recht die 15 •

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

Kraft der Wirklichkeit die Oberhand. Wie sollten denn nun die "Interessen des Eigentümers" anders bestimmt werden als durch ihr finanzielles Gewicht, mit Blick auf die ökonomischen Möglichkeiten, welche hier beeinträchtigt werden könnten? Nun mag man dies als Wesen jeder Tatsachensubsumtion anerkennen, indem eben konstatierte Fakten in Normbegrifflichkeiten einzuspeisen sind. Die Besonderheit der Abwägung liegt jedoch darin, daß die Gesetze hier nicht derart enge, begriffsjuristische Rahmen vorgeben, daß die Tatsachenerfassung sich nun wirklich auf Feststellungen zu beschränken hätte, wie im Falle des "überhängenden Zweiges" im Nachbarrecht. Vielmehr müssen die Fakten, nach ihrer Feststellung, erst quantifiziert und sodann qualifiziert werden; beide Vorgänge aber laufen weitestgehend rechtsfern ab, in ihrer Gewichtigkeitsbestimmung. Erst dann, wenn die Gewichte dergestalt festgelegt sind, beginnt der eigentliche, bekannte rechtsbegriffliche Subsumtionsvorgang. Voraus aber liegt eine rein wirklichkeitsbezogene Wertung, letztlich schon die Gewichtung schlechthin. Sie erfolgt nicht nur für jeden Interessenkomplex gesondert, vor-, außerrechtlich wird auch der Vergleich angestellt, aus dem sich dann die Abwägungsentscheidung bereits ergibt. All dies ist eben ein Hantieren mit rechtlich unbestimmten, weithin unbestimmbaren Größen; juristisch relevant werden sie nicht in rechtlichen Bewertungsvorgängen, sondern in rein außerrechtlicher, meist ökonomischer Schau. Das Recht versucht auch derartige Vorgänge wieder in seine Bahnen zu lenken, doch es gelingt ihm dies nur durch Global-Begrifflichkeiten, die an sich rechtlich nichts mehr aussagen. So geschieht es hier mit dem Begriff der "Interessen". "Noch-nicht-Rechte" sollen dies sein, im öffentlichen Recht wird beides stets gegenübergestellt - und kann doch nie überzeugend abgegrenzt werden470 . "Recht" ist eben das normativ bereits begrifflich faßbar Verfestigte, Interessen sind wesentlich außerrechtliche Gewichtigkeiten; sie werden dann rechtsrelevant, wenn sie "besonders bedeutsam" erscheinen, in außerrechtlicher Größenordnung eben ein gewisses Maß der Beachtlichkeit erreichen, an welchem der Abwägende nicht mehr vorübergehen kann. Wo die Rechtsordnung ein dichtes Netz gesetzlicher Begrifflichkeit zur Verfügung stellt, mag sie die Realität unter ihre Feststellungen zwingen und durch ihre engen Raster; darin wird rechtliche Selbstgewichtigkeit erreicht. Ist jedoch eine Gewichtung der Fakten nur mehr in außerrechtlicher Selbstgesetzlichkeit vorstellbar, nach Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie oder der Technik, so hilft es dem Selbstand des Rechtes wenig, 470 Maurer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Auf!. 1995, S. 152 f.; Kopp, F.O., VwGO-Komm., 10. Auf!. 1994, § 47 Rdnm. 25 ff.; Redeker, K./v. Oertzen, H.-J., VwGO-Komm., 11. Auf!. 1994, § 47 Rdnm. 23 ff.

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht"

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wenn all diese Gesetzlichkeiten global einfach ins Recht transformiert, letztlich doch nur - als Recht ausgegeben werden. Die "Rechtswerdung der Interessen" zeigt deutlich, daß dieser Vorgang des Zusammenpralls der Wirklichkeit mit den Kategorien der Jurisprudenz bisher nicht bewältigt werden konnte. Wenn entgegen aller öffentlich-rechtlichen Dogmatik die Interessen, in ihrer außerrechtlichen Mächtigkeit und Massierung, eben doch über Abwägung ins Recht einbrechen, dann ist da im Grunde nichts anderes als eben wiederum - "Fakten als Recht". In der Gewichtung der Verhältnismäßigkeit setzt sich die Realität durch, unter einem dünnen Mäntelchen normativer Scheinbegriffe. Der Abwägungsstaat wird zur Ordnung außerrechtlich gewichteter Fakten, weil die Normen, die damit zu gewichten er vorgibt, im Grunde in diesen verfeinernden Niederungen bereits ihre Aussagekraft verloren haben. d) Recht des Einzelfalles - nicht in ihm

Alles Recht blickt stets auf den Einzelfall; doch die Verhältnismäßigkeit gewinnt ihr Recht aus ihm. Berufung auf den Einzelfall leitet nahezu jede Verhältnismäßigkeitsüberlegung ein, in Gerichtsurteilen oder Verwaltungsentscheidungen. Seine "besonderen Umstände" rufen erst eine Abwägung auf den Plan, welche die harten Normschemata flexibilisieren soll, hin auf Gerechtigkeit. Dogmatisch gesehen ist damit Abwägung letztlich nichts anderes als ein Vorgang der Gesetzesdurchbrechung, den aber der Rechtsstaat als solchen nicht dulden will, den es seit der Ächtung der Weimarer Verfassungsdurchbrechungen nicht mehr geben soll. Ein solcher Vorgang muß sich doch wiederum, so will es die Legalität, auf eine Norm stützen können - die Verhältnismäßigkeit steht bereit, als oberster Staatsgrundsatz sogar. Doch hinter ihr verbirgt sich hier, letztlich, nur Außerrechtliches, die ebenso einfache wie im Grunde rechtswidrige Feststellung, daß alle jene Normen, deren Anwendbarkeit man zunächst in langen dogmatischen Ausführungen festgestellt hatte, nun eben doch nicht gelten sollen, in einem Einzelfall, auf den sie aber, wie auf alle anderen Einzelfälle, begrifflich zugeschnitten sind. Die eigentliche Legitimation dieser Nichtanwendung, dieser echten "Normverwerfung" , nicht nur durch den Richter sondern auch, auf breiter Front, durch die Verwaltung - und den Zusammenhang von Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem vieldiskutierten Normverwerfungsrecht der Adrninistration471 hat man bisher, soweit ersichtlich, nie hergestellt - sie liegt allein letztlich in einem: Die Tatsachenlage ist hier eine andere, besondere - im Einzelfall eben. 471

Vgl. f. viele Maurer (Fn. 470), S. 81 f.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

Damit sucht sich dieser Einzelfall sein Recht selbst, er ist wie durch ein "ganz anderes System gesteuert" als das der "für alle Fälle geltenden" Normen, eben durch seine besondere, unverwechselbare, eigengesetzliche Faktizität. Nicht umsonst wurde die Persönlichkeit als Grundlage des Abwägungsstaats im vorhergehenden Kapitel erkannt; zu dieser" persönlichen Selbstgesetzlichkeit" kommt nunmehr die sachliche des Einzelfalles es ist, als sei alle Verhältnismäßigkeit ihrem Wesen nach nichts anderes als "Selbstgesetzlichkeit außerhalb aller Normen", Selbstgesetzlichkeit der Einzelentscheidung. Nicht im Einzelfall werden die Gesetze, und sei es auch in einer besonderen Weise, angewendet, sie treten vor dem Einzelfall und seinem Recht schlechthin zurück. Diese "Legalität des Einzelfalles" bedeutet nichts anderes als wiederum - "Fakten als Recht". Gegenüber einem solchen "Recht aus Faktizität" mag man sich fragen, welchen Sinn eine dogmatische Vertiefung der Verhältnismäßigkeit überhaupt noch haben kann. Daß bisher kaum mehr gelungen ist als die Entfaltung höchst formaler Kategorien, im übrigen die Beschreibung einer Praxis, welche letztlich nur der Realität folgt - wirkt in all dem nicht schon Denaturierung des rechtlichen Denkens als solchen in Faktizität? Sicher werden hier unübersteigbare Grenzen einer Dogmatisierung des Abwägungsstaates liegen, den man weit eher als einen realitätsoffenen beschreiben kann, als er sich in den Einzelheiten einer Abwägungstechnik erfassen läßt. Auch die Frage nach" Verhältnismäßigkeit als Machttechnik " muß sich an dieser Stelle wieder aufdrängen: Wie kann etwas als "Technik, als verfeinerndes Anwendungssystem " wirken, oder auch nur begriffen werden, was sich im letzten lediglich der Wirklichkeit öffnet? Die Antwort kann nur lauten: In vielfacher Abwägungspraxis muß stets von neuem wieder etwas angestrebt werden wie eine rahmenmäßige Kanalisierung der Wirklichkeit - immer enger und feiner, bis sie, eben doch, auch in fallübergreifender Rechtsbegrifflichkeit faßbar wird. Stets bleibt aber der "normative Einzelfall" mit seiner faktischen Macht, als Gefahr und Chance einer" Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit".

2. Eine neue "normative Kraft des Faktischen" a) Die Chance: Gerechtigkeit durch Normdurchbrechung

Der normative Rechtsstaat, der sich in der Verhältnismäßigkeit zu höchst steigern und verfeinern will, schlägt hier in sein Gegenteil um: in Normferne, Normdurchbrechung. Was heute in der Rechtslehre nicht

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht"

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offen ausgesprochen werden darf, weil es ein rechtsstaatliches Tabu brechen würde - die Rechtspraxis verwirklicht es täglich: eine "verhältnismäßige Einzelfallgerechtigkeit" , welche erst nach der Anwendung aller Normen eingesetzt wird, damit über sie tritt, in letzter korrigierender Kraft aus der Wirklichkeit. Es ist dies eine Form der "normativen Kraft des Faktischen", aber nicht die, welche einst den Rechtsstaat halten sollte, seinen Normen Geltung verleihen. Hier wird eine außer-, letztlich eine antigesetzliche Normativität aus dem Einzelfall als solchem, aus seinen rechtsfernen Realitäten unmittelbar geboren; und sie ist nicht "letzter Halt" des Rechts - sie ist "selbst Recht". Das nie beruhigte Normrnißtrauen aller rechtsanwendenden, eben typisch stets abwägenden Juristen, der Richterschaft wie der rechtsgestaltenden Administration, wird hier in sein Einzelfall-Recht gesetzt, im wahren Sinne des Wortes. Eine alte, heute vielfach verschleierte Frontlinie bricht wieder auf: Hier der normsetzende Gesetzgeber, die normfortdenkenden obersten Gerichte, die normsystematisierende Rechtswissenschaft - dort die normanwendenden, einzelfallverhafteten "täglichen Staatsgewalten ". Zwischen der letzten Tatsacheninstanz und den Revisionsrichtern verläuft diese grundsätzliche Trennungslinie von jeher, welche die obersten Gerichte immer wieder im Namen einer" Verhältnismäßigkeit als revisiblem Rechtsbegriff,,472 zu überschreiten versuchen; es kann ihnen letztlich nicht gelingen. Denn dieser Begriff schöpft seine eigentliche, normferne Kraft aus jenem Einzelfall, vor dem die Revisionsinstanz kapitulieren muß, und revisible Strukturen des Verhältnismäßigkeitsbegriffs sind bisher kaum entwickelt worden. Nur wenn dies gelänge, könnten die Normen auch die Proportionen beherrschen und die sie herstellende Abwägung. Doch der Weg dahin ist, wenn überhaupt, noch weit. Für heute und wohl noch länger gilt: Im Staat der Verhältnismäßigkeit schlägt eine neue normative Kraft des Faktischen aus dem Einzelfall heraus durch, es gibt etwas wie eine wirkliche Einzelfallgerechtigkeit, über allen (anderen) Normen. Dies ist nicht rechtsgrundsätzlicher Wildwuchs, es wird getragen durch ein hohes Gerechtigkeitsethos, von jeher. Hier siegt das Recht über die Gesetze; normgelöste Gerechtigkeit entbindet sich aus dem Gerechtigkeitsgefühl des Abwägenden; Gesetz und Rechte schleppen sich nicht mehr als ewige Krankheit fort, im Einzelfall kommt die Heilung aus dem faktischen Recht der Verhältnismäßigkeit, und nur im Einzelfallläßt sich doch heilen. Das Faktische erhält nicht einen zweifelhaften Adel des Normativen, das Recht wird im Einzelfall durch dessen Ge472

Kopp (Fn. 470), § 137 Rdnrn. 5 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

rechtigkeit gekrönt. Eine Rechtskultur von Jahrhunderten weicht im Abwägungsstaat wieder dem responsum im Einzelfall, aus dessen Sammlung sie einst, vor vielen Jahrhunderten, geboren wurde, in deren Systematisierung sie sich von der Wirklichkeit so weit entfernt hat. Sollte dies am Ende der "wirkliche" Staat werden413 , der Staat der realen Gerechtigkeit - in maximaler Realitätsöffnung? Sicher ist: Mit der Verhältnismäßigkeit beginnt nicht nur eine neue Staatlichkeit, es könnte eine neue Rechtsphilosophie beginnen.

b) Die Gefahr: Rückzug des Rechts in Willküroder auf außerrechtliche Gesetzmäßigkeit

Nicht der Einzelfall ist es letztlich, der sich sein Recht selbst gibt, es ist der Einzelwille des Abwägenden. Er stellt sich über den ordnenden Normwillen des Gesetzgebers, über die demokratische Mehrheitsentscheidung. Verhältnismäßigkeit muß letztlich in Demokratieferne führen; vielen mag die Volksherrschaft auch nur so erträglich erscheinen. Die unzähligen "Einzelfallgesetze" , welche die abwägenden Normanwender täglich geben, mögen vielleicht noch erträglich erscheinen, wenn darin nur das Richterkönigtum, die Persönlichung des Rechts zum Ausdruck käme, von der bereits die Rede war. Doch gerade um solcher "purer Einzelfallgesetzlichkeit" zu entgehen, könnte jener Richter, der doch "nicht rechnen" sollte, in die Gefahr geraten, auszuweichen in eine andere, in die ökonomische Gesetzlichkeit: Dann steht, im Namen der Verhältnismäßigkeit, etwas wie ein "Wirtschaftsstaat" in der Tür. Denn diese Verhältnismäßigkeit verlangt finanzielle Vergleichbarkeit, dies zeigte sich schon, in allem und jedem. Dann aber wird die normative Kraft des Faktischen in den zahllosen Einzelfällen letztlich immer wieder nur eine sein: die der Ökonomie, im Sieg der mächtigen wirtschaftlichen Interessen. Hier wird dieser Begriff des Interesses wohl allein wirklich faßbar, quantifizierbar, wägbar. Schon die vielberufenen "sozialen Interessen" lassen sich kaum vergleichbar gewichten, fehlt hier doch der gemeinsame Nenner des Monetären. Oder sollte ein "Existenzminimum" wirklich zum Bezugspunkt dieser Kategorie werden können414 ? Eine Kommerzialisierung des Rechts, welche man dem ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Vorwurf gemacht hat, ist die not473 Verwirklichung des "wahren Staates" im Sinne von Spann, oder wirklicher Staat als seine Antithese - das ist hier die Frage. 474 BVerfGE 87, 153 (170 f.).

VI. Verhältnismäßigkeit: "Fakten als Recht"

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wendige Folge jener Wirtschaftsstaatlichkeit, in welcher Abwägung und Verhältnismäßigkeit letztlich enden müssen, und in breiter Front. Der Staat, welcher hier mit seiner überwirtschaftlichen Macht gegensteuern sollte, zum Schutze "sozialer" oder, wie immer definierter, "geistiger" Interessen - er wird dessen ja dann unfähig, wenn er selbst von Abwägungen durchwirkt wird, welche in seine innersten Strukturen wiederum die Vergleichbarkeit ökonomischer Größen tragen. Darin mag an sich nichts Negatives liegen; doch gegen eine solche Wirtschaftsstaatlichkeit steht eine lange Tradition, welche stets geglaubt hat, Exzesse des Liberalismus anprangern zu müssen. Erst müßte diese politischemotionale Seite gegenwärtigen Denkens gebrochen werden, bevor sich solche Verhältnismäßigkeit überall durchsetzen könnte in wirtschaftlichem Vergleich. Vielleicht wird der Weg dorthin heute bereits beschritten, zu einem "privaten Staat", der eben wohl nur im Ökonomischen das Maß seiner Abwägung gewinnen kann, in jenem Bereich, der noch immer, unter allem Außerrechtlichen, dem Recht und seinem Staat am nächsten steht, in seiner wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Gelingt aber auch solche Wirtschaftsstaatlichkeit nicht, gerät auch ihre Vergleichbarkeit noch in Gefahr, so herrscht pure Einzelfallgerechtigkeit, aus welcher - vielleicht - die Verhältnismäßigkeit letztlich gekommen ist. Finden sich hier gewisse Fakten ihr eigenes, einzelfall-bestimmtes Recht, so fehlt es bald an Übertragbarkeit auf andere Fälle; die Rechtssicherheit leidet entscheidend, das Recht und sein Urteil wird zur Turbulenz in einer Realität, die es doch bewahrend umhegen sollte. Mehr noch: Der tiefe innere Widerspruch jener Öffnung zur Realität läßt sich nicht überwinden, der darin liegt, daß sie die Entscheidung im Einzelfall und für ihn, aus ihm heraus verlangt, im Namen einer Verhältnismäßigkeit, welche nur im Einzelfall abgewogene Fakten will gelten lassen - daß sie damit aber zugleich auf jene Vergleichbarkeitsmaßstäbe verzichtet, ohne die Abwägung zur Willkür werden muß. Auch die Besonderheiten der Tatsachenlage im Einzelfall kann ja letztlich nur in einem Vergleich zu ähnlichen Tatsachenlagen in anderen Fällen erkannt werden - damit fordert der Abwägungsvorgang doch wieder normatives Denken. Damit also Willkür in reinem Einzelfalldenken vermieden werde, kann dies nur bedeuten: Die rechtliche Normativität mag man, im Namen einer solchen Öffnung zur Wirklichkeit, immerhin zurückdrängen oder gar ausschließen, nachdem der Gesetzgeber Verhältnismäßigkeit ja auch nicht festzulegen vermocht hat475 . Doch andere Gesetzlichkeiten müs475 Gerade bei der Eigentumsbelastung zeigt sich dies deutlich, vgl. Nüßgens, K./Boujong, K., Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987, S. 182, 193, 206.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

sen an ihre Stelle treten, damit ein Vergleich doch noch möglich bleibe, auf solchem Wege aber Verhältnismäßigkeit hergestellt werden könne. Letztlich ist es also doch nicht das Einzelfaktum des isolierten Falles, welches hier in seiner Gerechtigkeitsschöpfung an die Stelle der Normen tritt; es sind außerrechtliche Gesetzmäßigkeiten, und Bewertungskriterien, welche Vergleichbarkeit, so erst Verhältnismäßigkeit schaffen. Damit aber erreicht die Betrachtung die eigentliche große Gefahr der Verhältnismäßigkeit mit "ihren Fakten als Recht": Die Ordnungskraft des Rechts tritt zurück, sie wird ersetzt durch außerrechtliche Gesetzmäßigkeiten, Vergleichbarkeiten, welche Verhältnismäßigkeit dann überhaupt erst ermöglichen. Die Selbstgewichtigkeit des rechtlich-normativen Denkens als solchen verschwindet, ihre Ordnungs kraft hört auf in einem Staat der Ökonomie und der Technologie. Diese Sorgen verfolgen das Öffentliche Recht, vor allem in einer Demokratie, welche doch die Selbstgesetzlichkeit ihres politischen Willens, damit aber des Rechts im herkömmlichen Sinne, höher stellen möchte als Selbstgesetzlichkeiten und Vergleichbarkeiten außerrechtlicher Entwicklungen, politikferner Mächte. Der Ständestaat war ein Versuch, diese Selbstgesetzlichkeiten des beruflich-ökonomisch-sozialen Bereichs in das öffentliche Recht einfließen zu lassen; die Demokratie mit ihrem absoluten Primat der einheitlichen, aus all diesen Interessen überhöhend integrierten Politik hat dem eine grundsätzliche Absage erteilt. Doch nun befindet sich ihr gesamtes Rechtssystem auf einem Rückzug, vielleicht nicht in "die" Verhältnismäßigkeit hinein, sondern in viele Verhältnismäßigkeiten, über welche Faktizität wirtschaftlich-technischer Mächtigkeiten in die Gemeinschaft zurückkehrt, in ihr die Herrschaft ergreift, in Gerichtsurteil und Verwaltungsentscheidung. Verrechtlichung dieser in das Recht einbrechenden Wirklichkeit ist dann geboten, und vielleicht läßt sie sich, im ewigen Kreislauf von der Interessenjurisprudenz und ihrer Verhältnismäßigkeit wieder hin zur Begriffsjurisprudenz, denn auch eines Tages verwirklichen. Heute jedenfalls stehen wir, in steigender Verhältnismäßigkeit und Abwägung, ohne das Bewußtsein für deren Entrechtlichungskräfte, in einer nicht nur entnormativierenden, sondern entstaatlichenden - in einer entrechtlichenden Entwicklung. Normfluten dämmen hier nicht ein, sie steigern nur noch diese wogende Bewegung.

c) Die Faszination des normfrei-göttlichen Rechts

Die Entwicklung der Verhältnismäßigkeit, hin zum Abwägungsstaat, findet ohne jedes Pathos statt, in bescheidener, leise wirkender Einzelabwägung - und doch wird sie von etwas getragen wie einer stillen Begeisterung. Es ist fast, als blickten höherentwickelte Rechtskulturen, im

VII. Verhältnismäßigkeit - Zwang zum Komprorniß

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Namen gerade dessen, was ihr Niveau hervorgebracht hat und täglich vor Augen führt: die Normen, auf eben diese Gesetze und ihren Geist mit wachsendem Mißtrauen. Im "Esprit des Lois" sollten diese eins werden mit dem Weltgeist, in der höheren Gerechtigkeit der Aufklärung. Doch in den zehn Geboten, auf den zwölf Tafeln kommen Verhältnismäßigkeit und Abwägung nicht vor. Harte, punktuelle Befehle werden erteilt; zu ihrer Durchbrechung mußte der Sohn des Schöpfergottes auf die Erde kommen, zur Herstellung der größeren Verhältnismäßigkeit, unmittelbar aus dem Wesen des einen Quells aller Gerechtigkeit heraus. Seitdem so das jüdische Gesetz erfüllt war in der höheren Lex Charitatis, die alles ins Verhältnis setzte zu der großen, normüberhöhenden Liebe, ist das Normmißtrauen nicht mehr aus der abendländischen Rechtskultur verschwunden, im Namen einer Hoffnung, einer These vielleicht: daß Gerechtigkeit unmittelbar von Persönlichkeiten gesetzt werden kann, aus Fakten heraus, mit Blick auf sie. Da mihi factum et dabo tibi ius - in diesem Richterkönigtum scheint sich doch nichts anderes fortzusetzen als die transzendente Macht des einen Schöpfergottes, dem ein Blick auf seine Schöpfung den eigenen Gerechtigkeitswillen unmittelbar erschließt, aus dem Sein heraus, nicht aus der Norm, die er selber ist. Darin ist dieser Gott der monotheistischen Religionen wirklich der "ganz andere", gegenüber normgebundenen Menschen, daß er sich selbst Gesetz ist, dieses jederzeit aus seinem bereits Wirklichkeit gewordenen Willen heraus zu entfalten vermag. Ihm nahezukommen, gleichzuwerden in den Schranken der Dieszeitigkeit, ist das Ziel aller abendländischen Staatlichkeit. So will denn auch sie nicht stehen unter jenen ehernen Gesetzen der Antike, welche auch deren Götter banden. Unmittelbar aus der Realität soll sich, wo irgend möglich, ihr Gesetz erheben - in Verhältnismäßigkeit. So wie Er die Waage hält beim Ewigen Gericht, in jedem Einzelfall, so soll aus ihrer Abwägung das "unmittelbare Recht" kommen - die Gerechtigkeit. Und so reicht jene Öffnung der Verhältnismäßigkeit zur Wirklichkeit im letzten weit über diese hinaus, bis in die Transzendenz hinein. Dies ist denn auch der letzte Sinn der "Machttechnik" unserer Zeit: daß der Staat werde wie jener Gott, über den er hinwegblickt: unsichtbar, sodann aber gerecht in seiner neuen Verhältnismäßigkeit.

VII. Verhälbtismäßigkeit - Zwang zum Kompromiß Noch einmal zurück in die bescheidenere Tagtäglichkeit des Rechts: Eine Frage drängt sich auf, am Ende der Betrachtungen zur Verhältnis-

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

mäßigkeit: Muß der Abwägungsstaat nicht enden in "Kompromiß als Staats grundsatz "?

1. In Abwägung zur "mittleren Lösung"

Wird Verhältnismäßigkeit ernst genommen als Staatsgrundsatz, Abwägung als notwendiger Weg dahin, so muß der Kompromiß als Wesenselement solcher Staatlichkeit erkannt, stets primär angestrebt werdenj und etwas von ihm muß in jeder staatlichen Entscheidung liegen dies sei die Schlußthese zum Staat der zum Staatsprinzip hochgerechneten Proportionalität476 . a) Bereits in den Begriffen liegt es: Das "Abwägen" ist eben gerichtet auf wesentliche Ausgewogenheit - im Stillstand der Waage. Sicher ist dies erst der Endzustand des Verfahrens, doch solange er nicht erreicht ist, bleibt er dessen Orientierung, sein Ideal: Das Gleichstehen der Waagschalen ist zumindest potentieller Zweck aller Abwägung, erst mit ihm ist Verhältnismäßigkeit nicht mehr im Lauf, sondern wirklich erreicht. Auch wo eine der Schalen, im Einzelfall überwogen, hochsteigt, verlangt doch Abwägung, daß sie unter gewissen Umständen, wenn mehr an Gewicht in sie gelegt wäre, das Patt der Gleichgewichtigkeit erreichen könnte, bis hin zur Entscheidungslosigkeit477 . Ausgewogenheit besteht auch dann, wenn erkennbar wird, wann, bei welchem Gewicht einer Seite, Gleichgewichtigkeit herzustellen wäre. Für die Praxis der Abwägung ist dies von großer Bedeutung: Alle ihre Entscheidungen, was immer in ihnen im einzelnen durchschlagen mag, müssen stets daraufhin überprüft werden, bei welcher Verstärkung des konkret üb erwogenen Gewichts Gleichstand der Waage eintreten würde - dies eben dient dann zur konkreten Begründung der staatlichen Belastungsentscheidung. Treten etwa Eigentumsinteressen hinter öffentliche Belange im Naturschutz zurück, so muß die Abwägungs-Begründung erkennen lassen, wann dies nicht mehr der Fall wäre, bei welcher zusätzlichen Gewichtung der Eigentumswertigkeit. Abwägung verlangt hier also stets auch Überlegungen zu einer gewissen Eigentumsaufwertung - dauernd, grundsätzlich Durchschlagendes, etwa den Umweltschutz, braucht man nicht mehr abzuwägen. 476 Vgl. zum "Komprorniß als Staatsgrundsatz" die in Fn. 96 Genannten, sowie Leisner, w., Die demokratische Anarchie, 1981, S. 139 ff. 471 Letztlich im Fortbestehen der gegebenen Fakten, aber auch im favor legis als favor eines bestehenden Rechtsfaktums, vgl. § 15 Abs. 3 S. 3 BVerfGG.

VII. Verhältnismäßigkeit - Zwang zum Kompromiß

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b) Verhältnismäßigkeit setzt immer zwei Größen zueinander in Beziehung. Das bedeutet, daß grundsätzlich beide Interessen-Seiten "Bestand haben", letztlich also auch bestehen bleiben müssen. In der Verhältnismäßigkeit liegt Chance und Gefahr, daß eine von ihnen größer werden kann, kleiner werden muß; doch immer gilt ein Eliminierungsverbot, im Sinne der Nichtvernichtung einzelner, sich gegenüberstehender Belange; nur abgeschwächt dürfen sie werden. Das Vokabular der "Ausmerzung", der "Liquidierung" entstammt eben dem Sprachgebrauch eines Totalitarismus, der sich wesentlich außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit sieht. Wieder bedeutet dies: Etwas muß stets bleiben von allen gewogenen Interessen, es ist dann zu integrieren in die Entscheidung; sie darf daher, rein begrifflich, immer nur ein Kompromiß sein. Kann der Nachbar ein Bauwerk nicht verhindern, so letztlich, in dieser Sicht, nur deshalb, weil die Baugenehmigung bereits einen Kompromiß zwischen seinen Belangen und denen des Bauwerbers bringt; und dieser muß ihm erklärt werden (können). c) Diese Verhältnismäßigkeit als "wesentliche Mittellösung" ist zugleich im Kern grundrechtlich gedacht, vor allem aber wesentlich demokratisch. Mit den Grundrechten verbindet sie die gemeinsame Grundidee der Aufklärung, daß alles Bestehende irgendwie natürlich sei, damit aber ein gewisses Existenzrecht in sich trage, mit dem es eben geboren worden ist, wie der Mensch mit seiner Freiheit. In der Demokratie findet sich dies wieder in der Achtung der Minderheiten478 , dem Verbot ihrer Vernichtung, Aufsaugung; im Grunde ist dies wiederum nur ein in die politische Organisation der Staats spitze hineinreichender Ausdruck der Verhältnismäßigkeit: Die Minoritäten mögen immer wieder durch Mehrheiten überwogen werden - eliminiert werden dürfen sie nie. Dies ist auch die Grenze, bis Zu der ihre Rechte in Abwägung zurücktreten müssen: die Existenz etwa der ethnischen Belange. Minderheiten darf die Demokratie, aus Verhältnismäßigkeit heraus, majorisieren, nie eliminieren. Dies führt zu dem, hier nicht zu vertiefenden, Problem, ob nicht den Verhältnismäßigkeitsentscheidungen gegenüber dem Bürger in Sachfragen, etwa zum Eigentum, und den Staatsgrundentscheidungen zum Organisationsrecht, wie dem Minderheitenschutz, etwas Wesentliches gemeinsam ist: daß auch die Bürgerbelange im Grunde meist nichts anderes sind als "Interessen in Minderheit", daher gegen radikale Majorisierung zu schützen - im Namen der Verhältnismäßigkeit. 478 Vgl. Kimminich, 0., in: Evang. Staatslexikon, Bd. I, 3. Aufl. 1987, Sp. 2146 ff.

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

d) Was hier geschehen muß, um Verhältnismäßigkeit zu wahren, ist nichts anderes als jener klassische Kompromiß, der bereits als Wesen aller Demokratie erkannt wurde. Sie ist eben die Staatsfoflll des Überwiegens - nie des völligen Verdrängens. Das Grundgesetz kleidet dies in die urdemokratische Formel vom "Wesensgehalt" jeder Freiheit, die stets bleiben müsse; das letztlich richtige, wenn auch bisher kaum fruchtbar gemachte Verständnis dieser Aussage verlangt, daß "etwas von jedem Grundrecht bleiben muß ,,479 - von jeder Freiheit wie von jedem privaten und jedem öffentlichen Belang. Freiheit kann nicht überall sein in der Gemeinschaft, wohl aber Verhältnismäßigkeit, und mit ihr der Kompromiß. e) Auf ein letztes "Schwerekriterium" läuft all dies sicher hinaus, als Schranke staatlicher Eingriffe. Zu wenig wäre es ja, wenn "nur irgend etwas" übrigbleiben müßte von den überwogenen Belangen; es muß etwas Wesentliches, Substantielles - eben die Substanz im Kern Bewahrendes, sie irgendwie Widerspiegelndes, sich nach belastendem Eingriff noch finden lassen. Beispiele bieten das Abgaben- und Entschädigungsrecht: Das Gebot der Substanzbesteuerung rechtfertigt sich nicht nur aus dem substanzvernichtenden Verschütten der Abgabenquelle, damit aus der Vermeidung immanenten Widerspruchs; es ist zugleich Ausdruck einer Verhältnismäßigkeit, die bei aller nutzungsvermindernden Belastung die Substanz des Belasteten achtet480 . Und weil zu ihr, beim Eigentum, auch der Wert eines Gutes gehört, darf Entschädigung nie "unverhältnismäßig gering" ausfallen481 , selbst wenn der Gesetzgeber von der problematischen Freiheit Gebrauch machen will, welche ihm das Deichurteil des Bundesverfassungsgerichts482 eröffnet, in ihrem Namen vom gemeinen Wert als Grundlage der Entschädigung abzuweichen. f) Dies führt weiter zu einer breiten Tendenz der Quantifizierung in Verhältnismäßigkeit, zugleich aber zur qualitativen Betrachtung: Vor der belastenden Entscheidung stehende Verhältnisse müssen zunächst wertrnäßig in aller Regel quantifiziert werden. Sodann setzen jedoch Qualitätsüberlegungen ein: Nur soviel darf entzogen werden, daß etwas 419 v. Münch/Kunig (Fn. 301), Art. 19 Rdnr. 23; Stern (Fn. 209), S. 225 ff., 865 ff.; Schalz, R., Koalitionsfreiheit, in: HdbStR (Fn. 16), Bd. VI, 1989, § 151 Rdnrn. 76 ff. 480 Mit Recht verlangt daher nun der VSt-Beschluß (BVerfG NJW 1995, S. 2615 (2622)) eine in etwa hälftige Teilung bei der Steuerbelastung der Eigentumserträge, einen eben - wahrhaft - "ausgewogenen" Kompromiß. 481 Leisner, w., NJW 1995, S. 1513 (1516) = Leisner, w., Eigentum, 1996, S. 673 (679). 482 BVerfGE 24, 367 (421).

VII. Verhältnismäßigkeit - Zwang zum Kompromiß

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Wesentliches noch bleibt, das "in Verhältnismäßigkeit verkleinert, dennoch an die früheren Verhältnisse insgesamt erinnert." Dies mögen sehr allgemeine Kriterien sein; doch nicht zu Unrecht hat man auch hier immer wieder jene Halbierung genannt, bei deren Überschreitung zu Lasten des Bürgers letztlich die "bisherigen Verhältnisse" doch entscheidend verändert werden, bislang bestehende Belange ihre sachliche Identität verlieren483 . Und überhaupt ist es eben Wesen des Kompromisses, daß er "Qualität, damit "Wesen" bewahren will durch Quantifizierung". Daher muß er irgend etwas "greifen", größenmäßig; Verhältnismäßigkeit ist, weil sie ja der Begriffsjurisprudenz nicht mehr zuzurechnen ist, an sich schon eine "gegriffene Größe"; das zeigt sich auch im Kompromiß mit dem, was in ihrem Namen bestehen bleiben muß. g) Vor allem aber wird die Bedeutung des Kompromisses im Staat der Abwägung sogleich deutlich, bezieht man die Gegenposition: Ein "kompromißloser Staat" ist schlechthin ein Unwertbegriff; und weil dafür keinerlei Konsens mehr, in absehbarer Zeit, erreichbar ist - auch diese Kategorie ist übrigens eine solche des Kompromisses, einer gewissen Verhältnismäßigkeit - müßte die Erkenntnis des Kompromißcharakters der Verhältnismäßigkeit an sich schon zu deren Verstärkung in allen staatlichen Bereichen führen. Erst ihre Ablehnung macht ihren Wert voll bewußt; eine letzte Korrektur aller staatlichen Entscheidungen in Abwägung ist die notwendige Folge des Kompromißgehalts dieses Zentralbegriffs. h) Kompromiß und damit Verhältnismäßigkeit wird dem einzelnen Staat heute, als eine Art von "rechtlicher Grundstimmung" aufgedrängt von außen: Immer mehr ist er einbezogen in ein Netz zwischenstaatlicher Beziehungen, welches vom internationalen Recht geknüpft wird. Er steht in seinen zentralen Bezügen unter einem allgemeinen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, von der Vertragsanpassung bei Änderung der Verhältnisse bis zu Retorsion, Repressalie und den Grenzen legitimer Selbstverteidigung484 • Die Europäische Integration wird, wie weit immer sie getrieben werden mag, von den Mitgliedstaaten eine noch darüber hinausgehende, aber im Kern doch wesentlich intemationalrechtlich gedachte Kompromißbereitschaft verlangen. Europa ist nur vorstellbar als ein einziger großer Kompromiß - als eine alles durchwirkende Verhältnismäßigkeit. So zur "Erbschaft" BVerfG NJW 1995, S. 2624 (2625). Dahm, G., Völkerrecht, Bd. 3, 1961, S. 141 ff. - Vertragsanpassung; Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Auf!. 1990, S. 894 f. - Retorsion, Repressalie, S. 874 ff. Selbstverteidigung. 483 484

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

2. Staatsschwächung aus Kompromiß? Dies ist die sogleich aufkommende Frage - in ihr brechen alle unterschwelligen Ablehnungstendenzen der "mittleren Lösung" als einer "halben" auf. Wenn die Verhältnismäßigkeit notwendig in den "schwachen Staat" führen muß, wird sie nie die Höhe eines allgemein anerkannten Staatsgrundsatzes erreichen: Eine große Koalition staatsgewaltfreudiger und umverteilungsfreudiger Kräfte wird dies stets verhindern. a) Eine beruhigende Antwort kann nicht früheren Betrachtungen über die "Staatseinung" entnommen werden. Dort wurde die Verbindung, die Integration vielfacher Kräfte als Quelle der Staatsrnacht, in ständiger Entfaltung, begriffen485 . Doch es ging dabei um das Zusammenwirken aktiver Kräfte und ihrer Träger, nicht einfach um das "nebeneinander Stehenlassen " von Bestehendem, in Kompromiß. Darin liegt ein entscheidender Unterschied. Verhältnismäßigkeit ist kein dynamischer Zustand, Abwägung endet in ihrer Statik. b) Gewollt ist die Proportionalität sicher wenn nicht als Staatsschwächung, so doch als Staatsabschwächung, gerade aus dem grundsätzlichen, ständig zu verwirklichenden Kompromiß zwischen den Freiheiten der Bürger und Gemeinschaftsbelangen, welche die Staatsgewalt durchsetzt. Durchaus mag daher der Weg von einem derartigen Kompromiß, wird er nur überall akzeptiert, führen zu wirklicher Schwächung eines ganzen Staates, der überall vor Bürgerbelangen zurückweichen muß. Zumindest droht hier in vielem eine, bei Übersteigerung höchst gefährliche, Blockade der Staatsgewalt, insbesondere in der sozialpolitischen Praxis: Auf reich wie auf arm muß ja, im Namen dieser Verhältnismäßigkeit und der aus ihr fließenden Kompromißnotwendigkeit, ständig Rücksicht genommen werden; keiner sozialen Seite darf "allzuviel von ihrem Standard" genommen werden. Damit bewegt sich die kompromißträchtige Abwägung hin zur Blockadesituation der "wohlerworbenen Rechte", jenem rechtlichen Ausdruck für die vielen gar nicht gefährlich erscheinenden "sozialpolitischen Errungenschaften", der dann aber rasch zum Zentralbegriff der Verhältnismäßigkeit werden könnte, eben als ihr typischer und konkret jederzeit feststellbarer "Bezugsbegriff" . Staatlichkeit als Kompromiß zwischen allen wohlerworbenen Rechten? Darauf könnten sich traditionelle politische Gegner einigen, damit aber den Aktionsbereich des Volkssouveräns entscheidend verengen. 485 Leisner,

w., Staatseinung, 1991, S. 61 f.

VII. Verhältnismäßigkeit - Zwang zum Kompromiß

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c) Von einer solchen Machtabschwächung führt dann unmittelbar ein Weg in allgemeine Staatsschwächung: Die Gewalt der Gemeinschaft darf "nirgends allzuviel vermögen, soll sie nicht unverhältnismäßig ausufern." Es beginnt mit etwas wie einem "materiellen Kompromiß": Die Harmonie prästabilierter Interessen darf nur mehr grenzkorrigiert werden. Und es folgt sogleich der "formelle Kompromiß": Diese Marginalkorrekturen erfolgen zwar im Einsatz typisch staatlich-politischer Gewalt, in Urteilen oder Administrativentscheidungen; doch diese orientieren sich an wesentlich Außerstaatlichem, sie tragen die Verhältnismäßigkeit aus außerstaatlichen Bereichen sinnerfüllend in die Staatlichkeit - der Abwägungsstaat bedeutet einen Kompromiß staatlicher Kompetenz mit der der ökonomischen Instanzen, der Märkte, im "privaten Staat" oder gar im "Wirtschaftsstaat" . Darin nähert sich eine Ordnung aus "reiner Verhältnismäßigkeit" am Ende gar noch dem Nachtwächterstaat: Seine Aufgabe ist es nur mehr, "Verhältnismäßigkeiten zu überwachen", "Verhältnisse zu bewahren" - "damit niemand kein Schad' geschieht", wie der Nachtwächter der Meistersinger mahnt; wenn dann nur nicht das "gefährliche" Licht der Aufklärung vollends verlischt ... d) Dies ist die besondere und eigentümliche Gefahr der Demokratie: Einerseits lebt sie aus dem zur Achtung von allem Bestehenden in Komprorniß verbreiterten Respekt vor der Freiheit, in statisch zurückhaltender, wahrhaft defensiver Staatlichkeit; andererseits kann sie diesen "Kompromiß überall" doch wiederum nicht wollen, weil sie aus ihrer immanenten Entscheidungs-Unruhe heraus, von der Mehrheitsmechanik getrieben, ständig entscheiden will, entscheiden muß, nur darin überhaupt existiert. Daher überläßt sie letztlich die Wahrung einer derartigen immobilisierenden Verhältnismäßigkeit der statischen Entscheidung "vordemokratischer Gewalten", Gerichten und Administration, nur zu oft vorbei an ihren Normen - vorüber an der Demokratie. e) Hier nun endlich, im Zusammenhang mit dem Kompromiß als Wesensmerkmal aller Verhältnismäßigkeit, muß erneut die Frage gestellt werden: Kann es etwas geben wie "verhältnismäßige Macht", wenn Macht doch bedeutet, daß sich etwas "durchsetzen will" - letztlich eben kompromißlos? Und doch, dies ist die große Wette der Verhältnismäßigkeit: Was ruhend in ihr, in ihren Kompromissen, von allen überall getragen wird, und sei es auch in Statik, kann nach außen, anderen Gemeinschaften und Nationen gegenüber, ungeheuere, eben integrierte Macht von Personen und deren sachlichen Belangen entfalten; nach innen vermag es gewaltige Ordnungskräfte zu legitimieren, in festgefügter Verhältnis16 Leisner

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C. Von der Abwägung zum Abwägungsstaat

mäßigkeit auch noch deren Einsatz zu ersparen. Damit wirkt Verhältnismäßigkeit nicht als Macht, sie ist es schlechthin. Von der force tranquille war vor wenigen Jahren viel die Rede; ein französischer Präsident wollte sie verkörpern, darin seine Partei des unruhigen Fortschritts zur Ruhe bringen. Dahinter steht das hohe Ideal einer in ihren Proportionen festgefügten Staatsgewalt: "Viel Macht durch wenig Gewalt" - weil sich die Staatsarchitektur selbst in sich hält, in der "zusammen-versprechenden", der "kompromittierenden" Proportion ihrer Teile, weil sie nicht durch staatliche Gewaltsamkeit gehalten werden muß. Der abwägende Staat - ein Staat ohne Selbstgewicht? Dahin kann in der Tat der Abwägungsstaat hochgerechnet, darin kann "verhältnismäßige Macht" geradezu gewaltig werden, wenn sie bestehende, in sich selbst klassisch gewordene Proportionen in Ruhe bewahrt. Wird dagegen die Verhältnismäßigkeit und ihre Abwägung zum Alibi für einen rechtsfernen ordre de moufti, dann fällt der Staat atemlos in eine "Progressuche" nach immer neuen Verhältnissen, in stets neu herzustellenden Kompromissen. Durch eben diese wird er dann entscheidend geschwächt, bis er untergeht mit seinem Recht, im Beliebigkeitsurteil nicht eines "reinen Rechts", sondern abwägender "reiner Richter ... ".

D. Ausblick Ein Ausblick kann nach solchen Betrachtungen nicht allzuweit reichen, soll er nicht - unverhältnismäßig werden. Verhältnismäßigkeit sollte ein Zauberwort sein, stehend für "letzte, unmittelbare Gerechtigkeit". Geworden ist daraus ein geheimnisvollschillernder Begriff: Er verdeckt einen entscheidenden Verlust an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, der sich in Abwägung entfernt von der Begriffsjurisprudenz und damit von allen Quellen unseres ius. Hier bescheinigt sich die Staatsgewalt selbst Sorgfalt - und sie überdeckt mit Worten nur zu oft sorglose Beliebigkeit des Zugriffs. Dem Bürger wird darin Bewahrung seiner wohlerworbenen Rechte versprochen, in einem Staat der Kompromisse - und doch sichert das große Programm der Verhältnismäßigkeit bescheidene, leise Macht allen Dienern des Staates, über alle Normen hinweg. Ob dies schon "Machttechnik" ist? Jedenfalls ist diese Verhältnismäßigkeit auf dem Wege zur Staatsgrundsatznorm, die Abwägung auf dem Wege zum Staatsverfahren schlechthin, geltend für alles, was die Gemeinschaft mit ihrem Recht berührt. Den Staat, vor allem die Gemeinschaft der grundsätzlich durchbrechenden, politisch absolutsetzenden demokratischen Entscheidung, den muß sie aber erst noch erobern. Hier liegt die Wegscheide der "Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit": Vielleicht erhält sie der Macht nur, über dem mächtigen Normbeton des Rechtsstaats, ein Quäntchen letzter Willkür, ohne die es Staatsgewalt nicht geben kann; dann bliebe alles wie es heute ist, Abwägungsdogmatik wäre unnötig, sie würde eher zur machtentschleiernden Sünde. Oder es setzt doch ein Bewußtwerdungsprozeß der Verhältnismäßigkeit ein - dann wird am Ende der "private Staat" stehen, der überall in voller Liberalität wenn nicht konserviert, so doch achtet, dessen Hoheit sich darin erschöpft. Geübt wird sie dann ganz bewußt von Persönlichkeiten, aus deren eigenem Rechtsbewußtsein heraus und "unmittelbar zum Einzelfall" hin: Aus ihm heraus wird dann Gerechtigkeit. Viele herkömmliche Formen der politischen Demokratie, in ihrer unruhigen Entscheidungsfluktuation, werden dann diskutabel werden, vielleicht entbehrlich, wenn über ihnen eine Verhältnismäßigkeit be16·

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D. Ausblick

wahrt wird, welche ihre Änderungen stets wieder zurechtrückt - oder in einer neuen Harmonie zur Ruhe kommen läßt. Doch näher noch liegt ein dritter Weg: daß sich die Staatsorgane im Namen der Verhältnis mäßigkeit nur eines erhalten, immer wieder schaffen: mehr "Freiheit der Macht", in einer Welt normativierter Bürgerfreiheit. Dann droht dieser Gefahr: verhältnismäßige Macht mag es noch geben können - ob aber auch "verhältnismäßige Freiheit"? Verhältnismäßigkeit ist jedenfalls eines: Barometer, eher noch Thermometer für Staatsgewalt und Bürgerfreiheit - wenige Grade mehr gefährden diese letztere im schleichenden Fieber der Rechtsunsicherheit; hohe Grade treiben den Staat selbst in die Fieberkrise des machtschwächenden Verfalls. Der Abwägungsstaat ist beides zugleich für die Freiheit: große Chance und große Gefahr. Kann die Demokratie dies - abwägen, die Balance der Macht halten? Waage und Schwert zugleich hält die Iustitia, auf daß Macht sich nicht verliere in Wägen, in durchschlagender Schärfe nicht die Gerechtigkeit. Dem Staat de taus les jours aber gilt der Zuruf: Stecke dein Schwert in die Scheide - in Waagschalen werfen es Barbaren!

Sachverzeichnis Die Zahlen verweisen auf die Seiten, Schwerpunktausführungen kursiv Abgeordnete - und Fraktionszwang 36 Abwägung - nach Betroffenenzahl 145 - und Einheit der Rechtsordnung 22 - und Einzelfall 229 tf. - und Finanzinteressen des Staates 148 ff. - Gesetzesabwägung 11 tf. - und Gleichheit 61 tf. - und Kontrollen 114 ff. - Methoden der 123 - und Monetarisierung 72 - öffentlicher Interessen 132 tf. - öffentlicher und privater Interessen 133 f. - nach Hierarchie der Organe 138 - durch Persönlichkeiten 220 - und Politik 17 tf. - und Rechtstechnik 28 tf. - und Schwächerenschutz 147 - von Tatsachen 11 tf. - und Verhältnismäßigkeit 33 tf. - im Zivilrecht 62, 95, 221 - s. auch VerhäItnismäßigkeit Abwägungsstaat 170 tf. Allgemeiner Wille 16, 109, 144, 146 Analogie - und Gleichheit 65 Ancien Regime 22 f., 25, 28 Anwaltschaft - und Richter 30 Apothekenurteil 84 tf.

Aufopferungsentschädigung 59 Ausgewogenheit 33,46 tf., 236 f. Ausgleich - durch staatliche Ersatzleistungen 57 tf. Auslegung - Methoden der 124 Ausnahmezustand 44 Beamtenrecht 213 Begriffsklarheit - Verlust der 15, 96 tf., 103 ff. Begriffsjurisprudenz 25 tf., 69, 88, 100 tf.

- und Freiheitsrechte 85,168 Berechenbarkeit 15 Berufsbilder 217 Berufsfreiheit 85 Bestandsschutz 40,217 Bewegungsfreiheit - persönliche 165 Beweislast - materielle 71 Billigkeit 60, 62, 95 Bodenreform 218 Bürokratie 172, 182 Bundesbank 20 Bundesrat 192 Daseinsvorsorge 185 Datenverarbeitung - und Verhältnismäßigkeit 209 Delegation - von Entscheidungsbefugnissen 95 Demokratie 54, 103 f., 234 - und Gleichheit 15 f., 61 ff.

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Sachverzeichnis

-

und Interessen der "großen Zahl" 142 ff. - und Komprorniß 238 ff. - als Verfahren 35 - Verlust der Begriffsklarheit 107 ff.

Demokratieprinzip 19 f. Demokratisierung - der Gesellschaft 142 Demonstrationsrecht 165 Dezisionismus 15, 162 - siehe auch Schmitt, Carl Drittschutz - durch öffentlich-rechtliche Normen 84, 212 f. Drittwirkung der Grundrechte 113, 158 f. Eigentum 57 ff., 99,107,111 - und Freiheit 163 f. - Menschenrechtskem des 161 - "Minderheitenschutz" des 238 - und Privatisierung 141 - Sozialbindung des 143 f. - und Umweltschutz 37, 140 Eigentümer - "verständiger" 112 f. Eigentumseingriff, Schwerekriterium 69,238 Einheit der Rechtsordnung 13, 22 ff. Einzelfall - Entscheidung im 14 - und Gleichheit 65 - Recht des, aus dem 229 ff. - Sachgerechtigkeit im 44 Einzelfallgesetz 232 Eingriff - geringster erforderlicher 195 Enteignungsentschädigung 57 f., 111,216 - Höhe der 58 Entschädigung - und Monetarisierung 73 - für "Persönlichkeitswerte" 74

Erdrosselung 116 Erforderlichkeit - und Verhältnismäßigkeit 194 ff. Erholung, Recht auf 75 f. Ermessen - Räume des 92 - Schranken des 82, 115 - und Verhältnismäßigkeit 115 Ersatzleistungen, staatliche 57 ff. Erziehung - und Wettbewerb 187 Evidenz 123 Exces de pouvoir 82 Existenzminimum 232 Fakten - und Recht 225 ff. Faschismus 31 Finanzinteressen des Staates 148 ff. Finanzplanung 184 Finanzwirtschaft, staatliche 183 ff. Fiskalprivilegien 58 Fiskaltätigkeit des Staates 185 Fiskustheorie 22 Flucht in die Generalklauseln 12 f. Föderalismus 20, 98 - als Verfahren 34 Fraktionszwang 36 Französische Revolution 22,62,66 f., 153 f. Freiheit 16, 52 - Auflösung des Bereichsschutzes 35 - Einheit der 163 - Höchstwert der 155 - liberale 22, 24 f. - Rechtfertigung der 24 - Verhältnismäßigkeit als Gefahr der 42 - Wesensgehalt der 43 Freiheitsrechte - und Abwägung 98 f. - siehe auch Grundrechte

Sachverzeichnis Freiheitsschutz - organisatorischer 34 Freirecht 25; 101 f. Freund-Feind-Beziehung 18 Funktionieren - der Justiz 150 f. - des Staates 147 fI. Geeignetheit 195 ff. Gefahr - Eintrittswahrscheinlichkeit 147 - für eine große Zahl 142 ff. Gemeinden - im Wettbewerb 187 - wirtschaftliche Tätigkeit der 183, 185 Gemeinwohl - Gründe des 86 GeneralklauseI, polizeirechtliche 53 GeneralklauseIn des Bürgerlichen Rechts 47, 14 ff., 128 f., 159 - siehe auch Gute Sitten, Treu und Glaube

Generalisten 93 f., 209 f. Gerechtigkeit 14, 16 - Annäherung an die 41 f. - aus Sorgfalt 39 - und Verhältnismäßigkeit 39 tt., 231 f. Gerichtsbarkeit - als Gewalt 21 - und Verhältnismäßigkeit 121 - siehe auch Richter Gesetzgebung 6, 134 Gesetzesvorbehalt 69, 85 f., 152, 162 f. Gesetzliche Grundlage 130 f. Gestaltungsfreiheit der Verwaltung 50 Gesundheit der Bürger 37 - siehe auch Volksgesundheit Gewaltenteilung 53 Gewaltmonopol47, 176, 194 Gleichheit 78

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- und Abwägung 61 fI. - und Umverteilung 26 - im Zivilrecht 64 Gleichordnung im öffentlichen Recht 24, 53 f. Grundeigentum - und Bodenreformen 218 - siehe auch Eigentum, Umweltschutz

Grundnorm 33 Grundpflichten 157 Grundrechte - Eingriff in 110 - als Höchstwerte 153 fI., 165 ff. - immanente Schranken der 167 f. - und Machtmäßigung 18 - Schutzbereich der 109, 211 ff. - "stärkere" 160 ff. - nach Verhältnismäßigkeit 152 ff. - Wert nach der Zahl der Träger 166 f. - wirtschaftliche 164 Grundrechtsabwägunng 154 ff. Grundrechtskatalog 153 ff. Grundrechtskonkurrenz 163 Grundrechtsschutz - durch Verfahren 182, 202 Gute Sitten 14, 129, 159 Härteklausel48, 147 Haushaltsrecht 183 fI. Hegel32 Herrschaftsvertrag 57 Ideologie 80 f., 88 Informelles Verwaltungshandeln 54 "Insbesondere "-Formeln 76 f. Interessen und Rechte 228 f. Interessenjurisprudenz 25 fI., 100 ff. Iustitia commutativa 55 ff. Iustitia distributiva 54 ff "Je-Desto-Formel" 49 t., 67, 76

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Sachverzeichnis

Kabinett 92 f. Kompromiß - in Ausgewogenheit 49 - und Internationales Recht 239 - und Verhältnismäßigkeit 235 ff. Kelsen, Hans 30, 32, 34, 85, 108, 162,225 Kodifikation 14, 26, 89, 91 f., 154 Kontrolle - und Abwägung 114 ff. - und Rechtsstaatlichkeit 127 ff. - der Regierung 223 Kriegsfolgenrecht 59 Kunstfreiheit 110, 201 Laband 108 Landesverteidigung 71, 77 ff., 82, 86, 149 - Funktionieren der 151 - und Wettbewerb 186 Leben - Recht auf 165 f. Leistungsfähigkeit, steuerliche 67 Letztes Wort 44 Liberalismus 101 Lücken(füllung) 28, 132 Machttechnik 152 - und Rechtstechnik 28 ff., 170 ff. - Verhältnismäßigkeit als 225, 230 Mandat, freies 36 Markt 59, 62, 72 Marktwirtschaft 193 Marxismus 31 Mehrheit(sprinzip) 23, 143, 145, 164 Meinung(sfreiheit) 104, 210 Menschenrechte 23, 155, 163 - siehe auch Grundrechte Menschenrechtskern 161 Menschenwürde 155 Minderheitenschutz 237 Monetarisierung 178 f. - und Abwägung 72 ff.

- der Freiheit 60 Monumentalstaat 65 Nachbarbegriff 208 f., 212 f. Nachschieben von Gründen 121, 206 Nationalsozialismus 47, 74 Naturgenuß - Recht auf 144 Naturrecht 44, 65, 88 Naturschutz(recht) 51, 98 - siehe auch Umweltschutz Normen - und Rechtsstaat 221 f. - Durchbrechung in Verhältnismäßigkeit 230 ff. Normenflut 26 Normstufen 20, 160 Normverwerfungsrecht der Verwaltung 229 Öffentlicher Dienst - Vor-, Aus-, Fortbildung im 209 Öffentliche Interessen - Abwägbarkeit von 132 ff. - Vergleich von 79 ff. Öffentliches Interesse 76, 79 - Einheit des 139, 145 - Unbedingtheit des 136 ff. Öffentliches Recht - Einzelmaterien 89 ff. Öffentlich-rechtlicher Vertrag 53 ff., 62 f. Opposition 20 Parlament - Funktion 36 - Kontrolle der Regierung 222 f. - und Rechnungskontrolle 189 f. - und Verhältnismäßigkeit 188 f. Persönliche Gewalt 223 ff. Persönlichkeit - Werte der 120 - und Verhältnismäßigkeit 219 ff.

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allgemeines Revolution Persönlichkeitsrecht, 106 - und Gleichheit 64 Politik Richterrecht 15, 44, 131 - Begriff 18 Richter, Unabhängigkeit der- 38, 222 f. - Dynamik der 27 f. Römisches Recht 72 f., 108 f. Polizei Rousseau 16 - Einsatz 118 - und private Belange 142 f. Sachenrecht 100 f., 212 - und Verhältnismäßigkeit 13 Schadensersatz 60 Präambeln 91 Schmitt, earl 102 Praetor 35 siehe auch Dezisionismus Privatisierung 141,176 ff. Schwächerenschutz Privatrecht - und Abwägung 147 - siehe Zivilrecht Selbstbestimmung, informationelle Prognosekompetenz 208 106 Sicherheit und Ordnung 71, 90 Renaissance 28 Sinnerfüllung 113, 146, 159 f., 163 Rechnungsprüfung, staatliche 20, Situationsgebundenheit des Eigen177 fl. tums 218 Rechtskultur 114, 204, 232, 234 f. Smend, Rudolf 91, 102 f., 152, 162 Rechtssprache 103 ff. Souveränität, staatliche 22, 56, 59, 181 Rechtsstaat(lichkeit) 15, 52, 99 Sozialbindung des Eigentums 107 - Gefahren für den 127 fl. - und Kompetenzabgrenzungen - siehe auch Eigentum 211 Sozialismus - realer 80 ff. - liberaler 32 Sozialstaat 32, 43, 104 - und öffentliche Interessen 140 Sozialversicherungsrecht - siehe auch Verhältnismäßigkeit - und Eigentum 147 Rechtstechnik 33,76,80,96 Ständestaat 234 - Einheit der 23 Staat - und Gleichheit 65,67 "privater" 175 ff., 197,233,243 - und Machttechnik 28 fl., 170 ff. "totaler" 32, 175 f. - und Normbegriffe 43 - "unendlich reicher" 180 ff. - "positivistische" 21 Staat lind Gesellschaft 32 Rechtspflege Staats aufgaben 196 ff. - funktionierende 87 Staatseinheit - siehe auch Gerichtsbarkeit, Rich- und öffentliche Interessen 139 f. ter Staatsform 31 ff., 141 f. Realität Staatserhaltung 147 ff. - Öffnung des Rechts zur 225 ff. Staatsgrundsatznormen 31 Regierung Staatskirchenrecht - als Mittelinstanz 138 f. - und Verfassungsrechtsprechung Revisionsinstanz 116 155 f.

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Staatsleistungen - umverteilende 19 Staatsorganisation - und Verhältnismäßigkeit 181, 184,204,209 Staatsziele 196 ff. Staatszielbestimmungen 39, 80, 215 f. Staatszwecke 196 ff., 204 ff., 216 - siehe auch Staatsziele Status activus 19 Steuererfindungsrecht 27 f. Steuerrecht - Komplikation des 30 Steuerstaat 180 Streik 105 Stufentheorie 85 ff. Substanzbesteuerung - Verbot der 238 f. Subsumtion 37,51,67 Subventionen 78 System(bildung) 64 f., 107 Teamarbeit 210 Teleologie und Abwägung 92 Temperantia 33 Tourismus 75 Tradition 207 - französische staatsrechtliche 156 Träger öffentlicher Belange 93 Treu und Glaube 14, 129, 159 Übermaßverbot - und Verbot des "Übergroßen" 199 ti. - und Verhältnismäßigkeit 198 ti. Umverteilung 19, 26 Umweltschutz 75 f., 89, 148 - Abwägung im 134 f. - Begriff 96 f. - und Eigentum(snutzung) 37,140 - Gefährdung vieler 143 - und Grundstücksnutzung 68 ff.

-

und naturwissenschaftliche Begriffe 213 f. - Staatsziel 215 f. - und Verhältnismäßigkeit 213 f. - und Wesensgehalt der Grundrechte 120 Unbestimmter Rechtsbegriff 226 Unsichtbarer Staat 30,55 f. Verfahren - Grundrechtsschutz durch 182 - materielles Recht aus 34 - und Verhältnismäßigkeit 122 Verfahrensgerechtigkeit 35 "Verfassung nach Gesetz" 21 Verhältnismäßig keit - und Abwägung, Verhältnis 33 ti. - und Allgemeines Verwaltungsrecht 13 - Anfänge der 13 - Begriff 195 ti. - und Demokratie 107 ff. - Einheit der 90 - und Einzelfall 14, 49, 229 ti. - und Erforderlichkeit 194 ff. - durch Ersatzleistungen 60 - aus Fakten 225 ti. - und Freiheit 24, 42 ti. - und Geheimnis der "Proportionen" 201 ti. - als Generalklausel16/17 - als Generalvorbehalt 14 f. - und Gerechtigkeit 16, 39 ti., 243, 231 f. - und Gleichheit 61 ti. - Grundrechte nach 152 ff. - als Härteklausel 48 - und Kompromiß 235 ti. - und Parlament 188 ti. - und Persönlichkeit 220 ff. - gegen Rechtsstaatlichheit 13 ti. - und Rechtstechnik 29 - und Staatsfinanzen 180 ti.

Sachverzeichnis -

und Staatsorganisation 181, 184, 204,209 - und Stoffauswahl210 f. - als Systemabweichung 68 - und Übermaßverbot 198 ff. - und Verfassungsrecht 17 ff. - und Wertungen 38 - im Zivilrecht 53 f., 60 "Verhältnismäßigkeitsstaat" 17 Verkehrswert 59 Verständlichkeit der Rechtssprache 29 f. Verteidigung - siehe Landesverteidigung Vertrag, öffentlich-rechtlicher 53 i/. Verwaltung - Gesetzesunterworfenheit der 131 Verwaltungsakt 12, 54 Verwaltungsgerichtsbarkeit 82 f., 94 "Völkisches" Recht 29 Volksernährung 75 Volksgesundheit 71 f., 76, 82, 86 f., 140 Volkssouveränität 16 f., 80, 191 Vollbeschäftigung 77 Vorhersehbarkeit des Staatshandelns 15, 129 f. Wechselwirkungslehre 113, 117

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Werte - und Grundrechtsdogmatik 145 f. - Niedergang materieller 34 f. Wesensgehalt der Grundrechte 43, 83,210 Wesentlichkeitstheorie 136 Wettbewerb - Gemeinden im 187 - sozialer 190 - Staat im 185 ff. Wettbewerbsrecht 18 "Wirtschaftsstaat" 232 f., 241 Wohlerworbene Rechte 240 Wohlfahrtsstaat 23, 154 Würde - des Staates 49 - des Tieres 76 Zeit - und Macht 107 Zivilrecht - Begriffsverfeinerung 14 - und Freiheit 24 - Interessenausgleich 17 - Vorbild des Öffentlichen Rechts 23 - Systematisierung des 25 - und Verhältnismäßigkeit 53 f. - Zwei-Stufen-Theorie 56