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German Pages 359 Year 2005
Neumaier/Sedmak/Zichy (Hg.) Gerechtigkeit. Auf der Suche nach einem Gleichgewicht
GERECHTIGKEIT AUF DER SUCHE NACH EINEM GLEICHGEWICHT
herausgegeben von Otto Neumaier Clemens Sedmak Michael Zichy
∀ ontos verlag Frankfurt · Lancaster
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien, des Amtes der Oberösterreichischen Landesregierung, Linz, sowie der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft und des Rektors der Paris-Lodron-Universität Salzburg Bibliographic Information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie, detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de
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© 2005 ontos verlag P.O. Box 15 41, D–63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 3-937202-59-5 2005
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INHALT
Otto Neumaier/Clemens Sedmak/Michael Zichy Hunger nach Gerechtigkeit Avishai Margalit Menschenwürde zwischen Kitsch und Vergötterung Onora O’Neill Gerechtigkeit, Vertrauen und Zurechenbarkeit Wolfgang Kersting Gerechtigkeit und Sozialstaatsbegründung Peter Koller Soziale und globale Gerechtigkeit Barbara Bleisch Pflichten auf Distanz Miriam Ronzoni Gerechtigkeit oder “soziale Regulierung”? Der normative Status von Gerechtigskeitsprinzipien Werner Wolbert Zur Pointe einer deontologischen Theorie und einer deontologischen Gerechtigkeitskonzeption Richard Sturn Die ökonomische Konditionierung von Verteilungsgerechtigkeit Christian Hiebaum Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Effizienz. Eine Beziehungsanalyse Paul Nnodim Rawls’ Theorie der Globalen Gerechtigkeit und die Notwendigkeit einer rückwirkenden kulturellen Legitimation für Menschenrechte Markus Stepanians O’Neill über die notwendige Institutionalisierung von Wohlfahrtsrechten Andreas Mueller Gerichtsgerechtigkeit für Menschheitsverbrechen? Zu Chancen und Grenzen universaler Strafgerichtsbarkeit 5
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INHALT
Michael Schefczyk Überlegungen zum Verhältnis von Pflichten der Wiedergutmachung und der kollektiven Erinnerung Nikolaus Knoepffler Gerechtigkeit im Gesundheitswesen Hans Kraml Dem Anderen gerecht werden. Der philosophische Gehalt von Ockhams theologischer Ethik Andreas Blank Reflexion und Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit Ulrich Thiele Zwei Gesichter des Wohlfahrtsstaats. Soziale Gerechtigkeit bei Fichte und Kant Heinz-Ulrich Nennen Die Metapher vom Gleichgewicht. Ideale der Ordnung in der Kritik Kurzbiographien der Beitragenden
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HUNGER NACH GERECHTIGKEIT Otto Neumaier/Clemens Sedmak/Michael Zichy
Menschen hungern. Täglich verhungern 24 000 Menschen. Dabei ist Verhungern nicht als langsamer und gleichsam friedlicher Prozess des Verlöschens zu sehen – eine bittere Einsicht, die sich etwa Jean Ziegler in einem Aufnahmelager in Äthiopien zur Zeit einer Hungersnot 1985 aneignen musste: »Das erschütterndste Schauspiel boten jene Lumpenpakete, die sich sanft im Rhythmus ihres Atems hoben und senkten. Kleine Kinder lagen in den Lumpen. Der Pfleger schob die Lumpen zurück. Manchmal gab er der Frau, die daneben saß, ein Zeichen. Daraufhin ergriffen junge Männer den kleinen Körper und legten ihn sanft auf den Lieferwagen, der in Richtung eines wenige Kilometer entfernten Hügels fuhr, wo sich das Krankenhaus befand. Viele Kinder waren blind. Der chronische Mangel an Vitamin A hinterläßt irreversible Schäden an den Augen und im Gehirn. … Ich hatte solche Bilder schon zuvor im Fernsehen gesehen. Um mich dagegen immun zu machen, hatte ich mir eingeredet, der Tod durch Verhungern sei ein sanfter Tod, hervorgerufen durch eine fortschreitende Schwächung, die im Endstadium in eine Art Bewußtlosigkeit übergeht. Nun, das ist nicht wahr! Die kleinen runzligen Gesichter, die manchmal mit schmerzverzerrter Miene aus den Lumpen auftauchten, zeugten von schrecklichen Qualen. Die kleinen Körper krümmten sich wimmernd.«1 Das Verhungern von Tausenden ist schreiendes Unrecht, nicht nur wegen des unbegreiflichen Überflusses in anderen Teilen der Welt, sondern auch wegen der Gleichgültigkeit und Untätigkeit, mit der ihm begegnet wird. Verhungern ist nicht als privates Unglück oder Schicksal von Individuen zu verstehen, sondern ist eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Amartya Sen hat bekanntlich auf der Grundlage des Studiums von Hungersnöten eine Verbindung zwischen politischem System und dem Auftreten von Hungersnöten hergestellt.2 Verhungern berührt den Kern von Überlegungen zur sozialen und globalen Gerechtigkeit, die auch im vorliegenden Band behandelt werden. 1. J. Ziegler, Wie kommt der Hunger in die Welt? Gespräche mit meinem Sohn. München 2000, 36. 2. A. Sen, Poverty and Famines. Oxford 1981.
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Menschen hungern nach Gerechtigkeit. Das vorliegende Buch, das auf einen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie zurückgeht 3, ist Ausdruck eines solchen Hungers. Der »Hunger nach Gerechtigkeit« ist Movens für philosophische Reflexion, Motivation für die Mühen, begrifflich zu arbeiten und Motor der Suche nach einer besseren Welt. Die Rolle dieses Hungers in der Konstruktion von Gerechtigkeitstheorien ist nicht zu unterschätzen; ist doch die Feststellung von Ungerechtigkeit und einer moralisch defekten Welt Ausgangspunkt für viele einschlägige Überlegungen. Kampf gegen den Hunger wird in vielen Fällen durch einen Hunger nach Gerechtigkeit bewegt. Dieser Kampf gegen den Hunger bedarf der begrifflichen Arbeit. Die Frage, wann eine Hungersnot vorliegt, ist mehr als eine bloß akademische Frage; entscheiden sich doch an diesen begrifflichen Überlegungen auch Linderungsmaßnahmen und Strategien der nachhaltigen Bekämpfung.4 Von einer Hungersnot sprechen wir dann, wenn (i) Hunger, (ii) Verarmung, (iii) Zusammenbruch des sozialen Netzes und (iv) hungerbedingte Todesfälle auftreten. Diese Überlegungen, die notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen angeben sollen, sind keine Spielereien am grünen Tisch; macht es doch einen großen Unterschied, ob akuter Hunger oder chronische Armut bekämpft werden soll. Damit der Hunger nach Gerechtigkeit nicht bei einem bloßen Gefühl stehen bleibt, sondern in »commitments« umgesetzt werden kann, d. h. in Verpflichtungen und in daraus erwachsendes Engagement, bedarf es der begrifflichen Anstrengung und der philosophischen Reflexion. Der Hunger nach Gerechtigkeit drückt sich in philosophischen Arbeiten über Welthunger aus, die aufgrund trauriger Anlassfälle seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen haben. Diese Fälle müssen uns allein schon deshalb zu denken geben, weil andererseits im Laufe der letzten Jahrhunderte durch den Einsatz von Wissenschaft und Technik sehr wohl eine »Erleichterung und Verbesserung der Lage der Menschen« eingetreten war, wie sie etwa Francis Bacon als Ziel der Aufklärung formuliert hatte.5 Bacons Über3. Vgl. dazu auch O. Neumaier/C. Sedmak/M. Zichy (Hg.): Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. Frankfurt/M.–Lancaster: Ontos, 2005. 4. Vgl. A. de Wal, Democratic Political Progress and the Fight against Famine (IDS Working Paper 107). Sussex 2000. 5. Vgl. dazu F. Bacon: Neues Organum. Hg. von W. Krohn. Übers. von R. Hoffmann. Hamburg 1990 (engl. Orig. 1620), 271 ff ., 157.
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legung, dass dieses Ziel durch »die Herrschaft des Menschengeschlechtes selbst über die Gesamtheit der Natur« zu erreichen sei, ist dabei nicht als Freibrief für ein grenzenloses Streben der Menschen nach Macht über die Natur und nach deren Ausbeutung zu verstehen, sondern als Vorschlag, das Überleben der Menschen in einer für sie oft übermächtigen Natur zu sichern, indem die den natürlichen Vorgängen zugrunde liegenden Gesetze erkannt werden, die es ermöglichen, die Naturvorgänge angemessen zu beschreiben und zu erklären, auf der Grundlage solcher Erkenntnisse Vorhersagen zu machen und sich in der Praxis entsprechend zu verhalten. Dabei ist einerseits zu bedenken, dass die Menschen vor der Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik dem »Lauf der Natur« oft hilflos ausgesetzt waren (und ohne deren Mittel weiterhin sind), andererseits aber, dass Bacon und andere Aufklärer keineswegs bloß an die »Erleichterung und Verbesserung der Lage« der Europäer bzw. der Bewohner hochindustrialisierter Länder dachten, sondern an die aller Menschen«. Hunger und Elend anderer Menschen zu erkennen, ihnen helfen zu können, aber gleichgültig und untätig zu bleiben, ist im Lichte der Aufklärung also un(ge)recht. Die Frage nach dem Umgang mit Welthunger ist zu einem Teil der philosophisch relevanten Gerechtigkeitsdiskussion geworden.6 Auch das Nachdenken über den Hunger bedarf der Reflexion. Avishai Margalit erinnert etwa im vorliegenden Band an die Gefahr, dem Kitsch in der Moralphilosophie zu verfallen, mit der Versuchung, die Menschen als Opfer anzusehen, die durchwegs als unschuldig und rein dargestellt werden. Hier ist Metareflexion vonnöten. Der vorliegende Band enthält konsequenterweise Überlegungen über Gerechtigkeit und Überlegungen über das Nachdenken über Gerechtigkeit. Es scheinen vier Fragen zu sein, die in Überlegungen über Gerechtigkeit eine entscheidende Rolle spielen: (a) Welche Situationen? Welche Situationen müssen im Rahmen einer Theorie der Gerechtigkeit berücksichtigt werden? Auf welche Typen von Situationen soll eine Gerechtigkeitstheorie uns reflexiv vorbereiten und argumentativ aus6. Vgl. W. Aiken/H. LaFollette (eds.), World Hunger and Morality. Upper Saddle River 1996; R. Attfield/B. Wilkins (eds.), International Justice and the Third World. London 1992; B. Harriss-White/R. Hoffenberg (eds.), Food: Multidisciplinary Perspectives. Oxford 1994; G.R. Lucas/T.W. Ogletree (eds.), Lifeboat Ethics: The Moral Dilemmas of World Hunger. New York 1976; H. O’Neill/J. Toye (eds.), World Without Famine? Basingstocke 1998; O. O’Neill, Faces of Hunger. London 1986; P. Sorokin, Hunger as a Factor in Human Affairs. Gainesville 1975; P. Unger, Living High and Letting Die. Oxford 1996.
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rüsten? Wie kann die in der Moralphilosophie virulente Gefahr eines Operierens mit Extremsituationen vermieden werden? Ist eine »dichte Beschreibung« von Situationen notwendig, um Gerechtigkeitsreflexion unter unidealen Bedingungen betreiben zu können? Soll Ausgangspunkt einer Gerechtigkeitstheorie die Beschreibung von Unrechtssituationen sein? (b) Welche Sprache? In welcher Sprache soll eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt werden? Wie ist über Recht und Unrecht zu sprechen? Welche Begriffe stehen uns zur Verfügung, welche Begriffe sind zu klären, zu verfeinern, zu entwickeln? Auf welche Kontexte sollen wir sprachlich vorbereitet sein? Erreichen wir angesichts von Not und Elend Grenzen der Sprache? Wie von Welthunger und Verhungern sprechen? Brauchen wir eine Sprache, die Unrechtssituationen klar als solche identifiziert? Wie kann eine sensible und behutsame Sprache entwickelt werden? (c) Welches Verfahren? Wie kann eine Theorie der Gerechtigkeit hergestellt werden? Mit welchen Mitteln soll eine Gerechtigkeitstheorie arbeiten? Wie kann methodisch und systematisch über Gerechtigkeit nachgedacht werden? Was sind die Konstruktionsschritte im Aufbau einer Argumentation gegen Unrecht? Welche Begründungsmittel werden in der Theorienkonstruktion zugelassen? (d) Welche Commitments? Welche Verpflichtungen legt uns das Nachdenken über Gerechtigkeit auf? Welche Commitments können wir nicht zurückweisen? Gibt es Pflichten auf Distanz? Wie können sie begründet werden? Wie können Commitments begründet werden? Wer hat welche Commitments gegenüber welchen Personen und Instanzen? Um der intellektuellen Redlichkeit willen ist in diesem Zusammenhang folgendes Caveat notwendig: Es könnte der Eindruck entstehen, dass der Bezug zum Welthunger sowie allgemein auf bestehende Ungerechtigkeit uns nur dazu dient, die Aktualität und Bedeutung des vorliegenden Sammelbandes herauszustreichen. Damit würden wir von dem profitieren, was wir kritisieren (eine Crux, mit der philosophische Altruismustheorien im Allgemeinen konfrontiert sind). Wir können die Möglichkeit einer solchen schiefen Optik nicht ausschließen. Tatsächlich stellte der Umstand, dass Menschen verhungern, während in mehr oder weniger sicheren Elfenbeintürmen philosophisch gearbeitet wird, durchaus eine Motivation für unseren Kongress und den vorliegenden Band dar. So einfach ist die Sache aber nicht abgetan; hängt sie doch mit der Frage »Warum Philosophie?« zusammen: Das Fehlen einer philosophischen Reflexion
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über Gerechtigkeit (und zumal unseres Sammelbandes) würde in Bezug auf das Problem des Welthungers de facto vermutlich wenig ändern, und gleichzeitig würde ein Fehlen des Welthungers die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion noch lange nicht abschaffen – allein schon deshalb, weil deren Problematik allgemeiner bzw. umfassender ist, die »Suche nach einem Gleichgewicht« also nicht obsolet wäre, selbst wenn es keinen Welthunger gäbe. Der erwähnte Eindruck liefert mithin kein Argument gegen die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion; wohl aber ist er ein Anlass für das Eingeständnis, dass im Unterschied zur These eines bekannten Vorworts eines berühmten Buches auch nach diesem Sammelband die philosophischen Probleme nicht »endgültig gelöst« sind; hingegen teilen wir mit dem Verfasser jenes Buches die darin später geäußerte Überzeugung, dass selbst dann, »wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« Diese Einsicht erzeugt in uns so etwas wie intellektuelle Demut, so sehr wir auch von der Hoffnung geleitet sind, dass eine klare und grundlegende theoretische Diskussion der angesprochenen Probleme hilft, sie praktisch eher auf Erfolg versprechende Weise anzugehen. Die vorliegende Sammlung weist zumindest auf, welche Fragen gestellt werden müssen und welche Strategien verfolgt werden können. Der Band zeigt das breite Spektrum, innerhalb dessen die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion verhandelt wird. Dies ist natürlich vor allem ein Verdienst der Autorinnen und Autoren, denen wir deshalb für ihre Beiträge herzlich danken.7 All diese Beiträge sind aber auch Ausdruck eines Kampfes gegen Indifferenz. Justice matters. In diesem Sinne hängt der Hunger nach Gerechtigkeit mit dem Hunger in der Welt zusammen. Wir wollen eben nicht vergessen, dass die Tatsache, dass Menschen verhungern, Anlassfall und Prüfstein für philosophische Reflexionen über Gerechtigkeit ist.
7. Zu danken ist nicht zuletzt auch Herrn Erwin Rechberger, der die Aufgabe des Korrekturlesens mit einer Gewissenhaftigkeit erfüllt hat, die ihresgleichen sucht.
MENSCHENWÜRDE ZWISCHEN KITSCH UND VERGÖTTERUNG Avishai Margalit
1. Horizontale und vertikale Anerkennung Was ist an menschlichen Wesen so besonders, dass ausnahmslos alle verdienen, moralisch geachtet zu werden, und zwar wohlgemerkt nicht dafür, was sie tun, sondern für das, was sie sind? Die Achtung vor Menschen gleicht seltsamerweise der Anerkennung unter Adligen: Du wirst nicht dafür geschätzt, was du geleistet hast, sondern dafür, wer du bist; wer du bist, hängt aber von deinem Familienstammbaum ab. Die Familie, um die es im Falle der Achtung vor Menschen geht, ist sozusagen die Menschheit. Und doch besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Anerkennung unter Adligen und der moralischen Anerkennung (oder Achtung) von Menschen als Menschen. Gesellschaftliche Anerkennung weist zwei Dimensionen auf: die vertikale Dimension, d. h. die Anerkennung, die wir jenen schulden, die höher gestellt sind als wir, und die horizontale Dimension, die Anerkennung jener, die uns gleich sind. Die moralische Anerkennung kennt nur eine Dimension, nämlich die horizontale. Diese Art von Achtung erstreckt sich auf alle Menschen, seien sie von der übelsten Sorte wie etwa grausame Verbrecher oder seien sie bemitleidenswerte Geschöpfe wie etwa geistig schwer behinderte Menschen. Interessanterweise gilt selbst für menschliche Leichname, dass sie mit Achtung zu behandeln sind. Ein Toter ist, selbst wenn er unser Feind war, etwas anderes als ein Tierkadaver. Wir erwarten, dass er anders als ein solcher behandelt wird – ein Unterschied, der sich in Achtung ausdrückt. Zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und moralischer Achtung kann es zu ernsthaften Spannungen kommen, da wir aufgerufen sind, moralisch auch Individuen zu achten, die wir gesellschaftlich von Herzen verachten. Der Dichter Wystan Hugh Auden stellte seinen 1930 erschienenen Poems folgendes Motto voran: »Let us honour if we can / the vertical man / Though we value none / but the horizontal one« [»Jeder ehre, wie er kann, den vertikalen Mann. Doch wir alle trachten, nur den horizontalen Mann zu achten«]. Meinte er damit, dass wir nur die Toten anerkennen können, aber unfähig sind, 13
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auch die Lebenden zu achten, die noch aufrecht gehen und stehen? Oder hatte er einen erotischen Witz für Eingeweihte im Sinn? Ich weiß es nicht. Meine Überlegungen zielen freilich auf das Gegenteil von Audens Versen, also auf die Einstellung: »Let us honour if we can the horizontal man, though we value none but the vertical one.« Damit meine ich: Widmen wir uns der rein horizontalen Anerkennung des Menschen, um die es bei der moralischen Achtung geht, auch wenn uns sonst eben an der vertikalen gesellschaftlichen Anerkennung liegt. Gegen meine Behauptung, dass Achtung eine rein horizontale Beziehung ist, könnte jemand Folgendes einwenden: Moralische Achtung mag ja zwischen Menschen eine horizontale Beziehung sein, doch zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen setzt sie eine vertikale Beziehung voraus, die sich auf den ungerechtfertigten Anspruch stützt, dass die Menschen über allen anderen Geschöpfen stehen und deshalb die einzigen Wesen sind, die moralische Rücksicht und Rechte in Anspruch nehmen können. Dieser Einwand bringt den Speziesismus-Vorwurf ins Spiel, wonach Menschen eine ungerechtfertigte Vorliebe für ihre eigene Art pflegen. Ich werden auf diesen Einwand am Ende meines Beitrages zurückkommen. 2. Die religiöse Antwort Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Was begründet die Achtung von Menschen als Menschen? Eine einflussreiche Antwort auf diese viel diskutierte Frage lautet, dass Menschen gar nicht als solche Achtung verdienen. Vielmehr liegt der Grund dafür in etwas anderem. Und zwar verdienen Menschen allein deshalb Achtung, weil sie nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Gott ist der alleinige Schöpfer. Also verdient Gott und nur Gott Ehrfurcht. Die Achtung vor Menschen verdankt sich lediglich dem Umstand, dass ein Glanz der von Gott ausgehenden Herrlichkeit auf sie fällt. Die Frage, was an menschlichen Wesen so großartig ist, dass sie verdienen, moralisch geachtet zu werden, ist demnach so zu beantworten, dass die Menschen selbst gar nichts Großartiges an sich haben. Gott ist groß, und Menschen sind nach dem Ebenbild des großen Gottes geschaffen. Was aber heißt es, nach Gottes Ebenbild geschaffen zu sein? Leider ist diese Frage notorisch unklar, denn nach der herkömmlichen Lesart der Schriften wird von Gott ja angenom-
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men, dass wir uns von ihm in wörtlichem Sinn überhaupt kein Bildnis machen können. Die Vorstellung, »nach dem Ebenbild Gottes geschaffen zu sein«, hat indes eher mit irgendeiner nicht näher bestimmten Ähnlichkeit zu tun, aufgrund welcher die Menschen Gott gleichen; eben diese Ähnlichkeit spiegelt die Herrlichkeit Gottes in den menschlichen Wesen wider. Diese Ähnlichkeit ist keine symmetrische Relation. Vielmehr entspricht sie eher dem, was in der Redeweise zum Ausdruck kommt, dass Tel Aviv mehr Ähnlichkeit mit New York aufweist als umgekehrt. Zwar ist Ähnlichkeit demnach nicht das, was uns die meisten Logiker darüber erzählen, wohl aber das, was Thomas von Aquin annimmt, nämlich eben eine nicht-symmetrische Relation. Zu ergänzen ist dabei, dass die Vorstellung, wonach alle Menschen Achtung verdienen, weil sie nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, durch einen wirkmächtigen Ursprungsmythos gestützt wird, dem zufolge die Menschheit von einem Paar abstammt, das von Gott selbst geschaffen worden ist. Die Achtung davor, nach Gottes Ebenbild geschaffen zu sein, erstreckt sich also auf alle Menschen, weil diese Nachkommen jener Stammeltern sind; und alle Menschen bilden eine große Familie, die »Familie der Menschheit«. In der jüdischen Tradition wird die universalistische Lesart der relevanten Bibelverse, die in der Ansicht gründen, dass alle Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, nicht von allen Autoritäten geteilt. Vielmehr finden wir insbesondere in der jüdischen Mystik auch sehr problematische Interpretationen, die den Begriff des Menschseins auf das Judentum eingrenzen. Bekannt ist etwa der talmudische Spruch, der dem Mystiker Simon Bar Yohai zugeschrieben wird: »Ihr werdet Menschen genannt, aber die Nichtjuden (›die Heiden‹, ›die Götzendiener‹, ›die Fremden‹) sollen nicht Menschen genannt werden«.1 Im Gegensatz zur erwähnten religiösen Begründung für die Achtung vor Menschen beruft sich die humanistische Ethik für moralische Begründungen nicht auf das Göttliche. Vielmehr sind die Menschen das Maß aller moralischen Dinge. Folglich wird die Frage, warum Menschen Achtung verdienen, in der humanistischen Moraltheorie durch die Berufung auf die Menschen oder auf Merkmale des Menschseins beantwortet. Die humanistische Antwort auf das Problem der Begründung der Achtung vor Menschen zielt darauf, diese Achtung unmittelbar zu begründen, d. h. durch eine unmittelbare Berufung auf 1. Vgl. Traktat BJebamot 61 a Anfang. Freilich geht es im Kontext weniger um das philosophische Problem, wer als Mensch gilt, sondern um praktische Fragen der Reinheit.
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Menschen und deren Merkmale, also ohne dabei Gott oder etwas anderes als vermittelnde Instanz ins Spiel zu bringen. Dieser Ansatz steht vor dem Problem, ein Achtung begründendes Merkmal anzugeben, d. h. ein Merkmal, durch das wirklich allen Menschen ein Wert zukommt, aufgrund dessen sie Achtung verdienen. Die bloße Tatsache, dass jemand Mensch ist, gilt gewöhnlich nicht als hinreichend für die Begründung von Achtung, da der Ausdruck »Mensch« lediglich deskriptiv verstanden wird, d. h. als Bezeichnung von Angehörigen einer biologischen Art; in diesem Sinne hat er keinerlei moralische Bedeutung. Im Gegensatz zu dieser weit verbreiteten Ansicht vertrete ich die Position, dass der Anspruch, der die Achtung vor Menschen begründet, eben mit dem Menschsein zu tun hat. Andere Merkmale, die zur Begründung angeführt werden, zielen entweder zu hoch oder zu niedrig. Mit dem Bezug auf das Menschsein treffen wir jedoch genau ins Schwarze. Als Beispiel für ein Merkmal, das uns zu niedrig zielen lässt, erscheint mir die Achtung vor Menschen als potenziellen Opfern, während der Bezug auf Menschen als potenziellen moralischen Gesetzgebern für ein Merkmal steht, durch das wir zu hoch ansetzen. Wenn wir zu kurz zielen, so führt dies zu Kitsch, im anderen Fall zu Vergötterung. Beides sind verlockende Fallen. Im Folgenden versuche ich zu klären, inwiefern es sich dabei um Fallen handelt, und ich hoffe. dass ich die Diskussion der Problematik von einigem Geschwätz befreien kann, das damit einhergeht. 3. Moralischer Kitsch Als Jugendlicher erhielt ich einmal ein damals überaus populäres Fotobuch mit dem Titel The Family of Man geschenkt. Das Buch war der Katalog zu einer von Edward Steichen konzipierten Ausstellung, die unter diesem Titel in New York gezeigt wurde – und unter dem Titel »The Great Family of Man« in Paris. Darin sind Menschen verschiedener ethnischer Gruppen und bemerkenswert unterschiedlichem Aussehen vereinigt, um zu zeigen, was allen Menschen gemeinsam ist: geboren werden, heiraten, arbeiten, sterben, aber auch lachen, solange wir noch leben. Eine uralte, weise ungarische Jüdin, die mit mir in einem Jugenddorf arbeitete, sah das Buch, blätterte es von vorn bis hinten durch und brummte zu meiner Überraschung: »Das ist Kitsch.« Was sie sagte, verunsicherte mich sehr. Nicht, dass mich das Fotobuch so begeisterte, aber ich mochte die Person sehr, die es mir geschenkt hatte. Jahre spä-
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ter las ich in Roland Barthes’ Mythen des Alltags seine Diskussion der Ausstellung »The Great Family of Man« in Paris; dieser wirft er darin Adamismus vor, d. h. die Unterstellung von etwas Wesentlichem, das unterhalb der oberflächlichen, bunt exotischen Verschiedenheit allen Menschen gemeinsam ist.2 Freilich war nicht das der Punkt, auf den meine betagte Freundin gezielt hatte. Sie fand The Family of Man zwar technisch hervorragend gemacht, aber unerträglich sentimental. Sie spürte instinktiv, dass Kitsch und Sentimentalität eng miteinander verbunden sind. Und eben das ist Teil meiner These: Sentimentalität ist ein wesentlicher Bestandteil von Kitsch. Ebenso behaupte ich, dass Sentimentalität für Kunst, aber auch für Moral schlecht ist. Kurz gesagt ist »Kitsch« nicht einfach ein Schimpfwort für schlechten Geschmack, sondern ein Ausdruck von Kritik, der auf Moral ebenso angewendet werden sollte wie auf Kunst: Es gibt Kitsch in der Kunst; wie ich zu zeigen versuchen werde, gibt es aber auch Kitsch in der Moral. Ich möchte jedoch noch etwas zeigen, nämlich dass ein sentimentaler Humanismus unbeschadet seiner edlen Gefühle sehr anfällig für die beiden Seiten von Kitsch ist, die moralische und die ästhetische. C.G. Jung schrieb 1932 über den Ulysses von Joyce. Er fand dessen »Gefühlsatrophie« eher erfrischend und erachtete sie als Zeichen für Joyces Reaktion auf die um ihn herum herrschende »heillose Sentimentalität«. In Anschluss daran schreibt Jung, es gebe »einige Anhaltspunkte dafür, daß unser Sentimentenschwindel ganz ungebührliche Proportionen besitzt. Man denke an die geradezu katastrophale Rolle der populären Sentimente zur Kriegszeit! Man denke an unsere sogenannte Humanität!« Und er fügt hinzu: »Sentimentalität ist ein der Brutalität aufgesetzter Überbau.«3 Jungs metaphorischer Gebrauch der Marxschen Unterscheidung von Basis und Überbau, der die Brutalität als Basis hinstellt und die Sentimentalität als deren Überbau, gibt Anlass zu tieferer Betrachtung. Was an Brutalität falsch ist, erscheint uns klar; was genau ist aber an der Sentimentalität falsch? Eine Antwort darauf hilft uns meines Erachtens auch, die Frage zu beantworten, was an Kitsch falsch ist. Zunächst einmal verzerrt Sentimentalität die Wirklichkeit. Damit ist nicht gesagt, dass sich Sentimentalität in jedem Fall auf einen Gegenstand bezieht. 2. Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags. Übers. von H. Scheffel. Frankfurt/M. 1964, 19. 3. C.G. Jung: »›Ulysses‹. Ein Monolog«, in: ders., Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft. 4. Aufl. Olten 1984, 121–149, hier: 135 f.
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Eine auf einer Geige (oder, noch besser, mit Saxophonen) gespielte Melodie kann sentimental sein, ohne dass sie sich notwendigerweise auf etwas bezieht. Mary Midgley hat aber Recht, wenn sie in ihrem Aufsatz über »Brutality and Sentimentality« bemerkt, dass Sentimentalität eine »falsche Darstellung der Welt« einschließt, die darauf zielt, »unseren Gefühlen zu schmeicheln«.4 Tatsächlich ist sentimentaler Kitsch ein Gefühl zweiter Stufe. Milan Kundera, ein großer Kenner des Kitsches, schreibt dazu treffend: »Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fließende Tränen der Rührung hervor. Die erste Träne besagt: wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: wie schön ist es doch, gemeinsam mit der ganzen Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein!« Und er fügt hinzu: »Erst diese zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.« 5 Der semantische Aufstieg von der Träne erster Stufe zur Träne zweiter Stufe wird dadurch ermöglicht, dass ein Gegenstand als Gegenstand von großer Unschuld erscheint. Was ist unschuldiger als Kinder, die auf der Wiese herumtollen? Was hat aber all das mit unserem Bemühen um die Achtung menschlicher Wesen zu tun? Der Zusammenhang ist folgender: Eine einflussreiche Begründung für die Achtung von Menschen geht von der Annahme aus, dass die Menschen, d. h. alle Menschen, fähig sind, Leid als solches zu empfinden. Ich halte diese Ansicht für überaus verdienstvoll. Sie birgt in sich aber auch eine große Gefahr, nämlich die Gefahr, dass wir Menschen als Opfer ansehen. Und das ist noch nicht alles. Um die Opfer moralisch zu würdigen, werden sie zu etwas gemacht, das durchwegs unschuldig und rein erscheint. Eben hier kommt der sentimentale Kitsch ins Spiel. Die Forderung, Menschen zu achten, ist viel leichter zu erfüllen, wenn sich die Achtung auf unschuldige Wesen richtet. Der Gedanke an die Achtung vor Menschen ist aber gerade dann vonnöten, wenn diese nicht oder nur zum Teil unschuldig sind. Eben deshalb ist die sentimentale Verzerrung, Opfer stets als unschuldig und rein hinzustellen, schädlich für die Notwendigkeit und die Ausübung der Achtung gegenüber Menschen. Sklaverei ist der Inbegriff menschlicher Erniedrigung und Grausamkeit, unabhängig davon, wer der Sklave ist. Ein Schwarzer muss keineswegs so unschuldig sein wie Onkel Tom, damit er als menschliches Wesen Achtung verdient und von der Grausamkeit und Demütigung des Herrn Simon Legree verschont 4. M. Midgley: »Brutality and Sentimentality«, in: Philosophy 54 (1979), 385–389, hier: 385. 5. M. Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Übers. von S. Roth. München–Wien 1984, 240.
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bleibt. Ich vermute, dass Richard Rorty Onkel Toms Hütte im Hinterkopf hat, wenn er sich über Kants »verblüffende These, mit dem Empfinden habe Moral nichts zu tun«, beklagt. Rorty glaubt vielmehr, dass »das Auftauchen der Menschenrechtskultur einem Zuwachs an moralischem Wissen offenbar gar nichts, sondern alles dem Hören trauriger und rührseliger Geschichten verdankt«.6 Rorty kann gut und gern behaupten, dass Harriet Beecher Stowe mit all ihrer Sentimentalität mehr zum Ende der Sklaverei beigetragen hat, als dies der nüchterne Kant mit seinem Konzept von Menschenwürde zu tun in der Lage war. Und doch halte ich Kants Einwand gegen Sentimentalität für richtig und wichtig. Und zwar ist daran richtig, dass es notwendig ist zu vermeiden, Menschen um moralischer Überlegungen willen in erster Linie als Opfer hinzustellen und unser Mitleid mit ihnen zu schüren, indem sie durchwegs als unschuldig und rein hingestellt werden. Sentimentalität ist eine doppelte Sünde: Sie lenkt von der Menschenwürde ab, indem sie Menschen im Wesentlichen als Opfer vorstellt, und sie verzerrt, indem sie sie durchwegs unschuldig macht. In vielen Fällen versucht die »Erziehung der Gefühle«, der Notwendigkeit, die moralische Achtung auf alle Menschen zu erstrecken, so gerecht zu werden, dass sie alle, Täter und Opfer, gleicherweise in Opfer verwandelt. Grausame Verbrecher werden als hilflose Opfer geschildert, die eine heillose Kindheit in zerbrochenen Familien durchlitten, aber nie als moralisch verantwortliche Erwachsene. Die Sentimentalität des Kitsches schafft eine Kultur des Opferdaseins. Sie sentimentalisiert die anderen, am Rande der Gesellschaft Stehenden, indem sie diesen ein hohes Maß an Spiritualität verleiht, um ihre Ohnmacht auszugleichen, und sie so zu Trägern großer Unschuld macht, die ständig von den seelenlosen Mächtigen angegriffen werden. Es ist falsch, allzu falsch, die anderen, am Rande der Gesellschaft Stehenden, zu demütigen. Um als Menschen behandelt zu werden, müssen sie aber nicht als kostbar, rein oder seelenvoll gelten. Bei der Achtung von Menschen geht es um nichts anderes: Sie hängt nicht davon ab, dass Menschen etwas besonders Edles wären. Ich bin mir sicher, dass viele von uns unangenehm berührt waren, als sie sahen, wie die amerikanischen Ärzte im ungekämmten Haar des wie ein Unterstandsloser erscheinenden Sadam Hussein nach Läusen suchten. Das hatte keinen anderen Zweck, als ihn zu demütigen. Es war ein Grenzfall 6. R. Rorty: »Menschenrechte, Rationalität und Empfindsamkeit«, in: ders., Wahrheit und Fortschritt. Übers. von J. Schulte. Frankfurt/M. 2003, 241–268, hier: 253, 248.
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von sozialer Demütigung und menschlicher Erniedrigung. Wäre es ein klarer Fall menschlicher Erniedrigung gewesen, indem etwa vor den Augen der Öffentlichkeit seine Geschlechtsteile untersucht worden wären, so hätten wir zweifellos alle das Gefühl gehabt, dass da etwas ganz Falsches vor sich ging. Saddam ist eine der am wenigsten unschuldigen Personen auf dieser Erde. Verglichen damit, was 1958 mit Nuri Said, einem früheren Premierminister des Irak, geschah, der von einer als Frauen verkleideten Gruppe gefangen und ermordet wurde und dessen Leichnam dann durch die Straßen von Bagdad geschleift wurde, ist die Suche nach Läusen in Saddams Haar so naiv wie die amerikanische Fernsehserie »Baghdad Café«. Mein Punkt ist freilich, dass es gar nicht darum geht. Entscheidend ist vielmehr, dass wir die Menschenwürde selbst bei so verabscheuungswürdigen Leuten wie Saddam Hussein wahren sollten. Anders als Sentimentalität hat die Menschenwürde nichts mit Unschuld zu tun. Wie Kundera gezeigt hat, läuft Kitsch auf die völlige Leugnung von Scheiße (im wörtlichen und übertragenen Sinne) in unserem Leben hinaus. Es ist leicht, Frauen und Kinder zu achten, die aussehen, als wären sie aus einem Gemälde von Murillo genommen. Viel schwieriger ist es, Menschen zu achten, die ziemlich beschissen sind. Das sentimentale Bild von Menschen als Opfern beeinträchtig nicht bloß unsere Achtung vor Menschen, sondern insbesondere unsere Vorstellung von Gerechtigkeit. Die viktorianische Moral liebte es, ihren Blick sentimental auf die Armen zu richten und dabei zu denken, dass die Verteilungsgerechtigkeit nicht die gesamte soziale Leiter mit hinuntergeht. Es ist schon in Ordnung, etwas für die bedauernswerten Armen zu tun, sagt der Sentimentalist, wir sind ja nicht herzlos, aber Gott bewahre uns vor progressiven Steuern. Es ist schön, wie Rawls mit den am meisten Benachteiligten zu beginnen; es ist alles andere als schön, die am meisten Benachteiligten zu sentimentalisieren, indem man jene ignoriert, die nicht zum Objekt von Sentimentalität taugen. Anders als die »sentimentale Gerechtigkeit« kümmert sich die Verteilungsgerechtigkeit um das gesamte gesellschaftliche Spektrum. Ich habe nichts dagegen, mit den am meisten Benachteiligten zu beginnen, solange uns die Sentimentalität nicht daran hindert, uns auch anderen Bedürftigen zuzuwenden. Ich habe auch nichts dagegen, mit »Frauen und Kindern« als Wahrzeichen zivilisierten Lebens anzufangen, solange wir nicht gleich wieder mit ihnen aufhören. Ich habe sogar viel dafür übrig, beim Stichwort »Gerechtigkeit« zu allererst an Witwen und Waisenkinder zu denken, wie dies in der jüdischen Bibel und im Koran des Islam der Fall ist. In beiden Büchern finden wir den Gedan-
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ken, dass Gerechtigkeit in erster Linie gegenüber Witwen und Waisenkindern zu üben ist, und zwar nicht deshalb, weil diese am meisten benachteiligt sind, sondern weil sie am meisten der Hilfe bedürfen. Eine Frau mag die Witwe und eine Waise das Kind eines reichen Mannes sein, doch bedürfen beide dennoch insofern am meisten der Hilfe, als sie am wenigsten für ihre Interessen eintreten können. Dies erscheint mir als wichtige Einsicht in die Gerechtigkeit. Witwen und Waisenkinder sind natürlich Kandidaten für die Sentimentalität des Kitsches, doch sollten wir nicht vergessen, welche Rolle sie für die Vorstellung von Gerechtigkeit spielen. Kaufleute gelten hingegen wohl kaum als Gegenstand sentimentalen Kitsches, doch können sie genauso hilfsbedürftig sein. Indische Kaufleute in Kampala oder chinesische Kaufleute in Phnom Penh genießen insgesamt einen höheren Wohlstand als ihre Nachbarn, doch sind sie historisch gesehen viel schutzbedürftiger als diese, da sie ihr Wohlergehen in einer recht feindlichen Umgebung verteidigen müssen. Sie stehen zwar auf Rawls’ Skala nicht an unterster Stelle, doch ist das kein Hindernis, um bei der Ausübung von Gerechtigkeit mit ihnen zu beginnen. Mein Einwand gegen den Bezug auf »Frauen und Kinder« oder »Witwen und Waisen« hat nichts damit zu tun, dass diese vielleicht moralisch nicht relevant wären. Vielmehr erregt der Umstand meinen Anstoß, dass sie als Paradefälle des Opferdaseins ge- oder sogar missbraucht werden. Am sentimentalen Kitsch ist zudem falsch, dass damit eine emotionale Trägheit einhergeht. Er macht uns die Dinge in emotionaler Hinsicht allzu leicht. Es ist verdammt hart, verabscheuungswürdige Menschen allein deshalb zu achten, weil sie Menschen sind. Dies gilt selbst dann, wenn wir mit Stephen Darwell davon ausgehen, dass hier zwei Arten von Achtung ins Spiel kommen7: Achtung aufgrund der Bewertung von Leistungen oder aber der Erkenntnis, dass unserem Handeln Grenzen gesetzt sind, und zwar wegen der Tatsache, dass der andere ein Mensch ist. Auch diese auf Erkenntnis beruhende Achtung fällt uns emotional schwer, und zwar eben deshalb, weil wir aufgefordert sind, die auf Erkenntnis beruhende Achtung auch auf jemanden anzuwenden, den wir nicht aufgrund irgendeiner Leistung achten oder sogar unverhohlen verabscheuen. Indem wir den Gegenstand unserer Achtung zu einem unschuldigen, leidenden Opfer machen, verdrängen wir das wahre Problem, nämlich Menschen zu achten, die weder rein noch unschuldig sind. 7. Vgl. S.L. Darwall, »Two Kinds of Respect«, in: J. Deigh (Hg.): Ethics and Personality. Chicago 1992, 65–78, hier: 67 f.
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4. Vergötterung bei Marx Marx bestand darauf, dass es ihm nicht um Moral ging, sondern um Wissenschaft. Wer sich die Mühe macht, Marx zu lesen, wird jedoch den moralischen Unterton in seinen Schriften erkennen. Auch ist klar, dass für diese Moral der Begriff der »Ausbeutung« zentral ist: die Tatsache, dass den Arbeitern der Mehrwert geraubt wird, der ihnen als den alleinigen Erzeugern wertvoller Produkte zusteht. Wie ich glaube, verstand sich Marx als jemanden, der Wissenschaft betreibt und sich nicht mit Moral beschäftigt, weil er die Wissenschaft als Schule des strengen Denkens ansah, während er die Moral für verschwommen, weich und sentimental hielt. Die Moral kann die Arbeiter bloß als arme Leute behandeln, aber nicht als die Produzenten achten, die sie sind. Die Arbeiter wurden nach Ansicht von Marx ausgebeutet, aber deshalb betrachtete er sie noch lange nicht als Opfer, sondern als Erzeuger, ja als Schöpfer. Nach Marx ist die Welt nicht etwas Natürliches, von Gott Geschaffenes, sondern eine Welt der Menschen, die von den Arbeitern aufgebaut wird. Natürlich existiert auch in seinen Augen die Natur, aber sie wird uns durch die menschliche Zivilisation vermittelt – eine von Menschen geschaffene Zivilisation oder, genauer gesagt, von produktiven Menschen, d. h. Arbeitern. Die Auffassung von Menschen als Opfern wandelt sich also bei Marx in ihre Vergötterung als Schöpfer von allem Wertvollen – nun ja, nicht die aller Menschen, sondern nur der Menschen par excellence – der Arbeiter. Mit Vergötterung meine ich vor allem, dass den Arbeitern ein Merkmal zugeschrieben wird, das ursprünglich ein Merkmal Gottes war, nämlich Schöpfer zu sein. Von da ist es nur ein Schritt, jenen die Menschlichkeit abzusprechen, die nicht schöpferisch sind. Nicht zufällig wird bei der Umsetzung des Marxismus durch die Marxisten-Leninisten der entmenschlichende Ausdruck »Parasit« so häufig verwendet. Parasiten leben auf Kosten ihrer Erzeuger. Sie gehören nicht zur Kategorie des Homo faber, der als einzige Möglichkeit des Menschseins gilt. Die Parasiten sollten ausgemerzt oder zumindest grausam »umerzogen« werden. Bekanntlich fordert Lenin die »Säuberung russischer Erde von allen schädlichen Insekten, spitzbübischen Flöhen, reichen Wanzen und so weiter.«8 Trotz des Anti-Sentimentalismus von Marx blieb der Kommunismus freilich nicht vom Kitsch verschont. Der Kommunismus war voll von »pshlost« 8. Zitiert bei D. Wolkogonow: Lenin. Utopie und Terror. Übers. von M. Schweisthal, C. Geisinger, J. Neik und C. Sieg. Düsseldorf 1994, 264.
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vom Typ des »lachenden solidarischen Arbeiters«, der für die lachende Menschheit der Zukunft stand.9 Kommunistischer Kitsch ist jedoch ein weiteres erbärmliches Beispiel von Sentimentalität als Überbau von Brutalität. 5. Vergötterung bei Kant Zurück zur Vergötterung und ihren Gefahren. Welches gut-machende Merkmal auch immer wir heranziehen, um unsere Achtung vor Menschen zu begründen, ist klar, dass nicht alle Menschen darüber verfügen. Zu jedem gutmachenden Merkmal gibt es auch eine Krankheit oder einen Mangel, der manche Menschen dieses Merkmals beraubt. Jegliches gut-machende Merkmal, das über das Menschsein hinausgeht, grenzt also den Kreis der Menschen, die moralische Achtung verdienen, enger ein. Jene, die nicht über das gut-machende Merkmal verfügen, befinden sich auf der anderen Seite der Medaille der Vergötterung, d. h. auf der Seite des Beflecktseins. Der moderne Gedanke einer Achtung vor menschlichen Individuen, die nicht auf Status oder Verdienst beruht, sondern auf Menschenwürde, wurde von Kant unter dem Einfluss von Rousseau entwickelt. Kants Geschichte ist wohl bekannt – was freilich nicht heißt, dass sie auch gut verstanden wird. Löste sich Kant tatsächlich, wie oft angenommen wird, von der religiösen Vorstellung, dass Menschen Achtung aufgrund der sich in ihnen spiegelnden göttlichen Herrlichkeit verdienen? Schlägt er nicht vielmehr eine säkularisierte Form widergespiegelter Herrlichkeit als Grund für die Achtung von Menschen vor? Tatsächlich behauptet Kant ja in der »Grundlegung«: »Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz« und »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz.«10 Nach Kants Auffassung verkörpern Menschen, d. h. vernünftige Menschen, das Gesetz. Es ist jedoch das moralische Gesetz und nur das moralische Gesetz, das eigentlich Achtung verdient. Menschen verdienen bloß insofern Achtung, als sich in ihnen die Herrlichkeit des moralischen Gesetzes widerspiegelt. 9. »Pshlost«, der russische Ausdruck für Kitsch, wurde von Vladimir Nabokov, einem anderen großen Kenner des Kitsches, in seinem Buch über Gogol wunderbar kommentiert. 10. I. Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie (= Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. IV). Wiesbaden 1956, 28 (BA 17, Anm.**).
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Die Lesart, wonach Kants Vorstellung von Menschenwürde auf der Widerspiegelung einer höheren Herrlichkeit beruht, ist nicht die einzige Möglichkeit, ihn zu lesen. Vielmehr finden wir bei Kant auch einen unmittelbaren Grund für die Achtung von Menschen, nämlich dass diese als Schöpfer des moralischen Gesetzes in Frage kommen. In Kants System sind Menschen das funktionale Äquivalent zum Gesetzgeber im religiösen System. Nicht Menschen sind es, die wir achten sollen, sondern die Menschheit in uns und anderen. Die Menschheit in uns ist die Fähigkeit zu Rationalität bzw. Vernunft; diese benötigen wir, um das moralische Gesetz schaffen zu können. Achtung vor (rationalen bzw. vernünftigen) Menschen besteht laut Kant darin, dass wir diese »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandeln.11 Umgekehrt meint Kant auch, die Missachtung von Menschen sei nichts anderes, als sie wie bloße Mittel zu behandeln. Meiner Ansicht nach besteht der Inbegriff von Demütigung jedoch nicht darin, dass Menschen als bloße Mittel behandelt werden, sondern dass sie noch nicht einmal als Mittel gelten. So wird etwa berichtet, dass KZ-Insassen, die bloß als Mittel behandelt wurden, um z. B. Munition für die deutsche Wehrmacht zu erzeugen, dies als weniger erniedrigend empfanden als Leute, die in den Lagern gezwungen wurden, sinnlose Sisyphusarbeit zu verrichten, wie etwa Löcher in den Boden zu graben und diese dann wieder aufzufüllen. Dies gilt selbst für jene Fälle, in denen die KZ-Insassen als Mittel zur Produktion von Munition dienten, die dann gegen ihre Kameraden eingesetzt wurde. Zwei Fragen drängen sich freilich unmittelbar auf: Wie steht es mit jenen, denen die Fähigkeit zur Vernunft fehlt, z. B. den geistig Behinderten? Entbindet uns Kant davon, die Menschheit in ihnen zu achten? Und warum sollen wir die bloße Fähigkeit zu vernünftigem Denken achten, da diese doch allzu leicht missbraucht werden kann? Zweifellos verfügten Reinhard Heydrich und Hans Frank über die Fähigkeit zu vernünftigem Denken, doch wurden sie Kriegsverbrecher der übelsten Sorte, ist also ihre Menschlichkeit pervertiert. Haben wir sie zu achten? Bewahren die beiden eine Spur von Menschenwürde? Nach Kants Auffassung können Menschen als einzige Wesen Zwecke setzen und sind sie deshalb die einzigen Zwecke in sich selbst. Dies und ihre Fähigkeit zu Vernunftgebrauch verlangt uns seiner Ansicht nach Achtung ab. NaziZwecke sind jedoch verabscheuungswürdig. Warum sollten wir also jenen, die solche Zwecke setzen, irgendeine Form von Achtung entgegenbringen? Eine 11. Vgl. I. Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, a. a. O., 61 (BA 66 f.).
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bloße Anlage zu achten, ist so absurd, wie Vereine von Menschen mit hohem IQ zu bewundern, ungeachtet dessen, was diese damit anfangen. (Es gibt solche Vereine.) Die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen durchsetzt das liberale Denken. Tatsächlich steckt im Gebrauch des Ausdrucks »liberale Moral« eine systematische Doppeldeutigkeit, welche die Schlüsselbegriffe »Individuum« und »Autonomie« betrifft: Ein autonomes Individuum zu sein, ist einerseits das Höchste, was jemand im Sinne dieser Moral erreichen kann; andererseits wird von allen menschlichen Wesen angenommen, dass sie autonome Individuen sind und als solche Achtung verdienen. Man könnte argumentieren, dass Kant besser daran täte, den Begriff der Achtung auf Menschen nicht kategorisch anzuwenden, sondern in einem differenzierten konditionalen Sinn, etwa so: Achte jedes menschliche Wesen, es sei denn, dass Grund zur Annahme besteht, dass einem die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch abgeht oder dass diese Fähigkeit wesentlich pervertiert ist. Kants Art, über die Achtung vor Menschen zu reden, baut auf der Annahme von Rechten auf. Dasselbe gilt für die meisten zeitgenössischen Zugänge zur Problematik der Achtung: Jede Person hat das Recht, in Menschenwürde zu leben. Dagegen meine ich, dass es falsch ist, sich auf die Vorstellung von Rechten zu stützen, wenn es um Achtung geht. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schlug Stalin vor, die Naziführer nackt in einem Käfig zu zeigen und sie so durch ganz Europa zu karren. Ich wüsste nicht, warum die Naziführer das Recht hätten, nicht auf diese Weise ausgestellt zu werden; zumindest haben sie alles Mögliche getan, um alle ihre Rechte zu verwirken. Ich halte es jedoch für zwingend geboten, kein menschliches Wesen auf solche Weise zu behandeln, auch keine Naziführer. Anderen mit moralischer Achtung zu begegnen, ist eine Pflicht, der nicht immer ein Recht auf Achtung gegenübersteht. Schließt die Achtung vor Menschen ein, das Leben menschlicher Wesen zu achten? Tatsächlich halte ich es für einen wesentlichen Bestandteil der moralischen Achtung vor Menschen, dass ihr Leben geachtet wird, und zwar selbst dann, wenn sie ihrerseits jegliche Achtung vor menschlichem Leben vermissen lassen, wie dies etwa bei Mördern der Fall ist. In diesem Sinne ist die Todesstrafe als schwere Verletzung der Menschenwürde anzusehen. Nicht so für Kant. Seine strafrechtliche Vergeltungsgerechtigkeit ist ziemlich grausam: Kastration für Vergewaltiger, Versklavung durch den Staat für Diebe und – für unsere Diskussion entscheidend – Todesstrafe für Mörder. Aber wenn Kant den
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Selbstmord mit der Begründung ablehnt, »das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten«, sei »eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen«12, so erweckt er den Eindruck, dass die Achtung vor dem Leben notwendig ist, um die Menschheit in uns zu achten. Wie dem auch sei, geht es mir nicht darum, den vielen Kantinterpretationen eine weitere hinzuzufügen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass Kant die Achtung vor Menschen durch eine Art von bemühter Vergötterung begründete. Diese ist deshalb bemüht, weil Kant sehr wohl wusste, dass Menschen de facto in vieler Hinsicht enttäuschende Wesen sind, die für ihre Verbrechen streng zu bestrafen sind; er hält jedoch etwas an ihnen für sehr edel. Ein eklatantes Beispiel für diese bemühte Vergötterung finden wir in Kants Aussage: »Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.«13 Kants Neigung zur Vergötterung ist allerdings nicht so sehr in der Kritik der praktischen Vernunft zu finden, sondern viel klarer in der Kritik der Urteilskraft, und zwar in den Abschnitten über das Erhabene als das absolut Große im Unterschied zum relativ Großen. »Wahre Erhabenheit« ist laut Kant »nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte« zu suchen14, d. h. in dem Objekt, das wir aufgrund unseres Gefühls für das Erhabene zu vergöttlichen neigen. Im Gefühl für das Erhabene in der Natur zeigt sich folglich die Achtung vor unserer eigenen Bestimmung, die wir durch sprachliche Übertragung einem Naturobjekt zuschreiben. Meinem Verständnis nach verbindet Kant also Ethik mit Ästhetik: die heilige Menschheit in uns mit dem Erhabenen. 6. Eine kleine Verlegenheit Der Gegensatz zwischen den beiden Einstellungen zu Menschen, dem sentimentalen Kitsch auf der einen und der Vergötterung auf der anderen Seite, gibt 12. Vgl. I. Kant: »Metaphysik der Sitten. Teil II: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre«, a. a. O., 555 (A 73). 13. I. Kant: »Kritik der praktischen Vernunft«, a. a. O., 210 (A 155). 14. I. Kant: »Kritik der Urteilskraft«, in ders., Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie (= Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. V). Wiesbaden 1957, 343 (A 94).
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uns kein angemessenes Bild. Vielmehr muss er erst näher bestimmt werden. So habe ich noch nicht die Möglichkeit der Vergötterung unschuldiger Opfer erwähnt; Paradebeispiele dafür sind etwa Jesus oder (in der Schia) Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Nicht zuletzt ist die Verehrung von Märtyrern in jeder Religion oder Nation von Vergötterung erfüllt. Es gibt also himmlischen Kitsch ebenso wie irdischen Kitsch. Was sollen wir nun aber unter der Voraussetzung tun, dass wir uns zwischen den beiden Alternativen, Kitsch oder Vergötterung, entscheiden müssen? Der Kunstkritiker Clement Greenberg formulierte die berühmte These: »Die Alternative zu Picasso ist nicht Michelangelo, sondern Kitsch.«15 Gegenständliche Kunst ist nicht eine Alternative, sondern dem Kitsch ausgesetzt. Tatsächlich glaube auch ich, dass die gegenständliche Kunst eher zu Kitsch führt als die abstrakte Kunst, historisch gesehen hat sie aber auch zu besserer Kunst geführt. Das Bild des Menschen (im generischen Sinne des Wortes) als eines Leidenden führt leichter zu Kitsch als das Bild des Menschen als Abstraktum in der Ethik. Ich bin jedoch auch überzeugt, dass es historisch gesehen für eine bessere Moral sorgt. So sehr ich Kitsch hasse, so sehr ziehe ich das moralische Bild des Menschen als eines Leidenden gegenüber dem des Menschen als Halbgott vor. 7. Einfach Mensch sein Wenn Menschen moralische Achtung verdienen, so verdanken sie dies schlicht und ergreifend ihrem Menschsein, nicht mehr und nicht weniger. Dieses Merkmal bewahrt uns vor der Scylla, die Menschen als Opfer zu betrachten, ebenso wie vor der Charybdis, sie als Halbgötter anzusehen. Wenn dem so ist, stehen wir allerdings weiterhin vor der Frage, worin die moralische Relevanz des Menschseins besteht. Ist dieses nicht lediglich ein biologisches Merkmal? Und kann es als solches überhaupt die Achtung vor Menschen als moralische Kategorie begründen? Meines Erachtens ist die Frage, was die moralische Relevanz des Menschseins für die Moraltheorie sei, falsch gestellt. Das ist so ähnlich, als ob wir 15. C. Greenberg: »Avantgarde und Kitsch« (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hg. von K. Lüdeking. Übers. von C. Hollender. Amsterdam– Dresden 1997, 29–55, hier: 43.
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fragten, ob Materie für die Physik, Leben für die Biologie oder Sprache für die Linguistik relevant sei. Wenn Moral mit etwas zu tun hat, dann mit Beziehungen, die wir mit anderen Menschen zu pflegen haben, und zwar im Sinne »dünner Beschreibungen« (d. h. nicht unter der »dichten Beschreibung«, dass wir Iren, Katholiken oder Angehörige der Arbeiterklasse sind).16 Moral hat mit menschlichen Beziehungen zu tun sowie damit, was wir einander schulden, wenn wir so miteinander zusammenleben wollen, wie es sich gehört. »Menschliches Wesen« ist für die Moral im selben Sinne ein Ordnungsbegriff wie der Begriff des Lebens für die Biologie. Diese beschäftigt sich mit lebenden Organismen. Das bedeutet nicht, dass »Leben« in der modernen Biologie notwendigerweise als theoretischer Term fungiert. Vielmehr dürfte es ein allzu archaischer Begriff sein, als dass er in der Biologie noch für irgendwelche Erklärungen brauchbar wäre. Selbst wenn der Begriff des Lebens in der Biologie nicht mehr als theoretischer Term fungiert, dient er aber immer noch als Ordnungsbegriff. Ähnlich ist die Annahme, dass alle Menschen moralische Rücksicht verdienen, konstitutiv dafür, was Moral ist. Die Ethik bietet primär eine Erklärung dafür, was es heißt, Menschen als Menschen zu behandeln; sie kann natürlich auch noch mehr leisten und etwa unsere Beziehungen zu anderen Wesen erklären, aber in jedem Fall kann ihr kein Mensch fremd sein. All diese Platitüden lösen unser Problem nicht: Sie sagen uns zwar, warum jedes menschliche Wesen moralische Rücksicht verdient, aber nicht, warum wir auch mit Menschen, die sich wie wahre Ungeheuer aufgeführt haben, moralisch umgehen sollten, statt sie nach Kräften zu erniedrigen. Es geht nicht um die Frage, warum der Moral im Allgemeinen daran liegen sollte, dass Menschen als Menschen behandelt werden; die Antwort darauf hat damit zu tun, worum es in der Moral letztlich geht. Was es heißt, Menschen als Menschen zu achten, verstehen wir eher durch Bezug auf den negativen Fall, also darauf, was es heißt, Menschen nicht als Menschen zu behandeln. Dieser negative Fall zeigt sich als Demütigung, also darin, dass Menschen als Nicht-Menschen behandelt werden: als Mittel, als Tiere, als Untermenschen, als Nummern. Ich verwende den Ausdruck »Demütigung« mithin nicht in seiner sozialen Bedeutung, die sich darauf bezieht, dass jemandes Status oder Rang in der Gesellschaft verletzt wird, sondern ich meine damit jemandes Erniedrigung als Mensch. 16. Zur Unterscheidung zwischen »dünnen« und »dichten Beschreibungen« vgl. C. Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. von B. Luchesi und R. Bindemann. Frankfurt/M. 1987, bes. 7–43.
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Wer die obszönen Bilder aus Abu Ghraib sieht, versteht ohne weiteres, was Demütigung ist, und kann daraus erschließen, worin ein menschlicher Umgang mit Menschen besteht. Der Umstand, dass wir uns vorrangig mit Demütigung zu beschäftigen haben, bedeutet freilich nicht, dass die Begründung für die Achtung vor Menschen etwas damit zu tun hat, dass diese zu Opfern von Demütigung werden könnten. Was ist aber dann die Begründung dafür, dass jeder einzelne Mensch als Mensch zu achten und nicht zu demütigen ist? Warum können wir nicht einfach Schwerverbrecher »Aug um Aug« und Kriegsverbrecher durch Demütigung bestrafen, z. B. indem sie einer Behandlung wie in Abu Ghraib unterworfen werden? 8. Die ikonische Begründung In meinem Buch Die Politik der Würde entwickle ich den Gedanken, dass eine Gesellschaft anständig ist, »wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen.«17 Unter einer nicht-demütigenden Gesellschaft kann prinzipiell zweierlei verstanden werden: Eine zivilisierte Gesellschaft beruht auf einer »Mikromoral«, d. h. auf Regeln, wie Individuen miteinander umgehen; in einer solchen Gesellschaft demütigen also die Menschen einander nicht. Eine anständige Gesellschaft beruht hingegen auf einer »Makromoral«, d. h. auf Regeln, wie Institutionen (wie die Polizei, Armee, Schulen, Krankenhäuser, Medien usw.) mit Individuen oder Menschengruppen umgehen; in einer anständigen Gesellschaft sind es die Institutionen, welche die ihrer Macht ausgelieferten Menschen nicht demütigen. In meinem Buch bemühe ich mich vor allem darum zu zeigen, dass Demütigung eben darin besteht, Menschen nicht als Menschen zu behandeln. Nach meinem Vorschlag sollten wir uns einer negativen Politik befleißigen: Nicht Gerechtigkeit verlangt von uns normative Maßnahmen, sondern Ungerechtigkeit, nicht die Menschenwürde, sondern Demütigung. Wir haben einen viel besseren Begriff davon, was Demütigung ist, als davon, worin Menschenwürde besteht. Meine positive Begründung dafür, dass jeder einzelne Mensch Achtung verdient, ist skeptischer Natur; sie gründet nicht in irgendwelchen gut-machenden Eigenschaften, die rechtfertigen, Menschen zu schätzen bzw. zu achten. Unse17. A. Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Übers. von G. Schmidt und A. Vonderstein. Frankfurt/M. 1999, 15.
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re Wertschätzung von Menschen beruht nicht darauf, dass diese einen Wert haben, sondern umgekehrt: Sie haben einen Wert aufgrund unserer Wertschätzung. Dabei können wir analog sogar an den Wert des Geldes denken; es erhält diesen nicht dadurch, dass es durch Gold oder Silber gestützt wird (wie man in der Vergangenheit gedacht hat), sondern vielmehr dadurch, dass wir ihm einen Wert geben und bereit sind, diesen zu akzeptieren und Wertgegenstände dafür einzutauschen. Wenn diese Analogie Licht auf das umgekehrte Verhältnis bei der Wertschätzung von Menschen wirft, so wirft sie doch auch einen Schatten auf ein wichtiges Merkmal der Wertschätzung von Menschen. Und zwar denke ich an die Ablehnung von Falschgeld. Warum sollen wir nicht auch Menschen ablehnen, die ihre eigene Menschlichkeit herabwürdigen? Warum sollen wir sie nicht auf gleiche Weise aus dem Verkehr ziehen, wie wir das mit Falschgeld tun? Auch wenn manche Denker von Hume gelernt haben, sich mit skeptischen Lösungen philosophischer Probleme zufrieden zu geben, fühlen wir uns doch im Allgemeinen weiterhin dazu verpflichtet, es besser zu machen und positive Lösungen zu finden, vor allem dann, wenn eine skeptische Lösung mit Bezug auf eine Erklärung unserer Handlungsweisen allzu viele Wünsche offen lässt. Die Begründung dafür, dass jeder einzelne Mensch gebührend zu achten ist, hat nun mit einem ganz spezifischen menschlichen Zug zu tun. Und zwar steht jeder Mensch in einer ikonischen Beziehung mit allen Menschen; jeder einzelne Mensch ist ein Ebenbild aller Menschen. Man kann sich zwar gegenüber Saddam Husseins Statue bilderstürmerisch gebärden, aber nicht gegenüber Saddam Hussein als Gefangenem. Wenn auf die gestürzte Statue Saddam Husseins gespuckt oder uriniert wird, so ist dies vielleicht ein vulgärer Akt der Bloßstellung eines Tyrannen und der Erniedrigung seines gesellschaftlichen Status, doch wird er dadurch nicht als menschliches Wesen entwürdigt. Die Statue ist der bildnerische Ausdruck eines politischen Personenkultes. Der gefangene und verletzbare Saddam Hussein ist jedoch – trotz aller Verbrechen, die er begangen hat – in der Lage, die Vorstellung von der einen Menschheit zu beschwören und diese selbst zu verkörpern – nicht in der abstrakten Bedeutung dieses Ausdrucks, sondern in dem Sinne, dass sie für jeden Einzelnen von uns steht. Auf den Menschen Saddam zu spucken oder zu urinieren, ist ein Angriff auf ein Ebenbild des Menschen. Nicht Saddam und seine Taten verlangen uns Achtung ab, sondern Saddam als Wesen in menschlicher Gestalt, der aufgrund dessen fähig ist, in einer ikonischen Beziehung zu allen anderen von uns zu stehen.
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»Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele«, schreibt Wittgenstein18, wobei er unter »ihm« einen anderen Menschen versteht. Meiner Ansicht nach drückt er damit jene Intuition aus, die hinter dem Begriff der ikonischen Beziehung zwischen den Menschen steht. Wittgenstein meint mit dem Ausdruck »Seele« nicht irgendetwas Platonisches oder Christliches wie etwa eine eigenständige geistige Wesenheit, die im Körper eingekerkert ist; für ihn ist die Seele vielmehr ein Ausdruck des durch den menschlichen Körper sinnlich vergegenwärtigten menschlichen Lebens. Die Einstellung zu einer Seele ist nur ein Teil unserer Einstellung zu Menschen, die innere und äußere Aspekte in ihrer Verbindung umfasst und sich aufgrund dessen wesentlich von unserer Einstellung zu anderen Gegenständen wie z. B. Automaten unterscheidet. Wittgenstein bezieht sich darauf in seiner berühmten Bemerkung: »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.«19 Tatsächlich spielt unser körperliches Erscheinungsbild eine wesentliche Rolle dafür, dass es uns möglich ist, in einer ikonischen Beziehung zueinander zu stehen. Die horizontalen ikonischen Beziehungen zwischen Menschen bilden die Grundlage der Moral. In dieser ikonischen Beziehung durchmischt sich unsere Naturgeschichte mit normativen Gegebenheiten; wie auch immer diese zusammenhängen, bringt diese Beziehung jedoch die Moral zum Laufen. Rassisten verschiedener Richtungen und Überzeugungen propagieren jeweils das einzig wahre Bildnis des Menschen, sei es mit der richtigen Farbe, der richtigen Nase oder der richtigen (ja nicht verkrüppelten) Gestalt, und sie versuchen, auf diese Weise bestimmte Menschen auszugrenzen und als Untermenschen hinzustellen. Für die Vorstellung von horizontaler Achtung ist jedoch wesentlich, dass jedes menschliche Wesen – von welcher Gestalt oder Farbe, welchem Geschlecht oder Alter, welchem sozialen Status oder Glauben auch immer – in einer ikonischen Beziehung zur übrigen Menschheit stehen kann. Der Boden für extreme Fälle von Massenmord und Demütigung wird oft dadurch bereitet, dass eine Gruppe von Menschen mit vereinten Kräften die Symmetrie in dem horizontalen ikonischen Band zwischen den Menschen bricht. Also werden die Opfer dann kahl rasiert, ausgehungert, bis sie wie wandelnde Skelette erscheinen, oder mit einer Vielfalt anderer Mittel so behandelt, dass sie ihre menschliche Gestalt verlieren, wodurch es leichter fällt, sie zu vernich18. L. Wittgenstein: »Philosophische Untersuchungen«, Teil II, Abschnitt iv, in: ders., Schriften 1, Frankfurt/M. 1960, 489. 19. Ebd.
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ten. Die Idee ist kurz gesagt folgende: Sorgen wir dafür, dass sie nicht wie Menschen aussehen, dann ist es auch kein Mord mehr, sie zu töten. Richard III. hielt sich wegen seiner körperlichen Entstellung für ein Scheusal und glaubte, dass er sich als solches gegenüber wohlgestalteten Menschen abscheulich benehmen dürfe. Jeder Mensch ist jedoch unbeschadet seines Aussehens oder seiner Gestalt ein Ebenbild des Menschen, selbst dann, wenn er für die anderen Menschen ein Wolf ist. Und eben dies ist die Begründung dafür, dass alle Menschen zu achten sind – jene, die wie Heilige leben, genauso wie jene, die sich abscheulich aufführen. Im Gegensatz zur religiösen Auffassung verdienen Menschen also nicht deshalb Achtung, weil sie Ebenbilder Gottes sind, sondern deshalb, weil sie Ebenbilder voneinander sind. Dies ist der Kern der humanistischen Begründung der Achtung vor Menschen. Versuchen wir also, so gut wir können, den Menschen horizontal anzuerkennen, also ohne Kitsch und ohne Vergötterung.20
20. Aus dem Englischen übersetzt von Otto Neumaier.
GERECHTIGKEIT, VERTRAUEN UND VERANTWORTLICHKEIT Onora O’Neill
Wodurch lässt sich Gerechtigkeit besser institutionalisieren: durch eine Kultur des Vertrauens oder durch formalisierte Strukturen der Rechenschaftspflicht? In öffentlichen Diskussionen heißt es derzeit oft, Vertrauen sei für das öffentliche und institutionelle Leben passé, und es wird empfohlen, Verantwortlichkeit an seine Stelle setzen. Dieser Gedanke gewinnt seine Plausibilität bloß aus einem seltsamen Verständnis beider Begriffe. So wird etwa Vertrauen gewöhnlich als eine Frage der Einstellung oder Neigung gesehen, die Verantwortlichkeit hingegen als etwas, das eine höhere Ebene von Management ins Spiel bringt. Es gibt jedoch keine guten Gründe, genau diese Begriffe von Vertrauen und Verantwortlichkeit anderen vorzuziehen, die dementsprechend vernachlässigt oder gar verworfen werden. Vielmehr liegen von beiden Begriffen auch passendere Auffassungen vor. So berücksichtigt ein vernünftiger Begriff von Verantwortlichkeit bewusst die Verbindung zwischen grundlegenden normativen Ansprüchen – Pflichten und Rechten –, aufgrund welcher Handelnde für ihr Tun und Lassen Rede und Antwort stehen müssen, und anderen, die sie wegen ihres Tuns und Lassens zur Verantwortung ziehen. Vernünftige Formen der Verantwortlichkeit stützen also vernünftige Formen des Vertrauens, statt diese zu ersetzen. Warum das so ist, wird im Folgenden ausführlich erörtert. 1. Gerechtigkeit gewährleisten: Vertrauen oder Verantwortlichkeit? In rechtsphilosophischen Erörterungen über Gerechtigkeit wird seit jeher über die Einhaltung oder Nichteinhaltung von Gesetzen sowie über Sanktionen und Strafen diskutiert. Hingegen setzt man sich in der Philosophie bislang nur wenig mit den Änderungen in der Art und Weise auseinander, wie neuerdings die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen institutionalisiert wird. Insbesondere wird in der Philosophie der Politik kaum einmal über den Wandel von kulturellen und sozialen Erklärungen der Gesetzestreue hin zum weit verbreiteten Bezug auf hoch formalisierte Strukturen der Rechenschaftspflicht diskutiert. 33
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Herkömmliche Erklärungen des Einhaltens von Gesetzen bauen wesentlich auf Kulturen des Vertrauens, unterstützt durch einen selektiven Gebrauch des Strafrechts. Zeitgenössische Erklärungen bedienen sich oft komplizierter formalisierter Strukturen der Verantwortlichkeit als Rechenschaftspflicht und stützen sich dabei üblicherweise auf finanzielle und andere zivilrechtliche Sanktionen, ebenso aber auf einen ausgiebigeren Gebrauch strafrechtlicher Sanktionen. Diese Neuerungen werden oft als durchdachte Reaktion auf kulturelle Wandlungen gesehen, die sich in den entwickelten Gesellschaften zu einer »Krise des Vertrauens« zugespitzt haben. Für viele, die eine solche Krise bemerken, hat das Vertrauen ausgedient: Wir haben das von traditionellen Gesellschaften angehäufte soziale Kapital aufgebraucht; jetzt müssen wir eben sehen, wie wir ohne dieses auskommen. In komplexen, hoch entwickelten Gesellschaften kann das Vertrauen nicht länger für den Zusammenhalt und das Einhalten von Gesetzen sorgen, wie es dies in herkömmlichen Gesellschaften getan hat. Wer diese Ansicht vertritt, sieht Vertrauen im Allgemeinen als eine Frage der Einstellung oder Neigung an.1 Vertrauen zeigt sich demnach paradigmatisch im blinden Vertrauen eines Kindes zu seiner Mutter. Vertrauensbeziehungen sind nur zwischen Einzelpersonen angebracht und auch bei diesen nur von Angesicht zu Angesicht, vor allem aber dann, wenn die Beziehungen auf gegenseitigem gutem Willen beruhen. Über solche innigen oder persönlichen Beziehungen hinaus ist Vertrauen jedoch riskant, und jene, die anderen vertrauen, werden oft als unreif oder allzu ehrerbietig hingestellt, als Leute, die Gefahr laufen, enttäuscht, wenn nicht sogar betrogen zu werden. Es liegt auf der Hand, warum diese Auffassung von Vertrauen in komplexen institutionellen Zusammenhängen, in denen Beziehungen gewöhnlich weder zwischen Einzelpersonen noch von Angesicht zu Angesicht bestehen und in denen Neigung und Einstellung nicht zu den Hauptfaktoren gehören, fragwürdig erscheinen muss. Hingen wir dieser Vorstellung von Vertrauen an, wäre es reich-
1. Die Krise des Vertrauens ist vor allem für Soziologen, Journalisten und Meinungsforscher ein Thema, doch gibt es auch einige philosophische Erklärungsversuche. Für Auffassungen des Vertrauens als Einstellung vgl. etwa Annette Baier, »Trust and Anti-Trust«, in: Ethics 96 (1986), 231–260, bes. 235, und Karen Jones, »Trust as an Affective Attitude«, in: Ethics 107 (1996), 4–25. Für Auffassungen des Vertrauens als Angelegenheit des Handelns und Urteilens vgl. Richard Holton, »Deciding to Trust, Coming to Believe«, in: Australasian Journal of Philosophy 72 (1994), 63–76, sowie Onora O’Neill, Autonomy and Trust in Bioethics und A Question of Trust, beide Cambridge University Press 2002.
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lich dumm, nach einem Ende der unterstellten »Vertrauenskrise« zu suchen. Eben diese Krise erschiene nämlich als passende Reaktion auf die (vermeintlich neue) Erkenntnis, dass viele Beziehungen für diese Vorstellung von Vertrauen keine Grundlage (mehr) bieten. Wenn wir Vertrauen bloß als Angelegenheit von (blinder) Zustimmung oder Ehrerbietung und ähnlichen Einstellungen erachten, so können wir vernünftigerweise folgern, dass Vertrauen im öffentlichen bzw. im institutionellen und beruflichen Leben einer entwickelten Demokratie – sowie überhaupt in allen Fällen, in denen Beziehungen nicht mehr persönlicher Natur sind – praktisch keine Rolle mehr spielen sollte. In meinen Augen erkaufen wir diese Schlussfolgerung um den Preis, dass wir eine eigenartige, umstrittene und ganz dumme Vorstellung von Vertrauen annehmen und schüren, wobei das Überkommensein des Vertrauens dann als Grund genommen wird, um sich nach einem Ersatz für Vertrauensbeziehungen umzusehen. Wir haben es mit einem typischen Fall eines Strohmanns zu tun, der als Objekt für (sinnlose) Zerstörung errichtet wird, als Ersatz dafür, sich mit einem Thema eingehender und klüger auseinanderzusetzen. 2. Managementbezogene Verantwortlichkeit als Ersatz für Vertrauen Jene, die ohne Vertrauen auskommen möchten, treten gewöhnlich dafür ein, dieses durch Verantwortlichkeit zu ersetzen. Leider machen sich viele davon einen genauso eigenartigen Begriff von Verantwortlichkeit zu eigen. Sie setzen diese nämlich mit einer überaus engen, am Management ausgerichteten Vorstellung von Rechenschaftspflicht gleich, die sich darauf konzentriert, Systeme für die Kontrolle von Leistungen einzurichten, für Individuen und Institutionen Ziele festzulegen, den Erfolg oder Misserfolg in Bezug auf das Erreichen dieser Ziele zu messen, den Erfolg oder Misserfolg öffentlich bekannt zu geben und einen Misserfolg mit Sanktionen zu belegen. Der Ausdruck »managementbezogene Verantwortlichkeit« kann auf zweierlei Weise verstanden werden: Gemäß der einen Lesart liegt dem der Gedanke zugrunde, dass nur Leute, die Führungsaufgaben innehaben, dafür Rechenschaft schuldig sind; so seien etwa die Manager einer Firma dem Aufsichtsrat sowie letztlich den Aktionären zur Rechenschaft verpflichtet, und ähnlich seien jene, die eine Schule verwalten, den Direktoren und Eltern Rechenschaft schuldig. Bei dieser weiten Lesart lässt sich Vieles zugunsten einer managementbezogenen Verantwortlichkeit und kaum etwas dagegen vorbringen.
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Viele Befürworter einer managementbezogenen Rechenschaftspflicht verstehen diese allerdings in engerem Sinne. Sie fordern nicht nur, dass jene, die Führungsaufgaben innehaben, dafür Rechenschaft schuldig sind, sondern darüber hinaus, dass sie mittels Mangagementmethoden zur Rechenschaft gezogen werden. Wer verwaltet, soll verwaltet werden. So versucht z. B. in Großbritannien die Regierung, die Verantwortung von Führungspersönlichkeiten im öffentlichen Dienst mit Managementmethoden zu kontrollieren. Dazu gehört typischerweise das Festlegen von Zielen, das Messen der Leistung relativ zu diesen Zielen und das Verhängen von Sanktionen bei mangelhafter Leistung, etwa durch geringere Dotierung oder das Auferlegen zusätzlicher Kontrollen. Die tatsächliche Bedeutung dieses Vorgehens mag im Unklaren bleiben. Es könnte der Eindruck entstehen, dass es um nichts anderes geht als um Rechenschaftspflicht für Manager – und wer wäre damit nicht einverstanden? –, so dass die Bedeutung des Epithetons »managementbezogen« gleichsam verschoben wird. Dieser Fall verhält sich jedoch grammatisch ganz anders, als wenn etwa von »Behinderten-Toiletten« die Rede ist. Wenn wir diesen Ausdruck hören, nehmen wir (sofern wir nicht hoffnungslose Pessimisten sind) nicht an, dass wir es mit behinderten Toiletten zu tun haben, sondern dass die Toiletten für Behinderte sind. Analog mag jemand, der von einer managementbezogenen Rechenschaftspflicht liest, dies als Rechenschaftspflicht für Manager verstehen, doch ist das – zumindest unter der weit verbreiteten engen Lesart – falsch. Vielmehr ist damit eine am Management ausgerichtete Rechenschaftspflicht gemeint. Die vernünftige Forderung, dass Manager Rechenschaft schuldig sein sollten, wird also gewöhnlich durch die viel spezifischere (und in meinen Augen höchst fragwürdige) Forderung ersetzt, dass Manager (und mit ihnen auch alle anderen) gemessen an Managementmethoden zu Rechenschaft verpflichtet, kurz gesagt also durch weiteres Management zu kontrollieren sind. Allzu offenkundige Belege für diese Sicht der Dinge können wir etwa in der Bereitschaft sehen, mit der Regierung, Opposition und Medien das Managementvokabular übernehmen und alle völlig ungeniert von der Regierung nicht als Institution sprechen, die regiert oder öffentliche Körperschaften reguliert und kontrolliert, sondern die managt: Beim Regieren gehe es darum, Dienstleistungen zu erbringen und Zielvorgaben zu erfüllen – sowie fertig gemacht zu werden, wenn man diese Zielvorgaben verfehlt. Die Vorwürfe der Überzentralisierung und des »Kontrollfetischismus« sind nichts anderes als eine natürliche Folge der Annahme, dass der eigentliche oder nächstliegende Begriff von Verantwortlichkeit der managementbezogene im engen Sinne ist.
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Die Argumente für die Annahme dieser spezifischen Vorstellung davon, wie Manager in die Rechenschaftspflicht genommen werden sollen, sind überaus dünn gesät. Entgegen der allgemeinen Vorstellung lässt sich dieser Fall nicht einfach in Analogie zu den Gepflogenheiten betrachten, wie von Managern im privaten Bereich Rechenschaft eingefordert wird; dies geschieht dort durch Prozesse korporativer Kontrolle, die ihrerseits gerade nicht managementbezogen sind. Ebenso erscheint eine Ausweitung der managementbezogenen Rechenschaftspflicht auf noch höher gestellte Manager von Managern von Managern … völlig ungeeignet, um die Leistung zu verbessern. Und doch wurde dieses System vom privaten auf den öffentlichen Bereich übertragen, von wo es nun in Gestalt der Überregulierung wieder in den privaten Bereich zurückfließt. Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie der – oft mit den besten Absichten unternommene – Versuch, die Möglichkeiten der Zurechenbarkeit von Verantwortung zu verbessern, schief gegangen ist, bietet uns Großbritannien.2 Wie die Verfechter einer managementbezogenen Verantwortlichkeit – im derzeit modischen engen Sinne – glauben, bietet diese eine Reihe von Vorteilen. Angeblich ist sie bestens in Managementprozesse integriert, billig, objektiv und fair, ist es leicht, öffentlich zu machen, ob sie erfüllt wird oder nicht, und lässt sie sich gut mit »Transparenz« und »Offenheit« in Einklang bringen. Diese angeblichen Vorteile erbringen jedoch weniger, als man erwarten sollte. Immerhin ist wahr, dass sich die managemenrelative Verantwortlichkeit gut in Managementprozesse einfügt; dies deshalb, weil sie letztlich bloß eine Fortführung von Managementprozessen ist. Und zwar ist es eine spezifische Form einer vertikal von oben nach unten führenden Rechenschaftspflicht, die sich von anderen dadurch unterscheidet, dass sie auf Zielvorgaben aufbaut. Dabei wird angenommen, dass Manager (von oben) für Individuen und Institutionen (die unter ihnen arbeiten) Ziele vorgeben, dass deren Leistung dann mit Bezug auf diese Ziele gemessen und mit Sanktionen belegt wird, sofern sie nicht entspricht. Kurz gesagt handelt es sich tatsächlich nicht um eine besondere Form von Verantwortlichkeit, sondern um eine Fortführung von Management. Die2. Und das trotz aller Bestrebungen der »Sonderkommission für bessere Regulierung«, die sich darum bemüht, dass Regulierungsmaßnahmen den so genannten fünf Prinzipien guten Regulierens entsprechen, als da sind: Verhältnismäßigkeit, Zurechenbarkeit, Konsistenz, Transparenz und Zielgenauigkeit. Jedes Jahr wird aber eine gewaltige Menge komplizierter und schlecht konzipierter Gesetze und Regulierungsmaßnahmen ausgestoßen, die diesen Kriterien nicht gerecht werden; vgl. http://www.brtf.gov.uk/.
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se ist nicht die einzige Form von »vertikaler Verantwortlichkeit«. Andere Formen sind etwa die bürokratische Verantwortlichkeit, die jedoch auf das Festhalten an vorgeschriebenen Abläufen konzentriert ist, oder die militärische Verantwortlichkeit, in deren Zentrum die Durchführung von Befehlen steht. Wer die managementbezogene Rechenschaftspflicht zur allgemeinen Form von Verantwortlichkeit erheben möchte, steht vor dem wesentlichen Problem, dass viele Tätigkeiten im Unterschied zu Herstellungsprozessen keine offensichtlichen oder leicht messbaren Ziele oder Ergebnisse aufweisen. Die de facto gesetzten Ziele sind also in der Regel Stellvertreter für die eigentlichen Ziele, und sie werden oft nicht wegen ihrer Vorteile ausgesucht, sondern weil sie leicht zu messen sind. Stellvertretermessungen liefern uns angeblich Leistungsindikatoren, die eingesetzt werden können, wenn kein leicht messbares Ziel zur Verfügung steht. Dabei kann freilich vieles schief gehen. Stellvertretende Indikatoren werden herangezogen, weil sie leicht zu messen sind – das garantiert jedoch nicht, dass sie das, worum es tatsächlich geht, angemessen vertreten. Oft werden allzu simple oder irreführende Stellvertreter ausgesucht. Wir wissen etwa, dass die Qualität einer Schule durch die Prüfungsergebnisse der Schüler nicht angemessen gemessen wird. Wir wissen, dass das Messen der Wartezeit auf nicht so dringende Operationen kein brauchbares Maß für die Leistung eines Krankenhauses ergibt. Wir wissen, dass Firmen Erfolgsindikatoren aussuchen und öffentlich bekannt geben können, die augenblickliche Bedürfnisse in ein schönes Licht rücken oder ihnen eine gute Publicity verschaffen. Manchmal wird eine Leistung als hervorragend ausgewiesen – oder auch umgedeutet –, weil sie zugenommen hat oder weil ihre Wachstumsrate zugenommen hat, oder auch deshalb, weil die Zahl der Kunden eines sorgfältig gewählten Typs oder in einem sorgfältig gewählten Zeitraum zugenommen hat. In einem komplexen Bereich kann eine sorgfältige Auswahl von Indikatoren suggerieren, dass es viele Gewinner gibt. Mit diesen Bemerkungen will ich nicht unterstellen, dass Leistungsindikatoren stets in die Irre führen. So ist beispielsweise der Umfang des Oberarms als stellvertretendes Maß für die Unterernährung von Kindern schnell, billig und hinreichend genau. Dabei wird eine echte Maßeinheit – Zentimeter – verwendet, um stellvertretend für eine andere Variable ein zuverlässiges Maß zu liefern. Viele stellvertretende Indikatoren beziehen sich jedoch kaum auf die Variablen, um die es tatsächlich geht, und sind deshalb durchwegs schlechte Indikatoren. Selbst dann, wenn Leistungsindikatoren mit den tatsächlichen Zielen hinreichend eng verbunden sind und keine Pseudomaßeinheiten verwenden, wer-
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fen sie jedoch Probleme auf. Selbst wohlüberlegte Leistungsindikatoren können nämlich perverse Anreize schaffen. Wenn Prüfungsnoten als Indikatoren für den Schulerfolg gelten, so hat das unbeabsichtigte und letztlich perverse Auswirkungen, etwa dass sich Schüler auf Fächer stürzen, in denen sie leichter gute Noten bekommen können, oder dass den Prüfungsleistungen auf Kosten anderer Erziehungsziele zu viel Gewicht beigemessen wird. Wenn nun Leistungsindikatoren diese wohlbekannten Probleme aufwerfen, warum werden sie dann so gepriesen? Folgende Vorteile werden oft angeführt: Erstens böten Leistungsindikatoren die Möglichkeit, (teure) Expertenurteile scheinbar durch (billige) Allerweltsurteile zu ersetzen, da die Qualität von Leistungen auf einfache Weise objektiv zu messen und durch das Ankreuzen von Kästchen zu dokumentieren sei; Qualitätskontrolle werde mithin ebenso billig wie objektiv. Zweitens versetze uns eben die Einfachheit von Beurteilungen auf der Grundlage von Leistungsindikatoren in die Lage, sie zu Ranglisten oder Tabellen zusammenzufassen, mit denen eine Transparenz und Offenheit erreicht werden könne, die angeblich für die der weiteren Öffentlichkeit schuldige Rechenschaft erforderlich ist und beweisen kann, dass es bei der Ressourcenzuteilung und anderen Entscheidungen gerecht zugeht. Gerade das Streben nach leichter »Messbarkeit« und einfacher Dokumentation kann jedoch die Objektivität untergraben. So ist etwa möglich, dass die Dokumentation von Leistungen durch das Ankreuzen von Kästchen weder billig noch objektiv noch transparent ist. Ein Auto wird nur dann gut gewartet, wenn der Mechaniker seine Aufgabe fachmännisch erfüllt, unabhängig davon, ob er alle erforderlichen Kästchen ankreuzt. Das Kreuz im Viereck mag hinreichend objektiv sein, doch ist entscheidend, ob es eine zugrundeliegende fachmännische Leistung angemessen wiedergibt. Management durch Leistungsindikatoren und Erfolgskontrolle durch das Ankreuzen von Kästchen zur Darstellung der aufgrund jener Indikatoren gewonnenen Ergebnisse machen Fachkenntnisse überflüssig. Der Preis dafür ist oft der Verlust der Objektivität. Ebensowenig ist ein Management durch Leistungsindikatoren billig. Wenn fachmännische Leistung unentbehrlich ist, entstehen nämlich zusätzliche Kosten, indem die Leistung durch Ergebnisse auf der Grundlage von stellvertretenden Indikatoren gemessen wird, die weitab von den tatsächlich zu beurteilenden Aufgaben sind. Wann immer in Systeme der Verantwortungskontrolle das Ankreuzen von Kästchen eingeführt wird, müssen im Hintergrund gewöhnlich andere, klügere Mittel eingesetzt werden, um gute Leistung zu gewährleisten und die Verantwortlichkeit von Menschen zu kontrollieren. Es ist also alles an-
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dere als überraschend, dass der Mehrwert einer managementbezogenen Verantwortlichkeit geringer ist, als deren Befürworter behaupten.3 Selbst wenn wir (aus welchen Gründen auch immer) an dieser grundlegend unvernünftigen Auffassung von Verantwortlichkeit festhalten wollten, bestände jedoch kein Grund zur Annahme, dass Vertrauen dadurch ersetzt werden kann. Ganz im Gegenteil würde die managementbezogene Verantwortlichkeit in einen unendlichen Regress immer weiter verschobener Verantwortung geraten, wenn sie nicht letztlich auf Vertrauensbeziehungen baut. Wenn nicht an irgendeinem Punkt Vertrauen in Normen bzw. in Personen, Institutionen oder Abläufe gesetzt wird, besteht keinerlei Grund, Vertrauen in irgendwelche noch so byzantinische Strukturen zur Gewährleistung von Verantwortung zu haben. Demzufolge könnten wir gut daran tun, nach vernünftigeren Formen der Verantwortlichkeit Ausschau zu halten. So mag es etwa, abhängig vom jeweiligen Kontext, angemessen sein, Manager zur Rechenschaft zu ziehen, indem man sich auf verschiedene Formen demokratischer oder korporativer Machtausübung stützt, oder etwa auch auf Formen juristischer, wirtschaftlicher oder beruflicher Verantwortlichkeit. Wir müssen keineswegs das Rad neu erfinden. Wir müssen auch nicht unbedingt weit über jene Diskussionen hinausgehen, in denen enge und letztlich dumme Ansichten sowohl von Verantwortlichkeit wie von Vertrauen vertreten werden. Was könnte sich ändern, wenn wir einfach eine andere Sicht auf beides wählen? Was wäre für brauchbare Auffassungen von klugem Vertrauen und kluger Verantwortlichkeit notwendig? 3. Vertrauen klug schenken: Ansprüche und Verpflichtungen Eine kluge Auffassung von Vertrauen hat meines Erachtens mit der Annahme zu beginnen, dass mit Ausnahme seltener, untypischer Fälle (wie z. B. in früher Kindheit) sowohl das Schenken als auch das Verweigern von Vertrauen auf Urteilen über Wahrheitsansprüche oder aber über Handlungsverpflichtungen beruht. Wir setzen mit Recht Vertrauen in die Wahrheitsansprüche von anderen, wenn deren Worte wahr sind bzw. sich als wahr über die Welt erweisen. Wir setzen 3. Vgl. Michael Power: »The Audit Explosion shows the real cost of misdesigned, second order systems of accountability.« http://www.demos.co.uk/catalogue/auditexplosion_page115.aspx. Vgl. dazu auch sein Buch über The Audit Society: Rituals of Verification, Oxford: Oxford University Press, 1997.
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mit Recht Vertrauen in die Verpflichtungen von anderen, wenn sie sich redlich bemühen, die Welt zu gestalten, d. h. getreu zu dem, was sie sagen, und zu den von ihnen eingegangenen Verpflichtungen. Wie auch immer Welt und Wort zusammenpassen, ist Vertrauen schlecht investiert, wenn jemandes Worte und die Art, wie sich die Dinge entwickeln, nicht zusammenpassen. Vertrauen ist mithin gut, wenn es sich auf glaubhafte Wahrheitsansprüche und zuverlässiges Handeln stützt; hingegen ist es schlecht, wenn es sich auf zweifelhafte Wahrheitsansprüche oder unzuverlässiges Handeln stützt. Vertrauen ist also selten eine Angelegenheit bloßer Aufgeschlossenheit gegenüber anderen; es ist selten blind. Das Vertrauen eines Kleinkindes zu seiner Mutter ist folglich kein paradigmatischer Fall von Vertrauen; vielmehr ist es eher als Fall von Machtlosigkeit und Abhängigkeit anzusehen. Im Gegensatz dazu mag die Entscheidung, einem Nachbarn oder Kollegen zu vertrauen, dass er einen Brief übergibt oder Geld zur Bank bringt, gut oder schlecht begründet sein; dasselbe gilt umgekehrt für das Misstrauen gegenüber den fantastischen Geldangeboten, die wir aus den entlegensten Winkeln der Welt erhalten. Wenn Handelnde sich entscheiden, jemandem zu vertrauen oder zu misstrauen, so tun sie dies auf Grund der verfügbaren Evidenz: Einstellungen oder Neigungen mögen der Entscheidung für oder gegen Vertrauen folgen (oder auch nicht), doch sind sie nicht die Grundlage einer solchen Entscheidung. Ich mag meinem Nachbarn einen Brief anvertrauen, obwohl ich ihn nicht besonders gut kenne oder mag, während ich anderen, die ich von Herzen mag, dieses Vertrauen nicht schenke, etwa weil ich weiß, dass sie vergesslich sind. Demnach ist es nicht notwendigerweise falsch, den Wahrheitsansprüchen und Verpflichtungen von Institutionen und ihren Organen sowie komplexen Strukturen Vertrauen zu schenken – nämlich wenn wir über hinreichend gute Gründe verfügen, dass es vernünftig ist, das zu tun. Ebenso wenig ist es absurd, den Behauptungen und Verpflichtungen anderer, die wir gut kennen, zu misstrauen: Die Eltern von Drogenabhängigen und die Freunde von Schnorrern haben hervorragende Gründe, trotz ihrer Zuneigung und entgegen allen Besserungsgelöbnissen ihr Vertrauen zu verweigern. Um Vertrauen zu Recht schenken zu können, ist Urteilsvermögen notwendig: Es richtet sich selektiv auf bestimmte Wahrheitsansprüche und auf bestimmte Verpflichtungen. Auch wenn wir oft locker davon sprechen, dass wir jemandem vertrauen, schenken wir einer bestimmten Person charakteristischerweise doch nur in Bezug auf bestimmte Wahrheitsansprüche oder auf bestimmte Handlungsverpflichtungen Vertrauen, nicht aber auf andere.
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Die Entscheidung für oder gegen Vertrauen, sei es in die Wahrheitsansprüche oder die Verpflichtungen von anderen, erfordert eine Beurteilung der verfügbaren Evidenz; dazu gehört u.a. ein Urteil über die Sprechakte, die Leistungen und die vermutlichen Absichten der anderen. Wir benötigen jedoch keine lückenlose Evidenz, geschweige denn einen Beweis. Im Gegenteil: Wenn ich über vollständige Evidenz oder einen Beweis verfüge, wird Vertrauen überflüssig. Ich muss nicht darauf vertrauen, dass ich jetzt gerade schreibe, dass ich Hände habe oder dass »2 + 2 = 4« wahr ist. Ebenso ist Vertrauen überflüssig, wenn ich handfeste Garantien oder die Kontrolle über die Ergebnisse habe: Ich muss anderen nicht vertrauen, sofern ich ihre Handlungen völlig kontrolliere. So gesehen ist es nicht allzu verwunderlich, dass von der managementbezogenen Verantwortlichkeit im engsten Sinne angenommen wird, dass sie Vertrauen ersetzt; sie zerstört nämlich deren eigentliches Umfeld! Da Vertrauen dem Beweis oder der Kontrolle notwendigerweise vorhergeht, ist es stets möglich, es zu Unrecht zu schenken. Vertrauen birgt unvermeidlicherweise Risiken in sich. Folglich kommt es darauf an, den Grad des Risikos zu kontrollieren, indem man Vertrauen klug schenkt. Dabei kann einiges schief gehen: So mag etwa mein Urteil mangelhaft sein. Ich mag mein Vertrauen in die Behauptungen von Lifestyle-Gurus oder die Vorhersagen von Börsianern setzen. Auch könnte ich mein Vertrauen in die Versprechungen von Scharlatanen oder in Pyramidenspiele setzen. Selbst wenn mein Urteil nicht derart unzureichend ist, kann ich meine Sache dennoch falsch machen, etwa weil die verfügbare Evidenz für Wahrheitsansprüche nicht gut genug ist oder weil sich jemandes Verpflichtungen, die ich mit guten Gründen als zuverlässig angesehen hatte, als trügerisch erweisen. Wenn jemand sein Vertrauen zu Unrecht schenkt, so zeigt sich darin entweder sein Informationsmangel oder seine eigene Unfähigkeit, verfügbare Information zu bewerten, oder auch die unehrliche und vorsätzliche Erfindung irreführender Evidenz, einschließlich falscher Aussagen und Versprechungen, auf Seiten der anderen. Wahrscheinlich sind wir am meisten empört, wenn wir zu Unrecht Vertrauen schenken, weil uns andere vorsätzlich etwas vorgaukeln oder etwas Falsches behaupten bzw. weil sie mit Bedacht falsche Versprechungen machen oder andere scheinbare Verpflichtungen eingehen. Es geht also um Fälle, in denen wir merken, dass wir übertölpelt und getäuscht wurden, in denen wir das Gefühl haben, dass uns jemand betrogen und unser Vertrauen missbraucht hat. (Wäre es indes nicht vernünfig, genauso bestürzt zu sein, wenn wir anderen aufgrund unserer eigenen Unfähigkeit zu Unrecht vertrauen? Küm-
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mert uns das vielleicht nicht so sehr aus dem guten, wiewohl falschen Glauben heraus, dass wir zumindest bei Urteilsangelegenheiten über gleich viel oder sogar mehr Kompetenz verfügen wie irgendein anderer? 4) Legt der Umstand, dass wir Vertrauen ohne Garantien schenken müssen, nahe, dass es ein Fehler ist, es zu schenken? Sollten wir vielleicht Risiken vermeiden, indem wir dem, was andere sagen, oder den Verpflichtungen, die sie eingehen, nicht trauen? Eine solche Vorsicht könnte die Gefahr, im Stich gelassen oder enttäuscht zu werden, verringern. Das mag ein Grund sein, den Behauptungen oder Versprechungen von anderen nicht übertrieben oder bedingungslos zu vertrauen. Wir können mehr oder weniger klug vorgehen, wenn wir anderen Vertrauen schenken oder verweigern. Wie ich zu zeigen versucht habe, kommen wir jedoch nicht ohne Vertrauen aus. Dabei können und müssen wir aber eines tun, nämlich nach guten Gründen dafür suchen, dass wir den Behauptungen und Versprechungen anderer Vertrauen schenken. Wir brauchen Gründe dafür, dass ihre Behauptungen mit der Realität übereinstimmen oder dass sie sich bemühen, die Welt entsprechend ihren Verpflichtungen zu gestalten. Da managementbezogene Formen der Verantwortlichkeit Urteile darüber erschweren, ob Ansprüche oder Verpflichtungen zuverlässig sind, bieten sie keine Stütze dafür, Vertrauen klug zu schenken oder zu verweigern. 4. Ein vernünftiger Begriff von Verantwortlichkeit Vernünftigere Modelle für die Gewährleistung von Verantwortlichkeit versuchen nicht, das Schenken oder Verweigern von Vertrauen zu ersetzen, sondern dieses vielmehr zu unterstützen. Gescheite Strukturen der Verantwortlichkeit sollten auch gute – oder zumindest einigermaßen gute – Gründe dafür liefern, ob es wahrscheinlich ist, dass andere sich bemühen, ihre Behauptungen auf die Realität abzustimmen bzw. die Welt nach ihren Verpflichtungen zu gestalten. Ein vernünftiges Modell von Verantwortlichkeit sollte dazu beitragen, dass jemand sein Vertrauen auf kluge Weise schenkt oder auch verweigert. Was aber macht ein Modell von Verantwortlichkeit zu einem vernünftigen? Verantwortlichkeit ist ein Element, wenn auch nie das grundlegendste Element einer Menge von miteinander verknüpften normativen Vorstellungen. In 4. Vgl. dazu Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Iring Fetscher, übers. von Walter Euchner, Teil I, Kap. 13. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, 94.
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meinen Augen ist die grundlegendste normative Vorstellung die des Erfordernisses bzw., genauer gesagt, die einer erforderlichen Handlung. Erforderliche Handlungen können wiederum verschiedener Art sein: Gewöhnlich wird zwischen rechtlichen, institutionellen, kulturellen oder moralischen Erfordernissen unterschieden (zu denen noch andere kommen). Im engen Rahmen der analytischen Ziele, die ich hier verfolge, kann ich indes auf die verschiedenen Arten erforderlichen Handelns ebenso wenig eingehen wie auf die jeweils vorausgesetzten Kontexte oder die Gründe, die für bestimmte Erfordernisse sprechen. Das allen Erfordernissen gemeinsame und meiner Ansicht nach grundlegende Merkmal ist aber, dass sie nur bestimmt werden können, indem die Art(en) der erforderlichen Handlung beschrieben wird (bzw. werden), also propositional.5 Aus der Sicht eines Akteurs, von dem bestimmte Arten des Handelns verlangt werden, begründen die Erfordernisse Verpflichtungen bzw. Pflichten. In manchen (wenn auch nicht in allen) Fällen mögen andere berechtigt sein, dass die erforderliche Handlung vollzogen wird. Aus der Sicht jener, denen durch eine Handlung etwas zuteil wird, erscheint das Erfordernis mithin als Befugnis oder Recht. Jene, die Verpflichtungen haben, können wir auch die Träger von Verpflichtungen nennen, jene aber, die Rechte oder Befugnisse haben, die Träger von Rechten. Wiederum will ich mich hier nicht damit aufhalten, die verschiedenen Arten von Rechten und Verpflichtungen zu differenzieren, sondern festhalten, dass auch Rechte und Verpflichtungen durch das Beschreiben von Handlungen, also propositional bestimmt werden. Die Relation zwischen Verpflichtungen und Rechten ist asymmetrisch: Ein Handlungserfordernis kann mit einem Recht bzw. Anspruch darauf einhergehen oder auch nicht; hingegen ist ein Recht oder Anspruch unterbestimmt, wenn er nicht mit einem Handlungserfordernis einhergeht. Die Annahme, dass einer Verpflichtung kein Recht entsprechen muss, ist in den Schriften über Ethik und Politik seit jeher ein Gemeinplatz, auch wenn sie in der neueren, auf Rechte konzentrierten Literatur etwas in Vergessenheit geraten ist, da dort gewöhnlich nur Verpflichtungen berücksichtigt werden, denen ein Anspruch gegenübersteht (womit nicht gesagt ist, dass in der auf Rechte konzentrierten Literatur Klarheit über die Zuteilung von Verpflichtungen besteht – ganz im Gegenteil!). Rechte und einklagbare Verpflichtungen – einschließlich der Ge5. Kann es auch eine Rechenschaftspflicht für nicht erforderliches Handeln wie z. B. Übereinstimmung mit der bewährten Praxis geben? Oder ist das, was als »bewährte Praxis« gilt, de facto ein Erfordernis (zumindest wenn eine besondere Begründung fehlt)?
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rechtigkeitspflichten – bilden Figur und Hintergrund eines einzigen normativen Musters. Da »unvollkommenen« Pflichten keine Rechte gegenüberstehen und deshalb kein Anspruch darauf erhoben werden kann, ist es wohl kaum möglich, die Verantwortlichkeit für ihre Erfüllung zu formalisieren.6 Vorstellungen von Verantwortlichkeit bilden eine dritte, aber andersgeartete Erweiterung mancher normativer Strukturen, insbesondere von einklagbaren Verpflichtungen wie den Gerechtigkeitspflichten. Ein Akteur ist rechenschaftspflichtig (oft würden wir einfach sagen: verantwortlich) für die Erfüllung oder NichtErfüllung einer grundlegenden Pflicht, wenn er (oft unter der Anleitung oder Mithilfe anderer) die zusätzliche Verpflichtung hat, anderen Akteuren oder Institutionen für die (Nicht-)Erfüllung der grundlegenden Pflicht Rechenschaft zu geben, wobei diese wiederum verpflichtet sind, den Akteur wegen der (Nicht-) Erfüllung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Akteure oder Institutionen, denen gegenüber jemand verantwortlich ist, mögen ihrerseits wieder gegenüber anderen Akteuren oder Institutionen zu Rechenschaft verpflichtet sein, dass sie ihre Verpflichtungen der Verantwortungskontrolle erfüllen. Klarerweise ist auch Verantwortlichkeit grundlegend propositional: Sie hat damit zu tun, dass dafür, was getan wurde, Rechenschaft geleistet bzw. erhalten wird, sowie damit, dass jemand im Falle einer Diskrepanz zwischen der geleisteten Rechenschaft und den zu erfüllenden Verpflichtungen zur Rechenschaft gezogen wird. Wie die Etymologie des Ausdrucks »Verantwortlichkeit« nahe legt, geht es darum, Rede und Antwort zu stehen, und zwar gegenüber einer Person oder Institution, welche die Aufgabe hat zu beurteilen, ob jemandes Handeln den Verpflichtungen entspricht oder nicht, und auf dieser Grundlage tätig zu werden. Verantwortlichkeit ist insofern propositional, als sie darin verankert ist, dafür Rechenschaft zu geben, was (nicht) getan worden ist, diese Rechenschaft andererseits gegeben zu bekommen und zu beurteilen sowie Individuen oder Institutionen wegen ihres Tuns zur Rechenschaft zu ziehen. Die Verantwortlichkeit für die (Nicht-)Erfüllung einer Pflicht mag gegenüber Trägern von Rechten bestehen oder auch nicht. So mag etwa jemand einem Freund versprechen, sich um ein Problem zu kümmern, wodurch dieser Freund ein Recht erwirbt, dass er oder sie sich um das Problem kümmert, und der Akteur dem Freund gegenüber verantwortlich ist, es zu tun (oder es zu tun 6. So wichtig unvollkommene Pflichten sind, so gehören sie doch nicht zum Bereich der Gerechtigkeit; vgl. J.B. Schneewind, »The Misfortunes of Virtue«, in: Ethics 101 (1990), 42–63, sowie Onora O’Neill, Tugend und Gerechtigkeit, Berlin: Akademie Verlag, 1996.
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zu verabsäumen). Andererseits sind im Rahmen einer Rechtsordnung jene, welche die Rechte von anderen verletzen, nicht so sehr denen gegenüber Rechenschaft schuldig, denen sie Unrecht tun, sondern gegenüber Gerichtshöfen. Ohne Rechtsordnung sind Übeltäter entweder denen gegenüber Rechenschaft schuldig, denen sie Unrecht tun, oder gegenüber ihren Freunden und Bezugspersonen, die möglicherweise ein Recht (oder sogar die Pflicht) haben, jene zur Rechenschaft zu ziehen, indem sie Rache nehmen. Bei der Darlegung dieser Punkte habe ich versucht, das Wort »Verantwortung« so weit wie möglich zu vermeiden, weil es gewöhnlich als Synonym sowohl für primäre Verpflichtungen oder Pflichten als auch für sekundäre Verpflichtungen, für die Erfüllung primärer Pflichten Rechenschaft zu leisten, verwendet wird. So können wir etwa sagen, Eltern seien für die Sicherheit ihrer Kinder verantwortlich, und damit meinen, dass sie die Pflicht haben, für die Sicherheit ihrer Kinder zu sorgen; wir können aber auch sagen, Arbeitnehmer seien gegenüber ihren Arbeitgebern verantwortlich, und damit meinen, dass sie diesen Rechenschaft über die Erfüllung ihrer primären Pflichten schuldig sind. Könnten wir den Unterschied zwischen primären Pflichten einerseits und sekundären Verpflichtungen zum Leisten oder Einfordern von Rechenschaft andererseits begrifflich dadurch erfassen, dass wir jene als Verantwortung für (eine Handlung) von diesen als Verantwortung gegenüber (Akteuren oder Institutionen) wegen einer Handlung abgrenzen? Leider wird diese Unterscheidung in manchen Kontexten mehrdeutig, insbesondere solchen, in denen die nominale Form (Verantwortung) verwendet wird. Deshalb versuche ich, die Ausdrücke »verantwortlich« und »Verantwortung« soweit möglich zu vermeiden. Wichtig ist dabei folgender Gedanke: Wenn Pflichten und Rechte propositional bestimmt werden, dann muss die Verantwortlichkeit für ihre Erfüllung auf diesen Bestimmungen aufbauen. Eine Vorstellung von Verantwortlichkeit ist unvernünftig, wenn eine verständliche Erklärung dessen, was zu tun ist, dabei ausgespart oder ausgegrenzt wird. Da die managementbezogene Rechenschaftspflicht mit ihrer Betonung stellvertretender Leistungsindikatoren genau das tut, ist sie ein unvernünftiges Konzept von Verantwortlichkeit. 5. Die formale Struktur der Verantwortlichkeit Die im Vorigen erörterten Unterscheidungen lassen sich meines Erachtens ein bisschen formaler auf folgende Weise darstellen.
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Das grundlegendste Merkmal jeglichen normativen Anspruchs ist, dass eine bestimmte Handlung erforderlich ist – was wir so ausdrücken können: (1) A sollte getan werden. Normativität ist indes rudimentär, solange es keine Akteure – Individuen oder Institutionen – gibt, die tun sollten, was getan werden sollte. Erfordernisse sind also von Verpflichtungsträgern zu erfüllen– was wir so ausdrücken können: (2) A sollte von X getan werden. Wenn Verpflichtungen einklagbar sind, bestehen sie gegenüber Trägern von Rechten (wiederum Individuen oder Institutionen). Das heißt: (3) A sollte von X getan werden, und Y hat ein Recht, dass A von X getan wird. Wenn die Verpflichtungsträger Rechenschaft dafür schuldig sind, dass sie ihre primäre Pflicht, A zu tun, erfüllen, so ist diese Verantwortlichkeit eine weitere, sekundäre Verpflichtung, die sich auf die primäre Verpflichtung bezieht: (4) A sollte von X getan werden, Y hat ein Recht, dass A von X getan wird, und X ist gegenüber Z Rechenschaft schuldig, A zu tun. Als Spezialfall von (4) ist zu berücksichtigen, dass die Verpflichtungsträger in manchen Fällen eben den Trägern von Rechten Rechenschaft für ihr Tun schuldig sind. In diesem Fall gilt: (4*) A sollte von X getan werden, Y hat ein Recht, dass A von X getan wird, und X ist gegenüber Y Rechenschaft schuldig, A zu tun. Wenn Verpflichtungsträger die sekundäre Verpflichtung haben, über ihr Tun anderen Rechenschaft zu geben, so haben diese anderen die sekundäre Verpflichtung, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Also gilt auch: (5) A sollte von X getan werden, Y hat ein Recht, dass A von X getan wird, X ist gegenüber Z Rechenschaft schuldig, A zu tun, und Z sollte X für das Tun von A zur Rechenschaft ziehen.
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Etwas systematischer und doch in vereinfachter Form, da es viele erforderliche Handlungsarten, viele Verpflichtungsträger, viele Träger von Rechten und viele Akteure und Institutionen gibt, denen die Verpflichtungsträger Rechenschaft schulden, hat ein Modell der Verantwortlichkeit folgende formale Struktur: (5') A1 … An sollte von den Xs getan werden; die Ys haben ein Recht, dass A1 … An von den Xs getan wird; die Xs sind gegenüber den Zs Rechenschaft schuldig, A1…An zu tun; und die Zs sollten die Xs für das Tun von A1 …An zur Rechenschaft ziehen. Verpflichtungen und Rechte können ohne klare Beschreibungen der erforderlichen Handlungsarten und der Möglichkeiten zur Identifikation der in Frage kommenden Träger von Verpflichtungen bzw. Rechten nicht bestimmt werden. Primäre Verpflichtungen für Handlungen bestimmter Art und sekundäre Verpflichtungen, für die Erfüllung primärer Pflichten Rechenschaft zu leisten, bauen beide auf klaren Handlungsbeschreibungen auf. 6. Die Undurchsichtigkeit der Durchsichtigkeit Eine kluge Auffassung von Verantwortlichkeit erlaubt uns, weitere Schwierigkeiten mit managementbezogenen Vorstellungen von Rechenschaftspflicht zu erhellen. Managementbezogene Vorstellungen von Rechenschaftspflicht sind mit den von ihnen eingesetzten scheinbar quantifizierbaren Informationen anderen Vorstellungen angeblich überlegen, da sie besonders gut zur Rechenschaftspflicht gegenüber einem größeren Laienpublikum passen. Die durch Ergebnislisten auf der Grundlage von Leistungsindikatoren gebotene Information ist einfach und in Zahlen zusammenfassbar, weshalb sie an ein solches Publikum besser vermittelt werden kann. Durch diese Offenlegung erreichen wir Durchsichtigkeit und Offenheit. Ein größeres Publikum kann aufgrund dessen nachvollziehen, ob eine Leistung angemessen ist oder nicht, ja sogar, ob ein Verfahren fair abgewickelt wird oder nicht. So liefern Leistungsindikatoren z. B. eine (angeblich) objektive und leicht quantifizierbare Art von Informationen, die auf Listen in eine Rangordnung gebracht werden können. Dies ermöglicht, die (relative) Leistung von Institutionen (Schulen, Krankenhäuser, Universitäten) oder Fachleuten (Lehrbeauftragte, Chirurgen, Lehrer) einzustufen. Solche Tabellen können veröffentlicht bzw.
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bekannt gegeben werden. Da jedermann die Rangordnung nachlesen kann, gelangt ein größeres Publikum in die Lage zu entscheiden, wer gute und wer schlechte Leistungen erbringt. Tabellen eröffnen prinzipiell der gesamten Öffentlichkeit den Zugang zur Verantwortungskontrolle. Meiner Ansicht nach ist diese Art von Durchsichtigkeit nicht immer eine notwendige und nie eine hinreichende Grundlage der Verantwortlichkeit gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit. Überlegen wir zunächst, warum Transparenz nicht notwendig ist. Durchsichtigkeit kann kein notwendiges Element der Verantwortlichkeit sein, weil sie dieser manchmal schadet. Zu solchen Schäden kommt es immer dann, wenn die Durchsichtigkeit eine sekundäre Ebene perverser Anreize schafft. Wenn Institutionen wegen der Transparenz gezwungen sind, alle Arbeitsberichte und internen Mitteilungen zu veröffentlichen, so kann dies offene Diskussionen in den Institutionen behindern oder beeinträchtigen. Zeit und Energie werden dafür verschwendet, sich zu verteidigen. So genannte »Positionspapiere« können eine ernsthafte Diskussion von Optionen einschränken oder abwürgen, die eine schlechte Presse bekommen, die Aktienkurse drücken oder für die Konkurrenz nützliche Informationen liefern könnten. Protokolle werden vielleicht auf eine Weise formuliert, die nicht getreue Arbeitsberichte bietet, sondern die Öffentlichkeitsarbeit fördern soll. Noch größerer Schaden wird dadurch angerichtet, dass die Forderung nach allgegenwärtiger Transparenz Anreize für mehr inoffizielle Besprechungen schafft, sei es durch private Unterhaltungen, durch das Handeln als Firmenleiter oder durch nicht protokollierte Telefongespräche. Falsch verstandene Transparenzforderungen können gute Arbeit in Sachen Firmenpolitik, solides Management, instutionelle Integrität oder sogar demokratische Abläufe beeinträchtigen. Genausowenig ist Transparenz hinreichend für die Verantwortlichkeit gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit. Bloß dadurch, dass »Information verfügbar gemacht« wird, werden noch keine angemessenen Kommunikationsstandards erreicht. Eine Kommunikation, die mit dem einen Publikum funktioniert, muss mit dem anderen keineswegs gelingen. Die Transparenzfanatiker sind maßlos optimistisch, wenn sie glauben, allein dadurch, dass öffentliche, wirtschaftliche oder wohltätige Institutionen verpflichtet werden, immer mehr »Anteilseignern« immer mehr Informationen offen zu legen, würde ihre Arbeit für diese verschiedenen Adressaten immer transparenter. Im Gegenteil: Da Durchsichtigkeit nur damit zu tun hat, dass Unterlagen zugänglich gemacht bzw. offen gelegt werden, garantiert sie keine gute Kommunikation mit einem bestimmten Publikum und führt oft noch nicht einmal
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eine solche herbei. Fakten und Diagramme auf Webseiten zu stellen, ist gewöhnlich keine gute Art des Kommunizierens, außer vielleicht mit Fachkollegen, welche die Zeit und Kompetenz haben, das offen gelegte Material zu sieben und zu verwenden. Für verwandte oder konkurrierende Institutionen, für NGOs und andere fachlich kompetente Körperschaften, die auf die Kritik der Leistung von anderen spezialisiert sind, mag Transparenz ein Segen sein. Für die größere Öffentlichkeit ist sie nicht so nützlich. Ein fachlich weniger gebildetes Publikum kann unfähig sein, die relevante Information zu finden, bei all den Bäumen den Wald zu sehen, sein Verständnis einzuschätzen, zu erkennen, was fehlt, oder zu beurteilen, wie die Einzelteile ein Ganzes ergeben. Auch ist unwahrscheinlich, dass ein solches Publikum die Zeit hat, einen aktiven und konstruktiven Beitrag zu irgendeiner Debatte zu leisten. Anders als Brieftauben erkunden Informationen nicht automatisch die relevanten Adressaten. Letztendlich ist die Transparenzkultur – und allgemein die Kultur managementbezogener Rechenschaftspflicht, mit der sie so eng zusammenhängt – vor allem deshalb so beschränkt, weil sie sich einer banalisierenden Vorstellung von Kommunikation befleißigt. Eine gute Kommunikation muss auf die besonderen Fähigkeiten und Anliegen der tatsächlichen Adressaten Rücksicht nehmen. Dies ist notwendig, um Verständlichkeit für und Einschätzbarkeit durch das relevante Publikum und mithin eine angemessene Grundlage für das Schenken oder Verweigern von Vertrauen zu garantieren. Durchsichtigkeit ist bloß eine Angelegenheit der Weitergabe von Informationen, nicht aber der Kommunikation mit bestimmten Adressaten. Das trügerische Streben nach objektiven und quantitativen Methoden für die Messung jeglicher Leistung sowie nach völliger Transparenz ergibt nichts anderes als scheinbare Genauigkeit und ein Wunschbild von Verantwortlichkeit. Dieses Streben kann den Blick auf wichtige Verpflichtungen verstellen und birgt in sich die Gefahr, dass die Arbeit jener, die ihren Verpflichtungen gerecht werden möchten, untergraben wird. Vernünftigere Vorstellungen von Verantwortlichkeit beginnen eher mit einer Bestimmung dessen, welche Handlungen von welchen Verpflichtungsträgern erforderlich sind. Davon ausgehend versuchen sie dann, zu einem begründeten Urteil darüber zu gelangen, ob eine Leistung in einem bestimmten Fall angemessen ist, und Gründe dafür anzugeben, ob jemand vertrauenswürdig ist oder nicht. Sie suchen und kommunizieren nachvollziehbare Gründe zur Beurteileung von Leistungen, um dadurch das Schenken oder Verweigern von Vertrauen zu ermöglichen. Das ist alles andere als revolutionär.
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7. Kriterien für ein vernünftiges Modell von Verantwortlichkeit Wie ich zu zeigen versucht habe, geht es bei einem vernünftigen Modell von Verantwortlichkeit darum, dass von Handelnden Rechenschaft für das Erfüllen ihrer primären Pflichten verlangt wird. Jene, die Rechenschaft verlangen, haben selbst die sekundäre Verpflichtung zu beurteilen, ob ein Akteur seine primären Pflichten erfüllt. Dessen Leistung müssen sie kompetent und fair beurteilen. Um dies tun zu können, müssen sie nicht nur gut darüber informiert sein, welche Leistung erforderlich ist, sondern auch von denjenigen unabhängig sein, von denen sie verlangt wird. Wenn sie die Verantwortlichkeit auch gegenüber einer größeren Öffentlichkeit gewährleisten sollen, so müssen sie ihr Urteil zudem auf verständliche Weise an die betreffenden Adressaten weitergeben. Zu den Kriterien für ein vernünftiges Modell von Verantwortlichkeit gehört also, dass das Urteil über jemandes Leistung informiert und unabhängig ist, ergänzt durch eine für andere verständliche Kommunikation dieses Urteils. Jedes dieser Kriterien verdient weitere Betrachtung: a) Informiertes Urteil: Ein vernünftiges Modell von Verantwortlichkeit beginnt mit einem informierten Urteil darüber, was getan werden sollte, was de facto getan wurde und ob das, was getan wurde, zur Erfüllung der primären Pflichten taugt. Ohne informiertes Verständnis der Verpflichtungen, aufgrund welcher ein Akteur zur Verantwortung gezogen werden soll und mit denen die tatsächliche Leistung verglichen werden kann, ist es weder möglich, Rechenschaft zu leisten, noch, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen. Jene, die zur Rechenschaft ziehen, müssen sowohl erfassen, was getan werden sollte, als auch, was tatsächlich getan wurde. Ein fachmännisches Urteil über Handlungen auf der Grundlage nachvollziehbarer Kriterien kann nicht durch oberflächliche Ergebnislisten auf der Grundlage von Leistungsindikatoren ersetzt werden. b) Unabhängiges Urteil : Ein informiertes Urteil allein ist noch nicht hinreichend für Verantwortlichkeit im klugen Sinne. Soll Verantwortlichkeit gelingen, so müssen die Urteilenden auch unabhängig sein. Sie dürfen nicht von jenen abhängen, deren Leistung sie beurteilen, sie dürfen nicht unfair urteilen, sie dürfen nicht korrupt sein. Ein altes Sprichwort sagt, dass jene, die sich auskennen, nicht fair urteilen können, während jene, die fair urteilen könnten, zu wenig wissen, um ein informiertes Urteil abzugeben. Dies ist zweifellos übertrieben, doch besteht tatsächlich eine Spannung zwischen informiertem und unabhängigem Urteil. Haben Experten also (allzu viele) Interessen mit jenen gemeinsam, deren Leistung sie beurteilen sollen? Haben wir stets Grund zur
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Sorge, dass sie sie unfair urteilen, also manche bevorzugen und andere benachteiligen werden? Kann es ein fachmännisches Urteil mit der offenen und einfachen Information aufnehmen, die Leistungsindikatoren vorgeblich bieten? Derlei Sorgen spielen eine zentrale Rolle bei den Klagen, dass Institutionen, Fachleute und Disziplinen an Selbstbedienungsmentalität leiden, aufgrund welcher Krankenhäuser im Interesse der Ärzte geführt werden, Schulen im Interesse der Lehrer, Universitäten im Interesse der Akademiker, Gerichte im Interesse der Rechtsanwälte usw. Meines Erachtens besteht tatsächlich die Gefahr von Korruption, Selbstbedienungsmentalität und Freundschaftsdiensten, doch ist der Versuch absurd, sie dadurch zu bannen, dass man auf eine informierte Beurteilung von Leistungen verzichtet. Das ist, als ob wir die Polizei auflösen wollten, weil in ihren Reihen Fälle von Korruption auftreten. Die geeignete Therapie gegen Korruption, Selbstbedienungsmentalität und Freundschaftsdienste ist die Bereitstellung robuster Mittel zur Sicherung einer Leistungsbeurteilung, die sowohl informiert als auch unabhängig ist. Es gibt wohl bekannte Mittel, wie Inspektoren, Prüfer, Buchprüfer und andere Fachleute, denen Rechenschaft zu leisten ist und die beauftragt sind, Rechenschaft einzufordern, dazu verpflichtet werden können, unabhängig von denen zu sein, die sie zu beurteilen haben, und diese Unabhängigkeit auch klar erkennen zu lassen. Inspektoren, Prüfer und Buchprüfer dürfen nicht Kollegen der von ihnen Überprüften sein, von diesen bezahlt werden oder sonstwie von ihnen abhängig sein. Sie müssen alle relevanten Interessen deklarieren und ihre Aufgabe niederlegen, wenn es zu einem Interessenkonflikt kommt. Sie müssen auch mit der Macht ausgestattet sein, Leute von ihrem Amt abzuberufen, welche die erforderlichen Standards nicht einhalten bzw. nicht erfüllen. c) Verständliche Kommunikation : Wer andere zur Verantwortung zieht, ist wiederum dritten Individuen oder Institutionen sowie oft der breiteren Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig. Um diese Verpflichtung erfüllen zu können, muss so jemand in der Lage sein, eine für andere nachvollziehbare Erklärung der Errungenschaften oder Versäumnisse jener zu bieten, deren Leistung er zu beurteilen hat. Er muss also auf verständliche Weise mit den zuständigen Adressaten kommunizieren und dadurch jene, die über weniger Fachkenntnis, Vertrautheit oder Zeit verfügen, in die Lage versetzen, diejenigen zu beurteilen, die zur Rechenschaft gezogen werden. Die Kommunikation ist nur dann verständlich, wenn die zuständigen Adressaten sie sowohl erfassen als auch einschätzen können; also ist sie für verschiedene Adressaten jeweils anders. Verständlichkeit ist nicht durch bloße Transparenz zu erreichen.
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8. Institutionen, Berufe und Professionalismus Berufe, deren Ausübung mit vielen Rechenschaftspflichten einhergeht, werden in letzter Zeit vielfach dafür kritisiert, dass sie diesen Verpflichtungen nicht nachkommen. Als Standardtherapie wird dabei vorgeschlagen, die berufliche Verantwortung durch managementbezogene Rechenschaftspflicht zu ersetzen. Wie wir gesehen haben, ist diese Therapie aber mit hohen Kosten verbunden. Vielleicht haben jene, die sie entworfen und verordnet haben, gar keine falsche Diagnose gestellt, doch haben sie eine tödliche Therapie verschrieben. Die angebliche Krise des Vertrauens, für welche sich die weit verbreitete Einführung der managementbezogenen Rechenschaftspflicht als trügerisches Heilmittel erwiesen hat, wird (wie ich vermute) zum großen Teil durch die Schwierigkeiten geschürt, die Berufe und ihre Ausübenden damit haben, in einer sich wandelnden institutionellen Landschaft ihre Verpflichtungen wahrzunehmen und zu erfüllen. Persönliche Bindungen wie auch berufliche Strukturen fingen an, sich aufzulösen, und Berufskörperschaften kamen davon ab, die Unabhängigkeit des Urteils zu pflegen. Um diese Art von Verantwortlichkeit wieder zu verstärken, wurden dem Ganzen neue Formen der managementbezogenen Rechenschaftspflicht aufgepfropft. Den Führungspersönlichkeiten wurden dadurch viele der Methoden genommen, durch die sie früher dafür sorgen konnten, dass die berufliche Leistung den Anforderungen entsprach. Leitende Angestellte waren so sehr mit den neuen Managementanforderungen beschäftigt, dass sie weniger Zeit – und dramatisch weniger Autorität – hatten, um jüngere Kollegen in die Anforderungen des Berufslebens einzuführen. Der Professionalismus verkümmerte. Teilweise im Nachhinein betrachtet – denn diese Entwicklung geht rings um uns weiter – hat sich die Einführung der managementbezogenen Rechenschaftspflicht oft als unsinnig erwiesen. Da diese Therapie versagt hat, ist es vielleicht an der Zeit für ein neues Rezept. Eine Stärke von wohlstrukturierten Berufen und Berufskörperschaften besteht darin, dass sie das Erfüllen von Verpflichtungen durch eine Kultur stützen können, die den managementbezogenen Formen von Rechenschaftspflicht nicht zu Gebote steht. Viele Berufe bieten keine Traumjobs und manche sind schlecht bezahlt. Überall lauern Versuchungen, die Kurve zu schneiden, Abläufe zu beschleunigen, eine Aufgabe nicht so gut zu erledigen, wie es nötig wäre, Freunde oder Kollegen zu decken usw. Wenn die Wiederbelebung eines seriösen Professionalismus beitragen soll, die durch das Setzen auf unvernünftige Formen von Rechenschaftspflicht verursachten offensichtlichen Probleme zu
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lösen, so wird sie dies nicht dadurch schaffen, dass sie mit Zauberkraft die berufliche Integrität wiederherstellt, geschweige denn, dass sie mit netten beruflichen Verhaltenskodizes daherkommt. Echte berufliche Integrität erwächst aus festen institutionellen Strukturen. Sie verlangt eine strenge Trennung institutioneller und finanzieller Aspekte, robuste Methoden zur Behandlung von Interessenkonflikten, spürbare Maßnahmen gegen die Missachtung der Spielregeln und eine klar erkennbare Stützung der Berufskultur. Strukturen der Verantwortlichkeit, welche die Unabhängigkeit fachmännischer Urteile auf angemessene Weise gewährleisten sollen, sind nur dann hinreichend robust, wenn sie jenen, die andere zur Verantwortung ziehen sollen, starke Gründe bieten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. managementbezogene, durch vielfältige finanzielle Anreize und strafrechtliche Sanktionen gestützte Formen der Rechenschaftspflicht haben sich als mühsame und unzuverlässige Methode zur Gewährleistung vertrauenswürdiger Leistungen erwiesen. Auf lange Sicht wie auch im nächsten Augenblick kann die Frage, ob man sich beruflich Respekt verschafft oder diesen verliert, ob man geachtet oder verachtet wird, als Realität mehr Gewicht gewinnen. Unvernünftige Auffassungen von Verantwortlichkeit können die Möglichkeiten beeinträchtigen, wie eine solche Achtung entsteht – oder auch verloren geht. Sie demoralisieren die Fachleute – und schaden eben der professionellen Leistung, die zu fördern jene vermutlich anstreben bzw. glauben, die uns die managementbezogene Rechenschaftspflicht aufzwingen. Die Erkenntnis, dass manche professionelle Kulturen versagt haben, war kein guter Grund, diese Kulturen zu demontieren. Vielmehr wäre sie ein guter Grund gewesen, die beruflichen Strukturen und Körperschaften zu erneuern und zu stärken sowie die Interessen der Fachleute auf die der Adressaten abzustimmen, denen sie dienen sollen. Diese Anforderungen wirken sich nicht nur auf die Fachleute aus, sondern auch auf die beruflichen Körperschaften. Fachleute laufen Gefahr, ihre Integrität und Unabhängigkeit zu verlieren, wenn die beruflichen Körperschaften ihre Verpflichtungen lediglich darin erblicken, sich um die Verteidigung des Faches zu kümmern. Seriöse Berufskörperschaften übernehmen die Verantwortung für berufliche Standards und Leistungen, und zwar nicht nur bei deren Einführung, sondern auch darüber hinaus. Sie nehmen die berufliche Weiterbildung ebenso ernst wie die ständige Weiterentwicklung des Faches. Sie kümmern sich um Möglichkeiten der zufriedenstellenden Behandlung gerechtfertigter, offenbar unabhängiger Beschwerden, etwa dadurch, dass sie in ihre Gremien zur Lösung von Konfliktfällen auch »Laien« als Mitglieder aufnehmen.
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Das sind keineswegs aufregend neue Vorschläge. Sie verlangen freilich, dass wir uns konsequent um die Feststellung und Erklärung von Interessen sowie Interessenkonflikten bemühen und dass wir sicherstellen, dass die Gremien zur Lösung von Konfliktfällen nachweislich unabhängig und durchsetzungsfähig sind. Dies lässt sich leicht veranschaulichen, indem wir überlegen, welche Bedingungen notwendig sind, um sicherzustellen, dass Buchprüfer von den Institutionen unabhängig sind, deren Bücher sie zu prüfen haben, bzw. welche katastrophalen Konsequenzen sich ergeben, wenn wirtschaftliche Beziehungen zugelassen werden, die (wie im Enron-Skandal und anderen berüchtigten Fällen) Anreize zu einer »sanften Buchprüfung« geben, statt dass sie zu einer »wahrheitsgetreuen und gerechten Überprüfung« führen. Wenn wir uns auf unvernünftige Auffassungen von Verantwortlichkeit versteifen, so wird die Öffentlichkeit – die keineswegs unvernünftig ist – einigermaßen zutreffend urteilen, dass sie uns nicht mehr auf vernünftige Weise Vertrauen schenken oder vorenthalten kann. Sie wird erkennen, dass sie nicht mehr zwischen vertrauenswürdigen und vertrauensunwürdigen Institutionen und Personen unterscheiden kann. Unter diesen Umständen werden jedoch die Grundlagen für ein vernünftiges Schenken oder Verweigern von Vertrauen immer weiter untergraben. Es sollte uns dann nicht überraschen, wenn es zu einer »Dauerkrise des Vertrauens« kommt, in der Leichtgläubigkeit und Zynismus seltsam miteinander vermischt sind. Dagegen könnte das ernsthafte Bemühen, vernünftigen Auffassungen von Verantwortlichkeit – unter Einschluss von gut begründeten Formen beruflicher Rechenschaftspflicht – wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, einen Beitrag dazu leisten, dass ein vernünftiges Schenken oder Verweigern von Vertrauen auf eine neue Grundlage gestellt wird. Wenn uns das gelingt, so gewinnen wir auch Möglichkeiten zur Festigung gewisser Verpflichtungen, darunter Gerechtigkeitspflichten, ohne dass lähmende Kontrollen oder ausufernde strafrechtliche Sanktionen verhängt werden müssen.7
7. Aus dem Englischen übersetzt von Otto Neumaier.
GERECHTIGKEIT UND SOZIALSTAATSBEGRÜNDUNG Wolfgang Kersting
1. Mythologisches Vorspiel Der griechische Dichter Hesiod lebte im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Er wurde 753 v.Chr. geboren und starb 680 v.Chr. Sein Hauptwerk ist die 1022 Verse umfassende Theogonia, eine olympische Historiographie, die die düstere Geschichte des Hauses Zeus erzählt. Es ist eine Skandalchronik ohnegleichen, voller Kampf und Hinterlist, Verrat und Frevel, Heimtücke und Rache, Blut und Mord. Sie beginnt mit der Entstehung der Welt: Wahrlich, zuallererst entstand die gähnende Lehre, Chaos, alsdann aber die Erde, die breitbrüstige Gaia, für immer der nicht wankende Sitz von allen Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymp bewohnen, und der dämmerige Tartaros im Innern der breitstraßigen Erde und Eros, der der schönste ist unter den todfreien Göttern, der Gliederlösende, der allen Göttern und Menschen bezwingt den Sinn in der Brust und besonnen planendes Denken… Aus der gähnenden Leere entstanden Erebos, die Finsternis, und die dunkle Nacht. Aus der Nacht dann wieder entstanden Himmelshelle und Tag, die sie gebar, schwanger von Erebos, in Liebe sich ihm vereinend. Und Gaia gebar Uranos, sternenbedeckt und an Größe ihr gleich.1 All die Söhne nun, die Erde und Himmel entsprossen, hasste Uranus und verschloss sie in der Tiefe der Erde. Seiner Herrschaft setzte dann sein jüngster Sohn Chronos ein Ende; von seiner Mutter Gaia angestachelt entmannte und entmachtete er ihn. Dem abgetrennten Fleische entwuchs dann Aphrodite, 1. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage, griech./dt., München–Zürich 1991, S. 115, V. 115–125.
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die Schaumgeborene. Und so geht es weiter. Frevel reiht sich an Frevel, Blutschuld an Blutschuld. Alles wiederholt sich mit eherner Notwendigkeit. Auch Chronos wusste, dass er von seinem eigenen Sohn gestürzt werden würde. Daher griff er zur Herodesstrategie: Er begnügte sich nicht mit der Verbannung seiner Söhne, sondern er verschlang sie gleich nach ihrer Geburt. Dem Gesetz von Schuld und Vergeltung können aber auch Götter nicht entkommen: Listig verbarg seine Gattin Rheia mit Hilfe ihrer Eltern Zeus, den Letztgeborenen, vor ihm, der nach seinem Heranwachsen seinen Vater Chronos stürzte und selbst die Macht ergriff. Mit einem Sieg über die Titanen, die Geschwister Chronos und ihrer hochmütigen Nachkommen, festigte er seine Herrschaft. Damit war die Gewalt aus der Geschichte der Götter verbannt. Zeus beendet den olympischen Naturzustand und stiftete einen dauerhaften Frieden. Der Olymp Hesiods ist unverkennbar ein Ort der Auseinandersetzung zwischen dem männlichen Prinzip der Gewalt, der Macht und des Kampfes und dem weiblichen Prinzip der List, des Rechts und des Friedens. Zwar ist der Götterherrscher Zeus einschlägig männlich, wie Leda, Europa und zahllose andere aus eigener Erfahrung wissen, aber die von ihm errichtete Herrschaft beruht auf weiblichen Prinzipien. Die durch ihn machtvoll durchgesetzte Gerechtigkeit verdankt sich durchwegs weiblicher Inspiration. Zeus, der seine erste Gattin, Metis, die Klugheit, verschlang, sich also einverleibte, so dass er selbst Klugheit verkörperte und die notwendige Bedingung aller gerechten Herrschaft erfüllte, war in zweiter Ehe mit Themis verheiratet, der Göttin des im Herkommen verankerten Rechten, die ihm drei Töchter gebar: Eunomia, die Wohlordnung, Dike, das Recht, und Eirene, den Frieden. Zeus überführt den olympischen Naturzustand in einen olympischen Rechtszustand. Seine Herrschaft basiert auf Zustimmung und Anerkennung. In aller Form wird er zum König erklärt und als Herrscher über den Olymp eingesetzt. Die Herrschaft wird auf Anraten Gaias eingerichtet, steht also im Bund mit den vorolympischen Urmächten; und sie ist eine Gerechtigkeitsherrschaft, eine Herrschaft, die den Olymp durch Gerechtigkeit befriedet, die keinen Übermachtsfrieden, sondern einen moralisch qualifizierten Frieden gewährleistet. Die Gerechtigkeitsherrschaft des Zeus ist ein Vorbild für die Menschen. Mit ihr stellt Hesiod der herrschenden adligen Schicht seiner Zeit ein eindrucksvolles Bild gerechten Handelns vor Augen; nicht weniger ist verlangt, als dem göttlichen Vorbild nachzueifern und auf die göttlichen Wesenheiten politischer Ordnung, auf Eunomia, Dike und Eirene zu hören.
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2. Geschichtlichkeit der Gerechtigkeitskonzeption Im Laufe der folgenden Jahrhunderte wurde die mythopoetische Weltauslegung durch die philosophische Welterfassung verdrängt. Das Verständnismedium der Erzählung musste dem argumentativen Diskurs weichen. Das anschauliche Bild machte dem Begriff Platz. Dikaiosyne/Gerechtigkeit – mit diesem Begriff bezeichneten die Griechen das Ideal politischer Wohlordnung. Und die diskursiven Auseinandersetzungen im von ihnen neu geschaffenen politischen Raum zielten darauf, dieses Ideal genauer zu bestimmen, Kriterien zu benennen, mit denen wohlgeratene und missratene politische Ordnungen unterschieden werden konnten. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Seit Platon 374 v. Chr. in der Politeia seine zumutungsvolle Gerechtigkeitstheorie der Philosophenherrschaft entwickelt hat2, gehört das Bemühen um die Gerechtigkeit zu den vornehmsten Aufgaben kultureller Selbstverständigung und philosophischer Grundlagenreflexion. Der Begriff der Gerechtigkeit hat also eine lange Geschichte. Unterschiedliche Zeiten haben ein unterschiedliches Gerechtigkeitsverständnis. Verantwortlich für diese Unterschiede im Gerechtigkeitsverständnis ist der Wandel der kulturbedeutsamen normativ-begrifflichen Hintergrundüberzeugungen. Denn der Gerechtigkeitsbegriff kann nicht voraussetzungsfrei geklärt werden. Jeder Versuch, eine konsistente Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, steht in logischkonzeptueller Abhängigkeit von überaus komplexen theoretischen und normativen Vorgaben, die die verborgene Grammatik des jeweils vorherrschenden Welt-, Selbst- und Gesellschaftsverständnisses prägen. Die Moderne begann, als die Überzeugung um sich griff, dass sich der gesellschaftliche Rechtfertigungsund Orientierungsbedarf nicht mehr durch einen Rekurs auf den Willen Gottes oder eine objektive natürliche Wertordnung decken lässt. Das Verblassen der theologischen Weltsicht, das Verschwinden der traditionellen teleologischen Naturauffassung unter dem nüchternen Tatsachenblick der modernen Naturwissenschaften, der Zerfall der festgefügten und wertintegrierten Sozialordnung unter dem wachsenden Ansturm der Verbürgerlichung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse – all das verlangte eine Neuorganisation der kulturellen Rechtfertigungspraxis, die mit den neu erschaffenen geistigen Grundlagen der Welt der Moderne, mit den neu geprägten Selbst- und Weltverhältnissen in Übereinstimmung stand. Diese Neuorganisation führte zu ei2. Vgl. Wolfgang Kersting: Platons ›Staat‹, Darmstadt 1999.
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ner dramatischen Veränderung des überlieferten normativen Selbstverständigungsvokabulars: Manche Begriffe verloren ihre hermeneutische Brauchbarkeit und wurden völlig ausgemustert, andere wurden umdefiniert und auf eine neue normative Grundlage gestellt, der jetzt das letzte Wort bei Streitigkeiten über normative Verbindlichkeiten zuerkannt wurde. 3. Menschenrecht und Gerechtigkeit Diese neue normative Grundlage, auf die das Gerechtigkeitsverständnis in der Moderne gestellt wird, ist die Menschenrechtsthese. Die Menschenrechtsthese besagt, dass Menschen als Menschen unveräußerliche und allgemein verbindliche basale Rechte besitzen. Dass diese Rechte Menschen als Menschen zukommen, besagt, dass sich die Rechtszuschreibung ausschließlich an dem Kriterium der Zugehörigkeit zur biologischen Gattung des homo sapiens orientiert. Und dass diese Rechte allgemein verbindlich sind, besagt, dass kulturelle Praktiken, gesellschaftliche Institutionen und politische Herrschaftsordnungen ihre Legitimität einbüßen, wenn sie diese Rechte verletzen. Diese Rechte transzendieren alle positiven gesetzesrechtlichen und verfassungsrechtlichen Normierungen. Sie bilden die Prinzipien, mit denen die Legitimität, die Richtigkeit, die Gerechtigkeit dieser Normen beurteilt werden kann. Ihr Hauptprinzip ist nicht die Freiheit, wie oft gesagt wird, sondern die Gleichheit, denn die menschenrechtliche Freiheit ist nicht unabhängig von dem Gleichheitsprinzip bestimmbar. Würde das Freiheitsrecht definiert als Recht zu beliebigem Handeln, dann hätte man eine inkonsistente Bestimmung. Würde es verstanden als Freiheit zu allem, was andere nicht in ihrem Recht kränkt, dann hätte man eine tautologische Bestimmung. Angemessen kann das Freiheitsrecht nur verstanden werden als Recht, nur solchen Gesetzen zu gehorchen, die ich mit allen anderen einvernehmlich beschlossen haben könnte. Das Freiheitsrecht ist also semantisch ohne Rekurs auf den Begriff gleicher Gesetzgebungskompetenz überhaupt nicht explizierbar. Die Grundaussage der Menschenrechtsthese besagt daher auch, dass das staatliche Regel- und Institutionensystem alle Menschen gleich behandeln und in gleicher Weise berücksichtigen muss. Aufgrund dieser kategorialen Dominanz des Gleichheitsbegriffes in der Menschenrechtssemantik bezeichne ich die Menschenrechtsthese auch als menschenrechtlichen Egalitarismus. Menschenrechtlicher Egalitarismus besagt, dass bei der grundlegenden menschenrechtlichen Rechtszuschrei-
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bung Differenzen keinerlei kriterielle Bedeutung besitzen, weder die natürlichen, biologisch verursachten, noch die künstlichen, sozial verursachten. Daher unterwirft das Menschenrecht alle Einrichtungen des kulturellen, sozialen und politischen Systems einem Gleichbehandlungsgebot. Und das besagt hinwiederum, dass die gesamte gesellschaftliche Differenzerzeugung angesichts der normativen Priorität der menschenrechtlichen Politik der Indifferenz unter Rechtfertigungszwang steht. Gerechtigkeitsdiskurse in der modernen Gesellschaft sind daher vor allem Demarkationsdiskurse, die die Grenzen zwischen statthaften und unstatthaften Ungleichheiten, zwischen notwendigen und illegitimen Gleichheiten abzustecken versuchen. 4. Gerechtigkeit ist institutionalisiertes und interpretiertes Menschenrecht Diese Überlegungen machen auch deutlich, welche Beziehung zwischen dem Gerechtigkeitskonzept und der Menschenrechtsthese besteht. Gerechtigkeit ist einerseits institutionalisierter menschenrechtlicher Egalitarismus; Gerechtigkeit ist andererseits interpretierter menschenrechtlicher Egalitarismus. Die Institutionalisierungsbestimmung antwortet auf das Problem der Ohnmacht des Menschenrechts. Da die Zuschreibung eines Rechts nicht bereits selbst schon die Bedingungen seiner sichereren Wahrnehmung beinhaltet, bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um die Wirksamkeit des Rechts zu gewährleisten. Die Auslegungsbestimmung antwortet auf die Interpretationsbedürftigkeit des Menschenrechts. Menschenrechtsprinzipien sind abstrakt und unbestimmt. Ihre normative Orientierung weist ins Leere, wenn sie nicht durch Auslegungsdiskurse und gesetzesrechtliche Fortbestimmung situationsabhängig und problemadäquat konkretisiert werden. Diese Auslegungsbedürftigkeit nimmt mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität und steigender moralischer Sensibilität zu. Es gibt zweifellos einen klassischen Kernbereich menschenrechtlicher Orientierung, wo nahezu Evidenz herrscht und im Regelfall nicht diskutiert und nicht interpretiert werden muss. Es ist dies der Bereich, der durch die alte Naturrechtspflicht »Neminem laede/Verletze niemanden« abgedeckt ist. Die diesem Pflichtbereich der Gewaltvermeidung zukommende Evidenz verdankt sich der Tatsache, dass menschenrechtskonformes Handeln hier durchwegs ein Unterlassen ist. Man weiß, was man zu unterlassen hat, um das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu respektieren. Angesichts von Verletzungen und Verstümmelungen, von Mord und Vertreibung, von Folterkellern
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und Massengräbern bedarf es keiner subtilen Menschenrechtsexegese. Wenn jedoch dieser Bereich archetypischer Gewaltanwendung verlassen wird, verschwindet die Eindeutigkeit. Neue technologische Möglichkeiten haben Gefährdungspotenziale für Freiheit und Selbstbestimmung entstehen lassen, die nicht mehr umstandslos unter die tradierten Bedrohungsszenarien subsumiert werden können. Es bedarf daher konkretisierender und aktualisierender Menschenrechtsinterpretationen, um etwa die gesetzliche Regulierung der Weitergabe persönlicher Daten oder der Verwendung der Ergebnisse eines genetischen Screening bei Verbeamtungsvorgängen, Einstellungen und dem Abschluss von Versicherungsverträgen oder der Forschung an menschlichen Stammzellen mit dem Menschenrecht in Übereinstimmung zu bringen. Der Interpretationsbedarf nimmt jedoch noch beträchtlich zu, wenn wir den Bereich der Gewaltvermeidung verlassen und zu dem Bereich der Güterverteilung übergehen. Suum cuique tribue: so lautet die zweite klassische Naturrechtspflicht: Gib einem jeden das Seine, das, was ihm gebührt und zusteht. Wenn nun der menschenrechtliche Egalitarismus ein Gleichbehandlungsgebot impliziert, stellt sich die Frage, ob eine menschenrechtsverpflichtete Politik dieses Gleichbehandlungsgebot auch bei der Verteilung materieller Güter berücksichtigen muss, und wenn ja, inwieweit und in welcher Hinsicht. Beinhaltet das Gleichbehandlungsgebot eine Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit? Und nach welchen Kriterien soll bemessen werden, was das jedem zukommende Gleiche ist? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht unmittelbar aus dem Konzept des menschenrechtlichen Egalitarismus ableitbar. Sie verlangt beträchtliche interpretatorische Anstrengungen, deren Ergebnisse immer strittig bleiben werden. Denn soziale oder distributive Gerechtigkeit kennt keinen konsensuellen Bedeutungskern wie die politische Gerechtigkeit. Hier gibt es keinerlei Evidenzen, die eine klare Grenzziehung zwischen dem Gerechten und Ungerechten erlauben; hier ist nahezu alles umstritten. Daher ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit nahezu wehrlos gegenüber jeder Form rhetorischer Vereinnahmung und ideologischer Verwendung. Aufgrund seiner kriteriellen Unschärfe kann er allen Begehrlichkeiten der sozialstaatlichen Verteilungslobby nahezu kostenlos moralische Autorität verschaffen. Der Sozialstaat ermangelt normativer Bestimmtheit. Zwischen der vagen Hintergrundüberzeugung von einer Gerechtigkeitsnotwendigkeit des Sozialstaats und der vordergründigen Gerechtigkeitsrhetorik des sozialpolitischen Alltags klafft ein tiefer theoretischer Graben, den zu überbrücken zumindest ange-
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sichts der aus vielerlei Gründen unvermeidlichen Restrukturierung des Systems der sozialen Sicherung wünschenswert ist. Eine explizite Sozialstaatsbegründung könnte verhindern, dass das sozialstaatliche Gerechtigkeitsvermächtnis unter dem Vorwand der Reformnotwendigkeit dem politischen Opportunismus ausgeliefert wird. Für Begründungen zuständig ist aber die Philosophie. Von ihr sollte man also erwarten dürfen, dass sie die diffuse kulturelle Überzeugung von der normativen Unerlässlichkeit des Sozialstaats in genaue Begriffe kleidet und in den menschenrechtlichen Basisprinzipien interpretativ verankert. Und vielleicht darf man auch von ihr erhoffen, dass diese kohärentistische Sozialstaatsbegründung – denn Letztbegründungsillusionen sollten wir nicht länger pflegen – soviel interne normative Bestimmtheit besitzt, dass ihr auch gerechtigkeitspolitische Orientierung zumindest im Grundriss zu entnehmen ist. 5. Gewaltvermeidungsgerechtigkeit Die dem Gerechtigkeitsbegriff eingeschriebene Institutionalisierungsforderung umfasst mindestens die folgenden drei Einzelforderungen. Die erste verlangt die Errichtung eines Staates. Denn der Staat ist die Institution aller Institutionen, mit seiner Errichtung beginnt der Prozess der Institutionalisierung des menschenrechtlichen Egalitarismus. Er ist der notwendige erste Schritt. Die zweite Institutionalisierungsforderung lautet: Der Staat muss ein Rechtsstaat sein. In ihm sollen nicht Personen, sondern das Recht herrschen, ein alle, auch Regierung und Verwaltung bindendes System allgemeiner Normen. Und die Organisation der Rechtsverwirklichung muss dem Prinzip der Gewaltenteilung folgen. Und die dritte Institutionalisierungsforderung lautet: Die staatliche Herrschaft muss demokratisch organisiert sein; die Gesetzgebung muss in den Händen des Volkes und seiner gewählten Repräsentanten liegen. Die mit der Verwirklichung dieser drei Forderungen institutionalisierte Gerechtigkeit nenne ich politische Gerechtigkeit. Politische Gerechtigkeit ist wesentlich Gewaltvermeidungsgerechtigkeit. Ihre Grundbestimmungen sind allesamt bereichsspezifische Variationen der menschenrechtlichen, gleichen Freiheit. Sie reichen von der Gleichheit vor dem Gesetz über den gleichen, diskriminierungsfreien Zugang zum Markt und zu politischen Positionen und Ämtern bis zum gleichen Recht auf politische Mitwirkung. Freilich hat sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Gerechtigkeitsanspruch an die poli-
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tische Ordnung ausgeweitet. Der Gerechtigkeitswille gibt sich in der Gegenwart mit der Etablierung einer rechtsstaatlich verfassten und demokratisch regierten Marktgesellschaft nicht mehr zufrieden. Der gerechtigkeitsethische Gestaltungsauftrag geht über den Bereich der gesellschaftlichen Handlungskoordination hinaus und greift auf den Bereich der gesellschaftlichen Güterverteilung über. Und auch hier kann allein der menschenrechtliche Egalitarismus die entscheidende Legitimationsgrundlage bereitstellen. Wenn man argumentativ plausibel machen kann, dass der menschenrechtliche Egalitarismus auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche System der Güterversorgung haben muss, menschenrechtliche Gleichheit um ihrer normativen Konsistenz willen auch Gütergleichheit, Versorgungsgleichheit oder gar Wohlfahrtsgleichheit impliziert, dann ist der menschenrechtliche Institutionalisierungsauftrag sozialstaatlich auszudehnen, dann muss die Gewaltvermeidungsgerechtigkeit durch Verteilungsgerechtigkeit ergänzt werden. Ich werde im Folgenden diese beiden Gerechtigkeitskonzepte näher erläutern. Dabei werde ich mich bei der politischen Gerechtigkeit nicht lange aufhalten. Der Nachweis der Unerlässlichkeit des Staates, der Vorzugswürdigkeit seiner rechtstaatlichen Verfassung und der legitimatorischen Notwendigkeit demokratischer Herrschaftsorganisation gehörte zum Pflichtpensum der politischen Philosophie der Neuzeit. Der von ihr im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte Entwurf einer gerechten Ordnung menschlichen Zusammenlebens besitzt in seinen Grundzügen bis heute unverminderte Gültigkeit. Was immer man theoretisch zu diesem Thema vorbringen mag, es wird nicht mehr als eine Variation oder Modulation der einschlägigen Argumente Hobbes’, Lockes, Rousseaus oder Kants sein können. Mir geht es bei der folgenden Skizze der politischen Gerechtigkeit vor allem um den internen Zusammenhang der drei menschenrechtlichen Institutionalisierungsforderungen. Und zu diesem Zweck werde ich mich der Rechtsphilosophie Kants zuwenden, da sie die Explikation und Begründung gerade dieses Zusammenhangs in das Zentrum ihrer Argumentation rückt. 6. Kants Grundriss der politischen Gerechtigkeit Recht ist für Kant »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. Entsprechend lautet das allgemeine Rechts-
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prinzip: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«3 Kants allgemeines Rechtsprinzip konzentriert sich ausschließlich auf die Frage der formalen Verträglichkeit der Freiheit des einen mit der Freiheit der anderen. Als Inbegriff der Beschränkung des individuellen Freiheitsgebrauchs auf die Bedingungen der Allgemeinheit, Gleichheit und Wechselseitigkeit formuliert es die Konsistenzbeziehung äußerer Freiheit, die Koexistenzbedingung freier Individuen, die Bedingung gleicher Freiheit für alle. Wo aber genau die Grenze rechtlicher Verletzlichkeit verläuft, ist dem Rechtsgesetz selbst nicht zu entnehmen. Die Qualifikation der gleichen Freiheit aller ist viel zu unbestimmt, um eine konfliktfreie Handlungskoordination zu gewährleisten. Daher ist der Naturzustand notwendig ein Zustand der Gewalt, in dem niemand seines angeborenen Freiheitsrechts sicher sein kann. Diese Gewalt hat keine anthropologischen Ursachen, sie wurzelt nicht in der Niedertracht der Menschen, ihrer Gier und Machtlust. Sie ist allein die Folge der Abstraktheit der menschenrechtlichen Bestimmung der gleichen Freiheit. Sie führt unvermeidlich dazu, dass die Menschen ihr individuelles Freiheitsrecht nach eigenen Begriffen formen. Der Naturzustand ist darum ein Zustand, in dem unversöhnliche private freiheitsrechtliche Auslegungen aufeinander prallen.4 Daher ist es notwendig, den Naturzustand zu verlassen und in einen Zustand zu treten, in dem das Menschenrecht gesetzesrechtlich fortbestimmt wird und Verfahren zur gewaltfreien Konfliktlösung etabliert werden. Daher ist es notwendig, einen Staat zu errichten. Wenn es das Recht eines jeden ist, in seiner Freiheit nur durch allgemeine Regeln eingeschränkt zu werden, dann impliziert dieses Recht ein Recht auf die Bedingungen, unter denen diese allgemeinen Regeln formuliert und durchgesetzt werden können, also ein Recht auf die Verwirklichungsbedingungen von rechtlicher Freiheit. Das Menschenrecht ist auf die grundlegenden staatlichen Funktionen der Gesetzgebung, Jurisdiktion und Rechtsdurchsetzung angewiesen, um aus dem begrifflichen Dasein in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu treten. Insofern ist ihm die Notwendigkeit seiner Institutionalisierung und gesetzesrechtlichen Fortbestimmung von An3. Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 6, 230. 4. Zur Kantischen Rechtsmetaphysik vgl. Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl., Weilerswist 2004; ders.: Kant über Recht, Paderborn 2004.
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fang an eingeschrieben. Das Recht auf gleiche Freiheit entdeckt sich wesentlich als Recht auf Staat. Das Menschenrecht erweist sich aber nicht nur als positivierungsbedürftig, es enthält auch selbst explizite Rechtsvorschriften für die Einrichtung des Verfahrens seiner Positivierung, für die Gestaltung staatlicher Gesetzgebung, für die staatliche Souveränitätsausübung. Damit die staatliche Gesetzgebung dem Grundsatz der gleichen Freiheit entspricht, muss sie von denjenigen wahrgenommen werden, die sich zu einem Staat zusammenschließen, um ihre Freiheit allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen. Das Recht auf gleiche Freiheit impliziert den Grundsatz der gleichberechtigten Mitwirkung aller an der Gesetzgebung. In der Kantischen Terminologie: der einzig rechtmäßige Weg aus dem Zustand der Gewalt und Gesetzlosigkeit besteht in der Vereinigung aller zu einem allgemein gesetzgebenden Willen. Die seiner Gesetzgebung entstammenden Gesetze können als gerecht gelten, da sie die Bürger frei über sich selbst beschlossen haben. Nur die Gesetze, die der volonté générale entstammen, können als legitime gesetzesrechtliche Fortbestimmung der menschenrechtlichen Freiheit angesehen werden. Die menschenrechtliche Rechtsperson kann nur als Bürgerherrscher in die Wirklichkeit treten. Private Autonomie und politische Autonomie sind im Menschenrechtsbegriff verklammert. Daher verlangt eine adäquate Institutionalisierung des Menschenrechts die Errichtung einer Demokratie. Buchstabiert man das menschenrechtlich fundierte Recht auf Staat aus, dann entdeckt es sich als Recht auf Demokratie. 7. Verteilungsgerechtigkeit Die Geschichte der Verteilungsgerechtigkeit beginnt mit Aristoteles. Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Gerechtigkeit, die später in der lateinischen Schulsprache als iustitia directiva und iustitia distributiva bezeichnet wurden. Die iustitia directiva übernimmt in einer geordneten rechtlich-moralischen Welt die Restitutionsfunktion von Rache und Vergeltung. Sie gleicht aus und entschädigt. Sie verlangt die Erfüllung von Schuldigkeitspflichten, officia debiti. Diese mögen einer obligatio ex delictu, oder in einer obligatio ex contractu entstammen. Der iustitia directiva ist ein arithmetischer Gleichheitsbegriff eingeschrieben. Im Horizont der iustitia directiva begegnen Menschen einander ausschließlich als Rechtspersonen. Keinerlei Rolle darf es spielen, welcher Art der
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Schädiger, welcher Art der Geschädigte ist. Vor der iustitia directiva sind alle gleich. Von dieser Gerechtigkeitsform der arithmetischen Gleichheit hat Aristoteles die Gerechtigkeitsform der proportionalen Gleichheit unterschieden. Proportionalität wird für die Gerechtigkeit bedeutsam, wenn sie verteilt. Der Anwendungsbereich der distributiven Gerechtigkeit ist nicht die Rechtsordnung, sondern der Raum der Produktion und Distribution sozialer Güter; es geht hier um die »Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens zustehen.«5 Während die arithmetische Gleichheit der iustitita directiva eine Gleichheit des Wegsehens, der Entdifferenzierung ist, ist die proportionale Gleichheit der iustitia distributiva eine Gleichheit des Hinsehens, der Differenzierung. Ist die Göttin der iustitia directiva blind, da hier keine unterscheidenden empirischen Bestimmungen der Menschen von Belang sein dürfen, so muss die Göttin der iustitia distributiva genau hinblicken, denn hier kommt es auf den Besitz zuteilungsrelevanter Eigenschaften an. Nach Aristoteles ist das Verteilungskriterium für gesellschaftliche Anerkennung und Ehrung, Ämter und Pfründe die Verdienstlichkeit, die axia; gerechte proportionale Verteilungen sind Verteilungen gemäß des erworbenen Verdienstes, Verteilungen kat’axian. Wer aber ist des Amtes würdig? Wer verdient Anerkennung und Ehrung? Für den Empiriker Aristoteles sind die verdienstethischen Überzeugungen und Würdigkeitsauffassungen kontingent; sie sind abhängig von gesellschaftlichen Wertbegriffen, und diese hinwiederum spiegeln sozio-politische Herrschaftsverhältnisse: »die Vertreter des demokratischen Prinzips meinen die Freiheit, die des oligarchischen den Reichtum, oder den Geburtsadel, und die Aristokraten den hohen Manneswert.«6 Das Gemeinwesen der klassischen Politik ist ein Ort des guten Lebens. In ihm arbeiten Gesetze und bürgerliche Tugenden einander zu: Die Gesetze unterstützen die Bemühung der Bürger um ein tugendhaftes Leben und bedürfen ihrerseits der Unterstützung durch bürgerliche Tugenden; und die Bürger bedürfen der Stabilisierungswirkung der Gesetze, um in ihrem sittlichen Ertüchtigungsprozess voranzukommen. Und die Ehrungen und Ämter, die die Gemeinschaft zu vergeben hat, bilden ein exzellenzförderliches ethisches Anreizsystem. Der Tugendhafte macht sich um sein Vaterland verdient; und die Polis 5. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1130 b 30. 6. Ebd., 1131 a 25.
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belohnt ihn durch Ehrungen, die seiner würdig sind. In ihren theoretischen Anfängen zielt die Verteilungsgerechtigkeit auf Tugendbelohnung. Sie hat eine tugendagonale Funktion, sie spornt zum sittlichen Wettkampf an, hält die Exzellenzspirale in Bewegung. Für eine Gemeinschaft des guten Lebens ist es verhängnisvoll, wenn das Entsprechungsverhältnis zwischen individueller Tugendanstrengung einerseits und politischer Ehrung und gesellschaftlicher Anerkennung andererseits aus dem ethischen Lot gerät, wenn Mode, Macht und Opportunität die Verteilungsschlüssel an sich reißen. Wenn das tugendbelohnende Anreizsystem sich nicht mehr an der wahren Verdienstlichkeit ausrichtet, können die für die ethische Integration und politische Reproduktion des Gemeinwesens erforderlichen moralischen Ressourcen nicht mehr in hinreichendem Maße sichergestellt werden. Die Verteilungsgerechtigkeit entscheidet daher über das Überleben einer politischen Gemeinschaft des guten Lebens. In der politischen Philosophie der Neuzeit erhalten die Gerechtigkeitsbegriffe des Aristotelismus eine gänzlich neue Bedeutung. Das Regelwerk der iustitia directiva wird auf einen Sockel vorstaatlicher, menschenrechtlicher und privatrechtlicher Prinzipien gestellt. Deren unerlässliche staatliche Institutionalisierung und legislatorische Fortbestimmung stiftet ein System der öffentlichen Gerechtigkeit, eine gesetzesrechtlich eingehegte und staatlich geschützte Marktgesellschaft, die als Ordnung der Verteilungsgerechtigkeit verstanden und bezeichnet wurde. Das gilt für die Kontraktualisten und die frühen Nationalökonomen gleichermaßen. Die frühe Neuzeit ist die Zeit der gerechtigkeitsphilosophischen Unschuld des absoluten Eigentums. Der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit steht gänzlich im Bann des Eigentumsbegriffs. Gerechte Verhältnisse sind vor allem gefestigte Eigentumsverhältnisse. Die sozialen Güter, deren öffentliche Verteilung die gerechtigkeitsphilosophische Aufmerksamkeit des Aristotelismus fand, sind aus dem neuzeitlichen Naturrecht ebenso verschwunden wie die ethisch-zivile Verdienstlichkeit, die anzuspornen und zu belohnen die iustitia distributiva der klassischen Politik etabliert worden war. Der politische Raum öffentlicher Güterverteilung ist in der Frühzeit der politischen Moderne der staatlich gesicherten Eigentumsordnung und den sie konstituierenden Regeln privater Verteilung gewichen. Der Markt ist jetzt der Ort der proportionalen Gleichheit, der differenzsensiblen Zuteilung. Die materiale Verteilungsgerechtigkeit wird privatisiert; daher verschwindet sie als politikphilosophisches Thema. Mit dieser Entpolitisierung ist zugleich eine Entethisierung verbunden, denn keine geteilten Wert- und Würdigkeitsvorstellungen regieren die Distribution begehrter Güter, sondern ausschließlich die Mechanismen von Ange-
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bot und Nachfrage. Die durch die marktförmige Verteilungsgerechtigkeit bestimmte Zuteilung erfolgt nicht mehr kat`axian, sondern nach den Gesetzen des ökonomischen Tausches. Solch’ ein Eigentümerstaat ist für Kant die Gerechtigkeit auf Erden, institutionalisierte Verteilungsgerechtigkeit, da sie einem jeden »das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht … zu Theil« werden lässt.7 Diejenigen, die mehr Gerechtigkeit wollen, als Rechtsstaat und Marktgesellschaft liefern können, dürfen sich nicht mehr an die Politik wenden; sie müssen zur Religion ihre Zuflucht nehmen und auf die Kompensationsleistungen postmortaler Sanktions- und Gratifikationssysteme hoffen. Die sozialstaatliche Gegenwart macht sich jedoch anheischig, den Menschen auch hienieden schon mehr Gerechtigkeit geben zu können, als Rechtsstaat und Marktgesellschaft ihnen zu liefern in der Lage sind. Denn der Sozialstaat versteht sich nicht als institutionalisierte Benevolenz, als bürokratisiertes Samaritertum, er versteht sich als Gerechtigkeitsordnung. Er ist entschieden aus der obligationstheoretischen Grauzone der Caritativität herausgetreten, in der die Erwartungen nicht wissen, ob sie Ansprüche sind und die Gebenden nicht sicher sind, ob nicht doch die Gerechtigkeit von ihnen verlangt, zu teilen (Sidgwick). Diese Verrechtlichung bewirkt Entstigmatisierung, führt zu einer Entklientelisierung der Empfänger sozialstaatlicher Leistung. Durch sie ist der sozialstaatliche Leistungsanspruch ins System der basalen Rechte aufgenommen und damit gerechtigkeitstheoretisch legitimiert. Erst mit der sozialstaatlichen Komplettierung des Rechtsstaats gilt der gerechtigkeitsverwirklichende menschenrechtliche Institutionalisierungsauftrag als erfüllt. Gerechtigkeit herrscht, wenn Menschen ein gleiches Recht auf politische Teilhabe haben und unter dem Schutz demokratisch erzeugter und wirksam durchgesetzter Gesetze ihre Freiheit genießen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Gerechtigkeit herrscht in einer Republik. Daher war für Kant, Wilhelm von Humboldt und den klassischen Liberalismus mit der Errichtung einer solchen demokratisch verfassten und rechtsstaatlich organisierten Marktgesellschaft allen Forderungen der Gerechtigkeit Genüge getan. Dass es jedoch auch Aufgabe des Staates sein könnte, sich um eine gerechte Güterverteilung zu kümmern, der Gerechtigkeitsbegriff also auch Forderungen nach einer Revision vorfindlicher Verteilungsstrukturen enthalten könnte, war für 7. Kant: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 6, 312.
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die Begründer des klassischen Liberalismus unvorstellbar. Und die libertarians wollen es auch heute noch nicht wahrhaben. Nur besitzt ihr Plädoyer für eine rechtsstaatliche und demokratische Marktgesellschaft einen stark polemischen Zug, gipfelt es doch in einer expliziten rechtlichen und moralischen Delegitimierung des zwischenzeitlich entstandenen Sozialstaats. Das macht den Unterschied aus zwischen den Heroen der Bürgerlichkeit aus der Gründungszeit der politischen Moderne und den Ideologen des absoluten Eigentums im sozialstaatlichen Zeitalter: Jene waren Revolutionäre, die Absolutismus und Feudalismus bekämpften, die Menschenrechte predigten und für bürgerliche Selbstbestimmung eintraten; diese sind Reaktionäre, die das Eigentum vor sozialstaatlicher Umverteilung schützen wollen und gegen Steuern und Sozialabgaben kämpfen. Die libertarians bilden im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs jedoch nur eine verschwindende Minderheit. Alle anderen sind der Überzeugung, dass wir über Kant und Humboldt hinausgehen müssen und die staatliche Tätigkeit nicht auf die Forderungen politischer Gerechtigkeit beschränken dürfen, sondern sie auf das Gebiet der Verteilungsgerechtigkeit ausdehnen müssen. Oder anders formuliert: Alle anderen sind der Überzeugung, dass sich die Theorie bemühen muss, die ihr längst enteilte politische Realität einzuholen, um in ihr konzeptuellen Halt zu bekommen. Denn während die Philosophie der politischen Gerechtigkeit, die Rechtsstaats- und Demokratiephilosophie der politischen Wirklichkeit wie ein Herold voranschritt, um ihr den Weg zu weisen, ist die Philosophie der Verteilungsgerechtigkeit und des Sozialstaats eine Nachzüglerin. Der Sozialstaat war schon lange politische Wirklichkeit, bevor die politische Philosophie die begrifflich-normative Klärung seiner gerechtigkeitsethischen Grundlagen als Problem entdeckt hat.8 8. Kleiner Sozialstaatsbeweis Beginnen wir mit den normativen Gründen für die Unerlässlichkeit der Ausdehnung staatlicher Wirksamkeit auf den Bereich der Güterverteilung. – Die geschichtliche Entwicklung des politischen Bewusstseins in unserem Kultur8. Eine kritische Darstellung der gegenwärtigen Verteilungsgerechtigkeits- und Sozialstaatsdiskussion in der politischen Philosophie findet sich in: Wolfgang Kersting: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000.
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bereich ist charakterisiert durch ein wachsendes Verständnis der Wichtigkeit institutioneller Lebensvoraussetzungen. Der Anspruch an die konstitutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensplanung ist in der individualistischen Moderne darum stetig gestiegen: vom Sicherheitsstaat über den Rechts- und Verfassungsstaat zum Sozialstaat ging der Weg. Hinter dieser Ausweitung steht die Einsicht, dass selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung, dass die Wahrnehmung des Freiheitsrechts an materielle Voraussetzungen gebunden ist. Nicht nur die Diktatur kann das Freiheitsrecht zur Makulatur machen. Auch im Zustand der ökonomischen Mittellosigkeit verliert das Freiheitsrecht seinen Wert. Damit wird aber aus der Grammatik unserer ethisch-politischen Selbstverständigung das menschenrechtliche Herzstück herausgebrochen. Hinreichender Ressourcenbesitz besitzt offenkundig den Rang einer Freiheit ermöglichenden Bedingung, hinreichender Ressourcenbesitz ist Voraussetzung von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Existenz. Zumindest dann gilt dieser Ermöglichungszusammenhang zwischen dem immateriellen Zentralgut des Rechts und einem materiellen Zentralgut hinreichenden Ressourcenbesitzes, wenn wir das Recht nicht nur im Lichte des status negativus als Abwehrrecht betrachten, sondern uns auf die in den normativ-individualistischen Begriff der Menschenrechtsordnung eingelassene normative Leitvorstellung einer eigenverantwortlichen, zur selbstbestimmten Lebensführung fähigen Person beziehen. Angesichts dieser operationalen Abhängigkeit des Freiheitsrechts von hinreichendem materiellen Güterbesitz muss eine menschenrechtsbegründete und darum gerechte Ordnung auch Vorkehrungen gegen Mittellosigkeit treffen und eine zumindest basale Versorgung mit einem Ersatzeinkommen im Falle wie auch immer verursachter Erwerbsunfähigkeit sicherstellen. Die menschenrechtliche Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit treibt offenkundig aus sich selbst eine freiheitsrechtliche Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor. Denn menschenrechtlich verbürgte Freiheit ist immer von zwei Voraussetzungen abhängig: nicht nur von dauerhafter, verlässlicher Gewaltabwesenheit, sondern eben auch von hinreichendem Mittelbesitz. Und da die Erfüllung beider Voraussetzungen voneinander kausal unabhängig ist, muss die Institutionalisierung des menschenrechtlichen Egalitarismus, muss die Gerechtigkeit auch für die Erfüllung beider Voraussetzungen gesondert Sorge tragen. Daher muss die staatliche Gerechtigkeitsordnung auch durch Umverteilung Mittel bereitstellen, um den Mittellosen und Selbstversorgungsunfähigen die erforderlichen Ressourcen für ein an der Gesellschaft teilhabendes Leben zu verschaffen.
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Man könnte diese Konzeption als einen bedarfsorientierten Sockelegalitarismus bezeichnen, der von jeder Gleichheitsmetrik unabhängig ist und daher auch keiner fiktiven egalitären Ausgangsszenarien bedarf, denen die Theorie dann den Redistributionsausschlag der sozialstaatlichen Kompensationslogik entnehmen will. Es ist ein Sockelegalitarismus, der die Gleichheit des Freiheitsrechts reflektiert. Er begründet eine rechtsstaatliche Versorgungspflicht. Das menschenrechtliche Rechtsstaatsgebot treibt also offenbar aus sich selbst eine freiheitsrechtliche Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor. Oder in Abwandlung von Kants bekanntem Diktum: Der Sozialstaat ist konsequent ausgeübte Rechtslehre. Das von mir hier zugrunde gelegte Autonomieverständnis darf übrigens nicht mit dem emphatischen Autonomiekonzept der Diskursethik verwechselt werden. Diskurs- und demokratieethische Begründungen betten die Notwendigkeit sozialstaatlicher Institutionen in einen zivilgesellschaftlichen Paternalismus ein, betrachten Sozialstaatspolitik als, wie Ulrich K. Preuß es formuliert hat, »Staatsbürgerqualifikationspolitik«.9 So wünschenswert eine weite Verbreitung des Citoyenethos sein mag, das liberale Begründungsargument macht den Sozialstaat nicht zu einem Diener der Demokratie, sondern zu einem Anspruch der Individuen, der unabhängig von ihrer Staatsbürgerqualität besteht und mit jeder Form von Privatismus kompatibel ist. 9. Transzendentale Güter Um das Tätigkeitsprofil dieses freiheitsrechtlich begründeten Sozialstaats genauer zu bestimmen, bediene ich mich des Begriffs der transzendentalen Güter. Transzendentale Güter erweisen sich aus der Perspektive des menschlichen Individuums als grundlegende Lebensvoraussetzungen. Dazu zählen: zuallererst das Gut aller Güter, das Leben selbst; sodann, mit abnehmender Dringlichkeit, die Güter: körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Gesundheit, daseinssichernde Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wohnung und Kleidung, Handlungsfähigkeit, gesellschaftliche Teilhabe usf. Von Gütern dieser Art gilt allgemein, dass sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist. Ihr gesicherter Besitz ist für die Menschen notwendig, damit sie ihre unterschiedlichen Le9. Ulrich K. Preuß: »Verfassungstheoretische Überlegungen zur normativen Begründung des Wohlfahrtsstaates«, in: Chr. Sachße/H. Tristram Engelhardt (Hg.): Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. 1990, 106–132; 126.
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bensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können. Diese Güter werden nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern nur als unerlässliche Ermöglichungsbedingungen für ein gelingendes, sich nicht in Nebensächlichkeiten zerstreuendes Leben. Güter dieser Art stellen also universelle Präferenzen dar; ein jeder hat diese Präferenzen, denn sie müssen erfüllt sein, damit er ein Leben im Horizont seiner individuellen Präferenzen führen kann. In Zeiten der Normalität bleiben diese Grundgüter unauffällig; denn dann sind wir uns ihres Besitzes sicher und vergessen in der Routine des ruhigen Lebensalltags ihren Wert. Wenn sie uns jedoch knapp werden und wir darum in existenzielle Grenzsituationen und Notlagen geraten, bilden sie den einzigen Inhalt unserer Sorge; alle anderen Interessen verblassen dann, der Erwerb und Wiedererwerb der transzendentalen Güter wird dann zum ausschließlichen Ziel unseres Handelns. Es ist ersichtlich, dass wir mit diesen transzendentalen Gütern ein vorzügliches Mittel an der Hand haben, um die Gerechtigkeit von Gesellschaften zu untersuchen: eine Gesellschaft, die keine egalitaristische Grundversorgung an transzendentalen Gütern ermöglicht, verdient sicherlich nicht das Prädikat einer gerechten und wohlgeordneten Gesellschaft. Denn die menschenrechtliche Gleichheit impliziert den gleichen Anspruch eines jeden Individuums auf gleiche Versorgung mit diesen transzendentalen Gütern. Eine gleiche Versorgung mit diesen Gütern ist aber nur dann möglich, wenn diese Güter nicht ausschließlich der Verteilungsräson des Marktes überlassen werden. Denn der Markt verteilt diese universell begehrten Güter nach Maßgabe der individuellen Finanzkraft. Folglich muss die Produktion und Distribution dieser Güter dem Markt ganz oder teilweise entzogen und der Allgemeinheit überantwortet werden. Zumindest aber muss der Staat dann in die Bresche springen, wenn individuelle Bedarfslagen entstehen, die durch eigene Kraft nicht befriedigt werden können. Ob der Staat also ausschließlich oder in Zusammenarbeit mit dem Markt diese generell begehrten Lebenschancen bereitstellt, hängt von der Art des Gutes ab. Immer aber bleibt er die Instanz, die letztverantwortlich für die Gleichversorgung aufzukommen hat. 10. Egalitäre Verteilungsgerechtigkeit Für Egalitaristen hat der freiheitsrechtliche Sozialstaatsbeweis jedoch nur eine begrenzte gerechtigkeitstheoretische Reichweite. Im Grunde wiederholt er ja
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auch nur die Überlegung, die die menschenrechtliche Notwendigkeit des Staates herausgestellt hat, nur dass diesmal nicht die rechts- und freiheitszerstörende Wirkung der naturwüchsigen Gewalt, sondern die rechts- und freiheitszerstörende Wirkung der Mittellosigkeit betont wurde. Damit ist sicherlich einiges erreicht worden. Ein Staat, der sich nicht mit der rechtsstaatlichen Sicherung gewaltfreier Handlungskoordination begnügt und sein Engagement auf die Freiheit ermöglichende Grundversorgung ökonomisch Unselbständiger ausdehnt, ist dem Staat des klassischen Liberalismus aus gerechtigkeitsethischen Gründen vorzuziehen. Egalitaristen jedoch glauben, aus dem menschenrechtlichen Egalitarismus argumentativ ein eigenständiges Konzept der Verteilungsgerechtigkeit gewinnen zu können, das weit über eine subsidiäre Versorgung Selbstversorgungsunfähiger hinausgeht und eine gleiche Ressourcenausstattung anvisiert. Ich werde im Folgenden diese egalitaristische Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit diskutieren. Dabei beschränke ich mich auf zwei Punkte: zum einen auf die egalitaristische Grundthese der politischen Operationalisierung des verdienstethischen Dualismus von Umständen und persönlichen Entscheidungen und die darin begründete kompensatorische Logik sozialstaatlicher Gerechtigkeit; zum anderen auf die Frage, ob dieser luck-egalitarianism, wie Elizabeth Anderson ihn treffend getauft hat10, den Erfordernissen des Programms einer Sozialstaatsbegründung genügen kann und für eine normative Orientierung sozialstaatlicher Gerechtigkeitspolitik tauglich ist. Menschen sind endlich, und daher ist das Gelingen ihres Lebens abhängig von entgegenkommenden Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen zählen nicht nur die strukturellen Gegebenheiten unseres kulturellen und politischen Lebenszusammenhangs, zu ihnen zählen auch die Eigenschaften, die die Menschen an sich und in sich vorfinden. Diese sind teils genetisch formiert, teils Auswirkungen von sozialer Herkunft und Erziehung. Ersichtlich wird der Markt-, Sozial- und Lebenserfolg der Individuen durch die Qualität dieser Ressourcenausstattung bestimmt. Diese Ressourcenausstattung aber ist höchst unterschiedlich. Der eine hat bei der Lotterie der Natur das große Los gezogen und ist bei der Verteilung der natürlichen Fähigkeiten mit Talent, Begabung und Durchsetzungskraft reich ausgestattet worden, der andere hat hingegen nur 10. Vgl. Elizabeth Anderson, »What is the Point of Equality«, Ethics 109 (1999), 287–337; Samuel Scheffler: »What is Egalitarianism?«, Philosophy and Public Affairs 31/1 (2003), 5–39.
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eine Niete erwischt und muss sich sein ganzes Leben lang mit einer überaus ärmlichen Fähigkeitenausstattung abmühen. Und nicht nur das natürliche Schicksal verteilt die Startbedingungen ungleich; auch das Sozialschicksal ist zu den Menschen nicht fair. Der eine findet in seiner Familie die beste Ausgangssituation vor; einer behüteten Kindheit folgt eine erfolgreiche Karriere. Der andere ist zeitlebens von den Narben der sozialen Verwahrlosung gezeichnet und kommt keinen Schritt voran. Man wird aber nun nicht sagen können, dass der genetisch oder sozial Benachteiligte seine Benachteiligung verdient hätte; ebensowenig, dass der genetisch oder sozial Bevorzugte seine Bevorzugung verdient hätte. Man wird vielmehr sagen müssen, dass das eine so unverdient ist wie das andere. Man wird sagen müssen, dass bei den Verteilungsentscheidungen des Natur- und Sozialschicksals blinder Zufall am Werk war. Wenn aber die Voraussetzungen der Arbeits- und Lebenskarriere unverdient sind, sind auch die Erträge, die auf dem Markt durch Einsatz dieser genetischsozialen Basisressourcen erwirtschaftet werden, unverdient. Daher muss der vorfindlichen Eigentums- und Besitzordnung alle Legitimität abgesprochen werden. Eine um eine gerechte Verteilung der kooperativ erarbeiteten Erträge bemühte Gesellschaft darf sich nicht dem Diktat der Natur unterwerfen. Sie darf sich nicht einer naturwüchsigen Entwicklung überlassen, die die Willkür der natürlichen Begabungsausstattungen und die Zufälligkeit der Herkunft in den gesellschaftlichen Bereich hinein verlängert und sozio-ökonomisch potenziert, sondern sie muss die Eigentums- und Besitzordnung gerechtigkeitsethisch überformen. Diese Überlegungen gehören zum Überzeugungsfundus des gerechtigkeitsethischen Commonsense und liegen aller emanzipatorischen Gerechtigkeitspolitik zugrunde. Eine emanzipatorische Gerechtigkeitspolitik orientiert sich an der Idee der Chancengleichheit. Sie fordert institutionelle Reformen, die die negativen Selektionseffekte unterschiedlicher Sozialisationsschicksale brechen und die Autonomiechancen der Individuen verbessern können. Ein gutes Beispiel ist die Reform der Ausbildungssysteme in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland. Sie zielte darauf, die familienbedingte Chancenungleichheit auf dem Gebiet der Ausbildung und schulischen Erziehung zu korrigieren und den Verlauf der Lebenskarrieren weitgehend von den Familienprägungen unabhängig zu machen, die von externen Interessen regiert wurden und sich weder an den Wünschen und Träumen der Kinder noch an ihren vorhandenen Begabungspotenzialen orientierten. Diese kompensatorische Pädagogik verstand sich als eine Art Befreiungsarmee, die
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das Begabungspotenzial der Kinder aus der klassengesellschaftlichen Unterdrückung befreien wollte. Und sie zeigte eine beachtliche Konsequenz; sie begnügte sich nicht mit der Errichtung offener Bildungsinstitutionen, sondern marschierte in die Familien selbst ein, verlegte deren Orientierungsentscheidung für die Ausbildungskarrieren der Kinder von der Familie nach außen in den gesellschaftlich neutralen Raum und erschuf Orientierungsstufen und Gesamtschulen. Dass diese autonomieförderlichen Sozialinvestitionen im Laufe der Zeit immer spärlicher wurden, weil aufgrund der Finanzierungskrise des Sozialstaats die gesetzlich festgezurrten konsumtiven Ausgaben den Etat auffraßen und für sozialinvestive Aufgaben keine Mittel mehr übrig ließen, spricht nicht gegen die Legitimität eines sozialinvestitiven Sozialstaats, sondern belegt nur die durch falsche Priorisierungen erzeugte innere finanzielle und ethische Unausgewogenheit der gegenwärtigen Verfassung unserer sozialstaatlichen Systeme. 11. Tiefe Chancengleichheit Dieses vertraute Vorstellung einer gerechtigkeitsethischen Verpflichtung der Allgemeinheit zur Gewährleistung möglichst weitgehender Chancengleichheit erfährt nun in der Theoriekonzeption der Egalitaristen eine philosophische Radikalisierung, durch die es erheblich außer Commonsense-Reichweite gerückt wird und damit jede Chance verliert, in die gerechtigkeitspolitische Alltagspolitik reintegriert zu werden. Diese Radikalisierung ist das Ergebnis zweier Entscheidungen: zum einen wird die dem Chancengleichheitskonzept unterliegende Intuition, dass die Unterscheidung zwischen den lebenskarrierepolitischen Verteilungseffekten der Umstände einerseits und freier Eigenhandlungen andererseits gerechtigkeitsethisch belangvoll ist, metaphysisch überdehnt; zum anderen wird die institutionalistische Ausrichtung des Chancengleichheitskonzepts aufgegeben und durch eine individualistische Ausrichtung ersetzt. Während Institutionalisten an Randbedingungen interessiert sind, die eine flache Chancengleichheit für unterschiedliche Lebenskarrieren garantieren, weiten Egalitaristen ihr Egalisierungswerk auf die individuellen natürlichen und sozialen Startbedingungen aus und versuchen durch kompensatorische Umverteilung eine tiefe, eben diese Unterschiedlichkeit ausgleichende Chancengleichheit zu erreichen. Egalitaristen geben dem aristotelischen Verdienstlichkeitskriterium eine universalistische Fassung. Jeder soll gleichermaßen ausschließlich das erhalten, was
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er verdient. Und jeder verdient ausschließlich das, was das Ergebnis freier Entscheidungen und eigener Leistungen ist. Das hingegen, was sich nicht der Wahl, sondern den teils bevorzugenden, teil benachteiligenden Umständen zu verdanken ist, steht ihm nicht zu. Das muss durch eine kompensatorische Egalisierung ausgeglichen und an alle gleich verteilt werden. Die egalitaristische Verteilungsgerechtigkeit ist darum mit den Worten Dworkins zugleich »endowment-insensitive« und »ambition-sensitive«.11 Ihre Ausgleichspolitik richtet sich ausschließlich auf die Anteile des Bruttosozialprodukts, die umständehalber zustande gekommen sind. Das, was sich kausal auf Wahlentscheidungen zurückführen lässt, darf hingegen sozialstaatlich nicht angetastet werden. Der Profit der Freiheit bleibt von aller Umverteilung verschont. Das Suum der egalitaristischen Verteilungsgerechtigkeit ist also ein Zwei-Komponenten-Produkt: Es verbindet eine ressourcistische Gleichausstattung mit dem unterschiedlichen Ertrag von Eigenhandlungen. Die Doppelforderung nach einem zugleich ›begabungs-unempfindlichen‹ und ›leistungs-empfindlichen‹ Verteilungsmuster ist der gerechtigkeitstheoretische Ausdruck des menschlichen Schicksals, selbstbestimmt handeln zu können, aber dabei immer unter vorgegebenen Bedingungen handeln zu müssen. Ihr nachzukommen setzt eine diffizile diskriminatorische Ätiologie voraus, mit der wir das komplexe Kausalitätsgeflecht unseres Lebens entwirren und die einzelnen Ursachenstränge identifizieren können, um zuverlässig herauszufinden, »which aspects of any person’s economic position flow from his choices and which from advantages and disadvantages that were not matters of choice.«12 Allerdings verfügen wir nicht über solche kausalanalytische Kompetenz. In der Theorie lässt sich der energetisch-produktive Kern der Subjektivität mühelos von den Einflüssen der natürlichen Umstände trennen, in der Wirklichkeit jedoch kommt man mit diesem simplen subjektivitätsmetaphysischen Dualismus nicht weit. Bei der Ermittlung der für den individuellen Lebensverlauf verantwortlichen Faktoren stoßen wir auf eine zwar typologisch zu ordnende, empirisch jedoch unentwirrbare Gemengelage von Ursachen. Die Trennbarkeit von reiner Leistungssubjektivität und vorfindlichen genetischen und sozialen Umständen ist illusionär. Kein individuelles Entscheidungsprogramm, keine subjektive Präferenzordnung, keine persönliche Ethik des guten Lebens, die nicht 11. Vgl. Ronald Dworkin: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge, Mass. 2002. 12. Ronald Dworkin: A Matter of Principle, Cambridge, Mass. 1985, 208.
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auch in den vorgegebenen Mustern der natürlichen Umstände wurzeln, die jeder Mensch in Gestalt seiner genetischen und körperlichen Verfassung an und in sich selbst vorfindet. Selbst Stimmungsprofile, optimistische Einstellungen, Durchsetzungsvermögen und das Ausmaß an Risikobereitschaft, alles Leistungsfermente, sind auf natürliche Verteilungen zurückzuführen: die Auswirkungen der Lotterie der Natur bestimmen das gesamte Entscheidungsarsenal und Verhaltensrepertoire der Individuen. Eine trennscharfe Sortierung der illegitimen und legitimen Ungleichheitsursachen ist damit ebenso unmöglich wie eine genaue Bestimmung des Redistributionsausmaßes. Überdies widerspricht die Idee, einen selbstverantwortlichen abstrakten Persönlichkeitskern aus der Hülle seiner natürlichen und sozialen Vorgegebenheiten herauszuschälen, unserem Selbstverständnis. Alles das, was in dem starken Sinne kontingent ist, dass es auch in anderer Form um uns und in uns vorgefunden werden könnte, will der Egalitarist der politisch-egalitären Bewirtschaftung unterstellen, wird zum Gegenstand steuerpolitischer Abschöpfung oder kompensatorischer Zuwendung. Aber wir sperren uns dagegen, dass unsere Begabungen und Fertigkeiten uns nicht zugesprochen werden, und betrachten es als eine Form von Enteignung, wenn sie lediglich als von uns nur treuhänderisch verwaltete Gemeinschaftsressourcen angesehen werden, deren Ertrag gänzlich zur gerechtigkeitsstaatlichen Verteilungsdisposition steht. 12. Kontingenzaversion Völlig unvermutet entpuppt sich der Egalitarist als Leistungsradikaler und Verantwortungsabsolutist. Die sich darin bekundende Kontingenzaversion steht in der Traditionslinie neuzeitlicher Freiheitsmetaphysik. Um die menschliche Freiheit vor der menschlichen Endlichkeit, vor den Notwendigkeiten der Welt und den Zufälligkeiten des Schicksals zu retten, hat die Philosophie zu einem alten Trick Zuflucht genommen, den sie immer anwendet, wenn sich das undeutlich Offenbare ihren strengen Ansprüchen verweigert. Es ist der Trick der Verdoppelung: früher wurde er vor allem in Gestalt der Weltverdoppelung benutzt; in der Moderne findet er vorwiegend in der Variante der Ich-Verdoppelung Verwendung. Hinter dem empirischen, genetisch, historisch und gesellschaftlich imprägnierten Selbst taucht ein anderes, den kontingenten Verstrickungen entrücktes Selbst auf, rein, unhistorisch. Und dieses fahle Ich wird nun mit der Bürde der Freiheitsbewahrung belastet; es wird zum Autor des Lebens
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erklärt, zum Subjekt der freiheitsbewahrenden Selbsterschaffung des Menschen in Raum und Zeit. Es ist evident, dass dieses Ich nach dem Bilde des abendländischen Gottes geschaffen wurde. So wie dieser sich bei der Erschaffung der Welt im Menschen ein Ebenbild erschuf, so bildet umgekehrt der Philosoph das subjektivitätstheoretische Freiheitszentrum nach dem Muster Gottes. Nichts weniger als ein selbstmächtiger Hervorbringer freier Handlungen, der keinerlei Voraussetzung bedürftig ist, nur sich selbst voraussetzen muss, nichts weniger als ein selbst unbewegter Beweger ist dieses Selbst. Diese theomorphe Freiheitskonzeption schimmert ersichtlich durch die egalitaristische Distinktion von Umständen und freier Wahl. Sie belastet den »egalitarian planner«, den John Roemer mit einem egalitären Algorithmus ausstatten möchte, um die »egalitarian ethic« korrekt implementieren zu können, mit einer erkenntnistheoretischen Hypothek, die abzutragen er schon die übermenschliche Statur des platonischen politikos oder des rousseauschen Législateur haben müsste.13 Dass sich die Konzeption einer sozialstaats- und damit wirklichkeitstauglichen Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich an dieser Unterscheidung von Umständen und freier Wahl orientieren muss, leuchtet nicht im mindesten ein. Denn selbst, wenn es möglich wäre, den Anteil der natürlichen und sozialen Umstände aus der ökonomischen Bilanz unseres Handelns herauszufiltern, ist überhaupt nicht einzusehen, dass das, was sich eigener Wahl verdankt, der sozialstaatlichen Verteilung entzogen sein müsste. 13. Umstände und Freiheit Wir alle sind Nutznießer der gesellschaftlichen Kooperation auf mehreren Ebenen. Und ohne das gedeihliche Klima einer entwicklungsfreundlichen Kooperation könnten wir weder die Anlagen, Fähigkeiten und Talente, die in uns schlummern, zur Entfaltung bringen, noch in unseren freiheitsbegründeten Eigenhandlungen erfolgreich sein. Und auch hier ist es so, dass besonders die Hochtalentierten und Autonomiefähigen von der Gesellschaft profitieren, denn nur eine komplexe, ausdifferenzierte Gesellschaft mit hochentwickelten wissenschaftlichen, künstlerischen und technisch-wirtschaftlichen Sektoren enthält die erforderlichen perfektionistischen Anreize und Herausforderungen, kann 13. Vgl. John Roemer: Egalitarian Perspectives, New York 1994, 179–196.
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der außergewöhnlichen Begabung und dem Freiheitswagnis ein geeignetes Entwicklungsmilieu bieten. Daher ist es nicht abwegig, den wirtschaftlich Erfolgreichen sowohl wegen der Verzinsung günstiger Umstände als auch für die Freiheitsangebote eine Benutzungsgebühr in Rechnung zu stellen. Und natürlich gilt auch die Umkehrung: ebensowenig wie selbstverursachter Erfolg der sozialstaatlichen Besteuerung entzogen sein kann, ebensowenig darf selbstverschuldetes Elend sozialstaatliche Transferzahlungen verhindern. Eine Verteilungsgerechtigkeitskonzeption, die über die Dialektik von Umstand und Freiheit sowohl die Bedürftigkeit als auch die dem Kooperationssystem immanenten Verpflichtungen aus den Augen verliert, ist ungenügend. Die Unterscheidung zwischen Umständen und Wahl bietet keinen Maßstab distributiver Gleichheit. Im Kontext alltagshermeneutischer Moralbeurteilung und Verantwortlichkeitszuschreibung ist sie fraglos unverzichtbar, aber sobald sie unter dem Einfluss einer Kontingenzaversion geradezu metaphysischen Ausmaßes epistemologisch radikalisiert wird, verliert sie alle Brauchbarkeit und führt zu gerechtigkeitsethisch kontraintuitiven Ergebnissen. 14. Benachteiligungswettbewerb Aber die egalitaristische Unterscheidung von kompensationspflichtigen Umständen und kompensationsfreier Wahl hat noch andere bedenkliche Konsequenzen. Wenn sich staatliches Handeln als individuensensibler Schicksalsausgleich versteht, wird die Dimension des Politischen zerstört. Politik ist nicht mehr Sorge um den Bürger, nicht mehr Diskriminierungsbekämpfung und Sorge um Bürgerlichkeit ermöglichende Umstände. Der Bürger ist in diesem egalitären Gerechtigkeitsstaat längst ausgestorben. Die traditionelle politische Anthropologie erfährt im Egalitarismus eine erstaunliche Neufassung. Der Egalitarismus ist die politische Theologie der Benachteiligung. In seiner Welt gibt es nur Bevorzugte und Benachteiligte, Schicksalsbegünstigte und Schicksalsbeladene, sozial Privilegierte und sozial Deprivilegierte. Seine Dynamik ist durch die Tocqueville-Paradoxie geprägt: Der Egalitarismus produziert nicht nur Gleichheit, sondern notwendig immer auch ihr Gegenteil; als Inegalitätskompensation schüttet er fortwährend Prämien für Inegalität aus. Durch diese Selbstverewigung wird der egalitaristische Sozialstaat aus dem gewohnten Koordinatensystem gerückt. Die gleichheitsorientierte Verteilungsgerechtigkeit ist nicht subsidiär, sondern ein perennes Unternehmen, denn auch unter den Be-
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dingungen der Vollbeschäftigung und eines versagensfreien Marktes gibt es kompensationspflichtige Benachteiligungen. Auf merkwürdige Weise wiederholt sich in der Gesellschaftsauffassung des Egalitarismus die Hobbessche Naturzustandslogik. Beide Gesellschaften sind Komparativ-Gesellschaften, Gesellschaften des Vergleichs, der Kultivierung des Abstands. Zielt alles unter Naturzustandsbedingungen auf Machtvorsprung, so zielt alles in dem Gleichheitsstaat auf Benachteiligungsvorsprung. Die Egalitaristen ersetzen den positiven Komparativ durch den negativen Komparativ. Daher wird im egalitaristischen Sozialstaat die Autoviktimisierung zur Erfolgsstrategie kat’ exochen. Das hat politisch und moralisch verhängnisvolle Konsequenzen. Die Autoviktimisierung verlangt nach einer Dramatisierung der Ungleichheit. Ungleichheitsdramatisierung verträgt sich aber nicht mit einer differenzierten Ungleichheitsheitwahrnehmung. Die Ungleichheit der Ungleichheiten gerät aus dem Blick, differenzierungsunfähig ebnet der Egalitarist alle Ungleichheitsunterschiede ein. Daher ist der Dramatisierung von Ungleichheit immer die Gefahr der Verharmlosung von Armut, Not und Elend, von Unterdrückung, Ausbeutung und Erniedrigung eingeschrieben. Denn entweder wird der Egalitarist den moralpolitischen Gewinn realisieren wollen, der mit der Verschleifung der internen Ungleichheitsstufen verbunden ist und jede Gleichheitsabweichung, jede vergleichsweise geringere Ressourcenausstattung, jede Benachteiligung mit den moralischen Schreckensfarben der Not und des Elends anmalen, oder er wird Armut, Not und Elend, Unterdrückung, Ausbeutung und Erniedrigung als Fall von Gleichheitsabweichung und als Folge geringerer Ressourcenausstattung verharmlosen und damit politische Ursächlichkeit und Verantwortlichkeit verwischen. In beiden Fällen riskiert das egalitaristische Programm moralische Glaubwürdigkeit und politische Ernsthaftigkeit. Die Kehrseite der Autoviktimisierung ist die Stigmatisierung. Um besonders große Ausschüttungen aus dem egalitaristischen Kompensationsfond zu erhalten, muss man besonders gravierende Benachteiligungen vorweisen. Und um seinen Benachteiligungsvorstellungen politische Anerkennung zu verschaffen, schließt man sich am besten mit anderen zu Verbänden zusammen. Wenn wir aber nun nicht die karge Lebensethik eines Nutzenmaximierers zugrunde legen, sondern von einem anspruchsvolleren moralischen Subjekt ausgehen, das Respekt und Anerkennung verlangt, dann bietet das Leben in einer egalitaristischen Gesellschaft der Taxation des Benachteiligungs- und Bevorzugungsab-
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stands nicht nur ungeahnte Möglichkeiten leistungsfreier Einkommensmehrung, sondern dann kann der Egalitarismus auch als Quelle der Stigmatisierung erfahren werden. Denn der ethische Preis für die Erhaltung der Benachteiligungsprämie ist Inferiorisierung und Erniedrigung. Der Egalitarismus macht ausschließlich das binäre Benachteiligungs-Bevorzugungs-Schema zur epistemologischen Grundlage seiner Gleichheitspolitik. Die von ihm bereitgestellten Transfereinkommen fließen von den Mehr-Menschen zu den Minder-Menschen, von den Begabteren, Leistungsstärkeren, Talentierteren zu den Minderbegabten, Mindertalentierten, Minderleistern. Der egalitäre Sozialstaat ist die institutionalisierte Herablassung. 15. Theorie und Wirklichkeit Auch normative Theorien haben einen Hang zum Autismus. Ist einmal ein bestimmtes Komplexitätsniveau erreicht, haben sich zudem durch diskurspolitischen Erfolg bestimmte Grundannahmen paradigmatisch verdichtet, dann setzt ein Verselbständigungsprozess ein, in dem die Kommunikation mit der Wirklichkeit zunehmend durch Selbstverständigungsanliegen verdrängt wird. Die Binnendynamik der Argumentation führt zu einer immer feineren Ausdifferenzierung der einzelnen Positionen; der Realitätskontakt geht verloren; zuletzt antwortet die Theorie nur noch auf selbstproduzierte Probleme. Betrachte ich die egalitaristische Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit, dann verspüre ich die starke Versuchung, dem Sozialstaatsskeptiker von Hayek beizupflichten. Nicht, was die Möglichkeit einer normativen Sozialstaatsbegründung überhaupt anlangt; auch nicht, was die Möglichkeit einer sinnvollen Verwendung des Konzepts sozialer Gerechtigkeit betrifft, sondern hinsichtlich der Zurückweisung des archimedischen Anspruchs, einen distributiven Algorithmus entdecken zu können, mit dem sich die Gerechtigkeitsprobleme des Sozialstaats begreifen und lösen lassen. Ich möchte abschließend einen flüchtigen Blick auf den wirklichen Sozialstaat werfen, um zumindest anzudeuten, warum in der normativen Sozialstaatsdiskussion mit dem diagnostischen Monismus und therapeutischen Absolutismus der Egalitaristen weder theoretischer noch praktischer Gewinn zu erzielen ist und die Philosophie auf der jahrhundertealten Großbaustelle Sozialstaat nur dann das Schicksal glorioser Folgenlosigkeit vermeiden kann, wenn sie die großen Formate ihrer metaphysischen Vergangenheit aufgibt und sich
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in das Dickicht gesellschaftlicher Diskurse wagt. Als Beispiel eines wirklichen Sozialstaats wird mir der Sozialstaat des deutschen Grundgesetzes mit seinen fraglos in vielerlei Hinsicht auf andere Nationalstaaten übertragbaren Gerechtigkeitsproblemen dienen. Der moderne Sozialstaat, insbesondere der nordeuropäische, bildet mittlerweile ein nur noch Spezialisten zugängliches Agglomerat unterschiedlichster staatlicher, regionaler und kommunaler Leistungs- und Gestaltungsbereiche, die von der rechtlichen Verfassung der Arbeitswelt und den Maßnahmen subventionistischer Industriepolitik über die Einkommenssicherung durch Sozialversicherung, Sozialhilfe und Familienlastenausgleich bis zu einem ganzen Bündel sozialer Dienste im Gesundheits-, Ausbildungs- und Arbeitsförderungswesen reichen. Und da diese Leistungssegmente und Programmbereiche unterschiedlich ausgestaltet sind, teils dem versicherungseigentümlichen Äquivalenzprinzip, teils dem Solidaritätsprinzip, teils dem Prinzip der Gleichbelastung und Gleichstellung, teils dem der kompensatorischen Entschädigung, teils dem Prinzip der Suffizienz und der Grundsicherung folgen, sind sie auch mit verschiedenen Ungerechtigkeitsrisiken konfrontiert. Folglich entstehen hier allerorten gerechtigkeitstheoretische Sonderprobleme, die nach bereichsspezifischen Lösungen verlangen. Neoliberale Sozialstaatskritiker und egalitaristische Sozialstaatsfreunde, die den Sozialstaat und seine Gerechtigkeitsrisiken gleichermaßen ausschließlich als ein Distributionsproblem betrachten und behandeln wollen, leiden offenkundig an dem gleichen ökonomistischen Reduktionismus. Es gibt keine einheitliche sozialpolitische Vorstellung, die eine derartige gerechtigkeitstheoretische Allzuständigkeit besäße, dass sie dieser geschichtswüchsigen Vielfalt der Gerechtigkeitsprobleme in den entwickelten Sozialstaaten Nordeuropas gerecht werden könnte. Erst recht können die zur Abstraktheit verurteilten großformatigen Legitimationsargumente der politischen Philosophie sich nicht so tief in die Problemniederungen der Realität herabbeugen. Das besagt aber nur, dass der gerechtigkeitssemantische Diskurs entwickelter Sozialstaaten auf mehreren Ebenen abläuft, die durch keine Großtheorie deduktiv kurzgeschlossen werden können. So unerlässlich die Begründungs- und Integrationsbeiträge der Ebenen der einheitlichen sozialpolitischen Gerechtigkeitsauffassungen und der politikphilosophischen Gerechtigkeitskonzeptionen für die Orientierung der politisch-kulturellen Selbstverständigungsdiskurse ist, so wenig entlassen sie die realitätsnahen regionalen Gerechtigkeitsdiskurse von eigenständiger Begriffsarbeit und bereichsspezifischer Problemanalyse.
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16. Gerechtigkeit en détail Die durch die kleinformatigen, sozialstaatsinternen Gerechtigkeitsdiskurse vermessenen Problemregionen reichen von der Frage der Ausbildungsfinanzierung bis zur Rentensicherung. Man wird fragen können, ob es nicht gerechtigkeitsethisch unzulässig ist, wenn sich Akademiker den Erwerb höherer Bildung und damit die Chancen auf ein höheres Lebenseinkommen bei größerer Arbeitsplatzsicherheit durch die Steuerzahlungen auch von Nicht-Akademikern und ungelernten Arbeitskräften subventionieren lassen, ohne dass auch nur im Geringsten daran zu denken wäre, dass durch die spätere höhere Steuerbelastung die Akademiker auf indirektem Wege das in ihre Bildung und Lebenskarrieren investierte Steuergeld an die Allgemeinheit zurückzahlen würden, wie immer wieder behauptet wird. Hier gibt keine Allgemeinheit einen Kredit, der später an sie zurückgezahlt wird und der uneingeschränkt distributiv vorteilhaft ist, da alle aufgrund der allgemeinökonomischen Nützlichkeit hinreichender Humankapitalinvestitionen von ihm profitieren. Hier wird schlicht ein staatliches Bildungsfinanzierungssystem zur ungerechten Umverteilung von unten nach oben benutzt. Auf der anderen Seite betrachten die Studierenden nahezu unisono bereits minimale Studiengebühren als ungerecht, unsozial, unfair, da die Universität dadurch Unbemittelten verschlossen bliebe und das allgemeine Ausbildungsrecht zugunsten einer Privilegierung der Begüterten ausgehöhlt würde. Auf eine ähnliche Diskurskonstellation stößt man bei der gerechtigkeitsethischen Überprüfung des sozialstaatlichen Gesundheitswesens. Während die einen eine Stärkung der Eigenbeteiligung verlangen und durch geeignete Anreizsysteme die sozialstaatlichen Kunden zu mehr Gesundheitsverantwortung erziehen wollen, lehnen andere die Einführung ausgabendämpfender Marktinstrumente als Hinwendung zu einer Zwei-Klassen-Medizin ab. Noch deutlicher tritt das Gerechtigkeitsproblem in der Rentenversicherung zutage. Die Gültigkeitsvoraussetzung des rentenpolitischen Generationenvertrags ist die Identität von Beitragszahler und Leistungsnehmer. Nur unter dieser Voraussetzung wird der gerechtigkeitsheuristische Vertrag der Rationalegoisten geschlossen. Eine Abweichung von dieser demographischen Generationenbalance, die zur Verringerung der Leistungsnehmergruppe führen würde, hätte eine Beitragssenkung zur Folge. Würde hingegen die Abweichung zu einer Verringerung der Beitragszahlergruppe führen, dann würden diese den Vertrag vernünftigerweise aufkündigen und eine Umstellung des Rentensystems auf private und kapitalgedeckte Alterssicherung verlangen. Genau dann wird die
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Generationenbalance beschädigt, wenn Kinderunwilligkeit sich in signifikantem Maße breit macht. Denn im Lichte eines generationenvertraglich finanzierten kollektiven Rentensystems ist Kinderunwilligkeit einseitig-verdeckte Vertragskündigung. Das kinderunwillige Ehepaar durchbricht das Prinzip der generationenverschobenen Identität von Beitragszahler und Leistungsnehmer, lässt den generationenvertraglichen Staffelstab fallen. Die Ausbeutungsmarge, die durch Kinderunwilligkeit erzielt werden kann, ist beträchtlich. Das kinderunwillige Ehepaar ist ein rentenpolitischer free rider : Es befreit sich nicht nur selbst von den Kosten, Beitragszahler heranzuziehen, die mit Erreichen des rentenfähigen Alters seine Beitragszahlung fortsetzen und so seine Rentenzahlung sichern. Es lässt sich zudem seine inzwischen gestiegene, da als Lohnersatz betrachtete und somit der Wachstumsdynamik angepasste Rente von fremden Beitragszahlern finanzieren, zumindest den nicht unerheblichen Teil, der über die von ihm selbst eingezahlte Beitragssumme hinausgeht. Auf der anderen Seite haben wir die schrumpfende Zahl der Beitragszahler, die für die Renten aller, einschließlich der kinderunwilligen Ehepaare aufkommen müssen. Aber nicht nur die kommenden Beitragszahler werden durch Kinderunwilligkeit geschädigt, auch die zeitgenössischen Kinderwilligen. Denn nicht nur geraten sie durch die Kosten der Erziehung in ökonomischen Nachteil, auch mag die Kinder erziehende Mutter sich um eine Karriere gebracht sehen, die der kinderunwilligen Freundin, Schwester oder Nachbarin ökonomischen Erfolg, ethische Befriedigung und überdies eine Rentenanwartschaft einbringt. Hier ist eine familienpolitische Reform der Rentenversicherung, durch die unter anderem die Familienarbeit endlich der Erwerbsarbeit gleichgestellt wird, gerechtigkeitsethisch ebenso unabdingbar wie eine Ausweitung der Möglichkeit der Kinderbetreuung für arbeitende Mütter und arbeitende alleinerziehende Väter. Aber die Gerechtigkeit verlangt noch weit tiefere Eingriffe in das sozialstaatliche Einkommenssicherungssystem, zumindest in das deutsche. Denn dieses hat mit der industriegesellschaftlichen Herkunft des Sozialstaats immer noch nicht gebrochen und hält daher an der Einkommensorientierung fest. Das bringt nicht nur die nicht-arbeitenden Ehefrauen und Mütter in Nachteil, das erweist sich auch angesichts der Veränderung des vorherrschenden Typus der Einkommen erzielenden Arbeit als verhängnisvoll. Das Normalarbeitsverhältnis gerät seit langem, modernisierungs- und globalisierungsbedingt, unter Flexibilisierungsdruck. Eine Fülle neuer Erwerbstätigkeitstypen entsteht. Mit der Konstanz des Normalarbeitsverhältnisses verschwindet aber auch die Konstanz der Beitragszahlung. Damit wird der Versicherungszweck der Einkom-
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menssicherung im Rentenalter unterminiert. Die Opfer der flexibilisierten Arbeitswelt müssen sich systemwidrig der Leistungen der Sozialhilfe bedienen. In dieser Situation würde eine grundlegende Umstellung des Einkommenssicherungssystems auf eine bedarfsorientierte gesellschaftsweite gesetzliche Pflichtversicherung helfen, die für eine staatliche Grundsicherung sorgte. Weitergehende Versorgungsansprüche sind dann an den privaten Versicherungsmarkt zu verweisen. Das bedenklichste Gerechtigkeitsproblem aber stellt die Arbeitslosigkeit dar. Wenn durch hohe Sozialabgaben die Arbeit immer mehr verteuert und daher verknappt wird, erweist sich der Sozialstaat selbst als Hindernis einer möglichst breiten, also gerechten Verteilung des Gutes Arbeit. Entsprechendes gilt für die tarifpolitische Forschheit der Gewerkschaften. Sie treten als Lobby einer schwindenden Gruppe von Arbeitsplatzbesitzern auf, die aufgrund absehbarer Rationalisierungs- und Entlassungseffekte hoher Lohnabschlüsse tatkräftig an der Produktion weiterer Arbeitslosigkeit mitwirkt. Kompensiert wird dies durch eine sozialstaatseigentümliche ethische Entwertung der Arbeit, die genau ihrer sozialen Verknappung und ökonomischen Verteuerung korrespondiert. Ist Arbeit ausschließlich ein Mittel zur Einkommensgewinnung, kann sie durch entsprechende Transferzahlungen ersetzt werden, kann Arbeitslosigkeit gerechtigkeitsethisch entskandalisiert werden. Ist Arbeit aber nicht nur ein ökonomisches Instrument, sondern auch ein lebensethisch wichtiges Gut, dann müssen alle Beschäftigungshindernisse abgebaut werden. Ich habe diese vier gerechtigkeitsethischen Problemskizzen vorgetragen, um die Philosophie zu ernüchtern. Schon sie allein zeigen, dass es unmöglich ist, aus den prinzipientheoretischen Überlegungen der Philosophie einen Distributionsalgorithmus zu gewinnen, der einer zukünftigen Sozialstaatsreform den Weg zeigen könnte. Natürlich haben wir es bei jeder der ausgewählten Problemregionen mit Distributionen zu tun, mit einer gerechten Verteilung von Lasten und Chancen. Geht es einmal um einen gerechtigkeitstheoretisch hinreichenden Ausgleich zwischen den Generationen, geht es das andere Mal um einen Ausgleich zwischen den Geschlechtern und das dritte Mal um eine Umverteilung zwischen Kinder aufziehenden Ehepaaren oder Elternteilen einerseits und maritalen Doppelverdienern und Kinderlosen andererseits. Aber es ist irrig zu meinen, all diese in diesen Problemregionen anvisierten unterschiedlichen Verteilungsgerechtigkeiten auf eine Stammgerechtigkeit zurückführen und aus ihrer Perspektive einheitlich aufklären zu können. Erst recht ist es abwegig, in dem Egalitarismus der Umstände eine solche Basisform der iustitia distribu-
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tiva zu vermuten. Die großen Formate der Philosophie lassen sich nicht auf die kleinen Formate des diskursiven sozialstaatspolitischen Alltags herunterbrechen. Selbst die Diskurse mittlerer konzeptueller Reichweite, die programmatischen sozialpolitischen Gerechtigkeitsvorstellungen, können durch philosophische Unterweisung nichts gewinnen. Der Grund für diesen kaum verringerbaren Abstand zwischen den politischen Gerechtigkeitssemantiken und den philosophischen Gerechtigkeitstheorien liegt in der zunfteigenen Neigung zur Radikalisierung und Dekontextualisierung. Während die sozialstaatlichen Gerechtigkeitsdiskurse auf dem Boden der Gesellschaft problem- und projektbezogen entwickelt werden, arbeitet die Philosophie an der begrifflichen Klärung der normativen Implikationen einer von ihr gewählten und verabsolutierten Wertperspektive. Während den gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskursen eine vielfacettige und pluralistische Semantik zugrunde liegt, pflegt die Philosophie zumeist einen Wertmonismus, der mit einer teleologischen politischen Programmatik verbunden ist. Der entscheidende Unterschied aber ist, dass die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurse aus Anlass vorhandener oder vorgegebener Ungerechtigkeit entwickelt werden und darum schnell in, sei es von Politikern, sei es von Lobbyisten geäußerte Vorschläge zur projektbezogenen Minderung von Ungerechtigkeit münden. Wohingegen die Philosophie, aller konkreten Ungerechtigkeitszusammenhänge nicht achtend, mit größter begrifflicher Konsequenz einen Gerechtigkeitskonstruktivismus entfaltet, der den normativen Gehalt der gewählten Wertperspektive bis zur Skizzierung einer idealen Gerechtigkeitsgemeinschaft ausbuchstabiert. Weil aber dabei alle einschlägigen Ungerechtigkeitsorte der Realwelt in weitem Bogen umfahren werden, erfährt man in diesen Theorien nichts über die diversen Gerechtigkeitsprobleme der Arbeitslosigkeit, des Beiträgerschwunds in den Sozialversicherungen, des wachsenden Generationenungleichgewichts, der Transferausbeutung der Familien und des Überhangs an konsumtiven Staatsausgaben. Es ist von beträchtlicher, sowohl politischer als auch philosophischer Bedeutung, ob man Gerechtigkeit negativ versteht und als politisches Programm der Ungerechtigkeitsminderung und Ungerechtigkeitsvermeidung auslegt, oder ob man Gerechtigkeit als Zielperspektive eines konstruktivistisch entworfenen Ideals betrachtet. Nur wenn die Philosophie von aller gerechtigkeitsidealistischen Programmatik ablässt und sich auf die praktikable Aufgabe der Ungerechtigkeitsminderung und -vermeidung einlässt, kann der Abstand zu den politischen, projektbezogenen Gerechtigkeitsdiskursen des sozialstaatlichen Alltags merklich verringert werden.
SOZIALE UND GLOBALE GERECHTIGKEIT* Peter Koller
1. Einleitung Die Frage, was Gerechtigkeit ist und was sie verlangt, war immer schon heftig umstritten und hat ihre Faszinationskraft doch nie verloren. Sie ist Ausdruck des Verlangens der Menschen nach einer Welt, in der nicht blanke Macht regiert, sondern ein allgemein verbindliches Gesetz, welches das soziale Zusammenleben zum Vorteil aller regelt, Konflikte in unparteiischer Weise schlichtet und jeder Person zukommen lässt, was ihr gebührt. Seit je gilt Gerechtigkeit daher nicht nur als ein oberstes Gebot menschlichen Handelns und als eine kardinale Tugend, sondern auch als ein grundlegender Bewertungsmaßstab sozialer Verhältnisse und politischer Ordnungen. Sofern wir – wie die meisten Menschen, die über normale geistige und emotionale Fähigkeiten verfügen – das Verlangen nach Gerechtigkeit teilen, sind wir ständig mit irgendwelchen Vorkommnissen konfrontiert, die uns auch dann, wenn sie uns nicht unmittelbar selber betreffen, nicht gleichgültig lassen und zur Stellungnahme auffordern. Häufig folgen wir dabei einfach unserem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden, ohne uns über die tieferen Gründe für unsere Urteile viel Gedanken zu machen. Ich selbst kann mich einer Stellungnahme jedenfalls schwer enthalten, wenn ich von Dingen erfahre, die ich als empörende Ungerechtigkeiten empfinde, wie z. B. die folgenden: dass die Regierenden eines Landes mit brutaler Gewalt herrschen, elementare Menschenrechte missachten und ihre Macht missbrauchen, um sich und ihren Anhängern Privilegien zu verschaffen und
* Für hilfreiche kritische Kommentare zu diversen früheren Fassungen dieser Arbeit bin ich insbesondere Stefan Gosepath und Thomas Pogge zu Dank verpflichtet. Nützliche Anregungen verdanke ich auch der Diskussion meines gleichnamigen Vortrags beim VII. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie im Februar 2004 in Salzburg. Stimulierend für meine Beschäftigung mit globaler Gerechtigkeit ist auch die Kooperation im Rahmen des Europäischen Netzwerkes Applied Global Justice (5. Rahmenprogramm der EU, Projekt HPRN-CT-2002-00231).
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ihre Herrschaft mit allen Mitteln zu sichern; dass Menschen, die verdächtigt werden, möglicherweise ein Verbrechen begangen zu haben oder künftig eines begehen zu wollen, ohne gerichtliche Prüfung auf unbegrenzte Zeit in Haft gehalten werden; dass es den Bossen großer Unternehmen offenbar sehr leicht gemacht wird, sich straflos, ja oft sogar auf ganz legale Weise zum Nachteil der Mitarbeiter, Aktionäre und Gläubiger zu bereichern; dass die in unseren reichen Gesellschaften allerorten betriebenen, angeblich unvermeidlichen Reformen trotz wachsenden Wohlstands regelmäßig zu weiteren Einbußen gerade für die ärmsten Bevölkerungsgruppen, wie Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, führen, während die Einkommen und Vermögen der oberen Schichten weiter wachsen; und dass die wohlhabenden Nationen durch ihre Importbeschränkungen und Exportsubventionen für Agrarprodukte die Bauern der ärmeren Länder zugrunde richten, diesen aber gleichzeitig ein Freihandelssystem aufnötigen, von dem hauptsächlich die reichen Länder profitieren. Vielleicht stimmen Sie mir zu, dass die genannten Zustände, oder wenigstens einige von ihnen, ungerecht sind. Gewöhnlich ist es ja leichter, Einigkeit darüber zu erzielen, dass etwas ungerecht ist, als darüber, was als gerecht gelten soll. Daraus folgt freilich nicht, dass unser Gerechtigkeitsempfinden nur im Fall offensichtlicher Ungerechtigkeiten auf negative Weise reagiert, aber keine positive Antwort auf die Frage gibt, was gerecht ist. Auch wenn es zutrifft, dass unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit oft nicht nur ziemlich vage und verschwommen sind, sondern auch mehr oder weniger auseinander gehen, kommt es doch nicht selten vor, dass etwas weithin als gerecht betrachtet wird. So dürften wohl die meisten Menschen Genugtuung empfinden, wenn ein Übeltäter, der sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hat, überführt werden konnte und dem Strafgericht überantwortet wird, oder wenn ein repressives Regime, das die Bürger grausam unterdrückt hat, von diesen gestürzt und durch eine gewählte Regierung ersetzt wird, die Besserung erwarten lässt. Doch wie es sich damit auch immer verhalten mag, unsere Gerechtigkeitsurteile stünden auf recht schwankendem Boden, wenn wir für sie nicht mehr als unser Gerechtigkeitsempfinden vorbringen könnten. Denn dass in Belangen der Gerechtigkeit vollständige oder auch nur weitgehende Einigkeit besteht, ist eher die Ausnahme als die Regel. In den meisten Fällen bestehen ganz erhebliche Meinungsverschiedenheiten, und nicht selten stehen einander sogar völlig konträre Auffassungen gegenüber. In solchen Fällen bringt uns die Berufung
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auf unsere Intuitionen nicht mehr weiter. Was wir brauchen, das sind gute Gründe, mit denen wir die zur Debatte stehenden Urteile rechtfertigen oder widerlegen können. Da die Suche nach solchen Gründen ein gewisses Verständnis der allgemeinsten – der logischen, semantischen, normativen und empirischen – Grundlagen unseres Redens über Gerechtigkeit erfordert, ist sie insoweit ein philosophisches Unternehmen. Dabei kann uns die Philosophie als Disziplin, die sich dem systematischen Nachdenken über die allgemeinsten Grundlagen unseres Denkens, Erkennens, Wollens und Handelns widmet, weiterhelfen, auch wenn man von ihr nicht allzu viel erwarten sollte, jedenfalls keine Patentrezepte für die Lösung aller strittigen Fragen. Ich möchte im Folgenden einige der philosophischen Probleme ansprechen, die durch die Rede von sozialer Gerechtigkeit einerseits und von globaler Gerechtigkeit andererseits aufgeworfen werden. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, zuerst einmal das ziemlich unübersichtliche Terrain der Gerechtigkeit etwas näher zu sondieren (Abschnitt 2). Davon ausgehend wende ich mich der Frage zu, was soziale Gerechtigkeit meint und welche normativen Forderungen sie einschließt (3). Im Anschluss daran will ich den Versuch unternehmen, der Rede von internationaler bzw. globaler Gerechtigkeit einen guten Sinn abzugewinnen (4), um danach mit einigen Anmerkungen zum Verhältnis von sozialer und globaler Gerechtigkeit zu schließen (5). Dass ich in diesem Beitrag nicht auf alle Fragen, die für mein Thema wichtig oder interessant sein mögen, eingehen kann, versteht sich von selbst. Da es aber natürlich verschiedene Möglichkeiten der Annäherung an ein solches Thema gibt, sollte ich vielleicht schon jetzt erwähnen, dass ich mich im Wesentlichen darauf beschränken werde, die begriffliche Struktur der zur Debatte stehenden Gerechtigkeitskonzepte samt den ihnen inhärenten normativen Gehalten zu explizieren, ohne mich viel mit der normativen Begründung dieser Gehalte zu befassen. So werde ich die Frage der Letztbegründung grundlegender Prinzipien der Gerechtigkeit ganz auf sich beruhen lassen und mich in den Kontexten meiner Analyse, in denen es bestimmte Gerechtigkeitsforderungen plausibel zu machen gilt, mit Begründungsargumenten ›mittlerer Reichweite‹ begnügen, die gewisse normative Annahmen bereits voraussetzen. Infolgedessen werde ich auch keine elaborierte Konzeption der sozialen und der globalen Gerechtigkeit präsentieren, die auf alle auftretenden normativen und empirischen Streitfragen eine Antwort zu bieten sucht, sondern mich weitgehend entlang des Common Sense bewegen. Das hat freilich den Nachteil, dass viele dieser Streitfragen mehr oder minder offen bleiben müssen.
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2. Das Terrain der Gerechtigkeit Die eingangs erwähnten Beispiele für einige Vorkommnisse, die wohl die meisten von uns zu Gerechtigkeitsurteilen provozieren, scheinen auf den ersten Blick ein Sammelsurium verschiedener Konstellationen zu bilden, die wenig gemeinsam haben und für deren Bewertung offenbar auch kein einfaches und allgemeines Prinzip zur Verfügung steht. Um in die verwirrende Vielfalt unseres Redens über Gerechtigkeit etwas Ordnung zu bringen, ist es erforderlich, das Vokabular der Gerechtigkeit genauer zu betrachten. Der Kürze halber werde ich dabei ohne weitere Begründung von drei Annahmen ausgehen, die sich eigentlich ohnehin von selbst verstehen und auch weitgehend unbestritten sind. Ich nehme erstens an, dass Forderungen der Gerechtigkeit moralische Standards sind, also solche, die einerseits allgemeine Geltung beanspruchen und insofern objektiven Sinn haben, andererseits aber Geltung nur dann und insoweit entfalten, wenn und soweit sie von den Menschen aus freien Stücken anerkannt werden (Koller 2001, 21 ff .). Meine zweite Annahme ist, dass die Forderungen der Gerechtigkeit, wie auch alle anderen moralischen Standards, wegen ihres allgemeinen Geltungsanspruchs jedenfalls ein schwaches Prinzip, ein Universalisierungsprinzip, implizieren. Dieses Prinzip, die so genannte formale Gerechtigkeit, besagt, dass Gleiches gleich zu behandeln bzw. zu beurteilen ist, oder anders gesagt, dass jedes Handeln, das irgendwelchen Forderungen der Gerechtigkeit unterliegt, gewissen allgemeinen Regeln folgen muss (Perelman 1967; Weinberger 1979). Da die formale Gerechtigkeit darüber, wie diese Regeln selber aussehen sollen, gar nichts sagt, kann man sie von Fragen oder Standards der materialen Gerechtigkeit unterscheiden, die sich auf die Beschaffenheit der Regeln beziehen, die ein gerechtes Handeln leiten sollen. Und zum Dritten gehe ich im Einklang mit dem modernen und heute weithin geteilten Moralverständnis von der Annahme der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Menschen aus, der zufolge alle Menschen Anspruch auf gleiche Achtung haben. Unter dieser Voraussetzung können soziale Normen und Institutionen nur dann als gerecht gelten, wenn sie im Lichte einer unparteiischen Betrachtung unter Berücksichtigung aller relevanten Informationen von jeder möglicherweise betroffenen Person vernünftigerweise akzeptiert werden sollten oder zumindest nicht mit guten Gründen abgelehnt werden können (Tugendhat 1993, 364 ff .; 1997; Dworkin 2000, 1 ff .; Pauer-Studer 2000, 54 ff .). Diese Bedingung ist natürlich sehr vage und bedarf der näheren Konkretisierung, aber sie gibt immerhin einen
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gewissen Rahmen vor, innerhalb dessen sich Erwägungen der Gerechtigkeit bewegen müssen. Die Gerechtigkeit bildet also einen Teilbereich der Moral. Ihre Standards heben sich von anderen moralischen Normen vor allem durch zwei Merkmale ab: durch ihr besonderes Gewicht und durch ihren spezifischen Gegenstand. Die Standards der Gerechtigkeit haben deshalb besonderes Gewicht, weil sie wechselseitige Ansprüche und Verbindlichkeiten, also bindende Rechte und Pflichten zwischen Menschen begründen. Sie teilen diese Eigenschaft zwar mit anderen moralischen Geboten, die ebenfalls als strikt verbindlich gelten, unterscheiden sich durch sie aber von schwächeren Richtlinien, die zu einem guten Handeln anleiten, ohne strikte Pflichten zu begründen, wie z. B. die Normen der Hilfsbereitschaft oder der Wohltätigkeit. Darüber hinaus haben die Forderungen der Gerechtigkeit einen spezifischen Gegenstand, weil sie stets auf irgendwelche speziellen Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen abstellen, z. B. auf Tauschbeziehungen oder auf Herrschaftsverhältnisse. Insofern heben sie sich von unbeschränkt universellen moralischen Geboten ab, die unabhängig davon verpflichten, ob man zu anderen Menschen in irgendeiner sozialen Beziehung steht oder nicht, wie beispielsweise das Gebot, andere nicht ohne hinreichenden Rechtfertigungsgrund zu verletzen. Die Forderungen der Gerechtigkeit sind demnach insofern kontextabhängig, als sie stets auf bestimmte soziale Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen oder Gruppen abstellen. Und da es offenbar eine Vielfalt von unterschiedlichen sozialen Verhältnissen gibt, auf die Forderungen der Gerechtigkeit Anwendung finden, ist auch zu vermuten, dass – sofern es überhaupt weithin geteilte und plausible Prinzipien der Gerechtigkeit gibt – eine Pluralität solcher Prinzipien existiert. Daraus folgt aber entgegen der Ansicht mancher Philosophen, wie z. B. Michael Walzer, nicht, dass alle Gerechtigkeitsstandards gesellschaftlich kontingent in dem Sinne sind, dass in jeder Gesellschaft eigene Standards der Gerechtigkeit gelten, die sich jeder universellen Begründung oder Kritik entziehen (Walzer 1992, 30 ff .). Ich glaube, dass es möglich ist, zumindest einige sehr abstrakte und vage Prinzipien der Gerechtigkeit zu finden, die nicht nur weithin anerkannt sind, sondern auch begründet werden können. Da es in der Tat nicht sinnvoll ist, nach einem Prinzip materialer Gerechtigkeit zu forschen, das – wie die formale Gerechtigkeit – für alle Bereiche des sozialen Handelns Geltung besitzt, liegt es nahe, verschiedene Formen des sozialen Handelns zu unterscheiden und zu fragen, ob für sie jeweils bestimmte Maßstäbe der Gerechtigkeit gelten. Diesen Weg hat schon Aristoteles beschrit-
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ten, als er vorschlug, zwei Arten der Gerechtigkeit zu unterscheiden, für die sich die Namen ›distributive‹ und ›kommutative‹ Gerechtigkeit eingebürgert haben (Aristoteles 1972, V.5, 1130b5ff.). Obwohl diese Unterscheidung grundsätzlich in die richtige Richtung führt, ist sie zu einfach, um alle wesentlichen Formen sozialen Handelns, die der Gerechtigkeit unterworfen sind, zu erfassen. Ich schlage daher vor, mindestens vier Grundformen sozialen Handelns zu unterscheiden, denen ebenso viele Arten der Gerechtigkeit entsprechen, nämlich die folgenden (Koller 2003, 239 ff ., 312 f.): (1) (2) (3) (4)
Gemeinschaftsverhältnisse Austauschverhältnisse Herrschaftsverhältnisse Unrechtsverhältnisse
— — — —
Verteilungsgerechtigkeit Tauschgerechtigkeit politische Gerechtigkeit korrektive Gerechtigkeit.
Jede der vier Formen des sozialen Handelns wirft spezifische Probleme auf, deren gerechte Regelung jeweils spezifischen Grundsätzen unterliegt. Ich möchte diese Probleme und die für sie jeweils maßgeblichen Grundsätze der Gerechtigkeit in Kürze skizzieren. (1) Personen stehen in einem Gemeinschaftsverhältnis, wenn und soweit ihnen bestimmte Güter und/oder Lasten gemeinsam zukommen, z. B. weil sie die Güter gemeinsam geschaffen bzw. die Lasten gemeinsam verursacht haben. Jedes derartige Verhältnis zieht die Forderung nach sich, die betreffenden Güter und Lasten unter den Beteiligten gerecht zu verteilen, also so, dass das Ergebnis aus unparteiischer Sicht allgemein annehmbar ist. Gibt es dafür ein anerkanntes und annehmbares Kriterium? Auf den ersten Blick mag die Suche nach einem solchen Kriterium müßig scheinen, weil die Ansichten, worin eine gerechte Verteilung besteht, in hohem Maße kontextabhängig und überdies meist umstritten sind. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass die Gründe, die in Verteilungsdebatten maßgeblich sind, doch einen gemeinsamen Kern enthalten. Aristoteles sah diesen Kern im Proportionalitätsprinzip, dem zufolge die Güter und Lasten einer Gemeinschaft auf deren Mitglieder entsprechend ihrer ›Verdienstlichkeit‹ verteilt werden sollen, was eine Gesellschaft auch immer darunter verstehen mag (Aristoteles 1972, V.5, 1130b30ff.). Dieses Prinzip ist nicht unplausibel, aber vom Standpunkt einer Moral der gleichen Achtung zu schwach, weil es der Gleichwertigkeit der Menschen nicht gebührend Rechnung trägt (Tugendhat 1993, 374 ff .). Fügt man ihm die Annahme der Gleichwertigkeit hinzu, dann kommt das folgende, eher prozedurale Prinzip
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heraus, das ich Prinzip der Gleichbehandlung nenne: Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind gleich zu behandeln und sollen gleichen Anteil an den gemeinschaftlichen Gütern und Lasten haben, sofern eine Ungleichbehandlung bzw. Ungleichverteilung nicht durch allgemein akzeptable Gründe gerechtfertigt ist (Bedau 1967; Rawls 1975, 83). Dieses Prinzip, das meines Erachtens der modernen, heute weithin geteilten Auffassung der distributiven bzw. Verteilungsgerechtigkeit zugrunde liegt, ist zwar sicher sehr abstrakt und vage, aber nicht ohne Gehalt. Es fungiert in Verteilungsdebatten als Begründungsregel, die eine Präsumtion für die Gleichbehandlung der Mitglieder einer Gemeinschaft begründet und für jede Ungleichverteilung gemeinschaftlicher Güter und Lasten hinreichende Gründe verlangt. Welche Gründe hierfür taugen, ist zwar wiederum kontextabhängig und kontrovers. Im Allgemeinen aber handelt es sich um Gründe, die sich auf die Beiträge, Leistungen und Verdienste, auf die berechtigten Erwartungen oder auf die Grundbedürfnisse der beteiligten Personen beziehen (Feinberg 1973, 99 ff .; Miller 1976, 24 ff .; Tugendhat 1993, 378). (2) Ein Austauschverhältnis liegt vor, wenn mehrere Personen sich im Wege einer freiwilligen Übereinkunft zur wechselseitigen Übertragung gewisser Güter oder Leistungen verpflichten, über die sie verfügen können. Der typische Fall sind vertragliche Transaktionen. Nach einem alten, auch von Aristoteles vertretenen Prinzip sind Austauschverhältnisse gerecht, wenn die getauschten Güter oder Leistungen äquivalent sind, also gleichen Wert besitzen (Aristoteles 1972, V. 7, 1131 b 33 ff .; Trusen 1967). Dieses Prinzip, das Äquivalenzprinzip, ist freilich nur dann sinnvoll, wenn Einigkeit über einen unabhängigen Maßstab besteht, an dem sich der Wert von Gütern und Leistungen bemisst. In wenig differenzierten Gesellschaften gilt als Maßstab meist die Arbeitszeit, die jedoch in dem Maße an Plausibilität verliert, in dem die arbeitsteilige Differenzierung der Produktionsverhältnisse wächst und geldwirtschaftliche Tauschbeziehungen überhand nehmen. Das Äquivalenzprinzip wurde darum durch eine andere, eher prozedurale Vorstellung der Tauschgerechtigkeit, die Forderung fairer Tauschbedingungen, verdrängt (Engisch 1971, 162 ff .; Lucas 1980, 216 ff .). Ihr zufolge sind Tauschverhältnisse gerecht, wenn sie unter Bedingungen zustande kommen, welche die allseitige Vorteilhaftigkeit der vertraglichen Transaktionen gewährleisten oder zumindest wahrscheinlich machen. Zu diesen Bedingungen, die den Voraussetzungen eines perfekten Marktwettbewerbs entsprechen, gehören die Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit der Transaktionen sowie die hinreichende Informiertheit und Rationalität der beteiligten Parteien. Dieser Vorstellung liegt die Annahme zugrunde, dass rationale Personen in Aus-
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tauschbeziehungen nur dann einwilligen, wenn sie daraus jeweils hinreichenden Vorteil ziehen. (3) Ein Herrschaftsverhältnis besteht, wenn eine Person über die Macht und die Befugnis verfügt, über das Handeln oder die Handlungsumstände anderer verbindlich zu bestimmen und zu diesem Zweck nötigenfalls von Zwangsmitteln Gebrauch zu machen. So verstanden, grenzt sich Herrschaft (oder Autorität) von blanker Macht durch das Element der Befugnis ab. Da Herrschaft vor allem in größeren sozialen Verbänden für die Gewährleistung der Rechte der Mitglieder und für eine effiziente Gestaltung der sozialen Ordnung notwendig ist, andererseits aber auch beträchtliche Gefahren in sich birgt, ist sie bestimmten Erfordernissen der Gerechtigkeit unterworfen, die man als solche der politischen Gerechtigkeit ansprechen kann. Es ist weithin anerkannt, dass Herrschaft kein Selbstzweck, sondern nur dann und insoweit gerechtfertigt ist, wenn und soweit sie allgemein annehmbaren Zwecken dient, zu denen im Wesentlichen zwei gehören: erstens die Gewährleistung der legitimen Rechte von Menschen und zweitens die Ermöglichung allgemein vorteilhafter sozialer Kooperation. Man kann demnach sagen, dass Herrschaft gerecht ist, wenn und soweit sie erforderlich ist, um den wechselseitigen Rechten und Pflichten aller Betroffenen Geltung zu verschaffen oder kooperative soziale Beziehungen zu ermöglichen, die allen Beteiligten zum Vorteil gereichen (Raz 1979; Höffe 1987, 62 ff .). (4) Unrechtsverhältnisse entstehen, wenn Menschen gegen festgelegte Regeln des sozialen Zusammenlebens verstoßen, unbefugt in die Rechte anderer eingreifen oder ihre Pflichten gegenüber anderen verletzen, sei es in böser Absicht oder aus Nachlässigkeit. Solche Verhältnisse machen eine Berichtigung des begangenen Unrechts erforderlich, um die verletzten Rechte wiederherzustellen, die zugefügten Schäden wieder gutzumachen und schwere Pflichtverletzungen zu vergelten. In welcher Weise und in welchem Umfang das geschehen soll, ist Gegenstand der korrektiven Gerechtigkeit, die ihrerseits zwei Teile enthält: zum einen die restitutive Gerechtigkeit, die sich auf die Wiedergutmachung von Unrecht bezieht, und zum anderen die retributive Gerechtigkeit, welche die Androhung und Verhängung von Strafen betrifft. Es ist im vorliegenden Kontext weder möglich noch nötig, die vielfältigen Probleme, die sich hier erheben, näher zu erörtern (Lucas 1980, 124 ff .; Sterba 1980, 63 ff .; Coleman 1988, 184 ff .). Die verschiedenen Arten der Gerechtigkeit – Verteilungs-, Tausch-, politische und korrektive Gerechtigkeit – sind freilich nicht unabhängig, sondern bedingen und überlappen einander auf vielfältige Weisen. Dies einerseits deshalb, weil soziales Handeln stets im Rahmen komplexer sozialer Netzwerke statt-
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findet, innerhalb welcher die diversen Grundformen sozialen Handelns einander überlagern und sich mischen. Andererseits bestehen zwischen den Arten der Gerechtigkeit auch begriffliche Beziehungen: Die Tauschgerechtigkeit setzt ebenso wie die politische und die korrektive Gerechtigkeit bereits eine bestimmte Ausgangsverteilung von Rechten und Pflichten voraus, die sie nicht selber generieren kann. Damit stellt sich die Frage, woher die Maßstäbe für die jeweilige Ausgangsverteilung kommen. Ich meine, dass diese Maßstäbe sich zum einen aus den uneingeschränkt universellen Normen der Moral, zum anderen aber aus den Postulaten der Verteilungsgerechtigkeit ergeben. Wenn das so ist, dann haben diese Postulate Priorität vor allen anderen Forderungen der Gerechtigkeit. Damit stehen die Mittel bereit, die wir brauchen, um die Idee der sozialen Gerechtigkeit zu rekonstruieren. 3. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit Wenn von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist, geht es meist um die Gerechtigkeit einer Gesellschaft im Ganzen, genauer: ihrer grundlegenden rechtlich-politischen Ordnung, die mittels wirksamer Normen die wesentlichen Rechte und Pflichten der Einzelnen festlegt, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse regelt und das Wirtschaftsleben reguliert (Hobhouse 1922; Frankena 1962; Rawls 1975; Miller 1999). Jedenfalls möchte ich den Begriff sozialer Gerechtigkeit so verwenden. Dieser Begriff hat übrigens erst im 20. Jahrhundert allgemeine Verbreitung gefunden, nachdem er um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen war (Hayek 1976, 62 ff ., 176 ff .; Koller 1994 a; Löffler 2001). Die Erklärung dafür liegt zweifellos in den politischen und sozio-ökonomischen Veränderungen der Neuzeit, von denen vor allem zwei von Bedeutung sind: zum einen die Herausbildung der Nationalstaaten mit ihren Herrschaftsorganisationen, die das gesellschaftliche Leben weitgehend regulieren und gestalten, und zum anderen die Entwicklung moderner Volkswirtschaften mit ihrer differenzierten sozialen Arbeitsteilung, in deren Rahmen die Gesellschaftsmitglieder gemeinsam den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, zugleich aber auch in starke Abhängigkeit voneinander geraten. Erst infolge dieser Entwicklungen hat auch der Begriff der Gesellschaft den Sinn bekommen, in dem er heute gewöhnlich verstanden wird. Danach wird eine Gesellschaft als eine übergreifende soziale Einheit betrachtet, in der eine Vielzahl von Menschen ein relativ selbständiges, d. h. selbsterhaltungs- und
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bestandsfähiges, im idealen Fall allgemein vorteilhaftes System der sozialen Koexistenz und Kooperation bildet (Parsons 1975, 19 f.; Rawls 1975, 565 ff .). Jede Gesellschaft stellt damit, je nach dem Stand ihrer Entwicklung, ein mehr oder minder komplexes und differenziertes Netzwerk sozialer Beziehungen dar, in dem sich alle Formen des Handelns – Gemeinschafts-, Austausch-, Herrschaftsund Unrechtsverhältnisse – ständig in vielfältiger Weise kreuzen und verflechten. Infolgedessen ist anzunehmen, dass eine soziale Ordnung, wenn sie das Gesamtsystem dieser Beziehungen gerecht gestalten soll, in einem gewissen, erst noch zu bestimmenden Umfang allen genannten Arten der Gerechtigkeit unterliegt. Ich schlage daher vor, soziale Gerechtigkeit zunächst einmal ganz allgemein zu definieren als die Gesamtheit aller Erfordernisse der Gerechtigkeit, die auf die soziale Ordnung einer ganzen Gesellschaft Anwendung finden (Koller 2003, 241, 312 f.). So verstanden, ist soziale Gerechtigkeit ein Sammelbegriff, der eine Mehrzahl von Gerechtigkeitspostulaten umfasst. In dem Maße, in dem eine Gesellschaft als eine Art von Gemeinschaft begriffen wird, deren Mitglieder gewisse Güter und Lasten teilen, unterliegt ihre Ordnung der Verteilungsgerechtigkeit. In dem Umfang, in dem die Gesellschaftsmitglieder ihre sozialen Beziehungen durch vertragliche Transaktionen koordinieren, kommt die Tauschgerechtigkeit ins Spiel. Insoweit die soziale Ordnung einer Gesellschaft Herrschaft braucht, ist deren Umfang und Ausübung der politischen Gerechtigkeit unterworfen. Und insofern durch Verstöße gegen verbindliche soziale Normen Unrecht entsteht, tritt die korrektive Gerechtigkeit in Aktion. Zwischen allen diesen Erfordernissen der Gerechtigkeit bestehen diverse Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, von denen eine besondere Beachtung verdient: Die Verteilungsgerechtigkeit hat vor der Tausch-, der politischen und der korrektiven Gerechtigkeit Priorität, weil alle Austausch-, Herrschafts- und Unrechtsverhältnisse irgendeine Ausgangsverteilung der Rechte und Pflichten der Gesellschaftsmitglieder voraussetzen, eine Ausgangsverteilung, deren Gerechtigkeit sich ihrerseits nur an Standards der Verteilungsgerechtigkeit bemessen kann. Damit bestimmt diese, soweit sie auf die soziale Ordnung einer ganzen Gesellschaft Anwendung findet, zugleich die grundlegenden Rechte und Pflichten, die den Individuen bei privaten Transaktionen, politischen Herrschaftsverhältnissen und Reaktionen auf Normverletzungen gerechterweise zukommen. Da eine gerechte Verteilung der grundlegenden Rechte und Pflichten der Einzelnen somit eine Vorbedingung gerechter sozialer Verhältnisse darstellt, verkörpert die distributive Gerechtigkeit gewissermaßen den Kern der sozialen Gerechtigkeit überhaupt.
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Die Verteilungsgerechtigkeit findet auf die Ordnung einer Gesellschaft freilich nur insoweit Anwendung, als diese bei rechter Erwägung als eine Gemeinschaft zu verstehen ist. Trifft das zu, dann greift auch das früher erwähnte Grundprinzip der Verteilungsgerechtigkeit, das Prinzip der Gleichbehandlung, das nun mit Bezug auf gesellschaftliche Ordnungen zu dem folgenden allgemeinen Grundsatz der sozialen Verteilungsgerechtigkeit zugespitzt werden kann: In dem Umfang, in dem eine Gesellschaft als eine Gemeinschaft zu verstehen ist, müssen alle ihre Mitglieder gleichen Anteil an den gemeinschaftlichen Gütern und Lasten haben, sofern deren Ungleichverteilung nicht durch allgemein akzeptable Gründe gerechtfertigt scheint (Mill 1976, 107; Frankena 1962; Honoré 1970; Rees 1974, 107ff.; Rawls 1975, 83; Hare 1978). Um aus diesem Grundsatz, den ich Prinzip der sozialen Gleichheit nenne, konkretere Forderungen der sozialen Gerechtigkeit gewinnen zu können, sind zwei Fragen zu beantworten: erstens, ob und inwieweit eine ganze Gesellschaft eine Gemeinschaft darstellt und worin die gemeinschaftlichen Güter und Lasten bestehen, die einer gerechten Verteilung bedürfen; und zweitens, welche Gründe geeignet scheinen, soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen. Da eine eingehende Erörterung dieser Fragen eine elaborierte Konzeption der sozialen Gerechtigkeit voraussetzt, die ich hier nicht anbieten kann, muss ich mich auf einige ziemlich allgemeine Hinweise beschränken. Ob und inwieweit eine Gesellschaft als eine Gemeinschaft verstanden werden soll, die den Erfordernissen der Verteilungsgerechtigkeit unterliegt, ist eine Frage der Gesellschaftsauffassung. Hier stehen einander zwei entgegengesetzte Positionen gegenüber, die individualistisch-libertäre und die kollektivistisch-kommunitäre Auffassung, zwischen denen jedoch vielfältige Abstufungen und Mischungen möglich sind. Die individualistisch-libertäre Auffassung sieht in einer Gesellschaft nichts weiter als eine Ansammlung von lauter selbständigen Individuen, die sich einzig und allein zum Zweck einer für sie möglichst vorteilhaften Kooperation zusammenschließen und deshalb einander auch nicht viel mehr schulden als die Unterlassung gewaltsamer Übergriffe und die Erfüllung geschlossener Verträge. Dagegen versteht die kollektivistisch-kommunitäre Auffassung die Gesellschaft als eine Gemeinschaft menschlicher Daseinsbewältigung, welche die Einzelmenschen von Geburt an formt und erst zu dem macht, was sie sind, weshalb sie ihren Mitgliedern nicht nur die Sicherung ihrer Daseinsbedingungen schuldet, sondern von ihnen auch sehr viel fordern darf (Koller 1994a; 1995). Die heute in den entwickelten Gesellschaften vertretenen Auffassungen dürften irgendwo zwischen diesen Extrempositionen liegen, und dort
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ist wohl auch die richtige Auffassung zu suchen. Eine Gesellschaft ist weder ein Marktplatz, auf dem lauter unabhängige Individuen zufällig zusammentreffen, um miteinander Geschäfte zu machen, noch eine Kommune, in der Alles allen Mitgliedern gehört und deshalb geteilt werden muss. Aber jede Gesellschaft weist eine Reihe von Gemeinschaftselementen auf, deren Ausprägung mit der gesellschaftlichen Entwicklung variiert. Zur Herausarbeitung dieser Elemente ist es hilfreich, zwischen drei Typen von Gemeinschaft zu unterscheiden, nämlich Besitz-, Kooperations- und Solidaritätsgemeinschaften (Koller 1993). Mehrere Personen bilden eine Besitzgemeinschaft, insofern sie einen gemeinsamen Anspruch auf irgendwelche bereits bestehenden Güter haben, z. B. deshalb, weil sie diese gemeinsam bekommen haben. Unter der heute weithin akzeptierten Annahme, dass alle Menschen grundsätzlich einen gleichen Anspruch auf die Ressourcen der Natur und das zivilisatorische Erbe früherer Generationen haben, stellt jede Gesellschaft eine Besitzgemeinschaft in dem Sinne dar, dass ihre Naturressourcen und ihre kulturellen Errungenschaften allen Mitgliedern gemeinsam gehören (Steiner 1994, 231 ff .; Steinvorth 1999, 123 ff ., 199 ff .). Demgegenüber liegt eine Kooperationsgemeinschaft vor, wenn mehrere Personen zusammenwirken, um bestimmte Ziele zu erreichen, indem sie sich entsprechenden Pflichten unterwerfen. Jede Gesellschaft besitzt zumindest insofern den Charakter einer Kooperationsgemeinschaft, als ihre Mitglieder diverse Verhaltenseinschränkungen akzeptieren müssen, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, darunter die Pflicht, die körperliche Integrität, die Freiheit und das Eigentum anderer zu respektieren, die Pflicht, Verträge einzuhalten, und die Pflicht, zum Bestand der für die Gewährleistung des sozialen Friedens erforderlichen öffentlichen Institutionen beizutragen. Aber damit ist es sicher nicht getan. Selbst wenig differenzierte Gesellschaften, die aus einigermaßen selbstgenügsamen sozialen Einheiten bestehen, inkludieren Formen der arbeitsteiligen Kooperation, durch die jene Einheiten politisch und wirtschaftlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Und das gilt noch mehr für moderne, entwickelte Gesellschaften mit ihrer hochgradig ausdifferenzierten sozialen Arbeitsteilung, die so gut wie alle Lebensbereiche der Menschen berührt. Infolgedessen kann sich eine solche Gesellschaft auch nicht mit der Gewährleistung gleicher bürgerlicher Rechte und Freiheiten begnügen, sondern sie muss auch dafür sorgen, dass diese Rechte und Freiheiten mit einer halbwegs gerechten Verteilung der tatsächlichen Lebenschancen vereinbar sind (Rawls 1975, 565ff.; Kersting 2000, 22ff.). Unter einer Solidaritätsgemeinschaft verstehe ich ein Verhältnis der wechselseitigen Verantwortung und
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Fürsorge, das die Beteiligten dazu verpflichtet, einander unabhängig von ihren Beiträgen zur sozialen Wertschöpfung im Bedarfsfall beizustehen. Solidarität ist also ein besonderes Verhältnis der wechselseitigen Hilfeleistung und Unterstützung, durch das sich die Beteiligten gegen allfällige Notlagen sichern, indem sie sich verpflichten, anderen in solchen Notlagen entsprechende Hilfe zu leisten (Bayertz 1998). So verstanden, ist Solidarität eine Form der Vergemeinschaftung, die bestimmte Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit fundiert, und nicht, wie Wolfgang Kersting meint, ein freischwebendes moralisches Gebot, das mit distributiver Gerechtigkeit nichts zu tun hat (Kersting 2000, 381 f., 385 ff .). Dass gerade moderne Gesellschaften auch Solidaritätsgemeinschaften sind, leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, dass unter den Bedingungen fortgeschrittener gesellschaftlicher Differenzierung kleinere soziale Einheiten, wie Familien und Kommunen, alleine nicht mehr imstande sind, für alle Menschen Sorge zu tragen, die sich, aus welchen Gründen immer, nicht selber erhalten können. Infolgedessen muss die Gesellschaft auch jenen Menschen, die – sei es für eine gewisse Zeit oder auf Dauer – nicht oder nur wenig zur wirtschaftlichen Kooperation beitragen können, eine angemessene, den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen entsprechende Existenzsicherung bieten (Taylor 1988; Walzer 1992, 108 ff .). Nimmt man die erwähnten Einzelaspekte zusammen, so zeigt sich, dass jede Gesellschaft eine erhebliche Zahl von Gemeinschaftsbelangen aufweist und dass diese Belange mit fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung sogar zunehmen. Was die damit verbundenen Güter und Lasten angeht, die einer gerechten Verteilung bedürfen, kann man vielleicht allgemein sagen, dass dies jene grundlegenden Güter und Lasten des gesellschaftlichen Lebens sind, deren Verteilung erstens für die Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder von wesentlicher Bedeutung ist und zweitens durch die soziale Ordnung wirksam reguliert werden kann (Rawls 1975, 111 ff .; Höffe 1987, 322 ff .; Kersting 2000, 26 ff .). Worin diese Güter und Lasten im Einzelnen bestehen, hängt zum Teil von kontingenten gesellschaftlichen Bedingungen ab. In einer modernen Gesellschaft gehören dazu aber sicher die folgenden: die allgemeinen bürgerlichen Rechte, die individuellen Freiheiten, die politischen Teilhabemöglichkeiten, die sozialen Chancen und die wirtschaftlichen Aussichten der Mitglieder samt den damit verbundenen Pflichten (Koller 1994b). Wenn es zutrifft, dass diese Dinge der Verteilungsgerechtigkeit unterliegen, dann ist ihre Verteilung gemäß dem früher erwähnten Prinzip der sozialen Gleichheit so zu regeln, dass sie allen Mitgliedern im gleichen Maße zukommen, sofern Un-
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gleichheiten nicht durch allgemein vertretbare Gründe als gerechtfertigt, also geboten oder zulässig scheinen. Und dies führt zur zweiten Frage, was für Gründe das sind und welche Ungleichheiten sie rechtfertigen. Obwohl auch darüber die Meinungen weit auseinander gehen, scheint es doch Einigkeit über einige Arten von Gründen zu geben, die im Prinzip geeignet sind, gewisse Ungleichheiten zu rechtfertigen (Tugendhat 1993, 373 ff .; Hinsch 2002, 169ff.; Gosepath 2004, 348ff.). Solche Gründe sind vor allem das Leistungs-, das Freiheits- und das Bedürfnisargument. Das Leistungsargument besagt, dass Ungleichheiten zulässig, ja geboten sind, wenn sie den jeweiligen Leistungen bzw. Beiträgen der Einzelnen zur arbeitsteiligen sozialen Kooperation entsprechen, sofern diese im Interesse aller liegt. Das Freiheitsargument lässt darüber hinaus auch solche Ungleichheiten zu, die sich von selber aus dem freien Handeln der Menschen ergeben, falls deren Aktivitäten annehmbaren Regeln des sozialen Verhaltens entsprechen. Und nach dem Bedürfnisargument sind ungleiche Ansprüche auf Leistungen oder Güter dann zulässig oder sogar gefordert, wenn die Unterschiede notwendig sind, um den ungleichen Bedürfnislagen der Menschen Rechnung zu tragen. Alle diese Argumente sind mit dem gleichen Wert aller Menschen vereinbar und zumindest prima facie plausibel. Ihr gemeinsamer Grundgedanke ist, dass soziale Ungleichheiten dann und insoweit gerechtfertigt sind, wenn und soweit sie auf lange Sicht im Interesse aller beteiligten Personen liegen, vor allem auch jener, die schlechter abschneiden, also weniger als andere bekommen. Dieser Grundgedanke lässt sich auf ein allgemeines Prinzip der Rechtfertigung sozialer Ungleichheit zuspitzen, das so lauten könnte: Soziale Ungleichheiten sind dann, aber auch nur dann und insoweit gerechtfertigt, wenn sie bei rechter Erwägung allen Gesellschaftsmitgliedern, insbesondere auch den jeweils schlechter gestellten, zum Nutzen gereichen (Rawls 1975, 95ff.; Hinsch 2002, 51ff., 267ff.; Koller 2003, 246f.,. 317f.; Gosepath 2004, 425 ff .). Welche Ungleichheiten dieses Prinzip konkret rechtfertigt und welche es verbietet, bleibt dabei freilich weiterhin ziemlich unbestimmt, weil seine Anwendung normative Annahmen und empirische Kenntnisse erfordert, über die sich ihrerseits streiten lässt. Aber darauf kann ich hier nicht eingehen. Es gilt nun, das genannte Rechtfertigungsprinzip sozialer Ungleichheit auf die grundlegenden Güter und Lasten des gesellschaftlichen Lebens zu beziehen, die einer gerechten Verteilung bedürfen. Zu diesen Gütern und Lasten gehören, wie erwähnt, jedenfalls die allgemeinen Rechte, die individuellen Freiheiten und die politischen Teilhaberechte, aber auch die sozialen Chancen und die
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ökonomischen Aussichten der Gesellschaftsmitglieder samt den damit verbundenen Pflichten. Prüft man, ob und inwieweit eine Ungleichverteilung dieser Güter im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder liegen mag, so ergibt sich eine gemischte Bilanz. Was die ersten drei Arten von Gütern – die allgemeinen Rechte, individuellen Freiheiten und politischen Rechte – betrifft, so gibt es offenbar keine annehmbaren Gründe, die eine Ungleichverteilung solcher Güter als allgemein vorteilhaft erscheinen lassen könnten, abgesehen von einigen speziellen Ausnahmen, die selbstbestimmungsunfähige und schwer kriminelle Menschen betreffen (Koller 1994b). Das trifft auf die beiden zuletzt genannten Güter – die sozialen Chancen und ökonomischen Aussichten – nicht zu. Denn bei diesen Gütern scheint es ziemlich plausibel, dass die früher genannten Argumente – das Leistungs-, das Freiheits- und das Bedürfnisargument – gewisse Ungleichheiten der sozialen Stellung und der wirtschaftlichen Lage der Individuen rechtfertigen können. Aus diesen Überlegungen resultieren fünf Grundforderungen der sozialen Verteilungsgerechtigkeit, die trotz der tiefgreifenden Meinungsdifferenzen, die darüber gerade in den modernen, pluralistischen Gesellschaften unvermeidlich herrschen, gegenwärtig doch breite Akzeptanz zu finden scheinen, nämlich die folgenden: rechtliche Gleichheit, bürgerliche Freiheit, demokratische Teilhabe, soziale Chancengleichheit und wirtschaftliche Verteilungsgerechtigkeit. Diese Forderungen, die das Erbe der sozialen Bewegungen der Moderne verkörpern, bilden gewissermaßen den Kern der heute vorherrschenden Vorstellung sozialer Gerechtigkeit. Was sie im Einzelnen bedeuten und verlangen, ist zwar seinerseits mehr oder minder umstritten, aber sie sind auch keine bloßen Leerformeln, die man nach Belieben drehen und wenden kann. Ich möchte nur die letzte Forderung, die wirtschaftliche Verteilungsgerechtigkeit, etwas näher erläutern. Die Forderung der wirtschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit ist nicht leicht auf eine allgemeine Formel zu bringen, weil gerade über sie besonders weit reichende Meinungsverschiedenheiten herrschen. Aber vielleicht kann man den gemeinsamen Nenner all jener Positionen, die auf der Grundlage einer Moral der gleichen Achtung stehen, wie folgt zusammenfassen: Ungleichheiten der wirtschaftlichen Aussichten (Besitz, Vermögen, Einkommen, Erwerbsmöglichkeiten) sind dann und insoweit zulässig, wenn sie eine notwendige Voraussetzung oder unvermeidliche Folge einer effizienten Wirtschaftsordnung sind, die bei rechter Erwägung im längerfristigen Interesse aller Beteiligten liegt, sei es, weil sie im Rahmen einer solchen Wirtschaftsordnung zur Bereitstellung hin-
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reichender Leistungsanreize erforderlich sind oder unvermeidlich aus dem wirtschaftlichen Wettbewerb erfließen. Diese Formulierung lässt zwar offen, in welchem Maße wirtschaftliche Ungleichheiten gerechtfertigt sind, macht aber doch deutlich, dass solche Ungleichheiten auch gegenüber den schlechter gestellten Gesellschaftsmitgliedern vertretbar sein müssen. Und das ist wohl nur dann möglich, wenn diese Personen die jeweils in Betracht stehenden Ungleichheiten akzeptieren können, weil die sozialen Regelungen, mit denen jene Ungleichheiten unvermeidlich verbunden sind, auf längere Sicht auch in ihrem Interesse liegen. Diese keineswegs sehr anspruchsvolle Bedingung ist offensichtlich nicht erfüllt, wenn sich die Schere ökonomischer Ungleichheit in Zeiten wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands weiter öffnet, so dass die schlechter gestellten Gesellschaftsgruppen verlieren statt vom Wachstum zu profitieren. Und eben das ist derzeit in nahezu allen reichen Gesellschaften der Fall (Bundesregierung der BRD 2001; Europäische Kommission 2002). Infolgedessen kann man zumindest soviel sagen, dass diese Gesellschaften – unabhängig davon, wie man sie sonst vom Standpunkt sozialer Gerechtigkeit bewerten mag – gegenwärtig ungerechter werden. Soviel zur sozialen Gerechtigkeit. Mir ist bewusst, dass meine diesbezüglichen Ausführungen ziemlich schwammig sind und viele Streitfragen unentschieden lassen. Aber das ist im Rahmen einer philosophischen Rekonstruktion politischer Vorstellungen, die selbst in hohem Maße uneindeutig und umstritten sind, wohl unvermeidlich. Immerhin dürfte die Idee sozialer Gerechtigkeit doch so viel an Kontur gewonnen haben, dass es mit guten Gründen möglich ist, gewisse gesellschaftliche Zustände ungerecht zu nennen. Und Ähnliches sollte wohl auch mit Bezug auf internationale und globale Verhältnisse möglich sein, denen ich mich nun zuwenden will. 4. Das Problem der globalen Gerechtigkeit Ist schon die soziale Gerechtigkeit nicht leicht in den Griff zu kriegen, so bereitet der Gedanke der globalen Gerechtigkeit noch viel größere Schwierigkeiten, weil sie noch keine festen Konturen angenommen hat. Ziemlich klar erscheint nur, dass sich hier etwas zusammenbraut. Die Idee globaler Gerechtigkeit ist noch ziemlich neu und befindet sich gegenwärtig in rapider Entwicklung, die zu beobachten auch aus philosophischer Sicht interessant ist, weil man daran die soziale Konstruktion moralischer Vorstellungen in progress studieren kann
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(Nardin/Mapel 1992; Chwaszcza/Kersting 1998; Pogge 2001; Kohler/Marti 2003). Dass die derzeit weltweit geführte Debatte um globale Ethik im Allgemeinen und globale Gerechtigkeit im Besonderen mit den realen Entwicklungen auf unserem Globus zu tun hat, die mit dem Stichwort Globalisierung angesprochen werden, ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Erklärung (Müller 2002; Lechner/Boli 2004). Ich habe auch nicht vor, einen Überblick über diverse Ansätze oder Entwürfe einer globalen Ethik zu bieten, die derzeit in der Philosophie diskutiert werden. Ich möchte vielmehr versuchen, das Konzept globaler Gerechtigkeit zunächst im Rahmen des viel breiteren Bereichs einer globalen Ethik näher zu lokalisieren und dann in Anknüpfung an die bisherigen Erörterungen einige sehr allgemeine und offenbar begründete Forderungen der globalen Gerechtigkeit zu formulieren. Wie die Gerechtigkeit überhaupt, ist auch die Idee der globalen Gerechtigkeit ein Teil von Moral und Ethik, in deren Rahmen sie einen besonderen Platz einnimmt. Schon prima facie spricht alles dafür, dass auch für das Verhalten gegenüber Fremden und die Beziehungen zwischen den Völkern zwei Sorten von moralischen Standards gelten: zum einen die Normen einer uneingeschränkt universellen Moral und zum anderen gewisse Erfordernisse der Gerechtigkeit, die als solche der internationalen oder der globalen Gerechtigkeit angesprochen werden können, je nachdem, ob sie die Beziehungen nur einiger oder aller Nationen betreffen (O’Neill 2000, 115 ff .; Pogge 2002, 91 ff .). Was die Standards einer uneingeschränkt universellen Moral angeht, so dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass wir einige moralische Pflichten auch gegenüber Fremden, nämlich gegenüber anderen Völkern insgesamt wie auch gegenüber ihren einzelnen Angehörigen haben, und zwar unabhängig davon, ob wir mit ihnen in speziellen Beziehungen stehen, aus denen sich darüber hinaus noch weitere Verpflichtungen ergeben mögen. Ich denke, diese Pflichten, die sich teils auf interpersonelles, teils auf institutionelles Handeln beziehen, sind im Wesentlichen die folgenden: (1) die strikte oder vollkommene Pflicht, anderen Völkern oder einzelnen ihrer Angehörigen keinen Schaden zuzufügen, sofern dafür keine guten Gründe vorliegen; (2) eine schwächere, unvollkommene Pflicht, fremden Völkern oder Menschen, die sich in Not befinden, Hilfe und Unterstützung zu leisten, insoweit die Hilfeleistung zumutbar ist, also keine allzu großen Opfer verlangt; (3) die strikte Pflicht, den bestehenden Regeln der internationalen Ordnung Folge zu leisten, sofern diese Regeln wenigstens halbwegs zur Gewährleistung einer friedlichen Koexistenz der Völker beitragen, also nicht völlig unannehmbar sind; und (4) eine unvollkommene Pflicht, nach
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Möglichkeit zur Etablierung einer allgemein akzeptablen, also friedlichen und gerechten globalen Ordnung beizutragen. Ich sehe nicht, dass es außer diesen vier Pflichten noch weitere uneingeschränkt universelle, kontextunabhängig gültige moralische Pflichten gegenüber anderen Völkern und ihren Angehörigen gibt, die weithin geteilten moralischen Intuitionen entsprechen und auch begründet werden können. Auch wenn die genannten Pflichten erhebliche Interpretationsspielräume eröffnen, ist offensichtlich, dass sie alleine sicher nicht genügen, um eine für alle Völker akzeptable globale Ordnung zu fundieren. Es ist daher zu vermuten, dass die Vorstellung einer solchen Weltordnung auch entsprechende Standards der Gerechtigkeit braucht. Bevor ich diese Standards zur Sprache bringe, ist noch eine Vorfrage ganz grundsätzlicher Art zu klären, die den Problemen zwischengesellschaftlicher Gerechtigkeit vorausgeht. Diese Frage lautet, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen die Teilung der Welt in eine Vielzahl von Völkern, die sich in Gestalt relativ selbständiger Gesellschaften organisieren, aus moralischer Sicht überhaupt annehmbar ist oder ob es nicht vielmehr moralisch gefordert ist, dieser Teilung ein Ende zu bereiten, wie utopisch das auch klingen mag. Da ich diese keineswegs ganz einfache Frage hier nicht im Detail erörtern kann, deute ich nur mit einigen knappen Thesen meine Antwort an. Erstens: Die Existenz einer Vielzahl gesellschaftlicher Einheiten kann, abgesehen von ihrer Faktizität, aus ethischer Sicht als eine Form von moralischer Arbeitsteilung verstanden werden, die es den Menschen erleichtert, die Probleme ihrer Existenz und Koexistenz zu bewältigen, weil personell oder regional begrenzte soziale Gemeinwesen viel eher als völlig offene und unbegrenzte soziale Beziehungen die Etablierung einer wirksamen sozialen Ordnung ermöglichen, die nicht nur den Rechten und Pflichten ihrer Mitglieder Geltung zu verschaffen, sondern auch eine allgemein vorteilhafte Kooperation herbeizuführen vermag. Zweitens: Aus der Sicht einer universellen Moral, die den grundlegenden Interessen aller Menschen unabhängig von ihrer Nationalität oder Zugehörigkeit gleichermaßen Rechnung trägt, ist eine solche Arbeitsteilung jedoch an zwei Bedingungen gebunden, die sicherstellen sollen, dass ihre Vorteile allen Menschen zugute kommen: Die sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten jeder Gesellschaft müssen 1. intern zweckmäßig geregelt sein, also so, dass sie insgesamt im allseitigen Interesse ihrer Mitglieder liegen; und sie müssen 2. extern verallgemeinerungsfähig, d. h. auch im Falle ihrer allgemeinen Übung akzeptabel sein, woraus folgt, dass sie keine derart negativen Auswirkungen auf andere Gesellschaften haben dürfen, die, wenn jene
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Aktivitäten allgemeine Praxis wären, ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben der Völker unmöglich machen würden. Die zweite Bedingung führt direkt zur Problematik der globalen Gerechtigkeit, weil sie den Blick auf die vielfältigen zwischengesellschaftlichen Beziehungen lenkt, die verschiedenen Forderungen der Gerechtigkeit unterliegen. Ich schlage – ähnlich wie schon beim Begriff der sozialen Gerechtigkeit – nun auch mit Bezug auf die globale Gerechtigkeit vor, dieses Konzept als einen Sammelbegriff zu verstehen, der eine Pluralität von Gerechtigkeitsforderungen an die internationalen und globalen Verhältnisse inkludiert, statt nach irgendeinem Masterprinzip der globalen Gerechtigkeit zu suchen. Demgemäß wäre globale Gerechtigkeit – analog zur sozialen – zu verstehen als die Gesamtheit der Gerechtigkeitsforderungen, die sinnvollerweise auf die globale Ordnung im Ganzen sowie auf internationale Beziehungen im Besonderen Anwendung finden. Und ich möchte behaupten, dass hier ebenfalls wieder alle Arten der materialen Gerechtigkeit ins Spiel kommen, nämlich Verteilungs-, Tausch-, politische und korrektive Gerechtigkeit. Die globale bzw. internationale Ordnung unterliegt der Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich jener Gemeinschaftsbelange, welche die Völker insgesamt oder zumindest eine Mehrzahl von Nationen betreffen; der Tauschgerechtigkeit, soweit zwischen Völkern ein internationaler Wirtschaftsverkehr besteht; der politischen Gerechtigkeit, soweit durch inter- oder supranationale Gewalten oder Institutionen Herrschaft ausgeübt wird oder es einer solchen Herrschaft bedarf; und schließlich der korrektiven Gerechtigkeit, wenn zwischen Völkern ein Unrecht geschieht, das nach Wiedergutmachung und/oder Vergeltung verlangt. Wiederum stehen die verschiedenen Gerechtigkeitsforderungen in vielfältigen Wechselbeziehungen. Und wiederum haben unter ihnen die Gebote der distributiven Gerechtigkeit insofern Priorität, als sie, insoweit sie überhaupt auf die zwischengesellschaftlichen Beziehungen Anwendung finden, die legitimen Ausgangspositionen der Völker und ihrer Angehörigen im Kontext internationaler Handelsbeziehungen, Herrschaftsverhältnisse und Unrechtsvorkommnisse bestimmen. Ich möchte in diesem Fall nicht nur auf die Verteilungsgerechtigkeit fokussieren, sondern zuerst einen kurzen Blick auf die anderen Gerechtigkeitserfordernisse werfen. Die Tauschgerechtigkeit verlangt faire Regeln und Rahmenbedingungen des internationalen Wirtschaftsverkehrs, die sicher stellen, dass alle beteiligten Nationen daraus Vorteil ziehen. Diese Regeln und Rahmenbedingungen sollten zumindest gewährleisten, dass keine der Tauschparteien im Verhältnis zu an-
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deren die Macht besitzt, die Handelskonditionen einseitig zu ihrem Vorteil zu diktieren, und dass die Tauschbeziehungen zwischen den Nationen ausgewogen sind, d. h. nicht durch asymmetrische Handelsbeschränkungen verzerrt werden. Ein näherer Blick auf die Realitäten der internationalen Wirtschaft zeigt, dass die bestehende Weltwirtschaftsordnung die genannten Erfordernisse in krasser Weise verletzt, vor allem was die Verhältnisse zwischen reichen und armen Nationen betrifft. Ich rufe nur stichwortartig einige der Quellen der gegenwärtigen Misere in Erinnerung: Die Liberalisierung des Welthandels, der sich seit einigen Jahrzehnten immer mehr Staaten, oft unter Druck von Seiten der reichen Länder, unterwerfen, bringt vielen Ländern zwar beträchtliche Vorteile und fördert deren Entwicklung, führt aber zu einer zunehmenden Marginalisierung gerade der ärmsten Länder, weil deren Wirtschaften in vielen Sektoren der internationalen Konkurrenz nicht gewachsen sind (Stewart/Berry 1999; Oxfam 2004). Die Welthandelsorganisation, die über die Einhaltung des Freihandels wachen soll, erweist sich als eine Agentur zur Durchsetzung der Interessen der wohlhabenden Völker zum Nachteil der armen, weil sie den reichen Ländern zwar einerseits freien Zugang zu neuen Märkten verschafft, sie andererseits aber nicht daran hindert, sich durch Exportsubventionen und Importbeschränkungen für Agrar- und andere einfache Produkte überall dort gegen die Konkurrenz der ärmeren Länder zu schützen, wo diese einen Wettbewerbsvorteil hätten (Singer 2002, 52 ff .; Attac Österreich 2003). Der Internationale Währungsfonds, dessen Aufgabe eigentlich darin besteht, Staaten im Fall bedrohlicher Zahlungsbilanzdefizite Kredite zur Stabilisierung ihrer Währungen zur Verfügung zu stellen, trägt offenbar eher dazu bei, die Länder, an die er Kredite vergibt, zu ruinieren als ihnen bei der Überwindung von Wirtschaftskrisen zu helfen, weil er die Kreditvergabe an eine rigide Spar- und Privatisierungspolitik zu knüpfen pflegt, die auf Kosten der öffentlichen Ausgaben für Bildung, Sozialleistungen, Gesundheit und öffentliche Dienste geht (Stiglitz 2002; Grefe/Greffrath/Schumann 2002, 19 ff .). Politische Gerechtigkeit auf internationaler und globaler Ebene bedeutet, dass, insoweit hier Herrschaft erforderlich scheint, sie durch relativ unabhängige inter- oder supranationale Institutionen oder Organisationen ausgeübt werden muss, die für eine halbwegs unparteiische Durchsetzung der Regeln des internationalen Rechts sorgen. Dass die Realität davon weit entfernt ist, kann ich als allgemein bekannt voraussetzen. Was wir tatsächlich haben, das sind, wenn wir nur die globale Ebene betrachten und regionale Bündnisse außer Acht lassen, zum einen die Vereinten Nationen, die sowohl an Machtlosigkeit wie
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auch an verzerrten Entscheidungsstrukturen kranken, und das sind zum anderen die Vereinigten Staaten, die sich in der Rolle des Weltsheriffs gefallen, dabei aber immer wieder das Gemeininteresse der Völkergemeinschaft mit ihren Sonderinteressen verwechseln. Unter gewissen Umständen scheint es wohl auch im Kontext internationaler Beziehungen angebracht, im Namen der korrektiven Gerechtigkeit angemessene Wiedergutmachung zu verlangen, wenn eine Nation einem anderen Volk oder dessen Angehörigen durch Verstoß gegen verbindliche Regeln des internationalen Rechts oder einer friedlichen zwischenstaatlichen Koexistenz schweres Unrecht oder großen Schaden zugefügt hat. Mich interessiert hier nur, ob und inwieweit eine solche Konstellation im Verhältnis zwischen reichen und armen Ländern vorliegt. Dafür, dass die meisten Völker, die heute in großer Armut leben, gegenüber den reichen Nationen Anspruch auf Wiedergutmachung haben, lassen sich zwei Gründe vorbringen: erstens das historische Unrecht, das ihnen im Laufe mehrerer Jahrhunderte durch Eroberung, Kolonialherrschaft, Sklaverei und Imperialismus zugefügt wurde, und zweitens der fortdauernde Schaden, den sie durch die vielfältigen Ungerechtigkeiten der bestehenden Weltordnung immer wieder von Neuem erleiden. Obwohl meines Erachtens beide Gründe viel für sich haben, kann man über ihr Gewicht und ihre Konsequenzen streiten. Denn zum einen dürfte es kaum möglich sein, den Umfang des geschehenen Unrechts und einer ihm angemessenen Wiedergutmachung näher zu bestimmen, und zum anderen würde das Verlangen, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit wieder irgendwie rückgängig zu machen, eher Unfrieden zwischen den Völkern schüren als mehr Gerechtigkeit schaffen. Ich selbst meine daher, dass das Postulat der korrektiven Gerechtigkeit in internationalen Beziehungen zwar nicht vergessen, aber eher eine sekundäre Rolle spielen sollte. Aber da es in die gleiche Richtung führt wie die anderen, wichtigeren Gerechtigkeitsforderungen, nämlich die der Tausch-, der politischen und allenfalls auch der distributiven Gerechtigkeit, kann es als ein Zusatzargument verstanden werden, das diese Forderungen unterstützt und verstärkt. Dass jede internationale Ordnung, wie auch immer sie die zwischenstaatlichen Beziehungen regeln mag, ganz erhebliche Auswirkungen auf die Verteilung der politischen Selbstbestimmungs- und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Völker hat, ist evident. Und das Gesagte sollte jedenfalls soviel deutlich gemacht haben, dass Ungerechtigkeiten in den internationalen Austauschbeziehungen und Machtverhältnissen unvermeidlich zu ungerechten Verteilungswirkungen führen. Dies wirft die Frage auf, ob und, wenn ja, in wel-
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chem Umfang internationale Beziehungen und die globale Ordnung im Ganzen der Verteilungsgerechtigkeit unterliegen. Manche Theoretiker, darunter John Rawls, vertreten die Ansicht, die Verteilungsgerechtigkeit habe im Feld der internationalen Beziehungen keinen Platz (Rawls 2002, 141ff.). Dem möchte ich widersprechen. Bei der Erörterung dieser Thematik ist jedoch Vorsicht geboten. Jedenfalls kann es nicht darum gehen, die bisherige Geschichte der Menschheit ungeschehen zu machen, um endlich mit einer gerechten Neuverteilung des irdischen Reichtums auf die Völker der Welt beginnen zu können. Die Forderung nach distributiver Gerechtigkeit kann die faktischen Besitzverhältnisse sicher nicht einfach außer Acht lassen, wenn sie nicht bloß Unfrieden stiften, sondern helfen soll, friedliche und gedeihliche Beziehungen zwischen den Völkern zu fördern. Außerdem hängt das Ausmaß, in dem Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit für globale und internationale Verhältnisse Geltung besitzen, sicher auch von kontingenten Bedingungen ab, vor allem auch von den realen Verhältnissen zwischen den einzelnen Völkern. Um diese Verhältnisse und ihre Konsequenzen zu beleuchten, ist es für eine erste Annäherung hilfreich, zunächst einmal von der Annahme auszugehen, die Welt sei in eine Vielzahl von separierten Gesellschaften geteilt, die jeweils ein bestimmtes Gebiet besitzen, darin unabhängig voneinander ihr soziales Leben nach eigenem Gutdünken gestalten und nur durch gelegentliche Besuche, Handelsbeziehungen und diplomatische Kontakte miteinander in Berührung kommen. Wäre die Welt so beschaffen, wie von den meisten klassischen Konzeptionen des Völkerrechts, aber auch von manchen modernen Theorien der internationalen Gerechtigkeit unterstellt wird (Beitz 1979, 67ff.), so hätten die Nationen in der Tat nur wenig gemeinsam, was zwischen ihnen Probleme der Verteilungsgerechtigkeit entstehen ließe, selbst wenn es unter ihnen große Wohlstandsungleichheiten gäbe. Das heißt nicht, dass die Verteilungsgerechtigkeit gar keine Rolle spielen würde. Denn auch in einer Welt separierter Nationen bestünde, um deren friedliche und gedeihliche Koexistenz zu sichern, Bedarf nach einer internationalen Ordnung, die eines entsprechenden Zusammenwirkens der Nationen bedürfte; und es gäbe wohl auch noch einige andere Belange, die internationale Verteilungsprobleme aufwerfen würden, wie z. B. die Nutzung der Meere oder grenzüberschreitender Ströme. Darüber hinaus aber gäbe es wenig Grund für weiter gehende Forderungen der distributiven Gerechtigkeit, so sicher nicht für die Forderung, den wirtschaftlichen Wohlstand, den die einzelnen Nationen unabhängig voneinander geschaffen haben, irgendwie anders zu verteilen. Die Forderungen distributiver Gerechtigkeit, die in einer Welt
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separierter Nationen Geltung hätten, würden daher im Wesentlichen den Prinzipien des modernen Völkerrechts entsprechen, die jede Nation zu nicht viel mehr als dazu verpflichten, die Souveränität der anderen zu respektieren, gewaltsame Angriffe gegen andere zu unterlassen und sich jeder Einmischung in deren innere Angelegenheiten zu enthalten (Kimminich 1993, 55 ff .). Nun ist aber klar, dass die Annahme einer Welt separierter Nationen der Realität nicht entspricht, ihr tatsächlich nie entsprochen hat, aber mit der fortschreitenden Globalisierung, die sich gegenwärtig vollzieht, immer illusorischer wird. In dem Maße, in dem sich die zwischengesellschaftlichen Beziehungen vermehren und verdichten, in dem die Lebensformen einzelner Nationen Auswirkungen auf andere zeitigen und in dem die einzelnen Länder durch die fortschreitende internationale Arbeitsteilung in zunehmende Abhängigkeit voneinander geraten, wachsen auch die gemeinsamen Belange der Völker, die zu weitergehenden Forderungen der internationalen oder globalen Verteilungsgerechtigkeit führen. Zu diesen Belangen gehören wenigstens drei Problemfelder internationaler Ordnung, deren Vorteile und Nachteile einer gerechten Verteilung bedürfen. Ein erstes Problem tritt schon im Kontext des internationalen Handels- und Kreditverkehrs auf, und zwar bereits dann, wenn die einzelnen Nationen relativ unabhängige Volkswirtschaften haben und nur gelegentliche Handelsbeziehungen unterhalten. Die bestehende, auf dem Grundsatz der nationalen Souveränität beruhende internationale Ordnung räumt der Regierung jedes Staates sowohl das Recht ein, über die Bodenschätze ihres Landes zu verfügen, als auch das Recht, namens ihres Landes Kredite aufzunehmen. Diese beiden Rechte, die man mit Thomas Pogge als »Ressourcenprivileg« und »Kreditprivileg« ansprechen kann, erweisen sich als kapitale Konstruktionsfehler der internationalen Wirtschaftsordnung, weil sie korrupte und verbrecherische Regimes dazu verlocken, sich durch den Verkauf der Bodenschätze oder durch die Aufnahme von Krediten zum Schaden ihrer Völker zu bereichern und mit brutaler Gewalt an der Macht zu halten, und weil sie überdies politische Abenteurer ermuntern, die Regierungsmacht mit militärischer Gewalt an sich zu reißen, um das Land ungehindert ausplündern zu können (Pogge 2002, 112ff., 146ff.). Ein Problem internationaler Verteilungsgerechtigkeit liegt hier deshalb vor, weil die genannten Rechte es für uns vorteilhaft machen, zum Elend anderer Völker beizutragen, indem wir mit verbrecherischen Regimes Handel treiben und ihnen Kredite geben. Es ist daher ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit, diesen Fehler zu korrigieren, und zwar dadurch, dass der Export nationaler Ressourcen und die
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Aufnahme ausländischer Kredite durch eine Regierung an Bedingungen geknüpft wird, so vor allem daran, dass sie die elementaren Menschenrechte achtet. Ein zweites, nicht minder gravierendes Problem ergibt sich aus den Begleitund Folgeerscheinungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens fortgeschrittener Gesellschaften. Die Produktions- und Lebensformen der einzelnen Länder haben vielfach und in wachsendem Maße grenzüberschreitende negative Auswirkungen, die sich zum Teil sogar auf den ganzen Globus erstrecken. Natürliche Ressourcen, die zum Gemeinbesitz vieler oder aller Völker gehören, wie z. B. Meere und Gewässer, Luftbedingungen und klimatische Lebensgrundlagen, werden durch Industrie, Verkehr und Freizeitaktivitäten zunehmend beeinträchtigt oder ganz zerstört. Knappe und lebenswichtige Naturressourcen, z. B. Regenwälder, Ackerböden, Meeresfrüchte und Nutzpflanzen, werden zum überwiegenden Nutzen großer Konzerne und der Konsumenten der wohlhabenden Länder vergeudet, dezimiert und für immer vernichtet, auf Kosten nicht nur zahlloser Menschen der armen Länder, sondern auch der künftigen Generationen. Und es werden am laufenden Band technische Anlagen, wie Atomkraftwerke, Staudämme und militärische Waffensysteme, errichtet, die weit über die Landesgrenzen hinaus Schäden und Gefahren verursachen, ja möglicherweise sogar die ganze Menschheit bedrohen (Gmelch 2001). Alle diese Tatsachen schaffen Bedarf nach einer gerechten Verteilung der Vorteile und Nachteile der internationalen und globalen Wechselwirkungen des wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Die Forderung wird wohl dahin gehen müssen, dass vermeidbare Schädigungen und Risiken so gut wie möglich begrenzt, unvermeidbare Schäden und Risiken aber annähernd im Verhältnis zum Nutzen verteilt werden müssen, welche die einzelnen Völker aus den die Schäden und Risiken verursachenden Aktivitäten ziehen. Ist eine solche Verteilung nicht gegeben, fordert die korrektive Gerechtigkeit, dass die bevorzugten Nationen den benachteiligten Völkern angemessene Entschädigung leisten. Drittens schließlich hat die fortschreitende internationale Arbeitsteilung zur Folge, dass die einzelnen Völker, wenn auch in ungleichem Maße, immer mehr zu einer sich verdichtenden und erweiternden ökonomischen Kooperationsgemeinschaft zusammenwachsen, in der sie gemeinsam zur Produktion des irdischen Reichtums beitragen, zugleich aber auch in zunehmendem Maße voneinander abhängig werden. Auch wenn diese arbeitsteilige Kooperation im Wesentlichen durch Marktprozesse koordiniert wird, wirft sie Probleme der Verteilungsgerechtigkeit auf, da solche Prozesse für sich alleine niemals eine
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gerechte Verteilung gewährleisten können, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil der Markt gerechte Ergebnisse nur unter der Voraussetzung gerechter Ausgangsbedingungen hervorbringt, die er nicht selber generieren kann; und zweitens, weil die dem Marktmechanismus immanenten Eigengesetzlichkeiten – wie beispielsweise technische Rationalisierungsprozesse, Verlagerungen der Produktionsstandorte, Veränderungen der Absatzmärkte und krisenhafte Ungleichgewichte – selbst unter halbwegs gerechten Ausgangsbedingungen zu sozialen Verwerfungen und Machtungleichheiten führen können, die dann die Ausgangsbedingungen der nachfolgenden Marktprozesse zunehmend ungerechter werden lassen (Sturn 2004). Infolgedessen muss sich die Forderung distributiver Gerechtigkeit auch auf die wirtschaftlichen Vorteile und Nachteile erstrecken, die sich aus einem engen arbeitsteiligen Zusammenwirken verschiedener Nationen ergeben. Was auch immer diese Forderung im Einzelnen verlangen mag, sie kann es ganz sicher nicht zulassen, dass einige Nationen den Gewinn davontragen, während andere auf den Nachteilen sitzen bleiben. Die genannten inter- und transnationalen Gemeinschaftsbelange, zu denen möglicherweise noch weitere kommen, machen zwar erhebliche Korrekturen der bestehenden Weltordnung erforderlich, genügen aber unter gegenwärtigen Bedingungen sicher nicht, um auf internationaler oder gar globaler Ebene so anspruchsvolle und weit reichende Forderungen distributiver Gerechtigkeit zu begründen, wie sie innerhalb einzelner Gesellschaften in der Idee der sozialen Gerechtigkeit Ausdruck finden. Dafür, dass zwischen sozialer und globaler Gerechtigkeit weiterhin wesentliche Differenzen bestehen, sprechen unter anderem zwei Gründe: Erstens sind die politischen, ökologischen und ökonomischen Interdependenzen zwischen verschiedenen Nationen in Umfang und Intensität zu unterschiedlich, um sie über einen Leisten schlagen zu können; und zweitens gibt es derzeit keine realistische und wünschbare Möglichkeit der Institutionalisierung einer auch nur halbwegs funktionsfähigen Weltordnung, die sehr anspruchsvollen Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit überall auf der Welt Geltung verschaffen könnte (Marti 2003). Die erwähnten Argumente dürften allerdings wenigstens die folgende, relativ bescheidene Forderung internationaler Verteilungsgerechtigkeit unterstützen: Die globale Ordnung ist so zu gestalten, dass die Vorteile der internationalen Wechsel- und Kooperationsbeziehungen allen, insbesondere auch den wirtschaftlich weniger entwickelten, ärmeren Nationen zugute kommen. Da die bestehende Weltordnung gegen diese Forderung offensichtlich in wachsendem Maße verstößt, kann sie nur als höchst ungerecht beurteilt werden. Es
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käme daher in der Tat darauf an, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern. 5. Schlussbemerkungen Es dürfte schon prima facie einleuchten, dass die Forderungen der sozialen und der globalen Gerechtigkeit nicht unabhängig voneinander sind, sondern in mehrfacher Weise zusammenhängen, ja eine Einheit bilden. Ich möchte daher zum Abschluss einen Blick auf ihre Wechselbeziehungen werfen. Zwischen sozialer und globaler Gerechtigkeit bestehen offenbar sowohl begriffliche als auch faktisch-kontingente Beziehungen. Die Konzepte der sozialen und der globalen Gerechtigkeit stehen schon deswegen in einem engen begrifflichen Zusammenhang, weil sich ihre Gegenstandsbzw. Anwendungsbereiche überlappen. Bezieht sich die soziale Gerechtigkeit auf die internen Verhältnisse einzelner Gesellschaften, so stellt die globale Gerechtigkeit auf den weiteren Bereich der globalen Ordnung ab, die ihrerseits die Beziehungen zwischen den einzelnen Gesellschaften regelt. Insofern stehen soziale und globale Gerechtigkeit in einem Verhältnis von Teilen zum Ganzen. Dieses Verhältnis ist asymmetrischer Natur: Globale Gerechtigkeit schließt ein hinreichendes Maß an sozialer Gerechtigkeit ein, nicht aber umgekehrt. So könnte es sein, dass selbst dann, wenn alle oder die meisten Gesellschaften intern gerecht sind, die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen ungerecht sind, während umgekehrt eine globale Ordnung wohl kaum als gerecht betrachtet werden kann, wenn sie gravierende Ungerechtigkeiten in den einzelnen Gesellschaften zulässt oder sogar fördert. In diesem Fall wäre vielmehr anzunehmen, dass auch die globale Ordnung defekt ist. Diese Asymmetrie verschwindet jedoch, wenn man die normativen Gehalte der Ideen globaler und sozialer Gerechtigkeit mit in Betracht zieht. Denn unter diesem Blickwinkel hat die globale Gerechtigkeit vor der sozialen insofern Priorität, als sie dieser normative Grenzen setzt: sie definiert den Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Gesellschaften soziale Gerechtigkeit realisieren können und sollen. Jede Gesellschaft muss demnach, wenn sie nach sozialer Gerechtigkeit strebt, die Gebote globaler Gerechtigkeit wahren. Soziale Gerechtigkeit muss mit der globalen Gerechtigkeit vereinbar sein und darf nicht auf deren Kosten gehen. Diese Einschränkung ist, wie gesagt, normativer Art und darum nicht schon deshalb bedeutungslos, weil sie tatsächlich oft nicht beachtet wird.
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Der Zusammenhang zwischen sozialer und globaler Gerechtigkeit wird noch enger, wenn man neben ihren begrifflichen auch ihre faktischen Beziehungen ins Auge fasst. Die historische Erfahrung spricht jedenfalls dafür, dass gravierende Ungerechtigkeiten in den einzelnen Gesellschaften die Realisierungschancen einer gerechten internationalen Ordnung erschweren, während die Existenz einer solchen Ordnung die Bemühungen in den einzelnen Gesellschaften um gerechtere soziale Verhältnisse fördert. Dass Nationen, in denen große Ungerechtigkeiten herrschen, häufig auch die Gebote eines gerechten Umgangs mit anderen Völkern missachten, zeigen zahllose Beispiele von repressiven und räuberischen Regimen, die oft nicht nur die Grundrechte ihrer Bürger verletzen, sondern auch andere Nationen schädigen oder gar bedrohen. Und dass die internationale Rechtsordnung zur Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse in den einzelnen Staaten beitragen kann, das belegen die sichtbaren Erfolge mancher Systeme eines internationalen Menschenrechtsschutzes, wofür insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention als beispielhaft gelten kann. Diese engen Wechselbeziehungen zwischen sozialer und globaler Gerechtigkeit bringen gerade im Kontext der gegenwärtigen Phase der beschleunigten, sich mehr oder minder naturwüchsig vollziehenden Globalisierung enorme moralische Probleme und politische Herausforderungen mit sich. Dieser Verlauf der Globalisierung, der vor allem durch die Liberalisierung des internationalen Wirtschaftsverkehrs und der Finanzmärkte vorangetrieben wird, wirkt der sozialen wie auch der globalen Gerechtigkeit entgegen, weil er die sozialen Ungleichheiten sowohl in als auch zwischen den einzelnen Gesellschaften verstärkt, zugleich aber die Möglichkeiten einer entsprechenden politischen und rechtlichen Regulierung der Eigendynamik des wirtschaftlichen und sozialen Wandels beschränkt. Während der sich mit fortschreitender Globalisierung verschärfende internationale Wettbewerb die politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der einzelnen Nationen immer weiter reduziert, entsteht auf internationaler und globaler Ebene ein wachsender Regelungsbedarf, der gegenwärtig mangels entsprechender inter- und supranationaler Institutionen unerledigt bleibt. Aus alledem geht hervor, dass soziale und globale Gerechtigkeit nicht nur in der Sache eine untrennbare Einheit bilden, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Umsetzung eng zusammenhängen, weil sie einander bedingen und ergänzen. Soziale Gerechtigkeit ist ohne globale Gerechtigkeit nicht zu haben, und diese nicht ohne jene. Dieser Befund sollte uns veranlassen, uns um beide
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gleichermaßen zu bemühen. Denn nur dann, wenn wir danach trachten, unsere eigene Gesellschaft ebenso wie auch die internationale Ordnung gerechter zu gestalten, wird es uns vielleicht gelingen, die Welt etwas zu verbessern.
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PFLICHTEN AUF DISTANZ Barbara Bleisch
Weltweit sind Millionen von Menschen unterernährt und leiden dadurch an Krankheiten, die mit einfachen Mitteln zu heilen wären. Jährlich sterben 1,8 Millionen an den direkten oder indirekten Folgen der Armut. Die meisten Todesopfer sind Kinder. Dass es sich bei diesen Verhältnissen um eine humanitäre Katastrophe handelt, bestreitet niemand. Umstritten ist jedoch, ob diese humanitäre Katastrophe uns irgendwelche moralischen Pflichten auferlegt, und wenn ja, wem welche Pflichten. Um diese Frage soll es im Folgenden gehen. Ich liefere jedoch in diesem Aufsatz keinen eigenen Vorschlag der Begründung globaler Pflichten, sondern fokussiere auf die Frage, welche spezifischen Probleme sich für die Begründung von Pflichten auf Distanz ergeben, und diskutiere, wie sich die Tatsache der räumlichen Getrenntheit zwischen den Hungernden und uns auf die Behauptung und Begründung solcher Pflichten auswirkt. Viele Menschen in den westlichen Ländern geben bereitwillig zu, dass es ihnen im Vergleich zu den Bewohnern der südlichen Hemisphäre materiell hervorragend geht. Offenbar sind jedoch nur wenige bereit, auf einen Teil ihres täglichen Luxus zugunsten jener zu verzichten, die in bitterer Armut leben. Es mag ihnen zwar durchaus lobenswert erscheinen, wenn andere sich für eine gerechtere Welt engagieren, Geld spenden und Stiftungen zugunsten der Armen gründen oder wenn ihre Kinder in der Schule zu Weihnachten ein Krippenspiel aufführen, dessen Erlös in ein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit fließt. Möglicherweise empfinden sie sogar jene, die sich engagieren, als »moralische Helden«, wie sich Hugh LaFollette (2003, 238) ausdrückt. Dass ein solches Engagement gefordert werden kann, bezweifeln sie jedoch. Wir tadeln einander denn auch nicht für Gleichgültigkeit oder Untätigkeit gegenüber dem Welthunger, und kaum jemand scheint ein schlechtes Gewissen zu haben, den Lebensstil zu genießen, an den wir uns gewöhnt haben. Karen Green interpretiert diese Einstellung als Ausdruck einer Art »Minimalmoral«: »They avoid killing, stealing, lying and cruelty, but feel no obligation to devote themselves to the well-being of everybody else« (Green 2003, 501). Gegenüber der Allgemeinheit beschränken sich ihre Normen auf Nicht-Schädigungsgebote. Nichts121
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destotrotz ist zu vermuten, dass dieselben Leute empört wären, wenn sich Eltern nicht um ihre Kinder kümmerten oder wenn Passanten einen auf der Straße liegenden Schwerverletzten ignorieren würden. Auch sie scheinen also der Meinung zu sein, dass das, was moralisch von uns gefordert ist, sich nicht immer und nicht in jedem Fall auf Unterlassungspflichten beschränken lässt, sondern auch Unterstützungs- beziehungsweise sogenannte Hilfspflichten umfasst. Doch sind diese Hilfspflichten stets als spezielle Pflichten zu fassen, die ausschließlich bestimmten Personen gegenüber bestehen, oder existieren generelle Hilfspflichten? Haben wir mit anderen Worten allen notleidenden Menschen gegenüber eine Hilfspflicht, oder beschränkt sich dieses Gebot auf bestimmte Personen, zum Beispiel auf jene, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben? Die von Karen Green skizzierte Minimalmoral, die Spenden oder Engagements für die Hungernden, die in der Ferne leben, als supererogatorische Akte erachtet, hat Hugh LaFollette (2003, 238) als »charityview« bezeichnet: Sie bestreitet das Bestehen einer generellen Hilfspflicht. Hilfe gegenüber den Notleidenden im Ausland ist demnach als karitative, als supererogatorische, also lobenswerte aber nicht verpflichtende Handlung aufzufassen. Dagegen behaupten andere Theorien das Bestehen von Pflichten gegenüber den Hungernden. Sich gegen den Welthunger zu engagieren ist somit nicht bloß gut, sondern moralisch gefordert. Diese These kann zweierlei Formen annehmen: Entweder wird für eine generelle Hilfspflicht argumentiert, oder aber es wird gezeigt, dass wir am Welthunger mitschuldig sind und somit eine negative Pflicht besteht, die Menschen in Not nicht weiter zu schädigen oder Wiedergutmachung zu leisten. Die erste These steht in direkter Opposition zur »charity-view«: Hilfe für die Notleidenden wird nicht als karitative Handlung, sondern als moralisch geboten interpretiert.1 Die zweite These hingegen un1. Die »charity-view« könnte meines Erachtens allerdings auch die Position vertreten, dass eine generelle Hilfspfllicht durchaus bestünde, jedoch nur jenen gegenüber, die ihr Elend nicht selbst verschuldet haben. Wird nämlich überdies die These vertreten, der Welthunger sei »hausgemacht« und liege in der Verantwortung der Hungernden selbst, so würde ihnen gegenüber keine solche generelle Hilfspflicht bestehen, sondern sie unterstützende Handlungen wären supererogatorischer Natur. Letztere These, die nach wie vor verbreitet ist, entbehrt allerdings jeglicher empirischer Grundlage (vgl. Pogge 2002; siehe auch Abschnitt (1) in diesem Aufsatz). Selbst wenn darauf hingewiesen wird, dass Warlords und korrupte Regierende das Elend der Bevölkerung mitverursachen, so ist die leidtragende Bevölkerung sicherlich nicht selber an diesen Zuständen schuld.
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tergräbt das empirische Fundament der »charity-view«: Die Frage, ob wir den Notleidenden nicht »helfen« müssten, sei irreführend, denn es gehe nicht um Hilfe, sondern darum, diesen Menschen nicht Schaden zuzufügen. Selbst die oben erwähnte Minimalmoral müsste demnach – wenn die zweite These korrekt ist – Pflichten gegenüber den Hungernden, die als Nichtschädigungsgebote zu verstehen wären, anerkennen. Im Folgenden trete ich für die Position ein, dass wir gegenüber Menschen, die in größter Armut leben, Pflichten haben, ohne eine der beiden erwähnten Thesen zu verteidigen. Vielmehr werde ich untersuchen, welche Rolle der geographischen Nähe respektive der Distanz zum Notleidenden im Blick auf die Begründung solcher Pflichten zukommt, seien sie nun positiver oder negativer Art. Nehmen unsere Pflichten gegenüber anderen Menschen mit zunehmender geographischer Distanz ab? Wenn ja, worin liegt die Begründung für eine solche These, und betrifft sie positive wie negative Pflichten gleichsam? Umgekehrt gefragt: Generiert räumliche Nähe allein bereits Pflichten (etwa anderen Menschen in großer Not zu helfen), die wir gegenüber den Notleidenden im entfernten Afrika nicht haben? Oder ist es vielmehr so, dass wir weniger motiviert sind, Pflichten auf Distanz zu erfüllen, weil nicht oder weniger mit Sanktionen bei Nichterfüllung zu rechnen ist? Diskutiert man diese Fragen ausführlich, so münden sie in eine Debatte um die Reichweite unserer moralischen Aufmerksamkeit: Wen müssen wir beispielsweise in unsere Gerechtigkeitsüberlegungen einbeziehen? Für wen sind wir verantwortlich? Wer geht uns – moralisch betrachtet – etwas an? Im Zentrum meiner Ausführungen soll dabei stets die Frage stehen, welche Bedeutung der räumlichen Distanz zum Ersten bei der Bestimmung des Inhalts oder des Gegenstands der Pflichten, zum Zweiten bei der Identifizierung des Verantwortungs- bzw. Pflichtenträgers und zum Dritten bei der Begründung von Pflichten zukommt. Die ersten beiden Fragen werden in Abschnitt (1) diskutiert. Der dritten Frage nach der Rolle der Distanz bei der Begründung von Pflichten widme ich mich in Abschnitt (2), in dem ich Stufenmodelle der Pflichten, wie sie in den vergangenen Jahren von David Miller (1995; 1999), Yael Tamir (31995) und Samuel Scheffler (2001) vertreten worden sind, untersuche. Solche Stufenmodelle beruhen auf der These, dass unsere Verpflichtungen Hierarchien folgen, die zwischen globalen Pflichten, die wir als generelle Pflichten allen Menschen schulden, und lokalen Pflichten, die wir als spezielle Pflichten nur bestimmten Personen schulden, unterscheiden. Im letzten Abschnitt (3) werde ich die Quintessenz meiner Überlegungen kurz darstellen.
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(1) Die meisten Debatten um die Frage, was wir den Notleidenden, die in weiter Distanz zu uns leben, schulden, drehen sich nach wie vor um die Begründung einer generellen Hilfspflicht, um die Frage also, ob wir verpflichtet sind, den Hungernden zu helfen. Diese Fokussierung der Debatte auf die Begründung positiver Pflichten ist jedoch ihrerseits auch Gegenstand der Auseinandersetzung. Kritisiert wird sie von denjenigen, die der Meinung sind, dass wir den Hungernden gegenüber keine positive Pflicht wahrnehmen, das heißt, ihnen nicht helfen müssen, sondern dass wir in erster Linie aufhören sollten, ihnen zu schaden. Anders gesagt geht es ihrer Meinung nach nicht primär darum, aktiv zu helfen, als darum, die Schädigungen zu unterlassen. Diese Position vertritt etwa Thomas Pogge (1998; 2002). Seine These lautet, dass wir für die radikale Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf dieser Welt die Verantwortung tragen, wenn »[…] diese Ungleichheit (1) eine Auswirkung gemeinsamer Institutionen ist, (2) die nicht kompensierte Ausschließung vom Nießbrauch [sic!] natürlicher Rohstoffe involviert, bzw. (3) die Folge einer gemeinsamen und blutigen Geschichte ist.«2 Alle drei oben genannten Bedingungen sind Thomas Pogge zufolge erfüllt (Pogge 2002), wobei es für die Begründung einer negativen Pflicht gegenüber den Entwicklungsländern ausreichen würde, wenn sich lediglich einer dieser Punkte bestätigte (vgl. ebd.). Indem er unsere Mitschuld an der Misere aufzeigt, argumentiert Pogge gegen den »explanatory nationalism« (Pogge 2002, 49, 110 ff ., 139 ff ., 152 f.), dem zufolge die gegenwärtige Armut gänzlich durch nationale und lokale Faktoren erklärt werden könnte. Zwar sei es durchaus korrekt, dass korrupte und gegenüber den Interessen der eigenen Not leidenden Bevölkerungen ignorante Regierungen von Entwicklungsländern ihren Teil zum Fortbestand des Elends beitrügen, aber die Interessen der Ärmsten auf dieser Welt würden auch und möglicherweise insbesondere in internationalen Verhandlungen vernachlässigt oder gänzlich missachtet. Der Grund für diese Vernachlässigung bestehe nicht allein darin, dass die Regierungen des Südens die Interessen ihrer Bürger nicht in die Verhandlungen einbrächten, sondern ist gleichermaßen oder sogar weitgehend darauf zurückzuführen, dass die 2. Pogge (1998, 329). Thomas Pogge würde durchaus zugestehen, dass wir, trügen wir am Elend keine Schuld, Hilfspflichten hätten, doch fokussiert er aus pragmatischen Gründen auf negative Pflichten, die er für stärker bindend erachtet als positive. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.
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Industrieländer korrupte Regimes unterstützen und nicht selten von ihnen profitieren. Durch die Aufrechterhaltung von Gesetzen, die Menschen in der südlichen Hemisphäre schädigen – etwa durch einen Rohstoffhandel, der Warlords in die Hände spielt – sind wir für das Elend mitverantwortlich. Aus dieser Mitverantwortung ergibt sich, Pogge zufolge, unsere negative Pflicht, diese Schädigung zu unterlassen. Pogges Ansatz ist aus mehreren Gründen attraktiv. All die Unklarheiten, die sich im Zusammenhang mit der Begründung von Hilfspflichten auf Distanz ergeben, scheinen – zumindest auf den ersten Blick – ausgeräumt. Denn wenn gezeigt werden kann, dass wir die Not dieser Menschen durch unser Verhalten verursacht haben oder nach wie vor verursachen, so scheint die Frage, ob wir eine Pflicht haben, uns gegen den Welthunger zu engagieren, müßig. Negative Pflichten gelten – so die Ansicht Vieler – generell, also unabhängig davon, in welchem Verhältnis zum Gegenüber wir uns befinden. Jan Narveson schreibt etwa: »I will take it as given that we are certainly responsible for evils we inflict on others, no matter where, and that we owe those people compensation« (Narveson 2003, 419). Thomas Pogge drückt denselben Sachverhalt folgendermaßen aus: »Die negative Formulierung […] impliziert […] eine viel stärkere Verpflichtung […]« (Pogge 1998, 327; vgl. auch 2002, 130). Die Begründung für die ausnahmslose und strikte Geltung negativer Pflichten fußt in der kantischen Idee der Vollkommenheit dieser Pflichten. Vollkommene Pflichten schulden wir bestimmten Personen, die ein Recht darauf haben, dass ihnen gegenüber diese Pflichten eingehalten werden. Positive Pflichten hingegen werden gemeinhin als unvollkommene Pflichten verstanden; wir schulden sie nicht bestimmten Personen, und wir sind frei in unserer Entscheidung, mit welcher Handlung wir unserer Verpflichtung nachkommen wollen. Jeremy Waldron beschreibt dies folgendermaßen: »A perfect duty determines a particular action that must be performed on every occasion it crops up. […] [A]n imperfect duty […] is understood to leave a certain amount of latitude for free choice in determining what to do about it« (Waldron 2003, 344). Negative Pflichten weisen deshalb einen klaren Inhalt auf, nämlich jenen, nicht zu schädigen, während positive Pflichten in ihrer inhaltlichen Bestimmung vage bleiben. Aus diesen Eigenschaften wird oft abgeleitet, positive Pflichten seien schwächer als negative. Lediglich der Konsequenzialismus misst der Unterscheidung dieser Pflichten keinerlei moralische Relevanz bei. Gehen wir von einer Korrelation zwischen Vollkommenheit der Pflichten und Stärke der Pflichten aus, so ist evident, dass das Aufweisen einer Mitschuld am Elend anderer Men-
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schen uns sehr viel stärker in die Pflicht nimmt als der Hinweis darauf, dass es diesen Menschen schlecht geht und dass sie Hilfe brauchen. Ich möchte im Folgenden jedoch zeigen, dass dieser Schluss bezüglich der Pflichten auf Distanz nur bedingt zutrifft. Der Grund hierfür besteht darin, dass die Vollkommenheit der negativen Pflichten auf Distanz abnimmt. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Begründung von Pflichten gegenüber Notleidenden in der Ferne ergeben, haben meines Erachtens genau mit dieser Tendenz zu tun. Ich werde im Folgenden zwei Thesen verteidigen: Erstens verstärkt sich die behauptete Unvollkommenheit der positiven Pflichten, wenn diese auf Distanz bestehen, während positive Pflichten gegenüber Menschen, denen wir begegnen, eine Tendenz zur Vollkommenheit aufweisen. Zweitens tendieren selbst negative Pflichten dazu, vager zu werden, sobald sie Menschen, die in weiter Entfernung von uns leben, geschuldet werden. Betrachten wir zuerst die erste These, die sich auf die positiven Pflichten bezieht. Die Pflicht, sich um das Wohl anderer zu kümmern, scheint einen nicht auf eine bestimmte Handlung festzulegen, sondern stellt es einem frei, sich für den lokalen Tierschutzverein, für eine kirchliche Vereinigung oder für Minenopfer zu engagieren. Selbst wenn die Hilfspflicht konkreter gefasst wird (beispielsweise als Pflicht, notleidenden Menschen gegenüber finanzielle Unterstützung zu leisten), resultiert keine konkrete Weisung daraus, welcher Organisation Geld zu spenden sei und wie hoch dieser Betrag ausfallen sollte. Dem gegenüber sind Hilfspflichten, die wir konkreten Menschen gegenüber in unserer Umgebung haben, weitaus weniger vage: Die Pflicht, sich um das Wohl der eigenen Eltern zu kümmern, lässt einem beispielsweise einen kleineren Handlungsspielraum.3 Wie ersichtlich wird, besteht die Vagheit der positiven Pflichten auf Distanz aus zwei Komponenten: Zum einen erweist sich der Inhalt, zum anderen der Adressat oder der Träger der Pflicht als unbestimmter, je weiter die Person entfernt ist von jenem, der die Pflicht innehat. Weltweit gibt es Millionen von Hungerleidenden, und mannigfache Möglichkeiten bestehen, sich für diese einzusetzen und gegen das Elend etwas zu unternehmen. Ob wir Geld spenden, uns bei Caritas oder Oxfam engagieren oder einen Basar zugunsten von Kindern in Not organisieren, scheint zumindest prima facie keine Rolle zu spielen; alle diese Handlungen können als Erfüllung der Pflicht gelten, Notleidenden zu helfen. 3. Bei dieser Pflicht handelt es sich um eine spezielle Pflicht; ich werde auf diese Pflichten im nächsten Abschnitt (2) eingehen.
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Anders verhält es sich dagegen mit Hilfspflichten gegenüber Menschen in unserer Nähe. Diese tendieren oft zu einer Vollkommenheit, die derjenigen der negativen Pflichten ähnlich ist: Ihr Inhalt und ihr Verantwortungsträger sind bestimmt. Trifft beispielsweise eine Person auf einen Fremden, der blutend auf der Straße liegt, und ist sie mit dem Verletzten allein, so lässt ihr diese Situation, wie Peter Winch zu Recht bemerkt, wenig oder gar keinen Spielraum in der Erfüllung einer Hilfspflicht: »In a case like this, where I am on the spot, and where help, if it is to come at all, can only come from me, the demands are compelling. I have no choice« (zitiert nach Waldron 2003, 345). Peter Winch hat damit keine generelle Begründung positiver Pflichten geliefert; was das Zitat zeigt, ist vielmehr, dass positive Pflichten gegenüber Menschen in unserer Nähe ihre Vagheit oft verlieren und daher zwingender erscheinen. Aus diesen Gründen ist die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten von geringerer Relevanz, wenn diese Pflichten Personen gegenüber bestehen, mit denen wir in »realem Kontakt« stehen. Es scheint mir interessant zu beobachten, wie Hilfswerke vermehrt diese Eigenart der Pflichten ausnützen, indem sie zunehmend von Spendenaufrufen für größere Projekte abkommen und stattdessen für Patenschaften werben oder dem Spender die Möglichkeit geben, zu entscheiden, ob seine Spende für einen Esel im Dorf, für Fahrräder in einer Schule oder für den Bau eines Brunnen genutzt werden soll. Anhand von Fotografien und Kurzbiografien wird suggeriert, man verweigere nicht Straßenkindern in Lateinamerika die Hilfe, sondern man überlasse zum Beispiel die zwölfjährige Maria, die ihren Hunger mit Leimschnüffeln zu unterdrücken sucht, ihrem grausamen Schicksal, wenn man nicht spende. Solche PR-Aktionen suggerieren vollkommene Pflichten, Pflichten einer konkreten Person gegenüber, die ein Recht auf unsere Hilfe hat. Aus dem Gesagten folgt, dass Hilfspflichten gegenüber Menschen in unmittelbarer Nähe stärker sind, sofern von einer Korrelation zwischen Stärke und Vollkommenheit der Pflichten ausgegangen wird. Damit sollen zwei Dinge nicht gesagt sein: Erstens bedeutet dies nicht, dass Hilfspflichten gegenüber Nahestehenden vollkommene Pflichten sind; ich habe vielmehr darzulegen versucht, dass positive Pflichten gegenüber Menschen, denen wir begegnen, zu Vollkommenheit tendieren. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass sie jene Eigenschaften aufweisen, die vollkommenen Pflichten üblicherweise zugeschrieben werden. Zweitens muss aus dem Gesagten nicht zwingend geschlossen werden, die Pflichten gegenüber Menschen, die von uns entfernt leben, seien deshalb schwächer. Ein solcher Schluss folgt lediglich, wenn von einer
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Korrelation zwischen Vollkommenheit und Verbindlichkeit der Pflicht ausgegangen wird. Die Sache präsentiert sich freilich anders, wenn die Stärke der Pflicht beispielsweise in Abhängigkeit vom Ausmaß der Not, in der sich jemand befindet, bestimmt wird. Dann entstünde jedoch das epistemische Problem, dass Not auf Distanz unvergleichlich schwieriger zu bestimmen ist, als wenn wir mit dieser Not direkt konfrontiert werden. Wie verhält es sich nun mit den negativen Pflichten auf Distanz? Wie bereits gesagt worden ist, werden negative Pflichten in der Regel als vollkommene Pflichten vorgestellt, die uns zu konkreten Unterlassungen allen Menschen gegenüber nötigen. Es ist somit zu erwarten, dass viele der Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn wir die Pflichten gegenüber Notleidenden im Ausland als Hilfspflichten auffassen, verschwinden, wenn wir stattdessen von unserer Beteiligung am Elend ausgehen. Dies ist jedoch nur vermeintlich der Fall. Zwar schreibt Thomas Pogge: »Die Forderung, man dürfe nicht weiter an der Produktion von Armut mitwirken und profitieren, läßt sich nicht einfach mit Hinweis darauf zurückweisen, daß man sich, statt diese Forderung zu erfüllen, lieber der eigenen Familie oder der Krebsforschung widmen möchte« (Pogge 1998, 327). Diese Aussage ist jedoch nur dann korrekt, wenn die Beteiligung an der Entstehung der Armut dem Individuum konkret nachgewiesen und somit eine vollkommene negative Pflicht geltend gemacht werden kann, nämlich die Pflicht, diese Schädigung zu unterlassen. Dies ist aber in dieser Eindeutigkeit gerade hinsichtlich einer Pflicht gegenüber den Hungerleidenden nicht der Fall. Eine Mitschuld lässt sich möglicherweise für Regierungen, Firmen und Institutionen direkt nachweisen, etwa indem ausbeuterische Verträge offengelegt werden. Das einzelne Individuum ist jedoch nicht direkt für den Welthunger verantwortlich. Vielmehr müssen wir von komplexen Handlungsfolgen ausgehen, die kausal miteinander verknüpft sind und sich über Raum und Zeit erstrecken, die aber keinen ursprünglichen oder hauptsächlichen »Missetäter« entlarven könnten. Menschen tendieren gewöhnlich dazu, ihren Beitrag zur Schädigung als sehr viel geringer einzustufen, wenn sie nicht im Alleingang einen Schaden bewirken, sondern wenn eine Kollektivhandlung, die sich möglicherweise zusätzlich über Raum und Zeit erstreckt, den Schaden herbeigeführt hat. (vgl. Scheffler 2001, 39f.; LaFollette 2003, 248f.) Auch bezüglich der negativen Pflichten erweist es sich somit als schwierig, Verantwortungsträger und Inhalt der Pflicht zu bestimmen. Die Vollkommenheit der negativen Pflichten weicht auf Distanz einer großen Vagheit, die der Unvollkommenheit positiver Pflichten ähnlich ist. Da wir uns als Individuen an einer Schädigung
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zwar beteiligen oder beteiligt haben, diese Schädigung jedoch nicht rückgängig machen oder verhindern können, müssen wir Wiedergutmachung leisten. Als Inhalt der Wiedergutmachungspflichten schlägt Pogge vor, dass wir den mitverursachten Schaden kompensieren »[…] by working for the reform of institutions or for the protection of their victims« (Pogge 2002, 50). Dies bedeutet, dass wir uns für die Suche nach und Umsetzung von innovativen Alternativen in Politik und Wirtschaft engagieren sollten. Doch dann taucht sogleich die Frage auf, wie viel Engagement und welche Formen von Engagement gefordert sind. Pogge schlägt als individuelles Maß der Kompensation Folgendes vor: »[A]s much as it would be necessary to eradicate the harms if others similarly placed made analagous contributions (regardless of what they actually contribute)« (Pogge 2002, 245). Dann stellt sich freilich die Frage, was wir tun müssen, wenn die Anderen nicht kooperieren, wie dies in einer »non-ideal world« (vgl. Murphy 2000) der Fall ist. Einige Autoren haben auf die Dringlichkeit sozialer Arrangements hingewiesen, die eine faire Aufteilung der Lasten sicherstellen und das Kooperieren möglichst aller gewährleisten. Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, eine Inhaltsangabe darüber zu machen, wie viel wer als Wiedergutmachung zu leisten hätte. Mir war es mehr darum zu tun, aufzuzeigen, dass die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn Pflichten auf Distanz als positive Pflichten bestimmt werden, nicht aus der Welt geräumt sind, wenn unsere Mitschuld aufgedeckt werden kann.
(2) Ich habe im vorherigen Abschnitt dargestellt, welche spezifischen Probleme sich für eine Begründung von Pflichten auf Distanz ergeben. Ich habe argumentiert, dass die räumliche Entfernung zu den Notleidenden die Bestimmung von Inhalt und Verantwortungsträger der Pflicht erschwert. Soziale Arrangements zur fairen Aufteilung der Lasten sind unabdingbar. Im Folgenden möchte ich mich mit Stufenmodellen globaler Pflichten (»split level-theories«) auseinandersetzen und untersuchen, welche Rolle Nähe und Distanz für die Begründung solcher Modelle spielen. Stufenmodelle, wie sie in letzter Zeit beispielsweise von David Miller (1995; 1999), Yael Tamir (31995), Samuel Scheffler (2001) und anderen diskutiert worden sind, können als Antworten auf Theorien globaler Gerechtigkeit gelesen werden, die, so der Grundtenor dieser Autoren, den partikularen Bedürfnissen und Beziehungen von Menschen zu wenig Rechnung zu
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tragen vermögen. Mit den Stufenmodellen wird versucht, universale Pflichten mit partikularen Pflichten in Einklang zu bringen, indem Pflichtenhierarchien entworfen werden: Einerseits haben wir globale Pflichten, die wir als generelle Pflichten allen Menschen schulden, andrerseits stehen wir in den unterschiedlichsten Beziehungen zu verschiedenen Personen, die mit lokalen, speziellen Pflichten einhergehen, die wir ausschließlich bestimmten Menschen schulden. Dabei kann entweder die These vertreten werden, negative Pflichten seien stets als generelle Pflichten aufzufassen (schädigen darf man keine Person, wie weit entfernt sie auch sein mag), während Hilfspflichten sich ausschließlich als spezielle Pflichten begründen ließen. Oder die Stufenmodelle werden dahingehend interpretiert, dass generelle Pflichten positive wie negative Pflichten umfassen, dass jedoch spezielle Pflichten stärker ausfallen als generelle. Im letzteren Fall wird meist davon ausgegangen, dass eine Vorrangstellung der speziellen Pflichten nur im Falle der Hilfspflichten gelte. Samuel Scheffler diskutiert, ob eine Hierarchisierung der Pflichten auch dahingehend interpretiert werden könne, dass spezielle positive Pflichten generelle negative Pflichten übertrumpfen, ob also, um einem Freund zu helfen, einer fremden Drittperson geschadet werden dürfe (vgl. Scheffler 2001, 52 f.). Diese Fragen betreffen Kollisionen von generellen und speziellen Pflichten; ich werde darauf noch zurückkommen. In einem ersten Schritt interessiere ich mich für eine Begründung der Hierarchisierung an sich. Grundsätzlich können zwei Arten von Stufenmodellen unterschieden werden: konsequenzialistische und nicht-konsequenzialistische. Konsequenzialistische »split level-theories« erlauben Bevorzugungen und Parteilichkeit dann und nur dann, wenn solches Verhalten letztlich der Steigerung des Wohlergehens Aller zugute kommen. Karen Green spricht in diesem Zusammenhang von einem »[…] indirect or split level-utilitarianism which recognizes that our natural inclinations to care for loved ones, and reciprocate generosity, usually result in good consequences […]« (Green 2003, 508). Distanz und Nähe spielen bei der Begründung solcher Pflichtenhierarchien somit nur indirekt eine Rolle: Eine Pflicht wird nicht stärker, weil mir eine Person nahe steht, sondern weil das Gesamtwohl gesteigert werden kann, wenn sich jeder um die Seinen kümmert. Die Begründungen hierfür weisen beispielsweise auf den Nutzen einer Arbeitsteilung hin, also darauf, dass die Lasten der Verantwortlichkeiten für alle geringer ausfallen, wenn sich jeder um diejenigen Personen kümmert, die er bereits kennt, um deren Bedürfnisse er weiß und denen gegenüber er (zumindest meistens) natürlicherweise zu helfen motiviert ist. Distanz kann somit als
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Kostenfaktor indirekt in die Frage einfließen, wem für wen die Verantwortung aufgebürdet werden soll (vgl. dazu Narveson 2003, 429f.). Andrerseits kann aus utilitaristischer Warte auf die Bedeutung persönlicher Beziehungen wie Freundschaft, Liebesbeziehung und familiäre Strukturen für das menschliche Wohlergehen hingewiesen werden (vgl. z. B. LaFollette 1996). Da sich persönliche Beziehungen unter anderem gerade in Parteilichkeit äußern und da Beziehungen einen eminenten Teil zum menschlichen Wohl beitragen, muss parteiliches Verhalten bis zu einem gewissen Grad erlaubt sein. Vertreter von nicht-konsequenzialistischen Stufenmodellen werfen den Konsequenzialisten jedoch vor, Beziehungen und partikulare Eingebundenheit nicht ernst genug zu nehmen oder gar zu verkennen. Der Rückbezug auf die Nutzenmaximierung erlaube es dem Konsequenzialismus zwar, partikulare Bedürfnisse zu berücksichtigen, jedoch ausschließlich dann, wenn gezeigt werden kann, dass das universale Ziel bestmöglich durch die Verfolgung und Aufrechterhaltung partikularer Strukturen erreicht wird (vgl. Scheffler 2001, 35ff.). Doch angesichts des weltweiten Elends, das der Welthunger mit sich bringt, scheint eine Bevorzugung der Nahestehenden in Rückbezug auf ein konsequenzialistisches Kalkül kaum zu rechtfertigen. Der eigentliche Vorwurf der NichtKonsequenzialisten besteht jedoch darin, dass ein solches »arguing-back« (Scheffler 2001, 35ff.), ein solcher Rückbezug auf den Konsequenzialismus unterschlage, dass aus partikularen Beziehungen eine besondere Klasse von speziellen Pflichten hervorgehe, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürften und die eine Bevorzugung bestimmter Menschen nicht nur erlaube, sondern fordere. Eine solche Rechtfertigung basiert auf akteurs-relativen Gründen, deren Existenz Konsequenzialisten freilich bestreiten. Ich will an dieser Stelle nicht auf eine Diskussion über die Existenz von akteurs-relativen Gründen in der Moral eintreten, sondern den Stellenwert von Nähe und Distanz bei der Begründung solcher nicht-konsequenzialistischer Stufenmodelle untersuchen. Betrachten wir als erstes die Pflichten eingehender, die zwischenmenschlichen Beziehungen entspringen. Es handelt sich dabei um spezielle Pflichten, die Wiedergutmachungspflichten, Vertragspflichten, Dankbarkeitspflichten und Beziehungspflichten4 umfassen. Spezielle Pflichten schulden wir jeweils nur be4. Unter Beziehungspflichten verstehe ich die von Ronald Dworkin als »associative duties« bezeichneten speziellen Pflichten. Diese Übersetzung ist möglicherweise nicht glücklich, weil sie einen engeren Anwendungshorizont impliziert als der Begriff »associative duties«, der sich auf Gruppenmitglieder beziehen kann, die keine Beziehung im engeren Sinne
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stimmten Personen, nämlich jenen, denen wir ein Übel angetan haben, denen wir etwas versprochen haben, denen wir etwas zu verdanken haben oder mit denen wir in einer Beziehung stehen wie etwa mit unseren Freunden, Familienangehörigen, Mitbürgern, Clubmitgliedern, Arbeitskollegen etc. Für die hier erörterte Frage interessant sind insbesondere diese Beziehungspflichten, weil sie nur Menschen gegenüber bestehen, mit denen uns eine gewisse Nähe verbindet. Welchen Gruppen oder Beziehungen entspringen nun solche speziellen Pflichten? Ronald Dworkin hat von »biological or social groups« (Dworkin 1986, 196) gesprochen. Möglicherweise ist diese Definition aber zu weit. Unbestritten ist sicherlich, dass rein statistische Gruppen – die Gruppe der Raucherinnen etwa oder die Gruppe der Rothaarigen – über keinerlei moralische Relevanz verfügen und nicht mit speziellen Pflichten einhergehen. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die in Frage stehende Gruppe unsere Persönlichkeit und unser Selbstverständnis prägt, wie dies bei persönlichen Beziehungen in hohem Ausmaß der Fall ist (vgl. dazu Williams 1973; 1976). Avishai Margalit und Joseph Raz (1990) haben deshalb von »identifying groups« gesprochen, und Yael Tamir (31995) von Umfeldern, die uns ein Gefühl des »belonging«, der Zugehörigkeit, vermitteln. Ausschließlich Gruppen, die dieser oder einer ähnlichen Charakterisierung genügen, kommen als Quellen für Beziehungspflichten in Frage. Kritiker solcher Stufenmodelle haben jedoch bezweifelt, ob aus dem Gefühl der Zugehörigkeit theoretisch überhaupt eine Pflicht abgeleitet werden könne. Die Wertschätzung einer Gruppe und das Zugehörigkeitsgefühl zu ihr können allenfalls begründen, weshalb die meisten Menschen geneigt seien, die anderen Gruppenmitglieder zu bevorzugen, aber sie können nicht begründen, dass man diese Mitglieder auch bevorzugen soll. Ich werde auf diesen Einwand hier nicht eingehen, sondern die Frage stellen: Gesetzt den Fall, Beziehungspflichten lassen sich begründen, welche Rolle spielen Nähe und Distanz dann in dieser Begründung? Räumliche Nähe allein scheint mir keine notwendige Bedingung für eine Beziehung zu sein, der Beziehungspflichten erwüchsen. Identität stiftende Gruppen können auch über räumliche Distanz hinweg bestehen – denken wir etwa an räumlich fragmentierte Familien, deren Zusammengehörigkeitsgefühl pflegen. »Gruppenpflichten« als Übersetzung anzubieten wäre jedoch nicht minder ungeschickt, denn dies würde suggerieren, es handle sich um kollektive Pflichten, was Dworkin gerade verneint. Vgl. Dworkin (1986, 196 f.).
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durch die Distanz keineswegs beeinträchtigt werden muss, oder an religiöse Gruppierungen, die über die ganze Welt verteilt stets zur selben Uhrzeit beten und einander gedenken. Räumliche Nähe allein ist überdies auch keine hinreichende Bedingung für eine solche Beziehung. Zwar können lokalen »Schicksalsgemeinschaften« (wie beispielsweise die Gruppe all jener, die gemeinsam im Fahrstuhl stecken bleiben) Pflichten gegenüber den anderen Schicksalsbrüdern erwachsen, doch ist es in diesem Fall gerade nicht die räumliche Nähe, sondern das gemeinsam ereilte Schicksal, das allenfalls eine Beziehung entstehen lässt. Ich gebe Jeremy Waldron somit nicht recht, der sagt: »[T]he sheer fact of proximity (to a person in desperate need) gives rise to special duties« (Waldron 2003, 347). Die Begründung für die spezielle Pflicht, die Waldron geltend macht, scheint mir hier nicht jene der räumlichen Nähe zu sein, sondern allenfalls die Tatsache, dass eine Person »in desperate need« ist und ich alleine zugegen bin und ihr helfen könnte. Wenn aber die Notlage der Person mir Anlass zur Hilfe gibt, handelt es sich bei der von Waldron erwähnten Pflicht um eine generelle Hilfspflicht, die – wie ich im vorhergehenden Abschnitt argumentiert habe – inhaltlich bestimmter ausfällt als andere Hilfspflichten, weil sich der Not Leidende in unmittelbarer Gegenwart befindet. Ebenso wenig stimme ich Soran Readers Behauptung zu: »[P]resence can also constitute one whole kind of relationship, the encounter […].« (Reader 2003, 371) Die Begegnung allein ist noch keine Beziehung, aus der spezielle Pflichten erwüchsen. Wäre dem so, so würden wir allen Menschen, denen wir begegnen, Beziehungspflichten schulden, was die Idee dieser Pflichten, die aus einem Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und der Identitätsstiftung erwachsen, untergrübe. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass räumliche Nähe für das Entstehen von Identität stiftenden Gruppen eine gewichtige Rolle spielen kann. So schließen wir etwa eher Freundschaft mit Menschen, die wir öfter treffen und an deren Leben wir real teilnehmen können. Doch geographische Nähe allein scheint mir nichts zu sein, das Menschen an sich verbindet. Vielmehr kommen Beziehungspflichten da zum Tragen, wo eine innere Verbundenheit der Gruppenmitglieder auszumachen ist, die auf gemeinsamer Praxis, auf Zusammengehörigkeit und Identitätsstiftung beruht.5 Yael Tamir spricht von »care and cooperation« (Tamir 5. Ob man der Gruppe freiwillig beigetreten sein muss, um Pflichten gegenüber den Gruppenmitgliedern zu haben, bleibe hier dahingestellt. Ronald Dworkin (1986) verneint dies. Vgl. auch Samuel Schefflers Auseinandersetzung mit der »voluntarist objection« (Scheffler 2001, 54).
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96), die Gruppen kennzeichnen, denen Beziehungspflichten erwachsen. Die Nähe, die für diese Gruppen konstitutiv ist, scheint somit emotionaler, nicht jedoch räumlicher Art zu sein. Für die Frage nach den Pflichten gegenüber den fernen Hungerleidenden ist insbesondere ausschlaggebend, ob Nationen solche Identität stiftenden Gruppen darstellen, aus denen spezielle Pflichten gegenüber den Mitbürgern hervorgehen, die es legitimieren würden, zuerst für Wohlstand im eigenen Land zu sorgen, bevor man sich globalen Erfordernissen zuwendet. Diese Frage ist zu komplex, als dass sie an dieser Stelle in der ihr gebührenden Tiefe diskutiert werden könnte. Ich muss mich hier damit begnügen zu sagen, dass ich gerade bezüglich der westlichen industrialisierten Welt gewisse Zweifel daran hege, ob die nationale Zugehörigkeit eine Identität stiftende Gruppe bildet wie dies die Familie, ein Freundeskreis oder ein Club tut. Damit soll keineswegs abgestritten werden, dass Menschen sich nicht auch geographisch zugehörig und heimisch fühlen, und dass für viele die Bewahrung kultureller Wurzeln einen wichtigen Wert darstellt. Es ist jedoch zumindest fraglich, ob die protektionistischen Praktiken unter Mitbürgern auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl beruhen, das Beziehungspflichten impliziert, oder ob nicht ein Großteil der speziellen Pflichten, die Mitbürger untereinander wahrnehmen, auf fiktiven Verträgen beruhen, die Sicherheitssysteme zum Ziel haben. Bürger bezahlen beispielsweise Steuern und erhalten im Gegenzug soziale Leistungen, sie entrichten Krankenkassenprämien und werden gesundheitlich versorgt. Solche Abkommen beruhen auf der Idee, dass es uns allen besser geht, wenn gewisse Arbeitsteilungen und Versicherungen bestehen. Nun sind Vertragspflichten durchaus auch spezielle Pflichten, und es lässt sich fragen, weshalb es an dieser Stelle überhaupt von Interesse ist, worauf die speziellen Pflichten basieren. Ich glaube, dies ist in der Tat von Interesse und zwar aus den folgenden Gründen: Stufenmodelle behaupten im Konfliktfall einen Vorrang der speziellen gegenüber den generellen Pflichten, woraus Bevorzugung und Parteilichkeit erwachsen. Wie bereits gesagt, ist Parteilichkeit unter anderem gerade das, worauf diese Gruppen beruhen. Zwar ist parteiliches Verhalten nicht in jedem Fall begründungbedürftig. Es steht mir frei, wem ich ein Weihnachtsgeschenk machen möchte und wem nicht. Ebenso ist es etwa Städten überlassen, Partnerschaften mit anderen Städten zu begründen und sich gegenseitig zu unterstützen, wenn sie dies möchten. Solches Verhalten bedarf jedoch der Rechtfertigung, sobald das parteiliche Verhalten Dritten zum Schaden gereicht. Auf die Stufenmodelle bezogen würde dies bedeuten, dass ein
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Konflikt zwischen den generellen Pflichten und den speziellen Pflichten vorhanden ist. So kann beispielsweise die Einhaltung der generellen Nichtschädigungspflicht gegenüber Menschen im Ausland mit einer Nichtschädigungspflicht gegenüber den eigenen Mitbürgern einhergehen. Werden die Märkte für Frischwaren im Zuge der WTO-Verhandlungen zum Beispiel gänzlich geöffnet, so wird dies für viele einheimische Bauern das Aus bedeuten. Wird einseitige Öffnung der Weltmärkte überdies als Schädigung der Entwicklungsländer aufgefasst, so kollidieren zwei negative Pflichten, die es beide einzuhalten gälte. Andrerseits kann die spezielle Hilfspflicht mit einer generellen Pflicht kollidieren: Das Schweizer Bankgeheimnis bringt – verkürzt gesagt – für die Schweizer Wirtschaft einen erheblichen Gewinn, während die Möglichkeit, Gelder anonym im Ausland anzulegen, Entwicklungsländer mit enormen Steuerausfällen konfrontiert. Eine Abschaffung des Bankgeheimnisses schadet der Schweizer Wirtschaft. Welche Pflichten jeweils Vorrang haben, hängt davon ab, wie die Stufenmodelle genau konzipiert werden. Ist die Rechtfertigung für die Bevorzugung jedoch nicht mehr jene, dass diese Bevorzugung persönlichen, Identität stiftenden Beziehungen erwächst, die einen bestimmten Typus von Pflichten mit sich bringen, sondern vielmehr die Tatsache, dass sich in Interessengemeinschaften die individuellen Vorteile besser gegen die Interessen anderer durchsetzen lassen, so ist diese Rechtfertigung dann nicht mehr stichhaltig, wenn diese Interessensgemeinschaften Dritte schädigen. Wenn Yael Tamir schreibt, »[…] charity begins at home […]« (Tamir 31995, 100) und dies unter anderem mit dem Verweis darauf begründet, dass wir, wenn wir unserer nationalen Zugehörigkeit nicht Rechnung tragen können in Form der Bevorzugung unserer Landsleute und des Schutzes unserer Kultur, nur noch »isolated individuals« wären und Gefahr laufen, eine »abstract humanity« (Tamir 31995, 116) leben zu müssen, so ist diese Begründung moralisch anders zu bewerten als eine Aussage wie jene, dass wir unsere Zölle für Produkte aus Entwicklungsländern nicht öffnen wollen, weil dies unserer lokalen Wirtschaft schade. Genau aus diesen Gründen ist zwischen den Befürwortern und den Gegnern solcher Stufenmodelle ein Streit darüber entbrannt, ob zwischen Nationen und Familien eine Parallele gezogen werden könne. Während es in den Augen der meisten einem zu übertriebenen Ideal der Unparteilichkeit gleichkommen würde, wenn eine Mutter moralisch verpflichtet wäre, ein fremdes Kind und nicht ihr eigenes als erstes zu retten, weil es etwa ärmer dran ist als ihr eigenes Kind, so scheint es definitiv unmoralisch zu sein, wenn die Feuerwehr lediglich jene Kinder aus den Flammen befreit, deren Eltern zuvor eine Versicherung abgeschlos-
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sen haben. Die beschwichtigende These, dass es allen besser gehe, wenn jedes Land für sich schaue, weil sich soziale Sicherheitssysteme weltweit nicht einrichten ließen, ist zumindest gegenwärtig für zahlreiche Länder alles andere als wahr, denn sie haben schlicht die Ressourcen und die politischen Institutionen nicht, für die Ihren zu sorgen. Samuel Scheffler bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: »[I]f the inhabitants of Chad or Bangladesh are told that the citizens of affluent Western societies have little responsibility to assist them, they are unlikely to take much comfort from the assurance that they may rely all the more heavily on one another or from the reflection that they may pursue their own projects unburdened by excessive concern for the welfare of affluent Westerners« (Scheffler 2001, 89).
(3) Ich habe in diesem Aufsatz untersucht, welche Rollen Nähe und Distanz bei der Begründung globaler Pflichten zukommen. Für die inhaltliche Bestimmung dieser Pflichten ist der Umstand, dass die Notleidenden in entsprechender Entfernung von uns leben, durchaus relevant – und zwar unabhängig davon, ob die Pflichten gegenüber den Hungernden als positiv oder als negativ bestimmt werden. Kausale Verkettungen von Handlungen über Raum und Zeit hinweg machen es unmöglich, Verantwortungsträger und Inhalt der Pflichten exakt zu bestimmen. Deshalb sind soziale Arrangements vonnöten, deren Ausgestaltung wiederum mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden ist, die hier nicht diskutiert worden sind. Bezüglich der Begründung von Pflichten scheint die räumliche Distanz lediglich eine indirekte Rolle zu spielen. Innerhalb konsequenzialistischer Stufenmodelle der Verantwortung tritt Distanz als zusätzlicher Kostenfaktor auf. Bei nicht-konsequenzialistischen Stufenmodellen führt emotionale Nähe, nicht jedoch räumliche Nähe zur Begründung spezieller Beziehungspflichten. Die Parteilichkeit, die sich in der Wahrung spezieller Pflichten äußert, basiert jedoch gerade innerhalb der internationalen Beziehungen oft auf Interessenverbänden, bei denen emotionale Verbundenheit keine Rolle spielt, sondern vielmehr der Eigennutzen durch Kooperation mit anderen gesteigert werden soll. Nähe und Distanz spielen für die Motivation, Hilfspflichten einzuhalten, überdies insofern eine Rolle, als auch karitative Handlungen als in einem fiktiven Vertrag angesiedelt vorgestellt werden können. Es wäre demnach schlicht
PFLICHTEN AUF DISTANZ
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vernünftig, in einem gewissen Ausmaß karitativ tätig zu sein, weil dann erwartet werden darf, dass andere mir ebenso helfen werden, wenn ich der Hilfe bedarf (vgl. Narveson 2003, 426ff.). Es sprechen somit rein prudenzielle Gründe dafür, jene in Not zu unterstützen, die uns wiederum helfen könnten, würde es uns schlecht gehen. Es gibt gegenwärtig allerdings Millionen von Menschen, für die eine solche Überlegung nicht möglich ist, weil ihnen die Ressourcen fehlen, anderen zu helfen, und sie überdies genau wissen, dass es niemandem in ihrer Umgebung möglich sein wird, ihnen zu helfen, sollte ihnen das letzte Hab und Gut abhanden kommen. Diese Menschen hatten das Pech, an einem Ort geboren worden zu sein, an dem keinerlei Aussicht auf Hilfe besteht – weder darauf, selber Hilfe zu spenden, noch darauf, Hilfe zu erlangen. Der Ort, an dem wir geboren werden, entscheidet mehr als alles andere in unserem Leben, ob wir je die Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben haben, ob wir einen Beruf erlernen und ausüben, ob wir gesund in eine Zukunft blicken und ob wir für die Unseren sorgen können. Ob dies aus moralischer Perspektive jenen gleichgültig sein kann, die das Glück hatten, an einem besseren Ort geboren worden zu sein, bezweifle ich.
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GERECHTIGKEIT ODER »SOZIALE REGULIERUNG«? DER NORMATIVE STATUS VON GERECHTIGSKEITSPRINZIPIEN
Miriam Ronzoni
Im Folgenden umreiße ich einen Vorschlag für eine mögliche konstruktivistische Auffassung von Gerechtigkeit. Dabei muss ich zunächst die besonderen Merkmale meiner Position im Rahmen des Konstruktivismus im Allgemeinen darlegen, denn der ethische Konstruktivismus kann – wie folglich auch der auf Gerechtigkeit bezogene Konstruktivismus, der eine Unterart davon ist – im Detail auf ganz unterschiedliche Weise ausformuliert werden und deshalb zu einer Vielfalt verschiedener Schlussfolgerungen führen. Vor allem geht es mir darum, die theoretischen Prämissen einer auf signifikante Weise (1) anspruchsvollen und (2) optimistischen Form von Konstruktivismus herauszuarbeiten, d. h. einer konstruktivistischen Auffassung von Gerechtigkeit, die (1) für Individuen, Institutionen, gesellschaftliche Strukturen und Verteilungsprogramme recht anspruchsvolle Anforderungen vorsieht sowie (2) in Bezug auf die Möglichkeit, ein bestimmtes Maß an Objektivität zu erreichen, optimistisch und deshalb ehrgeizig ist. Mein Vorgehen ist von der Hypothese geleitet, dass sowohl der hohe Anspruch als auch der Optimismus einer solchen Auffassung aus einigen besonderen Merkmalen meines Verständnisses davon herleitbar ist, worum es beim Konstruktivismus der Gerechtigkeit überhaupt geht. Wie Onora O’Neill bemerkt, ist der Konstruktivismus ein ehrgeiziges philosophisches Unterfangen: Wer in der Ethik einen Konstruktivismus vertritt, behauptet damit, dass es gute Gründe gibt, den moralischen Realismus abzulehnen, aber dennoch zu glauben, dass Objektivität in der Ethik nicht unbedingt eine Illusion ist. Da ich über eine Arbeit spreche, die erst im Entstehen ist, muss ich die Quellen meiner Inspiration und Reflexion offen legen. Deshalb skizziere ich zuerst kurz in Abschnitt 1 die Hauptmerkmale des konstruktivistischen Ansatzes von John Rawls und bestimme jene theoretischen Annahmen und Folgerungen, zu denen sich eine solche Form von Konstruktivismus bekennt. In Abschnitt 2 lege ich dann einen der bekanntesten Einwände gegen den rawlsschen Konstruktivismus dar, nämlich die von Gerald A. Cohen formulierte metaethische Theorie der Beziehung zwischen Tatsachen und normativen Prinzipien. In Ab139
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schnitt 3 schlage ich eine Erwiderung auf Cohen vor, die uns erlaubt, die Möglichkeit für ein anderes Verständnis des ethischen Konstruktivismus aufzuweisen, durch das dieser (wie ich in den Abschnitten 4 und 5 erörtere) Cohens Einwänden standhalten kann. Dabei versuche ich vor allem eines zu zeigen, nämlich dass Cohens Festhalten an der absoluten Natur oberster normativer Prinzipien eines der Hauptmerkmale unseres Verständnisses von Gerechtigkeit außer Acht lässt – nämlich eben die Vorstellung, dass es bei Gerechtigkeit darum geht, ein Gleichgewicht zwischen miteinander unvereinbaren Ansprüchen zu finden, sowie darum, begründbare Kriterien anzugeben, die anzuwenden sind, wenn wir uns auf die Suche nach einem solchen Gleichgewicht begeben. 1. Rawls’ Konstruktivismus und die Rolle von Tatsachen Dem Gerechtigkeitskonstruktivismus liegt die Vorstellung zugrunde, dass richtige Moralprinzipien mehr mit fairen Verfahren zu tun haben als mit moralischen Wahrheiten. Im Unterschied zu moralischen Realisten bezweifeln oder verneinen Konstruktivisten, »dass es unverwechselbare, natürliche ebenso wie nicht-natürliche moralische Tatsachen oder Eigenschaften gibt, die entdeckt oder erfasst werden können und Grundlagen für die Ethik bieten«.1 Nichtsdestotrotz behaupten sie sehr wohl, dass es möglich ist, normative Prinzipien zu begründen, und zwar durch besondere konstruktive Verfahren. Rawls empfiehlt als Möglichkeit für die Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien ein ganz bestimmtes konstruktives Verfahren, den Urzustand: Am beständigsten sind jene Gerechtigkeitsprinzipien, die freie und vernünftige Personen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, in einem Urzustand der Gleichheit akzeptieren würden.2 Die Fairness solcher Prinzipien wird also nicht dadurch garantiert, dass etwas an ihrem Gehalt besonders wäre, sondern vielmehr durch das Verfahren, mit dem wir sie bestimmen und auswählen. Rawls betrachtet den Urzustand als »den angemessenen Ausgangszustand, der gewährleistet, daß die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind.«3 1. Vgl. Onora O’ Neill, »Constructivism in Rawls and Kant«, in: The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge: Cambridge University Press, 2002, 347–367; hier: 348. 2. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Hermann Vetter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975, 28. 3. Rawls (1975, 34).
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Der Urzustand ist ein hypothetischer Zustand, in dem als rational kalkulierende Wesen aufgefasste Individuen so dargestellt werden, dass sie jene Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens wählen würden, unter denen es ihnen selbst jeweils am besten ginge. Ihre Wahl unterliegt jedoch ganz bestimmten Beschränkungen, die in der Urzustandsargumentation die spezifisch moralischen Elemente verkörpern. Den Beteiligten sind keine Tatsachen über sich selbst bekannt, die für die Wahl des Gerechtigkeitsprinzips moralisch irrelevant wären: »Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen.«4 Rawls nennt diese Beschränkung den Schleier des Nichtwissens: Indem die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinter einem Schleier des Nichtwissens gewählt werden, wird sichergestellt, dass diese Prinzipien solche der Gerechtigkeit sind, d. h. moralisch gerechtfertigte Prinzipien. Wie ist das möglich? Sowie die durch den Schleier des Nichtwissens verborgenen Informationen für die Beteiligten unzugänglich werden, verschwindet die Vielzahl von Beteiligten mit ihren jeweiligen Interessen, und die Frage der Wahl wird eindeutig; da jede Person über die gleiche Information und Motivation verfügt wie jede andere, geht es im Urzustand nicht um »Verhandlungen« zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Individuen, sondern um eine Wahl bzw. Entscheidung. Nach Ansicht von Rawls wählen Akteure, die sich in einem solchen Zustand befinden, zwei »lexikalisch geordnete« Gerechtigkeitsprinzipien5, deren erstes für die Gleichheit grundlegender Rechte sorgt, das andere 4. Rawls (1975, 29). 5. Wenn zwei Grundsätze lexikalisch geordnet sind, so »muß der erste Grundsatz erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann […]. Ein Grundsatz kommt erst zum Tragen, wenn die ihm vorgeordneten entweder voll erfüllt oder aber nicht anwendbar sind. Eine lexikalische Ordnung macht also eine Gewichtung der Grundsätze überhaupt unnötig; die weiter vorn stehenden haben im Vergleich zu den späteren gewissermaßen absolutes Gewicht und ausnahmslose Geltung« (Rawls 1975, 62).
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aber für eine vom Unterschiedsprinzip geleitete Sicht auf gesellschaftliche Ungleichheiten, der zufolge Ungleichheiten ungerecht sind, es sei denn, dass ihre Beseitigung die Lage der am schlechtesten gestellten Mitglieder einer Gesellschaft weiter verschlechtern würde. Die Argumentation mit dem Urzustand entspricht mithin einem rein prozeduralen Ansatz zur Bestimmung moralischer Grundsätze: Die Fairness der gewählten Grundsätze wird nicht durch den besonderen moralischen Gehalt garantiert, sondern durch das Verfahren. Wenden wir uns nun einer Implikation des Unterschiedsprinzips zu, da sie uns hilft, Cohens Kritik ins Spiel zu bringen. Wie erwähnt, wird im Urzustand als eines der grundlegenden Prinzipien das Unterschiedsprinzip gewonnen, dem zufolge die »sozialen und ökonomischen Ungleichheiten so eingerichtet sein müssen, daß sie […] zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder wirken.«6 Einen Anwendungsfall des Unterschiedsprinzips bietet das »Anreizargument«: Wirtschaftliche Ungleichheit ist notwendig und bis zu einem gewissen Grad auch gerecht, weil sie sich positiv auf die Leistungsmotivation und die damit verknüpften materiellen Anreize auswirkt. Begabte Leute7 neigen dazu, mehr Leistung zu erbringen, wenn sie starke materielle Anreize erhalten, und ihre Produktivität steigert wiederum den Wohlstand der gesamten Gesellschaft, mit Einschluss der am schlechtesten Gestellten. Die Wahl einer auf materielle Anreize gegründeten Politik bedeutet also, gravierende Ungleichheiten zu akzeptieren oder die bestehenden sogar noch zu vergrößern, um auf diese Weise die am meisten Benachteiligten besser zu stellen: Wenn der Kuchen größer ist, so sind selbst seine kleinsten Stücke größer als die gleich großen Stücke eines viel kleineren Kuchens. Laut Cohen8 zeigt die Annahme einer auf Anreize gegründeten Politik durch eine Gesellschaft, dass zumindest ein maßgeblicher Teil der Bürger dieser Ge6. John Rawls, Politischer Liberalismus, übers. von Wilfried Hinsch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998, 70 f. 7. Ich übernehme hier Gerald A. Cohens Gebrauch des Ausdrucks ›begabte Leute‹, verwende ihn also nur, um damit Menschen zu bezeichnen, die »so positioniert sind, daß sie den Vorteil haben, über ein hohes Gehalt zu verfügen und ihre berufliche Tätigkeit nach dessen Höhe ausrichten zu können.« Vgl. Gerald A. Cohen: »Gerechtigkeit, Anreize und Egoismus«, in: ders., Gleichheit ohne Gleichgültigkeit. Politische Philosophie und individuelles Verhalten, übers. von Michael Haupt, Hamburg: EVA/Rotbuch, 2001, 172–195, hier: 183. 8. Vgl. Gerald A. Cohen: »Gerechtigkeit, Anreize und Egoismus«, a.a.O., und »Wo es zur Sache geht: Die Verortung der Verteilungsgerechtigkeit«, ebd., 196–216. Die Grundzüge seiner Auffassung skizziert Cohen übrigens bereits in »Incentives, Inequality, and Com-
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sellschaft (nämlich die Begabten) nicht wirklich dem Unterschiedsprinzip verpflichtet sind. Wenn die Begabten ehrlich das Unterschiedsprinzip vertreten, dann ist es nämlich natürlich, sie zu »fragen, ob ihr außerordentliches Entgelt notwendig ist, um die Lage der Bedürftigen zu verbessern, was nach dem Unterschiedsprinzip die einzig mögliche Rechtfertigung darstellt.« 9 Materielle Anreize sind nur dann als notwendig anzusehen, wenn wir voraussetzen können, dass sich die Begabten entscheiden würden, weniger hart zu arbeiten, wenn sie keine besonderen Belohnungen erhielten. Das heißt, wenn es darum geht zu entscheiden, welche Aufgabe um welchen Preis zu übernehmen ist, so wenden sie das Unterschiedsprinzip nicht an. Sie selbst machen also das Unterschiedsprinzip und das Argument der materiellen Anreize empirisch wahr. Manchmal sind Ungleichheiten notwendig, weil die Begabten sonst ihre Begabungen nicht einsetzen würden, die notwendig sind, um das Sozialprodukt zu steigern und mithin einen größeren Kuchen zu bekommen, den es zu verteilen gilt. Wie Cohen daraus schließt, »kann das Unterschiedsprinzip Ungleichheit nur in einer Gesellschaft rechtfertigen, in der nicht jeder das Unterschiedsprinzip akzeptiert.«10 Nach Ansicht von Cohen ist das Unterschiedsprinzip deshalb als Zugeständnis an die menschliche Natur und ihren laut Rawls unvermeidlichen Egoismus zu verstehen. Nichts anderes als die Entscheidung von Menschen (und allgemeiner die menschliche Natur) macht besondere Belohnungen für die Begabten – und mithin das Unterschiedsprinzip – notwendig. Gegen eine derartige Kritik wird das Anreizargument üblicherweise mit der Behauptung verteidigt, dass das Unterschiedsprinzip nur auf die Grundstruktur einer Gesellschaft anzuwenden ist; es ist ein Gerechtigkeitsprinzip für Institutionen. Der von Cohen so genannte »Grundstruktur-Einwand« passt genau zu der von Murphy als »Dualismus« bezeichneten Auffassung11, der zufolge begabte Leute wirklich den Gerechtigkeitsprinzipien verpflichtet sind, solange sie munity«, in: G. Peterson (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, Vol.13, Salt Lake City: University of Utah Press, 1992, 263–329, sowie in »The Pareto Argument for Inequality«, in: Social Philosophy and Policy 12 (Winter 1995), 168–185. 9. Cohen (2001, 186); Hervorhebung im Original. 10. Ebd., 187. 11. L.B. Murphy, »Institutions and the Demands of Justice«, in: Philosophy and Public Affairs 27/4 (Herbst 1999), 251–291. Eine ähnliche Unterscheidung trifft und erörtert Ronald Dworkin in »Foundations of Liberal Equality«, in: G.B. Peterson (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values, Vol.11, Salt Lake City: University of Utah Press, 1990, 12–34.
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gerechte Institutionen achten und gerechte Regeln befolgen. Mehr sei aber überhaupt nicht erforderlich. Deshalb kann ein auf dem Anreizargument basierendes Unterschiedsprinzip nur unter der Voraussetzung überzeugend erscheinen, dass es theoretisch und praktisch unmöglich ist, ein Gerechtigkeitsethos zu erlangen, das individuelle Entscheidungen prägt. Das Unterschiedsprinzip bringt also eine pessimistische Annahme über den menschlichen Egoismus mit sich, die mit der Bedeutung, die Rawls dem Engagement von Bürgern für Gerechtigkeit zuschreibt, unvereinbar ist. Wenn anzunehmen ist, dass den Menschen etwas an Gerechtigkeit liegt, warum sollten sie dann nicht auch bei ihren individuellen Entscheidungen von Gerechtigkeitsprinzipien geleitet sein? Laut Cohen bringt Rawls kein Argument vor, um zu erklären, warum die ungleich machenden materiellen Anreize, welche die Begabten für sich beanspruchen, notwendig sind, um die am meisten Benachteiligten besser zu stellen: Weshalb genügt der Umstand, dass die Begabten solche Anreize verlangen, um sie gerecht zu machen? Cohen schlägt vor, dass wir den einzig möglichen Grund dafür, solche Anreize als notwendig anzusehen, im Eingeständnis des menschlichen Egoismus erblicken. Ein solches Eingeständnis machte Rawls selbst bereits im 1958 erschienenen Aufsatz Gerechtigkeit als Fairneß : »Sollte der recht wahrscheinliche Fall eintreten, daß diese Ungleichheiten sich als Anreize zur Erzielung besserer Leistungen auswirken, so betrachten die Angehörigen dieser Gesellschaft sie vielleicht als Zugeständnisse an die menschliche Natur. Sie glauben vielleicht ebenso wie wir, daß die Menschen im Idealfall den Wunsch haben sollten, einander zu helfen. Da sie aber wechselseitig auf ihr eigenes Interesse bedacht sind, bedeutet ihre Anerkennung dieser Ungleichheiten lediglich, daß sie die Beziehungen, in denen sie tatsächlich zueinander stehen, annehmen und die Motive erkennen, die sie dazu führen, sich auf ihre gemeinschaftlichen Praktiken einzulassen.«12 Die kursiv gesetzte Wendung »Zugeständnisse an die menschliche Natur« wurde von Rawls getilgt, als er einen ansonsten nahezu identischen Absatz in der Theorie der Gerechtigkeit veröffentlichte.13 12. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, hg. von Otfried Höffe, übers. von Joachim Schulte, Freiburg/Br.: Alber, 1977, 49 f. (Hervorhebung hinzugefügt). 13. Vgl. Rawls (1975, 198 f.) sowie Cohens (2001, 178) Kommentar dazu.
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Dieser Wechsel beruht, wie Cohen vermutet, auf dem konstruktivistischen Ansatz, den Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit vertritt: Wie schon erwähnt, behauptet der Konstruktivismus, dass Gerechtigkeit in den Regeln besteht, denen wir in einer privilegierten Entscheidungssituation (d. h. im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens) zustimmen können. Wie Cohen betont, sollten solche Entscheidungen laut Rawls jedoch u. a. im Lichte der (als gegeben vorausgesetzten) Tatsachen der menschlichen Natur getroffen werden; eine dieser Tatsachen ist ein gemäßigter Egoismus. Da solche Tatsachen als »psychologische Grundprinzipien« gelten, die »den Menschen im Urzustand bekannt seien und von ihnen bei ihren Entscheidungen benützt werden«14, können die Konstruktivisten sie nicht als Laster bzw. als ungerechte Aspekte der menschlichen Natur ansehen. Die Wendung »Zugeständnisse an die menschliche Natur« ist also, wie Cohen folgert, deshalb weggefallen, weil es für einen Konstruktivisten keinen Sinn ergibt, etwa zu behaupten, dass der menschliche Egoismus ungerecht sei. Gerechtigkeit ist lediglich das Ergebnis eines Verfahrens, das u. a. die Berücksichtigung dessen einschließt, wie Menschen sind. Das Wissen von den grundlegenden Aspekten der menschlichen Natur bleibt vom Schleier des Nichtwissens verschont: Selbst hinter diesem Schleier verfügen wir sehr wohl weiter über solches Wissen, und dieses spielt eine gewichtige Rolle dafür, welche Prinzipien von den Beteiligten im Urzustand gewählt werden. Gerechtigkeit ist folglich das Ergebnis eines Verfahrens, das u. a. den menschlichen Egoismus berücksichtigt: Deshalb wäre es sinnlos zu sagen, dass Gerechtigkeit wegen des menschlichen Egoismus nicht vollkommen verwirklicht werden kann. 2. Prinzipien und Tatsachen: Cohens antikonstruktivistischer Ansatz Wie Cohen aus den dargelegten Gedanken schließt, wird die Tatsache, dass die Begabten Anreize verlangen, um mehr zu leisten, und dadurch die Situation der am schlechtesten Gestellten verbessern, durch das konstruktivistische Verfahren der Gerechtigkeit als Fairness nicht hinterfragt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Dem Konstruktivismus zufolge gründen alle vernünftigen normativen Prinzipien (zumindest auch) in den Gegebenheiten der menschlichen Natur und der conditio humana: »Eine Gerechtigkeitsvorstellung muß aufgrund 14. Rawls (1975, 496).
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der uns bekannten Bedingungen des menschlichen Lebens gerechtfertigt sein, oder sie ist es überhaupt nicht.«15 Cohen behauptet, dass normative Prinzipien und mithin auch Gerechtigkeitsprinzipien letztlich unabhängig von Tatsachen sind: Seiner Überzeugung nach kann ein Prinzip nur deshalb auf eine Tatsache eingehen oder antworten, weil es auch eine Antwort auf ein Prinzip ist, das seinerseits keine Antwort auf dieselbe Tatsache ist. Um zu klären, was damit gemeint ist, lege ich sein Argument im Folgenden kurz, aber hoffentlich treffend dar. Wenn wir behaupten, dass sich ein Prinzip P auf eine Tatsache T gründet, so sollten wir, sofern unsere Behauptung vernünftig ist, auch in der Lage sein zu sagen, warum das so ist. Um dies zu tun, sind wir gezwungen, uns auf ein höheres, von T unabhängiges Prinzip P1 zu berufen. Um zu erklären, warum T das Prinzip P begründet, muss P1 unabhängig davon wahr sein, ob T besteht oder nicht. Zwar ist P1 von T unabhängig, doch könnte P1 von einer anderen Tatsache T1 abhängig sein; um nun zu erklären, warum T1 wiederum P1 begründet, müssen wir uns auf ein noch höheres Prinzip P2 berufen, das unabhängig davon sein muss, ob T1 besteht oder nicht. Dieser Erklärungsprozess kann nicht unendlich fortschreiten, weil (1) eine solche unendliche Folge so etwas wie eine unendliche Einbettung von Werten verlangte, aber kaum jemand glaubt, dass es eine relativ unendliche Zahl von Werten gibt, und (2) eine unendliche Folge durch die Bedingung ausgeschlossen wird, dass die Person, die P vertritt, einen klaren Begriff davon hat, was ihre Prinzipien sind und warum sie diese vertritt: Wir können nämlich wohl annehmen, dass jemand, der eine solche Folge nicht abschließen kann, weil er immer weitermachen muss, nicht wirklich weiß, warum er die Prinzipien vertritt, die er nun einmal vertritt. Deshalb sind die obersten normativen Prinzipien von Tatsachen unabhängig. Nehmen wir etwa an, jemand vertrete das Prinzip, dass wir unsere Versprechen halten sollen (= P), weil Menschen nur dann ihre Vorhaben sicher verfolgen können, wenn Versprechen gehalten werden (= T). Dann können wir ihn fragen: Warum ist T ein Grund für P? Wahrscheinlich antwortet er durch Angabe des Prinzips, dass wir Menschen helfen sollten, ihre Vorhaben zu verfolgen (= P1). T begründet hier P aufgrund von P1, dessen Gültigkeit aber unabhängig davon ist, ob T der Fall ist: Wenn ich glaube, dass man Menschen helfen sollte, ihre Vorhaben zu verfolgen, so glaube ich das unabhängig davon, ob ich auch glaube, dass Menschen ihre Vorhaben nur dann verfolgen können, 15. Rawls (1975, 494).
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wenn Versprechen gehalten werden. Deshalb gilt P1 unabhängig davon, ob T der Fall ist oder nicht. Dieses metaethische Schema setzt Cohen nun gegen Rawls ein: Oberste Gerechtigkeitsprinzipien sind, wie überhaupt oberste normative Prinzipien, unabhängig von Tatsachen. Deshalb ist aber das Unterschiedsprinzip kein Gerechtigkeitsprinzip, denn es gründet u. a. in Gegebenheiten der menschlichen Natur; es ist vielmehr ein gutes und vernünftiges Prinzip der sozialen Regulierung, nämlich ein Prinzip, das uns erlaubt, der Gerechtigkeit so nahe wie möglich zu kommen, wenn es unmöglich ist, sie (wegen des ungerechten menschlichen Egoismus) vollkommen zu verwirklichen. Es ist tatsächlich ein gutes Prinzip; dennoch sollten wir bedenken, dass Gerechtigkeit als solche viel mehr an Gleichheit und Verpflichtung erfordert, dass sie viel anspruchsvoller ist und den Anspruch auf materielle Anreize nicht als gerechtfertigt anerkennt. Der menschliche Egoismus ist, wie Cohen hinzufügt, nicht die einzige Tatsache bezüglich der menschlichen Natur und des menschlichen Zusammenlebens, auf der das Unterschiedsprinzip beruht. Rawls zeige selbst, wie das Unterschiedsprinzip davon ausgeht, »daß in einer Wettbewerbswirtschaft (mit oder ohne Privateigentum) mit einem offenen Klassensystem in der Regel keine übermäßigen Ungleichheiten auftreten.«16 Lägen die Dinge anders, müsste das Unterschiedsprinzip verworfen werden, weil es zu viel Ungleichheit zuließe. Also gründet das Unterschiedsprinzip selbst wieder in einem höheren Prinzip, das bestimmt, wie viel Ungleichheit als übermäßig anzusehen ist. Laut Cohen wird etwas Übermäßiges »nur im Lichte eines Prinzips, das bestimmt, wie viel zu viel ist, zum Übermaß.« 17 Deshalb ist über dem Unterschiedsprinzip ein höheres Gerechtigkeitsprinzip anzunehmen, welches das Unterschiedsprinzip als ein unter der Voraussetzung, dass bestimmte Tatsachen wahr sind, vernünftiges Prinzip der sozialen Regulierung bestimmt. 3. Wie der Konstruktivismus zu retten ist Wir dürfen nicht vergessen, dass Cohen ebenso wie Rawls an keiner Stelle eine eigentliche Definition von Gerechtigkeit bietet. Er scheint auf ein intuitives Ver16. Rawls (1975, 183). 17. Vgl. Gerald A. Cohen: »Facts and Principles«, in: Philosophy and Public Affairs 31 (2003), 211–245, hier: 236, wo die Überlegungen von Rawls (1975, 582) diskutiert werden.
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ständnis davon zu bauen, was Gerechtigkeit ist, und zwar gemäß unserem alltäglichen Gebrauch von Ausdrücken wie »gerecht« und »ungerecht«. Cohen behauptet etwa, dass die Frage »Was ist Gerechtigkeit?« unabhängig ist von den Fragen »Unter welchen Verhältnissen ist Gerechtigkeit möglich bzw. notwendig?« und »Unter welchen Verhältnissen stellen sich Fragen der Gerechtigkeit?« Das heißt: Was Gerechtigkeit ist, hängt nicht von den Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit à la Hume (und Rawls) ab, nämlich einem gemäßigten Altruismus und eingeschränkten Ressourcen.18 Wenn die Frage ins Spiel kommt, was denn Gerechtigkeit ist, dann scheint Cohen aber von einer Art phänomenologischem Ansatz auszugehen: Gerechtigkeit ist genau das, was wir mit dem Ausdruck »Gerechtigkeit« meinen, dessen Bedeutung darin besteht, welchen Gebrauch wir davon machen. In einem Modell, das von »Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit« ausgeht, ist Gerechtigkeit bei extremer Ressourcenknappheit unmöglich (und bei völligem Überfluss unnötig). Stellen wir uns aber vor, jemand könnte den einzigen verfügbaren Rettungsring ergreifen, würfle aber stattdessen, um zu bestimmen, wer ihn bekommen soll; in einem solchen Fall würden wir laut Cohen nicht bloß sagen, dass diese Person unglaublich großzügig ist, sondern auch, dass sie gerecht ist. Folglich beruft sich Cohen auf unsere Intuitionen bzw. – wie wir auch sagen könnten – auf unsere »wohlüberlegten Urteile«. Meines Erachtens ist es durchaus sinnvoll, eine solche phänomenologische Auffassung von Gerechtigkeit zu vertreten. Letztlich müssen wir ja erklären, für welche Art von moralischem Phänomen der Ausdruck »Gerechtigkeit« steht. Und dann stehen wir vor der Frage: Was meinen wir, wenn wir den Ausdruck »Gerechtigkeit« verwenden? Auf welche Gegebenheiten richten wir unser Augenmerk, wenn wir sagen, dass eine Handlung, eine Entscheidung oder eine Vereinbarung gerecht ist? Das alte griechische Wort für »Gerechtigkeit«, dikaiosúnh, enthält als Wurzel das Verb dikázv, »richten«, und bedeutet wörtlich »angemessen richten, nachdem man alle Informationen und Standpunkte zusammengetragen und abgewogen hat«. Dieser Aspekt ist im lateinischen justitia erhalten und ist auch im Englischen wie in allen anderen vom Lateinischen abgeleiteten Sprachen nicht nur gegenwärtig, sondern sogar beherrschend. Außerdem wird Justitia in der Kunst allegorisch als Frau dargestellt, die in der Hand eine Waage hält und versucht, die beiden Waagschalen im Gleichgewicht zu halten. Ein drittes Bei18. Vgl. dazu Rawls (1975, 148 ff.).
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spiel für einen typischen Fall von Gerechtigkeit ist schließlich das folgende: Wenn wir einem Kind erklären möchten, was Gerechtigkeit ist, so fällt uns als einer der ersten Fälle König Salomons Urteil über die beiden Frauen ein, die um ein Kind streiten. Diese Beispiele legen nahe, dass unser Verständnis des Gerechtigkeitsbegriffs etwas mit der Lösung von tatsächlichen oder möglichen Konflikten zu tun hat. Gerechtigkeit hat nicht damit zu tun, welche Handlungen, Entscheidungen oder Motive moralisch am lobenswertesten sind. »Gerechtigkeit« ist vielmehr ein anderer Name für eine faire Behandlung von tatsächlichen oder möglichen Konflikten. Eben deshalb klingt die Annahme, »daß Fairneß der grundlegende Gedanke des Gerechtigkeitsbegriffs ist«19, intuitiv so reizvoll. Sofern wir Gerechtigkeit auf diese Weise verstehen, können wir einige Missverständnisse über die »Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit« zwar vielleicht nicht ein für allemal beseitigen, aber immerhin klären. Und zwar ist die Frage, was Gerechtigkeit ist, eben nicht unabhängig von der Frage nach den Verhältnissen, in denen Gerechtigkeitsprinzipien relevant sind, denn bei Gerechtigkeit geht es um nichts anderes als um die faire Behandlung von Situationen, in denen die Ressourcen ebenso beschränkt sind wie der Altruismus der Menschen. Die grundlegende Frage der Gerechtigkeit lautet: »Welches Handeln ist moralisch richtig, wenn die Ressourcen ebenso beschränkt sind wie der Altruismus der Menschen und deshalb Konflikte auftreten können?« Dies bringt uns zurück zu Cohens Argument über die Beziehung zwischen Tatsachen und normativen Prinzipien. Analysieren wir also eines seiner Beispiele etwas genauer: Nehmen wir an, T bestehe darin, dass Menschen ein Nervensystem haben und dass Wesen mit einem Nervensystem schmerzempfindlich sind, und P fordere, dass mit dem Körper solcher Wesen vorsichtig umzugehen sei. In diesem Fall könnten wir sagen, dass P in T gründet: Man soll mit dem Körper eines Menschen vorsichtig umgehen, weil er schmerzempfindlich ist. Aber warum ist T ein Grund für P? Die Antwort darauf ist in einem höheren normativen Prinzip P1 zu finden, dem zufolge man vermeiden sollte, anderen Schmerzen zuzufügen – oder allgemeiner: Wenn ein Wesen schmerzempfindlich ist, dann sollte man ihm keine Schmerzen verursachen. Ein solches Prinzip ist anzuwenden, wenn wir mit schmerzempfindlichen Wesen zu tun haben, doch gründet es nicht im Glauben, dass es schmerzempfindliche Wesen gibt. 19. Rawls (1977, 34).
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Wie erwähnt, ist aber unter Gerechtigkeit die faire Behandlung von tatsächlichen oder möglichen Konflikten zu verstehen – oder genauer: eine faire und moralisch richtige Regelung, wenn die Ressourcen ebenso beschränkt sind wie der Altruismus der Menschen. Demzufolge fordern Gerechtigkeitsprinzipien in Situationen, in denen die Ressourcen einigermaßen knapp sind und der Altruismus begrenzt ist, eine faire und moralisch richtige Entscheidung bzw. Regelung. Solche Prinzipien (wie P1 im vorigen Beispiel) verdanken ihre Gültigkeit nicht »allgemeinen Tatsachen« der menschlichen Natur oder anderer Art, wiewohl sie auf Verhältnisse anzuwenden sind, in denen derlei Tatsachen vorliegen. So könnten wir z. B. sagen, das Unterschiedsprinzip gebe vor, wie in Situationen, in denen Menschen Anreize brauchen, um mehr Leistung zu erbringen und so die am meisten Benachteiligten zu begünstigen, eine möglichst gerechte Verteilung erreicht werden kann. Die Gültigkeit des Unterschiedsprinzips gründet jedoch nicht in der Tatsache, dass Menschen Anreize brauchen; das Prinzip gilt unabhängig davon, ob Menschen egoistisch sind und Anreize brauchen, so wie P1 unabhängig davon gilt, ob es irgendwelche schmerzempfindliche Wesen gibt. Auch unter dieser Voraussetzung können wir freilich immer noch annehmen, dass das Unterschiedsprinzip eher im Sinne des Egalitarismus aufgefasst werden sollte, wenn auch nicht aufgrund von Cohens Argument. Ebenso können wir annehmen, dass nicht alle von den Begabten verlangten Anreize im Sinne der Gerechtigkeit anzuerkennen bzw. gerechtfertigt sind. All diese Überlegungen leugnen jedoch nicht die Tatsache, dass das Unterschiedsprinzip kein auf Tatsachen gegründetes normatives Prinzip ist. Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass in Verhältnissen, in denen Menschen wegen ihres gemäßigten Egoismus Anreize brauchen, die Verteilung von Gütern durch dieses Prinzip am ehesten fair geregelt wird, dann müssten wir auch zugestehen, dass es ein Prinzip der Gerechtigkeit ist und nicht bloß eines der sozialen Regulierung. 4. Ein tatsachenfreier Konstruktivismus Die Ablehnung des Unterschiedsprinzips oder der Gerechtigkeitsprinzipien von Rawls im Allgemeinen folgt nicht aus der Ablehnung seines von Tatsachen abhängigen Konstruktivismus. Es ist durchaus möglich, die zentralen Begriffe und die Grundlagen der »Gerechtigkeit als Fairness« auf eine Weise umzuformulieren, die von Tatsachen unabhängig ist.
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Rawls verbindet zwar mit seinen Gerechtigkeitsprinzipien Überlegungen über Tatsachen, doch hängen sie nicht unbedingt so von Tatsachen ab, wie er meint oder wie Cohen vorschlägt. Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien lassen sich als oberste Prinzipien im Sinne von Cohen verstehen, d. h. als tatsachenunabhängige Prinzipien. Mithin bedeutet Cohens metaethische These über die Beziehung zwischen Tatsachen und Prinzipien keineswegs eine Ablehnung des Konstruktivismus an sich. Vielmehr ist ein tatsachenfreier Konstruktivismus – wie derjenige, der sich aus der im vorhergehenden Abschnitt vorgeschlagenen Modifikation des rawlsschen Ansatzes ergibt – mit dieser These vereinbar. Ein solcher Ansatz ist insofern konstruktivistisch, als nicht wesentliche Werte herangezogen werden, um die Gerechtigkeitsprinzipien auszuzeichnen, sondern ein faires Verfahren, wie es z. B. durch den Urzustand gewährleistet wird. Wir haben es jedoch mit einem apriorischen Konstruktivismus zu tun, weil die Gültigkeit der Prinzipien wie auch des Verfahrens selbst nicht von irgendwelchen Tatsachen abhängt. Gemäß einem solchen tatsachenfreien Konstruktivismus kennen z. B. die Beteiligten im Urzustand die allgemeinen Tatsachen bezüglich der menschlichen Natur, doch heißt das nicht, dass die von ihnen gewählten Prinzipien von Tatsachen abhängig sind; der Urzustand dient vielmehr als Gedankenexperiment, um herauszufinden, welche Prinzipien richtig und fair sind, um eine Situation zu regeln, in der weder die Ressourcen zu knapp sind noch der Egoismus zu groß ist, also eine mögliche Konfliktsituation. Die Gültigkeit jener Prinzipien beruht jedoch nicht in irgendeinem aufschlussreichen Sinn auf Tatsachen. Anders als ein tatsachenabhängiger Konstruktivismus ist der tatsachenfreie Konstruktivismus tatsächlich in der Lage zu bestimmen, wie viel Ungleichheit zu viel ist, denn seine Prinzipien sind sogar in Cohens Sinn oberste Prinzipien: Sie setzen absolute, von Tatsachen unabhängige Grenzen dafür, wie viel Ungleichheit durch die Gerechtigkeit zugelassen wird. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen für den Status von Gerechtigkeitsprinzipien: Sind Prinzipien, die durch ein tatsachenfreies konstruktivistisches Verfahren ausgewählt werden, in Cohens Sinn oberste Prinzipien oder nicht? 5. Der normative Status von Gerechtigkeitsprinzipien Wie wir gesehen haben, hängen oberste Prinzipien laut Cohen weder von Tatsachen bezüglich der menschlichen Natur im Allgemeinen ab noch von den
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Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit im Besonderen. Meiner Überzeugung nach müssen wir diese Behauptung überhaupt nicht in Frage stellen, um den Konstruktivismus zu verteidigen. Vielmehr müssen wir uns einem ganz anderen Problem stellen, und zwar dem folgenden: Was ist der besondere Bereich von Gerechtigkeitsprinzipien im gesamten Rahmen von normativen Prinzipien im Allgemeinen? Diese Frage wird durch die in den beiden vorhergehenden Abschnitten erzielten Ergebnisse zumindest zum Teil beantwortet. Unseren Überlegungen zufolge ist Gerechtigkeit eine Frage des Gleichgewichts. Ihr Anwendungsbereich ist die faire Behandlung von miteinander unvereinbaren Ansprüchen; diese sind jedoch zur Kategorie der Tatsachen zu zählen. So können wir z. B. sagen, es sei eine Tatsache, dass die verschiedenen Menschen Ansprüche erheben, die nicht miteinander vereinbar sind. Wenn wir den Zusammenhang zwischen Tatsachen und unvereinbaren Ansprüchen auf diese Weise formulieren, ist uns indes nicht viel geholfen. Also ist eine etwas genauere Bestimmung notwendig. So können wir etwa sagen, dass die durch soziale Regulierungsprinzipien berücksichtigten relevanten Tatsachen bezüglich der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens meist damit zu tun haben, dass Menschen miteinander unvereinbare Ansprüche erheben und nicht ohne weiteres bereit sind, diese aufzugeben. Da die Individuen jeweils auf ihre eigenen Interessen bedacht sind, fällt es ihnen oft schwer zu akzeptieren, dass z. B. der Wohlstand in hohem Maße umverteilt wird. Deshalb sind soziale Regulierungsprinzipien oft eher sanft gehalten, so dass sie nicht gerade viel verlangen: Mit ihnen wird vor allem das Anliegen verknüpft, dass sie durchführbar sind; um ein befriedigendes Maß an möglicher Umsetzung gewährleisten zu können, müssen sie folglich den Gehalt normativer Prinzipien in einem beträchtlichen Maße opfern. Es hat keinen Sinn, höchst anspruchsvolle tatsachenfreie Prinzipien der sozialen Regulierung aufzustellen, wenn niemand willens oder in der Lage ist, sich daran zu halten. Welche Rolle spielen in einem solchen Rahmen nun aber Gerechtigkeitsprinzipien? Im Sinne eines tatsachenfreien Konstruktivismus bilden Gerechtigkeitsprinzipien eine Teilmenge der obersten normativen Prinzipien. Als solche erfüllen sie eine spezifische Funktion, nämlich die Herstellung und Anpassung der Verbindung zwischen Tatsachen und auf Tatsachen beruhenden sozialen Regulierungsprinzipien einerseits sowie jenen obersten normativen Prinzipien andererseits, die für den jeweils betrachteten Bereich relevant sind. Nehmen wir beispielsweise an, dass in Zusammenhang mit der Verteilung des Wohlstandes ein oberstes Prinzip herangezogen wird, das vollkommene
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Gleichheit verlangt.20 Nehmen wir weiter an, dass niemand bereit ist, sich an ein solches Prinzip zu halten, und zwar aufgrund einer Reihe von Tatsachen, die mit der Natur und dem Verhalten von Menschen zu tun haben: Egoismus, das psychische Bedürfnis nach materiellen Anreizen usw. Das sind die für jenes Problem relevanten Tatsachen, die ein vernünftiges Prinzip der sozialen Regulierung zu berücksichtigen hat. Gerechtigkeitsprinzipien schreiben vor, wie und in welchem Maße sie das tun sollen. Gerechtigkeitsprinzipien schreiben vor, in welchem Maße normative Prinzipien gerechtfertigterweise den Tatsachen um einer vernünftigen sozialen Regulierung willen geopfert werden dürfen. Sie sind also in jedem nur denkbaren Sinne oberste normative Prinzipien, denn sie erhalten ihre normative Kraft und Rechtmäßigkeit nicht durch Tatsachen. Dennoch kommt ihnen im Bereich der obersten normativen Prinzipien eine besondere Rolle zu, nämlich festzulegen, inwieweit diese Prinzipien mit Blick auf ihre Durchführbarkeit geopfert werden dürfen. Sie bilden eine Teilmenge der obersten normativen Prinzipien, indem sie eine spezifische Funktion erfüllen. Mit anderen Worten markieren sie die Schwelle, welche die sozialen Regulierungsprinzipien nicht überschreiten dürfen; sie setzen dem Verhandlungsspielraum zwischen Tatsachen und den anderen normativen Prinzipien abolute Grenzen.
6. Schlussbemerkung Wie unsere Überlegungen zeigen, erscheint ein nicht sklavisch an Rawls orientierter tatsachenfreier Konstruktivismus in mehrerlei Hinsicht als vielversprechender Ansatz. Er kann Cohens metaethischem Einwand standhalten und wahrscheinlich höhere Ansprüche erfüllen, als Cohen wahrhaben möchte. Wie ein solches Modell des Konstruktivismus weiter ausgebaut werden kann und ob noch andere Schwachstellen, Fehler und Widersprüche auszumerzen sind – diese Fragen zu beantworten, bedarf es weiterer Untersuchungen. 20. Meiner Überzeugung nach ist es nicht notwendig, ein solches Prinzip zu vertreten, um meinem Argument beizupflichten. Im gegebenen Zusammenhang geht es nicht darum, vollkommene Gleichheit als wahres und vernünftiges normatives Ideal zu akzeptieren, sondern vielmehr um Übereinstimmung in folgender Hinsicht: Welchen Gehalt die anderen obersten normativen Prinzipien auch immer haben, stehen Gerechtigkeitsprinzipien zu diesen in jener Beziehung, die ich oben erläutere.
ZUR POINTE EINER DEONTOLOGISCHEN THEORIE UND EINER DEONTOLOGISCHEN GERECHTIGKEITSKONZEPTION Werner Wolbert
Die Termini ›teleologisch‹ und ›deontologisch‹ sind in so selbstverständlichem Gebrauch, dass eine Verständigung darüber inzwischen überflüssig erscheinen mag. Dennoch zeigt sich in moralphilosophischen und -theologischen Äußerungen bisweilen eine Unklarheit über die Eigenart einer deontologischen Theorie und über das deontologische Element einer entsprechenden Gerechtigkeitskonzeption. 1. Definitionsprobleme Eine bestimmte Spielart einer deontologischen Theorie ist auch unter dem Terminus ›Intuitionismus‹ bekannt.1 Nach dieser Theorie werden bestimmte deontologisch verstandene Pflichten unmittelbar erkannt, sind also einer Begründung weder fähig noch bedürftig. Für diese Theorie steht vor allem der Name W.D. Ross; zu nennen wären aber auch H.A. Prichard und E.F. Carritt. Aus der Nachwirkung solcher Positionen ist vielleicht zu erklären, dass bisweilen eine nicht mehr hinterfragte bzw. hinterfragbare Grundprämisse deontologisch genannt wird; so etwa in der folgenden Äußerung von O. Höffe: »Andererseits enthält auch der Utilitarismus ein deontologisches Moment. Er behauptet nämlich, zumindest stillschweigend, der Grundsatz, das Wohlergehen der Betroffenen zu befördern, sei in sich gut und schlechthin verbindlich.«2 1. Wobei man darunter freilich auch jede kognitivistische metaethische Theorie verstehen kann; vgl. Wolbert (1992, 139–149). 2. Höffe (1981, 64) Bei Broad (1971, 213 f.) liest sich das so: »every Teleological theory does involve at least one a priori judgment. For it will always involve some judgment of the form: ›Anything that had a certain non-ethical characteristic (e.g., pleasantness) wood
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Und »Deontologisch ist die Ethik in der Begründung der höchsten sittlichen Grundsätze; teleologisch ist sie in bezug auf die Anwendung der Grundsätze auf bestimmte Lebensbereiche und konkrete Situationen.«3 Eine Mehrdeutigkeit ergibt sich auch bei der (teleologischen) Rede von der Güterabwägung; so etwa in der These, »daß Thomas zumindest gewisse Handlungstypen kennt, die insofern einer teleologischen Güterabwägung ›entzogen‹ sind, als sie im Dienste des Schutzes von Gütern stehen, deren einzigartige Ranghöhe die Möglichkeit einer Unterordnung unter vermeintlich höhere Güter ausschließt.«4 In diesem Sinne verdiene die Glaubenstreue immer den Vorzug vor dem »basalen Gut des physischen Überlebens«. Eine Abwägung gibt es nach dieser Aussage offenbar nur zwischen Gütern, die keine »einzigartige Ranghöhe« besitzen, die also durch etwas anderes aufgewogen werden können; damit scheint auch auf diese Weise deontologischen Normen eine gewisse Selbstverständlichkeit, Unhinterfragbarkeit eigen zu sein. Man wird hier erinnert an die kantische Unterscheidung zwischen ›Preis‹ und ›Würde‹. Für alles, was einen Preis hat, gibt es ein Äquivalent; was Würde besitzt, hat dagegen kein Äquivalent.5 Wo es um Würde geht, scheint damit der Gedanke der Güterabwägung keinen Raum zu haben. Tatsächlich verführt das hinter der Rede von der Güterabwägung stehende Bild der Waage zu einer solchen Anschauung. Ein Gewicht mag die eine necessarily be intrinsically good.‹ … They claim to express a necessary connexion between a certain non-ethical characteristic and the ethical characteristic of goodness.« Aber das ist für Broad kein deontologisches Element. Und für Sidgwick (1981, 382) gibt es ein gemeinsames selbst-evidentes Element in den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Klugheit und des Wohlwollens: »I obtain the self-evident principle that the good of any one individual is of no more importance, from the point of view (if I may say so) of the Universe, than the good of any other; unless, that is, there are special grounds for believing that more good is likely to be realised in the one case than in the other.« 3. Höffe (1981, 65). 4. Bormann (1999, 109 f.). 5. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77. Die Unterscheidung findet sich schon bei Seneca, Ep 71, 33. Vgl. Wolbert (1987, Kap. 1).
ZUR POINTE EINER DEONTOLOGISCHEN GERECHTIGKEITSKONZEPTION
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Waagschale noch so belasten, es lässt sich immer ein noch stärkeres Gegengewicht denken. Entsprechend scheint es nach dem Grundsatz der Güterabwägung keinen sittlichen Grundsatz zu geben, der nicht in bestimmten Fällen durch ein Äquivalent (etwa die mit der entsprechenden Handlung verbundenen Übel) »aufgehoben« werden könnte. Wo es dagegen kein Äquivalent gibt, kann es auch keine Abwägung geben. Entsprechend liest man bei R. Alexy: »Eine Abwägung ist erforderlich, wenn mindestens zwei Interessen, Güter, Rechte, Pflichten, Belange, Ziele oder Werte nicht gleichzeitig erfüllt, geschützt oder realisiert werden können und keine Seite von vornherein einen absoluten oder abstrakten Vorrang vor der anderen hat.«6 Legt man diese Vorstellung von Güterabwägung zugrunde, legt es sich nahe, Normen, die es mit Gütern »von einzigartiger Ranghöhe« zu tun haben, deontologisch zu nennen. Wo die Wahl zwischen Preis und Würde besteht, zwischen bedingtem und unbedingtem Wert, kann es keine Ausnahme geben; es würde sich damit um eine deontologische Norm handeln. In solcher oder ähnlicher Weise scheinen tatsächlich immer noch viele Moraltheologen und -philosophen zu denken.7 Dagegen ist festzuhalten, dass allein die für ein sittliches Urteil vorgetragenen Gründe über seine Einordnung als teleologisch oder deontologisch entscheiden können. Eine klarere Definition findet man etwa bei Macquarrie. Demnach bezeichnet Deontologie »a view of morality which takes as its fundamental categories the notions of ›obligation‹ or ›duty‹ and the ›rightness of acts‹. This deontological view of morality may be contrasted with the views which stress the end of the action (the ›good‹) sometimes called ›agathology‹ or more often ›teleology‹, … or the consequences of action, often called ›consequentialism‹.« 8 6. Alexy (1998, 181). 7. So etwa W. Korff, der zu den deontologischen Forderungen auch jene zählt, »die dem anzustrebenden Guten eine letzte grundlegende material-ethische Bestimmung zu geben suchen, wie das christliche Gebot der Liebe … oder die Kantische Forderung, den Menschen niemals ›bloß als Mittel‹ zu gebrauchen … Richtmaß ist hier die unantastbare Würde der menschlichen Person« (zitiert nach Witschen 1992, 121 Anm. 25). 8. Macquarrie (1986, 151).
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Und ähnlich äußert M. Slote 9, die Deontologie formuliere »requirements and recommendations that are at least to some extent independent of the idea of the good«. Wer sich aber auf einen unbedingten Wert beruft (was manche für typisch deontologisch halten), bringt gerade die Kategorie des Guten ein, die nach letzteren Definitionen für den Deontologen gerade nicht entscheidend ist. Nach dieser Definition wären einige der oben angeführten Anschauungen gerade nicht als deontologisch einzuordnen. 2. Der »Irrtum« der Moralphilosophie nach H.A. Prichard Im Prinzip ist es jedem unbenommen zu definieren, wie er möchte, sofern er nur seine Festlegung klar zu erkennen gibt. Nur ist zu bezweifeln, ob in den anfangs angeführten Definitionen die Pointe dessen, was man gewöhnlich eine deontologische Theorie bzw. Norm nennt, herauskommt. Die oft diffusen Vorstellungen hängen wohl auch mit der Tatsache zusammen, dass Moraltheologen und oft auch -philosophen sich kaum oder wenig mit den Oxforder Erzdeontologen H.A. Prichard, W.D. Ross und E.F. Carritt befassen. Von Ross mag das Stichwort »prima facie-Pflichten« geläufig sein. Da diese deontologisch verstandenen Pflichten bei Ross aber nur präsumtiv gelten, könnte es den Anschein haben, als sei bei dieser weichen oder »milden«10 Form von Deontologie die entscheidende Pointe verloren gegangen. Aus dieser Version ergeben sich in der Praxis schließlich keinerlei besondere Härten wie im Fall unbedingt geltender deontologischer Pflichten. Gleichwohl erscheint in anderer Hinsicht die weiche Deontologie radikaler als die harte der moraltheologischen und teilweise auch -philosophischen Tradition. Und ein Rekurs auf die genannten Autoren dürfte die Pointe einer deontologischen Ethik deutlicher machen, welche etwa in der Definition von Johnson11 deutlich wird: »it means the theory that holds that rightness – with its opposite, wrongness – is a fundamental, irreducible, and immediately apprehended ethical concept. It is thus opposed to all axiological, or value-grounded theories, 9. Slote (1992, 1236). 10. So die Begründung von Schüller (1987, 282 ff.). 11. Vgl. Johnson (1969, 1).
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which make goodness – with its opposite, badness – the single fundamental ethical concept and rightness subordinate, and derivative from, it.« In dieser Weise haben die eingangs angeführten Autoren die Deontologie zweifellos nicht verstanden; sie gründen ihre Anschauung auf eine axiologische oder agathologische Basis, sind insofern teleologisch. Was das wiederum heißt, dürfte im Rekurs auf die Oxforder Deontologen klarer werden. Deren eigentliche teleologische Opponenten sind übrigens nicht die hedonistischen Utilitaristen wie Bentham, Mill oder Sidgwick, sondern die idealen (nicht-hedonistischen) Utilitaristen wie G.E. Moore, H. Rashdall, John H. Muirhead und H.W.B. Joseph. Von den einschlägigen Texten der Oxforder Deontologen scheint übrigens nur der Aufsatz von Prichard »Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?« (»Does Moral Philosophy rest on a mistake?« – zuerst 1912 erschienen) in deutscher Sprache zugänglich zu sein. Prichard bejaht dort die gestellte Frage; er wage die Behauptung, »daß die Existenz der gesamten Disziplin, so wie sie gewöhnlich aufgefaßt wird, auf einem Irrtum beruht.«12 Der Grund dafür, dass wir eine Handlung tun sollen, sei nach dieser traditionellen Anschauung »entweder das Glück des Handelnden oder die Tatsache, daß gewisse Begleitumstände der Handlung gut sind« (the goodness of something involved in the action).13 Die erstere Antwort geben nach Prichard etwa Plato, Butler, Hutcheson, Paley und Mill.14 Auch andere Autoren beurteilen so den »mainstream« der abendländischen Ethik. So erläutert etwa F. Paulsen15, er habe in den späteren Auflagen seines Handbuches den Terminus ›Utilitarismus‹, weil es »schlechthin unmöglich« sei, ihn vor Missverständnisssen zu schützen, »mit zu spät kommender Vorsicht« durch ›teleologisch‹ ersetzt, »der zugleich den Vorzug hat, daß er an die allgemeine Weltanschauung erinnert, aus der diese Form der Ethik hervorgegangen ist, nämlich die platonisch-aristotelische. Daß jedes Wesen und so auch der Mensch eine Bestim12. Prichard (1974, 61). 13. Prichard (1974, 62). 14. Prichard (1974, 63). 15. Paulsen (1903, I 219). Blanshard hat zwar metaethische Bedenken gegen den idealen Utilitarismus eines Moore, Rashdall oder Paulsen, gibt aber zu: »Nevertheless, if there is any ethical theory toward which we claim a convergence of abler minds from Plato and Aristotle down, I think it is this« (Blanshard 1970, 289).
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mung im Universum habe, ist ihre Grundanschauung; die Aufgabe der Ethik ist, diese Bestimmung und die daraus sich ergebende Wesensgestaltung und Lebensbetätigung zu ermitteln«. Bezeichnend ist für Prichard in diesem Zusammenhang der von Platon versuchte Nachweis, dass die Gerechtigkeit nicht ein ållótrion ågayón, sondern ein o⁄keîon ågayón ist. Dieser Hinweis kann aber nach Prichard höchstens dazu führen, dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen wollen, verrate aber nicht, warum wir ihnen nachkommen sollen. Auf diesen Punkt habe Kant mit seiner Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen hingewiesen, obwohl die ersteren eigentlich keine Imperative seien. Dieser Schwierigkeit könne man zu entgehen versuchen, indem man annehme, »entweder, daß das Glück etwas ist, das an sich gut ist, und daß wir deshalb alles tun sollten, was dazu führt, oder daß das Streben nach Glück selbst gut ist, und daß die Tatsache, daß die entsprechenden Handlungen an sich gut sind, der Grund dafür ist, warum wir sie tun sollten«.16 Bei der Aussage, das Glück sei an sich gut, fehle ein Zwischenglied, nämlich »die weitere These, daß das, was gut ist, sein sollte«.17 Dieses Zwischenglied wäre für eine teleologische Theorie selbstverständlich und grundlegend, stellt aber für Prichard keine Option dar. Damit leugnet Prichard die Ureinsicht allen teleologischen Denkens, die da lautet: Wenn etwas ein Wert ist, dann verdient es, bejaht, anerkannt zu werden. Diese Ureinsicht scheint etwa auch bei Thomas von Aquin in dem Grundprinzip: bonum faciendum, malum vitandum vorausgesetzt.18 Oder mit Schüller: »Die Liebe des Menschen hat ihren verbindlichen Maßstab an der Gutheit oder am Wert dessen, worauf sie sich jeweils bezieht.«19 Für Prichard dagegen ist »X soll sein« nur die unpräzise Formulierung von »Jemand sollte Y tun, um X zu realisieren. M. a. W.: Prichard bestreitet, dass Wertungswörter wie ›gut‹ eine gerundivische Bedeutungskomponente haben.20 Der teleologischen These steht die deontologische von Prichard entgegen: 16. Prichard (1974, 64). 17. Prichard (1974, 65). 18. S.Th. I-II q. 94 a. 2 c. 19. Schüller (1987, 65). 20. Hier wird häufig auf die Definition des Oxford English Dictionary verwiesen: ›good‹ als »the most general adjective of commendation«. Vgl. auch Toulmin (1986, 70–72).
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»Ein ›sollte‹ kann, wenn es überhaupt abgeleitet werden soll, nur von einem anderen ›sollte‹ abgeleitet werden.«21 Die ethische Grundkategorie ist hier nicht die des Wertes oder des Guten, sondern die des Sollens, der Pflicht (tò déon). Nicht der Wertcharakter einer Handlung stellt das Urdatum dar, sondern das unbedingte In-Pflicht-GenommenSein. Solches Sollen (,ought‹) kann sich nur auf Handlungen beziehen; es gibt also kein Sein-Sollen (des Guten). Für Prichard wie für die andern Oxforder Deontologen ist somit die Richtigkeit einer Handlung ein fundamentales, nicht reduzierbares und unmittelbar erfasstes ethisches Konzept. Und: »…die Tatsache, daß die Handlung selbst gut ist, scheint enger mit der Verpflichtung, sie zu tun, zusammenzuhängen als die Tatsache, daß bloß ihre Konsequenzen oder Ergebnisse gut sind.«22 Am Beispiel wird m. E. die geringe Plausibilität dieser Konzeption deutlich: Es ist nicht »die Tatsache, daß der Irrtum schlecht ist, der Grund dafür…, daß es falsch ist zu lügen«, und auch nicht »die Tatsache, daß Schmerz etwa Schlechtes ist, der Grund dafür…, daß wir anderen nicht ohne einen speziellen Anlaß Schmerzen zufügen sollten.«23 Wiederum zeigt sich der Unterschied zu einer teleologischen (agathologischen, axiologischen) Theorie, für die die Kategorie des Guten bzw. des Wertes der einzige grundlegende ethische Begriff ist, auf der die Richtigkeit einer Handlung basiert. Für den Teleologen gründet das Sollen auf einem Wert, bei Prichard umgekehrt der Wert auf einem Sollen. Der ersteren im Abendland dominanten Tradition wirft Prichard vor, sie beruhe auf einem fundamentalen Fehler. Prichard appelliert an unsere tatsächlichen moralischen Überzeugungen: Wenn wir uns verpflichtet fühlen, unsere Schulden zurückzuzahlen oder gerecht zu handeln, stamme dies nicht aus der Erkenntnis, »daß wir mit diesen Handlungen etwas Gutes herbeiführen«.24 Und »das Gute liegt möglicherweise – und oft tatsächlich – nicht auf der Seite der Gerechtigkeit.«25 Anders denkt 21. Prichard (1974, 65). (An ›ought‹, if it is to be derived at all, can only be derived from another ›ought‹.) Allerdings macht Prichard nicht klar, wie ein Sollen aus einem anderen folgt; vgl. dazu Johnson (1969, 22 f.). 22. Prichard (1974, 66). 23. Prichard (1974, 66). 24 Prichard (1974, 65). 25. Prichard (1974, 66). In seinem Aufsatz »Moral Obligation« hat Prichard (1971) seine Position ausführlicher in Auseinandersetzung mit Zeitgenossen dargelegt.
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über Gerechtigkeit etwa H. Rashdall; dieser präzisiert Benthams Maxime »Every one to count for one and nobody for more than one« in: »Everybody’s good to be treated as of equal value with the like good of every one else.«26 Die moraltheologische Tradition jedenfalls dürfte hier mit Rashdall gegen Prichard stehen. Dieser erste Blick auf Prichard erweist eine häufig zu lesende Behauptung als schlichtweg falsch: Es gebe keine rein deontologische Theorie.27 Was man auch immer darunter versteht, bei Prichard ist sie zu finden. Wer anderes behauptet, ist schlecht informiert. Positiv scheint Prichard eine aktdeontologische Theorie zu vertreten. Indem man eine Situation anschaut, die Beteiligten, die Konsequenzen, die Beziehungen, in denen man steht, ergibt sich das Gefühl der Verpflichtung (sense of obligation); dieses ist »absolut primär (d. h. von nichts anderem abgeleitet) bzw. unmittelbar.« Diese »Erkenntnis ist unmittelbar, und zwar in genau demselben Sinn, in dem eine mathematische Erkenntnis unmittelbar ist, zum Beispiel die Erkenntnis, daß diese dreiseitige Figur deshalb, weil sie dreiseitig ist, drei Winkel haben muß.«28 Der falsche Eindruck, dass Verpflichtungen nicht evident seien, sondern vielmehr einer Begründung bedürften, beruht laut Prichard auf der Tatsache, »daß eine als ›Verpflichtung‹ bezeichnete Handlung vielleicht unvollständig angegeben ist«.29 So ergebe sich in Zusammenhang mit der Handlung »Dem X ein Geschenk machen« natürlich die Frage nach dem Warum, aber nur, weil die Handlung unvollständig umschrieben sei. Wir kommen also nicht durch eine Argumentation zur Erkenntnis einer Verpflichtung.30 Wir verfolgen auch mit der Handlung »keinen Zweck – weder einen, der in der Handlung selbst, 26. Rashdall (1971, I 222). 27. So etwa Spaemann (1982, 347):»Eine rein deontologische Ethik kann es gar nicht geben. Sie ist eine bloße Karikatur. Ein Mensch, dessen Moral darin bestünde, ohne Rücksicht auf die Umstände immer bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen, wäre ein nicht lebensfähiger Idiot.« 28. Prichard (1974, 69). 29. Prichard (1974, 70). 30. Vgl. Prichard (1974, 71). Wenn es keine Gründe gibt, kann es auch keine Regeln geben, was Carritt (1930, 139 Nr. 105) betont: »Nor do I think that there are any rules for conduct which we know always ought to be followed: we must always consider the whole situation in which we have to act and the ways in which our action may affect it; and consequently there is nothing to which anybody has a right. But whatever we ought to do for anybody he has a right that we should do«.
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noch einen, der in einer ihrer Folgen besteht.«31 Es gibt hier weder Zweck noch Mittel.32 Prichard unterliegt hier vermutlich einer falschen Vorstellung, die Joseph so umschreibt: »Obligatoriness is not a character of actions. There is no ought-to-be-doneness, or ought-to-be-forbornness. To say that an act is obligatory means that the doing it is obligatory on me. An obligatory act is like a well-remembered face; the face no doubt has characters because of which it is well remembered, but it is called well-remembered to signify not those characters, but that others remember it well. And an act is called obligatory because of some character which it has, but to signify not that character, but what we ought to do it because thereof.«33 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei Prichard daraus, dass ein Sollen eher von Personen ausgesagt wird als von Handlungen. Gegen Prichard muss also gefragt werden, ob man das Sollen von der Richtigkeit der Handlung ableiten kann, wenn ein Sollen nur aus einem Sollen folge. Eigenartigerweise gibt Prichard an anderer Stelle34 zu, in der teleologischen Anschauung sei ein Kern von Wahrheit: Erst wenn wir erkennen, dass ein Akt gute Konsequenzen hat, erkennen wir, dass wir dazu verpflichtet sind. Prichards Kernthese scheint einer zweifachen Konfusion zu unterliegen35: 1. Er verwechselt Unmittelbarkeit mit Unableitbarkeit und folgert aus der Unmittelbarkeit des sense of obligation seine Unableitbarkeit.
31. Prichard (1974, 72). 32. Vgl. hierzu Carritt (1930, 71f.), der ebenfalls betont, die Richtigkeit könne nicht abgeleitet werden von der Güte der Ergebnisse: »None of these theories escaped the false distinction of means and end. Nearly all moralists since Plato have attempted, and none of them with success, to prove that certain acts are right, either the acts commonly thought right in their day or some slightly emended code of their own. And this they have generally tried to do by deducing the act from the conception of a good or end which it is to achieve. But there is no such proof of moral judgments.« 33. Joseph (1933, 61 f.). 34. Prichard (1974, 66). 35. Johnson (1969, 23).
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2. Er unterscheidet nicht zwischen dem sense of obligation und der Verpflichtung selbst. Er weist nur nach, dass unser Verpflichtungssinn unmittelbar ist. Schließlich unterscheidet Prichard in diesem Zusammenhang zwischen Moralität und Tugend als unabhängigen, wenn auch verwandten Arten des Gutseins. Tugendhaft ist, wer willentlich oder gern das Gebotene tut, »nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung…, sondern aus einem Wunsch, der an sich gut ist, da er aus einem an sich guten Gefühl resultiert.«36 Dieses Gutsein ist etwas anderes »als das Gut-Sein des eigentlichen moralischen Motivs, nämlich des Gefühls der Pflicht oder Verpflichtung.«37 Am besten ist es, wenn beide Motive zugleich vorliegen. Das Thema »Verpflichtung« scheint die Oxforder Philosophen damals ausgiebig beschäftigt zu haben, wie Joseph im Vorwort betont: »For a number of years past, many of us whose studies lie in philosophy at Oxford have been perplexed by the difficulties connected with obligation. We have discussed it much among ourselves, and it has been painful for some of us to find how little we know.« Der von Anscombe später vollzogene Schwenk zur Tugendethik wird auf diesem Hintergrund m. E. erst recht verständlich (wenn sie auch auf diesen nicht eingeht).38 Aber das ist ein anderes Thema. Man könnte nun im Prinzip die Oxforder Deontologen als ein Kapitel ansehen, das bloß die Geschichte der Ethik betrifft und aktuell kaum relevant ist. Dem ist aber nicht so. Von Johnson wie auch von Ross wird nämlich diese Theorie mit der hebräisch-christlichen Tradition identifiziert39; als Vertreter werden auch genannt: Butler, Price und (mit Einschränkungen) Kant, während die andere dominante Richtung mit Platon und Aristoteles beginnt. Schließlich versucht schon Platon zu zeigen, dass Gerechtigkeit »nützt«.
36. Prichard (1974, 73 f.). 37. Prichard (1974, 74). 38. Vgl. dazu Anscombe (1981). 39. Johnson (1969, 2); Ross (1968, 3).
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3. Gerechtigkeit als deontologisches Prinzip In philosophischen Diskussionen gilt es oft als ausgemacht, dass Gerechtigkeit ein typisch deontologisches Prinzip sei. Das kann der Fall sein, deutlich etwa bei John Rawls, wenn er betont, nach seiner Vertragstheorie dienten die gleichen Freiheiten »nicht zur Maximierung der Summe der Werte an sich oder der Befriedigung. Es kommt gar nicht zu der Vorstellung, eine Wertsumme durch Änderung der Rechte der einzelnen zu maximieren.«40 Hier sei nur in Kürze darauf verwiesen, dass das etwa in der theologischen Tradition keineswegs selbstverständlich ist. So liest man etwa bei Justin Justin, Dialog XCII 3: »Wer nun … Gott, den Herrn, liebt aus ganzem Herzen und mit ganzer Kraft und den Nächsten wie sich selbst, … der dürfte wohl wahrhaft gerecht sein.« Hier ist Gerechtigkeit (als universales Tugendwort) mit der Liebe als Wohlwollen und Wohltun identisch. Für Friedrich Paulsen ist sie mit der Nächstenliebe im negativen Sinn identisch: »Gerechtigkeit als moralische Eigenschaft ist die Gesinnung und Verhaltungsweise dessen, der störende Übergriffe in das Leben und die Interessen anderer meidet und auch ihrer Verübung durch andere so viel als möglich entgegentritt. Ihre Wurzel hat sie in der Achtung vor dem Leben des anderen als einem mit dem eigenen Leben gleichwertigen Selbstzweck«.41 Besonders bemerkenswert ist hier, dass bei dem Deontologen Ross ausgerechnet die prima facie-Pflicht der Gerechtigkeit teleologisch verstanden wird.42 Diese beruhe »on the fact or possibility of a distribution of pleasure or happiness (or of the means thereto) which is not in accordance with the merit of 40. Rawls (1975, 240, Kap. 33). 41. Paulsen (1903, II 138). 42. Anders Prichard und Carritt; vgl. Johnson (1969, 9) und Witschen (1992, 113 ff.).
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the persons concerned; in such cases there arises a duty to upset or prevent such a distribution.«43 Auf die Frage, wie das Gerechtigkeitsprinzip »Jedem nach seinem Verdienst« einzuordnen ist, betont Ross, neben wichtigen Gütern wie virtue, knowledge und pleasure gebe es »a more complex good, not reducible to these, consisting in the proportionment or happiness to virtue. The bringing of this about is a duty which we owe to all men alike, though it may be reinforced by special responsibilities that we have undertaken to particular men.«44 Sofern also nicht spezielle Verantwortlichkeiten betroffen sind, sind Gerechtigkeitspflichten für Ross teleologischer Art. 4. Strafe Zum Schluss eine Bemerkung zur Eigenart einer deontologischen Straftheorie. Eine absolute Straftheorie (etwa im Stile Kants) ist zweifellos als deontologisch einzuordnen. Allerdings ist der deontologische Gehalt gar nicht so leicht zu bestimmen, u. a. weil folgende drei Fragen meist nicht auseinander gehalten werden45: 1. Wodurch ist staatliches Strafen als solches zu rechtfertigen? Aus welchen Gründen ist die Institution eines Strafrechts notwendig? 2. Unterstellt, die Legitimität des Strafrechts ist erwiesen, wer ist dann zu bestrafen? 3. Anhand welcher Kriterien ist die Art und das Maß der Bestrafung zu bestimmen? Zunächst dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass Gerechtigkeit fordert, nur den Schuldigen zu bestrafen, und dass für gleiche oder ähnliche Straftaten je43. Ross (1946, 21). 44. Ross (1946, 27); vgl. auch Ross (1946, 138): »It would seem then that, besides virtue and pleasure, we must recognize … as a third independent good, the apportionment of pleasure and pain to the virtuous and the vicious respectively.« 45. Mit Witschen (1992, 165).
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weils gleiche oder ähnliche Strafen auszusprechen sind. Damit ist aber noch nicht die erste Frage präjudiziert, warum Strafe überhaupt sein soll. Auf dieser Ebene stellt sich die Frage, ob die Strafe um eines bestimmten Zweckes verhängt werden soll, oder ob sie ihren Zweck in sich selber trägt. Es fragt sich also, welche Antwort das Prinzip der Gerechtigkeit auf die erste Frage gibt. Häufig beantwortet man dies mit der Antwort auf die zweite Frage, dass nur der Straftäter bestraft werden soll, allein »weil er verbrochen hat«.46 Ist dieses »allein, weil er verbrochen hat«, nun eine Antwort auf die erste Frage oder stellt sie vielleicht eine reine Worterklärung dar auf die semantische Frage: »Was meinen wir mit dem Wort ›Strafe‹?«. Im letzteren Fall würde auch eine relative Straftheorie diese Aussage nicht bestreiten, sondern schlicht voraussetzen. Eine Rechtfertigung der Strafe wäre aber damit nicht gegeben. Kant hätte das vermutlich anders gesehen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine Vergeltungstheorie in diesem Sinne in der Regel einen eingeschränkten Geltungsbereich voraussetzt, nämlich eine Beschränkung auf Verbrechen, auf schwerwiegende Rechtsverletzungen, durch die »das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person … gefährdet wird«.46 Somit wird die Anwendung der Vergeltungstheorie durch ein teleologisches Kriterium eingeschränkt. Eine konsequent deontologische Auffassung würde dagegen den Strafzweck der Vergeltung exklusiv setzen; sie wäre reiner Selbstzweck. Strafe wäre über jeden Straftäter zu verhängen, ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Folgen. Während für eine relative Straftheorie das Strafrecht einen subsidiären Charakter hat (für den Fall, dass Rechtssicherheit und Rechtsfriede anders nicht zu gewährleisten sind), ist es für eine absolute Straftheorie Selbstzweck. Diese Position beruht auf der scheinbar plausiblen Voraussetzung, die moralische Verwerflichkeit einer Tat sei der einzige Rechtfertigungsgrund für die Strafe. In Wirklichkeit dürfte die Gefährdung des Gemeinwohls der entscheidende Gesichtspunkt (jedenfalls für den Gesetzgeber) sein. Für das Zusammenleben wichtige Werte sollen geschützt werden. Die deontologische Theorie behauptet allerdings, dass dies nicht der relevante Gesichtspunkt ist; und darin liegt das deontologische Element. Die entscheidende Schwäche dieser Theorie scheint mir darin zu liegen, dass sie staatliches Strafen allzu sehr nach Analogie göttlichen Strafens begreift. Dagegen wäre mit Thomas von Aquin einzuwenden: »poenae praesen46. Zitiert nach Witschen (1992, 167). 47. Kant, I.: Metaphysik der Sitten, 331 (Akad.-Ausg. VI); zit nach Witschen (1992, 172).
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tis vitae magis sunt medicinales quam retributivae: retributio enim reservatur divino iudicio«.48 Eben das deutet übrigens auch Kant noch in seiner Ethikvorlesung an: »Allein die Strafe eines solchen Wesens, welches der Moralität gemäß die Handlungen bestraft, sind rächende Strafen.«49 Ein Strafen gemäß der Moralität ist also Gott vorbehalten.
48. S.Th. II-II q 66 a 6 ad 2. 49. Kant (1990, 66).
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DIE ÖKONOMISCHE KONDITIONIERUNG VON VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT Richard Sturn
1. Effizienz und die Konditionierung von Gerechtigkeit Vertreter der modernen Sozialphilosophie beschäftigen sich systematisch mit sozialtheoretisch diagnostizierbaren Milieubedingungen von Gerechtigkeit. Rawls (1971) spricht von »circumstances of justice«. Ein Hintergrund dieser Bemühungen ist das Bestreben, den normativen Begründungsrahmen für Verteilungspolitik mit »Bodenhaftung« auszustatten. Dies konvergiert mit gewissen Ansätzen der modernen Ökonomik. Bekanntlich sehen deren Vertreterinnen und Vertreter distributive Gerechtigkeit gewöhnlich in einer Abwägungs-Relation (Trade-off) zur »allokativen Effizienz«, eine Überlegung, die gelegentlich von analytischen Sozialphilosophen ebenfalls genutzt wird. Ich argumentiere in diesem Beitrag, dass die Konzeptualisierung dieses Trade-off begrifflich verschwommen, heuristisch wertvoll und verteilungspolitisch problematisch ist. Im Besonderen sollen sowohl begriffliche Probleme wie auch einige problematische Implikationen diverser Trade-off-Konzeptionen verdeutlicht werden, wie etwa damit eventuell verbundene Tendenzen zur Marginalisierung distributiver Kriterien. Nicht zuletzt zielt dieser Beitrag auf eine kritische Rekonstruktion verschiedener Varianten der Konzeptualisierung dieses Trade-off ab. Es soll verständlich gemacht werden, dass mit der Vorstellung eines Trade-off auf eine spezifische Weise die sozio-ökonomische Konditionierung distributiver Normen ausgedrückt wird, zu der es Alternativen gibt. »Sozio-ökonomische Konditionierung« resümiert hierbei die Tatsache, dass die hier interessierenden Verteilungsprobleme typischerweise mit dem Geflecht sozio-ökonomischer Interdependenzen, Produktions- und Koordinationsprobleme verwoben sind und sich nicht auf die Aufteilung exogen gegebenen »Mannas« beziehen. Ein wesentlicher Aspekt ist der Zusammenhang der Angemessenheit spezifischer Explikationen der sozio-ökonomischen Konditionierung distributiver Normen mit den jeweils – ausdrücklich oder stillschweigend – angenommenen sozio-ökonomischen Milieubedingungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Unterscheidung zweier Modellierungen sozio-ökonomischer Zusammen171
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hänge, die ideengeschichtlich vorwiegend als Kern alternativer sozialtheoretischer Paradigmen begriffen wurden: (i) Knappheitstheoretisch-statische Modellierungen sozio-ökonomischer Interdependenzen, in denen die theoretische Nutzung der Fiktion eines Naturzustandes und des hypothetischen Rückzugs aus der Gesellschaft sowohl für explanative als auch für normative Zwecke eine zentrale Rolle spielt. (ii) Dynamisch-prozessorientierte Modellierungen sozio-ökonomischer Interdependenzen, welche die Irreversibilität der Entwicklung sozialer Produktivkräfte und die Eigendynamiken (und Risken) arbeits- und wissensteiliger endogener Spezialisierung in den Blick nehmen. (i) ist die Voraussetzung der Dichotomisierung von Allokation und Verteilung bzw. Effizienz und Gerechtigkeit. Damit ist es jene Modellwelt, in die im Prinzip ganz beliebige Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit importiert werden können, also etwa kompromissloser Ressourcen- oder Wohlfahrts-Egalitarismus. Als Grenzfall kann auch die Abwesenheit jeglicher Konditionierung distributiver Normen dargestellt werden. Wie jedem einführenden Textbuch der Wohlfahrtsökonomik zu entnehmen ist, ist dies unter den Voraussetzungen des Zweiten Hauptsatzes der Wohlfahrtsökonomik (im Wesentlichen rationale Akteure, vollständiger Marktwettbewerb und die Abwesenheit von Informationsund Anreizproblemen) der Fall. (i) umfasst somit jene Modellwelten, in denen eine ganz spezifische Bedingungskonstellation der sozio-ökonomischen Konditionierung distributiver Normen analytisch besonders klar herausgearbeitet werden kann. Es ist aber auch der sozialtheoretische Rahmen von Nozicks (1974) normativer Zurückweisung jeglicher Umverteilung. (ii) ist der sozialtheoretische Rahmen einer kohärenztheoretischen Erfassung der sozio-ökonomischen Konditionierung distributiver Normen unter Aspekten ihrer institutionell-normativen Anschlussfähigkeit und Stabilisierbarkeit. Ein extremer Spezialfall einer solchen Argumentation ist jene Friedrich Hayeks, welche soziale Gerechtigkeit als systembedrohenden Fremdkörper in der normativen Infrastruktur moderner Gesellschaften verortet. Die besten Modellierungen dieses Typs werden aber, so werde ich argumentieren, zweierlei zeigen: (a) dass auch unter Bedingungen einer für die Moderne typischen Dynamik Freiheitsgrade bezüglich der Regulierung von Verteilung existieren; (b) dass konservativ-besitzindividualistische Normen der Distributionsregulierung unter Bedingungen einer für die Moderne typischen Dynamik nicht stabilisierbar sein werden.
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2. Die Normativität von Effizienz: Problemlos und zustimmungsfähig Ihre Beliebtheit als Kriterium für die Beurteilung wirtschaftspolitischer Maßnahmen und institutioneller Arrangements hat die Effizienz nicht zuletzt der Auffassung zu verdanken, Effizienz sei ein ebenso unabweisbares wie unproblematisches normatives Konzept. Zunächst ist es vorteilhaft, in skizzenhafter Form jene ökonomischen Effizienzkonzepte zu resümieren, die diese Auffassung plausibilisieren und oft auch mit dem Terminus Wertfreiheit in Zusammenhang gebracht werden. Als erste Umschreibung für Effizienz wird vielfach die Wendung »Vermeidung von Verschwendung« angeboten (die sich partialanalytisch als Maximierung von Konsumenten- und Produzentenrente präzisieren lässt). Verschwendung wird vermieden, wenn ein gegebenes Ziel mit möglichst sparsamem Mitteleinsatz erreicht wird bzw. ein bestimmtes Bewertungsprinzip (etwa Nutzen) durch einen optimalen Einsatz von Mitteln maximiert wird. Dieser Optimierungsgedanke macht – ich komme darauf zurück – vor dem Hintergrund von Knappheit bzw. Begrenztheit sowie gewissen Informationsannahmen Sinn. In dieser Definition wird deutlicher als bei der im Folgenden diskutierten Pareto-Effizienz, dass Effizienz zunächst als relationales, unselbständiges Konzept zu denken ist, d. h., Effizienz bezieht sich immer auf bestimmte Ziele, Motive oder Bewertungsprinzipien. Der materiale Anker, oder um mit Sen (1993) zu sprechen, die externe Referenz von Effizienzzuschreibungen sind immer die »Wertsysteme« von Individuen, wobei auch zukünftige (noch gar nicht existierende) Individuen als Träger solcher Wertsysteme eingeschlossen sein können. Mit all dem scheinen Ökonomen aber kein Problem zu haben. Konsumentensouveränität als normativ geladene Prämisse ökonomischer Analyse wird hierbei durchaus explizit gemacht. Im Verständnis der meisten Ökonomen wird diese mit Varianten des psychologischen Hedonismus kombiniert, wobei dieser Ansatz jedoch im Prinzip mit einer großen Varietät von Wertsystemen auf der Ebene der Individuen kompatibel ist: Dieses kann reichhaltig, komplex, reflektiert, altruistisch, zukunftsbewusst etc. sein, aber es kann auch kurzsichtig, egoistisch und einfach sein. Soziale Effizienz kann auf die Ziele einer abgeschlossenen Gruppe hin definiert sein oder auf jene der ganzen Weltbevölkerung. In einem System mit vielen »wertsouveränen« Individuen und vielen interdependenten Märkten ist der eben skizzierte Effizienzgedanke als Pareto-Effizienz auszudrücken. Die Begriffe soziale Effizienz, allokative Effizienz und Pareto-Effi-
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zienz werden synonym verwendet. Pareto-effizient nennen wir eine Allokation, zu der es keine Pareto-Verbesserung gibt. Eine Pareto-Verbesserung liegt dann vor, wenn ein Individuum oder mehrere Individuen besser gestellt werden, ohne ein anderes Individuum schlechter zu stellen. Mithin fordert Effizienz die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zu Pareto-Verbesserungen. Eine Pareto-Verbesserung scheint aber in einem individualistischen Rahmen unter sehr schwachen (manche würden formulieren: trivialen) zusätzlichen Bedingungen allgemein zustimmungsfähig zu sein. Nehmen wir einmal an, Effizienz sei im oben skizzierten Sinn tatsächlich problemlos. »Problemlos« hat in diesem Kontext eine oder mehrere der folgenden Bedeutungen: – – – –
dem Gebot der Sparsamkeit in den Prämissen Rechnung tragend; allgemein zustimmungsfähig; zu keinen ethischen Kontroversen Anlass gebend; dem Bereich wert(ungs)freier wissenschaftlicher Analyse zugehörig.
Wie verhält es sich unter dieser Voraussetzung mit dem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, von dem die Ökonomen typischerweise sprechen? Die Rede vom Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit ist nicht bloß ungereimt, sondern geradezu in sich widersprüchlich, wenn man zugleich auf den unproblematischen, »wissenschaftlichen« Charakter von Effizienz pocht. Wenn Effizienz bloß das Resümee der Bedingungen instrumenteller Rationalität auf sozialer Ebene darstellt, dann ist es nicht stimmig, das »Effizienzziel« im selben Sinne als Ziel aufzufassen wie ein Gerechtigkeitsziel. Analog zu David Humes Charakterisierung instrumenteller Vernunft kann Effizienz allein nicht Vorzugswürdigkeit begründen. Effizienz«steigerung« ist somit kein hinreichendes Motiv einer Reform sozio-ökonomischer Arrangements, es sei denn, man schreibe der Mittel-Optimierung per se unter Abstraktion vom System materialer Ziele intrinsischen Wert zu. Sehen wir von Letzterem ab, so begründet Effizienz nicht im selben Sinn wie Gerechtigkeit Relationen der Vorzugswürdigkeit alternativer sozialer Zustände, sondern enthält eine Menge von Vorschriften, an die wir uns in von Knappheit geprägten Milieus halten müssen, um anderweitig bestimmte Ziele bestmöglich realisieren zu können. Es ist also demnach nicht angemessen, von einem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit zu sprechen, wenn man Effizienz für »wertfrei« hält. Es kann keinen Zielkonflikt zwischen
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zwei Maximen geben, deren eine als rein instrumentell gilt, während die andere materiale Wertgehalte verkörpert. Für unsere Zwecke genügt es jedoch nicht zu zeigen, dass Denkweisen, die auf der Vorstellung eines Zielkonflikts zwischen einer wertgeladenen und einer wertfreien Norm basieren, in sich nicht stimmig sind. Dies könnte man als Spitzfindigkeit abtun, weil die Möglichkeit in Rechnung zu stellen ist, dass die Rede vom Zielkonflikt nur eine ungeschickte Ausdrucksweise für eine spezifische Variante der Darstellung sozio-ökonomischer Konditionierung von Verteilungsgerechtigkeit ist und die Rede von der »Wertfreiheit« für eine Art sparsamer Normativität steht, die als eine Ausprägung der modernen Ausdifferenzierung normativer Sphären verständlich zu machen ist. Somit gilt es auszuloten, was genau jene Ökonomen meinen und ausdrücken wollen, die von einem Zielkonflikt oder einem Trade-off sprechen. Um die Grundlagen effizienzbasierter Bewertungsansätze zu finden, muss die Art der Ziele/Bewertungsprinzipien näher betrachtet werden. Hierbei ist die Frage des Wertepluralismus/Monismus zentral. Ist das Ziel/Bewertungsprinzip eindimensional, wirft die Spezifizierung der Effizienzbedingungen keine konzeptuellen, sondern allenfalls technische Probleme (wie Nicht-Existenz einer Optimallösung) auf. Dies ist der Fall bei der Nutzenmaximierung eines einzelnen Haushalts, aber auch bei eindimensionalen Bewertungsprinzipien wie dem Utilitarismus. Sofern eine utilitaristische Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit vertreten wird, ist der dienende und instrumentelle Charakter von Effizienz relativ zum Ziel der gesamtgesellschaftlichen Nutzenmaximierung ebenso klar wie ihr Status als Definition notwendiger Bedingungen der Zielmaximierung. (Analoges gilt für die Anwendung des auf eine eindimensionale Metrik – z. B. Nutzen – bezogenen Differenzprinzips.) Utilitaristen haben sich um die Logik der sozio-ökonomischen Realisierungsbedingungen dessen zu kümmern, was ihrer metaphysischen Auffassung zufolge das Gute ausmacht, nämlich Nutzen. Effizienz ist davon abgeleitet relevant. Wenn dennoch im Kontext utilitaristischer Sozialer Wohlfahrtsfunktionen vielfach von einem Trade-off zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit gesprochen wird, dann kann damit nicht eine Abwägung zwischen zwei Zielen oder Werten gemeint sein. Mit dem Wort Trade-off wird hier nur in einer unpräzisen Weise folgender Umstand umschrieben: Utilitaristisch »gebotene« Korrekturen der Verteilung sind unter den Informations- und Anreizbeschränkungen realer Welten mit den sogenannten First-best-Effizienzbedingungen inkompatibel. Sie verlangen vielmehr die Spezifizierung von Bedingungen der
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Second-best-Effizienz.1 Denn die ökonomische Wohlfahrtstheorie hat einen nicht bloß heuristisch, sondern auch analytisch fruchtbaren, inhaltlich bedeutenden und im Sinne einer allgemeineren Theorie weiterführenden Ansatz der sozialtheoretischen Konditionierung von Bewertungsprinzipien entwickelt. Es ist dies eben das Konzept des Second-best, das sich aus der Berücksichtigung von Anreiz- und Informationsbeschränkungen im Kontext der Lösung von verkoppelten Allokations- und Distributionsproblemen ergibt. Die Second-best-Theorie expliziert, dass das Erreichen bestimmter technisch möglicher und normativ wünschenswerter Allokationen bei Vorliegen dieser Beschränkungen sozio-ökonomisch nicht möglich ist, weswegen Second-best-Varianten der Effizienzbedingungen zu ermitteln sind. Unter realistischen Anreizund Informationsbedingungen gilt demnach: Die Realisierung von Gerechtigkeit im Sinn verteilungsethischer Konzeptionen (z. B. des Utilitarismus) erfordert zwingend die Berücksichtigung eines Second-best-Effizienzkalküls, wohingegen es mit der Respektierung der First-best-Effizienzbedingungen nicht kompatibel ist. Dies kann man als spezifische Darstellungsform der Konditionierung von Gerechtigkeit auffassen. Es ist aber falsch, diese Inkompatibilität mit den First best-Effizienzbedingungen als Effizienzeinbuße zu umschreiben. Vielmehr lässt sich Folgendes sagen: Unter den vorausgesetzten Informations- und Anreizbeschränkungen sind a) die First-best-Bedingungen praktisch irrelevant und b) ist das erreichbare utilitaristische Optimum »schlechter« als jenes fiktive Optimum, das erreichbar wäre, wenn jene Informations- und Anreizbeschränkungen entfielen. Utilitaristisch interpretierte Verteilungsgerechtigkeit steht vom Konzept her weder in einem Konflikt mit Effizienz, noch ist sie deren Voraussetzung. Gerechtigkeit ist in Ethiken utilitaristischen Zuschnitts allenfalls eine Kurzbezeichnung für ein Cluster wohlfahrtsfunktionaler Normen und Verhaltensdispositionen – die ihrem Wesen nach nicht verschieden sind von anderen wohlfahrtsfunktionalen Phänomenen wie Produktionstechnologien (»indirekter Utilitarismus«). Im Kontext eindimensionaler Ziele/Bewertungsprinzipien werden wir mithin nur auf Trade-off-Vorstellungen stoßen, die sich entweder nicht auf Effizienz beziehen oder aber im Grunde nur ungenaue Umschreibungen von Tatbeständen darstellen, die besser anders, und zwar mit Begriffen der Wohlfahrtstheorie des Zweitbesten, zu charakterisieren sind. Dies 1. Einführend hierzu vgl. Tresch (1981, 44–59).
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ist auch nicht überraschend, da hier die logische Struktur von Ziel und Mittel die Vorstellung eines Trade-offs nur auf der Mittelebene zulässt. Bei eindimensionalen Zielen/Bewertungsprinzipien scheint der Status von Effizienz und ihre Relation zu den Zielen/Bewertungsprinzipien somit klar. Die Forderungen etwa des Utilitarismus müssen anspruchsvollere sein als jene der Effizienz. Wären sie identisch, dann läge der Verdacht nahe, dass auch die Effizienzkonzepte der modernen Ökonomik mit utilitaristischer Wertmetaphysik befrachtet sind. Dies liefe jedenfalls der von Paul Samuelson proklamierten Befreiung der Ökonomik von den vestigial traces of utilitarianism zuwider. Jedoch fordert der Utilitarismus (oder auch das auf eine Nutzen- oder Einkommensmetrik bezogene Differenzprinzip) die Respektierung von zweckmäßigerweise entsprechend der Struktur realer sozio-ökonomischer Interdependenzen adjustierten Second-best-Effizienzbedingungen. Dies sollte an sich analog für andere von Ökonomen verwendete Bewertungsprinzipien wie Wirtschaftswachstum, Güterversorgung oder Wachstum des Humankapitals gelten. In diesen Kontexten wird aber oft diese Einsicht nicht reflektiert und eine Art Wertpluralismus suggeriert. Prominentestes Beispiel hierfür ist Arthur Okuns klassisches Werk Equality and Efficiency: The Big Trade-off (1975), wo Effizienz als Wirtschaftswachstum verstanden wird. Behauptet wird ein Trade-off zwischen der Maximierung des Sozialprodukts und dessen Gleichverteilung. Analoge Konflikte zwischen der Maximierung der Akkumulation von Bildungskapital und anspruchsvollen Versionen von Chancengleichheit werden für die Bildungspolitik geltend gemacht. Eine in durchaus anspruchsvollen Textbüchern (z. B. Bernholz/Breyer 1993, 21) verbreitete Interpretation fasst sodann Pareto-Effizienz ausdrücklich als Präzisierung des materialen Ziels der reichlichen Güterversorgung auf. All diese Versionen fassen Effizienz als selbständiges materiales Ziel auf. Dies ist dem ökonomischen Theoretiker selbstverständlich unbenommen, nur sollte klar sein, dass dann jene Argumente zugunsten der sparsamen Prämissen von Effizienz verbaut sind, welche auf ihren unselbständig-instrumentellen Charakter verweisen. Die unmittelbar folgende Überlegung beruht auf der Frage: »Was bedeutet es, Pareto-Effizienz als Ziel (etwa im Sinn der »reichlichen Versorgung mit Gütern) ernst zu nehmen?« Dafür nutze ich eine Überlegung von LeGrand (1990), der den Werturteilsgehalt der Pareto-Effizienz explizit macht, indem er diese als Soziale Wohlfahrtsfunktion (SWF) rekonstruiert. Wenn Pareto-Effizienz als Soziale Wohlfahrtsfunktion betrachtet wird, dann fällt jede Menge Pareto-indifferenter Punkte mit der Indifferenzkurve einer paretianischen SWF zusam-
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men. Insbesondere fällt die Nutzenmöglichkeitsgrenze2 (die Menge aller Pareto-indifferenten Punkte, relativ zu denen es keine Pareto-Verbesserung gibt) mit der höchsterreichbaren Indifferenzkurve dieser SWF zusammen (vgl. unten Abbildung 1). Dies aber impliziert bei der allgemein angenommenen Form dieser Kurve, dass Nutzenzuwächse schlechtergestellter Individuen geringer bewertet werden als Nutzenzuwächse bessergestellter (siehe LeGrand 1990, Math. Appendix 2). Diese Eigenschaften einer paretianischen SWF weisen darauf hin, dass Pareto-Effizienz ethisch problematischer ist, als es zunächst den Anschein hat, wenn man ihre Rolle nicht strikt entsprechend ihres instrumentellen und wertmäßig unselbständigen Charakters relativiert. Anhand eines Blicks auf das Nutzenmöglichkeits-Diagramm sind diese Probleme leicht nachvollziehbar. So impliziert eine vom Pareto-Kriterium abgeleitete SWF (paretianische SWF), dass Punkt A dem Punkt B vorzuziehen ist (Abb. 1).
Abb. 1 I, II … Individuen oder Gruppen gleicher Individuen Das von Neo-Hobbesianern verwendete Zustimmungskriterium, welches nur Pareto-bessere Punkte als vorzugswürdig ausweist, besagt dagegen, dass C, nicht aber E (oder auch A) besser ist als D (Abb. 2). Ich komme darauf zurück. 2. Zu Herleitung und Eigenschaften dieser Konzepts vgl. z. B. Tresch (1981, 44–59).
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Abb. 2 I, II … Individuen oder Gruppen gleicher Individuen Die paretianische SWF liefert somit eine Reihung der Vorzugswürdigkeit, die nicht nur gegen verteilungsethische Maximen wie den Utilitarismus verstößt, sondern wohl kaum mit einleuchtenden ethischen Intuitionen zu stützen ist. Hieraus lässt sich jene Problematik von Pareto-Effizienz erkennen, die immer dann auftritt, wenn ihr wertmäßig unselbständiger Charakter und ihre Ergänzungsbedürftigkeit nicht ausdrücklich herausgearbeitet werden. Verzichtet man darauf, indem man sich darauf zurückzieht, eine »rein wissenschaftliche Effizienzanalyse« zu betreiben, leistet man dem Missverständnis Vorschub, eine auf sich allein gestellte Effizienzanalyse könne akzeptable Urteile über die Vorzugswürdigkeit von sozialen Zuständen begründen. Oder anders ausgedrückt: Man gibt Empfehlungen auf der Basis einer paretianischen Sozialen Wohlfahrtsfunktion ab, ohne eine solche ausdrücklich zu postulieren. Ein solch unreflektierter Rückzug auf die wissenschaftliche, effizienztheoretische Analyse hat daher einen hohen Preis in Form einer Konditionierung von Verteilungsgerechtigkeit, die sozialtheoretische Analysen mit implizitem verteilungsethischen Zynismus oder der Privilegierung des Status-quo verkoppelt, wobei jedoch typischerweise suggeriert wird, es handele sich um einen praxistauglichen verteilungsethischen Agnostizismus.
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3. Prekäre Konditionierung von Gerechtigkeit: Die Verselbständigung von Effizienz und ihr Preis Die eben angedeuteten Zusammenhänge sollen durch zwei Überlegungen verdeutlicht werden. Die erste bezieht sich auf aktuelle Konstellationen in der Politikberatung durch Ökonomen, die zweite auf Probleme neo-hobbesianischer Sichtweisen der Pareto-Effizienz. Erstens: Wie gezeigt, lässt sich Effizienz in einem relevanten Sinn als unproblematisch darstellen. Dagegen impliziert der Begriff Gerechtigkeit gemäß herrschender ökonomischer Lehrbuch-Sicht ebenso kontroverse wie wissenschaftsferne Werturteilsfragen, deren fehlende Ausgrenzung sich schon in Gustav Schmollers »ethisch-historischer« Nationalökonomie als Hemmnis für die Theoriedynamik erwiesen habe. Das Effizienzkriterium hingegen sei die Basis von Bewertungen sozialer Institutionen und Zustände, die wissenschaftlich zu stützen sind. Den allermeisten Mainstream-Ökonomen schwebt zudem der eingangs angesprochene Zielkonflikt zwischen »Effizienzziel« und »Gerechtigkeitsziel« vor. Wer mehr Gerechtigkeit anstrebt, muss demnach gemäß dieser Sichtweise mit Effizienzeinbußen rechnen, weil Umverteilung nicht ohne Verzerrung jenes wettbewerblichen Preissystems zu bewerkstelligen ist, das als Ausdruck korrekter Knappheitssignale für eine sozial effiziente Ressourcenallokation sorgt. Welchen Stellenwert dabei das Gerechtigkeitsziel hat, ist unter Ökonomen durchaus und auf mehreren Ebenen umstritten. Dieser Dissens hat nicht so sehr auf der Ebene der unterschiedlichen verteilungsethischen »Präferenzen« (der bei Ökonomen nicht anders als bei Philosophen oder Normalbürgern anzunehmen ist) spezifisch prekäre Implikationen: Die einen mögen Rawlsianer, die andern Utilitaristen sein, und die dritten mögen von der moralischen Verwerflichkeit jeder Umverteilung überzeugt sein. Prekär ist vielmehr der Dissens über den systematischen Ort von »Gerechtigkeitszielen« in der Politikberatung durch ökonomische Experten. Zwar entsprach es durchaus dem schulmäßigen Standard des aufklärerisch-rationalistischen Hauptstroms der Nachkriegs-Neoklassik, Gerechtigkeitsziele in Form Sozialer Wohlfahrtsfunktionen explizit in die Politikberatung einzubeziehen, etwa bei der Bewertung alternativer Projekte mittels Nutzen-Kosten-Analysen. Unter dem Eindruck diverser Ansätze der theoretischen Diskreditierung von Verteilungspolitik einerseits und der Kritik am Konzept der Sozialen Wohlfahrtsfunktion andererseits verstärkten sich aber besonders seit den 1970 er Jahren Tendenzen, die Rolle des Ökonomen als professionellen Advokaten der Effizienz allein zu definieren. Dies zeitigte folgende Situation in der ökonomischen
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Politikberatung: Ökonomen sind sich heute tatsächlich weitgehend einig über die Bedeutung allokativer Effizienz und damit des Preismechanismus. Sie sind uneinig nicht nur hinsichtlich des Inhalts von Verteilungsgerechtigkeit (dies wiegt im Prinzip nicht schwerer als der diesbezügliche Dissens beliebiger Bürger oder Philosophen), sondern v. a. hinsichtlich der Relation von Verteilung und Allokation und deren Konzeptualisierungsebenen. Der Argumentationshorizont vieler Ökonomen wird hierbei (i) vom Koordinatensystem des Trade-offs von Gerechtigkeit und Effizienz, (ii) von Ansätzen zur effizienztheoretischen Bestimmung von Verteilungsstrukturen im Anschluss an das Coase-Theorem, i. e. beispielsweise Konzepte der Vermögen maximierenden oder Transaktionskosten minimierenden Festlegung von Verfügungsrechten und (iii) von neo-hobbesianischen Modellierungen beherrscht, welche Verteilungspolitik als Rent-seeking diskreditieren. Somit wird Verteilungspolitik primär als ein Element wahrgenommen, das sowohl den (i) Preismechanismus und (ii) die Verteilung von ökonomisch relevanten Handlungsrechten als auch (iii) politische Mechanismen effizienzstörend verzerrt. Manche Ökonomen sehen Verteilungspolitik bzw. eine verteilungssensible Wahl institutioneller Arrangements in einem günstigeren Licht, weil sie zusätzliche theoretische Modellierungen im Blick haben. In diesen wird nachvollziehbar, dass Verteilungspolitik stabilitäts- und wachstumsfördernd sein kann oder die Lösung bestimmter Koordinationsprobleme erleichtert. Oder sie kritisieren die Wahl eines First-best effizienten Laisser-faire Marktgleichgewichts als normativen Referenzpunkt und wirtschaftspolitisches Leitmotiv. Typischerweise betonen aber auch diese Ökonomen, dass es sich bei allokativen Verzerrungen um reale Probleme handle. Oberflächlich betrachtet bleibt in dieser Situation als »Konsens« in der Tat die Konzentration auf allokative Effizienz, die als Orientierungskonzept für die ökonomische Praxis tatsächlich weitgehend unbestritten ist. Verteilungsfragen werden nach dieser Logik marginalisiert, weil über sie ja tatsächlich kein Konsens herrscht. Zweitens: Die Verfechter einer neo-hobbesianischen Perspektivierung des Pareto-Kriteriums ergänzen Pareto-Effizienz mit individuellen Status quo-Ansprüchen als ethisch relevante Zusatzinformation. In gewisser Weise tragen sie damit der Ergänzungsbedürftigkeit des wohlfahrtsökonomischen Pareto-Kriteriums in einer Weise Rechnung, welche ihre Verselbständigung zu einer Paretianischen SWF klugerweise verbaut – allerdings mithilfe einer problematischen Konstruktion. Vorzugswürdig sind gemäß Zustimmungskriterium allein Pareto-Verbesserungen relativ zum Status-quo. Dies macht das Pareto-Kriterium in seinen Informationserfordernissen in der Tat ungemein sparsam und prakti-
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kabel, da man sich auf die ordinale Nutzeninformation aus beobachteten Wahlakten beschränken kann. Der Preis ist jedoch zum einen eine rigorose Ausgrenzung aller anderen möglicherweise ethisch relevanten Informationen und zum anderen die ethisch geladene Voraussetzung, der Status quo sei in besonderer Weise legitimiert. Es wird somit zweierlei vorausgesetzt: (1) Der Status-quo und vertraglich vermittelte Zustimmung sind Grundlagen für die Urteile sozialer Vorzugswürdigkeit. (2) Es sind die einzig zulässigen Grundlagen. (D. h., andere Informationen – etwa über die in alternativen realisierbaren Zuständen unterschiedliche Anzahl an hungrigen Personen oder solchen, die in Sklaverei leben – sind irrelevant.) Weder (1) noch (2) ist in den Voraussetzungen von Pareto-Effizienz enthalten. Zum einen ist deren Status-quo nicht privilegiert, zum andern lässt sie im Vergleich mehrerer Pareto-indifferenter Zustände die Nutzung etwa der Information über das Auftreten von Hunger in einem der betrachteten Zustände zu. Pareto-Effizienz ist deshalb in geringerem Grade ethisch geladen als das Zustimmungskriterium; sie tendiert weniger dazu, ethisch relevante Information auszuschließen. Allerdings ist das Zustimmungskriterium informatorisch zumindest ebenso sparsam. Man kann sogar argumentieren, erstere sei durch die Beschränkung auf den Status-quo informatorisch sparsamer, da wir uns die Evaluierung hypothetischer Zustände ersparen, die keine Pareto-Verbesserungen sind. Dies trifft auch zu, aber die offenkundig starken ethischen Implikationen der Privilegierung des Status-quo machen hier auf ein Problem aufmerksam. Dieses weist auf eine allgemeine Inkongruenz zwischen Sparsamkeit in den benötigten Informationen und Sparsamkeit in den ethisch geladenen Prämissen hin, eine Inkongruenz, welche letztlich die Grundlage der Kontroversen über den Grad an Wertgeladenheit von Pareto-Effizienz bildet. In diesem Sinn ist jegliche Variante der Pareto-Effizienz in jedem Fall informatorisch relativ sparsam, da sie nur ordinaler Nutzeninformation bedarf. Dagegen ist sie nicht in dem Maße sparsam bezüglich ethisch geladener Voraussetzungen, wie dies zunächst den Anschein hat und typischerweise vertreten wird. Deswegen ist auch die undifferenzierte Rede von »Effizienz als unproblematischem Kriterium« unzutreffend. Aus einer für Ökonomen charakteristischen Perspektive mögen jene normativen Kriterien jedenfalls als besonders problemlos erscheinen, deren Anwendung auf der Basis sparsamer und gut beobachtbarer Informationen erfolgen
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kann. Dies ist aber nicht die Perspektive der ethischen Analyse. Aus dieser Perspektive besitzt nicht nur die Verwendung bestimmter Informationen ethische Konnotationen, sondern auch das Ignorieren oder Ausgrenzen bestimmter Informationen. Denn es ist a priori nicht auszuschließen, dass gerade jene ausgeschlossenen oder ignorierten Informationen sich auf den Kern weithin als wichtig erachteter ethischer Werte beziehen. Ist dies der Fall, dann ist das betreffende Kriterium zwar informatorisch sparsam, aber unter ethischen Aspekten möglicherweise mit der problematischen Voraussetzung befrachtet, dass jene ethischen Werte bedeutungslos sind. Informatorische Sparsamkeit geht dann mit »ethischer Sparsamkeit« Hand in Hand, wenn dreierlei gezeigt werden kann: – Das sparsame Kriterium ist nicht so formuliert, dass es schon vom Konzept her die Berücksichtigung ethisch relevanter Informationen ausgrenzt. – Es kann zumindest eine empirisch interessante Konfiguration von Umständen spezifiziert werden, unter der die Anwendung des sparsamen Kriteriums mit der Anwendung von Kriterien, die auf ethisch relevanter Information beruhen, kompatibel ist. – In der realen Welt sind Ansätze einer normativen Arbeitsteilung zu erkennen, welche eine Spezialisierung normativer Sphären dergestalt erkennen lässt, dass das Ignorieren von ethisch relevanter normativer Information in einer dieser Sphären auch faktisch nicht bedeutet, diese überhaupt zu ignorieren. Sparsame Kriterien sind demnach vergleichsweise unproblematisch, wenn ihre Begrenztheit, ihre Unselbständigkeit und ihre Ergänzungsbedürftigkeit ausdrücklich gemacht wird. Sie sind überdies nur dann unproblematisch, wenn ihre Ergänzbarkeit im Rahmen eines existierenden Systems normativer Arbeitsteilung gezeigt werden kann. Ethische Ergänzbarkeit und normative Arbeitsteilung sind somit im Allgemeinen die Voraussetzung dafür, dass informatorisch sparsame Prinzipien ethisch akzeptabel sind. Als Zwischenresümee ergibt sich deshalb Folgendes: In knappheitstheoretischen Modellierungen sozialer Interdependenzen liefert die Theorie des Second best eine heuristisch und analytisch ertragreiche Darstellungsform der sozioökonomischen Konditionierung von Gerechtigkeitsnormen. Um Tendenzen prekärer Marginalisierung von Verteilungsgerechtigkeit zu vermeiden, ist allerdings den eben angesprochenen Aspekten der Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzbarkeit von Effizienz als sparsamem normativem Kriterium Rechnung zu tragen.
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4. Effizienz, Gerechtigkeit und prozessorientierte Modellierungen Wie immer man das Konzept der Effizienz fasst: Effizienzbedingungen sind nur im Hinblick auf Handlungskontexte zu spezifizieren, in denen zweierlei vorausgesetzt werden kann: So etwas wie »Ziele« oder Bewertungsprinzipien und so etwas wie die Begrenztheit des entscheidungsrelevanten Raums sozialer Zustände, wie dies durch das Konzept der Ressourcenknappheit impliziert wird. Dies bedeutet erhebliche Einschränkungen im Hinblick auf das ökonomische Milieu, das vorausgesetzt wird. Bedingungen der Effizienz sind nicht zu spezifizieren hinsichtlich jener Aspekte sozio-ökonomischer Prozesse, die den Kern »genuiner Dynamik« ausmachen, also jenen Aspekten sozio-ökonomischer Prozesse, die am besten als Entwicklungen innerhalb eines open ended universe zu fassen sind. Hierzu gehören Prozesse, die durch kumulative Ursachenverkettung, Irreversibilität, Pfadabhängigkeit und endogenes Wachstums geprägt sind, also Prozesse dynamischer Arbeitsteilung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Die andere, subjektive Seite dieser Medaille genuiner Dynamik bezieht sich auf die Endogenität unserer »Präferenzen« und unseres technologischen Wissens wie auch die Begrenztheit unseres Wissens überhaupt. Wir verstehen heute so viel von dynamischen Prozessen, dass wir Konfigurationen vorzustellen vermögen, in denen weder sicheres noch probabilistisches Wissen für Prognosezwecke (etwa darüber, welche Systemzustände in den nächsten Perioden realisiert werden) zur Verfügung steht. In solchen Milieus sind Effizienzbedingungen im obigen Sinne (eines optimalen Mitteleinsatzes) nicht mehr allgemein zu spezifizieren. Die Bewertung alternativer Möglichkeiten nach Effizienzkriterien ist in solchen genuin dynamischen Systemen nur bezüglich abgrenzbarer »Partial-Welten« sinnvoll und möglich, in denen wir die Handlungsalternativen letztlich doch mit Opportunitätskosten bewerten können. Die Modellierung des sozio-ökonomischen Milieus ist nicht bloß für den Stellenwert von Effizienz bedeutend, sondern auch für die Diskussion verteilungsregulierender Prinzipien. Dies haben Philosophen wie David Hume und John Rawls gesehen, die sozialtheoretische Bedingungen als (um mit Rawls zu formulieren) circumstances of justice systematisch zu berücksichtigen bestrebt waren. Ausgangspunkt hierfür ist folgende Einsicht, die sich bei Rawls sehr explizit findet: Die Probleme sozialer Gerechtigkeit in der modernen dynamischen Marktgesellschaft sind nicht anhand einer Manna-Ökonomie bzw. am Modell eines einfachen Kuchenverteilungsproblems zu durchdenken. Gerechtigkeit bei der
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Aufteilung eines gegebenen, knappen Ressourcenbestandes »funktioniert« nicht auf dieselbe Weise wie – Gerechtigkeit bei der Aufteilung von Kooperationsvorteilen in einer Ökonomie, die aus der Bewirtschaftung knapper Ressourcen einschließlich der kooperativen Bewältigung statischer Probleme öffentlicher Güter und der Bewältigung spezifischer Kontraktprobleme am Arbeitsmarkt resultieren oder – Gerechtigkeit bei der Aufteilung der Vorteile marktvermittelter Kooperation bei dynamischer Spezialisierung, also kurz: Gerechtigkeit in dynamischen Milieus. Der Fall eines Verteilungsproblems eines knappen »Kuchens« gegebener und bekannter Größe und homogener Qualität ist nur als Referenzfall nützlich. Real existierende Kuchen müssen typischerweise erst produziert werden, bevor sie verteilt werden. Nebst der periodenweisen Produktion von Kuchen müssen jeweils auch die institutionellen Produktionsbedingungen zukünftiger Kuchen mit produziert werden. Dies wird im Konzept der »circumstances of justice« expliziert, die John Rawls (1971, 126 ff .) im Anschluss an Hume entwickelte. Diese sind hauptsächlich durch die Ko-Existenz von »moderate scarcity« (1971, 127f.) und statisch beschreibbaren Kooperationspotenzialen geprägt. Bei Hume und Rawls spielen in diesem Kontext also die Grundelemente eines knappheitstheoretischen Rahmens eine wesentliche Rolle. Jedoch kommen schon bei Hume auch Aspekte wie Lernen und endogene Präferenzen sowie die Vorstellung sozio-ökonomischer Prozessdynamiken zum Ausdruck. Es ist hier nicht der Ort, um exegetisch zu prüfen, ob sich die »circumstances of justice« jeweils vollständig knappheitstheoretisch rekonstruieren lassen oder ob sich einige der jeweils angedeuteten sozio-ökonomischen Zusammenhänge nur in prozessorientierten Modellen darstellen lassen. Vielmehr sollen im Folgenden die Implikationen prozessorientierter Modellierungen für die Frage der Konditionierung von Gerechtigkeit grob skizziert werden. Welches sind die Modifikationen, die sich auf Basis genuin dynamischer Aspekte für praktikable distributive Normen ergeben könnten? Diesbezüglich müssen einige knappe Hinweise auf Einsichten genügen, die in ganz verschiedenen Theoriekontexten Aspekte dieser Frage ansatzweise beantworten: (1) Zunächst sei jener Aspekt genannt, welcher unmittelbar und sehr einfach jene Konditionierungsform relativiert, die im knappheitstheoretischen
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Rahmen im Vordergrund steht. Sie bezieht sich auf einen möglichen Prozess-Effekt von Verteilungspolitik. Und zwar ist Folgendes denkbar: Die Dynamik des Aufbaus produktiven Sozialkapitals aufgrund der Perzeption fairer Sozialbeziehungen dominiert die verzerrenden Effekte der Informations- und Anreizbeschränkungen, die aus tendenziell egalisierender Verteilungspolitik resultieren. Der Prozess gerechtigkeitsfördernder Umverteilung würde solcherart netto nicht zu einem Schrumpfen, sondern zu einem Anwachsen des insgesamt zu verteilenden Kuchens führen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist eine empirische Frage (vgl. Bardhan/Bowles/ Gintis 2000). (2) Hayek (1976, 17–23) nutzt in Law, Legislation and Liberty evolutionärdynamische Vorstellungen und radikale Wissensbegrenzungen als Grundlage der Zurückweisung der »constructivist fallacy« des Utilitarismus. Hayek erkennt überdies, dass nur der dynamische Horizont die spezifische Bedeutung jener ökonomischen Zukunftsoffenheit plausibel macht, die das liberale Regelsystem einer marktwirtschaftlichen Ordnung auszeichnet. Moderate scarcity könnte in statischem Rahmen auch durch politisch gebundene Formen preislicher Koordination bewältigt werden. (3) Die Berücksichtigung dynamischer Milieueigenschaften legt den systematischen Einbezug pekuniärer Externalitäten der marktlichen Dynamik in den Bereich distributiver Normen nahe. Marktwirtschaftliche Dynamik in ihrer schöpferischen Zerstörung ist einerseits friktionsanfällig und krisenbedroht und andererseits auf dynamische Spezialisierung gebaut. Sie produziert – und dies oft systematisch – neben Gewinnern auch Verlierer. Denn die wichtigste materielle Grundlage der Spezialisierungsprozesse ist spezifisches, nichtdiversifizierbares Humankapital. All diese Faktoren begrenzen in ihrem Zusammenwirken die Möglichkeit individueller, marktlicher Sicherungsstrategien gegen Entwertung von Humankapital in der Dynamik marktlich vermittelter Arbeitsteilung und lassen einen politisch organisierten Risikoausgleich als stabilitätsförderlich erscheinen. Sie begrenzen marktliche Optionen, – weil bei konjunkturellen bzw. krisenhaften Friktionen Risiken korreliert sind, was marktlich vermittelten Risikoausgleich durch risk pooling verunmöglicht, – weil Humankapital darüber hinaus weitgehend nicht diversifizierbar ist, was marktlich vermitteltes risk spreading erschwert,
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– weil anreiztheoretische Gründe plus Informationsasymmetrien und die damit zusammenhängenden Unvollkommenheiten von Kredit- und Versicherungsmärkten auf die marktmäßige Glättung von Einkommensströmen über die Zeit erschweren. (4) Rawls (1971, 84) bemüht sich sehr, soziale Gerechtigkeit als quasi-pure, prozedurale Gerechtigkeit der Institutionen sozialer Kooperation zu charakterisieren: »In justice as fairness society is interpreted as a cooperative venture for mutual advantage. The basic structure is a public system of rules defining a scheme of activities that leads men to act together so as to produce a greater sum of benefits and assigns to each certain recognized claims to a share in the proceeds. … These considerations suggest the idea of treating the question of distributive shares as a matter of pure procedural justice. The intuitive idea is to design the social system so that the outcome is just whatever it happens to be, at least so long as it is within a certain range.« Rawls (1971, 201) ergänzt: »Thus on many questions of social and economic policy we must fall back upon a notion of quasi-pure procedural justice: laws and policies are just provided that they lie within the allowed range, and the legislature, in ways authorized by a just constitution, has in fact enacted them.« Diese Charakterisierung von Gerechtigkeit ist vor dem Hintergrund prozessbezogener Milieueigenschaften besser zu verstehen als vor dem Hintergrund jener Formen von Interdependenzen, Koordination und Kooperation, wie sie in statischen Modellen abgebildet werden können. Dass es einen Zusammenhang zwischen Milieubedingungen und der Form der Gerechtigkeit gibt, macht Rawls in treffender Weise am Beispiel des bereits angesprochenen einfachen Kuchenverteilungsproblems klar. Bezüglich eines solchen statischen (oder statisch reduzierbaren) Problems ist es sinnvoll, nach Regeln der perfekten prozeduralen Gerechtigkeit zu suchen. Das heißt, es macht Sinn, zuerst eigenständige Kriterien einer idealen Kuchenverteilung zu definieren und dann nach Prozeduren zu suchen, die stets diese Verteilung ergeben. Reale Welten, also die Komplexitäten sozialer Prozesse, nötigen uns hingegen zu einer Mäßigung der Ansprüche an Prozeduren. Wir können nicht von Prozeduren verlangen, stets Muster von Konsequenzen zu liefern, die im Sinne irgendwelcher normativer Standards ideal sind. Brauchbare Regeln werden im Allgemeinen unter realistischen Bedingungen nicht »perfekt« sein, wobei unter Perfektion das Liefern ethisch idealer Verteilungsmuster gemäß Kriterien wie Verdienst, charakterliche Vortrefflichkeit, Standesgemäßheit, Anstrengung oder Bedürfnis zu verstehen ist.
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Wie könnten also alternative Formulierungen der ökonomischen Konditionierung distributiver Gerechtigkeit aussehen, deren Existenz eingangs in den Raum gestellt wurde und von denen wir vielleicht erwarten dürfen, dass sie die Erfordernisse dynamischer Welten und Modellierungen besser akkomodieren als die oben skizzierte Theorie des Second-best? Die Verwendung letzterer ist, wie ausgeführt, insofern begrenzt, als sie auf knappheitstheoretisch geprägte Modellwelten zugeschnitten ist, welche die einwandfreie Verwendung von ParetoEffizienz erlauben. Kurz gefasst, ist in einem prozessorientierten sozio-ökonomischen Theoriekontext die Konzeption von Beschränkung und Ergänzung für die Darstellung der sozio-ökonomischen Konditionierung distributiver Normen unzureichend. Er ist durch die simultane Modellierung von Bedingungsund Beschränkungsrelationen zu ersetzen. Ich versuche dies durch ein Anknüpfen an die Second-best-Konzeption zu verdeutlichen. Die Second-best-Argumentation im Hinblick auf distributive Prozesse bei Anreiz- und Informationsbeschränkungen kann auf folgende Weise umgedeutet werden, die anhand eines Beispiels illustriert sei. Angenommen etwa, in einer Gesellschaft mit sehr großen Einkommensunterschieden werde der Versuch gestartet, über Nacht absolute Einkommens- oder Nutzengleichheit herbeizuführen. Es liegt nahe, dass solche Versuche zur Implementierung strikt egalitaristischer Verteilungsethiken sowohl die Anreiz- als auch die Koordinationsfunktionen des Preissystems weitgehend lahm legen werden, insofern der Umfang des dazu nötigen Steuer- und Transfersystems alle anderen Transaktionen marginalisiert. (Analoges gälte für die Durchsetzung extremer Reichtumskonzentration, die zudem mit Bedingungen für Konkurrenz konfligierte.) Dies vergleiche man nun mit dem Versuch der Implementation des rawlsschen Differenzprinzips, in dessen Kontext produktivitätssteigernde Effekte der Anreiz- und Koordinationsfunktionen des Preissystems möglichst gut genutzt werden müssen, um die schlechtest gestellten Schichten möglichst gut zu stellen. In diesem Sinn gibt es mehr oder weniger »marktkonforme« Distributionsregeln: Absoluter Egalitarismus ist im Sinne der Koordinations- und insbesondere der Anreizfunktion des Preissystems nicht marktkonform, wohingegen das rawlssche Differenzprinzip in mehrfacher Beziehung marktkonform ist, insofern seine Implementation bei moderate scarcity pretiale Koordinationsformen voraussetzt und mit Maximin-vorzugswürdigen pretialen Anreizmechanismen kompatibel ist. Das Differenzprinzip fordert eine Form der Distributionsregulierung, die sicherstellt, dass auf die Dauer und im Durchschnitt niemand, der an
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der Ökonomie beteiligt ist, in einem ethisch relevanten Sinn zum Verlierer wird. Optimistische Markttheoretiker behaupten bekanntlich seit jeher, dass genau dies auf eine völlig freie Marktgesellschaft ohne besondere Verteilungspolitik zutreffe und propagieren dies als politisches Legitimationsargument. Ein Kriterium wie das Differenzprinzip ist also nicht bloß marktkompatibel, weil es in sich eine verzerrungsminimierende Tendenz bezüglich des Preissystems enthält, sondern auch weil es ein klassisches politisches Argument zugunsten einer modernen Marktwirtschaft hinsichtlich seiner institutionell-normativen Voraussetzungen systematisch expliziert. Die eben umrissene Idee der Marktkompatibilität ist nun in Hinblick auf andere Basisinstitutionen moderner Gesellschaften auszudehnen, von denen angenommen werden kann, dass sie (i) sich wechselseitig zugleich bedingen und beschränken und (ii) in ihrer Gesamtheit eine der möglichen und stabilisierbaren institutionellen Antworten auf die Konfiguration statischer und prozessbezogener Interdependenzen in modernen Gesellschaften ist, deren Problemhorizont sozialtheoretisch als Cluster verkoppelter Koordinations- und Konfliktprobleme zu verstehen ist. Wenn wir etwa vom Problem der Distribution in demokratisch-marktwirtschaftlichen Verfassungsstaaten ausgehen, dann sind distributive Normen »lokal unbrauchbar«, die in fundamentalem Konflikt zu den Funktionserfordernissen zentraler Basisinstitutionen dieser Gesellschaften stehen. Diese Basisinstitutionen sind: – Der Staat als Institutionalisierung der Delegation von Autorität ist Voraussetzung zur Lösung jener sozialen Dilemmata, die der Bereitstellung basaler öffentlicher Güter zugrunde liegen. – Das Recht ist Grundlage der modernen Form der Regelung von Anspruchskonflikten auf der Basis der verfassungsmäßigen Gleichheit. – Kompetitive Politik ist der Rahmen für Kollektiventscheidungen. – Der Markt (Kontrakt und Tausch) ist die in einer arbeitsteilig-dynamischen Wirtschaft unentbehrliche Mediationsinstanz. Das Ensemble der Institutionen insgesamt – und nicht etwa Kontrakt, Tausch oder Privateigentum – sind als Startpunkt oder besser als Anker bzw. stabiler Fixpunkt für marktvermittelte, ergebnisoffene, innovationsfreundliche und freiwillige Kooperation zu sehen. Weshalb erfolgt beispielsweise die Festlegung auf kompetitive Politik? Unter dynamischen Bedingungen kann man sich überlegen, ob eine bestimmte Klasse politischer Mechanismen eher als andere als ko-
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evolutionäres Komplement von Recht, Staat und Markt in Frage kommt. Da monopolistisch-autoritäre Politikmechanismen (sowohl in der modern-totalitären wie auch in der traditionalistischen Variante) in einem Spannungsverhältnis zu den Erfordernissen marktlichen Wettbewerbs wie auch zum unparteiischen Charakter des Rechts stehen, ist die Klasse politischer Mechanismen auf kompetitive Mechanismen einzuschränken, wobei damit noch keine normativ anspruchsvolle Demokratieform impliziert ist. Betrachten wir nun die Frage der Konditionierung distributiver Normen. »Global unbrauchbar« sind in diesem Sinn Distributionsnormen, von denen gezeigt werden kann, dass sie mit keinem möglichen und stabilisierbaren institutionellen Arrangement kompatibel sind. Ich vermute, dass nicht viele ethisch attraktive Verteilungsnormen aufgrund globaler Unbrauchbarkeit »auszuscheiden« sind. Der Beitrag der Sozialtheorie liegt, so vermute ich weiter, auf der Identifikation »lokaler (Un-)Brauchbarkeit«. »Lokal brauchbare« Verteilungsnormen werden unter aktuellen institutionellen Verhältnissen durch jene Teilmenge der verfassungsrechtlich zulässigen definiert sein, die unter Bedingungen kompetitiver Mechanismen in Politik und Ökonomie gewisse Gleichgewichts- und Stabilitätseigenschaften besitzen. Im Sinne des Ausgeführten »lokal unbrauchbar« wären etwa distributive Normen, die – jegliche Form der Besteuerung als unzulässige »Enteignung« erklären, – nicht rechtsförmig implementierbar sind, – nicht als Gleichgewichte kompetitiver politischer Prozesse (z. B. als Wahlgleichgewichte) stabilisierbar sind oder – nicht marktkompatibel sind. Einige distributive Normen, die in der ökonomischen Wohlfahrtstheorie bzw. der analytischen politischen Philosophie viel diskutiert werden (wie utilitaristisch inspirierte Opfertheorien der Besteuerung oder Rawls’ Differenzprinzip) sind nicht prima facie »lokal unbrauchbar«. Die eben skizzierte Vorstellung der wechselseitigen institutionellen Beschränkung und Bedingung lässt sich in verschiedenen Kontexten ausführen. Sturn (2002) versucht am Beispiel der Steuergerechtigkeit zu zeigen, wie sich dieser Gedanke als Modell einer normativen Arbeitsteilung explizieren lässt, in deren Rahmen die verschiedenen normativen Sphären mit ihren Regulierungslücken einander nicht bloß ergänzen und heilen, sondern einander gerade in ihren
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Lücken bedingen, weil diese Lücken es sind, die sie für einander anschlussfähig machen. Peter Hammond (1987) hat explizit markets as constraints in einem Modell mit Anreiz- und Informationsbeschränkungen vorgestellt, worin in einem totalen Marktsystem »Märkte als Beschränkungen« unter bestimmten Bedingungen jegliche Besteuerung und auch andere Formen zentraler Koordination und Verteilungspolitik verunmöglichen. Anderseits sind offenbar marktförmige Transaktionen zuallererst eine Voraussetzung für moderne Formen der Besteuerung. Eine Konzeption von Kompatibilität, wie sie oben im Kontext der Ko-Evolution von Institutionen locker verwendet wurde, muss also wechselseitige Bedingungen wie Beschränkungen abzubilden in der Lage sein. Dies ist nicht der Fall, wenn der Startpunkt der Analyse auf eine Institution – wie Recht oder Markt – fixiert bleibt, wie dies sowohl in manchen ökonomischen wie auch in manchen neo-hobbesianischen Modellierungen der Fall ist. Dazu eine weitere Illustration: Natürlich ist es in einem bestimmten, limitierten Sinn richtig, dass wohldefinierte private Eigentumsrechte der Startpunkt für marktlichen Tausch sind. Allerdings ist schon die Konzeption modernen Privateigentums wesentlich mit freier marktlicher Veräußerbarkeit verknüpft. Betrachten wir jeweils zwei Sphären (z. B. Recht und Markt), so werden sie einander »in gewissen Grenzen« bedingen, d. h., sie werden dies im Allgemeinen unter Beibehaltung von Freiheitsgraden tun, weil ja sonst die »Anpassungspotenziale« an die Logiken der restlichen Sphären degenerierten. 5. Resümee Die von Wohlfahrtsökonomen vorgeschlagene Gegenüberstellung von Allokation/Effizienz und Verteilung/Gerechtigkeit ist heuristisch und analytisch ertragreich. Sie haben sich um die Probleme der Analyse des systematischen Orts und der Konditionierung von Verteilungsgerechtigkeit in modernen Gesellschaften – einschließlich der damit verbundenen Schwierigkeiten – sehr verdient gemacht. Damit haben sie auch zu unserem Verständnis bestimmter Spannungszonen moderner Gesellschaften viel beigetragen. Allerdings verbinden viele Ökonomen diese Gegenüberstellung nicht selten mit Dichotomien wie »wertfrei vs. wertgeladen«. Dies ist eine problematische und verzerrende Vereinfachung. Die Vereinfachung kulminiert in der Tendenz, Effizienz gleichzeitig als materialen Wert und als unproblematisches Kondensat formaler Rationalität in sozialem Rahmen zu behandeln. In Wirklichkeit macht weder
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das eine noch das andere Sinn. Weder ist Effizienz im Allgemeinen »wertfrei«, noch kann sie als alleinstehender Wert gesehen werden. Effizienz ist nicht als alleinstehendes, sondern als dienendes Kriterium konzeptualisiert. Dass die effizienztheoretische Ökonomie als Wissenschaft betrieben werden kann, ist nicht der Tatsache geschuldet, dass sie wertfrei ist, sondern dass sie in einer sorgfältig zu definierenden Weise wertoffen ist. Hieraus folgt, dass die Konzeption der sozio-ökonomischen Konditionierung distributiver Normen als Trade-off von Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit auf einer verkürzenden und problematischen Vereinfachung beruht. Einen angemessenen Ausdruck findet diese Konditionierung in einem knappheitstheoretischen Rahmen durch die Theorie des Zweitbesten und den ausdrücklichen Hinweis auf die Ergänzungsbedürftigkeit von Effizienz als normativem Kriterium. Erweitert man hingegen den Theorierahmen auf soziale Prozessaspekte, so wird auch die Modellierung sozio-ökonomischer Konditionierung distributiver Normen komplizierter. Sie wird Teil eines Komplexes wechselseitiger Bedingungen und Beschränkungen der Komponenten eines stabilisierbaren institutionellen Gefüges. Die Ausgestaltungsformen der verschiedenen institutionellen und normativen Sphären bedingen und beschränken sich wechselseitig. Ich habe den Eindruck, dass sich nicht nur die Ökonomik, sondern auch die moderne analytische Sozialphilosophie zu wenig systematisch mit den Implikationen nicht-knappheitstheoretischer, prozessorientierter Aspekte für Gerechtigkeitsfragen beschäftigt.
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GERECHTIGKEIT, GEMEINWOHL UND EFFIZIENZ EINE BEZIEHUNGSANALYSE
Christian Hiebaum
1. Entscheidungsgründe Wer sich die Frage stellt, was er in einer bestimmten Situation tun soll, kann sich nach Kant (1997, BA 40–50) an drei Imperative halten: zwei hypothetische und einen kategorischen. Das heißt, er kann drei Arten von Überlegungen anstellen. Zunächst könnte er sich fragen, welche Handlung er setzen muss, um einen Zweck zu erreichen, der seinerseits ganz und gar kontingent ist. Angenommen, einer Person P wird ein hochdotierter Job angeboten. Die Annahme des Jobs würde es ihr vielleicht ermöglichen, sich bestimmte Wünsche zu erfüllen, etwa den Wunsch nach einem teuren Auto. In diesem Fall stellt P Zweckmäßigkeitserwägungen an und orientiert sich dementsprechend an Maßstäben der Zweckmäßigkeit (»Wie viel werde ich verdienen? Reicht das aus, um mir diesen Luxus wirklich finanzieren zu können?«). P könnte sich darüber hinaus aber auch noch fragen, ob die Zwecke selbst und deren Verfolgung gut für sie sind, mithin dem entsprechen, was sie sein will, z. B. ob dieser Jobwirklich besser für sie ist als ein begonnenes Studium abzuschließen. Dann werden, wieder kantianisch gesprochen, »pragmatische« Imperative wirksam; P hat also Maßstäbe der Klugheit anzuwenden. Ziel ist nicht einfach die Erfüllung beliebiger Wünsche, sondern ein gelungenes Leben. Möglicherweise ist der Job aber darüber hinaus noch mit weiteren Kosten verbunden. Wenn P, um den Anforderungen des Jobs gerecht zu werden, sich an den Rand der Legalität begeben oder ihre Fürsorgepflichten gegenüber bestimmten Menschen verletzen müsste, würde sich die Frage stellen, ob die Annahme des Jobs jedem Menschen gegenüber vertreten werden kann. P sähe sich in diesem Fall noch mit einem (kategorischen) moralischen Imperativ konfrontiert, müsste also zusätzlich moralische Überlegungen anstellen, wobei entsprechende moralische Maßstäbe zur Anwendung kämen. Kant hat zwischen diesen drei Arten von Überlegungen, Argumenten und Maßstäben eine klare Hierarchie gesehen. Die moralischen Überlegungen ran195
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gierten aufgrund ihrer kategorischen Form höher als die Klugheitserwägungen, und diese wiederum stächen bloße Zweckmäßigkeitsargumente aus, weil sie im Gegensatz zu Letzteren auf das abzielten, was jeder naturgemäß anstrebe: Glückseligkeit. Tatsächlich ist diese Unterscheidung schon auf der Ebene individueller Überlegungen eine ausgesprochen prekäre. Wenn wir nun das Feld der Politik betreten, können wir mit Habermas (1992, 197–201) eine analoge Unterscheidung treffen, nämlich zwischen »pragmatischen«, »ethischen« und »moralischen« Diskursen.1 Angenommen, die Frage lautet, ob man einem Arbeitskräftemangel in bestimmten Branchen der Wirtschaft mit der gezielten Rekrutierung ausländischen Personals begegnen soll; solange der Diskurs auf der Ebene der Zweckmäßigkeit bleibt, handelt es sich nach Habermas um einen pragmatischen Diskurs. Dabei gehe es einerseits um die Auswahl der für die Erreichung eines bestimmten Ziels bestgeeigneten Mittel und andererseits um eine Abwägung von Zielen im Lichte akzeptierter Werte. Zur Anwendung kämen also Maßstäbe der Zweck- und Wertrationalität oder Effizienz. Werte können aber selbst thematisch werden. So könnte man sich, um bei unserem Beispiel zu bleiben, fragen, ob sich die »kulturelle Diversifizierung«, zu der Einwanderung aus fernen Ländern üblicherweise führt, mit der eigenen »Lebensform« vereinbaren lässt bzw. wie viel einem diese Lebensform wert sein soll, mit anderen Worten: ob mehr »Fremde« wirklich gut für die eigene Gemeinschaft sind. In diesem Fall führt man nach Habermas einen ethisch-politischen Selbstverständigungsdiskurs. Angewendet würden, so könnte man hinzufügen, Maßstäbe des allgemein Guten oder des Gemeinwohls. Aber gerade unser Beispiel wirft noch weitere Fragen auf: Ist es legitim, nur jene Arbeitskräfte ins Land zu lassen, die man »brauchen« kann? Was, wenn sie nicht mehr benötigt werden? Kann man sie dann wieder »repatriieren«? Haben diese Arbeitskräfte das Recht, ihre Familien nachziehen zu lassen? Das sind wieder moralische Fragen, die nach Habermas in einem moralischen Diskurs zu klären wären. In einem solchen Diskurs gehe es aber nicht mehr bloß um eine partikulare Lebensform, sondern um Regelungen, die im gleichmäßigen Interesse aller Menschen liegen. Zur Anwendung kämen also Maßstäbe der Gerechtigkeit.
1. Ob Habermas’ Terminologie eine glückliche ist, sei einmal dahin gestellt.
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2. Abgrenzungen und Verschränkungen Dieses System von Entscheidungsgründen hat nun seinen Hauptvorzug, wie gesagt, darin, dass es Vorrangrelationen enthält. Damit wiederum verbindet sich ein gewisser Orientierungsgewinn für politische und rechtsanwendende Akteure. Wir werden allerdings gleich sehen, dass die Beziehungen zwischen den Entscheidungsgründen ziemlich komplex sind – so komplex, dass sich der Orientierungsgewinn, wenn er denn überhaupt praktisch wirksam wird, in engen Grenzen hält. Von dieser Komplexität möchte ich im Folgenden zumindest eine Ahnung vermitteln. Beginnen wir unten in der Hierarchie: Der ökonomische Effizienzbegriff ist weiter als der landläufige Zweckmäßigkeitsbegriff. Letzterer unterstellt nämlich, dass Zwecke irgendwie vorgegeben (oder gesetzt) sind und Rationalität sich nur mehr auf die Wahl der Mittel bezieht. Tatsächlich aber besteht zwischen Zielen und Mitteln ein Abwägungszusammenhang. Schon die Wahl des Ziels kann aus der Perspektive der Effizienz irrational sein. Wenn ich mir als jemand, der nicht Klavier spielen kann, das Ziel setze, binnen eines Jahres Konzertpianist zu werden, und diesem Ziel alles andere unterordne, dann handle ich sicher unvernünftig. Ebenso unvernünftig agiert ein Staat, der in der tiefsten Rezession beschließt, die öffentlichen Ausgaben radikal zu kürzen, um zu einem ausgeglichenen Budget zu gelangen. Die Ausgabenkürzung mag durchaus ein geeignetes und erforderliches Mittel dazu sein. Unvernünftig ist aber schon die Zielsetzung. Kurz: Welche Ziele ich mir vernünftigerweise setze, hängt von meinen Ressourcen und natürlich auch von anderen Zielen ab. Umgekehrt hängt von den Zielen, die ich anstrebe, ab, wie viele Ressourcen ich mir aneignen kann. Bin ich genügsam, werde ich kaum zu jenen Mitteln gelangen, die ehrgeizigere Ziele anstrebenswert, weil nicht von vornherein unerreichbar erscheinen lassen. Effiziente Entscheidungen sind daher solche, die einen möglichst großen Nettonutzen bewirken. Effizienzanalysen benötigen aber immer einen Referenzzustand, mit dem real mögliche Zustände verglichen werden können. Dieser Referenzzustand kann nur der jeweilige Status quo sein. Das wiederum bedeutet: Die Bewertung von sozialen Zuständen unter dem Gesichtspunkt der Effizienz orientiert sich an den tatsächlichen Präferenzen der beteiligten Individuen. Diesen wird Präferenzsouveränität unterstellt. Von ihnen wird also angenommen, dass sie selbst am besten wissen, was für sie gut ist (siehe Koller 2002, 50 f.). Insofern Effizienzanalysen aber alle Präferenzen, moralische wie egoistische, prinzipiell
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gleich behandeln, ordnen sie sich nicht von selbst dem moralischen Diskurs unter. Dieser hat den Effizienzdiskurs in seine Schranken zu weisen, indem er geltend macht, dass eine Assimilierung moralischer Präferenzen an schlicht ökonomische der Bedeutung Ersterer nicht gerecht wird. Wobei mit »Bedeutung« nicht einfach das Gewicht gemeint ist, das die Einzelnen ihnen beimessen. Meine Präferenz für eine Weltgesellschaft, in der niemand verhungern muss, ist von vornherein schwerlich kommensurabel mit meiner Präferenz für ein möglichst hohes Einkommen. Ein Ökonom könnte aber auch die These vertreten, dass die Aussicht auf subjektiv als fair empfundene Behandlung einen Anreiz zu produktiver Arbeit darstellt und deshalb als Voraussetzung für ein effizientes Wirtschaftssystem anzusehen ist (siehe Sturn/Held/Kubon-Gilke 2002, 17–21 und 40). Andererseits übernehmen dezidiert postmetaphysische, namentlich vertragstheoretische Gerechtigkeitskonzeptionen oft Züge aus dem »Sprachspiel« der Effizienz. Der Grund dafür liegt wohl darin, dass Präferenzsouveränität gut zum fundamentalen moralischen Prinzip der individuellen Autonomie zu passen scheint. Maßstäbe der Effizienz sind aber auch Gemeinwohlmaßstäben untergeordnet, da sie keine Kritik an Präferenzen begründen können, die über die Feststellung hinausgeht, dass es angesichts der vorhandenen Ressourcen und der Intensität anderer Präferenzen unvernünftig wäre, jenes Ziel anstatt dieses Ziels anzustreben. Anders als Gemeinwohlargumente müssen Effizienzargumente nämlich die Intensität bestehender Präferenzen als gegeben voraussetzen. Allenfalls könnte die Ressourcenausstattung für gewisse »Interventionen« in die eigene Präferenzordnung sprechen. Ansonsten muss, wer Effizienz anstrebt, empirische Erhebungen durchführen, Prognosen anstellen und, wenn er ein Kriterium verwendet, das – wie das Kaldor-Hicks-Kriterium – Gewinner und Verlierer zulässt, Gewinne und Verluste berechnen.2 Darüber hinaus beziehen Effizienzanalysen objektive Interessen nur soweit mit ein, wie sie sich gerade mit bestehenden Präferenzen decken. Wer es hingegen auf das Gemeinwohl abgesehen hat, der führt – zumindest soweit das Gemeinwohl nicht mit der Effizienz zusammenfällt – mit sich oder anderen einen Diskurs. Dabei kommen, 2. Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium der Effizienz ist ein Wechsel vom Status quo zu einem Alternativzustand dann zu befürworten, wenn er wenigstens einer der beteiligten Personen so große Vorteile bringt, dass eine vollständige Entschädigung derjenigen, die daraus Nachteile erleiden, möglich ist. (Nach dem Pareto-Kriterium hingegen muss zumindest eine Person etwas gewinnen, ohne dass eine andere Person Verluste erleidet.)
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mit Ronald Dworkin (2000, 242–245) gesprochen, Annahmen über das kritische Wohl ins Spiel, Vorstellungen über das (individuelle) gute Leben, die sich nicht vollends auf kontingente Präferenzen reduzieren lassen. Sie steigert, mit anderen Worten, die objektive Qualität des individuellen Lebens. Das gute Leben bildet aber nicht schon selbst ein Interesse. Vielmehr ist es der Hintergrund, vor dem kritische Interessen überhaupt erst bestimmt werden können. Dass sich das Gute völlig unabhängig von dem realisiert, was die Einzelnen für gut halten, braucht man deshalb aber noch nicht anzunehmen (siehe etwa Parfit 1987, 502). Zumal ein gewisses Maß an Autonomie ebenfalls als ein wichtiges Gut betrachtet werden kann.3 Mein Interesse an einer Politik, die mich nicht von Almosen anderer abhängig macht, ist beispielsweise so ein kritisches Interesse. Von Almosen anderer zu leben, ist meinem kritischen Wohl abträglich, selbst wenn mir dies aus welchen Gründen immer gleichgültig wäre. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, eine gewisse Anzahl freundschaftlicher Beziehungen zu unterhalten. Der misanthropische Einzelgänger führt ein schlechteres Leben als jemand, dem es gelingt, wenigstens zu einigen Menschen ein Verhältnis der Zuneigung und des Vertrauens aufzubauen. Ob der misanthropische Einzelgänger an seiner Persönlichkeitsstruktur leidet oder nicht, ist dabei zweitrangig. Allerdings beeinträchtigt ein Paternalismus, der mich niemals eigene Fehler machen lässt, ebenfalls die Qualität meines Lebens und liegt somit nicht in meinem Interesse. Natürlich können Ansichten über das Gemeinwohl mit ihrem Motivationspotenzial wieder als Präferenzen in die Effizienzanalyse eingehen. Wenn aber Präferenzen als solche zur Debatte stehen, reichen Effizienzkriterien oft nicht mehr aus. Dann wird eben diskutiert und nicht gerechnet. Bisweilen jedoch fordert das Gemeinwohl selbst nichts anderes als Effizienz. Nicht jede einzelne Präferenz muss dann auf ihre Gemeinwohlkompatibilität hin geprüft wer3. Außerdem müssen die Menschen im Großen und Ganzen durchaus an dem, was in ihrem objektiven Interesse liegt, interessiert sein. Das heißt, ihre Interessen müssen meistens als Handlungsmotive oder Motive für die Affirmation fremder Entscheidungen in Frage kommen. Andernfalls würde der Begriff des Interesses im Diskurs gar keine Rolle spielen, weil er gänzlich unverständlich wäre. Dies ergibt sich aus der Notwendigkeit, Menschen, mit denen wir kommunizieren, möglichst viel Rationalität zu unterstellen. Es ist Ausfluss des berühmten »principle of charity« (Davidson 1990, 197 ff.). Jede einzelne Interessenbestimmung kann natürlich falsch sein. Wären wir jedoch generell außerstande, unsere eigenen objektiven Interessen und die der anderen korrekt zu bestimmen, hätte der Begriff des objektiven Interesses keinerlei Bedeutung.
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den. Was immer man gegen die klassische Rechtfertigung kapitalistischer oder marktförmiger Wirtschaftssysteme einwenden möchte, Gemeinwohl kann durchaus ein bloßer Nebeneffekt eines Handelns mehrerer Individuen sein, das auf die Maximierung eines mehr oder weniger kurzfristigen, anspruchslos verstandenen Eigennutzens abzielt. So sind Unternehmen gewöhnlich nicht auf das Wohl der Gemeinschaft verpflichtet, sondern tragen gerade dadurch zu dessen Beförderung bei, dass sie nach Profitmaximierung streben. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dieses Strebens dagegen sind sehr wohl vor dem Hintergrund moralischer Annahmen und Gemeinwohlkonzeptionen zu rechtfertigen. Und dass diese Rahmenbedingungen immer wieder nachjustiert werden müssen, um diversen Fällen von »Marktversagen« vorzubeugen, dass also zumindest solche politischen Interventionen in den »freien Markt« notwendig sind, dürfte außer Frage stehen. Dabei wird natürlich wieder mit dem Argument der Effizienz gearbeitet, aber eben weil Effizienz selbst bisweilen im allgemeinen Interesse liegt oder sogar ein Gebot der Gerechtigkeit ist. Weiters ist ein Unterschied zu machen zwischen dem, was dem Wohl einer partikularen Gemeinschaft dient, und dem, was die Gerechtigkeit verlangt. Nun mögen Aristoteliker Recht haben, wenn sie sagen, dass in ungerechten Verhältnissen kein wirklich gutes Leben möglich ist. Es mag also durchaus stimmen, dass zumindest eklatante Menschenrechtsverstöße das Gemeinwohl nicht wirklich befördern können. So wie individueller Reichtum, der mit schwer kriminellen Methoden erwirtschaftet wurde, dem kritischen Wohl eher abträglich als dienlich ist. Auch dem marxistischen Traum von der gerechten, weil klassenlosen Gesellschaft liegt die schon beim Evangelisten Markus (8, 36) zu findende Einsicht zugrunde, dass noch der größte materielle Profit dem nichts nützt, der dafür an seiner Seele Schaden nimmt (Cohen 2002, 181). Gleichwohl wäre es verfehlt, Gerechtigkeit und Gemeinwohl gleichzusetzen. Vielleicht ist Erstere, genauer: eine halbwegs gerechte Grundstruktur der Gesellschaft, eine notwendige Bedingung für Letzteres. Sie scheint aber keinesfalls eine hinreichende Bedingung zu sein. Andererseits geht es immer auch um Gerechtigkeit, wenn eine Gemeinschaft (in Gestalt des Gesetzgebers oder des Richters) über das reflektiert, was für sie gut ist. Wenn ein Individuum von seiner Autonomie Gebrauch macht, kann es dabei mehr oder weniger vernünftig vorgehen. Es kann sich aber kaum selbst ungerecht behandeln. Allenfalls täuscht es sich über die Grenzen seiner Autonomie oder unterschätzt seinen eigenen Wert. Man denke nur an den Sklaven, der die Ideologie der Skla-
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venhalter internalisiert hat.4 Wenn hingegen eine Gemeinschaft von ihrer Autonomie Gebrauch macht, verändern sich zugleich die Beziehungen zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern. Und damit wird aus dem Gemeinwohldiskurs unweigerlich ein Gerechtigkeitsdiskurs. Wir sollten daher präziser sein und sagen: »Ein Fremder hätte ebenfalls eine bestimmte Überzeugung hinsichtlich unseres Wohls, wenn er sich unsere Perspektive zu Eigen machen würde. Wenn der andere zu unserer Gemeinschaft gehören oder wenigstens wie ein Mitglied die Dinge betrachten würde, dann würde er sehen, dass die Maßnahme M oder die Unterlassung von M das Beste für uns ist.« Wer auf das Gemeinwohl abstellt, mutet den anderen also eine Identität als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft zu. Diese Identität wird offen angesprochen. Sie wird argumentativ gebraucht. Zum Beispiel: »Österreich ist ein souveräner Staat, und unter den gegebenen Umständen ist es am besten für ihn und seine Bürger, wenn möglichst viel für seine Landesverteidigung aufgewendet wird.« Oder: »Für Österreich ist eine alternative Sicherheitspolitik besser, und im Übrigen passt militärische Hochrüstung gar nicht zu uns.« Moralisch wäre dagegen das Argument: »Militärische Aufrüstung ist geboten, weil jeder souveräne Staat sich – wenigstens eine Zeitlang – selbst verteidigen können muss und nicht erwarten darf, dass andere diese Aufgabe für ihn erledigen. Würde er das tun, wäre er ein Trittbrettfahrer.« Allerdings setzt auch die Beantwortung von Gerechtigkeitsfragen oft gemeinwohlbezogene Annahmen oder Erwägungen voraus. So hängt die Frage, ob eine Ungleichbehandlung moralisch zulässig ist oder eine unzulässige Diskriminierung darstellt, nicht selten davon ab, ob sie im Allgemeininteresse liegt. In solchen Fällen darf der Begriff des Gemeinwohls aber kein bloß empirischaggregativer Begriff sein. Er muss vielmehr bereits eine ethische Bewertung von Interessen beinhalten. Wäre das allgemeine Interesse lediglich ein Aggregat kontingenter individueller Präferenzen, würde die Möglichkeit, bei der genauen inhaltlichen Bestimmung des Gleichheitsrechts darauf zu rekurrieren, Letzteres ziemlich zahnlos machen. 4. Andererseits: Wenn wir unser Leben als Abfolge gar nicht oder nur schwach integrierter Identitäten ansehen, dann können wir uns auch auf die kantianische Vorstellung von Pflichten gegenüber sich selbst einen neuen Reim machen. Demnach wären wir unserem zukünftigen Selbst ähnlich verpflichtet wie anderen Personen. Unkluge Entscheidungen wären, so betrachtet, vielleicht nicht irrational, aber moralisch falsch. Siehe dazu Parfit (1987, 318 ff.).
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Oft verschränken sich also Gerechtigkeits- und Gemeinwohlargumente. Mit einem Wort, wir haben es mit einer Beziehung des wechselseitigen Supplementierens zu tun. Dennoch kommt der Gerechtigkeit, wie wir gleich sehen werden, ein Restprimat zu. Zuvor möchte ich aber noch kurz auf zwei Fragen zur Konzeptionierung des Gemeinwohls näher eingehen: (1) Lassen sich Gemeinwohlargumente rein individualistisch formulieren, und (2) wie könnte ein plausibles Gemeinwohlkriterium überhaupt aussehen? Meine Antwort auf die erste Frage habe ich bislang lediglich angedeutet. Sie lautet: nur im Wege gewisser Idealisierungen. Mit den real existierenden Individuen und ihren aktuellen Präferenzen kommt man nicht sehr weit. Nicht, dass ich einem Anti-Individualismus oder Kollektivismus das Wort reden möchte. Nur sollte klar sein, dass der Individualismus mit jeder idealisierenden Zusatzbedingung ein wenig an Schärfe verliert, wenn man so will: eine kollektivistische Note erhält. Ein anspruchsvoller Gemeinwohlbegriff muss also nicht unbedingt anti-individualistisch strukturiert sein; im Gegensatz zu diversen Präferenzindividualismen, die das Gemeinwohl weitgehend mit der Effizienz zur Deckung bringen, hätte er aber auf das abzustellen, was Dworkin »kritische Interessen« nennt, mithin auf Interessen, über die man sich auch täuschen kann, indem man einem Irrtum darüber erliegt, was überhaupt gut für einen ist. Diverse hedonistische Theorien des individuell Guten sind damit ausgeschlossen. Wer einigermaßen plausible (wenn auch nicht unbedingt vollständige) Auflistungen kritischer Interessen sucht, möge sich an Rawls’ Konzeption der Grundgüter oder einfach diverse Menschenrechtskataloge halten. Dass diesen Interessen wie immer schwache Vorstellungen vom guten Leben zugrunde liegen, dürfte auf der Hand liegen. Mein Vorschlag für ein Gemeinwohlkriterium würde sich an Rawls’ Differenzprinzip orientieren. So könnte man sich wieder einmal Personen vorstellen, die über ihre eigene Position in der Gesellschaft nichts wissen. Man imaginiert also Personen, die sich in so etwas wie dem berühmten Urzustand befinden, also hinter dem »Schleier der Unwissenheit« eine Entscheidung darüber treffen, was gut für die Gemeinschaft ist (siehe Rawls 1975, Kap. 3). Allerdings kennen die Gemeinschaftsmitglieder die Position der Gemeinschaft in der (Welt-) Gesellschaft, insbesondere im Ensemble vergleichbarer Gemeinschaften. Und sie sind mit der Geschichte sowie den materiellen und immateriellen (»kulturellen«) Ressourcen der Gemeinschaft vertraut. Vor allem aber wissen sie, dass ihr kritisches Wohl enger mit dem Schicksal des
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Kooperations- und Solidarzusammenhangs, der die fragliche Gemeinschaft mehr oder weniger ist, verbunden ist als das Wohl von »Fremden«. Sie haben ein unmittelbareres Interesse als andere an der gerechten Verteilung von Gütern und Lasten, der Vermeidung von Grundrechtsverletzungen, einem funktionstüchtigen öffentlichen Verkehrsnetz, öffentlicher Sicherheit, sozialem Frieden, einem gewissen Kunstangebot und einem angemessen demokratischen Diskursniveau innerhalb der Gemeinschaft. Was sie nicht wissen, ist lediglich, wo jeder Einzelne von ihnen innerhalb der Gemeinschaft steht und welche Präferenzen er gerade hat. Unter diesen Bedingungen, könnte man vermuten, werden sie sich vernünftigerweise auf folgendes Kriterium einigen: (G) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn sie das Interesse von mindestens einem Gemeinschaftsmitglied befördert und wenn die aus ihr resultierende Beeinträchtigung des kritischen Wohls der am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder weniger stark ausfällt als die Beeinträchtigung des kritischen Wohls der durch die Unterlassung der Maßnahme am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder. Und sie dient umso mehr dem Gemeinwohl, je weniger stark sie im Vergleich zu ihrer Unterlassung das kritische Wohl der am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder beeinträchtigt. Mit besagtem Kriterium wäre jedenfalls klargestellt, dass sich das Wohl der Gemeinschaft nicht völlig losgelöst vom Wohl der Gemeinschaftsmitglieder konzipieren lässt. Weiters wird das Kriterium auch der allgemein als solcher anerkannten Möglichkeit gerecht, dass das Allgemeininteresse und einzelne Individualinteressen divergieren. Außerdem impliziert es, dass die Gemeinschaftsmitglieder Gleiche sind. Eine Gemeinwohlrhetorik, der eine apriorische Gleichsetzung von Eliteninteressen mit dem Interesse der Gemeinschaft zugrunde liegt, ist mit ihm unvereinbar. Und schließlich verdeutlicht unser Kriterium, dass die Ermittlung des Gemeinwohls keine bloße Rechenaufgabe, sondern ein durchaus komplexes evaluatives Unternehmen ist, zumal die Bestimmung kritischer Interessen Annahmen über das Gute erfordert und das Wohl von Personen auch von den Beziehung zwischen ihnen abhängt. Dass ein so verstandenes Gemeinwohl Gerechtigkeit aber nicht überflüssig macht oder gar übertrumpft, möchte ich nun im letzten Abschnitt zeigen.
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3. Der Primat der Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist ein komplexes Konzept, vor allem in einer moralisch nicht perfekten Welt. Unter idealen Bedingungen wäre alles relativ einfach. In der realen Welt muss sich die Moral differenzieren und insbesondere auch gegen allzu weitreichende moralische Zumutungen, hinter denen ein durchaus attraktives Ideal stehen mag, schützen. Das tut sie vor allem in Form von Freiheitsrechten. Wer von einem solchen Recht Gebrauch macht, braucht sich nicht mehr weiter zu rechtfertigen, jedenfalls nicht vor der Gesellschaft als solcher. Dass die genaue inhaltliche Bestimmung von Grundrechten oft Gemeinwohlüberlegungen erfordert, haben wir schon festgestellt. Ebenso, dass eine Politik, die das Gemeinwohl befördert, notwendigerweise Gerechtigkeitsfragen aufwirft, da mit ihr notwendigerweise Güter und Lasten zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern verteilt werden. Aber wie steht es mit unmoralischen Gemeinschaftsakten gegenüber anderen Gemeinschaften? Was, wenn sich ein Staat ein fremdes Territorium einverleibt, indem er die dort lebende Bevölkerung vertreibt oder gar tötet. Nehmen wir an, eine solche Maßnahme gereicht allen Gemeinschaftsmitgliedern zum ökonomischen Vorteil. Könnten wir hier nicht von einer Beförderung des Gemeinwohls durch einen krass unmoralischen Akt sprechen? Nun, wenn wir uns an eine aristotelisch gefärbte ethische Theorie halten, dann werden wir das wohl verneinen müssen. Nach einer solchen Theorie kann man sein wohlverstandenes, mithin kritisches Wohlergehen nur dadurch steigern, dass man Herausforderungen des Lebens meistert – und zwar innerhalb der Grenzen der Moral, welche selbst eine bedeutende Herausforderung darstellt. Zumindest könne man sein Wohlergehen nicht durch krasse Immoralität befördern (so z. B. Dworkin 2000, 263–267). Aber selbst wenn wir einen etwas anspruchsloseren Gemeinwohlbegriff bevorzugen würden, hätten wir mit einer solchen Vorgangsweise noch Probleme: eben moralische. Voraussetzung ist natürlich, dass wir einen Gerechtigkeitsbegriff vertreten, dessen Fundament die Gleichheit bildet. Nach dieser Auffassung bildet die Gleichheit aller Menschen den unverletzlichen Kern oder zumindest einen »side constraint« der Gerechtigkeit. Auf Gleichheit gegründete Gerechtigkeit geht dem Gemeinwohl immer vor, wenn schon das bestehende Gemeinschaftsverhältnis, von dem Gemeinwohlüberlegungen (ähnlich den Effizienzerwägungen) ihren Ausgang nehmen, als ungerecht anzusehen ist. Wenn man also das Gemeinwohl nicht mit der Gerechtigkeit zu-
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sammenfallen lassen will, dann ist es durchaus denkbar, dass eine Politik, die es auf die Herstellung von Gerechtigkeit oder die Beseitigung von Ungerechtigkeiten (vor allem die Beseitigung von Diskriminierungen und Privilegierungen) abgesehen hat, auch anspruchsvollere, ethisch imprägnierte Gemeinwohlkriterien nicht erfüllt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass, was die Gerechtigkeit verlangt, oftmals nicht ohne Rekurs auf das entschieden werden kann, was im Allgemeininteresse liegt. Ein Beispiel: Wenn durch eine Maßnahme (etwa durch eine Reform des Stiftungsrechts, die dem Staat zusätzliche Steuereinnahmen bringt) die finanziell am besten Gestellten zugunsten der wirtschaftlich Schwächeren große Einkommenseinbußen erleiden und die Maßnahme als Gemeinwohl befördernd ausgegeben wird, dann müssen die Belasteten folgendes Argument entkräften: Auf diese Weise würden zwar einige ihrer Interessen beeinträchtigt, die Maßnahme diene aber noch insofern ihrem kritischen Wohl, als das Geld in den gemeinschaftlichen Kooperations- und Solidarzusammenhang zurückfließe; außerdem könne das kritische Wohl unter ungerechten Verhältnissen ohnehin niemals realisiert bzw. durch eine Steigerung beträchtlichen materiellen Wohlstandes kaum noch gefördert werden; wenn der Staat dagegen weniger krasse Ungerechtigkeiten beseitige, indem er zur Finanzierung von Investitionen vor allem ungerechtfertiges Einkommen von weniger Begünstigten heranzieht, oder sich einfach für Untätigkeit entscheide, dann beeinträchtige er das kritische Wohl der Belasteten stärker. Was aber, wenn der Staat durch eine geringfügigere Belastung des wesentlich breiteren Mittelstands deutlich mehr Mittel lukrieren könnte? Nun, wenn es tatsächlich wesentlich mehr Mittel sind, die dann wieder in die Gemeinschaft zurückfließen (in Form von öffentlichen Gütern oder Transferzahlungen, welche die Massenkaufkraft erhöhen), wird eine solche Maßnahme eher dem Gemeinwohl dienen, zumal dadurch das kritische Wohl der Belasteten weniger stark beeinträchtigt wird. Gleichwohl – und das ist der entscheidende Punkt – ließe sich die Stiftungsrechtsreform eventuell rechtfertigen, aber eben nicht mit Gemeinwohl-, sondern mit Gerechtigkeitsargumenten. Kurz: Die Beseitigung moralisch ungerechtfertigter Privilegien Einzelner muss keineswegs das Gemeinwohl befördern. Ja, es könnte sogar sein, dass ein Entzug der Privilegien in die kritischen Interessen der Privilegierten stärker eingreift als es kritische Interessen anderer fördert. Nichtsdestoweniger wäre eine solche Maßnahme moralisch gerechtfertigt oder sogar geboten.
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Gemeinwohlüberlegungen erscheinen daher prinzipiell konservativer als Gerechtigkeitserwägungen. Das heißt, sie bleiben noch stärker auf den Status quo der Gemeinschaft bezogen. Allerdings weniger stark als Effizienzerwägungen, die lediglich auf tatsächlich bestehende Präferenzen und nicht auf ethisch reflektierte, kritische Interessen abstellen. Unser Fazit lautet also: Auch wenn die eingangs konstatierte Hierarchie der Wertmaßstäbe bei näherer Betrachtung aufgrund zahlreicher Interdependenzen gehörig aufgeweicht erscheint, ist sie nicht vollends kollabiert. Effizienzerwägungen können durch Gemeinwohl-, und Gemeinwohl- durch Gerechtigkeitserwägungen ausgestochen werden. Das Umgekehrte ist ausgeschlossen. Mithin bestimmen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlkriterien, wo und inwieweit Effizienzerwägungen zum Tragen kommen können; der Anwendungsbereich von Gemeinwohlargumenten, die für die Realisierung eines moralisch suboptimalen Zustands sprechen, wird durch die Gerechtigkeit limitiert. Und nicht immer ist das moralische Optimum im strengsten Sinne moralisch geboten. Schließlich hält die Gerechtigkeit für Individuen und Gemeinschaften auch das Recht bereit, sich nicht jederzeit von den hehrsten Motiven leiten zu lassen.
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LITERATUR
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RAWLS’ THEORIE DER GLOBALEN GERECHTIGKEIT UND DIE NOTWENDIGKEIT EINER RETROSPEKTIVEN KULTURELLEN LEGITIMIERUNG DER MENSCHENRECHTE Paul Nnodim
(1) Das Recht der Nationen, wie es von Rawls in A Theory of Justice (1971) vorgesehen wird, hat einige seiner Mitstreiter, wie etwa Charles Beitz (1979) und Thomas Pogge (1989; 1994) dazu veranlasst, eine kosmopolitische Überarbeitung von Rawls’ »Gerechtigkeit als Fairness« vorzuschlagen. In einer in diesem Sinne umformulierten »Gerechtigkeit als Fairness« sollte eine gänzlich egalitäre Theorie globaler Verteilungsgerechtigkeit, die Lösungswege für Probleme globaler Gerechtigkeit aufzeigt, zum Ausdruck kommen (siehe Wenar 2001, 85). Zweifelsohne zielen die Positionen von Beitz und Pogge darauf, Rawls zu einem Richtungswechsel in seiner Auffassung zur internationalen Gerechtigkeit zu bewegen. Zahlreiche Kritiker sehen in Rawls’ Auffassungen zur internationalen Gerechtigkeit einen wesentlichen Widerspruch zu seinen auf Landesebene konzipierten egalitären, liberalen Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit. Die kosmopolitische Auffassung von Beitz und Pogge stellt eine Alternative zu Rawls’ nationenzentrierter Konzeption internationaler Gerechtigkeit dar. Im Gegensatz zu Rawls vertreten Beitz und Pogge in Hinblick auf globale Gerechtigkeit eine Auffassung von internationaler Gerechtigkeit, in welcher die einzelne Person als ein an der internationalen Gesellschaft partizipierendes Mitglied und als ein legitimes Subjekt internationaler Gerechtigkeit verstanden wird, ungeachtet der zufälligen Umstände ihrer Herkunft, gesellschaftlichen oder biographischen Stellung. Nach kosmopolitischen Bestrebungen sollte die internationale Gesellschaft die Haltung einer globalen Union der Gesellschaften – einer cosmopolis – annehmen. Personen und nicht so sehr Nationen oder Staaten sollten ihre konstituierenden Elemente bilden (siehe Nardin 1981, 234). Mit der Publikation von The Law of Peoples (1999), welche die Erweiterung von Political Liberalism (1996) in Hinblick auf Themen der internationalen Beziehungen und der globalen Gerechtigkeit darstellt, setzt Rawls – sehr zur Enttäuschung seiner Mitstreiter – seinen Gedankengang des »sozialen Liberalismus« fort (siehe Beitz 1999, 515–529). Erneut bekräftigt er seine Position zur 209
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globalen Gerechtigkeit, welche besagt, dass der Bereich globaler Gerechtigkeit und der Bereich der Beziehungen zwischen den Nationen keine kosmopolitische Konzeption einer Verteilungsgerechtigkeit umfasse. In der Diskussion um internationale Gerechtigkeit ist es, wie Nardin (1981, 233) richtigerweise herausstellt, von immanenter Bedeutung, zu spezifizieren, ob es um die Rechte von Individuen oder von Nationen geht, da diese zwei Möglichkeiten, die Subjekte internationaler Gerechtigkeit aufzufassen, tendentiell zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Aus dieser Perspektive betrachtet ignoriert Rawls’ Auffassung von internationaler Gerechtigkeit, wie sie in The Law of Peoples dargelegt wird, »Personen« und begnügt sich mit dem Begriff der »Völker« (verstanden als Gesellschaften beziehungsweise Nationen) als primäre Subjekte internationaler Gerechtigkeit. Die so konzipierte internationale Gerechtigkeit ist geprägt von einer Idee der Kooperation zwischen Gesellschaften, die nach Rawls intern wohlgeordnet sind. Die Art der vorgesehenen Kooperation fußt auf Prinzipien der Nicht-Aggression, auf Beachtung des internationalen Rechts der Völker und auf Unterstützung belasteter Gesellschaften (siehe Hinsch 2001, 58 f.). So sieht Rawls’ (1999, 37) internationales Recht der Völker Folgendes vor: »1. Peoples are free and independent, and their freedom and independence are to be respected by other people. 2. Peoples are to observe treaties and undertakings. 3. Peoples are equal and are parties to the agreements that bind them. 4. Peoples are to observe a duty of non-intervention. 5. Peoples have the right of self-defense but no right to instigate war for reasons other than self-defense. 6. Peoples are to honor human rights. 7. Peoples are to observe certain specified restrictions in the conduct of war. 8. Peoples have a duty to assist other peoples living under unfavorable conditions that prevent their having a just or decent political and social regime.« Ein egalitäres Prinzip, das – ähnlich dem Differenzprinzip – zur Regulierung der Verteilung der Lasten sozialer und wirtschaftlicher Kooperation unter »Personen« über Nationen hinweg dienen kann, fehlt jedoch völlig in The Law of Peoples. Die Anwendung des Differenzprinzips sei laut Rawls auf globaler Ebene nicht gerechtfertigt. Anders als beim Differenzprinzip, wo liberale, demokratische Bürger als gleiche Personen aufgefasst werden, beinhaltet The Law of Peoples, welches dazu dient, internationale Beziehungen sowie die globale Gerechtigkeit zu ordnen, keine Auffassung von der Person in eben diesem liberalen Sinne. Rawls (1999, 68) merkt an:
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»The Law of Peoples does not say, for example, that human beings are moral persons and have equal worth in the eyes of God, or that they have certain moral and intellectual powers that entitle them to these rights.« Wohlanständige hierarchische Gesellschaften könnten zum Beispiel keine liberale Auffassung von der Person vertreten und daher ihre Bürger nicht als individuelle, gleiche und freie Personen betrachten, sondern Bürgerschaft vielmehr aus der Perspektive eines kommunalistischen Verständnisses oder eines Gruppenverständnisses der Person konzipieren. Daher, so argumentiert Rawls, wäre es in Angelegenheiten internationaler Gerechtigkeit unfair, den nicht-liberalen wohlanständigen Gesellschaften liberale Konzeptionen wie zum Beispiel das Differenzprinzip aufzuzwingen. Rawls vertritt darüber hinaus, so Hinsch (2001, 70), die Auffassung, dass eine Umverteilung globalen wirtschaftlichen Wohlstandes zum Nutzen ärmerer Länder in Einklang mit dem Differenzprinzip nicht vertretbar sei. Rawls’ zentrales Argument scheint durch seine Auffassung begründet zu sein, dass kulturelle Bande und Gefühle der Affinität zwischen den Völkern der Welt nur schwach ausgeprägt seien. Die Art von Moralpsychologie, die notwendig wäre, um einen internationalen Sinn für Gerechtigkeit zu erreichen und Gefühlseinstellungen zu erzeugen, die zu einer Verteilungsgerechtigkeit, die sich auf die liberale Idee des Differenzprinzips gründet, führen könnten, sei auf internationaler Ebene nicht vorhanden. Gegen die Forderung nach globaler Verteilungsgerechtigkeit führt Rawls weiterhin an, dass die willkürliche Verteilung natürlicher Ressourcen in der Welt, die zahlreiche Befürworter einer globalen Verteilungsgerechtigkeit als unfair beurteilen, da sie einige Länder bevorzugt, worin sie ein plausibles Argument für die Notwendigkeit sehen, globalen Wohlstand zugunsten der an natürlichen Ressourcen benachteiligten verarmten Gesellschaften umzuverteilen, kein überzeugendes Argument darstelle, eine globale Umverteilung des Wohlstandes zu rechtfertigen. Seiner Meinung nach ist es nicht so sehr der Mangel an natürlichen Ressourcen, der zur Verarmung von Gesellschaften führt. Die wirtschaftliche Stärke reicher Länder – wie etwa der westlichen liberalen Demokratien – liege unter anderem vielmehr in ihrer politischen Kultur und den religiösen, philosophischen und moralischen Traditionen begründet, welche die Grundstrukturen ihrer politischen und sozialen Institutionen stützen, ebenso wie in der Innovationskraft, der Arbeitskraft, der Begabung zur Kooperation und der politischen Tugenden ihrer Mitglieder. Die Gründe für eine Unterentwicklung, so argumentiert Rawls, werden durch den Mangel an angemessenen politischen
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und kulturellen Traditionen in den verarmten Ländern, durch das Fehlen von technischem Know-how, durch ungenügende Bevölkerungspolitik und die Unfähigkeit des Staates, Menschenrechte zu garantieren, verstärkt. Die Willkür der Verteilung natürlicher Ressourcen sei, worauf Rawls (1999, 105–120) erneut hinweist, nicht für den wirtschaftlichen oder sozialen Fortschritt eines Landes, bzw. für das Fehlen desselben, verantwortlich. Abgesehen von seltenen Ausnahmefällen gebe es, so Rawls, kein Land der Welt, in dem es in einem solchen Maße an ausreichenden natürlichen Ressourcen fehlt, dass es nicht den Status einer wohlgeordneten Gesellschaft erreichen könnte, vorausgesetzt, dass es vernünftig und rational regiert wird. Der Besitz an natürlichen Ressourcen, so Rawls, habe sogar dazu geführt, dass einige Länder sich weniger innovativ und wirtschaftlich erfolgreich zeigen als jene Länder, in denen es an natürlichen Ressourcen mangelt. Diese Auffassung tritt deutlich aus Rawls’ (1999, 108) Beobachtung hervor: »Historical examples seem to indicate that resource-poor countries may do very well (e. g., Japan), while resource-rich countries may have serious difficulties (e. g., Argentina).« Aus dieser Argumentationskette heraus formuliert Rawls (1999, 5, 106, 114) eine seiner Meinung nach eher vertretbare Auffassung von internationaler Gerechtigkeit, die den Begriff der Unterstützungsplicht (duty of assistance) gegenüber den belasteten Gesellschaften beinhaltet. Gesellschaften, denen es an politischer Kultur, historischen Traditionen und grundlegendem technischen Know-how fehlt, um allein entweder wohlanständige oder liberale wohlgeordnete Gesellschaften zu werden, haben nach Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ein Anrecht auf vorübergehende Auslandshilfe. Eine solche Unterstützungspflicht findet ihre Grenzen jedoch dann, wenn eine belastete Gesellschaft sich in einer Phase befindet, wo sie als selbsterhaltend betrachtet werden kann. Aus dieser Perspektive erscheinen Argumente für die Umverteilung globalen Wohlstandes zugunsten armer Länder als nichtig. Da jede wohlanständige oder liberale Gesellschaft autonom sei und das Niveau ihrer wirtschaftlichen Entwicklung von einer angemessenen Artikulation und Umsetzung der eigenen Politik bestimmt sei, so argumentiert Rawls, stehe die wirtschaftliche Ungleichheit, die sich aus der Sozial- und Wirtschaftspolitik eines jeweiligen Landes im Vergleich zu anderen Ländern ergibt, in der alleinigen Verantwortung des jeweiligen Landes. Die Lasten der von einer liberalen oder wohlanständigen Gesellschaft frei getroffenen Entscheidungen müssen, so schlussfolgert Rawls, gänzlich von den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen dieser Gesellschaft getragen werden. Die Konsequenzen frei getroffener Entscheidungen einer Ge-
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sellschaft auf andere Gesellschaften unter dem Vorwand der egalitären Verteilungsgerechtigkeit zu übertragen sei, so Rawls, nicht zu rechtfertigen. Vor dem Hintergrund seiner Auffassung von Völkern als autonom, gleich und frei, als in liberale oder wohlanständige Gesellschaften geordnet, seien ökonomische Ungleichheiten unter den Völkern oder Nationen selbst verursacht. In wirtschaftlicher Hinsicht seien daher liberale und wohlanständige Gesellschaften Meister ihres eigenen Schicksals. Eine globale Gerechtigkeitstheorie, die über die Unterstützungspflicht (d. h. über die minimale Hilfe zur Entwicklung) hinaus eine Umverteilung des Wohlstandes unter den Nationen anstrebe, sei nicht zu rechtfertigen. Rawls’ Position ist jedoch vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen zur gegenwärtigen globalen Lage zu hinterfragen. Wie auch Beitz’ (2000, 690) Gegenargumente bestätigen, zeigt eine genaue Auseinandersetzung mit der globalen Thematik der Armut und Unterentwicklung, dass über die Ursachen von wirtschaftlicher Rückständigkeit keine Einigkeit besteht. Die Faktoren, auf die sich eine Unterentwicklung gründet, variieren von Gesellschaft zu Gesellschaft. In diesem Sinne sind dann auch die von Rawls aufgelisteten allgemeinen Faktoren in ihrer Wichtigkeit zu hinterfragen. In seiner Diskussion zur globalen Gerechtigkeit scheint Rawls einige zentrale Aspekte, welche die gegenwärtige globale wirtschaftliche Struktur wesentlich prägen und daher auch eine signifikante Rolle in Hinblick auf Entwicklung und Unterentwicklung spielen, zu ignorieren. Hierzu zählen beispielsweise die Rolle des transnationalen Handels mit seinen negativen Folgen für die Wirtschaft unterentwickelter Nationen, die Auswirkungen der Strukturen globalisierter Kapitalmärkte, die Schuldenpolitik der Geberländer und ihre Auswirkungen auf verarmte Länder der so genannten »Dritten Welt« ebenso wie die Rolle der internationalen Finanzinstitutionen, wie z. B. des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Hierzu schreibt Beitz (2000, 690): »…a society’s integration into the world economy, reflected in its trade relations, dependence on foreign capital markets, and vulnerability to the policies of international financial institutions, can have deep and lasting consequences for the domestic economic and political structure. Under these circumstances, it may not even be possible to distinguish between domestic and international influences on a society’s economic condition.« Rawls’ liberaler Internationalismus, wie er in The Law of Peoples dargelegt ist, verabsäumt, angemessene und faire Prinzipien für den transnationalen Handel
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und für transnationale Wirtschaftsbeziehungen aufzustellen, die überzeugend genug wären, um seine Position zur globalen Gerechtigkeit zu rechtfertigen. Rawls’ internationale Gerechtigkeitstheorie äußert sich darüber hinaus, um mit Caney (2001) zu argumentieren, nicht zur Thematik der wieder gutmachenden Gerechtigkeit. Die Auswirkungen vergangener Ungerechtigkeit als ein substanzieller Teil der Gründe ökonomischer Rückständigkeit zu ignorieren, erscheint aus normativer Sicht angesichts der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und der Kolonialisierung weiter Teile Afrikas, Asiens und Südamerikas durch westliche Mächte mehr als fragwürdig. Genau auf diesen Punkt bezieht sich Caney (2001, 284), wenn er schreibt, dass: »given the incontestable fact of previous exploitation and oppression any satisfactory theory of international justice must address the question of whether there are duties of compensation…« Rawls’ Konzeption der internationalen Gerechtigkeit fordert, dass Bürger als Mitglieder gegenwärtiger und auch zukünftiger Generationen liberaler oder wohlanständiger Gesellschaften für die Kosten, die sich durch die Sozial- oder Wirtschaftspolitik eines jeweiligen Landes ergeben, zur Verantwortung gezogen werden. Problematisch erscheint es hier jedoch, zu akzeptieren, dass die Kosten möglicherweise unvernünftiger Entscheidungen vergangener Herrscher oder vergangener Generationen auf die Bürger einer gegenwärtigen verarmten Gesellschaft, deren Mitglieder sie allein aufgrund zufälliger Umstände sind, übertragen werden sollen (siehe Beitz 2000, 692). Hieraus erklärt sich, warum die Unterstützungsplicht im Rawlsschen Sinne unzureichend ist und nicht in der Lage ist, eine adäquate Lösung für die dringenden Herausforderungen der globalen Gerechtigkeit in unserer heutigen Welt zu bieten. (2) Eine weitere zentrale Thematik, die detailliert in The Law of Peoples erörtert wird, ist die Fragestellung, wie liberale Gesellschaften mit »wohlanständigen, aber nichtliberalen« Gesellschaften innerhalb des internationalen Forums zu verfahren haben. Rawls fordert, dass liberale Gesellschaften wohlanständige Gesellschaften in der internationalen »Gesellschaft der Völker« zu tolerieren haben. Das Tolerieren wohlanständiger Gesellschaften durch liberale Gesellschaften bedeutet nicht nur, dass liberale Völker darauf verzichten müssen, politische oder wirtschaftliche Sanktionen, militärische Macht oder diplomatischen Druck anzuwenden, um einen politischen Wandel innerhalb nicht-liberaler, aber wohlanständiger Gesellschaften zu erwirken, sondern ver-
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langt zudem, dass liberale Gesellschaften wohlanständige Gesellschaften als Mitglieder mit bestimmten Rechten und Pflichten, die gleichberechtigt an der Gesellschaft der Völker teilnehmen, anerkennen (Rawls 1999, 59). Rawls’ Auffassung zur Thematik des Tolerierens folgt hier der bereits im Political Liberalism entwickelten Argumentationslinie: So wie die Bürger einer liberalen Gesellschaft die religiösen, philosophischen und moralischen Lehren der jeweils anderen respektieren müssen, vorausgesetzt, dass diese Weltanschauungen in Einklang mit einer vernünftigen Auffassung von Gerechtigkeit stehen, so müssen liberale Gesellschaften auf internationaler Ebene die Kulturen, Traditionen und Werte anderer Gesellschaften der Welt respektieren, so lange sich diese an das »Recht der Völker« halten. Da keine Gesellschaft statisch sei, so führt Rawls weiter an, müsse es den wohlanständigen Gesellschaften erlaubt sein, interne Reformen nach eigenem Tempo zu durchschreiten. Eine Aufnahme nicht-liberaler, aber wohlanständiger Völker in die »Gesellschaft der Völker« unter dem zuvor erwähnten Status der Gleichheit und des Respekts hätte laut Rawls die positive Wirkung, dass wohlanständige Gesellschaften sich durch Reformen rascher zu liberalen Gesellschaften wandeln. Wenn ihnen gleicher Status, Respekt und Anerkennung von Seiten der liberalen Gesellschaften innerhalb der »Gesellschaft der Völker« zuteil werde, so würden wohlanständige Gesellschaften die Vorteile liberaler demokratischer Strukturen durch Jahre der wechselseitigen Kooperation und Interaktion mit liberalen Gesellschaften erfahren und sich auf diese Weise frei und ohne externen Zwang zur Aneignung liberaler Werte entscheiden (Rawls 1999, 59–62). Gesellschaften, die unter den Begriff der »Nicht-Anständigkeit« zu fassen sind, sähen sich dagegen zu Recht mit einer Haltung des Nicht-Tolerierens von Seiten der wohlanständigen wie auch der liberalen Gesellschaften konfrontiert. Solche Schurkenstaaten haben keinen Platz innerhalb der internationalen Gesellschaft der Völker. »Wohlanständigkeit«, wie sie von Rawls in seiner internationalen Gerechtigkeitstheorie aufgegriffen wird, ist eine Bedingung des »Tolerierens«. Eine wohlanständige Gesellschaft kann in ihrer Struktur sowohl hierarchisch als auch nicht-hierarchisch sein. Notwendige aber noch nicht hinreichende Bedingung für »Wohlanständigkeit« ist laut Rawls, dass eine wohlanständige Gesellschaft die im internationalen »Recht der Völker« festgelegten Menschenrechte ehrt (Rawls 1999, 80). Wenn die Umsetzung der Menschenrechte zentrales Kriterium der Wohlanständigkeit ist, so ist es angebracht, den Begriff der Menschenrechte bei Rawls genauer zu untersuchen.
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(3) Menschenrechte werden von Rawls als eine besondere »Klasse der dringlichen Rechte« (»a special class of urgent rights« ) bezeichnet (Rawls 1999, 79). Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine sehr kurz gefasste Liste besonderer Rechte und Freiheiten. Diese umfassen: Schutz vor Sklaverei; ein ausreichendes Maß an Gewissens- und Religionsfreiheit (ausgenommen der gleichen oder vollen Gewissensfreiheit); das Recht ethnischer Minoritäten, ohne Angst vor Massaker und Genozid zu leben; das Recht auf persönlichen Besitz und die formale Gleichheit, die jedoch keine Gleichheit der »Personen« als Bürger im liberalen Sinn umfasst. Bei Betrachtung von Rawls’ Auflistung der Menschenrechte erhebt sich der Verdacht, dass Rawls seine liberalen Prinzipien der Rechte modifiziert hat, um die politischen Interessen nicht-liberaler Gesellschaften zu berücksichtigen. Rawls (1999, 65) schreibt: »Human rights, as thus understood, cannot be rejected as peculiarly liberal or special to Western tradition. They are not politically parochial.« Einen wesentlichen Teil der in liberalen demokratischen Gesellschaften garantierten Rechte und Freiheiten, die Rawls in seinem Political Liberalism verteidigt, schließt er in seinem internationalen Liberalismus aus. Zu diesen Rechten gehören: Meinungs- und Redefreiheit; Pressefreiheit; volle und gleiche Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit inklusive des Rechtes auf Apostasie, d. h. des Rechtes, sein Bekenntnis oder seine Religion zu wechseln, und das Recht, die orthodoxe Interpretation religiöser Lehren zu hinterfragen; das Recht auf politische Teilnahme und Schutz vor Diskriminierung auf der Basis von Religion, Rasse, Kaste, Ethnizität oder Geschlecht (siehe Hayden 2002, 131 f.). Rawls’ Liste der Menschenrechte unterscheidet sich von der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (UDHR) von 1948 und ihren nachfolgenden Zusatzabkommen, die den gegenwärtigen Standard international anerkannter Menschenrechtsnormen setzen. Ein Beispiel der von Rawls in seiner Liste der »dringlichen Rechte« bewusst außer Kraft gesetzten Rechte sind Artikel 1 und 19 der Menschenrechtserklärung. Artikel 1 der Erklärung besagt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren: Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen«. Artikel 19 beinhaltet folgende Erklärung:
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»Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten« (siehe: www.unhchr.ch/udhr/lang/ger.htm). Aus vergleichender Perspektive urteilt Rawls, dass Artikel 3 bis 18 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (UDHR) die Menschenrechte im eigentlichen Sinne verkörpern, während in den übrigen Artikeln ethnozentrische, westliche und liberale Bestrebungen zum Ausdruck kommen. Da diese Rawls’ (1999, 80) Auffassung nach kulturell und historisch determiniert sind, könne ihnen jedoch keine universale Validität zugesprochen werden. Die umfassendere Konzeptionalisierung der Menschenrechte nach den Vereinten Nationen (1948) beinhaltet, so Rawls, da sie von spezifischen kulturellen und philosophischen Perspektiven aus konzipiert seien, Auffassungen der westlichen Welt. Daher müssen sie abgeschwächt werden, um der Vernünftigkeit nicht-westlicher wohlanständiger Gesellschaften zu entsprechen und so universale Validität beanspruchen zu können. Der inhärente liberale Individualismus, der mit der umfassenderen Konzeptionalisierung der Menschenrechte ausgedrückt wird, müsse den Auffassungen von Völkern, deren Traditionen und kulturelle Praktiken die Werte des liberalen Individualismus nicht anerkennen, sondern Personen vielmehr in Hinblick auf eine Gemeinschaft oder Gruppe definieren, weichen. Auf internationaler Ebene müsse die liberale Auffassung von Gerechtigkeit, die im Sinne des liberalen Individualismus konzipiert ist, enger gefasst werden, um Raum zu geben für Völker, deren Gerechtigkeitskonzeption auf der Idee des »Gemeinwohls« fußt. Indem Rawls insbesondere Artikel 1 der UDHR, welcher die normative Bedeutung der Menschenrechte auf die Quiddität der Person als menschliches Wesen gründet, verwirft, untergräbt er die Bedeutung der Normen der UDHR in der heutigen Welt ebenso wie ihre Rolle in der Gestaltung einer globalen Ordnung. Das in The Law of Peoples aufgestellte Konzept von der »wohlanständigen Gesellschaft« stehe, so Rawls, in Einklang mit einer vernünftigen Interpretation islamischer politischer Ideen. Sein Modell einer wohlanständigen, hierarchischen Gesellschaft ist daher das hypothetische islamische Volk Kazanistan:
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»In § 9.3 I give an example of an imaginary decent hierarchical Muslim people whom I have named Kazanistan. Kazanistan honors and respects human rights, and its basic structure contains a decent consultation hierarchy, thereby giving a substantial political role to its members in making political decisions« (Rawls 1999, 64). Rawls’ Kriterien für eine wohlanständige, hierarchische Gesellschaft, wie sie durch Kazanistan verkörpert werden, geben einer solchen Gesellschaft die Freiheit, umfassende säkulare oder religiöse institutionelle Formen anzunehmen, vorausgesetzt dass die politischen Ziele einer solchen Gesellschaften jegliches expansionistische Interesse ausklammern. Eine solche Gesellschaft wird von Rawls auch als »verbindungsstiftend« beschrieben. Dies bedeutet, dass ihre Mitglieder im öffentlichen Leben als Segmente unterschiedlicher Gruppen gesehen werden, wobei jede Gruppe durch einen Körper in der Konsultationshierarchie des existierenden Rechtssystems repräsentiert wird. Die Konzeption von Gerechtigkeit in einer wohlanständigen hierarchischen Gesellschaft kann in Bezug auf das »Gemeinwohl« definiert werden. Nach Rawls ist es zwingend notwendig, dass bei Richtern und Amtsvertretern, die das Rechtssystem verwalten, die aufrichtige und vernünftige Überzeugung vorherrscht, dass das, was sie als Urteil verkünden, von der Konzeption der Gerechtigkeit als Gemeinwohl geprägt ist. Das Rechtssystem einer wohlanständigen hierarchischen Gesellschaft soll den Mitgliedern einer Gesellschaft moralische Verpflichtungen auftragen und allen Mitgliedern der Gesellschaft die von ihnen als Menschenrechte erachteten Rechte zusichern (Rawls 1999, 64–67). Hierzu müssen die in einer solchen Gesellschaft herrschenden grundlegenden Menschenrechten nicht einmal über die »besondere Klasse der dringlichen Rechte« hinausgehen. Die Auffassung von der Person in einer wohlanständigen, hierarchischen Gesellschaft muss nicht unbedingt liberal sein. Bürger müssen hierbei nicht unbedingt als gleich oder als »Personen« an sich betrachtet werden, sondern können vielmehr auch als vernünftige und kooperierende Mitglieder zum Beispiel einer ethnischen Gruppe, einer Kaste oder religiösen Gruppe mit Verpflichtungen und Rechten, die mit der jeweiligen Gruppe zusammenhängen, aufgefasst werden (siehe Tesón 1995, 301). Rawls’ Kazanistan als idealer Repräsentant einer wohlanständigen hierarchischen Gesellschaft erfüllt die Kriterien der »Wohlanständigkeit« zum Beispiel dahingehend, dass Kazanistans Regierungssystem auf einer religiösen Lehre basiert:
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»Kazanistan’s system of law does not institute the separation of church and state« (Rawls 1999, 75). In diesem Sinne ist es plausibel, zu vermuten, dass das Rechtssystem, das die Grundstruktur Kazanistans reguliert, in Übereinstimmung mit einer bestimmten Interpretation der shari’a definiert wird. Rawls scheint dies auch zu bestätigen, wenn er anmerkt, dass der Islam die in Kazanistan bevorzugte Religion ist und dass nur Muslime höhere Positionen mit politischer Macht oder Einfluss auf Entscheidungen der Regierung bekleiden können (Rawls 1999, 75 f.). Es gibt zwar ein angemessenes Maß an Gewissens- und Religionsfreiheit in Kazanistan, aber weder wird die gleiche noch die volle Gewissensfreiheit garantiert. Andere Religionen werden in einem gewissen Sinne toleriert und mögen auch ohne Angst vor Verfolgung ausgeübt werden, aber ihren Mitgliedern können bestimmte zivile und religiöse Rechte in Einklang mit dem islamischen Gesetz vorenthalten werden. Rawls’ Kazanistan ehrt das »Recht der Völker« und hat daher keinen Expansionsdrang. Anders als die historischen Jihadisten, so führt Rawls (1999, 76) weiter an, gibt Kazanistan nicht dem territorialen Expansionsdrang oder dem Wunsch nach Aufbau eines Reiches nach. Dies sei das Resultat einer aufgeklärten islamischen Theologie, die in einer solchen Gesellschaft blüht, was dazu führt, dass islamische Gelehrte den Jihad in einem moralischen und spirituellen Sinne interpretieren und weniger in Bezug auf militärische Kampfhandlungen. Schließlich verkörpert das Regierungssystem Kazanistans eine Konsultationshierarchie und ehrt die grundlegenden Menschenrechte, die dem »Recht der Völker« eingeschrieben sind: »I think it is also plausible to imagine Kazanistan as organized in a descent consultation hierarchy, which has been changed from time to time to make it more sensitive to the needs of its people and the many different groups represented by legal bodies in the consultation hierarchy« (Rawls 1999, 77). Rawls’ hypothetischer islamischer Staat Kazanistan mit seiner Konzeption von Gerechtigkeit als Gemeinwohl und der umfassenden religiösen Lehre, die seine Grundstruktur reguliert, weist einige Tendenzen auf, die mit vielen der illiberalen Tendenzen übereinstimmen, die Rawls in seiner liberalen Auffassung der Gerechtigkeit, wie sie z. B. in Political Liberalism dargelegt wird, eigentlich verurteilt. Hierzu zählen zum Beispiel: Ungleichheit von Personen, was an soziale
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und wirtschaftliche Ungerechtigkeit grenzt, Diskriminierung von Frauen und Formen der ungerechten Behandlung von religiösen und anderen Minderheiten. Rawls (1999, 65, 76) schreibt beispielsweise, dass es in Kazanistan ein »ausreichendes Maß« an Gewissens-, Glaubens- und Gedankenfreiheit gebe, nicht jedoch eine »gleiche oder völlige« Gewissensfreiheit. Rhetorisch impliziert dies, dass Mitgliedern religiöser Minderheiten, obschon sie durch die überwiegende muslimische Mehrheit toleriert werden, die gleiche Gewissensfreiheit vorenthalten wird (siehe Tasioulas 2002, 383). Rawls (1999, 75 f.) führt weiter an, dass die Minderheitenreligionen ohne Angst vor Verfolgung oder vor Verlust der meisten bürgerlichen Rechte ausgeübt werden können, mit der Ausnahme des Rechtes, höhere politische oder juristische Ämter zu bekleiden. Dies legt nahe, dass den Nicht-Muslimen neben der Verweigerung des Rechtes, wichtige Ämter zu bekleiden, legitimerweise auch zum Beispiel allein aus religiösen Gründen bestimmte bürgerliche Rechte vorenthalten werden könnten. Die Verweigerung solcher Rechte könnte von islamischen Herrschern dazu verwendet werden, die Vorteile der Zugehörigkeit zum muslimischen Glauben hervorzuheben, um so die Bekehrung der Nicht-Muslime zu fördern. Da die völlige Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit in Kazanistan nicht garantiert wird, wäre es auch möglich, dass selbst die muslimischen Bürger Kazanistans nicht frei sind, ihre Religion ohne Verfolgung zu wechseln, und auch kein Recht haben, die orthodoxe Interpretation der islamischen Lehren in Frage zu stellen. Tibi (1990, 104) schreibt zur allgemeinen Interpretation der Shari’a: »Muslims themselves are not allowed to retreat from Islam. A Muslim who repudiates his or her faith in Islam can be prosecuted as a murtadd (apostate).« Unter dem islamischen Gesetz und der Konzeption der Bürger Kazanistans als Mitglieder fragmentierter Gruppen erscheint es nur plausibel, anzunehmen, dass Frauen legitimerweise ungleiche oder unfaire Behandlung zuteil werden kann. Anders als in Rawls’ Political Liberalism, wo die politische Konzeption der Gerechtigkeit dem Rechten den Vorrang vor dem Guten einräumt, ist die Konzeption von Gerechtigkeit als Gemeinwohl, welche Rawls in The Law of Peoples den wohlanständigen Gesellschaften zuschreibt, mit Intoleranz und ungerechter Regierungspolitik zu vereinbaren.
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Was in bestimmten Kontexten als das »Gemeinwohl« zu gelten hat, erscheint enigmatisch und schwer zu definieren. Daher ist es prekär, eine Konzeption der Gerechtigkeit allein auf einen solchen Begriff zu stützen. Ganz in dem Glauben, in Übereinstimmung mit dem Ideal des »Gemeinwohls« zu handeln, könnte Rawls’ wohlanständige Gesellschaft Kazanistan sogar ganz legitim menschenverachtende Praktiken gegen Gruppen, Sekten oder Individuen als angemessen sanktionieren, und zwar allein auf der Grundlage einer allgemeinen und stereotypen Wahrnehmung derselben als zur Kriminalität neigend oder als allgemein unproduktiv. Rawls’ liberaler Internationalismus, wie aus den vorausgegangenen Ausführungen deutlich wird, verfällt im Rahmen seines Versuches, die Prinzipien des liberalen Tolerierens auf nicht-liberale Gesellschaften auszuweiten, in einen Kulturalismus und Werterelativismus. Indem er die international anerkannten Menschenrechtsnormen der UDHR abschwächt oder eingrenzt, glaubt Rawls, die moralische Intuition sowohl der liberalen als auch der nicht-liberalen Gesellschaften in Bezug auf die Frage berücksichtigt zu haben, welcher Art von Rechten der Status der Menschenrechte, die damit auch universale Anwendbarkeit erhielten, zugesprochen werden könne. Rawls’ Kürzung der Liste der UDHR ist offensichtlich von seiner Furcht vor dem möglichen Vorwurf des moralischen Imperialismus hinsichtlich internationaler Gerechtigkeit und internationaler Beziehungen geprägt. So stimmt er all jenen zu, die argumentieren, dass der gegenwärtige Standard der internationalen Menschenrechte mit seinem liberalen Individualismus und seiner liberalen Auffassung von der Person vielen nicht-westlichen Kulturen fremd sei. Argumente dieser Art sind populär bei jenen, die die Anwendung der allgemeinen Menschenrechtsnormen (der UDHR) in einigen nicht-westlichen Ländern der Erde, wie z. B. in Afrika oder Asien, ablehnen. So wird zum Beispiel argumentiert, dass Völker, wie etwa in traditionellen afrikanischen oder asiatischen Gesellschaften, eher gruppen- oder gemeinschaftsorientiert und weniger individualistisch seien. Solche Völker verfügten daher auch nicht über eine individualistische Psychologie, welche den Menschen den Impetus gäbe, individuelle Forderungen nach Rechten an ihre Regierungen zu stellen (siehe Howard 1990, 162). Rawls und jene Kritiker, welche die universale Anwendung der UDHR Normen ablehnen, kommen daher zu einer Schlussfolgerung, die sich folgendermaßen umschreiben lässt: Da der existierende Menschenrechtsstandard innerhalb des Rahmens des westlich liberalen Individualismus konzipiert wurde, ist es problematisch, diesen Standard in Kulturen nicht-westli-
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cher Gesellschaften umzusetzen. Anzumerken ist hier, dass es durchaus richtig ist, dass einige nicht-westliche Traditionen und Kulturen Möglichkeiten haben, Rechte zu definieren und auszudrücken, die westlichen Traditionen und Kulturen nicht entsprechen. So erläutert Leary (1990, 16): »The rich cultures of Asia and Africa express matters of human dignity in terms other than ›rights‹. Many of these cultures, in contrast, value a sense of community and stress duties to family and community more than they emphasise individualism and rights.« Nichtsdestotrotz, um mit Howard (1990, 165) zu argumentieren, macht die Existenz einer Ethik in afrikanischen oder asiatischen Gesellschaften, die in der Gemeinschaft wurzelt, die Rolle und Bedeutung der Menschenrechte in diesen Gesellschaften nicht überflüssig. Es wäre sicherlich ein großer Irrtum, Menschenrechte in einer solchen Weise und mit solchen Bedeutungen zu definieren, dass sie kommunalistische oder kommunitaristische Auffassungen von »Rechten« ausklammern. Grundsätzlich dienen die internationalen Menschenrechtsnormen dazu, Individuen – sowohl als Personen wie auch als Gruppe (oder Gemeinschaft) – vor Missbrauch zu schützen (siehe Howard 1990, 165). Daher sollte die Relevanz der existierenden internationalen Menschenrechtsstandards nicht aufgrund der Annahme, dass individualistische Auffassungen von Rechten den nicht-westlichen Kulturen und Traditionen fremd seien, ausgehöhlt werden. Vielmehr ist ein kulturübergreifender Dialog nötig, der auf eine Reinterpretation der liberalen Auffassung von Person und Recht im Kontext einer Auffassung menschlicher Würde, die in der Gruppe oder Gemeinschaft wurzelt, zielt (siehe Howard 1990, 182). Ein plausibleres Argument für die universale Anwendbarkeit der internationalen Menschenrechtsstandards, welches haltbarer wäre als Rawls’ Ansatz zum Thema internationaler Beziehungen und internationaler Gerechtigkeit, würde die Suche nach einer kulturellen Legitimierung internationaler Normen, für die es bisher noch keine Basis der Akzeptanz gibt, beinhalten (siehe An-Na’im 1990, 331–367). Eine solche kulturelle Legitimierung muss von einem aufrichtigen kulturübergreifenden Dialog geprägt sein. So fügt Parekh (1999, 139) an: »If universal values are to enjoy widespread support and democratic validation and be free of ethnocentric biases, they should arise out of an open and uncoerced cross-cultural dialogue. Such a dialogue should include every cul-
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ture with a point of view to express. In so doing we show respect for them, and give them a motive to comply with the principle of holding a crosscultural dialogue. We also ensure that such values as we arrive at are born out of different historical experiences and cultural sensibilities, free of ethnocentric biases, and thus genuinely universal. The dialogue occurs both in large international gatherings of governmental and non-governmental representatives and in small groups of academics and intellectuals.« Ziel eines solchen interkulturellen Dialogs ist nicht, für die Existenz einer natürlichen universalen Moralität zu argumentieren, da die Traditionen der Völker, ihre religiösen und moralischen Auffassungen durch historische und andere Umstände geprägt werden. Der Dialog zielt auch nicht darauf, wie Parekh (1999, 140) verdeutlicht, Werte zu entdecken, sondern vielmehr darauf, einen Konsens über existierende internationale Normen zu erzielen. Ein interkultureller Dialog, der auf eine retrospektive kulturelle Legitimierung der Menschenrechte (UDHR) zielt, ist dann vertretbar, wenn er mit Respekt gegenüber anderen Kulturen durchgeführt wird und wenn ein angemessenes Wissen über lokale Kulturen den Diskussionshintergrund bildet. Dies würde auch einen möglichen Vorwurf des Ethnozentrismus entkräften (siehe Tan 2000, 24). Im Kontext der Interdependenz der Völker, der Dynamik und Verknüpfung der Kulturen und der gegenwärtigen Trends der Globalisierung kann mit einigem Optimismus davon ausgegangen werden, dass es durchaus möglich ist, auf diese Weise eine retrospektive Legitimierung der Menschenrechte (UDHR), dort, wo die Anwendung der existierenden internationalen Normen bisher noch nicht verwurzelt ist, zu erzielen.
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O’NEILL ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT EINER INSTITUTIONALISIERUNG VON WOHLFAHRTSRECHTEN Markus Stepanians
Onora O’Neills Behauptung, dass in einer Welt wie der unseren Institutionalisierung eine Existenzbedingung für Wohlfahrtsrechte sei – fortan: die »Institutionalisierungsthese« – ist auf viel Widerspruch gestoßen. Oft beruht diese Kritik jedoch auf einem unzureichenden Verständnis der Position O’Neills.1 Da die Kontroverse um die Institutionalisierungsthese vor dem Hintergrund der jüngsten Initiative der UNESCO zur Anerkennung von schwerer Armut als Menschenrechtsverletzung neue Aktualität erhalten hat, erscheint eine Klärung wünschenswert. Im Folgenden versuche ich, O’Neills Argument möglichst klar darzulegen und zu zeigen, dass die Institutionalisierungsthese im Wesentlichen aus O’Neills »klassischem« Verständnis subjektiver Rechte folgt. Kanonische Formulierungen fand diese Konzeption subjektiver Rechte in den Schriften von Autoren wie Jeremy Bentham, Wesley N. Hohfeld oder Joel Feinberg.2 Der 1. O’Neills ausführlichste Erläuterung und Verteidigung der Institutionalisierungsthese findet sich in O’Neill (1996, 128–136). Ein aktuelles Beispiel für eine Interpretation ihres Arguments, die am entscheidenden Punkt vorbeigeht, ist Tasioulas (2004). Den Hintergrund von Tasioulas’ Kritik bildet die anti-klassische Auffassung subjektiver Rechte, wie sie vor allem von Neil MacCormick (s. MacCormick 1977) und Joseph Raz (s. Raz 1986, Kap.7) entwickelt wurde. Im Gegensatz zur klassischen Konzeption ist es für diese Theorie kennzeichnend, dass sie (a) dazu neigt, Rechte mit gewichtigen Interessen ihrer Träger zu identifizieren, und (b) logisch-begriffliche Zusammenhänge zwischen Rechten und Pflichten bestreitet: »[R]ights can exist independently of duties« (Raz 1980, 225). Dieser anti-klassischen Auffassung nach ist der Besitz eines Rechts ein (nicht unbedingt zwingender) Grund zu urteilen, dass andere Personen entsprechende Pflichten haben oder haben sollten (Raz 1986, 166). Der Besitz eines anti-klassischen Rechts impliziert also für sich genommen keine Pflichten, sondern lässt sie nur wünschenswert erscheinen. Subjektive Rechte sind lediglich Gründe für die (zukünftige) Auferlegung entsprechender Pflichten. Ihr Besitz ist damit verträglich, dass es (noch) niemanden gibt, den sie verpflichten. Für eine Kritik dieser Konzeption s. Stepanians (2004). 2. Benthams Analysen subjektiver Rechte sind in seinem Werk breit gestreut. Maßgebliche Diskussionen von Benthams Theorie sind Hart (1982) und Lyons (1994, Kap. 1). Zu den
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Kern der klassischen Auffassung ist, dass subjektive Rechte notwendig andere Personen zu bestimmten Handlungen (im Sinne eines Tuns oder Unterlassens) verpflichten. Die Existenz subjektiver Rechte ist daher abhängig von der Existenz korrespondierender Pflichten und die Existenz von Rechtsträgern von der Existenz entsprechender Pflichtenträger. 1. Die klassische Auffassung subjektiver Rechte Rechte, die aus Verträgen oder Vereinbarungen hervorgehen sind aus klassischer Sicht paradigmatische Fälle subjektiver Rechte. Nehmen wir an, Adam verspricht Eva, dass er F en wird. Auf Grund dieses Versprechens hat Adam gegenüber Eva die Pflicht, zu F en, und Eva hat gegenüber Adam ein entsprechendes Recht. Der klassischen Konzeption nach impliziert der Besitz eines Rechts, dass mindestens eine andere Person eine entsprechende Pflicht hat. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht in voller Allgemeinheit. Nur eine Unterklasse dessen, was wir gewöhnlich als »Pflicht« bezeichnen impliziert subjektive Rechte anderer Personen.3 Die Elemente dieser Unterklasse von Pflichten können wir »rechtskorrelative Pflichten« nennen. Ontologisch gesprochen besteht zwischen Rechten und ihren rechtskorrelativen Pflichten eine existentielle gegenseitige Abhängigkeit. Rechte und rechtskorrelative Pflichten entstehen und vergehen gleichzeitig. Wo es subjektive Rechte gibt, gibt es auch rechtskorrelative Pflichten und umgekehrt. Eine vollständige Formulierung eines Rechts enthält daher mindestens drei Elemente: den Rechtsträger (in unserem Beispiel Eva); eine Positionen von Hohfeld bzw. Feinberg vgl. vor allem Hohfeld (1919) und Feinberg (1973, Kap. 4; 1980). 3. Als Beispiele für Pflichten, denen keine Rechte korrespondieren, werden oft Wohltätigkeitspflichten oder Pflichten gegenüber sich selbst genannt. Die in der angelsächsischen Literatur viel diskutierte »correlativity thesis of rights and duties« ist dem gewöhnlichen Verständnis des Rechts- und des Pflichtbegriffs zufolge falsch. Jedenfalls ist sie für die klassische Auffassung nicht wesentlich. O’Neill (1996, 129) bestreitet ausdrücklich, dass alle Pflichten Rechte implizieren. Ferner ist festzuhalten, dass O’Neill in diesem Kontext den Ausdruck »right« exklusiv zur Bezeichnung Hohfeldscher Anspruchs- oder Forderungsrechte gebraucht. Selbst wo in ihrem Text ausdrücklich von »liberty rights« die Rede ist, meint sie Rechte, deren Hauptkomponente ein Forderungsrecht (»claim-right«) auf Nichthinderung ist (s. z. B. O’Neill 1996, 129). Da Wohlfahrtsrechte eindeutige Fälle von Forderungsrechten sind, ist diese eingeschränkte Verwendung von »right« berechtigt.
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Handlung eines bestimmten Typs, die den Inhalt des Rechts bildet (im Beispiel: F en); und den Träger der rechtskorrelativen Pflicht (hier Adam, der »Adressat« von Evas Recht). Die gegenseitige existentielle Abhängigkeit zwischen subjektiven Rechten und deren rechtskorrelativen Pflichten ist eine Konsequenz der Abhängigkeit dieser normativen Positionen von der Existenz der Recht/Pflicht-Beziehung, der sie angehören. Ferner gilt, dass subjektive Rechte und Pflichten eines Trägers bedürfen, der sie »hat« oder »besitzt«. Die Existenz eines Rechts und einer rechtskorrelativen Pflicht impliziert daher im einfachsten Fall die Existenz von genau zwei Personen. Aufgrund ihrer engen logischen Beziehung zu rechtskorrelativen Pflichten sind klassische Rechte wesentlich relational. Ein Recht zu haben, heißt, Träger einer relationalen Eigenschaft zu sein, d. h. einer Eigenschaft, deren Besitz die Existenz eines weiteren Gegenstandes impliziert, in diesem Fall die Existenz einer anderen Person. Der klassischen Theorie zufolge gehören zu einem Recht immer (mindestens) zwei Personen mit unterschiedlichen normativen Positionen. Da der Besitz eines Rechts grundsätzlich vorteilhaft ist und der einer Pflicht in der Regel nachteilig, sind die beiden Positionen einer Recht/Pflicht-Beziehung zwar logisch symmetrisch, aber axiologisch asymmetrisch. Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem subjektiven Recht und der rechtskorrelativen Pflicht einer Recht/Pflicht-Beziehung können durch Vergleich mit anderen interpersonalen Beziehungen näher erläutert werden. Betrachten wir beispielsweise traditionelle, monogame Ehen zwischen Mann und Frau. Eva ist genau dann Adams Ehefrau, wenn Adam ihr Ehemann ist. Hier ist Evas relationale Eigenschaft, Adams Ehefrau zu sein, ebenso wie ihre relationale Eigenschaft, ein subjektives Recht gegenüber Adam zu haben, existenziell abhängig von einer korrespondierenden relationalen Eigenschaft Adams (und umgekehrt). Wie bei subjektiven Rechten und deren korrespondierenden Pflichten sind die normativen Positionen »Ehemann« und »Ehefrau« gewissermaßen die »Pole« ein und derselben Beziehung. Beide Relationen sind wesentlich interpersonal. Zum Heiraten gehören, ebenso wie zur Schaffung einer Recht/Pflicht-Beziehung, immer zwei. In beiden Fällen erklärt die Auffassung beider Positionen als abhängige Aspekte derselben Beziehung sowohl die logisch-semantischen Implikationen als auch deren gegenseitige existenzielle Abhängigkeiten. Komplizierter liegen die Dinge bei komplexen subjektiven Rechten zwischen mehr als zwei Personen. Manche Rechte haben mehr als nur einen einzigen
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Adressaten. Nehmen wir an, Adam besitze ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Zu diesem Recht gehört wesentlich ein »negatives« Recht auf Nichthinderung seiner Meinungsäußerungen gegenüber allen Personen, die während Adams 93jähriger Lebenszeit gegenwärtig sind. Im Gegensatz zu monogamen Ehen zwischen genau zwei Personen bestehen solche Recht/Pflicht-Beziehungen zwischen einem Rechtsträger und mehreren Adressaten. Allerdings können wir unseren Vergleich mit Ehebeziehungen angleichen, indem wir polygame Ehen zulassen, d. h. Ehen, in denen ein Ehemann (eine Ehefrau) mehrere Ehefrauen (Ehemänner) hat. Es ließe sich freilich einwenden, dass polygame Ehen aus logischer Sicht nicht wesentlich verschieden sind von monogamen Ehen, da man erstere als bloße Aggregationen oder »Bündel« monogamer Ehen auffassen kann. So könnten wir Adams polygame Ehe mit beispielsweise drei anderen Frauen als ein aus drei monogamen Ehen bestehendes Bündel betrachten. Dies ist die bevorzugte Sichtweise klassischer Theoretiker für komplexe Rechte mit mehreren Adressaten. Klassische Theoretiker betrachten subjektive Rechte mit mehreren Adressaten als zusammengesetzt aus einfachen subjektiven Rechten mit nur einem Adressaten. Diese reduktionistische Auffassung wird oft als »Bündeltheorie« subjektiver Rechte bezeichnet. Innerhalb der Klasse der komplexen Rechte mit mehreren Adressaten können wir ferner unterscheiden zwischen Rechten, deren Adressaten alle anderen Personen sind und solchen, die sich nicht gegen alle, sondern nur gegen einige richten. Es liegt nahe, erstere als »generelle«, letztere als »spezielle« Rechte zu bezeichnen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Prädikate »generell« und »speziell« im Hinblick auf die Adressaten eines Rechts vergeben werden und nicht im Hinblick auf ihre Träger. Um auszudrücken, dass alle Personen bestimmte Rechte haben, können wir, wie längst allgemein üblich, von »universalen« Rechten sprechen. Der Besitz eines Rechts, das mit Blick auf seine Adressaten speziell ist, kann also hinsichtlich seiner Inhaber durchaus universal sein; und ein Recht, das mit Blick auf seine Adressaten generell ist, kann gleichzeitig nicht allen Personen zukommen. 2. Von abstrakten Wert-Rechten zu konkreten Handlungs-Rechten Wie wir sahen, verlangt eine vollständige Spezifizierung eines klassischen subjektiven Rechts die Angabe von drei Elementen: des Rechtsträgers, des Inhalts des Rechts und seines/r Adressaten. Meist ist die Frage nach dem Träger eines Rechts leicht zu klären. Menschenrechte gelten für alle Menschen, Bürgerrechte
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für alle Bürger, Mieterrechte für alle Mieter. Problematischer ist aus Sicht der klassischen Theorie oft die Angabe des Inhalts eines Rechts. Das ist deshalb so, weil genau genommen nur Handlungen eines bestimmten Typs (z. B. »Adams F en«) als Inhalte klassischer Rechte in Frage kommen. Oft werden in Formulierungen von Rechten jedoch keine Handlungen genannt, sondern die Werte, die durch bestimmte Handlungen für den Rechtsträger gesichert werden sollen. Formulierungen, in denen beispielsweise von einem Recht auf »Leben« oder auf »Eigentum« die Rede ist, enthalten keine ausdrücklichen Hinweise auf die Art der Handlungen, welche die Träger der korrespondierenden Pflichten ausführen müssen. Aus Sicht der klassischen Theorie subjektiver Rechte müssen diese Unbestimmtheiten des Inhalts durch Spezifizierung der für die Sicherung dieses Werts relevanten Handlungstypen beseitigt werden. Rechte auf bestimmte Werte müssen gewissermaßen »übersetzt« werden in konkrete Handlungen eines bestimmten Typs. Ein abstraktes Recht auf einen Wert zerfällt so in ein konkretes Recht oder mehrere solche Rechte auf bestimmte Handlungen anderer. Welche Handlungen für die Sicherung eines Werts als obligatorisch anzusehen sind, wird nicht zuletzt vom politischen und kulturellen Kontext abhängen. Die Umwandlung von Wert-Rechten in Handlungs-Rechte ist vor allem Sache der Politik, nicht der Philosophie. Zudem wird es oft der Fall sein, dass ein Recht auf einen abstrakten Wert bei diesem Prozess in eine jederzeit ergänzungsfähige Vielheit – ein offenes »Bündel« – einfacher Rechte auf konkrete Handlungen anderer zerfällt. Denkbar wäre beispielsweise, dass zu einer bestimmten Zeit das abstrakte Recht auf Leben in einer Gesellschaft durch eine offene Liste konkreter Rechte auf bestimmte Handlungen gesichert wird: das Recht, nicht getötet zu werden; das Recht, nicht unnötig gefährdet zu werden; das Recht auf angemessene Ernährung; das Recht auf körperliche Unversehrtheit; das Recht auf angemessene ärztliche Hilfe etc.. In einer anderen Gesellschaft oder zu einer anderen Zeit könnte diese Liste zusätzliche Elemente enthalten, andere mögen fehlen. Dieser Transformationsprozess von abstrakten Wert-Rechten in konkrete Handlungs-Rechte bestimmt nicht nur, was zu tun ist, sondern auch, von wem. Aus Sicht der klassischen Theorie ist der Inhalt eines subjektiven Rechts keine Handlung in abstracto, sondern immer jemandes Handlung, nämlich die Handlung mindestens eines bestimmten Adressaten. In unserem Beispiel hat Eva ein Recht auf Adams F en. Damit ein subjektives Recht einen Wert für seinen Träger sichern kann, muss hinreichend klar sein, wer dessen Adressat ist, d. h. der Träger der korrespondierenden Pflicht. Das Problem der Unbestimmtheit des
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Adressaten wiegt schwerer als das Problem der Unbestimmtheit des Inhalts. Bezüglich des Inhalts wissen wir immerhin, dass die in Frage kommenden Handlungstypen eine offenkundige Bedingung erfüllen müssen. Sie müssen von der Art sein, dass sie den zu schützenden Wert sichern. Trotz einer gewissen Vagheit umschreibt die abstrakte Rede vom »Recht auf Leben« zumindest indirekt die Klasse der relevanten, lebenssichernden Handlungstypen. Sie enthält jedoch keinerlei Hinweise auf den oder die Adressaten des Rechts. Ist das Recht auf Leben ein generelles Recht gegenüber allen Personen? Oder ist es nur ein spezielles Recht gegenüber einigen? Richtet es sich nur gegen den Staat, in dem der Rechtsträger lebt? Oder gegen alle Staaten? Sollten wir es als ein Recht gegenüber Institutionen betrachten, wie Pogge (2002, 46) vorschlägt? Wenn ja, gegenüber welchen Institutionen? Die abstrakte Rede von einem »Recht auf Leben« lässt diese Frage offen. Nichtsdestoweniger sind die Antworten oft klar. Zumindest bei Wert-Rechten, bei denen der zu schützende Wert durch Hinderungsverbote oder Unterlassungen gesichert wird, können wir in der Regel davon ausgehen, dass sich das Recht gegen alle Personen des moralischen oder rechtlichen Regelungsbereichs wendet. Kandidaten für solche Rechte auf Nichthinderung sind beispielsweise Freiheitsrechte und Eigentumsrechte. 3. Rechte gegen alle und »Rechte« gegen einige Die Unterscheidung zwischen generellen und speziellen Rechten und die mögliche Unbestimmtheit des/der Adressaten ist für O’Neills Institutionalisierungsthese entscheidend. Denn dem Anschein nach gibt es (spezielle) Rechte gegen »einige«, deren Adressaten erst noch ermittelt werden müssen. Das Problem entsteht nicht für Rechte, die im Zuge der Transformation von abstrakten WertRechten in konkrete Handlungs-Rechte als (generelle) Rechte gegenüber allen aufgefasst werden können. Betrachten wir beispielsweise Rechte auf bestimmte Unterlassungen. Solange klar ist, dass jeder prinzipiell fähig ist, den korrespondierenden »negativen« Pflichten nachzukommen, ist es in der Regel unproblematisch, sie als Rechte gegenüber allen aufzufassen. Nehmen wir beispielsweise an, alle Männer hätten ein (negatives) Recht darauf, von anderen nicht rasiert zu werden. Man kann davon ausgehen, dass kaum jemand ein Problem damit haben wird, dieser Unterlassungspflicht nachzukommen. Sie zu erfüllen bedarf es keiner besonderen Gelegenheiten, Ressourcen oder Fähigkeiten. Es gibt daher keine prinzipiellen Schwierigkeiten, Rechte dieser Art als generelle Rechte aufzufassen.
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Anders liegen die Dinge bei Rechten auf »positive« Handlungen: »[A]ny universal rights to ›positive‹ action, for example, to goods, services or specifically to welfare, would demand corresponding obligations that cannot be discharged by all, if only because agents are embodied, hence spatially and temporally dispersed, so not all can have access to one another that universal ›positive‹ intervention would demand« (O’Neill 1996, 130; meine Hervorhebung). Nehmen wir an, Adam hätte ein (positives) Recht, jeden Morgen rasiert zu werden. In einer viel bevölkerten Welt wie der unseren ist es unmöglich, dieses Recht als ein Recht gegenüber allen zu betrachten. Denn, wie O’Neill hervorhebt, werden viele Menschen schon deshalb nicht in der Lage sein, Adam die geforderte Dienstleistung zukommen zu lassen, weil die räumliche Distanz zwischen dem Rechtsinhaber und einigen vermeintlichem Adressaten zu groß ist. Noch schwerer wiegt, dass das Gut, um das es geht und die Art der Handlung, die für dessen Sicherung erforderlich ist, es ohnehin unvernünftig erscheinen lassen, Adams Anspruch als ein generelles Recht zu konzipieren. Da im Prinzip eine einzige Person ausreicht, um Adam die Freuden einer allmorgendlichen Rasur zuteil werden zu lassen, wäre es gewiss zuviel des Guten, ja sogar kontraproduktiv, sein Recht als ein konjunktives Recht gegenüber allen anderen aufzufassen. Es ließe sich überdies einwenden, dass eine solche Auffassung den Sinn von Adams Recht verfehlen würde. Sein Recht ist ein Anspruch auf eine allmorgendliche Rasur, kein Recht auf Millionen allmorgendlicher Rasuren von ebenso vielen Personen. Es erscheint daher falsch, Adams Recht als ein riesiges »Bündel« von Rechten gegenüber Eva und Kain und Abel und Seth und … zu konstruieren. Vielmehr sollten wir es als ein disjunktives Recht gegenüber einigen Personen auffassen. Es ist ein Recht gegenüber Eva oder Kain oder Abel oder Seth oder … Adams Recht auf eine allmorgendliche Rasur kann »distributiv« (O’Neill 1996, 130) befriedigt werden, und für seine Erfüllung spielt es keine Rolle, wer ihn rasiert, solange es überhaupt jemand tut. Fassen wir Adams Anspruch als ein solches disjunktives Recht gegenüber einigen auf, so folgt, dass allmorgendlich irgendjemand die Pflicht hat, Adam zu rasieren. Aber es folgt nicht, dass Eva ihn rasieren muss; oder dass Kain dazu verpflichtet wäre; oder Abel; oder Seth; oder überhaupt irgendjemand Bestimmter. Bentham würde sagen, dass es in diesem Fall keine »angebbaren« Personen gibt, die Adams Recht als korrelative Pflichtträger regelmäßig zuweisbar wären. Die Situation ist vergleichbar mit der Hochzeitszeremonie eines verwirrten Pfarrers, der im entscheidenden Moment zum Bräutigam sagt: »Kraft meines Amtes erkläre ich Dich hiermit zum Ehemann … von irgendjemandem,
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aber niemand Bestimmtem.« Es wäre gewiss abwegig, in einem solchem Fall zu sagen: »Der Mann ist nun verheiratet, nur weiß leider weder er noch sonst jemand mit wem, und er kann es auch nie herausfinden.« Ebenso wenig würden wir die bizarre Konsequenz akzeptieren, dass es nun – »irgendwo dort draußen« – eine Ehefrau gibt, die aber weder weiß noch wissen kann, dass sie verheiratet ist. Im Unterschied zu vielen natürlichen Eigenschaften ist die Vorstellung, jemand könnte die normative Eigenschaft Ehefrau erwerben, ohne etwas davon wissen zu können, absurd. Die Vorstellung einer Ehe mit einer nicht-angebbaren Person widerspricht dem Sinn und dem Zweck dieser gesellschaftlichen Institution. Es scheint daher klar, dass es dem verwirrten Pfarrer nicht gelungen ist, eine Ehe zu stiften. 4. Die institutionelle Allokation von Pflichten Ähnlich verhält es sich mit Adams »Recht« von irgendjemanden jeden Morgen rasiert zu werden. Auch hier wäre es absurd, zu argumentieren: »Wir wissen, dass Adam ein Recht auf eine allmorgendliche Rasur hat, und Rechte implizieren Pflichten anderer. Daher gilt, dass jeden Tag irgendjemand die Pflicht hat, Adam zu rasieren. Wir wissen nur nicht, wer es wann tun muss, und die betreffende Person weiß es auch nicht, ja kann es gar nicht wissen.«4 Ein solches Argument wäre bizarr – es sei denn, wir betrachteten es als reductio ad absurdum seiner ersten Prämisse: Dass Adam ein Recht im Sinne der klassischen Theorie subjektiver Rechte besitzt. Dass das Argument als eine solche reductio verstanden werden muss, wird klar, sobald wir uns den Zweck subjektiver Rechte vor Augen führen. Subjektive Rechte sind normative Werkzeuge mit einer bestimmten Funktion. Die Pointe der Etablierung von Recht/Pflicht-Beziehungen zwischen Personen besteht in der Sicherung von Werten für den Rechtsträger, indem anderen Akteuren entsprechende Pflichten auferlegt werden. Eine in diesem Sinne funktionierende Recht/Pflicht-Beziehung muss jedoch bestimmte Bedingungen erfüllen. Aus Sicht der klassischen Theorie sind dies in erster Linie zwei: hinreichende Konkretisierung und epistemische Durchsichtigkeit. Das Gebot hinreichender Konkretisierung zielt auf den Grad der Spezifizierung der Elemente eines 4. O’Neill (1996, 134) beschreibt diese Situation so: »Nobody would know what their obligations were; or for whom they ought to provide what or when they should act, or at how much cost to themselves«.
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Rechts, insbesondere des geforderten Handlungstyps und der Person, die der Pflicht unterliegt, eine Handlung dieses Typs auszuführen. (siehe Abschnitt 2 oben). Die Forderung nach epistemischer Durchsichtigkeit betrifft bestimmte epistemische Aspekte von Recht/Pflicht-Beziehungen. Bei funktionierenden Recht/Pflicht-Beziehungen muss es nicht nur jemanden geben, der die entsprechende Pflicht hat. Im Prinzip muss für alle Beteiligten erkennbar sein, wer der Träger der Pflicht ist. Insbesondere sollten der Rechts- als auch der Pflichtträger voneinander wissen können, dass sie die entsprechenden normativen Positionen innehaben. Im Idealfall sind diese Informationen prinzipiell allen Beteiligten jederzeit zugänglich und in diesem Sinne öffentlich. Die Erfüllung beider Bedingungen stellt sicher, dass der Besitz eines subjektiven Rechts nie die oben geschilderte absurde Form einer Ehe mit Unbekannten annimmt. Wie wir sahen, würde diese Möglichkeit nicht nur dem Sinn subjektiver Rechte widersprechen, sondern so manche Zuschreibung ad absurdum führen. Vor diesem Hintergrund stellt die Erfüllung der Forderungen nach hinreichender Konkretisierung und epistemischer Durchsichtigkeit eine Existenzbedingung für Recht/Pflicht-Beziehungen dar. Wie können wir prüfen, ob ein Kandidat für ein subjektives Recht diese Bedingungen erfüllt? Vom Standpunkt der klassischen Theorie sind öffentliche Zuschreibungen atomarer Rechte der Form »A hat ein Recht auf Bs F en gegenüber B«, wobei »A« and »B« singuläre Terme für Personen vertreten, hinreichend konkret und epistemisch transparent. Dasselbe gilt für alle molekularen Rechte, die aus atomaren Rechten dieser Form aufgebaut werden können oder aus ihnen folgen, gleichgültig ob die resultierenden Rechte generell oder speziell sind. Umgekehrt gilt, dass alle Rechte, die auf atomare Rechte dieser Form zurückgeführt werden können, hinreichend konkret sind. Ist das für eine solche Reduktion notwendige Wissen prinzipiell verfügbar, sind solche Rechte auch epistemisch durchsichtig. Generelle Rechte auf Nichthinderung bestehen diesen Test, da wir sie als (oft sehr umfangreiche) »Bündel« atomarer Rechte gegenüber allen auffassen können. Dasselbe gilt für spezielle Rechte, die aus atomaren Rechten gegenüber »angebbaren« Personen folgen. Aber so genannte »Rechte« gegenüber einigen, aber nicht allen, bei denen prinzipiell nicht erkennbar wird, wer die Träger der korrelativen Pflichten sind, fallen bei diesem Test durch. Solange es systematische Unbestimmtheiten bezüglich des Adressaten eines Rechts gibt, gibt es auch kein subjektives Recht. Solche »Rechte« sind radikal unvollständig (»radically incomplete« O’Neill 1996, 134). Aus Sicht der klassischen Theorie sind sie keine Rechte.
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Der solchen »Rechten« anhaftende Defekt kann jedoch durch Ergänzung der fehlenden Informationen bezüglich der/des Pflichtträger/s behoben werden. Dies kann etwa auf dem Wege einer öffentlichen Allokation von Pflichten mitsamt ihren Trägern geschehen, durch die ein wirksamer Schutz erst möglich wird. In einer Welt wie der unseren ist die Einrichtung öffentlicher Institutionen vielleicht der beste und womöglich der einzige für alle Beteiligten akzeptable Weg, eine solche Allokation auf faire, durchsichtige und kontrollierbare Weise vorzunehmen. Die prinzipielle Erzwingbarkeit der zugewiesenen Pflichten, die mit ihrer Institutionalisierung in der Regel einher geht, ist dabei ein willkommener Nebeneffekt, aber nicht das Hauptmotiv: »Without institutions, supposed universal rights to goods and services are radically incomplete. To institutionalize them is not just to define and secure the ›backing‹ of the law and the courts, but to define and allocate obligations to contribute and provide the relevant goods and services, and so to fix the very shape of these rights and obligations« (O’Neill 1996, 134). Da es wahrscheinlich viele gleichwertige Möglichkeiten gibt, ein funktionsfähiges institutionelles Netz mit dem gewünschten Effekt einzurichten, lässt sich Genaueres über dessen Gestalt nur schwer sagen: »[A]ll that can be known in advance is that, should a (just) scheme be devised, somebody or others will need to bear yet-to-be specified obligations« (O’Neill 1996, 134). Dennoch, gleichgültig, welche Form das zu schaffende institutionelle Netzwerk letztlich annehmen wird, nur mit seiner Hilfe können wir hoffen, die »radikale Unvollständigkeit« vieler Ansprüche auf positive Leistungen nachhaltig zu beseitigen. Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, dass O’Neills Forderung nach Institutionalisierung positiver Rechte von bestimmten Annahmen über das Wesen subjektiver Rechte und deren existentieller Abhängigkeit von Pflichten ausgeht. Diese Annahmen sind charakteristisch für jene Familie von Auffassungen, die ich als »klassische« bezeichnet habe, weil sie die in den Schriften von Kant und Bentham bis Hohfeld und Feinberg dominierende Theorie subjektiver Rechte darstellt. Ich habe jedoch schon angedeutet (s. Fußnote 1), dass diese Konzeption in jüngster Zeit von Autoren wie Neil MacCormick und Joseph Raz einer eingehenden Kritik unterzogen wurde. Nach Jeremy Waldron ist diese Kritik so vernichtend, dass ein trotziges Festhalten an der klassischen Theorie heute nur mehr um den Preis der eigenen wissenschaftlichen Reputation möglich ist. MacCormick und Raz folgend, skizziert Waldron eine anti-klassische Konzeption subjektiver Rechte, der zufolge die Existenz eines Rechts nicht mehr, wie in der klassischen Theorie, von der Existenz korrelativer Pflichten
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abhängt. Auf den »klassischen« Einwand »that there can be no determinate right … unless it is correlated with a determinate duty incumbent on some person or persons in particular«, entgegnet Waldron (1993, 16): »[T]his view about the tightness of the relation between rights and duties is no longer reputable.« Demgegenüber bin ich davon überzeugt, dass die klassische Konzeption subjektiver Rechte weitaus zäher ist ihre Kritiker ahnen und Waldrons Abgesang daher verfrüht ist. Aber das ist ein anderes Thema. Hier habe ich nur plausibel zu machen versucht, dass O’Neills These von der notwendigen Institutionalisierung von Wohlfahrtsrechten in erster Linie auf ihrem klassischen Verständnis subjektiver Rechte beruht.5
5. Für zahlreiche erhellende Diskussionen bin ich Wilfried Hinsch zu großem Dank verpflichtet.
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LITERATUR
Feinberg, J. (1973), Social Philosophy, Englewood Cliffs/NJ. Feinberg, J. (1980), »The Nature and Value of Rights.« in ders.: Rights, Justice, and the Bounds of Liberty, Princeton/NJ, 143–158. Hart, H.L.A. (1982), Essays on Bentham, Oxford Hohfeld, W. N. (1919), Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, edited by W.W. Cook, New Haven. Lyons, David (1994), Rights, Welfare and Mill’s Moral Theory, Oxford. MacCormick, N. (1977), Civil Liberties and the Law, Edinburgh. O’Neill, O. (1996), Towards Justice and Virtue, Cambridge. Pogge, T. (2002), World Poverty and Human Rights, New York. Raz, J. (1980), The Concept of a Legal System, 2nd ed., Oxford. Raz, J. (1986): The Morality of Freedom, Oxford. Stepanians, M. (2004), »Classical and anti-classical views on the relationship between rights and duties« in: R. Bluhm/Chr. Nimtz (Hg.): Selected Papers Contributed to the Sections of GAP.5, 5th International Congress of the Society for Analytical Philosophy, Paderborn (CD-Rom). Tasioulas J. (2004), »The Moral Reality of Human Rights«, demnächst in einem von T. Pogge herausgegebenen UNESCO-Band. Waldron, J. (1993), Liberal rights. Collected Papers 1981–1991, Cambridge.
GERICHTSGERECHTIGKEIT FÜR MENSCHHEITSVERBRECHEN? ZU CHANCEN UND GRENZEN UNIVERSALER STRAFGERICHTSBARKEIT
Andreas Müller
1. Die Realität universaler Strafgerichtsbarkeit
Die Erfahrung lehrt uns, dass es – auf Ebene der Moral, der Sitte wie des Rechts – eine gewisse Entsprechung zwischen der Schwere einer als unmoralisch, unrecht, unbillig bewerteten Handlung und der Wahrscheinlichkeit und Intensität der in Hinblick darauf erwarteten und ins Werk gesetzten Reaktion gibt. Anders gesagt: Je gravierender eine menschliche »Untat« zu Buche schlägt – wobei man dies hinsichtlich des Grades der Verwerflichkeit derselben wie auch ihrer Folgenschwere beurteilen mag –, desto verlässlicher und gewichtiger möchten wir eine angemessene Reaktion (sprich: Sanktion) eintreten sehen, die vom »bloßen« Unwerturteil bis zur Strafe im Sinne des Entzugs von Vermögen, Freiheit oder gar des Lebens gehen kann. Und auch auf terminologischer Ebene findet dies seinen Niederschlag: Wir unterscheiden den Fauxpas von der Ordnungsübertretung, das Kavaliersdelikt von der Missetat, das Vergehen vom Verbrechen und verbinden damit Handlungserwartungen und -bereitschaften unterschiedlicher Intensität. Dazu in erheblicher und bemerkenswerter Spannung steht ein anderer Erfahrungsstrang, der eine besonders prägnante Formulierung bei José Ayala Lasso gefunden hat: »A person stands a better chance of being tried and judged for killing one human being than for killing 100.000.« Worauf der ehemalige UN-Hochkommissar für Menschenrechte damit Bezug nimmt, ist die geschichtlich leider bestens zu belegende Tatsache, dass die Urheber der schwersten uns geläufigen Verbrechen (wie etwa Völkermord, Massenvergewaltigung, Folter, ethnische Säuberung) nur allzu oft verhältnismäßig milde sanktioniert werden oder überhaupt straflos davonkommen. Noch stutziger müssen die Ergebnisse einer Studie Bassiounis (1998, 2) machen, die den etwa 250 bewaffneten Konflikten internationalen und nicht-internationalen Charakters sowie den diversen Tyrannenregimen (bloß in der Zeit nach dem Zwei239
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ten Weltkrieg!) geschätzte 170 Millionen allein an Zu-Tode-Gekommenen zuschreibt. Und wie viele zählen wir, die zur Verantwortung gezogen worden sind? In Hinblick auf das, was man angesichts der damit verbundenen verheerenden Folgen und der zu Grunde liegenden als in höchstem Maße verwerflich empfundenen Gesinnung als Großmaßstabsverbrechen bezeichnen kann, ist die dominierende Erfahrung in Geschichte wie Gegenwart die weitgehende »Verantwortungs-losigkeit« von deren Urhebern – ein Phänomen, das regelmäßig unter dem Stichwort der so genannten impunity geführt wird. Und die damit angesprochene Folgen- und Straflosigkeit ist keineswegs nur eine faktische, etwa durch realpolitische Gegebenheiten determinierte, sondern auch und regelmäßig eine normativ abgesicherte. In diesem Zusammenhang sei allein auf die klassische Lehre von den völkerrechtlichen Immunitäten verwiesen, welche eine Überprüfung und Sanktionierung des Handelns von Staatsoberhäuptern (immunité des chefs d’État) sowie von anderen, wenn und soweit sie im Namen eines Souveränitätsträgers agieren (act-of-state-Doktrin), verbieten. Die genannten Konzepte, die ihren Ursprung im Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten (égalité souveraine des États) haben, reflektieren den Wunsch, der Unabhängigkeit der Souveränitätsträger und deren Schutz vor äußerer Einmischung – welches Prinzip sich nach wie vor prominent im Völkerrecht findet (siehe Art 2 Abs 1 und 7 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945) – den Vorrang vor der Geltendmachung und Sanktionierung des (auch eklatanten) Missbrauchs der damit verbundenen Machtstellung in Form von großangelegten Menschenrechtsverletzungen zu gewähren. Angesichts der Involvierung höchster Staats- und Kommandostellen in derartige Verbrechen mag es auch nicht verwundern, dass interne Kontroll- und Sanktionsmechanismen ebenso leer laufen – jedenfalls zum Zeitpunkt von deren Verübung, aber regelmäßig auch im späteren Verlauf der Ereignisse. Die Unfähigkeit der überkommenen rechtlichen Bewältigungsmechanismen, eine ernst zu nehmende Antwort auf Großmaßstabsverbrechen zu finden und dem Skandalon der impunity ein effektives Remedium entgegenzusetzen, ist angesichts der explosionsartigen Vermehrung der Opferzahlen im 20. Jahrhundert umso schmerzhafter empfunden worden. Die zwei Kriege, denen das Prädikat »Welt« voran gestellt wurde, sowie die von historischer Realität erzwungene, gleich mehrfach anzuwendende begriffliche Neuschöpfung des »Völkermords« stehen paradigmatisch für einen nicht abreißen wollenden Strom von Massakern bis dahin ungekannter Dimensioniertheit. Die
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allenthalben erlebte Spannung von erstrebter Sanktion und realer Straflosigkeit hat schon nach dem Ersten Weltkrieg zu durchaus ernst zu nehmenden Initiativen geführt 1 und mit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokio ins Leben gerufen2, die – unabhängig von der Notwendigkeit ihrer kritischen Evaluierung – als erste echte Versuche internationaler strafgerichtlicher Aufarbeitung großflächiger Menschenrechtsverletzungen anzusehen sind. In diese Erfahrung hinein hat der spätere Chefankläger des Nürnberger Tribunals, Robert H. Jackson, inbrünstig seine Programmerklärung formuliert: »We do not accept the paradox that legal responsibility should be the least where power is the greatest« (Jackson 1945, III, 2). Sah man den gerade erst gewonnenen internationalen Konsens in den Dynamiken des Kalten Krieges wieder zu Gunsten des Nichteinmischungsprinzips wegsinken, so entstieg er nach dessen Ende seinem fast fünfzigjährigen Schlaf mächtig (wenn auch in recht selektiver Weise) wieder: Dieser Renaissance des Projekts universaler Strafgerichtsbarkeit verdanken sich die 1993 und 1994 etablierten, noch immer aktiven Kriegsverbrechertribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda 3 sowie – als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung – die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes.4 Im Gegensatz zu seinen Vorläufern, deren Mandat in örtlicher und zeitlicher Hinsicht jeweils beschränkt war, verfügt der ICC, zumindest dem Prinzip nach, über eine unbeschränkte Kognitionsbefugnis ratione loci ac temporis. 1. Art 227 des Vertrags von Versailles vom 28. Juni 1919 sah ausdrücklich die Errichtung eines speziellen Tribunals zur Aburteilung des vormaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. vor; zu dessen Verwirklichung ist es in der Folge nie gekommen. 2. Errichtet einmal durch das so genannte London Agreement for the Prosecution and Punishment of the major war criminals of the European Axis der vier Hauptalliierten vom 8. August 1945 sowie durch eine Verfügung des Supreme Commander for the Allied Powers, General Douglas MacArthur, betreffend die Errichtung des International Military Tribunal for the Far-East vom 19. Januar 1946. 3. Siehe Security Council Resolution 827 vom 25. Mai 1993 und Security Council Resolution 955 vom 8. November 1994. 4. Der Internationale Strafgerichtshof ist mit dem am 1. Juli 2002 erfolgten In-Kraft-Treten des Rome Statute of the International Criminal Court vom 17. Juli 1998 entstanden und ist im Begriff, seine konkrete Arbeit aufzunehmen. Da das Deutsche nicht zu den sechs führenden Sprachen der Vereinten Nationen gehört, in denen deren Resolutionen sowie die universalen Vertragswerke authentisch ausgefertigt werden, ist jeweils die englische Fassung aufgeführt und konsequent die Bezeichnung ICC verwendet.
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Damit steht erstmals ein Instrument zur Verfügung, das zu beanspruchen sich anschickt, einen entscheidenden Schritt in Richtung globaler Ahndbarkeit von Großmaßstabsverbrechen zu tun und sich damit, Immunitätseinreden beiseite schiebend, der regierenden Tatenlosigkeit im Blick auf das Phänomen der impunity entgegen zu stellen. Das oftmals ausgelobte Programm universaler Strafgerichtsbarkeit ist in der Institution des ICC in eine Realität erwachsen, welche eine Evaluierung von Chancen und Potenzialen, zugleich aber auch von Unzulänglichkeiten und Grenzen des neuen Mittels in Händen der Menschheit notwendig macht, das ihr Handlungsspielräume hinsichtlich der Höchstformen Menschen von Menschen zugefügten Unrechts verschaffen soll. 2. Menschheitsverbrechen An Superlativen hat es bisher nicht gefehlt: Neben der eben verwendeten Formel war schon von den »schwersten uns geläufigen Verbrechen« oder von »Großmaßstabsverbrechen« die Rede. Mögen solche Begrifflichkeiten auch den Vorteil haben, im ersten Herangehen ein gewisses intuitives Verständnis anzusprechen und zu begünstigen, so geben sie dennoch nicht ohne weiteres den Blick auf den Kern des Gemeinten frei. Geeigneter hiezu scheint der Begriff der Menschheitsverbrechen, der – wiewohl zunächst einmal ebenso schillernd und unbestimmt wie die bereits erwähnten Wendungen – in mehrerlei Hinsicht eine Annäherung an den eigentlichen Gegenstand universaler Strafgerichtsbarkeit (und damit einen tieferen Einblick in diese selbst) ermöglichen mag. Zuallererst steht dieser in spannungsreicher und sogleich auszulotender Nähe zu einem gewichtigen völkerrechtlichen Terminus technicus, den so genannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ihre eigentliche Geburtsstunde mit dem Einzug ins Statut des Nürnberger Tribunals (siehe Art 6 lit c) erlebt haben und seither zu einem tragenden Pfeiler des Völkerstrafrechts avanciert sind. Die Parallele drängt sich noch mehr auf, wenn man sich – das Deutsche ist, wie schon erwähnt, keine der führenden Völkerrechtssprachen – die authentische englische bzw. französische Nomenklatur (crimes against humanity/crimes contre l’humanité) vor Augen führt, denn die dem lateinischen »humanitas« entspringenden Vokabeln bergen die Bedeutungsgehalte sowohl von »Menschlichkeit« wie von »Menschheit« in sich. Und in der Tat sind die crimina contra humanitatem, worauf schon Hannah Arendt (1986, 395/399) hingewiesen hat, nicht so sehr dadurch charakterisiert, dass es jemand hätte an Menschlichkeit
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fehlen lassen, sondern dass eben dieser sich an der »Ordnung der Menschheit« vergangen hat. Die damit ins Treffen geführte laesio humanitatis – als verletzter Rechtsgutträger fungierte also die »Menschheit« – bringt uns zwar zum Definiendum zurück, bleibt aber für sich auslegungsbedürftig. Schon der oben verwendete Begriff »Großmaßstabsverbrechen« vermag zu verdeutlichen, dass es im gegenständlichen Zusammenhang um Untaten geht, die charakteristische Merkmale in quantitativer Hinsicht (d. h. in der Zahl der von ihnen Betroffenen) aufweisen: Völkermord, systematischer Folter, Massenvergewaltigung, ethnischer Säuberung fallen Tausende und Abertausende von Menschen zum Opfer. Zugleich machen, was den Grad ihrer Einwirkungsgeneigtheit betrifft, gerade diese Delikte in der Grundverfasstheit eines Menschenlebens betroffen, in der basalen Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit der Existenz selbst, der körperlich-geistigen Integrität und geschlechtlichen Selbstbestimmung. Aber noch in einem anderen Sinne soll hier von Betroffenheit die Rede sein: Durch den rasanten Bedeutungsgewinn von Massenmedien und Telekommunikationstechnologien und die damit verbundene Möglichkeit, jedes Wohnzimmer in Echtzeit mit Informationen zu versorgen, gelangen Dokument und Zeugnis derartiger Verbrechen auch nicht unmittelbar Beteiligten (zumindest potenziell) zunehmend stärker ins Bewusstsein. Das Kant-Wort, wonach »es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird« (Kant 1912a, 360), gewinnt auf diesem Hintergrund brennende Aktualität. Für die Globalisierung von Leiden und Verbrechen zeichnen aber nicht nur die vorgenannten Mengenaspekte (im Sinne steigender Opfer-, Sympathisanten- und Zuschauerzahlen) verantwortlich. Der eigentliche Kern der Rede von »Menschheitsverbrechen« zielt auf qualitative Merkmale, die den so bezeichneten Untaten eignen: Eine Handlung wird als unerwünscht und ahndungswürdig bewertet auf eine bestimmte Gemeinschaft hin (Familie, Stamm, Kult-/Religionsgemeinschaft etc.), deren Güter, Interessen, Prinzipien, Spielregeln dadurch gefährdet oder verletzt werden. Strafdelikte sind hierbei auf staatlicher Ebene anzusiedeln; sie werden staatlicherseits zu solchen erklärt, und der Strafanspruch wird exklusiv von einem diesbezüglich Beauftragten, dem Staatsanwalt, geltend gemacht. Seinem über die Jahrhunderte entwickelten Selbstverständnis nach die größte und umfassendste handlungsfähige Gemeinschaft von Menschen, fühlte sich der Nationalstaat seit seiner Entstehung insbeson-
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dere zur Bestimmung und Sanktionierung der »Kapitalverbrechen« (als den gravierendsten Einschnitten in die Ordnung des Zusammenlebens) berufen. Es mag in diesem Zusammenhang nur angeführt werden, dass eine der entscheidenden Entwicklungslinien des modernen Staates in der Monopolisierung der Blutgerichtsbarkeit beim Landesherrn gründet. Dass die staatliche Strafhoheit damals wie heute zu den Kernelementen des Souveränitätsbegriffs gehört, ist mithin alles andere als ein Zufall. Aus dem Blick geraten dabei Untaten, die in Anspruch und Reichweite diesen Zusammenhang überfordern, Delikte, die nicht nur einem Volk, einem Staat zuordenbar sind, sondern gerade den vertrauten Rahmen der größten bekannten Teilgemeinschaften im Blick auf das Gesamt der Menschen hin übersteigen. Beispiele dafür lassen sich beileibe nicht nur in jüngerer Zeit, sondern weit in die Geschichte zurück finden; wahr ist allerdings, dass mit den allenthalben konstatierten Globalisierungsdynamiken, die insbesondere und in steigendem Maße das 20. sowie das beginnende 21. Jahrhundert zeichnen, auch die Relevanz staatstranszendierender Verbrechen zugenommen hat. Wer Menschheitsverbrechen begeht, vergeht sich, den Partikulärzusammenhang des Einzelgemeinwesens hinter sich lassend, an Gütern der Menschheit, vergeht sich somit vor und an ihr selbst. Genau darauf zielt Hannah Arendt, wenn sie von der Verletzung der Ordnung der Menschheit spricht, und gibt dafür zugleich ein Beispiel: Die von den Nationalsozialisten geplante und betriebene völlige Vernichtung des jüdischen Volkes bedeute »einen Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche […], also auf ein Wesensmerkmal des Menschseins, ohne das wir uns Dinge wie Menschheit oder Menschengeschlecht nicht einmal vorstellen können« (Arendt 1986, 391). Die Zuweisung ist dabei nicht eine exklusive: Die Shoa »gehört« genauso dem jüdischen Volk als Hauptopfer der nationalsozialistischen Massenvernichtungspolitik wie der Gesamtmenschheit in dem Versuch, einen ihr wesentlichen Teil auszurotten. Und im Blick auf speziell diese zweite, allzu oft vernachlässigte Ebene mag man sagen: »Nichts ist verderblicher für ein Verständnis dieser neuen Verbrechen und steht der Herausbildung eines internationalen Strafrechts, das sich mit ihnen befassen müßte, mehr im Wege als die weit verbreitete Meinung, daß Mord und Völkermord im Grunde die gleichen Verbrechen seien und daß darum der staatlich organisierte Völkermord ›kein neues Verbrechen‹ darstelle. Das Merkmal des letzteren ist, daß eine gänzlich andere Ordnung zerstört und eine gänzlich andere Gemeinschaft verletzt wird.« (Arendt 1986, 395, Hervorhebung A.M.).
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Wenn Arendt, beseelt von dem Anliegen, den von ihr identifizierten kategorialen Unterschied zwischen Verbrechen im Partikulärzusammenhang und auf universaler Ebene möglichst prägnant herauszuarbeiten, sogar so (und damit wohl auch zu) weit geht zu sagen, dass »diese neuen administrativen Massenmörder vor Gericht gestellt werden [müssen], weil sie die Ordnung der Menschheit verletzt haben und nicht weil sie Millionen von Menschen getötet haben« (Arendt 1986, 395, Hervorhebung A.M.), so ist darin weniger die abzulehnende Hypostasierung eines diffusen Menschheitskonzepts auf Kosten von unzähligen Einzelschicksalen zu sehen, sondern der Wunsch, in den Prozess der Bewusstwerdung hinein und um seinetwillen die Bedeutung der universalen Ebene und ihrer relativen Unabhängigkeit herauszustreichen. Dies macht zugleich klar, dass eine Typologie, die Verbrechen jeweils der nationalen oder universalen Ebene zuzuweisen sucht, keine eindeutige Zuordnung im Sinne eines tertium non datur zu leisten vermag. Vielmehr geht es durchwegs um ein Kontinuum, wo sich legitime Belange des/der betroffenen Partikulärgemeinwesen(s) mit solchen der Gesamtmenschheit in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung verbinden. Als Beispiel hiefür ist schon die Tragödie der Shoa genannt worden; ähnlich, aber in ganz anderer Abschattierung, verhält es sich beim Phänomen des internationalen Terrorismus, das – zumindest aus erst-welt-zentrierter Perspektive – vor allem mit den Anschlägen in New York am 11. September 2001 sowie in Madrid am 11. März 2004 mächtig ins kollektive Bewusstsein gerückt ist. Just aus dem Gedanken, dass es über den vertrauten nationalstaatlichen Zusammenhang hinaus eine überstaatliche, universale Betroffenheit durch von Menschen an Menschen verübtes Unrecht geben kann, inspiriert sich das Statut des ICC, wenn es, mit Bedacht Wort für Wort wählend, als seinen zentralen Behandlungsgegenstand »the most serious crimes of concern to the international community as a whole« (Art 5 Abs 2 S 1) anführt. Am Grund der folgenden Ausdifferenzierung in die konkreten völkerstrafrechtlichen Deliktstatbestände (Völkermord, Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) steht jeweils das umfassendere Konzept des Menschheitsverbrechens, dem essenziell die Idee einer »Interessengemeinschaft« der internationalen Gemeinschaft als solcher innewohnt, die neben jene der Partikulärgemeinwesen tritt und in relativer Unabhängigkeit von den einzelstaatlichen Täter- und Opferzusammenhängen in eigenem Namen ihre Belange geltend macht. In genau diese Kerbe der Staatentranszendenz schlägt das dem Völkerrecht schon geraume Zeit vertraute Konzept des hostis humani generis, welches den Täter als
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»Feind des Menschengeschlechtes« apostrophiert (siehe etwa Arendt 1986, 382/400 f.). 3. Materielle und formell-organisatorische Universalität Was bisher in Hinblick auf den Gegenstand universaler Strafgerichtsbarkeit auszuloten gesucht worden ist, mag man die materielle Universalität der Menschheitsverbrechen heißen, stellen sie doch ihrem Gehalt nach Unrecht dar, das nicht einer bestimmten partikulären Gemeinschaft exklusiv zurechenbar ist, ihr zu eigen gehört; oder aber, positiv gewendet, Unrecht, das seiner Bedeutung und seinem Anspruch nach eine gesamtmenschheitliche Antwort erheischt. Damit ist aber – und dies gilt es wohl zu beachten – keineswegs eine Entscheidung darüber getroffen, auf welcher Ebene, in welchen Bahnen, vermittels welcher Institutionen die Geltendmachung dieser Verantwortlichkeit zu erfolgen habe. Der materiellen korrespondiert mitnichten ohne weiteres formell-organisatorische Universalität. Ganz im Gegenteil galt als klassischer Bewältigungsmechanismus durchwegs das so genannte Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip, das den universalen Gehalt der stellvertretenden Fürsorge eines Einzelstaates überantwortet. Die ausgreifende Bezeichnung darf nicht über den dezidiert partikulären Charakter der Reaktionsform hinwegtäuschen: Das Weltrechtsprinzip ermächtigt (und verpflichtet) einen Staat, auch ohne unmittelbare eigene Betroffenheit durch ein Verbrechen (etwa in Hinblick auf den Ort der Tatbegehung oder die Nationalität von Opfer oder Täter) im Namen der Weltgemeinschaft tätig zu werden; der einzelne Souveränitätsträger realisiert in der Strafverfolgung mithin kein Eigeninteresse, sondern handelt als ein Teil der Staatengemeinschaft an deren Stelle und Platz. Es muss hier nicht weiter ausgeführt werden, mit welchen Unzulänglichkeiten und Anfälligkeiten dieser Treuhand hinsichtlich der Egoismen der berufenen Staaten zu rechnen ist; die Interessenkollisionen sind von vornherein abzusehen. In der Praxis kann das Weltrechtsprinzip jedenfalls auf eine nur recht kärgliche Erfolgsgeschichte verweisen. Die prominenteste Rechtfertigung, sich in diesem Zusammenhang auf partikuläre Administration von universalen Ansprüchen zu verlassen, ist weitgehend in der schlichten Nichtexistenz universaler Bewältigungsmechanismen zu sehen, die der als solcher handlungsunfähigen Staatengemeinschaft die Zuhilfenahme des »bewehrten Arms« des Nationalstaats schmackhaft gemacht
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haben. Die Zeichen der Zeit verkennend, hatte die Völkermordkonvention von 1948 5 noch die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtes zur Aburteilung der vermeintlichen Delinquenten vorgesehen (Art 6); die den Realitäten des Kalten Krieges geneigteren Genfer Konventionen vom 12. August 1949 verlegten sich mangels realistischer Perspektive der Verwirklichung einer solchen Instanz wiederum auf das Universalitätsprinzip und ordneten an, dass jeder Staat, der einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher (also einen Urheber von so genannten »grave breaches« der Konventionen) in seiner Gewalt hält, ohne jede unmittelbare Betroffenheit berufen und verpflichtet sei, diesen entweder selbst vor Gericht zu stellen oder aber einem anderen Souverän zur Aburteilung zu überantworten (siehe die wortgleichen Art 49, Art 50, Art 129 und Art 146 der vier Genfer Konventionen) – ein Musterbeispiel des überkommenen Grundsatzes aut dedere, aut iudicare. Demgegenüber fordert die sogenannte Homogenitäts- oder Gleichlaufthese, dass der materiellen auch formell-organisatorische Universalität zu entsprechen habe. Sich dem Argument verschließend, dass der Staat der einzig zwangsbewehrte und damit effektive Betreiber von Strafgerechtigkeit sei, wird gerade umgekehrt argumentiert, dass die allseits beklagte impunity bezüglich Menschheitsverbrechen wesentlich daher rühre, dass es bei den in Frage kommenden Staaten in aller Regel am Willen oder aber an der Fähigkeit zur Verfolgung fehle. Mag es nun sein, dass bei in zwischenstaatlichem Konflikt verwirklichten Verbrechen der Täter in seinem oder einem Drittstaat Zuflucht und Schutz vor Zugriff findet, dass in internen Konflikten die öffentlichen Institutionen durch Bürgerkrieg oder Aufruhr lahm gelegt sind oder der staatliche Strafanspruch dadurch leer läuft, dass sich der Täter im betroffenen Gemeinwesen bleibender Macht, Protektion, gar Achtung erfreut; es gibt der Gründe noch zahlreiche mehr, die die systematische Überforderung klassischer staatlicher Bewältigungsmechanismen angesichts von Menschheitsverbrechen erweisen und damit deren Folgenlosigkeit weit wahrscheinlicher machen als deren Ahndung. Vertreter der genannten These sehen das Remedium in einer überstaatlichen Instanz, die weitgehend unabhängig von einzelstaatlichen Interessen und partikulären Befindlichkeiten Menschheitsverbrechen zur Verfolgung bringt; und just dieser Anspruch doppelter Universalität ist es, welcher das zentrale Charakteristikum universaler Strafgerichtsbarkeit ausmacht. In diesem Sinne ist der 5. Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide vom 9. Dezember 1948.
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Gedanke bereits, wenn auch nur für einen wohl limitierten Kontext, in den Tribunalen von Nürnberg und Tokio, für Ex-Jugoslawien und Ruanda fruchtbar gemacht worden und hat seine bisher prominenteste Realisierung in der Schaffung des ICC gefunden, der sich als wahrlich universale Plattform zur Geltendmachung individueller Verantwortlichkeit angesichts von Menschheitsverbrechen versteht. Die Präambel des Statuts weist die raison d’être sowie den sich damit verbindenden basalen Argumentationsgang nachdrücklich auf: »Affirming that the most serious crimes of concern to the international community as a whole must not go unpunished […] determined to put an end to impunity for the perpetrators of these crimes […] determined to these ends and for the sake of present and future generations, to establish an independent permanent International Criminal Court« (Pr, Abs 4, 5 und 9). So plausibel, ja wünschenswert die Realisierung einer universalen Strafgerichtsbarkeit im Lichte des Homogenitätsprinzips scheint und so vieles sich diesbezüglich ins Treffen führen lässt, mögen doch auch die Gegenargumente zu Wort kommen: Die Weltgerichtsbarkeit könnte durch die zu erwartende Flut an Fällen schlichtweg überfordert sein und müsste die anfallenden Causen nach gleichheitsmäßig problematischen Kriterien aussortieren6 – von den Gefahren einer Politisierung der Jurisdiktion einmal ganz abgesehen. Zugleich wird ihr mangelnde Nähe zu Tatort und Geschehen, zu wenig Kenntnis von und Verbundenheit mit den Verhältnissen vor Ort vorgeworfen. Sodann darf, wie schon ausgeführt, nicht vergessen werden, dass das Vorhandensein globaler Betroffenheit den legitimen Universalitätsanspruch nicht seinerseits exklusiv macht: Er konkurriert regelmäßig mit ebenso legitimen partikulären, sprich nationalen Ansprüchen. Der Doppelzuordnung auf materieller Ebene korrespondiert nach den Forderungen der Homogenitätsthese selbst auch die Möglichkeit der Geltendmachung der Täterverantwortlichkeit sowohl auf universalem wie partikulärem Niveau; dabei sind Zuständigkeitsüberschneidungen und Kompetenzkonflikte vorprogrammiert. Gerade in Hinblick auf das zuletzt Gesagte hat das Statut des ICC wesentliche Intuitionen aufgegriffen: Einerseits dem Grundsatz der Subsidiarität da6. Als Beispiel dafür mag nur das Internationale Strafgericht für Ruanda stehen, das sich mit der Entwicklung konfrontiert sah, dass die in Ruanda selbst vor Gericht gestellten »kleinen Fische« die Todesstrafe fürchten mussten, während die vor dem internationalen Tribunal in Arusha (Tansania) zur Verantwortung gezogenen Führungsspitzen höchstens eine lebenslange Freiheitsstrafe zu gewärtigen hatten.
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hingehend verpflichtet, dass die universale Ebene der kleineren Gemeinschaft, also dem Einzelstaat, angesichts dessen systematischer Überforderung durch Großmaßstabsverbrechen zu Hilfe eilen müsse, integriert es zugleich ein weiteres zentrales subsidiaritätstheoretisches Moment, nämlich die Vermutung zu Gunsten der kleineren Gemeinschaft. Seinen konkreten Niederschlag hat dies im so genannten Komplementaritätsprinzip gefunden. Wiewohl dessen fast gebetsmühlenartige Wiederholung (Pr, Abs 19 sowie Art 1 und Art 17 bis 20) mindestens ebenso sehr im Dienste der Bewahrung der Souveränitätsprärogativen der Staaten steht wie der Beförderung des Subsidiaritätsgedankens, so bleibt es doch beim Ergebnis, dass die universale Instanz erst dann ihres Amtes zu walten hat, wenn sich die nationalen Jurisdiktionen in ihrer primären Berufenheit zur Verfolgung von Menschheitsverbrechen als entweder »unwilling« oder »unable« erwiesen haben. Eine charakteristische weitere Nuancierung des komplexen Machtgleichgewichts, diesmal zu Gunsten des ICC, ist darin zu sehen, dass diesem wiederum die Kompetenzkompetenz zusteht, also die autoritative Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der beiden Kriterien. Das dem Statut anzusehende Bemühen, den heiklen Balanceakt zwischen der Minimalmitgift eines effektiven Weltstrafgerichts und der Furcht vor einem unkontrollierbaren Justizleviathan zu meistern sowie die berechtigten Anliegen beider Ebenen im Blick auf ein funktionsfähiges Gleichgewicht auszutarieren, mag ein Lehrstück für das hauptsächliche Anliegen des gegenständlichen Beitrages abgeben, nämlich Chancen wie auch Grenzen universaler Strafgerichtsbarkeit auszuloten und aufzuzeigen. Das schmerzhafte Versagen nationaler Bewältigungsmechanismen – das diesen Namen nicht verdienende Universalitätsprinzip ausdrücklich mit eingeschlossen – ist zum Gemeinplatz geworden. Inwieweit es dem ICC, den wir in diesen Tagen seine ersten Schritte machen sehen, gelingen wird, der ihm übertragenen Verantwortung für die Wahrnehmung der Universalbelange angesichts der Allgegenwart von Menschheitsverbrechen gerecht zu werden und zugleich das rechte Fingerspitzengefühl für die Grenzen seines Potenzials sowie für den legitimen Aktionsradius der Staaten zu wahren, bleibt, allerdings mit dem nötigen Optimismus, abzuwarten. 4. Gerichtsgerechtigkeit? Bisher war allein von Bedeutung und Leistungsfähigkeit verschiedener Stufigkeiten gerichtsförmiger Bewältigung von Menschheitsverbrechen die Rede. Die
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geläufige englische Ausdrucksweise des »bringing somebody to justice« für die Unterwerfung eines Individuums unter eine Kriminaljurisdiktion (court oder tribunal) zur Beförderung der Gerechtigkeit (justice) birgt, zumindest implizit, den Anspruch, dass die »Gerichts-gerechtigkeit« jene sei, die dem generellen Gerechtigkeitsanspruch des suum cuique 7, einem jeden das Seine zuteil werden zu lassen, am nächsten komme. Darüber dürfen allerdings in der Diskussion immer wieder vorfindliche wie auch in der Praxis teils schon erfolgreich erprobte alternative Umgangsformen (Historikerkommissionen, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, materielle Kompensation der Opfer durch Entschädigungsfonds etc.) nicht aus den Augen verloren werden. Sie alle trachten danach und unterwerfen sich dem Anspruch, als Antwort auf die summa iniuria des Menschheitsverbrechens zu gleichwertigen, wenn nicht sogar vielversprechenderen Wegen der Gerechtigkeit zu finden. Mit dem Programm der Strafgerichtsgerechtigkeit, um das es uns hier ja vorrangig zu tun ist, verbinden wir ein geschichtlich wohletabliertes, uns allgemein vertrautes und dem Normativmodell des freiheitlichen Rechtsstaats zutiefst verwobenes Prozedere, das sich durch einen ausgeprägten Organisationsgrad sowie hohe verfahrensmäßige Durchgebildetheit kennzeichnet. Dergestalt soll dessen zentraler Zweck, nämlich der der Täterzentriertheit verwirklicht werden: Der Legalitätsgrundsatz (nullum crimen/nulla poena sine lege), das Günstigkeitsprinzip (in dubio pro reo) als Ausfluss der Unschuldsvermutung sowie der umfassende Katalog von dem Angeklagten zugestandenen Verfahrensrechten (mit dem Ziel der Waffengleichheit mit dem Ankläger) sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. War das ältere Konzept des so genannten Inquisitionsprozesses seinem Anspruch nach vorrangig auf Findung der vollen Wahrheit ausgerichtet und dementsprechend geneigt, dem allein diesem Ziel verschriebenen Beauftragten der öffentlichen Gewalt – von daher die uns fremde Verschmelzung von Richterund Anklägerrolle – buchstäblich alles zur Verfügung Stehende (den Angeklagten selbst sowie seinen durch Folterung erzwungenen Beitrag ausdrücklich mit eingeschlossen) als Instrument für die Erfüllung seiner Mission in die Hand zu geben, so inspiriert sich der Anklageprozess mehr vom Duellgedanken und konfrontiert den Beschuldigten mit einem (idealerweise) nicht stärkeren An7. Siehe nur die zeitlose Formulierung beim römischen Juristen Ulpian: »Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.« (Ulpianus libro primo regularum, Dig 1.1.10.pr sowie fast wortgleich Inst 1.1.pr).
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kläger. Von diesem wird insbesondere die richtende Funktion abgekoppelt und bei einem verfahrensstrukturell unparteiischen Dritten (in Form von Berufsoder Laienrichtern) angesiedelt, wofür man das nur scheinbar paradoxe Diktum der Wohltat des Anklägers gefunden hat. Entscheidend ist, dass der Angeklagte dergestalt zum Subjekt des Verfahrens avanciert, während das Opfer (als Zeuge bzw. Privatbeteiligter/Nebenkläger) in einer Nebenrolle mit wenigen Eigenberechtigungen verbleibt und seinerseits als Werkzeug – nunmehr im Dienste der Zwecke des Anklageprozesses – fungiert. Vor diesem Hintergrund sind Stimmen für Alternativmechanismen laut geworden, die den Opfern von Menschheitsverbrechen einen höheren Stellenwert, ja den Vorrang einräumen wollen, um sie nicht durch die verfahrensmäßige »Instrumentalisierung« ein zweites Mal der Viktimisierung anheim zu geben. Aus diesen Überzeugungen inspiriert sich stark die 1995 in Südafrika eingerichtete und vom früheren anglikanischen Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu, präsidierte Truth and Reconciliation Commission, die ihr Hauptaugenmerk auf das Eingestehen der Wahrheit im Angesicht der Opfer richtet und des Täters öffentliche, vollständige und uneingeschränkte Offenlegung der eigenen Involviertheit und Verantwortlichkeit mit der Zusage individueller Straffreiheit honoriert (siehe Tutu 1999, 61–71). Zugleich ist in der verstärkten Ausrichtung auf gesellschaftliche Versöhnung und nationale Genesung (»national healing«), die als zentrale Zielvorstellungen den Ausspruch des gesellschaftlichen Unwerturteils über sowie die Zumessung der adäquaten Strafe an den individuellen Täter ablösen, aber auch tendenziell dem Anliegen vorgehen, dem individuellen Opfer (bzw. dessen Angehörigen) in der konkreten Unrechtserfahrung gerecht zu werden, eine Akzentverschiebung von schwerpunktmäßig individuell orientierten Verarbeitungsmechanismen hin zu kollektiven Bewältigungsformen zu sehen. Dies Moment der Loslösung vom Einzelfall erfährt angesichts von gesamthaft analysierenden und beurteilenden Historikerkommissionen (auch bei Rückgriff auf Fallstudien) noch eine signifikante Verstärkung. Wie stets, so zeigt sich, erspart die als »völlig leer« (Kelsen 1975, 23) charakterisierte Formel des suum cuique nicht die verantwortete Gestaltung und Verortung des Gerechtigkeitsanspruchs: An wen ist bei »einem jeden« vorrangig zu denken … an die Täter oder die Opfer, an diese als schuldige oder leidende Individuen oder aber als rechenschaftspflichtige und -berechtigte Gruppen, die Gesamtgesellschaft, an künftige Generationen? Fallen die Primärberechtigten und -verpflichteten weg – vor allem durch Tötung und Tod, wie es gerade bei Menschheitsverbrechen auf Grund ihres verheerenden Wütens und des regel-
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mäßig sehr lang gezogenen, wenn überhaupt zu Stande kommenden Verarbeitungsprozesses an der Tagesordnung ist –, vermag jemand an deren Stelle zu treten und die auf dem Spiel stehenden Interessen (im Namen der Erstberufenen oder aber im eigenen Namen) zu realisieren? Und im Blick auf die Designierung der relevanten Akteure im Gerechtigkeitsgeschehen, in statischer wie dynamischer Perspektive, ist sodann die weitere Frage nach dem jeweils angemessenen »Seinen« in Angriff zu nehmen: Strafe, Vergebung, Einsicht, Versöhnung, Neubeginn, materielle Kompensation, Hilfe beim Wiederaufbau u. a. m. Die erschlagende Fülle der Möglichkeiten, die sich schon bei kurzem Nachdenken auftut, nötigt zur Bescheidenheit. Am Anfang stehen jedenfalls sorgfältige Sammlung und Abwägung der verschiedenen Faktoren, die in Hinblick auf die besondere Eigenart von Menschheitsverbrechen eine ganze Reihe von Überlegungen politischen (im jeweiligen lokal- wie auch geopolitischen Kontext), historischen, ethnologischen, religiösen, ökonomischen, soziologischen etc. Charakters zu beinhalten haben. Der angemessene Umgang, die rechte Art der Begegnung mit der Vergangenheitskatastrophe des Menschheitsverbrechens ist nicht unabhängig von den im Raum stehenden Zukunftsperspektiven, etwa von der Notwendigkeit der weiteren Koexistenz der »Überlebenden«, von Opfern wie Tätern, die allerdings nur allzu oft auch als willkommene Rechtfertigung für Aufarbeitungsträgheit und -verweigerung herhalten muss. Dies Weiterlebenmüssen, das etwa den Fall Südafrika genauso charakterisiert wie eine relativ klare Verteilung der Täter- und Opferrollen und das Vorhandensein charismatischer Führerpersönlichkeiten von beachtlicher und weitum anerkannter moralischer Autorität, lässt andere Bewältigungsmechanismen geeignet erscheinen als sich beim Ausfallen dieses oder anderer Faktoren anempfehlen. Von daher wird nachvollziehbar, dass die angemessene Antwort auf das Apartheidregime sinnigerweise eine andere ist als jene auf die Shoa, den Völkermord in Ruanda/Burundi oder – in unseren Tagen selbst – jenen im Sudan; wieder anders gestalten sich die Verhältnisse im Blick auf Tschetschenien und Tibet, Irak und Israel/Palästina. Was im einen Fall als bemerkenswert und fruchtbringend erlebt wird, kann im anderen in selbem Maße problematisch sein. Was sich sohin abzeichnet, ist ein bewegliches System (siehe dazu etwa Wilburg 1950 sowie Bydlinski 1991, 529–543) einer Vielzahl kon- und divergenter Faktoren, die es zu einem dynamischen Gleichgewicht zu führen gilt. Je nach Gewichtung der jeweiligen Gegebenheiten und Umstände, je nach Lage der Beteiligteninteressen mag einmal mehr die eine, einmal mehr die andere Bewältigungsform angezeigt scheinen: Patentrezepte für den Umgang mit Menschheits-
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verbrechen gibt es nicht. Weit davon entfernt, eine systematische Entfaltung des Fragekomplexes in Angriff nehmen und eine ausgearbeitete Kriteriologie bieten zu wollen, mögen doch einige Wegweisungen versucht sein, um sich in der unübersichtlichen Landschaft der Gerechtigkeitsbeförderung angesichts von Menschheitsverbrechen besser zurechtfinden zu können und zumindest in näherungshafter Weise den spezifischen Beitrag der Strafgerichtsgerechtigkeit greifbar zu machen. 1. Jede in Erwägung gezogene Reaktionsweise erfordert ein unhintergehbares Minimum an anamnetischer Gerechtigkeit im Sinne verantworteten Handelns hinsichtlich Feststellung, Aufarbeitung und Sicherung des Geschehenen. Erste Pflicht im Blick auf Menschheitsverbrechen ist die Wahrnehmung, Identifizierung und Benennung des geschehenen Unrechts sowie dessen Verurteilung als solches. Dafür dass sich dem Vergessen und Verdrängen eine »Ethik der Erinnerung« als widerständig zu erweisen habe, lässt sich eine ganze Denktradition ins Treffen führen, die es hier nur anzudeuten gilt. Der uralte Gedanke, den Menschen und sein Tun und Leiden durch Erinnerung des Namens nicht dem Schleier von Vergangenheit und Vergessen anheim fallen zu lassen (Margalit 2000, 12–17), findet seinen Niederschlag in sichtbaren Erinnerungszeichen, Denk-mälern. In unserem Zusammenhang gilt es diesbezüglich besonders prominent die offizielle israelische Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Holocaust in Jerusalem zu erwähnen, deren Name Yad Vashem direkt der Zusage Gottes an sein Volk entnommen ist, den Verschnittenen »in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen [zu] geben« (Jesaja 56,5). Hierher gehört aber auch ein literarisches Denkmal wie der 1933 erschienene Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, mit dem der österreichische Schriftsteller Franz Werfel dem 1915 von den Jungtürken an den Armeniern verübten Völkermord gedenken und Gedenken schaffen wollte. Besonders bedeutungsschwanger mag dieses Anliegen scheinen, wenn wir von Adolf Hitler für den 22. August 1939, kurz vor dem Überfall auf Polen und im Blick auf die kommenden Verbrechen, den Satz an seine Getreuen überliefert bekommen: »Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?« In dem Maße, in dem das Sichern des Geschehenen für künftige Generationen einen Fundamentalanspruch vorstellt, wird es gerade durch die spezifische Eigenart der Menschheitsverbrechen erschwert: Sie schließen (oft ganz bewusst) die physische Vernichtung der Zeugen ein, die Zerstörung der Archive und Dokumente, wenn in den mit ihnen durchwegs verbundenen Wirren nicht schon
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Belege gar nicht erst gesammelt werden. Durch eine Vielfalt von Gründen – die langen Aufarbeitungszeiträume, politisches Widerstreben ebenso wie verständliche persönliche Reserven traumatisierter Betroffener – wird regelmäßig auch das Verfügbare nicht in der Art dokumentierbar, wie es dem Anliegen anamnetischer Gerechtigkeit entspräche, ganz zu schweigen von den noch komplexeren Problemen der Auswertung und Interpretation des Überlieferten, das für verschiedene historische Lesarten offen bleibt. Dennoch mag einem der Satz des bereits erwähnten Robert H. Jackson in Erinnerung bleiben, der als zentrales Moment der Nürnberger Prozesse festgehalten hat: »We have documented from German sources the Nazi aggressions, persecutions, and atrocities with such authenticity and in such detail that there can be no responsible denial of these crimes in the future and no tradition of martyrdom of the Nazi leaders can arise among informed people. No history of this era can be entitled to authority which fails to take into account the record of Nurnberg.« (Jackson 1946, III, 5). Jedenfalls kommt gerade im Falle schwieriger Quellenlagen dem Instrument unabhängiger Historikerkommissionen, das sich gerade in jüngster Zeit besonderer Zuwendung erfreut, große Bedeutung zu. 2. Mit dem Anspruch der Gerechtigkeit in untrennbarem Zusammenhang steht das Geltendmachen von Verantwortung: Das Bewusstwerden von Unrecht fordert die Benennung von Verantwortlichkeiten und Verantwortlichen, wobei allerdings eine vorschnelle Engführung auf das Konzept rechtlicher Verantwortung bewusst zu vermeiden ist, stellt diese doch nur eine Spielart derselben dar. Insbesondere das öffentliche umfassende Berkenntnis/Geständnis (das aber Reue und Vergebungsbitte nicht notwendigerweise einschließt), wie es vor der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission für die Gewährung der Amnestie gefordert worden ist, stellt eine ernst zu nehmende wenn nicht Übernahme, so doch Zurechnung von Verantwortung dar. Inwieweit sich zu dem damit verbundenen Stigma des öffentlichen Unwerturteils weitere Nachteile im Sinne von Freiheits- oder Vermögensverlust gesellen müssen, ist eine Frage, die wiederum weit in die konkreten Umstände des Falls hineinreicht. Im erwähnten Beispiel hat man sich der Zustimmung der weißen Machthaber und des – weitgehend gewaltlosen – Endes des Apartheidregimes nur durch die Zusage von Sanktionsfreiheit versichern zu können gemeint: eine gewiss nicht unproblematische, doch in vielem nachvollziehbare Güterabwägung. Festzuhalten ist aber, dass der individuellen Verantwortlichkeit Vorrang vor der kollektiven zukommt. Damit soll nicht in Frage gestellt werden, dass es
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Formen kollektiver Verantwortung gibt, etwa in Form der Erinnerung durch Denkmäler, -stätten, -minuten oder aber in Gestalt materieller Entschädigung der Opfer oder deren Angehöriger bzw. Volks-/Religionsgruppe. Solches kann sich einmal mehr aus der Fallkonstellation nahe legen: Eine besondere Rolle spielt dabei die Zeitkomponente, die im Gang der Generationen individuelle Verantwortlichkeit zunehmend wegdämmern lässt: Für die Aneignung der Amerikas, Kolonisation und Sklaverei und mittlerweile etwa auch für den Armeniergenozid lassen sich keine überzeugenden individuellen Zurechnungsketten mehr nachzeichnen (außer vielleicht in Einzelfällen für bestimmte, nachvollziehbar bereicherte Wirtschaftsakteure). Hier ist der eigentlichste Platz, an dem es kollektive Verantwortlichkeiten von Kontinenten, Staaten, Gesellschaften, Bevölkerungsgruppen zu erörtern und festzumachen gilt. So weit wie möglich ist aber der Geltendmachung individueller Verantwortung der Vorzug zu geben, ist damit doch der Kern des Verantwortungsbegriffs angesprochen. Diese mag, wie erwähnt, ganz unterschiedliche Formen annehmen: Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte, kompensatorische Entschädigung zugefügten Unrechts, aber eben auch die Verantwortung vor einer gerichtlichen Instanz samt der damit allenfalls verbundenen Sanktion. Die angemessene Verwirklichung alternativer Bewältigungsformen mag in Hinblick auf den spezifischen Handlungskontext gerichtliche Strafverfolgung mit guten Gründen als durchaus verzichtbar, vielleicht gar kontraproduktiv erscheinen lassen. Die leichtfertige Suspendierung rechtlicher Verantwortlichkeit zu Gunsten bloß symbolischer oder nur sehr schwammiger Ausprägungen von Individual- oder Kollektivverantwortung zeitigt aber regelmäßig fatale Folgen: Mag für Kant (1912b, Rechtslehre, § 58, 349) noch gegolten haben, »daß mit dem Friedensschlusse auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriffe desselben«, so zeigen etwa die Beispiele Chiles oder Argentiniens, welch große Vorbehalte gegenüber Generalamnestien und ganz allgemein gegen sogenannte Schlussstrichdebatten angebracht sind, wenn man sich nicht zugleich klar Rechenschaft über die notwendigen und bleibenden Verantwortlichkeiten ablegt. 3. Als Gegenexempel dafür ist das südafrikanische Modell anzuführen, wo, wenn auch ohne Erfolgsgarantie, aber doch unter beträchtlicher Zustimmung der Gesamtbevölkerung, der Weg der Wahrheits- und Versöhnungskommission beschritten worden ist. Zugleich ist angesichts der schwerpunktmäßigen Gesamtausrichtung des Projekts in Richtung nationaler Genesung und Versöhnung nicht darauf vergessen worden, dass eine solche stets bei der Benennung
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und Geltendmachung individueller Verantwortlichkeit den Anfang zu nehmen hat. Wenn die Straffreiheit offensichtlicher und oft alles andere als reumütiger Verbrecher dem »natürlichen Gerechtigkeitsempfinden« nichtsdestotrotz ein schwer zu bewältigendes Skandalon bleibt, so kann die gewählte Reaktionsform doch, auch aus kritischer Perspektive, keinesfalls mit den unzähligen Beispielen von Verantwortungsvermeidung und -flucht gleichgesetzt werden und ist in mancherlei Hinsicht dem Ins-Werk-Setzen einer klassischen (nationalen oder internationalen) gerichtsförmigen Aufarbeitung sogar vorzuziehen. Wo ist nun aber in Hinblick auf all das Gesagte der Platz der Strafgerichtsgerechtigkeit im Umgang mit Menschheitsverbrechen? Im Wesentlichen ergibt er sich im Reflex aus den eben angestellten Überlegungen, wobei die eigentliche Rolle universaler Strafgerichtsbarkeit in doppeltem Sinne deutlich wird. a) Zum einen mag sich universale Strafgerichtsbarkeit als eine Bewältigungsform neben anderen verstehen, Antwort und Reaktion auf die Erfahrung derartiger Verbrechen zu finden. Man soll den Wahlspruch Friedrichs III. fiat iustitia, pereat mundus, der zumeist übersetzt wird mit »Es geschehe Recht, auch wenn die Welt darüber zu Grunde geht«, nicht so lesen, dass auf Biegen und Brechen dem Walten der Gerichtsgerechtigkeit Vorschub geleistet werden müsste. Weit davon entfernt, ein Generalremedium zu sein, sind die spezifischen Schwächen, wie teilweise schon geschehen, nüchtern und ehrlich zu analysieren: die dem gerichtlichen Verfahren eigene Formalität, perspektivische Verengung und Selektivität, die Anfälligkeit für politische Beeinflussung, genauso aber auch die (wenn auch ungewollte) Weckung und Beförderung archaischer Rache- und Vergeltungsvorstellungen; die Liste ist ohne Mühe fortzusetzen. Es sollte deutlich geworden sein, dass durchaus Konstellationen vorstellbar sind, die das Einschreiten eines Kriegsverbrechertribunals als problematisch, ja schädlich erscheinen lassen. Genauso gibt es aber Situationen, wo das Walten universaler Strafgerichtsbarkeit, in concreto des ICC, sich als adäquatestes Mittel erweist und deshalb den Vorzug vor Wahrheitskommissionen oder auch vor der nationalen Gerichtsbarkeit verdient. In diesem Zusammenhang soll noch einmal daran erinnert werden, dass – wie hier nicht weiter ausgefaltet werden kann – gerade die Causa Südafrika in mehrfacher Hinsicht besondere Merkmale aufweist, die in anderen Fällen gänzlich fehlen oder signifikant anders gelagert sind. b) Zum anderen kommt dem ICC, in mehr direkter Weise, als konkreter Realisierung des Anspruchs universaler Strafgerichtsbarkeit in seiner (zumindest potenziellen) örtlichen und zeitlichen Universalität sowie umfassenden Zustän-
GERICHTSGERECHTIGKEIT FÜR MENSCHHEITSVERBRECHEN?
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digkeit für Menschheitsverbrechen eine Art Omnipräsenz zu, die allerdings weniger Allmachtsphantasien beflügeln als eine bescheidene Hoffnung wecken soll: In dieser hintergründigen Allgegenwart gelingt es einem funktionsfähigen und -bereiten Gerichtshof vielleicht durch seine bloße Existenz, den Druck und damit die Chancen zu erhöhen, dass andere Reaktionsformen entschieden und effektiv ins Werk gesetzt werden, unter der ständigen Drohung, sich inadäquatem Bewältigungshandeln, im Speziellen einer Vernachlässigung der dem ICC anvertrauten universalen Belange zu substituieren. Die nötigen Mittel sind dem Gerichtshof in seinem Statut – insbesondere mit dem Komplementaritätsbzw Subsidiaritätsprinzip – in die Hand gegeben. Ihr erfolgreicher Einsatz wird zu einem guten Teil von deren kluger und umsichtiger Handhabung abhängen. Eine wirksame Aktivität in diesem Sinne eines jedenfalls gegebenen »Fallnetzes« ließe mit guten Gründen jene Präventivwirkung erhoffen, die der Strafbewehrtheit des ICC im Letzten zugrunde liegt: Das Strafrecht, darunter leidend, stets das schon zugefügte und als solches nicht ungeschehen zu machende Unrecht ex post zu sanktionieren, erstrebt durch eben diese Nachbereitung beim Täter selbst und vor allem in der Rechtsgemeinschaft als ganzer, ex ante rechtskonformes Handeln zu befördern. Alle Nüchternheit und Abgeklärtheit, mit der man dieser Perspektive angesichts der historischen Erfahrung im Allgemeinen wie jener der Effektivität des Strafrechts im Besonderen begegnen muss, soll aber nicht die nicht gänzlich unberechtigte Hoffnung trüben, dass sich mancher Massenmörder und Diktator hinkünftig doch nicht mehr so sicher sein mag, seinen Lebensabend schlimmstenfalls in irgendeiner Exilvilla fristen zu müssen. Insofern darf man sich in dem Bewusstsein sonnen, dass mit der Schaffung des ICC ein bedeutender, bis vor nicht allzu langer Zeit kaum erreichbar scheinender Schritt gelungen ist, den man guten Gewissens als Meilenstein der Völkerrechtsgeschichte apostrophieren mag. Im Pathos aber, so ist es dem Menschen angemessen, muss schon die Wende zur Demut liegen. So gilt für sein (wenn auch, wie zu hoffen, fruchtbringendes) Wirken sowie generell für alle in Frage kommenden Bewältigungsformen angesichts der bitteren Realität von Menschheitsverbrechen, was Martha Minow ihrer Analyse programmatisch vorangestellt hat. Sie spricht dort von der »incompleteness and inescapable inadequacy of each possible response to collective atrocities« und fordert das ehrliche Geständnis ein, das man sich gar nicht deutlich genug vor Augen führen kann: There are no tidy endings following mass atrocity. (Minow 1998, 5/102).
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ÜBERLEGUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON PFLICHTEN DER WIEDERGUTMACHUNG UND DER KOLLEKTIVEN ERINNERUNG Michael Schefczyk
Während des so genannten deutschen Historikerstreits der Achtzigerjahre wurde das Wort von der Vergangenheit, die nicht vergehen will, geprägt. Gemeint war die immer noch bedrängende Gegenwärtigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen für das politische und kulturelle Selbstverständnis der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Seither sind fast zwanzig Jahre verstrichen, und nicht wenige meinen, im heutigen Deutschland forcierte Versuche zu beobachten, den verbrecherischen Teil der eigenen Geschichte zu historisieren. Ob sich dies tatsächlich so verhält, ist für den vorliegenden Aufsatz nicht entscheidend; ich möchte vielmehr die Frage erörtern, unter welchen Umständen überhaupt davon gesprochen werden kann oder sollte, dass historisches Unrecht der Vergangenheit angehört. Meine These lautet, dass dies dann der Fall ist, wenn aus dem Unrecht keine Rechte oder Pflichten für die heute Lebenden mehr erwachsen. Im Folgenden unterscheide ich verschiedene Arten von Verbindlichkeiten, die mit historischem Unrecht verbunden sind. Ich werde skizzieren, wie sich diese Pflichtarten zueinander verhalten und von welchen Faktoren ihre Fortdauer abhängt. Dabei wird sich zeigen, dass historisches Unrecht weniger langsam vergeht, als dies oftmals angenommen wird. 1. Begriffe und Unterscheidungen A. Historisch wird Unrecht einerseits genannt, wenn (i) die unmittelbaren Opfer und Täter verstorben sind und (ii) das Unrecht von Vertretern eines Kollektivs an den Mitgliedern (als Mitgliedern) eines anderen Kollektivs begangen wurde. In diesem Sinne historisch ist das Unrecht, das beispielsweise an der australischen Urbevölkerung nach der Landnahme durch die britische Krone im Jahre 1788 verübt wurde. Ein anderes Beispiel bildet die Missachtung des Vertrags über die Black Hills, in dem die Vereinigten Staaten den Sioux Schutz der territorialen Integrität zugesichert hatten, aber nach Goldfunden in der Ge259
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gend nicht zu gewähren bereit waren. In beiden Beispielfällen sind (i) und (ii) erfüllt: Täter und Opfer sind verstorben und das Unrecht wurde von Vertretern eines Kollektivs an den Mitgliedern (als Mitgliedern) eines anderen Kollektivs verübt. Dies möchte ich historisches Unrecht im üblichen Sinne nennen, weil sich die einschlägige philosophische Literatur überwiegend mit Fällen solcher Art befasst. B. Andererseits kann von historischem Unrecht auch unabhängig von der Frage gesprochen werden, ob Opfer und Täter noch leben oder ob das Unrecht von Vertretern eines Kollektivs an den Mitgliedern (als Mitgliedern) eines anderen Kollektivs begangen wurde. Dieser Begriffsgebrauch hebt ab auf die Tatsache, dass die betreffenden Unrechtshandlungen zum Begehungszeitpunkt (a) rechtlich erlaubt oder geboten waren oder (b) deren Verbot faktisch nicht durchgesetzt wurde. Rechtlich erlaubt war beispielsweise über Hunderte von Jahren das Halten und Handeln von Sklaven; rechtlich geboten eine Vielzahl von sozialen Praktiken im Zusammenhang der Judenermordung durch das Deutsche Reich; formal illegal, aber faktisch durch das politische und rechtliche System geduldet – und insofern legalisiert – war die Enteignung von Indianerland durch Weiße in den Vereinigten Staaten. Wird etwas historisches Unrecht aufgrund von (a) oder (b) genannt, so folgt dies einer Begriffsverwendung, die ich historisches Unrecht im juristischen Sinne nennen möchte. Als Beispiel mögen die Mauerschützenprozesse dienen. Zwar haben die Täter als Vertreter eines Kollektivs gehandelt, aber die Opfer (die ›Republikflüchtlinge‹) bilden kein Kollektiv, so dass Bedingung (ii) nicht erfüllt ist. Historisch wird das begangene Unrecht durch den Umstand, dass sich die Täter auf die Rechtmäßigkeit ihres Handelns zum Begehungszeitpunkt berufen haben. Viele Ereignisse sind historisches Unrecht sowohl im üblichen wie auch im juristischen Sinne. So hat die britische Regierung mit Blick auf beide Verwendungsweisen argumentiert, als sie Reparationsforderungen Jamaikas für den Sklavenhandel zurückgewiesen hat. Erstens sei das Unrecht ›verjährt‹, zweitens habe es zum Begehungszeitpunkt nicht als Unrecht gegolten (zur Kritik beider Behauptungen vgl. Gifford 2003). Historisches Unrecht ist vergangen oder historisiert, wenn aus ihm keine Verbindlichkeiten mehr für die gegenwärtig Lebenden erwachsen. Dabei sind zwei Arten von Verbindlichkeiten hinsichtlich historischem Unrecht zu unterscheiden: Pflichten und Rechte, die sich auf (I) die Wiedergutmachung oder (II) die kollektive Erinnerung von Unrecht beziehen. Historisiertes oder vergangenes Unrecht ist demnach historisches Unrecht, bezüglich dessen kei-
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ne Wiedergutmachungs- oder kollektiven Erinnerungspflichten mehr bestehen. Wiedergutmachungspflichten sind Pflichten, die sich auf die Wiederherstellung der durch das Unrecht gestörten moralischen Ordnung zwischen der schädigenden und der geschädigten Seite beziehen. Die Wiederherstellung der moralischen Ordnung geschieht (a) durch die aufrichtige Anerkenntnis des moralischen Fehlers seitens der für das Unrecht verantwortlichen Partei und (b) – soweit möglich – durch eine materielle Entschädigung der geschädigten Seite (Schefczyk 2004, 410). Erinnerungspflichten sind kollektive Pflichten, bestimmte Ereignisse und die mit ihnen verbundene Bedeutung nicht zu vergessen. Beziehen sich die Erinnerungspflichten auf Leistungen, besondere Opfer oder Triumphe vorangegangener Generationen eines politischen Kollektivs, so könnte man von patriotischen Erinnerungspflichten sprechen; in diesem Aufsatz geht es hingegen ausschließlich darum, an die aus Unrecht folgenden Pflichten zu erinnern – diese sollen einfach kollektive Erinnerungspflichten heißen. Im Anschluss an Avishai Margalit lässt sich zwischen moralischen und ethischen Erinnerungspflichten unterscheiden. Moralische Pflichten gründen laut Margalit in ›thin relations‹ (losen Beziehungen), ethische Pflichten hingegen in ›thick relations‹ (engen Beziehungen). Der Löwenanteil der Erinnerungspflichten ergibt sich nach Margalit aus engen Beziehungen, zu denen er insbesondere familiäre Bindungen, Freundschaften oder die Zugehörigkeit zu einem politischen Kollektiv zählt. Einige wenige Erinnerungspflichten bestehen unabhängig von solchen Bindungen und betreffen jedes Mitglied der Menschheit als einer moralischen Gemeinschaft. Erstere sind nach Margalit ethische, letztere moralische Erinnerungspflichten. Moralische Erinnerungspflichten beziehen sich auf Verbrechen, die gegen die Menschheit als moralische Gemeinschaft gerichtet sind, wie Versklavung, Vertreibung, Massen- und Völkermord (Margalit 2002, 79). 2. Pflichten der Erinnerung und der Wiedergutmachung Pflichten der Wiedergutmachung umfassen – laut (a) – die aufrichtige Anerkenntnis des moralischen Fehlers durch die für das Unrecht verantwortliche Seite. Eine formelle Entschuldigung kann Bestandteil einer solchen Anerkenntnis sein – sie scheint aber weder notwendig noch hinreichend. Warum nicht
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notwendig? Zuweilen lässt sich eine Anerkenntnis des moralischen Fehlers auch anders als durch eine formelle Entschuldigung zum Ausdruck bringen. Warum nicht hinreichend? Entschuldigungen können unaufrichtig oder unangemessen sein. Unaufrichtig wirken Entschuldigungen, die nicht erkennen lassen, dass die sich entschuldigende Seite ihr Handeln bereut und Vergleichbares nicht mehr tun will. Jemand anerkennt einen moralischen Fehler nur dann aufrichtig, wenn die Erinnerung an das Unrecht von den geeigneten moralischen Gefühlen begleitet wird. Aufrichtige Entschuldigungen können mitunter unangemessen sein. Unangemessen heißen Entschuldigungen, wenn sie in der Überzeugung vorgetragen werden, durch den Ausdruck der Reue und den glaubhaften Vorsatz der Besserung sei der durch das Unrecht angerichtete Schaden repariert, aber wenn dessen Natur und Größenordnung dies nicht erlaubt. In diesem Sinne äußert sich beispielsweise Thomas Sowell kritisch zu einer Entschuldigung für das Unrecht der Sklaverei: »First of all, slavery is not something like stepping on someone’s toe accidentally, where you can say excuse me. If the people who actually enslaved their fellow human beings were alive today, hanging would be too good for them« (zitiert nach Parker 2000; ähnlich äußert sich Sowell 2002). Die Praxis der Entschuldigung von Regierungsmitgliedern oder Staatsoberhäuptern für Unrecht, das durch das von ihnen vertretene Land begangen wurde, ist wohl deshalb zuweilen Gegenstand zynischer Kommentare, weil manche sie für bloßen Lippendienst, für unaufrichtig und unangemessen, halten. Die Bedingung (a) enthält in der Regel eine Erinnerungspflicht. Die aufrichtige Anerkenntnis des moralischen Fehlers setzt in vielen Fällen voraus, dass die für das Unrecht verantwortliche Seite nicht vergisst, die moralische Ordnung gestört zu haben. Sie schuldet der geschädigten Seite besonderen Respekt und besondere Aufmerksamkeit, was nur möglich ist, wenn sie die Erinnerung an den eigenen Fehler wach hält. Wenn also eine Partei zur Wiedergutmachung verpflichtet ist, dann hat sie typischerweise auch Erinnerungspflichten. Erinnerungspflichten werden durch Wiedergutmachungspflichten bedingt; sie können aber auch unabhängig von Wiedergutmachungspflichten bestehen, wie das Beispiel der patriotischen Erinnerungspflicht zeigt. So fühlen sich Veteranen wegen der besonderen Opfer, die sie für das eigene Land erbracht haben, zu der Erwartung berechtigt, dass ihre Verdienste von den Nachgeborenen gewürdigt werden. Worauf gründen sich Erinnerungspflichten, die sich nicht aus solchen der Wiedergutmachung ergeben?
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In The Ethics of Memory hat Avishai Margalit vorgeschlagen, ethische Erinnerungspflichten auf den Wunsch zurückzuführen, in engen Beziehungen zu leben. Enge Beziehungen sind durch Sorge gekennzeichnet. Sorge gilt bestimmten Menschen und nicht jeder beliebigen Person. Beliebigen Personen schuldet man nach Margalit Respekt, aber man ist nicht verpflichtet, sich um sie zu sorgen. Sorge, das Mark ethischer Beziehungen, ist exklusiv. Die Sorge um eine Person, zu der man in enger Bindung steht, endet nicht mit dem Tod. Sie findet ihren Ausdruck im Gedenken. Vergäße man bald die verschiedene Gattin, so hätte man die Ehe mit ihr und das damit verbundene Versprechen verraten. Doch ist man natürlich nicht verpflichtet zu heiraten und ein entsprechendes Wort zu geben. Für Margalit gehört zur Natur enger Beziehungen, dass sie mit Erinnerungspflichten verbunden sind; aber es gibt keine Pflicht, in engen Bindungen zu leben. Nur wer in engen Bindungen zu anderen Menschen stehen möchte, ist verpflichtet, gewisser Ereignisse zu gedenken. Das Verlangen nach einem Leben in engen Beziehungen bringt Margalit in Zusammenhang mit dem starken Wunsch, nach dem Tode nicht in Vergessenheit zu geraten. Wenn eine Person aufgrund eines solchen Motivs beispielsweise eine enge Bindung an das nationale Kollektiv wünscht, so legt sie sich darauf fest, sich um andere Mitglieder auch nach deren Tod noch zu sorgen. Diese Sorge – so verstehe ich Margalit – schließt die Sorge um den moralischen Status einer ethischen Bindung ein. So sagt er beispielsweise von den Deutschen, sie hätten eine besondere Erinnerungspflicht gegenüber den Opfern der Shoa – diese Erinnerungspflicht hängt seiner Konzeption zufolge indirekt von dem Wunsch der Deutschen ab, im nationalen Gedächtnis – zumindest in abstrakter Weise – fortzuleben. Dieser Wunsch ist es, der sie dazu bewegt, den Fortbestand Deutschlands als einer Erinnerungsgemeinschaft zu wollen; und mit ihm übernehmen die Deutschen die Last einer durch massives Unrecht gezeichneten Geschichte. Für Margalit ist die Beziehung zwischen Landsleuten grundsätzlich eine gute, weil durch Sorge getragene Beziehung – diese, durch wechselseitige Sorge und Parteilichkeit getragene Bindung bleibt aber ihm zufolge den Anforderungen der Moral unterworfen. Kollektive schulden den Mitgliedern anderer Kollektive den Respekt als Menschen. Da die Deutschen als historisches Kollektiv ihre moralischen Pflichten missachtet haben, muss ihre Erinnerungskultur nach Margalit im Zeichen der Anstrengung stehen, sich selbst als ethische Gemeinschaft wiederherzustellen – was eben unter anderem bedeutet, das Unrecht als Unrecht aufrichtig anzuerkennen (Margalit 2002, 80–83).
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Margalits These, der Fortbestand historischer Kollektive sei durch den Wunsch der Individuen zu erklären, nach dem Tode nicht in Vergessenheit zu geraten, müsste im Rahmen empirischer Untersuchungen geklärt werden. Sie macht aber keinen besonders überzeugenden Eindruck. Während ihr für die Erinnerungskultur von Familien eine gewisse Plausibilität eignet, scheint das Interesse an nationaler Zugehörigkeit nur wenig mit dem Wunsch nach einem Fortleben im Nationalgedächtnis zu tun zu haben. Ein solches Bedürfnis dürfte am ehesten dort bestehen, wo die politischen Autoritäten den Individuen besondere Opfer und Risiken aufzwingen – gleichsam als Ausgleich für eine mit der nationalen Zugehörigkeit verbundene besondere Last. Doch in einer solchen Erklärung ist das Bedürfnis der Individuen nach nationaler Bindung – wenn es denn besteht – bereits vorausgesetzt. Auch wenn Margalits Rekonstruktion des Grundes von Erinnerungspflichten hier einen Schwachpunkt haben mag, macht sie auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass kollektive Erinnerungspflichten Individuen nur dann betreffen, wenn und solange sie sich für die Aufrechterhaltung enger Bindungen zu einem politischen Kollektiv entscheiden – welche Gründe auch immer dafür verantwortlich sein mögen, dass sie an der Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv ein Interesse nehmen. 3. Erinnerungs- und Entschädigungspflichten Wiedergutmachungspflichten implizieren in der Regel Erinnerungspflichten, aber Erinnerungspflichten schließen nicht notwendigerweise Entschädigungspflichten ein. Ich möchte mich zunächst der Frage zuwenden, warum viele häufig eher bereit sind, Erinnerungs- als Entschädigungspflichten zu akzeptieren. Ein oberflächlicher Grund dürfte darin liegen, dass Erinnerungspflichten leichter zu erfüllen sind. 1904 haben Soldaten des Kaiserreichs im damaligen Deutsch-Südwest-Afrika den wohl ersten Völkermord des 20.Jahrhunderts begangen, indem sie die aufständischen Herero militärisch in die wasserlose Omaheke-Halbwüste abdrängten, wo in der Folge Tausende von ihnen elend zugrunde gingen. Viele Deutsche werden wohl der Aussage zustimmen, dass sie in der Sicht auf die Geschichte ihres Landes dieses Ereignis nicht ignorieren dürfen; dass sie nicht nur einen intellektuellen, sondern auch einen moralischen Fehler begingen, wenn sie in ihrer Bewertung des Kaiserreichs den Ereignissen in Deutsch-Südwest kein Gewicht gäben; dass sie, wenn sich ihre Wege mit de-
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nen von Hereros kreuzen, im Umgang angemessen die Tatsache würdigen müssen, was Mitglieder des eigenen historischen Kollektivs verbrochen haben. Weit weniger Deutsche werden wahrscheinlich der Ansicht beipflichten, dass sie den Herero materielle Wiedergutmachung schuldig sind. Um zu sehen, ob diese unterschiedliche Bereitschaft, Pflichten der Erinnerung und der Wiedergutmachung, anzuerkennen, gut begründet ist oder nicht, müssen wir uns über die Natur der jeweiligen Verpflichtung klarer werden. Zunächst zu den Erinnerungspflichten: Oben habe ich die Vermutung ausgesprochen, Pflichten der Erinnerung würden deshalb eher akzeptiert, weil sie leichter zu erfüllen seien. Wie schwer die Erfüllung einer Pflicht wäre, ist natürlich in der Regel irrelevant für die Frage, ob sie tatsächlich besteht. In der Regel, weil viele geneigt sind, zu bestreiten, dass eine Pflicht besteht, wenn sie zu fordernd ausfällt. Wenn eine Moraltheorie verlangt, dass eine Person ihr eigenes Interesse stets weniger wichtig nimmt als den allgemeinen Nutzen, so verlangt sie nach Meinung der meisten zu viel; wird behauptet, die moralische Pflicht gegenüber den Hungernden der Welt sei erst erfüllt, wenn das gesamte überflüssige Einkommen gespendet werde, so werden viele dies mit der Behauptung zurückweisen, zu so weitgehenden Opfern könne niemand verpflichtet sein (vgl. dazu etwa Cullity 2003). Abgesehen von solchen extremen Forderungen, die über bestimmte Anspruchsschwellen hinausgehen, ist es aber – wie gesagt – für die Frage des Bestehens einer Pflicht irrelevant, ob sie schwer oder leicht zu erfüllen wäre. Eine Person ist verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen oder sich für eine beleidigende Bemerkung zu entschuldigen, auch wenn ihr das unter Umständen sehr schwer fällt. Es wäre bizarr, wenn jemand meinte, er sei verpflichtet, sich an seine Schulden oder Beleidigung zu erinnern, aber nicht, sie zu bezahlen oder sich zu entschuldigen. Ist es möglicherweise ähnlich bizarr, wenn manche Leute zwar beispielsweise eine Erinnerungspflicht gegenüber den Herero anerkennen, aber keine der Entschädigung? Ich meine nicht. Grundsätzlich ist es denkbar, dass Erinnerungspflichten ohne Entschädigungspflichten bestehen. Ein trivialer Fall hierfür liegt vor, wenn die Entschädigung bereits geleistet wurde. Auch wenn jemand alles Gebotene unternommen hat, um die materiellen Folgen eines von ihm begangenen Unrechts zu beheben, ist er häufig nicht berechtigt, die Angelegenheit als erledigt zu betrachten. Da zu der Wiedergutmachung auch die Anerkennung des moralischen Fehlers gehört und diese in der Regel eine Erinnerungspflicht impliziert, vergeht historisches Unrecht nicht mit der materiellen Entschädigung – und zwar auch dann nicht, wenn die Entschädigung vollkommen angemessen ist.
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Im Fall der Herero verhält es sich jedoch anders. Hier ist die Entschädigung nicht geleistet worden; es stellt sich daher die Frage, ob und – wenn ja – auf welcher Grundlage, eine Pflicht, Unrecht als Unrecht zu erinnern, postuliert werden kann, ohne dass damit zugleich eine Entschädigungspflicht postuliert wird. A. Eine mögliche Argumentation könnte folgende Form annehmen: Kollektive Erinnerungspflichten entspringen allein aus der Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften, während Entschädigungsspflichten nur für diejenigen Mitglieder des Kollektivs bestehen, die einen Beitrag zu dem Unrecht geleistet oder von dem Unrecht in bestimmter Weise profitiert haben. Nehmen wir an, die Deutschen wären als historisches Kollektiv einig darüber, dass ihre Geschichte ein Kontinuum bildet und im Jahre 1870 beginnt. Sie wären dann der Auffassung A zufolge als Deutsche bei der Betrachtung ihrer eigenen Geschichte verpflichtet, der durch Handlungsbevollmächtigte ihres historischen Kollektivs an den Herero begangenen Verbrechen in geeigneter Weise zu gedenken – die bloße Tatsache, dass eine Person sich als Deutsche(r) betrachtet, wäre dann ausreichend, ihr ethische oder intellektuelle Vorhaltungen zu machen, wenn sie beispielsweise die friedvolle und zivilisierte Zeit vor dem Ersten Weltkrieg preisen würde. Diese Sichtweise wird in Auffassung A kombiniert mit der These, dass nur diejenigen Entschädigungspflichten haben können, die entweder selbst an der Begehung des Unrechts beteiligt waren oder das Unrecht zwar nicht mit begangen, aber von ihm in bestimmter Weise profitiert haben. Die bloße Zugehörigkeit zu einem historischen Kollektiv ist also nach A ausreichend, um eine Erinnerungs-, aber nicht ausreichend, um eine Entschädigungspflicht zuzuschreiben. Hinsichtlich der Herero würde ein Argument gemäß A lauten, dass kein heute lebendes Mitglied des historischen Kollektivs der Deutschen einen Beitrag zu dem Unrecht geleistet oder von ihm in moralisch unzulässiger Weise profitiert hätte. B. Doch selbst wenn bejaht wird, dass heute lebende Deutsche entweder einen Beitrag zu dem Unrecht an den Herero geleistet oder von ihm in moralisch vorwerfbarer Weise Gewinn gezogen haben, wird damit nicht automatisch eine Entschädigungspflicht postuliert. Um diese Möglichkeit näher zu betrachten, möchte ich die Auffassung B einführen. Sie sei so konstruiert, dass der Gedanke einer aus der bloßen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv entspringenden Erinnerungspflicht abgelehnt wird. Dieser Ablehnung mag beispielsweise die Überzeugung zugrunde liegen, dass politische Kollektive keine Erinnerungsgemeinschaften in dem Sinne bilden, dass sie gleichsam beliebig große Zeiträume umfassen können. Die Erinnerungskultur eines Teils der serbischen Be-
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völkerung verleiht der Schlacht auf dem Amselfeld eine herausragende Bedeutung für das politische Selbstverständnis des Landes. Auffassung B bestreitet, dass eine rationale politische Kultur auf derart lange zurückliegende Ereignisse Bezug nehmen kann. Vielmehr vertritt sie die These, dass (1) eine rationale Erinnerungskultur nur Zeiträume umfasst, in Bezug auf die Erinnerungspflichten bestehen können, und dass ferner (2) Erinnerungspflichten nur aus Wiedergutmachungspflichten hervorgehen können. Mit anderen Worten: Mit dem Ende der Wiedergutmachungspflichten enden auch die Erinnerungspflichten. Ist eine Person als Mitglied eines politischen Kollektivs nicht verpflichtet, etwas zu der Wiedergutmachung eines historischen Unrechts beizutragen, so ist sie auch nicht verpflichtet, der Opfer dieses Unrechts zu gedenken – so Auffassung B. Unter welchen Umständen kann aber eine solche Auffassung zu dem Schluss kommen, dass eine Erinnerungspflicht bestehen kann ohne dass eine Entschädigungspflicht vorliegt, wenn doch beide Elemente der Wiedergutmachung sind? Hier kommt zur Geltung, was oben bereits angemerkt worden war: Begangenes Unrecht muss wieder gutgemacht werden, und ein Teil der Wiedergutmachung besteht in der aufrichtigen Anerkennung des moralischen Fehlers. Diese Anerkennung impliziert in der Regel eine Pflicht, das Unrecht als Unrecht zu erinnern. Ein weiterer Teil der Wiedergutmachung liegt in der materiellen Entschädigung. Ob – all things considered – Entschädigung geleistet werden muss, hängt aber nicht nur davon ab, ob tatsächlich ein Unrecht begangen wurde – die Entschädigungspflicht muss vielmehr gegenüber anderen Pflichten in einer Weise abgewogen werden, wie die Erinnerungspflicht nicht abgewogen werden muss. Der Grund dafür ist nicht zuletzt, dass sich Erinnerungspflichten – im Gegensatz zu reparativen Pflichten – weitgehend erfüllen lassen, ohne dass anderweitige Pflichten davon berührt wären. Der entscheidende Punkt ist demnach, dass Erinnerungspflichten leichter zu erfüllen sind als Entschädigungspflichten, weil keine anderen moralischen Verbindlichkeiten dem entgegenstehen, und nicht (was natürlich auch zutreffen kann), dass sie leichter zu erfüllen sind, weil dem keine Vorlieben entgegenstehen. 4. Moralische Grundlagen von kollektiven Erinnerungspflichten In diesem Abschnitt möchte ich die Frage untersuchen, was – unter der Annahme der Existenz von Erinnerungspflichten – deren moralische Grundlage bilden könnte. Aussparen möchte ich für den Moment eine radikale Kritik an der
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Rationalität von bestimmten Erinnerungskulturen, wie sie beispielsweise in Auffassung B des vorangegangenen Abschnitts zum Ausdruck kam. Gemäß Auffassung B sind Erinnerungspflichten an solche der Wiedergutmachung gebunden. Besteht keine Pflicht der Wiedergutmachung, so besteht auch keine der Erinnerung. Dies wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen wir von der Fortdauer von Wiedergutmachungspflichten sprechen können, der ich mich im Abschnitt 6 zuwenden möchte. In diesem Abschnitt nehme ich als gegeben an, dass historische Kollektive unterschiedliche Erinnerungskulturen haben und dass Erinnerungspflichten Bestandteile dieser Kulturen sind; ich werde fragen, welche moralische Grundlage die Erinnerungspflichten haben könnten. Die Erinnerung an Ereignisse wie den Genozid von 1904 vereitelt ein ungetrübt zustimmendes Verhältnis zur Geschichte des eigenen Landes. Wer sich weigert, ein ungetrübt zustimmendes Verhältnis zur Nationalgeschichte aufzugeben, begeht – so scheint es – nicht nur einen intellektuellen, sondern auch einen moralischen Fehler. Doch worin genau besteht dieser Fehler? Worin der intellektuelle Mangel liegt, ist deutlich genug: Die Geschichte wird unvollständig, geschönt, verkürzt erzählt, wenn der Vernichtungskrieg gegen die Herero ausgespart bleibt. Wie – wenn überhaupt – hängt aber dieses intellektuelle Defizit mit einem moralischen zusammen? Zum einen lässt sich natürlich sagen, dass es moralisch verwerflichen Einstellungen entspricht, sich mit der Geschichte eines Kollektivs auf der Grundlage unvollständiger Erzählungen identifizieren zu wollen. Untugenden wie die Unaufrichtigkeit und die – auf das Kollektiv bezogene – Eitelkeit bringen sich hier zur Geltung. In der intellektuellen Unzulänglichkeit spiegelt sich gleichsam eine moralische im Sinne der Tugendethik. Zum anderen ist zu erwägen, ob im intellektuellen Fehler auch ein moralischer Fehler im Sinne einer kantischen Ethik der Achtung verborgen sein könnte. Es bezeugt mangelnden Respekt, wenn die Leiden der vorangegangenen Generationen eines anderen historischen Kollektivs ignoriert werden, insbesondere wenn man selbst einem historischen Kollektiv angehört, das für diese Leiden verantwortlich ist. Allerdings hängt es von der Stellung des Ereignisses im kollektiven Gedächtnis ab, ob die Erinnerung eine aus Respekt geforderte Erinnerungspflicht darstellt oder nicht. Es wäre keine Pflicht des Respekts von Deutschen gegenüber Amerikanern, deren schwere Verluste in der Schlacht vom Hürtgenwald zu bedauern, wenn kein über die Ereignisse informierter Amerikaner dies für notwendig erachtete. Es wäre – um ein Wort Kants aufzugreifen – ›phantastisch moralisch‹, wenn beispielsweise Deutsche meinten, ihre aus Respekt resultie-
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renden Erinnerungspflichten bestünden unabhängig von dem, was die Mitglieder eines anderen historischen Kollektivs für geboten hielten. Wenn Amerikanerinnen und Amerikaner den Ereignissen keine Bedeutung mehr beimessen, sind auch die für die Opfer verantwortlichen Deutschen dazu nicht aus Gründen des Respekts verpflichtet. Davon unberührt bleibt natürlich ein Gedenken, das aus Tugendpflichten resultiert. 5. Rationalität von Erinnerungspflichten Dass sich Erinnerungspflichten aus Respekt an der Erinnerungskultur des jeweils anderen historischen Kollektivs orientieren sollen, finden manche unter bestimmten Bedingungen schwer nachzuvollziehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Erinnerungen eines Kollektivs auf Ereignisse beziehen, die mehrere Generationen oder sogar Jahrhunderte zurückliegen. Die Auffassung, historisches Unrecht sei historisiert, weil zu viel Zeit verstrichen sei, ist vor allem im Zusammenhang mit Entschädigungsforderungen zu hören. So ließ der amerikanische Akademiker Robert Penn Warren verlautbaren: »The whole notion of untangling the ›debts‹ of history smacks of fantasy. Would the descendants of an Athenian helot of the fifth century B.C., assuming that such a relationship could be established, have a claim today on the Greek government? […] The whole thing is a grisly farce« (zitiert nach Bittker 2003, 10). Ein Problem solcher Aussagen besteht darin, dass in der Regel kein klares Kriterium angegeben wird, um zu entscheiden, ob ein Ereignis zu lange vergangen ist, um mit Pflichten der Erinnerung oder Wiedergutmachung verbunden zu sein. Die Frage, ob es ein solches allgemeines Kriterium gibt, möchte ich für den Moment ausklammern und zunächst nach den Ursachen von Meinungsverschiedenheiten über die ›Verfallszeit‹ historischen Unrechts fragen. Eine wichtige Quelle für solche Meinungsverschiedenheiten ist in dem Umstand zu suchen, dass das kulturelle Gedächtnis des einen Kollektivs weniger weit reicht als das des anderen. Das nationale Gedächtnis Deutschlands ist weniger tief als das der Vereinigten Staaten. Deutschland formiert sich politisch vergleichsweise spät und seine Geschichte ist von mehrfachen tiefen Zäsuren gekennzeichnet, die für eine zerrüttete und relativ kurze Spanne der nationalen Erinnerung verantwortlich sind. Die hohe Kontinuität der amerikanischen Geschichte wird anschaulich in der geschlossenen Reihe amerikanischer Präsidenten, die 1789 mit George Washington beginnt, während die heutigen Deut-
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schen stets vor die Verlegenheit gestellt sind, ob die Erzählung ihrer politischen Geschichte mit dem Reichskanzler Bismarck oder dem Bundeskanzler Adenauer begonnen werden soll. Die unterschiedliche zeitliche Tiefe von Erinnerungskulturen, die durch unterschiedliche Grade an historischer Kontinuität erklärlich wird, wirkt sich auf die Wahrnehmung von historischem Unrecht aus. Deutsche werden vermutlich geneigt sein, das 1904 an den Herero durch kaiserliche Soldaten begangene Unrecht als vergangen anzusehen; Amerikanern muss es hingegen vergleichsweise schwerer fallen, die zum großen Teil noch länger zurückliegenden Verbrechen gegenüber der indigenen Bevölkerung von sich zu weisen. Natürlich fehlt es nicht an Stimmen, die eben dies tun. So wird beispielsweise argumentiert, dass bestimmte moralische Gefühle, etwa Schuldgefühle, für Handlungen, die einhundertfünfzig oder mehr Jahre zurückliegen, irrational sein müssen – allerdings ist dann auf Konsistenz zu achten. Wenn es nicht möglich sein soll, sich für derart lange zurückliegende Handlungen schuldig zu fühlen, dann sollte gleiches wohl auch für Gefühle wie Stolz gelten. Es wäre inkohärent, wollte jemand zwar auf die mit George Washington beginnende Geschichte stolz sein, aber Gefühle des Bedauerns oder der Scham hinsichtlich der Sklaverei mit der Begründung abweisen, sie liege zu lange zurück. Man könnte hier von einer Kohärenzbedingung kollektiver Erinnerung sprechen: Der Zeitraum, innerhalb dessen eine Person Erinnerungspflichten bezüglich historischen Unrechts akzeptiert, darf nicht kürzer sein als der Zeitraum, auf den sich ein und dieselbe Person in patriotischer Absicht bezieht. Der Kohärenzbedingung liegt die Auffassung zugrunde, dass Gefühle, wie Stolz und Scham, eine epistemische Funktion haben. Sie unterstellt, dass in ihnen nicht nur blinde Empfindungen zum Ausdruck kommen; Gefühle können vielmehr – je nach Sachlage – begründet oder unbegründet sein. Wir kritisieren eine Person, wenn sie versäumt, auf eine Leistung stolz zu sein oder sich für ein Fehlverhalten zu schämen, sofern wir meinen, dies sei etwas, worauf man stolz sein könne oder wofür man sich schämen müsse. Die epistemische Funktion von Gefühlen bringt mit sich, dass eine Person, die beispielsweise Stolz auf Leistungen ihrer Nation empfindet, nicht vernünftigerweise beschämende Tatsachen ignorieren darf, die in den historischen Kontext jener Leistungen gehören. Die Kohärenzbedingung ist nur von Interesse, wenn zugestanden wird, dass sich Gefühle, wie Stolz oder Scham, auch auf Ereignisse beziehen können, zu denen man keinen Beitrag geleistet hat. Zu diesem Zugeständnis sind Anhän-
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ger eines forciert individualistischen Bildes von Moral häufig nicht bereit. Sie erkennen möglicherweise die epistemische Funktion von Gefühlen an, aber behaupten, dass Gefühle von Stolz und Scham, die sich auf Ereignisse beziehen, zu denen man keinen Beitrag geleistet hat, immer unbegründet sind. Eine Person hat – streng genommen – keinen Anlass, auf den Erfolg der Sportler des eigenen Landes, einfach weil es die Sportler des eigenen Landes sind, stolz zu sein. Da solche Gefühle äußerst verbreitet sind, ist die strenge Individualistin gezwungen, entweder eine massenhafte Neigung zur Irrationalität anzunehmen oder aber eine Irrtumstheorie vorzuschlagen, der zufolge diejenigen, die auf sportliche Erfolge ihrer Landsleute stolz sind (ohne zu ihnen beigetragen zu haben), ihre Empfindungen falsch benennen. Eine nähere Betrachtung würde – so die Irrtumstheorie – erweisen, dass Personen keinen Stolz, sondern einfach Freude empfinden. Die epistemischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Freude ein begründetes Gefühl ist, sind andere als die für Stolz vorausgesetzten. Jemand kann Freude darüber empfinden, dass eine tot geglaubte Pflanze Blätter treibt oder dass ihm völlig fremde Menschen in ein intensives Gespräch vertieft sind, auch wenn er hierzu keinen Beitrag leistet oder geleistet hat. Gefühle von Freude können auf Erfreuliches gerichtet sein, das in keinem kausalen Zusammenhang zu der empfindenden Person steht. Gegen eine solche Analyse im Sinne der Irrtumstheorie drängt sich freilich der Einwand auf, dass der Stolz auf die Leistungen von Landsleuten zwar den Charakter der Freude hat, dass er aber offensichtlich anders portioniert wird als Freude über das Wiederaufleben einer Pflanze oder den Anblick eines in ein intensives Gespräch vertieften Paares. Die geschilderten Beispiele purer Freude sind nicht in einer Weise exklusiv wie der Stolz auf den Triumph von Landsleuten bei einem angesehenen Turnier. Es ist nicht die Freude über den Anblick von Menschen, die den Lohn ihrer Anstrengungen und Geschicklichkeit ernten; dieser Anblick ist für viele sogar völlig unerträglich, wenn es die Angehörigen einer anderen Nation sind, die triumphieren. Es müssten also noch zusätzlich Aspekte eingeführt werden, die erklärlich machten, warum sich die Freude exklusiv auf die eigenen Landsleute bezöge und inwiefern diese Exklusivität rational wäre. So könnte die Irrtumstheorie behaupten, bei dem fälschlicherweise häufig als ›Stolz‹ apostrophierten Gefühl handele es sich in Wahrheit um Freude über ein Ereignis, von dem diejenigen, die diese Gefühle hätten, annähmen, dass sie selbst davon profitierten – etwa, weil der Gewinn eines wichtigen Turniers allgemein als Indikator für die Leistungsfähigkeit der Landsleute insgesamt angesehen werde oder der sportliche Aufschwung Symbol für den Zustand einer
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Nation im Ganzen sei. In dieser Weise könnten Anhänger eines forciert individualistischen Bildes von Moral versuchen, Phänomene, wie den Stolz auf sportlich erfolgreiche Landsleute, mithilfe der Irrtumstheorie und einiger Zusatzannahmen zu rationalisieren. Die Irrtumstheorie kann interessanterweise auch benutzt werden, um moralischen Gefühlen hinsichtlich der nationalen Geschichte aus individualistischer Sicht einen Sinn abzugewinnen. So würde ein Österreicher, der stolz auf Mozart ist, der Theorie zufolge Freude darüber empfinden, dass Mozarts Leistungen mit einem historischen Kollektiv assoziiert sind, dem er selbst zugehört, und dass diese Assoziation positive Auswirkungen auf die Art hat, wie andere ihm begegnen. Entsprechend wäre eine Person, die sich bestimmter Ereignisse der Nationalgeschichte schämt, nach der Irrtumstheorie in Wahrheit niedergeschlagen über die zweifelhafte Reputation seines Landes und die negativen Auswirkungen auf das eigene Leben, die aus dieser Reputation erwachsen. Ich möchte diese Überlegungen hier nicht weiter fortführen, sondern das Gesagte kurz zusammenfassen. Es gibt kein allgemein anerkanntes objektives Kriterium dafür, wann historisches Unrecht vergangen ist. Ob ein solches Kriterium existiert, habe ich für den Moment offen gelassen. Plausibel scheint aber, dass unsere Aussagen über die ›Verfallszeit‹ historischen Unrechts einer Kohärenzbedingung unterliegen. Zuletzt habe ich die Frage untersucht, ob – von einem forciert individualistischen Standpunkt aus gesehen – moralische Gefühle in Bezug auf Ereignisse, zu denen man nichts beigetragen hat, notwendigerweise irrational sind. Die Irrtumstheorie besagt, dass es nicht irrational sein muss, bestimmte emotionale Zustände hinsichtlich lange zurückliegender historischer Ereignisse zu haben, dass es sich bei diesen Zuständen jedoch nicht um moralische Gefühle, wie Stolz oder Scham, handelt. Auch eine Individualistin könnte insofern eine – variierte – Form der Kohärenzbedingung anerkennen. Die Kohärenzbedingung unterwirft unsere auf das historische Kollektiv bezogenen ethischen Gefühle einer Rationalitätsanforderung. Sie trägt aber nichts zur Auflösung der Irritation darüber bei, dass die Erinnerungskultur eines Kollektivs ausschlaggebend für die Frage sein soll, ob ein bestimmtes historisches Unrecht vergangen ist oder nicht. Es hat etwas Unbefriedigendes, wenn es heißt, in der Erinnerungskultur der Vereinigten Staaten sei es weniger einleuchtend, ein Ereignis des Jahres 1904 als vergangen zu betrachten, als in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland. Die Erinnerungskultur des politischen Kollektivs, das mit einem Unrecht in Verbindung gebracht wird,
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erscheint schlicht nicht relevant für die Frage, ob das Unrecht historisiert ist. Die Frage lässt sich daher nicht vermeiden, ob und – wenn ja – welche ›objektiven Gegebenheiten‹ für das Vergehen historischen Unrechts relevant sind. Ich werde diese Frage hinsichtlich der Wiedergutmachungspflichten erörtern. 6. Wie vergehen Wiedergutmachungspflichten? Eine Antwort auf die Frage, wann historisches Unrecht vergehe, lautet: mit dem Tod des Opfers. Ich möchte dies die radikale Antwort nennen. Die radikale Antwort bestreitet, dass es so etwas wie nicht-historisiertes historisches Unrecht im üblichen Sinne geben kann, da dieser Begriffsgebrauch voraussetzt, dass Opfer und Täter verstorben sind. Da sie davon ausgeht, dass Wiedergutmachungspflichten mit dem Tod des unmittelbaren Opfers erlöschen und nicht übertragbar sind, ist historisches Unrecht im üblichen Sinne ihr zufolge immer schon historisiertes, vergangenes Unrecht. Die radikale Antwort kann aber durchaus anerkennen, dass Wiedergutmachungspflichten gegenüber den Opfern von historischem Unrecht im juristischen Sinne bestehen. In den Achtzigerjahren haben die Vereinigten Staaten Reparationen an japanischstämmige Amerikaner gezahlt, die während des Zweiten Weltkrieges aus Gründen der nationalen Sicherheit interniert worden waren. Im Rückblick erschien diese Vorsichtsmaßnahme unverhältnismäßig und ungerecht, eine Ungerechtigkeit, die der Kongress mit einer öffentlichen Entschuldigung an die Betroffenen eingestand und mit einer Zahlung von jeweils $ 20.000 an die unmittelbaren Opfer zumindest symbolisch zu korrigieren suchte. Eine solche Form der Wiedergutmachung für historisches Unrecht ist mit der radikalen Antwort vereinbar. Ein offensichtlicher Schwachpunkt dieser Position besteht in der Annahme, dass Pflichten der Wiedergutmachung nicht übertragen werden können. Diese Annahme konfligiert mit unserem alltäglichen Moralverständnis, dem zufolge auch indirekt Betroffene einen Entschädigungsanspruch zu haben vermögen. Angenommen, bei einem tödlich verlaufenden Raubüberfall wird einem unschuldigen Opfer die Aktentasche entrissen. Es entspricht dem moralischen Common Sense, dass die Täter in jedem Falle verpflichtet sind, der Frau oder den Kindern des Verstorbenen das Geraubte zurückzuerstatten, obwohl letztere nicht Eigentümer der geraubten Tasche waren. Frau oder Kinder stehen aber in einer moralisch relevanten Beziehung zu dem direkten Opfer derart, dass ein
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Wiedergutmachungsanspruch, den im Überlebensfall der Eigentümer gehabt haben würde, auf sie übergeht. Für die Überzeugung, dass die Frau oder die Kinder einen solchen Anspruch haben, spielen bestimmte kontrafaktische Mutmaßungen keine Rolle – so ist nicht erheblich, wie das Opfer zu Frau oder Kindern stand und dass es möglicherweise im Weiterlebensfall ganz andere Pläne mit der Tasche gehabt hätte. Entscheidend ist allein das Bestehen einer moralisch relevanten Beziehung wie Die-Frau- oder Das Kind-von-jemandem-Sein. Personen, die in einer moralisch relevanten Beziehung zum unmittelbaren Opfer stehen, können nach unserem alltäglichen Moralverständnis unter bestimmten Bedingungen sogar Ansprüche gegen Personen geltend machen, die das Unrecht gar nicht begangen haben, aber von ihm profitieren. Nicht nur die Täter, auch diejenigen, die von einem Unrecht in spezifischer Weise profitieren, haben Wiedergutmachungspflichten. Personen, die in einer moralisch relevanten Beziehung zu dem Täter stehen und Vorteile aus dem Unrecht gezogen haben, müssen zur Wiedergutmachung des Unrechts beitragen. Man mag dies die Bedingung ungerechtfertigter Bereicherung nennen. Bernard Boxills The Morality of Reparation macht von dieser Bedingung Gebrauch, um Reparationen für die Versklavung der afroamerikanischen Bevölkerung zu begründen. »Dick steals the bicycle from Tom and gives it to Harry; in the meantime Tom dies, but leaves a will clearly conferring his right to ownership of the bicycle to his son, Jim [1]. Here again we should have little hesitation in saying that Harry must return the bicycle to Jim [2]. Now, though it involves complications, the case for reparation under consideration is essentially the same as the one last mentioned: the slaves had an indisputable moral right to the products of their labour [3]; these products were stolen from them by the slave master who ultimately passed them on to their descendants [4]; the slaves presumably have conferred their rights of ownership to the products of their labour to their descendants [5]; thus, the descendants of slave masters are in possession of wealth to which the descendants of slaves have rights [6]; hence, the descendants of slave masters must return this wealth to the descendants of slaves with a concession that they were not rightfully in possession of it [7].« (Boxill 1972, 120) These 1: Tom kann an Jim nicht nur seine Habe vererben, sondern auch seinen Restitutionsanspruch gegen den unrechtmäßigen Besitzer. These 2: Selbst wenn Harry arglos ist, ist er verpflichtet, das Rad an Jim herauszugeben. Die
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Forderung nach Sklaverei-Reparationen beruht nach Boxill auf der Anwendung dieser normativen Thesen. Denn zweifellos hatten die Sklaven das moralische Recht, nicht versklavt zu sein, sondern für ihre Arbeit übliche Löhne zu erhalten [3]. Die Voraussetzung der Bedingung ungerechtfertigter Bereicherung, so nimmt Boxill an, sind erfüllt: Die Nachfahren der Täter haben einen aus dem Unrecht resultierenden, herausgebaren Vorteil empfangen [4]. Es kann auch vernünftigerweise angenommen werden, dass die Sklaven ihren Kompensationsanspruch an die Nachfahren vererbt haben [5]. Folglich sind die Nachfahren der Sklavenhalter verpflichtet, den Nachfahren der Sklaven die ungerechtfertigten Vorteile herauszugeben. Bislang habe ich versucht, plausibel zu machen, dass die radikale Antwort nicht attraktiv ist. Sie widerspricht unserem moralischen Alltagsverständnis, das der Vorstellung historischen Unrechts im üblichen Sinne nicht entgegen ist: Personen, die selbst nichts zum Unrecht beigetragen haben – beispielsweise Nachkommen – können gegenüber Personen zu Entschädigungsleistungen verpflichtet sein, die selbst keine unmittelbaren Opfer sind. Aus Sicht des moralischen Alltagsverständnisses scheint es insofern auch keineswegs abwegig, wenn die Nachkommen der Opfer von den Nachkommen der Täter Reparationen für historisches Unrecht fordern. Dies zeigt das Beispiel der boxillschen Begründungsstrategie. Die Zurückweisung der radikalen Antwort wirft nun abermals die Frage auf, wann und wie historisches Unrecht historisiert werde. Eine Möglichkeit besteht in der These, es vergehe in bestimmten Fällen überhaupt nicht. Diese These möchte ich die radikale Replik nennen. Die radikale Replik beruht auf der Überlegung, dass (a) zwischen Entschädigungspflichten und vertraglichen Verpflichtungen hinreichende Ähnlichkeiten bestehen (siehe hierzu Thomson 1986) und (b) dass die Vertreter von Staaten – wie allgemein üblich und anerkannt – Verträge abschließen können, die für die Bevölkerung bindend sind – und zwar nicht nur für diejenigen Teile, die ihre implizite oder ausdrückliche Zustimmung gegeben haben, sondern für alle – einschließlich der Nachgeborenen (Ridge 2003, 45). Nun gelten vertragliche Verpflichtungen von Staaten mit unbegrenzter Dauer, es sei denn, Abweichendes wäre vereinbart worden. »Commitments of nations are perpetual. There is no temporal limitation to their scope« (Thompson 2002, 71). Die ›Bindungskraft‹ des Vertrages nimmt nicht im Zeitverlauf ab. Die radikale Replik postuliert, dass Wiedergutmachungspflichten von Staaten in bestimmten Fällen (ähnlich wie deren vertragliche Verpflichtungen)
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nicht mit der Zeit schwächer werden. Für den Bestand vertraglicher Verpflichtungen ist aber die Fortdauer des Vertragsgegenstandes und der Vertragspartei vorausgesetzt. Besteht eine Vertragspartei nicht mehr, so muss klar sein, ob und wie Verpflichtungen auf andere übergehen können. Entsprechend muss die radikale Replik klären, wer im Falle historischen Unrechts im üblichen Sinne als Anspruchsgegner gelten soll. Renée Hill argumentiert beispielsweise, dass dies nur Kollektive sein können, weil – definitionsgemäß – die individuellen Opfer und Täter bereits verstorben sind. So schulden ihr zufolge die Vereinigten Staaten der indigenen Bevölkerungen Nordamerikas Wiedergutmachung, weil diese in kulturellen Kollektiven verfasst sind und somit als Anspruchgegner auftreten können, nicht aber die Afroamerikaner. Letztere bilden laut Hill (2002) kein Kollektiv im relevanten Sinne. Dieser Position entsprechend bestehen Wiedergutmachungspflichten solange, wie die in das Unrecht involvierten kollektiven moralischen Akteure existieren. So wichtig der Aspekt der institutionellen und kulturellen Kontinuität für die Frage der Fortdauer von reparativen Pflichten ist, scheint er doch zumindest ergänzungsbedürftig zu sein. Die institutionelle und kulturelle Kontinuität von Kollektiven ist keine notwendige Bedingung für den Bestand einer Wiedergutmachungspflicht. Angenommen, Deutschland wäre nach dem Zweiten Weltkrieg als politisches Gebilde aufgelöst und das Territorium an die umliegenden Staaten aufgeteilt worden; die nachgeborene Generation hätte sich vorbehaltlos mit den jeweiligen neuen politischen Kulturen identifiziert. Es wäre intuitiv nicht plausibel, zu behaupten, dass die nachfolgende Generation keinerlei Pflicht der Wiedergutmachung mehr treffen würde. Samuel Wheeler (1997) hat für diese Intuition eine erwägenswerte Erläuterung vorgeschlagen. Wir nehmen, so seine Überlegung, ein herausragendes Interesse am Wohlergehen und am moralischen Status von Personen, die uns persönlich nahestehen. Entsprechend natürlich finden wir es, dass uns das Gedeihen unserer Kinder mehr am Herzen liegt als das Gedeihen der Nachbarskinder. Eine ähnliche Sorge und Parteilichkeit beobachten wir hinsichtlich der vorangegangenen Generation. Wenn uns jemand sagte, es sei ihm gleichgültig, dass sein Vater ein verurteilter Kriegsverbrecher sei, so würden wir ihm dies nicht glauben, weil wir dies für ein Faktum halten, dem gegenüber niemand aufrichtigerweise indifferent sein kann. Wollen wir seine Äußerung angemessen interpretieren, so werden wir beispielsweise einen psychischen Mechanismus unterstellen, der ihn gegen das Schreckliche dieses Faktums emotional abschirmt. Unter der von Wheeler (aber auch von Ridge) getroffenen Annahme, dass wir Verstorbenen
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Gutes tun können, indem wir ihre vernünftigen Wünsche erfüllen, folgt aus der Sorge um das Wohlergehen und den moralischen Status unserer Vorfahren ein Grund für Wiedergutmachungen, der unabhängig ist von institutioneller oder kultureller Kontinuität. Wenn die fiktiven Nachfahren der Deutschen reflektieren würden, was sie für das Wohlergehen ihrer Vorfahren unternehmen könnten, so würden sie sich nicht an deren tatsächlichen Wünschen orientieren, sondern an denen, die sie gehabt haben würden, wenn sie ihre Meinungen und Werthaltungen unter angemessenen Bedingungen ausgebildet hätten. Sie werden zu dem Schluss kommen, dass sie das Wohlergehen ihrer Vorfahren fördern, indem sie deren moralische Fehler korrigieren. Wheelers Ansatz macht insofern plausibel, inwiefern Gründe für Wiedergutmachung unabhängig von Kollektivsubjekten konstruiert werden können. Zugleich deutet er eine von der radikalen Antwort und der radikalen Replik abweichende Lösung für das Problem der Historisierung historischen Unrechts an: Historisches Unrecht vergeht – wenn die Ansprüche nicht von Kollektivsubjekten erhoben werden – in dem Maße, in dem die intergenerationellen Bindungen in Familienlinien abnehmen.
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GERECHTIGKEIT IM GESUNDHEITSWESEN Nikolaus Knoepffler
Bestimmungen von Gerechtigkeit haben eine lange Tradition. Meist bezeichnete dabei Gerechtigkeit eine individuelle Tugend. In der gegenwärtigen Diskussion spielt jedoch der soziale Gedanke eine prominente Rolle. Exemplarisch hierfür ist die Bestimmung von Gerechtigkeit durch John Rawls (2001 [1971], 19), wonach Gerechtigkeit als die »erste Tugend sozialer Institutionen« verstanden wird. In der folgenden Problemskizze werde ich versuchen, die individuelle und soziale Dimension des Gerechtigkeitsbegriffs zu verbinden, um diese für die Frage nach der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen fruchtbar zu machen. Dabei werde ich auf die nationale Fragestellung fokussieren, also das nationale Problem einzelstaatlicher in den Kosten explodierender Gesundheitswesen. Es sollen Anreizstrukturen aufgedeckt werden, die zum jetzigen Zeitpunkt in den nationalen Gesundheitswesen, hier exemplifiziert am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, dazu führen, dass sowohl individuell als auch institutionell dieses System ausgebeutet und damit soziale Gerechtigkeit verletzt und individuelle Gerechtigkeit für den Betreffenden zur Benachteiligung führt. Von daher lassen sich Anregungen finden, wie ein Lösungsweg aussehen könnte. Dabei soll bereits an dieser Stelle ein fundamentaler Einwand angesprochen werden. Die Beschränkung auf die nationale Fragestellung ist vor dem Hintergrund der Anerkennung der Menschenwürde aller Menschen mit einem universellen Gerechtigkeitsgedanken nicht vereinbar. Warum sollen Landesgrenzen eine so wichtige Rolle spielen, wenn es um das Gut Gesundheit geht, das für alle Menschen von zentraler Bedeutung ist? Die derzeitige Situation auf unserem Planeten ist jedoch weit davon entfernt, ein übernationales Gesundheitssystem etablieren zu können. Trotz anders lautender internationaler Konventionen, der Grundüberzeugungen der großen Weltreligionen und dem Wortspiel vieler Entscheidungsträger sind mehrere Milliarden Menschen auf dieser Erde auch deshalb von einer grundlegenden Absicherung gegen existenzbedrohende gesundheitliche Risiken ausgeschlossen. Der Umgang mit der Malaria ist ein konkretes Beispiel hierfür. Während beispielsweise ein österreichischer oder bundesdeutscher Tourist, der sich mit der Malaria infiziert hat, nach der Rück279
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kehr alle erdenklichen medizinischen Leistungen im Rahmen der Krankenversicherung beanspruchen kann, hat die einheimische Bevölkerung, die sich nur um den Verlust der Heimat und meist auch der eingeübten Lebensweisen aus Malariagebieten zurückziehen könnte, eine vielfach sehr schlechte medizinische Versorgung. Dementsprechend hoch ist die Todesrate. Manche Universitätsklinik in westlichen Ländern verfügt über ein höheres Budget, als bestimmten schwarzafrikanischen Ländern insgesamt an Geld für das nationale Gesundheitswesen zur Verfügung steht. Auf dieses Grundproblem, dass wir uns de facto immer noch nicht als Weltbürger verstehen, werde ich in den weiteren Überlegungen nicht eingehen, da hier eine Fülle von Fragestellungen politischer Theorie zu berücksichtigen wäre. Das aber kann hier nicht geleistet werden. Deutlich sollte nur werden, dass damit die folgenden Überlegungen nur ein Teilsegment der Fragestellung behandeln. 1. Die zugrunde liegende Gerechtigkeitskonzeption Die im Folgenden zugrunde liegende Gerechtigkeitskonzeption ist von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness im Sinne fairer Chancengleichheit inspiriert, ohne dass damit der Anspruch erhoben wird, Rawls hätte in ähnlicher Weise argumentieren müssen. Sie ist ebenfalls von der Theorie von Alan Gewirth (1978; 1992) beeinflusst, wonach Menschen verpflichtet sind, einander die notwendigen Bedingungen zu sichern, die ein gehaltvolles Handeln in Freiheit ermöglichen. Für die soziale Gerechtigkeit als »Tugend« der Institution Gesundheitssystem lege ich dabei folgende zwei Grundsätze in Abwandlung der rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze (Rawls 2001 ([1971], 81) zu Grunde: 1. Das Gesundheitssystem sollte möglichst viel Freiheit zulassen, die mit der Freiheit aller verträglich ist. 2. Ungleichheiten im Gesundheitswesen sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) existenzbedrohende Risiken (gesundheitlich und finanziell) abgesichert werden. Der erste Grundsatz hat fundamentale Bedeutung. Gerechtigkeit hat nach der hier vertretenen Konzeption einen strikten Bezug zur Freiheit des Einzelnen.
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Auch in Fragen der gesundheitlichen Versorgung gilt: Das Prinzip der Subsidiarität ist strikt zu berücksichtigen. Die Freiheit des Einzelnen hat solange Vorrang, solange nicht grundlegende Ansprüche anderer Menschen, insbesondere das subjektive Recht auf Leben und auf Wohlergehen, Solidarität verlangen. Genau hier spielt der zweite Satz eine entscheidende Rolle: Was diese grundlegenden Ansprüche angeht, so gilt ein Egalitarismus bezüglich der Absicherung gegenüber Krankheiten und Behinderungen, die die Existenz bedrohen (b). Es soll dadurch jedem Menschen soviel an Gesundheitsleistungen in einer solidarischen Regelversorgung zugestanden werden, wie er benötigt, damit seine Absicherung gegen existenzbedrohende gesundheitliche Risiken gewährleistet ist. »Absicherung« besagt in diesem Zusammenhang ein Zweifaches: Es besagt einerseits, dass im Rahmen der medizinischen Möglichkeiten einem Menschen geholfen wird, dessen Leben oder fundamentales gesundheitliches Wohlergehen auf dem Spiel steht. Es besagt andererseits, dass diese Hilfe für den Betroffenen bezahlbar bleibt, also als Folge einer kostspieligen Behandlung kein finanzieller Ruin eintritt. Es ist damit aber nichts über die Erfolgschancen einer Behandlung ausgesagt (vgl. Oberender/Zerth 2003, 5). Dennoch sind allgemein bezüglich der Gesundheitsversorgung Ungleichheiten zulässig, wenn diese letztlich zu jedermanns Vorteil sind (Satz 2a). Der individuelle Gerechtigkeitsaspekt zeigt sich gerade darin, dass hierbei im klassischen Sinn der Einzelne Gesundheitsleistungen nach dem Prinzip des »suum cuique« einfordern kann (distributiv), nicht aber nach dem Prinzip »Jedem das Gleiche«. In der Anwendung dieser Konzeption auf Verteilungsfragen im Gesundheitswesen zeigt sich damit, dass die obigen Grundsätze nicht im Sinne eines Mitleidsprinzips zu verstehen sind (vgl. Birnbacher 2002, 98 f.). Denn als Mitleidsprinzip verstanden kann seine Anwendung zu dem kontraintuitiven Ergebnis führen, dass beispielsweise zuerst die am schlechtesten gestellten Patienten trotz geringer Erfolgsaussichten ein Transplantat erhalten und »dass Patienten mit guten Erfolgsaussichten so lange auf eine Transplantation warten müssten, bis sich ihr Zustand so weit verschlechtert hat, dass sie die für die Transplantation notwendige Dringlichkeitsstufe erreichen, dann aber aus der Transplantation nur noch einen geringen Nutzen ziehen« (ebd., 99).
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2. Gerechtigkeit im Gesundheitswesen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland 2.1. Die große Stärke In der Bundesrepublik Deutschland wird derzeit das Prinzip der Solidarität im Gesundheitswesen institutionell sehr stark durch die gesetzlichen Kassen berücksichtigt, bei denen etwa neun von zehn Bundesdeutschen versichert sind. Für die privaten Kassen gilt das Äquivalenzprinzip risikoadäquater Prämien, doch hat der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass beispielsweise für Beamte nach der Verbeamtung ein Kontrahierungszwang für die Kassen besteht, falls der Beamte dies wünscht. Dabei darf die Risikoprämie maximal um einen bestimmten Betrag erhöht werden. Bei den gesetzlichen Kassen wird die Solidarität nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip eingefordert. Der Beitrag ist abhängig von der Höhe des Einkommens aus – meist – unselbständiger Arbeit. Dies hat zur Folge, dass eine grundsätzliche Absicherung gegeben ist, was das wirtschaftliche Risiko angeht, durch eine Krankheit finanziell ruiniert zu werden. Diese Absicherung führt dazu, dass im Unterschied zu anderen Systemen, insbesondere zum marktwirtschaftlich organisierten System der Vereinigten Staaten von Amerika (trotz Medicare und Medicaid), gerade finanziell schwache Mitglieder der Gesellschaft bei Erkrankungen geschützt sind. 2.2. Probleme Allerdings wird im bundesdeutschen System der erste Gerechtigkeitsgrundsatz dadurch verletzt, dass die Solidarität in einer Weise ausgeweitet ist, die dazu führt, dass dem Einzelnen wenig Spielräume zur Gestaltung der finanziellen Vorsorge für seine Gesundheit bleiben. Zugleich wird die Solidarität intergenerationell verletzt. Da die gesetzlichen Kassen im Unterschied zu den privaten Kassen, die zur Bildung von Altersrückstellungen verpflichtet sind, keine nennenswerten Rücklagen bilden müssen und sich nach dem Umlageverfahren finanzieren, ist das System nicht zum Vorteil der heutig Vierzigjährigen und ihren Kindern, sondern zu deren Nachteil.1 Es wird also der Satz 2a verletzt. Es lässt sich sogar befürchten, dass 1. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage eingehen, warum die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft so wenig Bereitschaft zeigen, eine Gesellschaft zu
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die finanziellen Mittel langfristig nicht mehr ausreichen werden, um für alle eine Sicherung vor die Existenz bedrohenden Risiken zu gewährleisten. Es würde also auch Satz 2b verletzt. Bereits heute sind Fälle bekannt, in denen mögliche teure Behandlungen deshalb nicht mehr vorgenommen werden, weil die Kassen diese Behandlungen nicht in vollem Umfang bezahlen. Was dann zwar im Einzelfall möglich wäre, wird aber auch im Einzelfall nicht vollzogen, weil dann der Gleichheitsgrundsatz gegenüber den übrigen ähnlich schweren Fällen verletzt wäre. Patienten erfahren nicht einmal etwas von diesen Möglichkeiten. Darüber hinaus enthält das System Anreizstrukturen, die zur Ausbeutung dieser gemeinschaftlichen Solidarität führen und damit die individuelle Gerechtigkeit statt zu befördern in der Weise erschweren, dass der individuell Gerechte zum »Dummen« wird. Er wird strukturell ausgebeutet. So ist es sowohl für die Führungskräfte der Kassen als auch für die Ärzte als auch für die Patienten eine dominante Strategie im Sinne ökonomischer Rationalität, möglichst viel an Leistungen aus dem System herauszuholen: Bereits heute bleiben allein bei den Kassen, die beispielsweise ihren Vorständen zum Teil »branchenübliche Gehälter« zahlen, erhebliche Summen – man spricht von einem Drittel des gesamten Volumens – hängen. Doch damit nicht genug. Durch Ausgleichszahlungen zwischen den Kassen lohnt sich ein wirtschaftliches Verhalten in vielen Fällen wenig. Teure Werbeaktionen benötigen ebenso Ressourcen. Auf Grund der Anreizstruktur ist es also, spieltheoretisch gesprochen, für die Krankenkassen die dominante Strategie, möglichst viele Leistungen aus dem Gesundheitssystem herauszuholen. Wenn beispielsweise eine Krankenkasse A eine aufwendige Werbekampagne startet, Krankenkasse B aber nicht, dann zahlt B nicht nur über den Risikostrukturausgleich die Kampagne von A mit, sondern verliert auch noch Mitglieder an A usw. Von Seiten der anbietenden Ärzte besteht ebenfalls ein Anreiz, möglichst viele Leistungen zu erbringen, ob sie nun nötig sind oder nicht. Da nun die Ärzte als Leistungsanbieter gleichzeitig die Experten sind, die die Nachfrage gemäß schaffen, die es Frauen ermöglicht, Kinderwunsch und Berufswunsch miteinander zu vereinbaren, warum also derzeit die Anreizstrukturen so gesetzt sind, dass nicht wenige darauf verzichten, sich den Kinderwunsch zu erfüllen oder es aus beruflichen oder ökonomischen Gründen nicht wagen, ein zweites oder drittes Kind zu bekommen. Ohne diese Bereitschaft zur Veränderung ist ein Generationenvertrag praktisch für die wenigen Nachkommen nicht erfüllbar.
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den eigenen Möglichkeiten stimulieren und den Konsumenten spezifische Bedürfnisse einreden können, besteht ein Anreiz, genau dieses zu tun. Ein konkretes Beispiel hat der Präsident der Landesärztekammer Thüringen, Eggert Beleites an Hand von Fallzahlen zur Differentialdiagnose »Schwindel« konkret nachweisen können (Beleites 1998). In Deutschland verdoppelte sich die Indikation zur einfachen Vestibularisprüfung, also um herauszufinden, ob jemand in bestimmter Umgebung Schwindelanfälle bekommt, nach Erhöhung der Punktzahl, also der Bezahlung, innerhalb eines Jahres (1995 auf 1996), um dann auf diesem hohen Niveau zu verharren. Von Seiten der Patienten besteht unabhängig von der wirklichen Bedürftigkeit der Anreiz dadurch, dass diese Güter kostenlos angeboten werden und damit die Nachfrage preisunempfindlich ist. So ist es im Sinne der ökonomischen Rationalität des Einzelnen sinnvoll, die jeweilige medizinische Leistung möglichst extensiv zu nutzen, also »solange nachzufragen, solange sie ihm noch Zusatznutzen verschafft. Das Gesetz der fallenden Nachfragekurve ist also außer Kraft gesetzt; die Nachfrage nach medizinischen Leistungen wird preisunempfindlich« (Oberender/Fleischmann 2002, 41). Außerdem ist er nicht dazu angehalten, auf seine Gesundheit zu achten (sog. moral hazard). Was allerdings dem Einzelnen zugute zu kommen scheint, ist für alle, den Einzelnen eingeschlossen, insgesamt eine Selbstschädigung; denn alle zusammen müssen für die hohen entstehenden Kosten aufkommen. Spieltheoretisch lässt sich dieses Problem (unter der Annahme, dass es sich um einen nicht wirklich nötigen Ressourcenverbrauch handelt) so darstellen: Akteur A nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens in Anspruch
Akteur A nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens nicht in Anspruch
Akteur B nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens in Anspruch
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Akteur B nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens nicht in Anspruch
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Dabei lassen sich für die Akteure die Kassen, die einzelnen Ärzte oder die einzelnen Patienten einsetzen. Die Nutzenpunkte sind betragsmäßig willkürlich gewählt. Sie sollen nur deutlich machen, dass der Einzelne einen Vorteil davon
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hat, wenn er zusätzliche Leistungen für sich in Anspruch nimmt, dass aber niemand etwas davon hat, wenn jeder danach handelt. Dennoch ist es die dominante Strategie, Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Wir haben es hier mit der Abwandlung einer alten Geschichte zu tun. Wenn bei einem Fest jeder etwas beitragen soll, einige bringen Salate, andere Fleisch, andere Kuchen usw., dann fällt es nicht auf, wenn ein Gast nichts mitbringt. Dieser Gast beutet sozusagen die anderen aus. Er profitiert. Ohne Gegenleistung erhält er etwas. Handeln aber alle in dieser Weise, werden alle zu Verlierern, denn das Fest kann nicht mehr stattfinden. Je anonymer nun Strukturen werden, umso größer ist die Versuchung, sich so zu verhalten wie der ausbeutende Gast. 2.3. Ideenskizze einer Lösung Was die oben zugrunde gelegten Grundsätze angeht, so hätte ein strenges Rahmenwerk zumindest dafür zu sorgen, dass folgende Reformen geschehen: • Verstärkter Umbau des Gesundheitssystems in Regel- und Wahlleistungen. Regelleistungen betreffen existenzbedrohende Risiken • Regelleistungen sind solidarisch von allen Bürgerinnen und Bürgern zu tragen und nicht im Umlageverfahren, sondern durch nennenswerte Rücklagen abzusichern, um auch eine intergenerationelle Gerechtigkeit zu sichern. • Wahlleistungen fallen in die individuelle Freiheit und Selbstverantwortung, werden aber in einer gewissen Weise solidarisch mitgetragen (aktuarische Prämien).2 Was die Anreizstrukturen angeht, so sollte leitend sein, wie soziale und individuelle Gerechtigkeit unter den heutigen systemischen Bedingungen realisiert werden können. Dies könnte dann gelingen, wenn die Anreizstrukturen systemisch verändert werden, sodass es sowohl für die Kassen als auch die Ärzte als auch die Patienten zur dominanten Strategie wird miteinander zum gemeinsa2. »Die konkrete Ausgestaltung der Gesundheitsleistungen obliegt … der individuellen Verantwortung des Einzelnen. In diesem Sinne wären auch aktuarische Prämien möglich, d. h. die Kalkulation entsprechend den individuellen Risiken. Damit ökonomisch Schwache und chronisch Kranke in einem solchen System ausreichend gesichert sind, ist analog zum Wohngeld an diese Personen ein Versicherungsgeld als Subjektförderung zu bezahlen« (Oberender u. a. 2002, 158).
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NIKOLAUS KNOEPFFLER
men Wohl zu kooperieren – und das heißt konkret, das System möglichst von unnötigen Kosten zu entlasten. Die Matrix hätte dann folgendes Aussehen: Akteur A nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens in Anspruch
Akteur A nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens nicht in Anspruch
Akteur B nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens in Anspruch
0–2 / 0–2
2 – 2 / –1
Akteur B nimmt Ressourcen des Gesundheitswesens nicht in Anspruch
–1 / 2 – 2
1/1
Auf diese Weise wird eine neue Entscheidungssituation geschaffen, in der der Einzelne eine individuelle Gerechtigkeit realisiert, die insgesamt für das Gesamtgesundheitssystem von Vorteil ist. Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Nutzenpunkte auch hier nur eine Verbildlichung darstellen. Die konkrete Umsetzung ist die Aufgabe von Gesundheitsökonomen, nicht von Ethikern.3 Die Aufgabe des Ethikers bestand darin, aufzuzeigen, dass gerade vor dem Hintergrund des Prinzips der Gerechtigkeit eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens nötig ist.
3. Vgl. dazu die »10 Thesen für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen«, in: Oberender/ Zerth (2003), 5–7.
GERECHTIGKEIT IM GESUNDHEITSWESEN
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LITERATUR
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DEM ANDEREN GERECHT WERDEN DER PHILOSOPHISCHE GEHALT VON WILHELM VON OCKHAMS THEOLOGISCHER ETHIK
Hans Kraml
Eine Preisfrage: Welche historische Figur, die im weitesten Sinn mit Philosophie in Verbindung gebracht werden kann, wird als einzige in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus genannt, und zwar gleich zwei Mal? Richtig, es ist Wilhelm von Ockham! Es gibt sprachphilosophisch bedeutende Ähnlichkeiten zwischen Wittgenstein und Ockham, und es gibt eine besonders interessante Ähnlichkeit in der Auffassung von Ethik, wie sie bei Ockham vorgetragen wird und wie sie in Wittgensteins spärlichen Bemerkungen zur Ethik (1989) zum Ausdruck kommt. Dazu werde ich am Ende noch einmal kurz etwas sagen. Ockhams Ethik nimmt einen Strang des Denkens auf, der bei Peter Abälard in einem Rückgriff auf Augustinus einzusetzen scheint und der bei Abälard zum Konflikt mit einer Reihe von Zeitgenossen, insbesondere mit Bernhard von Clairvaux geführt hat. Dieser Strang gehört zwar zum Mittelalter, er ist aber nicht der Hauptstrang dieses Denkens. Und er führt auch geradewegs aus dem Mittelalter heraus und in das Denken der Neuzeit. Peter Abälard hatte betont, dass die moralische Qualität einer Handlung ausschließlich von der Ausrichtung des Willens, von der Absicht der oder des Handelnden abhängt. Auf den ersten Blick muss eine solche Auffassung natürlich auf den Widerstand anderer stoßen. Es ist doch für jedermann offenkundig, dass eine üble Tat nicht dadurch weniger übel wird, dass sie nicht als üble Tat gewollt war. Der Vorwurf, den sich Abälard gefallen lassen musste, lautete: Nach deiner Theorie ist etwas dann gut, wenn es als gut gewollt wird. Also ist jede Tat, wenn ich will, dass sie gut sei, wegen meines guten Willens auch wirklich gut, was immer für eine Übeltat es auch sein möge. Für Abälard selbst war es natürlich kein Problem, die logischen Fehler hinter diesen Vorwürfen aufzudecken, aber es dauerte eine Weile, bis auch anderen klar wurde, dass solche Behauptungen nicht als Konsequenz der abälardschen und vergleichbarer Theorien gelten können. Abälard hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die besondere Moralität einer Handlung nicht von der generischen Sorte 289
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HANS KRAML
von Tätigkeit, zu der die betreffende Handlung gehört, abhängt, sondern davon, ob sie in der Absicht oder in dem Willen ausgeführt wurde, das Richtige zu tun, und zwar deswegen, weil es richtig ist. Im Lauf des 13. Jahrhunderts ist diese Auffassung völlig selbstverständlich geworden. Trotzdem gibt es zwei verschiedene Auffassungen davon, worauf es bei Handlungen und ihrer Beurteilung letzten Endes ankommt. Nach der einen Auffassung kommt es darauf an, eine Einsicht in das zu gewinnen, was gut ist, und seinen Willen dazu zu bestimmen, dieses Gute zu verwirklichen. Nach der anderen Auffassung kommt es darauf an, den eigenen Willen mit einem anderen Willen in ein rechtes Verhältnis zu bringen und dementsprechend zu handeln. Das eigene Wollen ist nach dieser Ansicht am Wollen des anderen auszurichten. Man kann ohne weiteres sagen, dass die beiden unterschiedlichen Grundansichten nicht unbedingt zu unterschiedlichen Auffassungen darüber führen müssen, welche Verpflichtungen für die Menschen gelten. Aber es steckt dahinter eine recht unterschiedliche Vorstellung davon, was die menschliche Person ausmacht und worauf sie sich ausrichten sollte. Man kann die erste Position stärker ontologisch, die zweite stärker anthropologisch orientiert nennen. Man kann die erste Einstellung, wie das in der Geschichte sinngemäß auch geschehen ist, intellektualistisch nennen, die zweite voluntaristisch. Ohne sich groß auf mittelalterliches name-dropping einzulassen, kann man eine mehr intellektualistische Haltung bei Thomas von Aquin und einer Reihe seiner Anhänger finden. Nach Thomas ist der Wille seiner Natur nach so eingerichtet, dass er immer dem Urteil der Vernunft folgt. Tut der Mensch etwas Schlechtes, so hat das eigene Begehren die Oberhand gewonnen und das Urteil der Vernunft falsch bestimmt und damit verkehrt. Der Wille als rationales Strebevermögen muss diesem Urteil der Vernunft folgen. Die mangelnde Einsicht der Vernunft führt so zu einer schlechten Handlung.1 Eine eher voluntaristische Haltung findet sich bei den Franziskanern, vor allem bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Diese bestreiten, dass der Wille seiner Natur nach immer dem Urteil der Vernunft folgt. Viel1. »Unde videmus quod homines in aliqua passione existentes, non facile imaginationem avertunt ab his circa quae afficiuntur. unde per consequens iudicium rationis plerumque sequitur passionem appetitus sensitivi; et per consequens motus voluntatis, qui natus est sequi iudicium rationis.« Thomas v. Aquin, STh I-II, q. 77, a. 1, corp.
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mehr kann der Wille eben auch gegen das Urteil der Vernunft die Ausführung einer Handlung in Angriff nehmen. Der Wille ist insofern ein rationales Strebevermögen, als er der Einsicht folgen kann, aber nicht muss.2 Nur deswegen kann auch von Freiheit die Rede sein. Man muss eingestehen, dass weder Thomas als Intellektualist in Reinkultur noch Scotus oder Ockham als Voluntaristen angesehen werden können. Thomas ist sich klar darüber, dass er die Schöpfung nicht als notwendigen Vorgang betrachten kann. Scotus ist sich im Klaren darüber, dass die Einsicht der Vernunft wesentlich ist für die Möglichkeit der moralischen Beurteilung einer Handlung. Aber auch dann ist die Zuordnung verschiedener Theologen zu verschiedenen Grundhaltungen mit Vorsicht zu genießen, denn das, was in Lexika und philosophiegeschichtlichen Darstellungen zu den Themen »Intellektualismus« und »Voluntarismus« steht, hat mit den Auffassungen von Thomas einerseits, von Scotus oder Ockham andererseits in vielen Fällen recht wenig zu tun. Mein Ziel hier ist aber, am Beispiel Ockhams und einer Diskussion zu den verschiedenen Überlegungen einen Beitrag zu einer kritischen Sichtung der Möglichkeiten zu liefern, die für vertretbare Einstellungen auf diesem Gebiet angenommen werden können. Ockhams ethische Theorie wird in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Tugendlehre entwickelt, deren Vorbild spätestens seit der Rezeption durch Thomas von Aquin die Nikomachische Ethik des Aristoteles ist. Obwohl nun Ockham in den meisten seiner nichttheologischen Schriften, vor allem natürlich in der Logik, ein getreuer Kommentator des Aristoteles ist, wie er selbst jedenfalls meint, geht seine Ethik in eine völlig andere Richtung, die allerdings bei genauem Zusehen einen augustinischen Einschlag nicht verbergen kann. Sie ist aber auch nicht einfach mit einer aus Augustinus erhebbaren Auffassung identifizierbar. Die moralische Beschaffenheit einer Handlung von handlungsfähigen Wesen hängt nicht von Merkmalen an den äußerlich beobachtbaren Erscheinungen, die als Handlung aufgefasst werden können, ab, sondern allein von der Absicht oder, anders ausgedrückt, vom Willen des Handelnden. Als beschreibbare und beobachtbare Ereignisse sind die Handlungen eines jeden Wesens zunächst einmal moralisch neutral, das heißt, sie fallen unter gar keine moralische Beurtei2. Johannes Duns Scotus, Ordinatio II, d. 25, q. unica. Opera omnia, ed. L. Wadding, Lyon 1639, repr. Hildesheim 1968, Bd. VI.2, 888, n.22. Wilhelm von Ockham, In Sent. I, d. 1, q. 6 (OT I, 503).
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lung. Nur die Willensakte oder die direkt gefassten Absichten, die einer Person in erster Linie anrechenbar sind, können im eigentlichen Sinn ›gut‹ oder ›schlecht‹ genannt werden.3 Was bedeuten nun aber die Beurteilungsprädikatoren ›gut‹ und ›schlecht‹? Für den Fall moralischer Gutheit gilt nach Ockham, dass den Prädikator ›gut‹ nur ein Willensakt verdient, der aufgrund rechter Einsicht und unter Berücksichtigung aller Umstände, die zu einem tugendhaften Handeln gehören, hervorgebracht wird. Tugendhaft ist ein Handeln dann, wenn es zusätzlich zur sachgerechten Tätigkeit auch noch in dem Willen geschieht, gerade deswegen so zu handeln, weil es gut ist. Eine Handlung ist dann ein Kandidat dafür, als moralisch gute Handlung zu gelten, wenn sie zunächst einmal der Einsicht aus dem rechten Gebrauch der Vernunft folgt. Sodann muss der Handelnde die Ausführung einer Handlung so, wie sie die rechte Vernunft vorschreibt, jeder anderen Möglichkeit, eine Handlung zu motivieren, vorziehen. Moralisch bedeutsam ist eine Handlung unter diesen Bedingungen, wenn sie mit dem ausdrücklichen Wollen ausgeführt wird, die Handlung deswegen auszuführen, weil die rechte Vernunft es so vorschreibt, und damit dem Willen Gottes zu folgen, weil es so von Gott gewollt ist. Das ist, da Gottes Wille das einzig Gute ist, gleichbedeutend damit, dass die Handlung als gute Handlung gewollt wird. Darüber hinaus liegt eine im vollen Sinn moralisch wertvolle Handlung dann vor, wenn dem Willen Gottes, der sich in der Entscheidung der rechten Vernunft zeigt, aus Liebe zu Gott gefolgt wird.4 In der Quaestio »De connexione virtutum« wird als fünfter Grad der Tugend noch der Heroismus definiert und besprochen, der darin besteht, eine gute, aber freigestellte Handlung auszuführen, die das normale Maß der natürlichen Zumutbarkeit übersteigt. Die Tugend als Habitus, also als im Handeln erworbene und gewohnheitsmäßige Bereitschaft, der rechten Vernunft entsprechend zu handeln (Ockham OT VI 396), hat ihre Grundlage in der Liebe zu Gott. Weil die einzelnen Akte aus Liebe zu Gott ausgeführt werden, sind sie gut, und aus den Handlungen entsteht die entsprechende Bereitschaft, gut zu handeln. Die Tugend besteht darin, die Handlungen auszuführen, die Gott von einem will und in der Weise, in der sie Gott von einem will (Ockham OT VI 427 f.). Das Auftreten der 3. »…solum actus voluntatis qui primo est imputabilis est primo bonus vel malus moraliter.« Ockham, In Sent. III, q. 11, OT VI 390. 4. Diese »Grade der Tugend« finden sich in der »Quaestio de connexione virtutum«, Ockham, Quaestiones variae, q.7, a. 2, OT VIII 335 f.
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Rede von Gott ist im Zusammenhang mittelalterlicher Überlegungen und erst recht im Zusammenhang eines theologischen Werkes alles andere als überraschend. Man muss allerdings hinzufügen, dass diese Rede nicht wesentlich erforderlich ist, um Ockhams Anliegen und Theorie zu verstehen. Sie kann sogar, berücksichtigt man heute übliche Formen der Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, reichlich irreführend sein. Man könnte im Sinne Ockhams sinngemäß nämlich auch sagen, dass die Tugend als Habitus des Handelns nach Maßgabe der Einsicht der rechten Vernunft ihre Grundlage im Bestreben des Menschen hat, das Gute deswegen zu tun, weil es eben gerade gut ist. Wie bei Abälard ist bei Ockham die Bestimmung Gottes als des schlechthin Guten entscheidend. Bei Ockham muss aber als ganz wesentlich gesehen werden, dass dieses Gute ein Wesen ist, das will, dass das Gute getan werde. Gott schafft die Welt und die Handlungen des Menschen deswegen, weil er will, dass dadurch das Gute erreicht werde. Dieses Gute besteht dann bei Ockham in der rechten Abstimmung des freien Willens des geschaffenen Wesens mit dem freien Willen Gottes. Ohne das freie Wollen des Menschen gibt es gar nichts moralisch Gutes. Gerade deswegen kann das Gute auch nicht in der Einsicht in eine vorgegebene Ordnung des Guten und der Orientierung des Willens an dieser Ordnung bestehen. Auf diesen Punkt muss noch zurückgekommen werden. Das Gute kann aber ebenso wenig darin bestehen, so etwas wie die Befehle Gottes einfach auszuführen, weil es Befehle Gottes sind. Da hier von Liebe geredet wird, ist die Rede von Befehlen oder die Annahme, es könne sich um Befehle handeln, fehlgeleitet. Es geht darum, in einer bestimmten Weise jemand anderem gegenüber zu handeln, weil man diesem Anderen wohlgesonnen ist. Und diese Wohlgesonnenheit rührt daher, dass man die erkannte Wohlgesonnenheit des anderen zu erwidern oder ihr zu entsprechen wünscht. Die tatsächliche Ausführung von Handlungen in diesem Sinn kann zu einem Habitus, also zum Besitz eines Handlungsmusters werden und so als Tugend in Erscheinung treten. Die Ethik des Wilhelm von Ockham beschäftigt sich also auch, wie es im Mittelalter nicht anders zu erwarten ist, mit den Tugenden. Sie ist aber nicht im gleichen Sinn eine Tugendethik, wie das bei sonstigen philosophischen Ethiken der Fall ist, und auch nicht im gleichen Sinn wie bei Thomas von Aquin, dessen philosophische Ethik als Tugendethik herauslösbar ist aus ihrem theologischen Hintergrund (Kluxen 1980). Das ist für Ockham in einem bestimmten Sinn nicht möglich. Für ihn ist nämlich das moralisch Gute und
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HANS KRAML
damit das, was die Tugend von einer bloßen Gewohnheit des Handelns unterscheidet, nicht in der Einsicht in natürliche Erfordernisse des guten Lebens begründet, sondern in der willentlichen Übereinstimmung mit einem anderen Willen, wobei die Aufgabe der Einsicht lediglich darin besteht, diesen Willen in Erfahrung zu bringen und ein rechtes Verhältnis zwischen den eigenen Bestrebungen und den Anforderungen, die aus diesem anderen Willen auftreten, zu erreichen. Der eigentliche Kandidat für das Zusprechen moralisch bewertender Prädikatoren ist nach Ockham der einzelne Akt des Wollens. Es ist also bei ihm nicht, wie bei Kant oder mindestens in der Ausdrucksweise Kants5, der Wille, auf den sich diese Prädikate in erster Linie beziehen, sondern das je einzelne Vorkommnis eines bestimmten Wollens in einer bestimmten Handlungssituation. Der auf die Ausführung einer Handlung bezogene Entschluss zur Inangriffnahme bestimmter Tätigkeiten ist ein gutes Wollen, wenn der Wille deswegen die Tätigkeit aufnimmt, weil das als gut aufgefasst wird. Was immer im Weiteren dann als gut bezeichnet wird, ist nur gut, weil es in Abhängigkeit von einem solchen aktuellen Wollen steht. So ist ein Wille als eine der Fähigkeiten des Menschen dann gut, wenn er gewöhnlich und beständig Akte des Wollens von etwas Gutem gerade deswegen, weil es gut ist, hervorbringt. Und eine Handlungsgewohnheit ist eine Tugend, wenn sie sich gebildet hat aus Akten guten Wollens und die weitere Neigung zu solchen Akten guten Wollens beinhaltet. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass es sich um eine Gewohnheit, bestimmte Dinge zu tun, handelt, sondern dass es sich um eine Gewohnheit handelt, bestimmte Dinge in einer bestimmten Weise zu tun. Großzügigkeit ist nicht wegen ihrer großartigen Wirkung bei anderen eine Tugend, auch nicht wegen der positiven Folgen und dergleichen, sondern ausschließlich dann, wenn sie deswegen geübt wird, weil es als etwas Gutes verstanden wird, großzügig zu sein, und wenn sie gerade wegen dieser ihrer Güte, nicht wegen anderer Hinsichten ausgeübt wird. Ockham betont immer wieder, dass ein und dieselbe Handlung eine Tugend, keine Tugend oder sogar ein Laster sein kann, je nachdem, welche letzte Absicht Grundlage der tatsächlich im Einzelnen ausgeübten Akte der Betätigung der betreffenden Tugend ist. Im Mittelalter, jedenfalls bei Ockham, wird hier 5. Siehe sein Dictum: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschnitt, Anfang.
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als der Tugend entgegenstehende Absicht meist das Streben nach Ansehen und Prestige genannt. In dieser Betonung des einzelnen Aktes des Wollens haben wir bei Ockham einen Ausdruck seiner ganz typischen Einstellung zu dem, was wirklich ist, vor uns. Alles steht und fällt für ihn mit dem Auftreten von Einzelfällen. Das liegt im Falle Ockhams meines Erachtens nicht allein an der grundsätzlichen ontologischen Auffassung, dass es im eigentlichen Sinn nur Einzelnes gibt (Schulthess 1991, 104–128, bes.127f.), sondern an einer Verbindung dieser Auffassung mit sprachphilosophischen Überlegungen, die mit den Bedingungen für die Einführung der Termini zu tun haben, auf der dann die Bedeutung der Termini in der aktuellen Verwendung der Sprache beruht. Da Handlungen ohnehin schon seit Aristoteles zu den Erscheinungen gehören, die mit Einzelnem zu tun haben – operationes sunt circa singularia 6, so etwas kann auch Thomas von Aquin sagen –, ist es nicht verwunderlich, dass für Ockham als Kandidaten für die Prädikation von »gut« und »schlecht« oder »böse« die einzelnen Handlungen im Vordergrund stehen. Tatsächlich können auch Menschen böse sein, aber eben nur deswegen, weil sie geneigt sind, Handlungen auszuführen, die auf Willensakten beruhen, die als böse gelten können. Für die Zuschreibung moralischer Prädikatoren zu Handlungen gilt dann, dass nach der Ansicht Ockhams diese nicht einer Sorte von Tätigkeiten zukommen, sondern der die Handlung bewirkenden Willenstätigkeit. Es gibt keine äußere oder objektive Gegebenheit, die eine Handlung gut machen könnte. Empirische Eigenschaften der Handlungen haben wohl etwas zu tun damit, dass Handlungen gut sein können, sie sind aber nicht bestimmend dafür. Bestimmend dafür ist das Vorliegen einer Situation, in der überhaupt von einer Bewertung der Handlungen die Rede sein kann, und in der es dann auch um die Besonderheit einer moralischen Bewertung gehen kann. Hierin liegt der Grund für Ockhams Betonung der Rolle des Willens, denn ohne den Willen gibt es keine Grundlage für Bewertungen. Diesen Hintergrund muss man berücksichtigen, wenn man den so genannten voluntaristischen Vorstellungen innerhalb des Mittelalters gerecht werden will. Die Situation ist folgende: In der Beurteilung von Sätzen als wahr oder falsch kommt eine Übereinstimmung (conformitas) zum Ausdruck, nämlich eine Übereinstimmung zwischen dem, was zu verstehen gegeben wird und dem, 6. Les Auctoritates Aristotelis, hg. v. J. Hamesse, Louvain–Paris 1974, 235 (43). Aus Aristoteles, Nik. Ethik 2, c. 7 (1107 a 31).
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was aufgrund des zu verstehen Gegebenen als tatsächlich bestehend erwartet wird. Das ist zwar keine angemessene Formulierung von Ockhams Definition von Wahrheit, aber Ockham hätte das vielleicht als annehmbare Folgerung aus seiner Definition hingenommen. Jedenfalls verwendet auch er im Zusammenhang mit der Verwendung der Prädikatoren »gut« und »schlecht« den Hinweis auf eine Übereinstimmung, nämlich auf die Übereinstimmung mit der rechten Vernunft. Im Fall der moralischen Bewertung liegt dem aber nicht die Übereinstimmung mit etwas vorgegeben Bestehendem zu Grunde, sondern die Übereinstimmung mit einem Willen. Die Rechtheit der Vernunft im Zusammenhang des Handelns im moralischen Sinn ist an einem anderen Willen zu suchen. Die Übereinstimmung mit einem solchen anderen Willen besteht in diesem Zusammenhang auch nicht darin, dass man den Willen von jemand anderem ausführt, sondern dass man das, was man ausführen will, so will, wie von dem anderen gewollt wird, dass man es will. Dabei wird vorausgesetzt, dass der andere einem zugesteht, dass man berechtigt ist, das zu wollen, was man will. Es kommt, so scheint es mir im Endeffekt beabsichtigt zu sein, darauf an, das eigene Wollen so zu orientieren, dass damit auch das Wollen des anderen Berücksichtigung erfährt. Ockham betont wiederholt, dass es nicht darauf ankommt, das zu wollen, was Gott will, sondern das zu wollen, was Gott will, dass man wolle. Gott will nämlich, dass man das Gute wolle. Was heißt das aber, wenn das allein der Wille Gottes selbst ist? Gott will nicht, dass der Mensch sich einer vorgegebenen moralischen Ordnung einfüge oder vorgegebene Ziele verwirkliche. Es ist ganz klar, dass Gott will, dass der Mensch frei handeln soll.7 Er soll dies aber gut tun, und das heißt, in Konformität mit seinem, d. h. Gottes Willen. Da dieser aber nicht durch eine vorgegebene Bestimmung festgelegt ist, interpretiere ich die Äußerungen so, dass ganz allgemein in Konformität mit anderem Wollen gehandelt werden soll, dass es also darauf ankommt, so zu handeln, dass anderes freies Wollen möglich bleibt. Die Ausrichtung auf Gott, oder anders ausgedrückt, die – philosophisch vielleicht zu gewissen Zeiten anrüchige – Rede von Gott hat meines Erachtens, wie in der ganzen Tradition, an der das Mittelalter hängt, vor allem bei Au7. Das kommt bei Ockham vor allem in seinen Überlegungen zur Prädestination und zum Vorherwissen Gottes zum Ausdruck. Vgl. Wilhelm von Ockham, Tractatus de praedestinatione q.1 (OP II, 517).
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gustinus, ihren Grund darin, dass die unvermeidliche Engführung faktischer Willensabstimmung bewusst bleiben soll. So kann man sich jedenfalls ausdrücken. Alle Versuche der Einführung kritischer Instanzen in den gegenwärtigen Entwürfen moralisch-ethischen Handelns hängen mit dem gleichen Motiv zusammen. Kants Vernunft, Hegels Geist – vielleicht –, jedenfalls aber Habermas’ universale Kommunikationsgemeinschaft haben damit zu tun. Habermas, glaube ich, weiß das. Anderen mag es nicht so klar sein, es ist aber deutlich, dass durch die Tradition, der Ockham besonders deutlich Ausdruck verliehen hat, die Ethik in den Bereich der zwischenmenschlichen Abstimmung der Aktivitäten verlegt wurde. Sie braucht, um gerecht zu bleiben, immer eine Instanz, die den faktischen Konsens relativiert, auch wenn ohne diesen faktischen Konsens nicht gehandelt werden kann. Moral hat in diesem Verständnis nichts mit der Ausführung der Pläne eines größeren Ganzen oder mit der Einordnung in solche Pläne oder in ein größeres Ganzes zu tun. Daher ist aus Theorien der Natur und Ähnlichem auch nichts zu gewinnen. Hier treffen sich, wie schon am Anfang angedeutet, noch einmal Wittgenstein und Ockham, diesmal nicht auf dem Gebiet der Sprachtheorie. Für beide hat die Moralität mit der Unbedingtheit eines Anspruchs zu tun, der nicht mit besonderen äußeren Verhältnissen zusammenhängt, sondern mit der Frage danach, was für eine Art von Mensch und Person man sein sollte. Und das ist eine Frage, die sich auch gegenwärtige Philosophen und Menschen überhaupt stellen. Müsste sie sich nicht jeder stellen? Und müsste es nicht klar sein, dass die Frage nicht durch eine äußerlich vorgegebene Bestimmung gelöst sein kann? Man kann sich einmal darauf einlassen, die Rechtheit und damit Gerechtigkeit des eigenen Handelns daran zu prüfen, inwiefern es dem Anspruch auf Gerechtigkeit von anderen her gerecht wird. Wie schon bei Platon, aber durchaus mit anderen Konsequenzen, wird damit die Frage nach der Rechtheit des eigenen Lebens zu einer Frage der Gerechtigkeit des Lebens zusammen mit allen anderen.
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LITERATUR
Hamesse, Jacqueline, Hg. (1974), Les Auctoritates Aristotelis, Louvain–Paris: Publ. Universitaires. Johannes Duns Scotus (1968), Opera omnia, ed. L. Wadding, Lyon 1639, repr. Hildesheim: Olms. Kant, Immanuel (1965), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (PhB 41) Hamburg: Meiner. Kluxen, Wolfgang (1980), Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 2., erw. Aufl. Hamburg: Meiner. Schulthess, Peter (1991), »Significatio« im Rahmen der Metaphysik(kritik) Ockhams, in: Vivarium 29, 104–128. Spade, Paul Vincent, Hg. (1999), The Cambridge Companion to Ockham, Cambridge: Cambridge Univ. Press. Thomas v. Aquin (STh) Summa theologiae, Turin: Marietti, 1952–1962. Wilhelm von Ockham (OT I), Scriptum in primum librum Sententiarum. Ordinatio. Ed. G. Gál, S. Brown, G. Etzkorn, F. Kelley, Opera Theologica I, St. Bonaventure/NY: The Franciscan Inst. Publ. 1967. Wilhelm von Ockham (OT VI), Quaestiones in tertium librum Sententiarum. Reportatio. Ed. F. Kelley, G. Etzkorn, Opera Theologica VI, St. Bonaventure/NY: The Franciscan Inst. Publ. 1982. Wilhelm von Ockham (OT VIII), Quaestiones variae. Ed. F. Etzkorn, F. Kelley, J. Wey, Opera Theologica VIII, St. Bonaventure/NY: The Franciscan Inst. Publ. 1984. Wilhelm von Ockham (OP II), Expositionis in libros artis logicae prooemium; Expositio in librum Porphyrii de praedicabilibus, ed. E. Moody; Expositio in librum praedicamentorum Aristotelis, ed. G. Gál; Expositio in librum perihermenias Aristotelis, ed. A. Gambatese, S. Brown; Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurorum contingentium, ed. P. Boehner, S. Brown, Opera Philosophica II, St. Bonaventure/NY: The Franciscan Inst. Publ. 1978. Wittgenstein, Ludwig (1989), Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hg. und übers. von Joachim Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
REFLEXION UND LEIBNIZ’ THEORIE DER GERECHTIGKEIT Andreas Blank
1. Einleitung Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit als caritas sapientis enthält scheinbar widersprüchliche Komponenten. Zum einen versteht Leibniz »universelle Gerechtigkeit« als etwas, was die selbe notwendige und ewige Art der Geltung hat wie arithmetische und geometrische Wahrheiten (Leibniz 21988, 45). In diesem Sinn steht das Wesen der Gerechtigkeit fest, auch wenn es auf der Welt niemanden gäbe, der gerecht ist (Leibniz 2003, 223). Zum anderen vertritt Leibniz die Auffassung, dass der universelle Begriff der Gerechtigkeit zusammenfällt mit den aus der Naturrechtstradition (oder dem als Naturrecht interpretierten römischen Recht) entlehnten Begriffen des neminem laedere und honeste vivere (Leibniz 21988, 54, 174). In diesem Sinn ist Gerechtigkeit etwas, was in der Natur des Menschen und damit in der Ordnung der Natur festgelegt ist. Auf den ersten Blick scheinen beide Auffassungen von Gerechtigkeit miteinander unvereinbar zu sein. Dieses Problem wird nur unzulänglich gelöst von einem der heute einflussreichsten Versuche einer Systematisierung von Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit. Nach Patrick Rileys Interpretation beruht die Architektonik von Leibniz’ Theorie auf zwei miteinander verbundenen Strategien: (1) der Strategie einer »synthetischen Philosophie«, die Elemente aus verschiedenen philosophischen Traditionen miteinander verbindet – insbesondere platonische sapientia mit paulinisch-augustinischer caritas (Riley 1996, 10; vgl. Belaval 1976, 44f.); dabei betrachtet Riley die platonische Komponente als »almost-dominant« (Riley 1996, 33; vgl. Zarka 1992, 124–127); (2) der Strategie der axiomatisch-deduktiven Ableitung aus hypothetisch gesetzten Prinzipien – beginnend mit »first philosophy, leading to moral philosophy, leading to universal jurisprudence« (Riley 1996, 4–12). Obwohl eine solche Interpretation wesentliche Elemente von Leibniz’ Gerechtigkeitstheorie erfasst, kann jedoch ein axiomatisch-deduktives Modell allein nicht erklären, wie eine platonistische Theorie ewiger Wahrheiten mit dem naturrechtlichen Begriff der Gerechtigkeit vereinbart werden kann. Als Alternative zu Rileys Interpretation stellen deshalb Hubertus Busche 299
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und Ursula Goldenbaum eine naturrechtliche Affektenlehre ins Zentrum von Leibniz’ Gerechtigkeitstheorie (Busche 1997, 307–310; Goldenbaum 2002, 225–228; vgl. Heinekamp 1989, 101–106). Tatsächlich übernimmt Leibniz in einem Brief an Hermann Conring vom 13./23. Januar 1670 Hobbes’ Auffassung, der zufolge »Gerechtigkeit ohne eigenen Vorteil (sei er gegenwärtig oder zukünftig) die größte Torheit ist; denn die hochmütigen Prahlereien der Stoiker […] darüber, dass die Tugend um ihrer selbst willen zu pflegen sei, sind von der menschlichen Natur weit entfernt. Folglich muss alles Gerechte auch ein privat Nützliches sein« (Leibniz 1923–, II, 1, 30).1 Insbesondere im natürlichen Affekt der Liebe ist eine Verbindung des eigenen Nutzens mit dem einer anderen Person gegeben, denn »wir lieben eine Sache, deren Glück uns Vergnügen bereitet« (Leibniz 2003, 217). Auch die Vorstellung universeller Gerechtigkeit setzt Leibniz in einem Brief an Pierre Coste (1712) mit einer Theorie der Affekte in Verbindung: »Unsere natürlichen Affekte machen unsere Zufriedenheit aus: und je mehr man in einer natürlichen Verfassung ist, desto mehr wird man dazu geneigt sein Freude am Wohlergehen anderer zu finden, was die Grundlage allgemeinen Wohlwollens, von caritas, von Gerechtigkeit ist« (Leibniz 1875–1890, III, 428). Auf diese Weise führt eine naturrechtliche Affektenlehre über die Grenzen partikulärer Beziehungen hinaus. Jedoch lässt eine Theorie menschlicher Affekte allein ungeklärt, weshalb Leibniz Gerechtigkeit nicht nur als etwas über-partikuläres, sondern auch als einen Bereich notwendiger Wahrheiten versteht, der neben der affektiven Seite (caritas) auch die rationale Beurteilung von Verhältnismäßigkeiten (sapientia ) umfasst. Im Folgenden soll für die These argumentiert werden, dass die naturrechtlichen und platonistischen Aspekte von Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit auf systematische Weise durch die Theorie der Reflexion miteinander verbunden sind. Dies lässt sich insbesondere für Leibniz’ frühe Schriften zum Problem der Gerechtigkeit und für seine erkenntnistheoretischen Überlegungen zu den Grundlagen des Gerechtigkeitsbegriffs in der Zeit der Nouveaux Essais nachweisen. In beiden Phasen spielt für Leibniz die Vernunft eine Rolle über die Formulierung metaphysischer Hypothesen hinaus. Neben eine »synthetische« Strategie, die metaphysische Hypothesen miteinander verbindet und Konsequenzen aus ihnen ableitet, tritt eine »analytische« Strategie, in der die Theo1. Original lateinisch. Leibniz’ lateinische und französische Schriften werden (ebenso wie eine englische Ausgabe davon) im vorliegenden Beitrag auf Deutsch wiedergegeben. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, vom Verfasser.
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rie der Gerechtigkeit durch die Analyse von Strukturen des vernünftigen Denkens begründet wird. Der deskriptive Ausgangpunkt dieser Methode macht es möglich, die naturrechtliche Seite in eine Theorie universeller Gerechtigkeit zu integrieren. Gleichzeitig geht es in der Analyse um die Offenlegung notwendiger Voraussetzungen vernünftigen Denkens; in diesem Sinn führt das analytische Verfahren auf notwendige Wahrheiten. Leibniz’ Theorie der Reflexion, die in Umrissen in den frühen Schriften hervortritt und in der Zeit der Nouveaux Essais systematisch ausgearbeitet wird, hat die Natur dieser analytischen Begründung notwendiger Wahrheiten zum Gegenstand. Aus der Perspektive einer Theorie der Reflexion lassen sich naturrechtliche und platonistische Intuitionen auf methodologisch fundierte Weise miteinander verbinden: Der Gedanke, dass ewige moralische Wahrheiten, wie auch die ewigen Wahrheiten der Arithmetik und Geometrie, zur Natur rationaler Wesen gehören, macht diese Wahrheiten zu einem Teil der natürlichen Ordnung. 2. Reflexion und Leibniz’ frühe Theorie der Gerechtigkeit 2.1. Juristische Beweise und Definitionen Goldenbaum hat darauf hingewiesen, dass der frühe Leibniz Hobbes’ Beweistheorie aufnimmt, der zufolge Beweise nichts anderes als Verkettungen von Definitionen sind (Goldenbaum 2002, 215 ff .; Leibniz 1923–, II, 1, 95). Auch Busche ist der Auffassung, dass für Leibniz wie für Hobbes Definitionen notwendig für Theorie der Gerechtigkeit sind, weil nur durch die bestimmte Festsetzung der Ausgangsbegriffe eine Demonstration a priori möglich ist (Busche 1997, 308ff.; vgl. Hobbes 1839–1845, II, 92ff.). Dies konkretisiert Busche in der Weise, dass die relevanten Definitionen ausfindig zu machen sind durch eine »generalisierende Abstraktion, die aus den bedeutsamsten und verbreitetsten Beispielen des alltäglichen Sprachgebrauchs eine gemeinsame Durchschnittsmenge ermittelt« (Busche 1997, 310). Jedoch entspricht dies nicht Leibniz’ Auffassung von der Natur von Definitionen. Im Gegensatz zu Hobbes fasst Leibniz Definitionen nicht als bloße Konventionen auf. Marcelo Dascal hat gezeigt, dass für Leibniz Definitionen schon aus syntaktischen Gründen nicht willkürlich sind: Obwohl dieselben Tatsachen durch verschiedene willkürlich gewählte Zeichensysteme repräsentiert werden können, sind die Beziehungen, die die wechselseitige Übersetzbarkeit dieser Systeme gewährleisten, nicht willkürlich
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(Dascal 1987, 63f.; vgl. Leibniz 1875–1890, VII, 190–193). Über diese syntaktischen Beschränkungen hinaus vertritt Leibniz aber auch die Auffassung, dass Definitionen die Natur des Definierten ausdrücken. Dies wird insbesondere deutlich bei seiner Auffassung von Definitionen in der praktischen Philosophie, bei denen die Natur des definierten Gegenstandes mit der Natur des Geistes zusammenfällt. So schreibt Leibniz in den Korollaren zur Dissertatio de arte combinatoria (1666): »Obwohl jede Methode in jeder Disziplin angewendet werden kann; sodass wir entweder den Spuren unserer eigenen Untersuchungen oder der hervorbringenden Natur in unseren Forschungen folgen; so geschieht es dennoch in den praktischen Disziplinen, dass die Ordnung der Natur und die des Wissens zusammenfallen, weil hier die Natur des Dinges selbst in unserem Denken und unserer Hervorbringung ihren Ursprung hat. Denn das Ziel bewegt uns dazu, die Mittel hervorzubringen, und führt uns zugleich dazu, sie zu erkennen; was nicht der Fall ist bei Gegenständen, die wir nur erkennen, nicht aber hervorbringen können. Außerdem ist, obwohl jede Methode erlaubt ist, nicht jede von Nutzen« (Leibniz 1923–, VI, 1, 229). In der Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667) nimmt Leibniz die Strategie, Definitionen im Bereich der Logik und Ethik als Ausdruck der Natur des Geistes aufzufassen, wieder auf: »Sinnliche Eigenschaften sind von zwei Arten: einige werden im Geist allein wahrgenommen, andere in der Einbildungskraft oder durch vermittelnde körperliche Organe. Im Geist werden nur zwei sinnliche Eigenschaften wahrgenommen: Denken und Kausalität. Denken ist eine sinnliche Eigenschaft entweder des menschlichen Verstandes, oder von einem Etwas in uns, von dem wir beobachten, dass es denkt. Aber wir können nicht erklären, was es ist zu denken, ebenso wenig, wie was Weiß oder Ausdehnung ist. […] Auf der sinnlichen Eigenschaft, die Denken genannt wird, ist die Logik aufgebaut […]« (Leibniz 1923–, VI, 1, 286). Die andere sinnliche Eigenschaft, die nach Leibniz allein im Geist gefunden wird, ist Kausalität. Wieder hebt er hervor, dass wir »die Methode der Kausalität« nicht erklären können: »Dies ist der Gegenstand der Pneumatik, die sich mit den externen Aktivitäten unkörperlicher Entitäten beschäftigt, so wie sich die Logik mit ihren internen Aktivitäten, oder Gedanken, beschäftigt. Hierhin gehört auch die praktische Philosophie, oder die Lehre vom Angenehmen und Nützlichen, und von der Gerechtigkeit oder dessen, was von allgemeinem Wert in einer Gemeinschaft ist« (Leibniz (1923–, VI, 1, 286f.). In einem Brief an Hermann Conring vom 9./19. April 1670 beschreibt Leibniz das Verhältnis von Logik und Ethik genauer als einen Fall der Anwendung der Logik: »[D]ie Klugheit in der Rechtssprechung oder die Kunst,
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Urteile zu fällen, kann allgemein anhand sehr weniger Regeln dargestellt werden, sie ist nämlich nichts anderes als auf die Moral angewandte Logik« (Leibniz 1923–, II, 1, 41). Wenn also Logik mit der Natur unseres Geistes zu tun hat, bedeutet ihre Anwendbarkeit auf ethische Probleme, dass auch Ethik nicht auf willkürlichen Definitionen beruht, sondern in der Natur des Geistes fundiert ist. Obwohl also Leibniz Hobbes’ Auffassung von Beweisen als Verkettung von Definitionen übernimmt, ist Leibniz’ Auffassung von der Natur von Definitionen grundsätzlich verschieden von derjenigen Hobbes’. Im Rahmen seiner eigenen Definitionstheorie ist es auch zu verstehen, wenn Leibniz in den Korollaren zur Dissertatio de arte combinatoria in seinen Thesen zur praktischen Philosophie schreibt: »(Partikuläre) Gerechtigkeit ist eine Tugend, die in einem mittleren Maß in den Affekten eines Menschen gegenüber einem anderen besteht […]. Die Regel des mittleren Maßes lautet: es ist erlaubt einem anderen (oder mir selbst) zu helfen, solange einem Dritten (oder einem anderen) nicht geschadet wird« (Leibniz 1923–, VI, 1, 229). Wie Leibniz hervorhebt, verteidigt diese These eine im weitesten Sinn aristotelische Gerechtigkeitstheorie gegen den von Grotius erhobenen Einwand, dass Aristoteles von der Idee eines mittleren Maßes in den Affekten bei anderen Tugenden in unzulässiger Weise auf die Idee eines mittleren Maßes in den Gegenständen, mit denen sich Gerechtigkeit befasst, übergegangen ist. Obwohl Leibniz diese Kritik teilt, möchte er die aristotelische Strategie, Tugenden über ein mittleres Maß in den Affekten zu erläutern, auf das Wesen der Gerechtigkeit anwenden (Leibniz 1923–, VI, 1, 230). Auch die Gerechtigkeitstheorie in den Elementa juris naturalis (1671) lässt sich als Anwendung dieser Strategie verstehen. Im dritten Manuskript der Elementa juris naturalis wendet Leibniz gegen Aristoteles’ Vorschlag, ein mittleres Maß bloß in sachlichen Verhältnissen zu suchen, ein: »Wenn man […] einen genaueren Einblick in dieses Problem gewonnen hat, wird man gewahr, daß Gerechtigkeit die Lenkerin von Liebe und Abneigung eines Menschen gegenüber dem anderen ist. […] Nun gibt es aber zwei Regeln, um dieses Gefühl zu mäßigen: 1. niemanden zu verletzen, 2. jedem zu helfen, soweit nicht ein anderer dadurch verletzt wird« (Leibniz 2003, 201). Die Idee eines mittleren Maßes wird in unmittelbarem Anschluss daran weiter erläutert im Sinn eines Abwägungszusammenhangs zwischen verschiedenen Affekten: »Das Gerechte ist nicht genau genug definiert als das, was der Allgemeinheit nützlich ist. Denn es ist ja erlaubt, den Untergang von vielen meinem eigenen vorzuziehen. […] Gerecht ist das ausgewogene Verhältnis zwischen der Liebe zu mir selbst und der Liebe zum Nächsten« (Leibniz 2003, 201). Die Berufung auf den
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allgemeinen Sprachgebrauch im vierten Manuskript der Elementa juris naturalis hat die Funktion, diese Definition zu begründen. Dass die Lehre vom Recht, wie Leibniz dort sagt, zu den Lehren zählt, »die nicht von Erfahrungen, sondern von Definitionen, nicht von Beweisen der Sinne, sondern von Beweisen der Vernunft abhängen und die sozusagen die Frage nach der Rechtmäßigkeit, nicht die nach dem Sachverhalt betreffen« (221), wird näher dahin erläutert, dass die Grundsätze des Rechts »nicht der Sinneswahrnehmung [entspringen], sondern einer klaren und deutlichen Vorstellung, die Platon ›Idee‹ genannt hat und die, wenn man sie mit Worten ausdrückt, dasselbe bedeutet wie eine Definition« (Leibniz 2003, 223). Definitionen drücken also keine als abstrakte Gegenstände verstandene Begriffe, sondern klare und deutliche Vorstellungen aus, d.h. Eigenschaften des Geistes vernünftiger Substanzen. Auch geht es Leibniz nicht um die induktive Feststellung sprachlicher Konventionen, sondern um eine Verwendung sprachlicher Gemeinsamkeiten als Hinweis auf Begriffe, die in der Struktur vernünftigen Denkens enthalten sind: »Das Verfahren zur Auffindung [der Definitionen] besteht darin, daß wir die bedeutsameren und die am meisten verbreiteten Beispiele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zusammentragen, um so etwas zu ermitteln, das sowohl mit diesen als auch mit den übrigen Fällen übereinstimmt. […] Dieses Verfahren ist immer dann nötig, wenn es nicht ratsam ist, für sich selbst willkürlich die Verwendungsweise der Wörter festzusetzen« (Leibniz 2003, 223 ff .). An dieser Stelle verweist Leibniz explizit auch auf sein Vorwort zu Nizolius (1670), in dem er die Natur philosophischer Erkenntnis genauer auf folgende Weise erläutert: »Und es ist sehr wahr, dass es nichts gibt, was nicht in gewöhnlichen Begriffen erklärt werden kann […]. Deshalb hat Nizolius Recht, wenn er an verschiedenen Stellen darauf besteht, dass, was keinen allgemeinen Begriff (d. h., so wie ich ihn verstehe, keinen Begriff, der in Verbindung mit bestimmten anderen allgemeinen Begriffen einen Gegenstand ausdrücken kann) in der gewöhnlichen Sprache besitzt, als ein Nichts, als eine Fiktion, und als etwas Nutzloses betrachtet werden sollte. Denn Philosophen übertreffen andere Menschen nicht immer in der Weise, dass sie andere Dinge wahrnehmen, sondern darin, dass sie sie in einer anderen Weise wahrnehmen, d. h. mit den Augen des Geistes, und mit Reflexion oder Aufmerksamkeit, und mit dem Vergleichen von Dingen mit anderen Dingen« (Leibniz 1923–, VI, 1, 413). Das bedeutet, dass für Leibniz die Untersuchung des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht auf kollektive Konventionen führt; vielmehr kann seiner Ansicht nach der allgemeine Sprachgebrauch als Kriterium für die Realität eines Sachverhalts gelten. Außerdem kann ihm zufolge philosophische
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Erkenntnis keine anderen Erkenntnisse vermitteln, als diejenigen, die im alltäglichen Sprachgebrauch implizit schon enthalten sind; Reflexion kann nur implizit schon vorhandene Erkenntnisse explizit machen, und dies scheint für Leibniz auch der Sinn von komparativen Vorgehensweisen in der Philosophie zu sein. Darüber hinaus verwendet er diese Auffassung von der Natur reflexiven Wissens in der Demonstratio propositionum primarum (Herbst 1671 – Anfang 1672 [?]), um die platonische Wiedererinnerungslehre neu zu interpretieren: »Aber man könnte fragen: Wie ist es möglich, dass Definitionen allein etwas Neues im Geist erzeugen? Sind nicht die neuen Aussagen nur die alten, ausgedrückt in anderer Weise? Und was ist der Nutzen davon, ein Theorem zu beweisen, wenn ich bereits alles von ihm weiß, außer den Wörtern? Diejenigen, die solche Einwände vorbringen, haben noch nicht die Geheimnisse des Wissens und der Ideen verstanden, und dessen, was Platon ›Wiedererinnerung‹ nannte. […] [E]s ist wahr, dass wer nur Vernunftdinge, Theoreme und Definitionen lernt, wirklich nichts Neues, sondern nur, was schon bekannt ist, zu gebrauchen lernt. […] Wir alle wissen schon separat all die Dinge, die, sobald sie von Euklid geordnet zusammengefügt, distinkt dargestellt, und sorgfältig durchdacht wurden, seine Theoreme hervorbrachten. […] Aber diese wohlgeordnete Kombination, die das Licht alles Philosophierens ausmacht, kam uns nicht in den Sinn. Wir dachten, aber als hätten wir nicht gedacht, d. h. wir dachten ohne Reflexion. In diesem Sinn denke ich, wenn ich neun Einheiten denke, auch sieben Einheiten, aber ohne Reflexion« (Leibniz 1923–, VI, 2, 480 ff .). 2.2. Reflexion, Sorites-Argumente, und die Analyse der Alltagssprache Tatsächlich verwendet Leibniz in seinen frühen Überlegungen zum Gerechtigkeitsbegriff Beobachtungen zum alltäglichen Sprachgebrauch als Hinweise auf Definitionen, welche die Natur der Dinge und die Natur des Geistes erfassen. Insbesondere benutzt er Beobachtungen zum alltäglichen Verständnis von Gerechtigkeit als Ausgangspunkt, um mit Hilfe von Sorites-Argumenten Implikationen des alltäglichen Verständnisses explizit zu machen. Solche Argumente zeigen nach seiner Auffassung, dass eine Äquivalenz zwischen römischem Recht und Naturrecht besteht: So schreibt er in einem Brief an Hermann Conring von Anfang 1670 (?) dass er sich die Aufgabe gestellt habe, »die Aussagen des strikten Naturrechts zu beweisen […], und zwar durch die Anwendung fortgesetzter Sorites-Argumente, welche Begründung aus einer Vielzahl mir die geeignetste erschien, die Sache in klares Licht zu stellen, vorausgesetzt, etwas zu beweisen ist
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nichts anderes als die Gewissheit einer Sache klar und sozusagen augenfällig zu machen. Nachdem ich diese Aufgabe lange genug verfolgt hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass die Regeln des strikten Naturrechts mit den Regeln der Digesten auf wunderbare Weise übereinstimmen […]« (Leibniz 1923–, II, 1, 32). Dabei ist sich Leibniz bewusst, dass Sorites-Argumente den klassischen stoischen Paradoxien zugrunde liegen (vgl. Leibniz 1923–, VI, 1, 88). Dennoch ist er der Auffassung, dass Sorites-Argumente in bestimmten Kontexten logisch gültig sein können (und zwar ohne mit einer bloßen Aneinanderreihung von Syllogismen zusammenzufallen). Dies ist zum einen der Fall bei Argumenten, die transitive Relationen betreffen (Leibniz 1923–, VI, 1, 244f.; VI, 3, 88f.). Zum anderen ist es der Fall bei kontinuierlichen Eigenschaften. In diesem Kontext zeigen Sorites-Argumente, dass der Übergang von einem Zustand zu einem anderen über minimale Veränderung führt und deshalb die Existenz von minimalen Quantitäten voraussetzt (Leibniz 1923–, VI, 3, 538–541). Die Anwendung von Sorites-Argumenten auf den Fall kontinuierlicher Eigenschaften bildet für Leibniz zudem Teil einer Strategie, die das Ziel hat, implizit bereits vorhandenes Wissen explizit zu machen (Leibniz 1923–, VI, 3, 529). In derselben Perspektive verwendet Leibniz an verschiedenen Stellen in den Elementa juris naturalis Sorites-Argumente, die vom alltäglichen Verständnis von Gerechtigkeit ausgehen. Eines dieser Argumente beginnt mit der Beobachtung, dass »derjenige, der inmitten wechselseitiger Ohrfeigen als erster das Messer oder Schwert gezückt hat, nach allgemeiner Übereinstimmung als der Angeklagte [gilt].« Leibniz wendet diese alltägliche Intuition auf eine Kette von Situationen zunehmender Allgemeinheit an. »Aber auch zwischen Staaten geschieht ähnliches, wenn im Krieg gewisse Verbindlichkeiten erkennbar werden und nur dort gekämpft wird, wo sich Bewaffnete gegenübertreten. Hieraus ergibt sich erneut, daß ungerecht handelt, wer, obwohl er mit gleichen Waffen der Gewalt begegnen könnte, als erster sich ungleicher Waffen bedient. Von daher hat unter allen Umständen ungerecht gehandelt, wer als erster tödliche Waffen auf den Kampfplatz geführt hat, obwohl mit anderen Waffen hätte gekämpft werden können. Noch ungerechter hat gehandelt, wer als erster Geschosse [missilia] geschleudert hat, vor denen man sich noch weniger schützen kann« (Leibniz 2003, 127). Eine weitere Anwendung von Sorites-Argumenten findet sich in Leibniz’ ausgedehnter Diskussion von Rettungskonflikten. Ausgangpunkt hier ist die Beobachtung, dass im Fall von zwei Ertrinkenden, von denen nur einer gerettet werden kann, es nach dem alltäglichen Verständnis von Gerechtigkeit erlaubt ist, die Person, zu der die nähere persönliche Beziehung besteht, zu retten (Leibniz
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2003, 131). Leibniz entwickelt die Implikationen dieser Intuition in zwei Richtungen: Zum einen lassen sich an die Stelle der näheren persönlichen Beziehung schrittweise Kriterien wie die moralische und intellektuelle Qualität, die Unentbehrlichkeit für andere Personen, oder die Nützlichkeit für den Staat stellen. Wenn jeweils nur eines dieser Kriterien zutrifft, lässt sich die ursprüngliche Intuition, dass die Entscheidung für die Rettung des Ertrinkenden, der eine besondere Bedeutung für eine einzelne Person besitzt, gerechtfertigt ist, auf Fälle von zunehmender Allgemeinheit übertragen (Leibniz 2003, 133ff.). Zum anderen diskutiert Leibniz Fälle, in denen die Kriterien in Konflikt zueinander stehen. In diesem Fall bildet die alltägliche Intuition, dass die größere persönliche Nähe andere Kriterien überwiegt, den Ausgangspunkt eines Sorites-Arguments: »Gefragt war […] danach, ob es billig ist, daß ich das Unglück meines Vaters dem Unglück von tausend anderen vorziehe oder bereits dem Unglück von zweien oder Hunderten, wobei ein Kettenschluß [sorites] stattfindet« (Leibniz 2003, 149). Weil die alltägliche Intuition die Rettung des Vaters auf Kosten der Rettung einer kleinen Zahl anderer Personen rechtfertigt, zeigt das SoritesArgument, dass Gerechtigkeit nicht mit dem öffentlichen Nutzen zusammenfällt. Auf diese Weise macht Reflexion Auffassungen über natürliche Affekte und deren Verhältnismäßigkeiten explizit, die in unserem alltäglichen Verständnis von Gerechtigkeit bereits implizit enthalten sind. Leibniz’ Theorie reflexiven Wissens ist ihrerseits eingebettet in die traditionelle Unterscheidung zwischen Analysis und Synthesis. Ähnlich wie Descartes (vgl. Descartes 1964–1976, VII, 155 f.) fasst Leibniz bereits in seinen frühen Schriften Analyse und Synthese als komplementäre Verfahren auf: Die analytische Methode geht von einem gegebenen Problem aus und geht zurück zu den Prinzipien, die zu seiner Lösung hinreichen; die synthetische Methode geht von Theoremen aus, aus denen sich die Lösung eines gegebenen Problems ableiten lässt (Leibniz 1923–, VI, 4, 523). Die analytische Methode ist die Methode der Forschung (ars inveniendi ); die synthetische Methode dagegen besitzt drei Aspekte: sie ist die Methode der Darstellung; sie ist die Methode der Beurteilung (ars iudicandi); und sie kann ihrerseits zu neuen Entdeckungen führen. Im Idealfall bleibt die synthetische Methode aber abhängig von der analytischen: Der Ableitung von Konsequenzen aus Axiomen und Definitionen geht in diesem Fall eine analytische Begründung der Axiome und Definitionen selbst voraus (vgl. Leibniz 1923–, VI, 1, 279; VI, 4, 351). Die vollkommenste wissenschaftliche Methode, so macht Leibniz in einem zwischen 1683 und 1686 entstandenen Fragment deutlich, würde einerseits von den einfachsten und allgemeins-
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ten Begriffen und Axiomen ausgehen und mit ihrer Hilfe alle zusammengesetzten und speziellen Begriffe und Sachverhalte erklären. Andererseits würden die Elemente, von denen diese synthetische Methode ausgeht, zuvor mit Hilfe der Methode der Analyse gewonnen (Leibniz 1923–, VI, 4, 582). Definitionen von Grundbegriffen der praktischen Philosophie bilden deshalb für Leibniz Teil einer axiomatisch-deduktiven Methode, sind aber gleichzeitig das Resultat eines analytischen Verfahrens. Eine solche Strategie findet sich etwa in Erläuterungen zu Definitionen, die ihrerseits »Elemente« in einer axiomatisch-deduktiven Darstellung von Leibniz’ Gerechtigkeitstheorie in den Elementa verae pietatis, sive de amore Dei super omnia [Anfang 1677 – Anfang 1678 (?)] bilden. Wie Leibniz dort hervorhebt, möchte er an dieser Stelle nicht nur eine Theorie moralischer Tugenden, die auch auf Erziehung oder Gewohnheit zurückgehen können, aufstellen, sondern eine Theorie der pietas, die den Glauben an eine unter der Herrschaft Gottes stehende Republik und damit eine Vorstellung von universeller Gerechtigkeit beinhaltet. Obwohl Leibniz andernorts die Idee, dass die Welt als die von Gott regierte »Republik« zugleich die beste aller möglichen Welten darstellt, als eines seiner »primären Axiome« bezeichnet (Leibniz 1923–, VI, 3, 427), fügt er in den Elementa verae pietatis den einzelnen Definitionen und Axiomen Erläuterungen bei, die nicht nur deren Inhalt explizieren, sondern zugleich eine Begründung ihrer Adäquatheit oder, darüber hinaus, ihrer Notwendigkeit geben. Dabei verfolgt Leibniz die Strategie, von der Beschreibung alltäglicher Verwendungsweisen von Begriffen auszugehen und nach deren (hinreichenden oder notwendigen) Voraussetzungen zu fragen. So erläutert er etwa zur Definition »Lieben ist sich am Glück von jemandem freuen, oder Lust empfinden durch das Glück eines anderen Menschen«: »Hier definiere ich wahre Liebe, die sich vom einfachen Affekt, oder auch von wegen eines Nutzens eingegangener Freundschaft, unterscheidet. Die außerordentliche Nützlichkeit dieser Definition habe ich einmal im Gespräch mit einigen Freunden festgestellt, die noch nicht hinreichend begriffen, auf welche Weise eine Liebende das Wohl der Geliebten sucht, ohne an den auf sie zurückfallenden Vorteil zu denken; es scheint nämlich, dass wir alles, was wir tun, wegen unseres eigenen Wohls tun, nicht wegen des fremden Wohls, wie also ist es möglich, dass wir das Wohl der Geliebten an sich erstreben? Die Schwierigkeit wird ausgezeichnet gelöst durch diese Definition, die zeigt, dass das Glück der Geliebten ein Teil unseres Glücks ist« (Leibniz (1923–, VI, 4, 1357). Zur Definition »Der Wille ist eine Meinung über Gut und Schlecht« erläutert Leibniz: »Dass dies von den Menschen unter dem Wort ›Wille‹ verstanden wird, ist offensichtlich
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aus den Redeweisen, in denen, wenn die Definition an die Stelle des Definierten gesetzt wird, der Sinn gleich bleibt. Von daher sagen wir, dass alle das Gute wollen und das Schlechte fliehen. Niemand will das Schlechte unter der Bezeichnung des Schlechten. Wir wollen, was wir denken, dass es gut ist, und umgekehrt, was wir denken, dass es gut ist, das wollen wir« (Leibniz 1923–, VI, 4, 1360). Und zur Definition »Die Meinung ist ein praktischer Gedanke, oder ein Gedanke mit dem Streben zum Handeln« fügt Leibniz die Erläuterung hinzu: »Denn dies ist der Unterschied zwischen einem bloßen Gedanken oder einer Erwägung, Vorstellung, Repräsentation, und einer Meinung, dass wer eine Meinung hat bereit ist in einer dieser Meinung konformen Weise zu handeln. Wer auch immer überzeugt ist, dass Feuer im Ofen ist, steckt niemals seine Hand hinein […]. Daher ist es offensichtlich, dass der Glaube, d. h. eine Meinung, ohne Taten, d. h. caritas, oder das Streben etwas Gutes zu tun, nicht sein kann« (Leibniz 1923–, VI, 4, 1361). In dem Maß, in dem die »Elemente« einer axiomatisch-deduktiven Darstellung der Theorie der universellen Gerechtigkeit auf eine Methode der Reflexion gestützt sind, wird eine »synthetische« Philosophie der Gerechtigkeit ergänzt durch eine »analytische« Begründung. 3. Reflexion und Leibniz’ spätere Theorie der Gerechtigkeit 3.1. Gerechtigkeit als eingeborener Begriff Eine ähnliche Ergänzung des axiomatisch-deduktiven Modells durch eine nun systematisch im Rahmen einer Theorie »eingeborener« Begriffe und Wahrheiten ausgearbeitete Theorie der Reflexion findet sich auch in den Nouveaux Essais (1703–1705). Wenn Leibniz dort die »platonische Standard-Methode« (Riley 1996, 26) anwendet, um moralisch problematische Begriffe zu erhellen, indem er sie auf die notwendigen Wahrheiten der Mathematik bezieht (vgl. Platon, Eutyphro 10 d–e), dann hat seine Neuinterpretation der platonischen Theorie der Erkenntnis von Vernunftbegriffen und Vernunftwahrheiten direkte Konsequenzen für die Erkenntnis moralischer Begriffe. Bereits in einer Notiz zur Characteristica Universalis (Frühjahr 1682 [?]) schreibt Leibniz: »Es gilt Platon aus seinen eigenen Schriften zu verstehen, nicht aus Plotin oder Marsilio Ficino, die dadurch, dass sie stets nur dem Wunderbaren und Mystischen nachgingen, die Lehre dieses großen Mannes verfälscht haben […]. Voll Staunens über die Eitelkeit der menschlichen Natur habe ich bemerkt, dass die spä-
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teren Platoniker die trefflichen und gegründeten Lehren des Meisters über Tugend und Gerechtigkeit, über den Staat, über die Kunst der Begriffsbestimmung und Begriffseinteilung, über das Wissen von den ewigen Wahrheiten und über die eingeborenen Erkenntnisse unseres Geistes in den Hintergrund schieben, dass sie dagegen jenen zweideutigen und hyperbolischen Lehren nachgehen, die ihm entschlüpft sind, indem er seinem Genius die Zügel schießen ließ, und in welchen er die Rolle des Dichters spielt« (Leibniz 1923–, VI, 4, 479). Zu den letzteren zählt Leibniz die Lehre von der Weltseele, von der Subsistenz der Ideen außerhalb der Dinge, von der Reinigung der Seelen in der Unterwelt, aber auch die im Höhlengleichnis ausgedrückte Form eines erkenntnistheoretischen Idealismus. Dennoch ist Leibniz der Auffassung, dass die platonische Theorie von der ewigen Natur von Vernunftwahrheiten einen wahren Kern besitzt: »Es gibt in unserem Geist eingeborene Ideen, die uns die allgemeinen Wesenheiten der Dinge darstellen: unser Wissen sei daher eine Wiedererinnerung, und unsere Vollkommenheit sei zuletzt auf eine Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen. Dies alles ist, wenn man es richtig auslegt, völlig wahr und von höchster Bedeutung« (Leibniz 1923–, VI, 4, 480). Auch im Discours de Métaphysique (1686) kritisiert Leibniz nicht nur die Verbindung der platonischen Wiedererinnerungslehre (vgl. Platon, Meno 85b–d) mit der Idee der Präexistenz der Seele oder mit der pythagoreischen Idee der Metempsychose (Leibniz 1923–, VI, 4, 1570 f.). Er entwirft auch eine Alternative zur platonischen Auffassung, der zufolge wir in rationaler Erkenntnis die Ideen der Götter »sehen« (vgl. Platon, Phaedo 75d), indem er hervorhebt, dass – auch wenn Ideen im menschlichen Verstand eine Entsprechung in den Ideen im Verstand Gottes haben – wir mit unseren eigenen Ideen denken (Leibniz 1923–, VI, 4, 1574; vgl. Blank 2001, 127–134). Die Nouveaux Essais stellen den systematischen Versuch dar, zu erläutern, in welchem Sinn Vernunftbegriffe und Vernunftwahrheiten als dispositionelle Eigenschaften des menschlichen Verstandes aufgefasst werden können. Der in den Nouveaux Essais entwickelten Auffassung zufolge sind Vernunftbegriffe und -wahrheiten in dem Sinn eingeboren oder »präformiert«, dass sie das vernünftige menschliche Denken immer schon strukturieren: »Denn die allgemeinen Prinzipien gehen in unser Denken ein und bilden dessen Seele und Zusammenhalt. Sie sind hierfür so notwendig, wie es die Muskeln und Sehnen zum Gehen sind, wenn man auch nicht daran denkt. Der Geist stützt sich jeden Augenblick auf diese Prinzipien […]« (Leibniz 1996, 47). Deshalb bedarf ihre Aktualisierung nur der Reflexion auf die immer schon vorhandenen Strukturen des menschlichen Verstandes: »In diesem Sinne muß man sagen,
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daß die ganze Arithmetik und die ganze Geometrie eingeboren und auf eine potentielle Weise in uns sind, dergestalt, daß man sie, wenn man aufmerksam das im Geiste schon Vorhandene betrachtet und ordnet, darin auffinden kann, ohne sich irgendeiner Wahrheit zu bedienen, die wir durch Erfahrung oder Überlieferung kennen gelernt haben, wie Platon dies in einem Gespräch gezeigt hat, wo er den Sokrates ein Kind durch bloße Fragen, ohne es etwas zu lehren, zu fernliegenden Wahrheiten führen läßt« (Leibniz 1996, 39). Da Leibniz die eingeborenen Vernunftprinzipien und Vernunftbegriffe als notwendige Voraussetzungen des Denkens betrachtet, die implizit in alle unsere Gedanken eingehen, führt die Reflexion, mit deren Hilfe die Vernunftbegriffe und Vernunftwahrheiten erkannt werden, ausgehend von einer Beschreibung unserer mentalen Aktivitäten zur Erkenntnis von notwendigen Voraussetzungen des Denkens. Die Reflexion dringt damit zum »Verstand selbst« vor: Die notwendigen Voraussetzungen des Denkens sind zugleich Begriffe und Wahrheiten, welche die Natur des Verstandes charakterisieren. In diesem Sinn kann Leibniz sagen: »Die Natur der Dinge und die Natur des Geistes wirken hier zusammen. […] [W]as man das natürliche Licht nennt, setzt eine deutliche Erkenntnis voraus, und sehr oft ist die Betrachtung des Wesens der Dinge nichts anderes, als die Betrachtung des Wesens unseres Geistes und jener eingeborenen Ideen, die man nicht draußen zu suchen braucht« (Leibniz 1996, 47; vgl. Blank 2001, 45–55). Dies hat Konsequenzen sowohl für die Begriffe der Metaphysik als auch für den Begriff der Gerechtigkeit. Riley hat hervorgehoben, dass für Leibniz die Substanztheorie wesentlich für das Verständnis von Gerechtigkeit und Moral ist (Riley 1996, 47). Tatsächlich spricht Leibniz in den Nouveaux Essais davon, »daß die wahre Moral sich zur Metaphysik wie die Praxis zur Theorie verhält: denn von der allgemeinen Lehre über die Substanzen hängt die Erkenntnis der Geister und insbesondere die Erkenntnis Gottes und der Seele ab, welche erst der Gerechtigkeit und Tugend ihren rechten Umfang gibt« (Leibniz 1996, 463). Auch schreibt er an Thomas Burnett im Mai 1706, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht »nur von der menschlichen Natur abhängen«, sondern auch »von der Natur intelligenter Substanzen im Allgemeinen« (Leibniz 1875–1890, III, 307). Gegenüber Pierre Coste betont er 1712: »Vom Wissen von der Substanz, und deshalb von der Seele, hängt die Erkenntnis von Tugend und Gerechtigkeit ab« (Leibniz 1875–1890, III, 428). Und zwei Jahre zuvor schreibt er aus einer axiomatisch-deduktiven Perspektive, dass »das große Prinzip der Metaphysik und der Moral behauptet, dass die Welt von der größtmöglichen Intelligenz regiert wird, was bedeutet, dass wir die Welt als eine universale Mon-
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archie auffassen müssen« (Leibniz 21988, 105). Dennoch ist die Kenntnis der Natur individueller Substanzen und der Gerechtigkeit für Leibniz nicht nur die Konsequenz metaphysischer Definitionen und Axiome, sondern auch das Resultat von Reflexion. Erkenntnistheoretisch kommt dies in einer Passage aus einem Schreiben an Königin Sophie Charlotte (1702) zum Ausdruck. Leibniz betont dort, dass »die Betrachtung meiner selbst […] mich mit Begriffen der Metaphysik versorgt, wie Ursache, Wirkung, Handlung, Ähnlichkeit, usw., und selbst mit Begriffen der Logik und der Moral« (Leibniz 1875–1890, VI, 502). Moralische Erkenntnis hängt deshalb nach der Auffassung von Leibniz vom »natürlichen Licht« (lumière naturelle), d. h. der Einsicht der Vernunft, ab: »Zum Beispiel kann man sagen, dass es fürsorgliche Menschen gibt, die nicht gerecht sind, was geschieht, wenn caritas nicht hinreichend geregelt wird […], denn Gerechtigkeit umfasst zugleich caritas und die Herrschaft der Vernunft« (Leibniz 1875–1890, VI, 503). In dieser Weise führt Reflexion zur Einsicht, dass Gerechtigkeit ein Abwägen der Proportionen involviert – und eben das ist für Leibniz das Wesen der Weisheit (vgl. Leibniz 1875–1890, II, 134–138). Auch in den Nouveaux Essais fasst Leibniz den Begriff der Gerechtigkeit als einen eingeborenen Vernunftbegriff auf, der durch Reflexion nicht hervorgebracht, sondern nur bewusst gemacht werden kann. Wie andere Vernunftbegriffe wird der Begriff der Gerechtigkeit damit als Teil der Natur des menschlichen Verstandes aufgefasst. So spricht Leibniz davon, dass man Gerechtigkeit nicht wie ein Pferd sehen, aber dennoch verstehen, oder vielmehr sogar besser verstehen kann, und fügt an, »die geistigen Eigenschaften«W seien »nicht weniger real als die des Körpers« (Leibniz 1996, 303). 3.2. Gerechtigkeit und Sorites-Argumente In der nahezu gleichzeitig mit den Nouveaux Essais entstandenen Méditation sur la notion commune de la justice (1703) wird deutlich, auf welche Weise die Methode der Reflexion naturrechtliche und platonistische Aspekte von Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit miteinander verbindet. Von einem platonistischen Standpunkt aus schreibt Leibniz in der Méditation, dass Gerechtigkeit und Güte »zu den notwendigen und ewigen Wahrheiten in bezug auf die Nature der Dinge gehören, wie Zahlen und Proportionen« (Leibniz 21988, 45; vgl. Platon, Euthyphro 10 d–e) Dennoch vertritt er auch die Auffassung, dass das wahre Gute »nichts anderes ist, als was der Vervollkommnung der verstandesbegabten Substanzen dient. Demnach sind offenbar Ordnung, Zufriedenheit, Freude,
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Güte und Tugend ihrem Wesen nach etwas Gutes und können niemals schlecht sein, während die Macht, von sich aus, gleichfalls ein Gut ist, weil es, wenn alles übrige gleich bleibt, besser ist, sie zu haben, als sie nicht zu haben. Sie wird indessen ein sicheres Gut nur dann, wenn sie mit Weisheit und Güte verbunden ist […]« (Leibniz 21988, 45). Weiter argumentiert Leibniz, dass die platonisch-augustinische caritas sapientis nichts anderes als das römisch- oder naturrechtliche honeste vivere ist, weil zwischen beiden ein nur gradueller Unterschied besteht. Wie schon in den Elementa juris naturalis, verbindet Leibniz die Methode der Reflexion in der Begründung dieser These mit Sorites-Argumenten. Um die Äquivalenz von justitia particularis und justitia universalis zu begründen, konstruiert er in der Méditation Fälle, die zwischen beiden Extremen liegen: »Jemand mag sagen: Ich bin zufrieden, dass mir andere keinen Schaden zufügen, ich verlange überhaupt nicht ihre Hilfe oder ihr Wohlwollen […]. Aber kann man aufrichtig an dieser Sprache festhalten? Fragen wir ihn doch selbst, was er sagen und erhoffen würde, wenn er wirklich davor stünde, einen Schaden zu leiden, den jemand anderer im Handumdrehen von ihm abwenden könnte. Würde er ihn nicht für einen schlechten Menschen und sogar für einen Feind halten, wenn er ihn in dieser Lage nicht retten wollte?« (Leibniz 21988, 54). »Wenn man diese Bitte abschlüge, hätte er Grund sich zu beklagen, denn er kann urteilen dass man die selbe Bitte äußern würde, wenn man in der selben Lage wäre. Und es ist das Prinzip der Egalität, oder – was dasselbe ist – der Gleichheit oder des selben Grundes, das besagt, dass man gewähren sollte, was immer man in einer ähnlichen Lage wünschen würde, ohne sich – entgegen der Vernunft – darauf zu berufen, privilegiert zu sein oder in der Lage zu sein, seinen Willen als Grund anzuführen« (Leibniz 21988, 55f.). Riley versteht diese Passagen nur im Sinn einer Berufung auf eine »garden variety of experience« (Riley 1996, 189). Emily Grosholz hingegen sieht in ihnen die kombinierte Anwendung eines Verfahrens der Imagination und des metaphysischen Prinzips der Kontinuität: »Leibniz explicitly invokes the principle of continuity, [and as he] sets up his continuum, he insists on the primacy of imagination that permits one to put oneself in another’s position, to transcend one’s own point de vue« (Grosholz 1993, 76). Jedoch übersehen beide Interpreten, dass Vernunft für Leibniz’ Theorie der Gerechtigkeit nicht nur in Form eines hypothetisch-deduktiven Verfahrens, sondern auch in Form der reflexiven Analyse der Strukturen unseres Denkens eine Rolle spielt. Leibniz hebt im bereits erwähnten Schreiben an Sophie Charlotte ausdrücklich hervor, dass Reflexion über Imagination hinausgeht: Die Vorstellungskraft (imagination ) umfasst nur die Ideen
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der äußeren Sinne und die Ideen des sens commun, nicht aber die Vernunftideen (Leibniz 1875–1890, VI, 500 f.). Er wendet aber auch nicht ein schon vorgegebenes metaphysisches Prinzip wie das Prinzip der Kontinuität an. Vielmehr nimmt er seine frühere Strategie der Anwendung von Sorites-Argumenten auf alltägliche Intuitionen zu gerechtem Verhalten an. Diese Strategie steht hinter dem folgenden Argument: »Durch graduelle Abstufungen geleitet wird man zustimmen, dass Menschen nicht nur keinen Schaden anrichten sollten, sondern dass sie auch verhindern sollten, dass Übel geschieht, und dass sie es sogar beheben sollten, wenn es geschehen ist; zumindest insofern sie es ohne Unbequemlichkeit können (und ich untersuche jetzt nicht wie weit diese Unbequemlichkeit gehen mag.)« Leibniz’ Argument ist also: Die an den zwischen den Extremen liegenden Fällen deutlich gemachte Struktur unseres eingeborenen Begriffs von Gerechtigkeit impliziert, dass es eine nur graduell abgestufte Kontinuität zwischen den Extremen gibt. Dass deshalb ein nur gradueller Unterschied zwischen der Vorschrift, niemandem Unrecht zu tun, und der Vorschrift, unter geeigneten Umständen Hilfe zu leisten, besteht, wird auf diese Weise als eine »eingeborene« und deshalb »ewige« Vernunftwahrheit aufgefasst: »[G]erecht ist, was in gleichem Maße der Weisheit und der Güte gemäß ist. Die Güte geht darauf aus, das größtmögliche Gut zu erreichen; um dies jedoch zu erkennen, bedarf sie der Weisheit, die nichts andres als die Erkenntnis des Guten ist, so wie die Güte nichts andres ist als die Neigung, allen Gutes zu erweisen und das Böse zu verhindern, wofern es nicht für ein größeres Gut oder zur Verhinderung eines größeren Übels notwendig ist.« Die These von der Kontinuität wird damit von Leibniz weder als eine Verallgemeinerung von Erfahrungen noch als ein hypothetisches Prinzip eingeführt, sondern als notwendige Voraussetzung unseres alltäglichen Verständnisses moralischen Verhaltens gekennzeichnet. Auf diese Weise verbindet die Theorie des reflexiven Wissens eine naturrechtliche Auffassung von Gerechtigkeit mit einer platonischen. Dass es sich dabei um eine »notion commune« handelt, weist darauf hin, dass der Begriff der Gerechtigkeit allen Menschen implizit gemeinsam ist, und durch Reflexion nur explizit gemacht werden muss. Die Methode der Reflexion ergänzt die Ableitung einer Theorie der Gerechtigkeit aus metaphysischen Axiomen durch eine Beschreibung der Implikationen unseres alltäglichen Verständnisses moralischen Verhaltens. Der Begriff der Gerechtigkeit ist deshalb nicht in einem Bereich abstrakter Gegenstände, sondern im Verstand vernünftiger Wesen, und bildet in diesem Sinn einen Teil der natürlichen Ordnung.
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ZWEI GESICHTER DES WOHLFAHRTSSTAATS SOZIALE GERECHTIGKEIT BEI FICHTE UND KANT
Ulrich Thiele
Der moderne Sozialstaat ist – wer wollte das bestreiten – in keiner guten Verfassung. Im Bereich des Arbeitsmarktes, der Sozialhilfe, der Rentenversicherung, aber auch des Gesundheitssystems zeichnen sich immer neue Dilemmata ab, wobei politische Gegenmaßnahmen eher einen aktionistischen Eindruck vermitteln als den einer systematischen ›Reform nach Prinzipien‹. Zahlreiche ›Experten‹ plädieren für einen mehr oder minder radikalen Entstaatlichungsprozess, in dessen Verlauf immer weitere Materien aus den ›Leistungskatalogen‹ der Sozialversicherungssysteme herausgenommen werden sollten. Jene vermeintliche Notwendigkeit zur Reprivatisierung der Vorsorge gegen ›Lebensrisiken‹ wird teils mit demographischen Argumenten begründet, teils wird ein kausaler Zusammenhang mit Imperativen einer globalisierten Ökonomie hergestellt. Nur selten freilich räumt man ein, dass die meisten europäischen Sozialversicherungssysteme einen grundsätzlichen Konstruktionsmangel aufweisen: Sie sind fatalerweise zugeschnitten auf relativ stabile ökonomische Wachstumsprozesse und entsprechend niedrige Arbeitslosenquoten. Zusätzlich zu rein wirtschaftlichen, speziell den Staatshaushalt betreffenden Argumenten, wird in der politischen Kontroverse ein prinzipieller Einwand gegen den Sozialstaat erhoben. Der ›überversorgende‹ Sozialstaat untergrabe, so das Argument, die Autonomie des Individuums. Der ›soziale Leistungsstaat‹ drücke die Bürger auf den Status bloßer Leistungsempfänger herab, er fördere einen »passiven Versorgungskonsumismus« und schwäche damit den »Anreiz zu aktiver Eigenverantwortung«. ›Eigeninitiative‹ und ›Eigenvorsorge‹ sind demgegenüber die Losungen, mit denen ein erheblicher Abbau der Sozialleistungen legitimiert werden soll.1 Problematisch ist an solchen und ähnlichen Aussagen, dass die ›Feststellung‹ entsprechender paternalistischer Mentalitätslagen niemals aus der Binnenperspektive Betroffener, sondern stets aus der Außenperspektive Nichtbetroffener erfolgt. Gar nicht erst in Rechnung gestellt wird bei derarti1. Zu den verschiedenen Varianten marktfundamentalistischer Kritik am Sozialstaatsmodell vgl. Kersting (1997, 10, 180 ff., 207 ff., 215ff.).
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gen Pauschalurteilen, dass sie projektiver Natur sein könnten (siehe dazu Neumann 1995, 16). Aber auch die verfassungsrechtliche Problemdimension wird noch kaum diskutiert. Nur selten wird die Frage aufgeworfen, ob die drastische Zunahme sozialer Ungleichheit, die aus einer forcierten Deregulierungspolitik resultieren würde, mit den sozialstaatlichen Vorgaben z. B. des Grundgesetzes2 überhaupt vereinbar wäre. Zwar erklärt das Grundgesetz die Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips zur Domäne des Gesetzgebers und das Bundesverfassungsgericht hat wohlweislich dem Parlament einen weiten Gestaltungsspielraum3 und den »Vorbehalt des Möglichen« 4 eingeräumt. Doch dies darf sicher nicht, wie ErnstWolfgang Böckenförde (1981, 14) betont, im Sinne einer Blankovollmacht zur »Untätigkeit oder […] grobe[n] Vernachlässigung« gedeutet werden. Seit seinen frühesten Urteilen hatte das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip zur Kernsubstanz des Grundgesetztes gerechnet und war davon ausgegangen, dass sowohl die privaten Abwehrrechte als auch die demokratischen Partizipationsrechte sozialstaatlicher Garantien bedürfen, um effektiv wahrgenommen werden zu können. Indem man die soziale Komponente des demokratischen Rechtsstaates akzentuierte, rekurrierte man zugleich auf die verfassungsrechtliche Diskussion in Weimar. Nicht zuletzt die Carl Schmittsche Doktrin von den Dichotomien zwischen liberalen, demokratischen und sozialen Grundrechten hatte damals eine verfassungsgeschichtlich fatale Rolle gespielt.5 Dessen eingedenk, wollte man an der Einsicht festhalten, dass sich individuelle Abwehrrechte, demokratische Partizipationsrechte und soziale Grundrechte gegenseitig bedingen. Besonders in einer modernen von Kapitalbewegungen dominierten Gesellschaft bedeutet dies, dass auf keine der drei Grundrechtsarten verzichtet werden kann, ohne dass die effektive Gewährleistung der beiden anderen gefährdet würde.
2. Gemäß der Haupttendenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leitet sich das Sozialstaatsprinzip aus Art. 1. Abs.1 GG (Menschenwürdegrundsatz) in Verbindung mit Art.20 Abs.1 (Sozialstaatsprinzip) her. Außerdem werden Art.2. Abs.1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) in Rechnung gestellt. 3. Vgl. BVerfGE 59, 231 (263), BVerGE 82, 60 (80), BVerfGE 22, 180 (204). 4. BVerfGE 43, 291 (314), BVerfGE 82, 60 (80), BVerfGE 84, 90 (125). 5. Vgl. dazu Thiele (2003, 298ff.). Carl Schmitts Antinomienlehre wurde noch in den 50er Jahren von Ernst Forsthoff vertreten; vgl. Forsthoff (1978, 189, 195; 1971, 73, 78).
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Zwar ist nicht zu bestreiten, dass zwischen liberalen, demokratischen und sozialen Grundrechten keine prästabilierte Harmonie herrscht. Auch ist einzuräumen, dass sie je für sich einen konflikträchtigen Eigensinn besitzen mögen. Doch in ein antagonistisches Verhältnis zueinander können die drei Grundrechtsarten nur in einem Staatswesen treten, dessen Verfassung von vornherein erhebliche Strukturdefekte aufweist. Ein Staat ließe sich demnach nicht bereits deswegen unter Totalitarismusverdacht stellen, weil er, um soziale Grundrechte gewährleisten zu können, in erheblichem Ausmaß umverteilende Eingriffe in die Privateigentumsordnung vornähme. So wird wohl niemand ernsthaft die Schweizer Eidgenossenschaft als kommunistische Diktatur hinstellen. Ob ein Staat nämlich als totalitär zu bezeichnen ist, hängt von ganz anderen Faktoren ab. Denn auch ein Staat mit einer extrem liberalistischen Wirtschaftsordnung muss nicht notwendigerweise und für alle Zeiten auch ein liberaler Staat bleiben. Ökonomischer und politischer Liberalismus sind nämlich keineswegs, wie Marktfundamentalisten unterstellen, zwei Seiten derselben Medaille. Ich möchte diese Annahmen in der Auseinandersetzung mit einem Autor zu rechtfertigen suchen, der dafür denkbar ungeeignet scheint. Denn schließlich wird er seit Marianne Weber zu den Ahnherren des ›autoritären Sozialismus‹ gerechnet. Johann Gottlieb Fichtes 1800 erschienene Schrift über den »Geschloßnen Handelsstaat« entwirft bekanntlich eine extreme wohlfahrtsstaatliche ›Utopie‹, die zweifellos mit den freiheitsrechtlichen Intentionen der Aufklärung weitestgehend gebrochen hat.6 Von allen wirtschafts- und sozialpolitischen Restriktionen, die Fichte empfiehlt, ist wohl die rigide Beschränkung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs bis heute eine der anstößigsten Forderungen geblieben: »Zu reisen hat aus einem geschlossenen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höhere Künstler. Der müßigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen« (vgl. Fichte 1800, 162). 6. So hatte bereits Karl Vorländer die These formuliert, dass Fichtes wirtschaftspolitisches Modell streng genommen keine Utopie darstellt, sondern »wenigstens in seiner äußeren Organisation dem Polizeistaat des achtzehnten Jahrhunderts zum Verwechseln ähnlich sieht«; vgl. Vorländer (1920, 60). Zur Orientierung des Fichteschen Merkantilismus an der mittelalterlichen Zunftordnung vgl. Weber (1925, 66ff.); Brunner (1935, 47f.). Die Differenzen werden betont in: Hirsch (1981, 217f.); zur Literatur über Fichtes ›Sozialismus‹ vgl. Verweyen (1975, 120 f., Fn. 78.).
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Strittig ist bis auf den heutigen Tag, ob der totalitäre Charakter der Schrift über den Handelsstaat bereits der vier Jahre zuvor verfassten Naturrechtslehre eigen ist oder ob er erst aus einem fehlerhaften Versuch der ›Übersetzung‹ naturrechtlicher Prinzipien in Grundsätze der Politik resultierte. Der erklärte Anspruch der Rechtslehre von 1796 war jedenfalls noch ein ausgesprochen freiheitsrechtlicher (siehe dazu Schottky 1963, 176 ff .): »Der Inbegriff aller Rechte ist die Persönlichkeit; und es ist die erste und höchste Pflicht des Staats, diese an seinen Bürgern zu schützen« (Fichte 1796, §10, 318).7 Als das Naturrecht entstand, ließ sich noch längst nicht absehen, wie die von Kant geplante Rechtslehre aussehen würde (siehe dazu Bartuschat 1992, 173 f.). Fichte war sich dennoch sicher, dass Kants Schrift mit seiner eigenen Lehre im Wesentlichen übereinstimme, und diese Erwartung sah er durch die »höchstwichtige Schrift Kants: Zum ewigen Frieden« im Großen und Ganzen bestätigt (Fichte 1796, 12). Irritiert zeigt sich Fichte allerdings darüber, dass die Friedensschrift behauptet, es sei »zur Sicherheit des Rechts im Staate notwendig […], die legislative und exekutive Gewalt zu trennen« (ebd., 14). Gewaltenteilung sei aber eine ganz und gar abwegige Forderung. Denn nach der »Natur der Sache« betrachtet, sei es doch unbestreitbar, dass nur derjenige, »der das Ganze, und alle Bedürfnisse desselben, immerfort« übersehe als der »natürliche Interpret des gemeinsamen Willens« in Frage komme (ebd., 16). Außerdem lasse sich die legislative Funktion nur dem Namen nach von der Exekutive unterscheiden. In der Sache sei die Gesetzgebung nämlich »selbst ein Zweig der Ausübung«, denn durch sie solle schließlich das »Recht überhaupt zur Ausübung gebracht werden«. Diese erstaunlich schwache Argumentation soll das Fazit tragen, dass die »legislative Gewalt […] und die exekutive, gar nicht zu trennen sind, sondern vielmehr notwendig vereinigt bleiben müssen.«8 Weil nach Fichte die Gesetzgebung das naturrechtliche »Rechtsgesetz [bloß] deute[t] und ausleg[t]« und in 7. Auch in § 17 wird betont, dass den Leistungen des Staates lediglich begrenzte Leistungen der Bürger zu entsprechen haben, damit der letztere nicht »seinem ganzen Sein und Wesen nach« mit dem ersten »in Eins zusammen[…]schmilzt […]. Der beschützende Körper besteht sonach nur aus Teilen dessen, was dem Einzelnen angehört. Alle sind in ihm begriffen, aber nur zum Teil«. Demnach würde das Individuum »zufolge des Vereinigungsvertrages« gerade kein »Teil eines organisierten Ganzen«; vgl. ebd., § 17, 204 f. 8. Die »legislative Gewalt […] und die exekutive, [seien] gar nicht zu trennen […], sondern [müssten] vielmehr notwendig vereinigt bleiben«; vgl. Fichte (1796, 16).
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Hinblick auf »alle Bedürfnisse« des gesellschaftlichen »Ganzen« konkretisiert, könne der ›natürliche Gesetzgeber‹ niemand anderes sein als der »Verwalter der exekutiven Macht«. Weder das Volk selbst noch eine (im Verhältnis zu den anderen Staatsfunktionen) eigenständige Repräsentativkörperschaft des Volkes könne hierzu in der Lage sein. Das Volk als »Menge« sei nämlich zur Gesetzgebung ebensowenig qualifiziert, wie das Volk im Status repräsentativer Vereinigung: in beiden Fällen »dürfte man das Resultat des wahren, gemeinsamen Willens sehr unrein bekommen« (ebd., 15 f.). Fürs Erste lässt sich festhalten: Fichte konnte 1796 nicht umhin, in der Frage der Gewaltenteilung eine erhebliche Divergenz zwischen seiner Position und der Kantischen zu registrieren. Aber er ist dennoch zuversichtlich, dass sich dies mit der Publikation der Rechtslehre ändern werde. Denn »offenbar« sei es nicht die Absicht der Friedensschrift gewesen, Fragen der Staatsorganisation erschöpfend zu behandeln (ebd., 14). Wir wissen heute, dass diese Hoffnung Fichtes gründlich enttäuscht wurde. Es ist erstaunlich, wie gering Fichte die Gefahr einschätzte, dass eine zugleich gesetzgebende Regierung die Freiheitsrechte missachten könnte. Sollte die Regierung dennoch einmal naturrechtswidrige Gesetze beschlossen haben, so wird sie laut Fichte schon durch die daraus resultierenden gesellschaftlichen »Unordnungen genötigt, gerechte, von jedem Verständigen zu billigende, Gesetze zu geben« (ebd., § 16, 161). Während Kant für die rechtsstaatliche Organisation der öffentlichen Gewalt sowohl funktionale als auch organisatorische Gewaltenteilung forderte 9, wobei die Souveränität dem Volk vorbehalten sein sollte, hält Fichte derartige Trennungen für künstlich und dem Endzweck des Staates zuwiderlaufend. Jedenfalls in Hinblick auf die einfache Gesetzgebung bezieht Fichte definitiv nicht die Position eines Demokraten. Dies wird besonders dort deutlich, wo er die Doppelrolle des Bürgers als Souverän und Untertan in Hinblick auf dessen Verhältnis zum Gesetzesrecht erläutert. 9. Vgl. Kant (1797, § 48, aber auch §§ 45, 49): »Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae), d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung; aber zweitens auch einander untergeordnet (subordinatae), so daß eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, usurpiren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens durch Vereinigung beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend.«
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Bekanntlich bezeichneten Rousseau und Kant den Bürger in der Rolle des Gesetzgebers als Souverän und sie verbanden dessen Untertanenstatus mit der Rolle des verpflichteten Gesetzesadressaten (siehe dazu Rousseau 1992, II.6, II.7, III.1; Kant 1797, §§45ff., 51). Zwischen Souverän und Untertan sollte eine »ununterbrochene demokratische Legitimationskette« (Böckenförde 1992, 299) gewährleisten, dass alle staatlichen Zwangsakte letztlich dem selbstgesetzgebenden Willen der Bürger zugerechnet werden können. Fichtes Version ist dagegen ein Musterbeispiel obrigkeitsstaatlichen Denkens. Bei ihm reduziert sich nämlich die Autonomie der imperantes auf die Erfüllung der Rechtspflicht zu gesetzeskonformem Verhalten, während der Bürger in den Status des subditus allein durch gesetzwidriges Handeln eintrete.10 In beiden Fällen jedoch entspringen die Rechtsnormen, denen ich als Souverän gehorche und die ich als Untertan übertrete, einem fremden Willen. Während Rousseau und Kant Souveränität geradezu mit legislativer Autonomie übersetzten, die ›nach der Vernunft‹ allein den Bürgern zustehe, den eigentlichen Staatsorganen aber verwehrt sein müsse, nennt Fichte schon denjenigen souverän, der oktroyierten Gesetzen gehorcht. Dass sich Fichte dennoch als Anhänger Rousseaus versteht, lässt sich m. E. dadurch erklären, dass er dessen Kritik an den antiken Demokratien gründlich missverstanden hatte. Rousseau und nach ihm Kant verwarfen die ›reine Demokratie‹ nur deswegen, weil in ihr das Volk zugleich gesetzgebende, regierende und richtende Funktionen besaß, und nicht deswegen, weil es der gesetzgebende Souverän war. Nur als »Regierungsform« wird die Demokratie abgelehnt, als »Staatsform« genügt allein sie dem ›Vernunftprinzip des Rechts‹. Fichtes (1796, § 16, 163) Entwurf einer vordemokratischen »Regierungsverfassung« ist zwar im Vergleich mit Rousseau und Kant zweifellos als unzeitgemäß zu werten; er ist aber, wenn man Fichtes Version des Gesellschaftsvertrages beachtet, alles andere als inkonsistent. Da die Bürger im Zustand des öffentlichen Rechtes keine Gesetzgebungsrechte besitzen, die Herrschaftsausübung aber trotzdem an freiheitsrechtlichen Legitimitätskriterien gebunden sein soll, muss der Gesellschaftsvertrag, der dies möglich macht, als Doppelvertrag konzipiert 10. »Wenn ich nämlich meine Bürgerpflichten ununterbrochen, und ohne Ausnahme erfülle, wozu allerdings mitgehört, daß ich auch gegen Einzelne, nicht über die, durch das Gesetz mir verstattete Grenze meiner Freiheit schreite, so bin ich, was meinen öffentlichen Charakter betrifft, nur Teilhaber an der Souveränität, und was meinen Privatcharakter betrifft, nur freies Individuum, nie aber Untertan. Das letztere werde ich nur dadurch, daß ich meine Pflichten nicht erfülle«; vgl. Fichte (1796, § 17, 206).
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sein. Der so genannte »Staatsbürgervertrag« muss einen »mit den Verwaltern der exekutiven Gewalt zu schließenden Übertragungskontrakt« einschließen (ebd., § 21, 288). Denn nur dieser spezielle ›Herrschaftsvertrag‹ könne einander korrespondierende Rechtspflichten der Untertanen und der Regierung kodifizieren. Rousseau und Kant dagegen hatten die Lehre vom pactum subiectionis als vormodernes Legitimationsmodell geächtet, das für Despotien aber nicht für Republiken passe. Fichte muss auf das materialrechtliche Konstrukt des Herrschaftsvertrages zurückgreifen, um den gewaltenverschmelzenden Obrigkeitsstaat mit ursprünglichen Freiheitsrechten überhaupt zusammendenken zu können. Eine Möglichkeit, diese ›Rückständigkeit‹ zu erklären, ergibt sich, wenn man der Vermutung nachgeht, Fichte habe das Prinzip sozialer Gerechtigkeit so stark gemacht, dass die diesem Prinzip verpflichtete Staatsorganisation zwangsläufig despotische Züge annehmen muss. Folgt man dieser gebräuchlichen These, so muss man die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages ins Zentrum der Interpretation stellen. Besondere Beachtung verdienen dabei die von Fichte genannten Prinzipien distributiver Gerechtigkeit. Denn erst diese verleihen dem Eigentumsvertrag einen umverteilungsdynamischen Effekt.11 Von speziellem Interesse dürfte dabei die Frage sein, welcher Art die subjektiven Rechte sind, die jenen Prinzipen entsprechen, und inwiefern man sinnvollerweise von »subjektiven öffentlichen Rechten« bzw. echten Grundrechten sprechen kann.12 Fichte äußert sich in der Frage, ob sich aus dem so genannten Eigentumsvertrag konkrete und unmittelbare Rechtsansprüche des Einzelnen gegenüber dem Staat ergeben, keineswegs eindeutig. Einerseits sollen lediglich Rechte der Einzelpersonen gegeneinander, nicht aber dem Staat gegenüber aus dem Eigentumsvertrag entspringen. Er sei die Grundlage »dessen, was man Zivilgesetzgebung, bürgerliches Recht usw. nennt« (Fichte 1796, § 18, 210). Aus diesem Blickwinkel hätte der Eigentumsvertrag 11. Das oberste Prinzip lautet: »Jeder besitzt sein Bürgereigentum, nur insofern und auf die Bedingung, daß alle Staatsbürger von dem ihrigen leben können; und es hört auf, inwiefern sie nicht leben können, und wird das Eigentum jener; es versteht sich immer, nach dem bestimmenden Urteil der Staatsgewalt« (vgl. Fichte 1796, § 18, 213; Herv. v. Verf., U. T.). 12. Die klassische typologische Unterscheidung zwischen Grundrechten des status negativus, des status positivus und des status activus findet sich in Jellinek (1905, 87, 94 ff.); zur historischen Entwicklung der Grundrechte vgl. auch Jellinek (1914, 419 ff.).
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keinerlei verfassungsrechtliche Implikationen und insbesondere keine Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt zur Folge, sondern lediglich Konsequenzen für das Privatrecht.13 Andererseits erwachsen dem Einzelnen aus dem Eigentumsvertrag Rechtsansprüche, die durchaus grundsrechtsanalog wirken können. Fichte bezeichnet nämlich das Prinzip »Jedermann soll von seiner Arbeit leben können« immer13. Nach Fichte enthält nämlich das auch im Eigentumsvertrag wirksame Rechtsprinzip – das »Gleichgewicht des Rechts« (Fichte 1796, § 12, 120) – ein überpositives Notrecht, das privatrechtlichen Verpflichtungen übergeordnet ist. Eine von wem immer verursachte Verletzung dieses naturrechtlichen Wechselseitigkeitsprinzips hätte immerhin die Außerkraftsetzung der entsprechenden positiven Vertragspflichten auf Seiten des Geschädigten zur Folge. Im äußersten Fall wäre derjenige, dessen Leben in Gefahr geriete, weil er weder über hinreichendes Sacheigentum verfügte, noch von seiner Arbeit leben könnte, von allen privatrechtlichen Verpflichtungen entbunden. Denn er wäre, so Fichte, in seinem »absolute[n] unveräußerliche[n] Eigentum aller Menschen«, d. h. in seinem Naturrecht, »leben zu können«, verletzt (ebd., § 18, 212). Die Parallele zur Jakobinerverfassung vom 24.6.1973, die in Art 2 der der Acte constitutionnel vorangestellten Déclaration des droits de l’homme et du citoyen das »Eigentum« nach »Gleichheit, Freiheit, Sicherheit« erst als das vierte »natürliche und unveräußerliche Recht« des Menschen nennt, ist evident; vgl. Franz (1964, 373). »Alles Eigentumsrecht gründet sich auf den Vertrag aller mit allen, der so lautet: wir alle behalten dies auf die Bedingung, daß wir dir das Deinige lassen. Sobald also jemand von seiner Arbeit nicht leben kann, ist ihm das, was schlechthin das Seinige ist, nicht gelassen, der Vertrag ist also in Absicht auf ihn völlig aufgehoben, und er ist von diesem Augenblicke an nicht mehr rechtlich verbunden, irgendeines Menschen Eigentum anzuerkennen« (vgl. Fichte 1796, § 18, 213). Eine Definition des Urrechts hatte gelautet, es sei das »absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein« (vgl. ebd., § 10, 113). Interpretiert man dies – wozu Fichte neigt – so, dass eine beliebige Person von ihrer Arbeit leben können muss, dann werden für den in seinem Naturrecht Lädierten alle anderen aus dem Eigentumsvertrag resultierenden Rechtspflichten nichtig. Ist – so das Argument – die allerelementarste pragmatische Bedingung der äußeren Freiheit einer Person durch den praktischen Gebrauch, den andere Privatpersonen von ihrem Urrecht machen, nicht erfüllt, dann tritt der in Lebensnot geratene in den Naturzustand zurück. In diesem sekundären Naturzustand könne das Prinzip der Vertragstreue nicht mehr gelten. Für die geschädigte Person sei jede eigentumsvertragliche Verpflichtung, fremdes Privateigentum zu respektieren, suspendiert. Die marktbedingte Gefährdung des eigenen Lebens scheint demnach auf den ersten Blick lediglich Rechtspflichten gegenüber anderen Privatpersonen aufzuheben. Erlaubt wäre allenfalls ein vorpolitischer Gebrauch des Urrechts im Sinne eines natürlichen Notrechtes; es beträfe nicht den Staat und die Rechtsstellung der benachteiligten Person ihm gegenüber. Demnach handelte es sich beim ›Recht auf Arbeit‹ wohl kaum um ein klassisches staatsgerichtetes Grundrecht.
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hin als »Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung«. Nach heutiger Terminologie14 könnte man dies zwar im Sinne eines allgemeinen Verfassungsgrundsatzes, z. B. einer Staatszielbestimmung, verstehen. Aber dies ist nicht Fichtes Position. Gemeint ist vielmehr ein Verfassungsbefehl, nämlich ein konkreter Gesetzgebungsauftrag (Wu 1997, 119). Denn weiter heißt es bei Fichte, für die Realisierung des Rechtes auf Arbeit müsse »der Staat […] Anstalten treffen« (ebd., § 18, 212). Doch Fichte geht noch einen Schritt weiter. Der genannte Rechtsgrundsatz soll außerdem ein subjektives öffentliches Recht begründen: Das Recht des Untertans, von seiner Arbeit leben zu können, wird nun im Sinne eines grundrechtlichen Leistungsanspruchs gewendet, aus dem sich im Bedarfsfall ein einklagbares »absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung« herleiten soll.15 Der Staat als der Adressat dieses »Zwangsrechts auf Unterstützung«16 ist gehalten, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, mittels derer die durch reale Ungleichverteilungen gestörte eigentumsvertragliche Balance wiederhergestellt werden kann.17 Der Eigentumsvertrag verpflichtet den Staat demnach auch, die 14. Die heutige verfassungsrechtliche Terminologie kennt Grundrechte als 1. Verfassungsgrundsätze (Leitsätze, Programmsätze, Staatsziele), 2. als Verfassungsbefehle (Gesetzgebungsaufträge, Kreationsnormen, Einrichtungsgarantien, institutionelle Garantien im öfffentlichen Recht, Institutsgarantien im Privatrecht und 3. als Gewährleistungen im Sinne von subjektiven Rechten. 15. »Die exekutive Macht ist darüber so gut als über alle anderen Zweige der Staatsverwaltung verantwortlich, und der Arme, es versteht sich, derjenige der den Bürgervertrag mit geschlossen hat, hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung«; vgl. Fichte (1796, § 18, 213). 16. Die Pflicht, die Unverschuldetheit der Notlage nachzuweisen, obliegt nach Fichte dem Geschädigten. Da aber auch im Falle selbstverschuldeter Not der Rechtsanspruch auf Kompensationsleistungen von Seiten des Staates nicht erlöschen könne, sei letzterer dazu verpflichtet das »Recht der Aufsicht, […] wie jeder sein Staatsbürgereigentum verwalte«, auszuüben, vgl. Fichte (1796, § 18, 214). 17. Allerspätestens in diesem Zusammenhang hätte Fichte die Unverzichtbarkeit einer besonderen Organisation der einfachen Gesetzgebung, die nach gesellschaftsvertraglichen (nicht: herrschaftsvertraglichen) Legitimitätskriterien notwendig demokratisch zu gestalten wäre, bemerken müssen; denn wer außer den Normadressaten sollte denn befugt sein, erstens den konkreten Grad an reeller Ungleichverteilung des Eigentums festzulegen, von dem an aktive Umverteilungspolitik geboten wäre, und zweitens zu bestimmen, bis zu welchem Grad an erreichter Eigentumsegalität diese Egalisierungspolitik erforderlich wäre?
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entsprechenden Umverteilungsmaßnahmen vorzunehmen: Mit Zwangsbeiträgen, die von den ökonomisch Begünstigten einzuziehen seien18, müsse eine staatliche »Unterstützungsanstalt« (ebd., § 18, 215) eingerichtet und finanziert werden, die individuelle Notlagen zu beseitigen habe.19 1796 zögert Fichte noch, neben dem »Zwangsrecht auf Unterstützung« auch das weitergehende »Recht, von seiner Arbeit leben zu können« als individuellen Leistungsanspruch zu werten.20 Ihm ist sehr wohl bewusst, dass ein ein18. »Von dem Augenblick an, da jemand Not leidet, gehört keinem derjenige Teil seines Eigentums mehr an, der als Beitrag erfordert wird, um einen aus der Not zu reißen, sondern er gehört rechtlich dem Notleidenden an. Es müßten für eine solche Repartition gleich im Bürgervertrage Anstalten getroffen werden«; vgl. Fichte (1796, § 18, 212). 19. Entscheidend ist aber bei alledem, dass die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages allenfalls grundrechtsanaloge Leistungsansprüche, nicht aber, oder jedenfalls nur in sehr eingeschränktem Sinne Partizipationrechte begründet. Fichtes Eigentumsvertrag hat demnach keinen originären Demokratiebezug. Es ist dennoch nicht ganz berechtigt, dem Staatsbürgervertrag jede Verbindung mit partizipatorischen Rechten abzusprechen. Dies wird ersichtlich, wenn man sich auf diejenige Komponente des Staatsbürgervertrages konzentriert, durch den eine konkrete Regierung autorisiert werden soll. Zur dreigliedrigen Struktur des Staatsbürgervertrages vgl. Manz (1992, 125 ff.). Wenigstens an einer Stelle sagt Fichte, dass sich der »Unterwerfungs-« (Fichte 1796, § 17, 206) bzw. »Übertragungsvertrag« (ebd., § 21, 288) im Idealfall in der Wahl einer ›Regierung‹ aktualisieren soll: »Jeder gibt zum schützenden Körper seinen Beitrag: er gibt seine Stimme zur Ernennung der Magistratspersonen« (ebd., § 17, 205). Zu beachten ist hier jedoch, dass Fichte den Begriff der Regierung nicht im Sinne strikter Gewaltenteilung auf Exekutivfunktionen beschränkt wissen will. Auch eine gewählte Regierung muss dann zur Despotie tendieren, wenn sie sowohl frei ist von jeder Normierung durch eine unabhängige gesetzgebende Körperschaft oder Versammlung als auch verschont bleibt von jeder Kontrolle seitens einer unabhängigen richterlichen Gewalt. Die Wahl einer gewaltenverschmelzenden Regierung hat nichts mit demokratischer Kontrolle der Staatsgewalt gemein; sie kommt vielmehr einer Pauschalentäußerung von Souveränitätsrechten gleich. Daher wäre nichts verfehlter als in Fichtes Naturrecht eine auch nur im weitesten Sinne demokratische Konzeption sozialer Gerechtigkeit hineinzudeuten. Wenn man überhaupt von einer systematischen Beziehung zwischen ›Grundrechten‹ in Fichtes Naturrechtslehre sprechen kann, dann jedenfalls in der Art, dass liberale Abwehrrechte und demokratische Partizipationsrechte im Vergleich mit den sozialen Grundrechten als nachrangig gewertet werden. 20. Die Jakobinerverfassung ließ diese Alternative wohlweislich unentschieden: »Art.21. Les secours publics sont une dette sacrée. La société doit la subsistance aux citoyen malheureux, soit en leur procurant du travail soit en assurant les moyens d’exister à ceux, qui sont hors d’état de travallier.« Günther Franz übersetzt: »Die öffentliche Unterstützung ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern
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klagbares Grundrecht auf Arbeit für den Staat sehr weitreichende wirtschaftspolitische Planungserfordernisse zur Folge hätte. Und auch die etwaigen freiheitsrechtswidrigen Nebeneffekte eines solchen Grundrechtes hatte Fichte 1796 immerhin noch bedacht: »In einem Volke von Nackenden wäre das Recht, das Schneiderhandwerk zu treiben kein Recht; oder soll es ein Recht sein, so muß das Volk aufhören, nackend zu gehen. Wir gestehen dir das Recht zu, solche Arbeiten zu verfertigen, heißt zugleich: wir machen uns verbindlich, sie dir abzukaufen« (ebd., § 18, 212). In der vier Jahre später erschienenen Schrift über den Handelsstaat finden sich derartige Bedenklichkeiten nicht mehr. Dem Ideal der ›zufallslosen‹ Distribution von Arbeiten durch den Staat entspricht nun das politische Monopol auf die Distribution von Gütern (Fichte 1800, 413) und Eigentum. So ist jetzt von einem »ausschließenden Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit« die Rede (ebd., 106). Auch heißt es: Alle »müssen ohngefähr gleich angenehm leben können« oder das Eigentum müsse »unter alle gleich verteilt werde[n]« (vgl. Fichte 1800, 402 f.). Um all dies sicherstellen zu können – so heißt es schon den Unterhalt, indem sie entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert«; vgl. Franz (1964, 376 f.). ›Außerstande sein, zu arbeiten‹, kann auch bedeuten, dass die Marktnachfrage nach Arbeitskraft dauerhaft geringer ausfällt als das Angebot. In Fichtes Naturrecht von 1796 scheint dem Not leidenden Bürger lediglich ein individuell einklagbares Recht auf materielle Kompensationsleistungen des Staates, d. h. ein subjektives öffentliches Recht, zuerkannt zu sein. Denn immerhin besitze der Bürger als Untertan ein »absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung«. Als beklagbare Partei wird die »exekutive Macht« genannt. Diese aber kann als organisatorische Einheit von Legislative, Exektutive und Judikative weder eine kontinuierliche legislative Einwirkung der Bürger gestatten noch einen effektiven Rechtsschutz ihrer Privatautonomie gewährleisten. Komplementär zu dieser totalitären Machtallokation soll die souveräne Regierung ausschließlich dazu verpflichtet sein, den sozialökonomisch benachteiligten Untertanen distributiv das naturrechtlich Ihre zukommen zu lassen. »Die Staatsgewalt hat die Oberaufsicht über diesen Teil des Vertrages, sowie über alle Teile desselben; und Zwangsrecht, sowohl als Gewalt, jeden zur Erfüllung desselben zu nötigen«. Im Naturrecht von 1796 sind die autoritativen Implikationen freilich noch nicht vollständig absehbar, zumal sich Fichte nicht eindeutig auf einen, die Regierung konkret bindenden Kanon sozialer Grundrechte festlegt. So heißt es einerseits im Zusammenhang mit dem »Bedürfnis der Nahrung«: »Leben zu können, ist das absolute unveräußerliche Eigentum aller Menschen«. Andererseits wird in derselben Schrift der weitergehende Grundsatz aufgestellt: »Es ist der Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können« (Fichte 1796, § 18, 212 ff.; Herv. v. Verf., U. T.).
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1796 –, müsse die Staatsgewalt so organisiert sein, dass »alles Ordnung« sei, »und alles nach der Schnur« gehe. Vor allem müsse die Polizei »so ziemlich« wissen, »wo jeder Bürger zu jeder Stunde des Tags sei, und was er treibe« (Fichte 1796, § 21, 302). Was die freiheitsrechtlichen Kosten des von Fichte propagierten totalen Sozialstaats anbetrifft, so hat schon Karl Vorländer festgestellt, dass er »wenigstens in seiner äußeren Organisation dem Polizeistaat des 18. Jahrhunderts zum Verwechseln ähnlich sieht«.21 Trotz aller Kontinuität in der sozialpolitisch-utopischen Dimension von Fichtes Rechtslehre erscheint es mir dennoch verfehlt, die extrem advokative »Planstaatsutopie«22 von 1800 in einem engen Sinn aus der »innere[n] Logik des einmal eingeschlagenen Weges« (Braun 1991, 33; dazu Hammacher 1981, 127ff.) herzuleiten. Es sind nicht die sozialstaatlichen Implikationen des Naturrechts als solche, die Fichte gezwungen haben, für ein totalitäres Staatsmodell einzutreten. Entscheidend ist vielmehr, dass er Anhänger einer materialen und nicht einer prozeduralen Gerechtigkeitskonzeption war. Deswegen blieb seine Gesellschaftsvertragskonstruktion vermengt mit herrschaftsvertraglichen Komponenten, die einer vordemokratischen Legitimitätslehre zuzurechnen sind.23 Doch 21. Vorländer (1920, 60). Bei aller berechtigten Kritik, die Fichtes Modell von 1800 verdient, sollte man jedoch zweierlei berücksichtigen. Zum einen war sein kameralistisches Konzept der Wirtschafts- und Sozialpolitik lediglich radikaler als die im sonstigen Europa gängige Praxis. Zum anderen bezog es sich auf die preußische Agrargesellschaft, deren ständische Gliederung für den größten Teil der Bevölkerung, besonders für die besitzlosen Landarbeiter, Rechtlosigkeit und bitterste Armut zur Konsequenz hatte. Dies gilt besonders für die Zeit nach den drei schlesischen Kriegen. Man mag daher die Schrift über den Handelsstaat als Reversbild der Kantischen Konzeption einer Staatsreform nach Vernunftrechtsprinzipien verstehen. Beide implizierten die Überwindung der als naturrechtswidrig erkannten ständischen Gesellschaft. Doch die politischen Mittel, mit denen jene Transformation bewerkstelligt werden sollte, aber auch die Zielorientierung selbst hätten gegensätzlicher nicht sein können. 22. Zum Begriff der »Planstaatsutopie« vgl. Thiele (1996, 115ff., 232ff.). Zu Fichte als dem ›ersten Theoretiker der Planwirtschaft‹ vgl. Hirsch (1981). Zutreffend stellt auch Karl Hahn bei Fichte eine Tendenz zur »Reduktion des Politischen auf das Etatistisch-Gouvernementale« fest; vgl.Hahn (1979, 106). 23. Dass der Unterwerfungsvertrag zugleich ein Souveränitätsrechte transferierender Übertragungsvertrag ist, geht beispielsweise aus der folgenden Passage hervor: »Sobald der Übertragungskontrakt geschlossen, geschieht mit ihm zugleich die Unterwerfung, und es ist von nun an keine Gemeine mehr da; das Volk ist gar kein Volk, kein Ganzes, sondern ein bloßes Aggregat von Untertanen […].« Vgl. Fichte (1796, § 16, 176 f.).
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auch dies gibt nur den allgemeinen Erklärungshintergrund für die wohlfahrtsdespotischen Tendenzen der frühen Naturrechtslehre. Erst die Kombination des materialen Naturrechts mit einem vordemokratischen (letztlich auch vorrechtsstaatlichen)24 Verfassungsgrundriss25 kann die fatale Kontinuitätslinie in Fichtes Denken erklären. Dem Plädoyer zugunsten einer gewaltenakkumulierenden Organisation der öffentlichen Gewalt(en) korrespondierte eine eudämonistische Staatszwecklehre.26 Fichte vertritt demnach eine extreme ›Output-Theorie‹ der Legitimität politischer Herrschaft. Es soll nicht der empirische Wille der Bürger sein, der alles staatliche Handeln normiert, sondern es ist der wohlfahrtsstaatliche Zweck, dessen Erreichung den Einsatz advokativer Herrschaftstechniken rechtfertigt. Der entscheidende Defekt dieses Verfassungsgrundrisses ist nämlich sein Demokratiedefizit: Über den konkreten gesetzgeberischen Inhalt des abstrakten Prinzips des »Gleichgewichts des Rechts« (Fichte 1796, § 12, 120) bzw. des Sozialstaatsprinzips, hat nicht das Volk (oder seine gesetzgebenden Repräsentanten), sondern der souveräne ›Regent‹ zu entscheiden.27 Spiegelbildlich dazu sollen residuale Souveränitätsrechte des Volkes nur im verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand in Kraft treten, wobei die Institution des Ephorats als ›Anwalt des Volkes‹ gegenüber der Regierung auftreten soll. Wie immer man Fichtes Versuch beurteilen mag, das Demokratieprinzip indirekt durch Ephorat und »Staatsinterdikt« zur Geltung kommen zu lassen, so bleibt doch der folgende Mangel bestehen: Innerhalb des verfassungsrechtlichen Normalzustandes besteht der einzige politische Gebrauch der Freiheitsrechte in ihrer Pauschaldele24. Ebensowenig wie Fichtes Modell eine kompetenzbezogene Trennung von Legislative und Regierung vorsah, wurde eine institutionell selbständige Rechtssprechung gefordert. 25. Vgl. Manz (1992, 239): »Auf Grund des Fehlens eines umfassenden politischen Grundprinzips bei Fichte ist die Möglichkeit einer durchgängigen freiheitlichen Gestaltung des Gemeinwesens nicht gegeben; das Gemeinwesen (der Staat) erscheint als rationaler Apparat der Sicherung von Rechten. Die daraus folgenden ›politischen‹ Maßnahmen sind rational notwendig und der freiheitlichen Gestaltung innerhalb des Gemeinwesens entzogen.« 26. Der materialen Staatszwecklehre entspricht ein »technische[r] und strategische[r] Politikbegriff«; vgl. Hahn (1979, 107). 27. Dass die außerordentliche Verfassungsgesetzgebungskompetenz des Volkes im Zusammenhang mit dem Staatsinterdikt nicht als Demokratieäquivalent zu werten ist, ergibt sich bereits daraus, dass nach Fichte alle Verfassungsänderungen ebenso wie der ursprüngliche Verfassunggebungsakt einstimmig zu erfolgen haben; vgl. Fichte (1796, § 16, 184f.).
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gierung zugunsten des Staates. ›Demokratie‹ reduziert sich so auf ›generalisiertes Systemvertrauen‹ gegenüber einer ›fürsorgenden‹ Regierung. Nur weil sich Fichte auf dem Boden einer vordemokratischen Verfassungstheorie bewegt, wird die Garantie sozialer Rechte an einen speziellen »Unterwerfungsvertrag« geknüpft. Dieser soll den souveränen Regenten verpflichten, seinen Untertanen advokativ Glückseligkeit zuteil werden zu lassen, die ihm ihrerseits, solange dies geschieht, absoluten Rechtsgehorsam schuldig sind. Im Rahmen einer vordemokratischen Staatsrechtslehre musste das Umverteilungsprinzip distributiver Gerechtigkeit zu einer Lehre von den materialen Staatszwecken ausgebaut werden, die mit der freiheitsrechtlichen Grundorientierung der Kantischen Rechtslehre zwangsläufig in Konflikt geraten sollte. Eine starke Akzentuierung sozialer ›Grundrechte‹ als solche, auch wo sie nicht nur als Programmsätze, Staatsziele oder Gesetzgebungsaufträge, sondern als einklagbare Leistungsansprüche an den Staat ausformuliert werden, kann zur Erklärung von Fichtes Totalitarismus nicht genügen. Wir wissen nicht, ob Kants konsequente Zurückweisung aller eudämonistischen und damit funktionalistischen Legitimitätslehren auf Fichte gemünzt war. So sagt Kant etwa, eine ›väterliche‹ Regierung behandele die Untertanen »wie folgsame Schafe«, die von einem »gütigen und verständigen Herren geleitet, wohlgefüttert und kräftig beschützt« würden und die »über nichts, was ihrer Wohlfahrt abginge, zu klagen hätten«.28 Objektiv traf Kants Äußerung von 1798 die im frühen Naturrecht angelegten und in der Schrift über den »Geschloßnen Handelsstaat« voll entwickelten Tendenzen. Zwar scheint es, als würde Kants freiheitsrechtliche Argumentation, ähnlich wie heutige Deregulierungspropheten behaupten, den politischen und den ökonomischen Liberalismus als zwei Seiten derselben Medaille ansehen. Doch man sollte beachten, dass er im Grunde gar nicht gegen das Wohlfahrtsprinzip als solches spricht, sondern lediglich gegen seine vordemokratische Variante. Für Kant ist es nämlich ganz selbstverständlich, dass der Staat berechtigt und auch verpflichtet ist, das Volk mit »Abgaben zu seiner eigenen Erhaltung zu belasten«. Deutlich wird auch gesagt, dass der Staat unbedingt verpflichtet ist, diejenigen zu erhalten, »die es selbst nicht vermögen«. Dieser kategorischen Rechtspflicht könne allein dadurch Genüge getan werden, dass der Steuergesetzgeber »die Vermögenden« nötigt, »die Mittel zur Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbei zu 28. Kant (1798, 87, Anm.**).
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schaffen.« Betont wird auch, dass vom Staat einzurichtende »wohlthätige Anstalt[en] für Arme, Invalide und Kranke«29 nicht auf »freiwillige Beiträge« oder »wohltätige Stiftungen« angewiesen sein dürfen. Die erforderlichen Mittel seien vielmehr »zwangsmäßig, als Staatslasten« zu beschaffen. Außerdem habe die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme »durch laufende Beiträge« zu erfolgen, »so daß jedes Zeitalter die seinigen ernährt«. Schließlich wird gesagt, dass ein Staat, der diese elementaren Sozialstaatsprinzipien verletzte, seine Legitimationsgrundlage, den aus dem Pouvoir constituant des Volkes hervorgehenden Gesellschaftsvertrag, aufheben würde: »Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten« (Kant 1797, 326). Die Verpflichtung des Staates zur dauernden Erhaltung der Bedürftigen ist demnach die stellvertretende Ausübung einer Selbstverpflichtung des Volkes zur Erhaltung seiner Mitglieder. Insofern im Naturzustand, in dem jeder nur so viel Recht wie Macht besäße, allein die Stärksten überlebten, überträgt die »Gesellschaft« in einem ursprünglichen Vertrag dem Staat das Recht, durch allgemeinen Rechtszwang die geeigneten Mittel zum Zweck der kollektiven Selbsterhaltung zu bestimmen und zu beschaffen: »Dem Oberbefehlshaber steht indirect, d. i. als Übernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten« (ebd., 325 f.). Worauf Kant im Kontrast zu wohlfahrtsdespotischen Modellen à la Fichte besteht, ist, dass in einer vernunftgemäßen Republik über den konkreten Inhalt wohlfahrtsstaatlicher Politik, d. h. vor allem über die erforderlichen Eingriffe in das Recht auf Privateigentum, ausschließlich das gesetzgebende Volk und nicht sein wohlmeinender ›Regent‹ zu entscheiden hätte. Denn das ursprüngliche Recht der Bürger auf Selbstgesetzgebung lässt sich nicht gegen das ›Linsengericht‹ advokativ veranstalteter Wohlfahrt eintauschen. Bezogen auf unser aktuelles Problem – die ›Krise des Sozialstaates‹ und die dramatische Verschuldung des Bundes, der Länder und der Kommunen – können wir immerhin einige Anregungen aus Kants Argumentation entnehmen: Eine Reform der Sozialversichungssysteme30 darf aus vernunftrechtlichen, aber 29. Kant (1797, 367). 30. Wegen des Verfassungsrangs des Sozialstaatsprinzips könnte eine Reform der sozialen Sicherungssysteme auf keinen Fall mittels bloßer Rechtsverordnungen oder gar Notverordnungen seitens der Regierung bzw. der Verwaltungen durchgeführt werden.
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auch verfassungsrechtlichen Gründen nicht durch eine radikale Privatisierung der ›Daseinsvorsorge‹ ersetzt werden, denn dies würde tendenziell mit der Subsistenz des Einzelnen auch die pragmatischen Voraussetzungen für die Wahrnehmung seiner liberalen und demokratischen Grundrechte dem Zufall anheimstellen. Das Sozialstaatsprinzip wäre in seinem Wesensgehalt angetastet, es entstünde eine andere Republik als die im Grundgesetz vorgesehene und der Gesellschaftsvertrag wäre aufgehoben. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber wäre nur zu einer solchen Reform der Sozialversicherungssysteme befugt, die dazu diente, das Sozialstaatsprinzip unter veränderten arbeitsmarktpolitischen und demographischen Rahmenbedingungen abzusichern. Eine umfassende Privatisierung der Vorsorge gegen ›Lebensrisiken‹ wäre auf dem Wege einfacher Gesetzgebung jedenfalls nicht zulässig, da der Art.20 GG zur änderungsenthobenen Kernsubstanz des Grundgesetzes zählt, die allenfalls dem pouvoir constituant zu Gebote stünde.31 Ob dazu, wie Robert Alexy meint, der parlamentarische Verfassungsgesetzgeber befugt wäre, könnte zu einer verfassungsdogmatischen Streitfrage werden.32 Dem entspricht auch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts: Der Gesetzgeber werde durch den Menschenwürdegrundsatz (Art.1 Abs.1 GG) »in Verbindung mit« dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG) ermächtigt und beauftragt, und durch Art.1 Abs.3 GG auch verpflichtet33, die geeigneten institutionellen Vorkehrungen zu treffen. Unter den gegenwärtigen Umständen würde dies die Pflicht einschließen, die sozialen Sicherungssysteme so zu reformieren, dass sie nicht nur für Zeiten relativer Prosperität, sondern auch und vor allem für eine ökonomische ›Dauerkrise‹ gerüstet wären. Die bisherige Koppelung der Sozialversicherungsbeiträge an die Höhe der Bruttogehälter der Lohn- und 31. Diese substanzialistische Auslegung des Sozialstaatsprinzips lässt sich im Übrigen an zahlreichen Urteile des Bundesverfassungssgerichts ablesen: So heißt es in Hinblick auf die Frage nach »lebenslange[r] Freiheitsstrafe«: »Aus Art.1 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist […] die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht«; vgl. BVerfGE 445, 187 (228). Und in Bezug auf die »Jugendhilfe« führt das Gericht aus, »daß der Staat die Pflicht hat, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen«; vgl. BVerfGE 22, 180 (204). 32. Robert Alexy erklärt allein den Verfassungsgesetzgeber für befugt, in soziale Grundrechtsbereiche einzugreifen; vgl. Alexy (1985, 465). 33. »Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht«; vgl. Art. 1 Abs.3 GG.
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Gehaltsempfänger hatte leichfertigerweise sowohl demoskopische Strukturen als auch bisherige Konjunkturverläufe konstant gesetzt. Für den immer wahrscheinlicheren Fall, dass sich die Massenarbeitslosigkeit als dauernde Begleiterscheinung der Globalisierung erweisen sollte, müssten die überkommenen Sozialversicherungssysteme zwangsläufig versagen. Diese lassen sich aber nicht durch bloße Leistungskürzungen, sondern nur durch die Umstellung auf neue Finanzierungsverfahren von Grund auf sanieren. Das überkommene Versicherungsprinzip müsste ganz oder teilweise zugunsten des umverteilenden Solidarprinzips aufgegeben werden. In diesem Zusammenhang könnte es ratsam sein, eine Variante des Schweizer Sozialversicherungssystems in Erwägung zu ziehen. So ist z. B. das dortige Rentenversicherungssystem durch erhebliche Umverteilungseffekte gekennzeichnet34, da festen Leistungsgrenzen keine obere Beitragsbemessungsgrenze gegenübersteht. Im Unterschied zu unserem auf Normalarbeitsverhältnisse fixierten Finanzierungssystem ist in der Schweiz buchstäblich jeder erwachsene Wohnbürger gesetzlich verpflichtet, progressiv gestaffelt nach seinem Einkommen bzw. Vermögen, Zwangsbeiträge zu entrichten, während ihm im Bedarfsfall nur geringfügig abgestufte Leistungen zustehen. Die Abkoppelung der Finanzierung vom Arbeitseinkommen und die Egalisierung von Leistungsansprüchen hätte darüberhinaus den Vorzug, die Benachteiligung der Frauen, jedenfalls in Hinblick auf die staatliche Alterssicherung, weitgehend zu beseitigen. Außerdem wäre dem Kantischen Grundsatz genüge getan, dass »jedes Zeitalter die Seinigen« zu ernähren habe. Mir fehlt leider die Kompetenz, darüber zu urteilen, wie genau ein solides Sozialversicherungssystem aussehen müsste. Sicher bin ich mir allerdings in einem: Die Sozialversicherungssysteme bilden den ›harten‹ institutionellen Kern 34. Dies wäre auch nach dem Grundgesetz möglich, denn Art. 14 Abs.1 GG garantiert das Eigentum lediglich als Institut, während die Bestimmung des Inhaltes und der Schranken der Gesetzgebung zustehen sollen. Art.14 Abs.2 schreibt die Gemeinwohlbindung des Eigentums fest und Art. 14 Abs. 3 GG schließlich ermöglicht die gesetzliche Enteignung bei angemessener Entschädigung. Das Bundesverfassungsgericht BVerfGE 24, 367 (390) bezeichnet das Grundrecht auf Eigentum als »Institutsgarantie« und führt aus: »Inhalt und Funktion des Eigentums sind dabei der Anpassung an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse fähig und bedürftig«. Diese Anpassung vorzunehmen, sei »Sache des Gesetzgebers«. In BVerGE 4, 7 (18) ist schließlich von der »wirtschaftspolitischen Neutralität des GG« die Rede. Die »gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche, aber keineswegs die allein mögliche«.
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des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes und von deren Funktionstüchtigkeit hängt letztlich auch die liberale Demokratie ab: Auf gar keinen Fall sollte man deren systematische Reform im Vertrauen auf einen alsbaldigen Wirtschaftsaufschwung vernachlässigen. Denn der Sozialstaat ist das notwendige Ergänzungsstück der liberalen Demokratie, weil er deren pragmatische Voraussetzung gewährleistet: die relative Freiheit der Bürger von sozialer Not, die ihnen sonst die praktische Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte verunmöglichen würde.
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DIE METAPHER VOM GLEICHGEWICHT IDEALE DER ORDNUNG IN DER KRITIK
Heinz-Ulrich Nennen
Das Gesetz macht alle auf erhabene Weise gleich: Es verbietet allen Menschen, unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen – den Armen ebenso wie den Reichen. (Anatole France, 1844 –1924)
Wann immer die Metapher vom Gleichgewicht bemüht wird, zeigt sich alsbald, wie mächtig damit verbundene Assoziationen sogleich von unserem Vorstellungsvermögen Besitz ergreifen. Verlorenes Gleichgewicht soll wiedergefunden, Balance gehalten oder hergestellt werden. Derweil wird gewogen, erwogen aber auch gewichtet, ganz im Sinne des Symbols von Waage und wägen, bis hin zur ›ausgleichenden Gerechtigkeit‹, der Nemesis in ihrer Funktion als Göttin der Vergeltung. Ursprünglich wurden Seelen gewogen, im altägyptischen Totengericht nicht anders als später beim Jüngsten Gericht. Die vormalige Seelenwaage ist dann auch das entscheidende Wiedererkennungsmerkmal der Göttin der Gerechtigkeit; eine Frauengestalt mit Waage, Schwert und Augenbinde wird man klassischerweise als Darstellung der Justitia identifizieren. Gleichwohl ist die Emblematik nicht bindend: Infolge der Gewaltenteilung wird ihr anstelle des Schwertes eher ein Buch beigegeben, und die Augenbinde erweist sich als ganz und gar nicht unverzichtbares Attribut. Ihre Emblematik wandelt sich im Verlaufe der Zeit, um aber Justitia als solche sicher identifizieren zu können, ist es unverzichtbar, dass es sich um eine weibliche Figur handeln muss mit einer Waage zumeist in ihrer Linken. Sobald sie ihre Urteile nicht mehr selbst zu vollstrecken pflegt, nicht zuletzt seit Ächtung der Todesstrafe, musste das Richtschwert in ihrer Rechten obsolet werden. Wird sie dennoch weiterhin als Schwertträgerin dargestellt, so dürfte aus dem vormaligen Richtschwert zwischenzeitlich ein nur noch symbolisches Schwert der Gerechtigkeit geworden sein. Allerdings wird die Rechtsprechung als solche bereits durch die Waage in ihrer Linken repräsentiert; es wäre also durchaus redundant, ihr zusätzlich noch das Schwert der Gerechtigkeit beige337
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ben zu wollen, da wäre dann ein Gesetzbuch angebrachter. Bemerkenswerterweise fehlt lange eine nach heutigem Verständnis signifikante Unerlässlichkeit, es fehlt ihre Augenbinde, und es ist noch interessanter anzumerken, dass ihr dieses Detail erst sehr spät zugedacht wurde – mit Justitias Augenbinde hat es eine ganz eigene Bewandtnis. Was mit dieser Augenbinde symbolisch vonstatten geht, lässt sich nur noch mithilfe einer hegelschen Differenzierungsfigur angemessen beschreiben: Justitia trägt dieses Accessoire nicht für sich, sondern für uns, über deren Taten und Untaten, Handel und Händel sie zu Gericht sitzt, für das Volk, in dessen Namen sie schließlich auch urteilt. Wenn Sokrates in seiner Apologie noch einmal explizit darauf hinweist, er habe auf das ansonsten sehr wohl übliche aber gleichwohl unwürdige Verhalten ganz bewusst verzichtet, etwa durch einen langen Zug vorsorglich wehklagender Untergebener und Schutzbefohlener das Gericht beeinflussen zu wollen, so bezeugt er damit der Justitia genau jene Achtung, für die wiederum ihre Augenbinde ein Zeichen sein soll: Eine über den Parteien stehende Instanz der Rechtsprechung, die sich seit dem Mittelalter zunehmend als Wissenschaft versteht und an den neuen Universitäten gelehrt wird. Man mochte früh bereits nicht mehr auf eine unabhängige und kunstgerechte Gerichtsbarkeit verzichten und erwartete zunehmend, Justitia möge ohne Ansehen der Person, womöglich ohne Rücksicht auf den Stand richten, was mit der Augenbinde nunmehr auch symbolisch zur Darstellung gebracht werden sollte. Bis zur Abschaffung der Standes- und Gerichtsprivilegien des Adels ist es allerdings noch ein weiter Weg. Außerdem hat Justitia figurative Probleme mit ihrer Augenbinde, denn als zusätzliches Attribut lässt sich die Sichtblende weder mit einem Buch noch mit einem Schwert kombinieren; wie sollte sie lesen, geschweige denn das Urteil mit ihrem Richtschwert vollstrecken – mit einer Binde vor den Augen? Wenn dieses Attribut im 15. Jahrhundert aufkommt, dann zunächst aus Gründen des Spotts, und noch immer dient ihre Augenbinde eher der Satire, denn schlimmstenfalls demonstriert sie anhand ihrer eigenen Allegorie den misslichen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. So zeigt Jacques de Geyn II eine Justitia, die angestrengt versucht, unter ihrer Binde hervorzuschielen, woraufhin postwendend die Waage in Unruhe gerät und bedenklich nach einer Seite hin ausschlägt.1 Justitia trägt ihre Augenbinde, um zu zeigen, dass sie ohne Ansehung der Person zu ihren Urteilen 1. Siehe hierzu: >http://www.fh-fulda.de/fb/sw/projekte/curs/curs2003/bibliothek/texte/ 14rechtstheorie/justitia/justitiabildfolge.htm< (26.01.04).
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kommt. Der Zuschauer soll sehen, dass sie nicht sieht, was sie nicht sehen soll. Erst dann auch wird man ihr trauen – aber nicht blind, denn gerade die Justiz wurde immer wieder vereinnahmt und gleichgeschaltet, von Klassen, Kadern, Parteien, von Priestern, Militärs oder Diktatoren. In der Frage, was es mit der Augenbinde auf sich hat, können unter den vielen möglichen Deutungsvarianten nur ganz bestimmte Interpretationen zutreffen. Es mag zwar für die Ironisierung von Interesse sein, keinesfalls handelt es sich um tatsächliche Blindheit, Justitia kann und darf gar nicht mit Blindheit geschlagen sein. Auch trägt sie die Augenbinde nicht wie Eros-Amor, wie Cupido oder Fortuna, als Zeichen des Zufalls, der Willkür und für die Rücksichtslosigkeiten sämtlicher Liebes- und Glücksgötter in Aktion. Die Augenbinde der Justitia entspricht eher jener, wie sie auch der Gerechtigkeit als Tugend häufig beigegeben wurde, als Zeichen dafür, dass ohne Hinsicht auf den eigenen Vorteil die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen praktiziert werden soll. Justitia kann daher nicht einfach nur blind sein, sämtliche dieser Deutungsvarianten treffen nicht, es sei denn, sie dienen der Ironie und damit der Kritik. So lässt sich der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit hervorheben, auch, dass man vom Gericht nicht Recht bekommt, sondern eben ein Urteil etc. Hier zeigt sich zunächst einmal, dass es beim Recht auch um Handwerk und damit um Kunstgerechtigkeit geht. Die Blindheit der Justitia ist kein tatsächliches Handikap, es ist eine künstliche Blindheit, die ein Zeichen geben soll, ein Versprechen, nicht nur dass das Recht tatsächlich kunstgerecht ausgelegt und gesprochen werden soll, sondern auch, dass dies ohne jede Parteilichkeit vonstatten gehen soll. Diese Deutung der Augenbinde ist dann auch vorherrschend, das zeigt eine Bemerkung von Rosa Luxemburg, wenn sie kritisiert, es werde mit zweierlei Maß gemessen in Deutschland, um dabei das Bild selbst zu konterkarieren: »Und obwohl nach der Annahme der Mythologie die Göttin Justitia die Augen verbunden hat, so scheint sie in Preußen-Deutschland immer noch unter ihrer Binde einen Spalt zu finden, um gleich zu erkennen, ob es ein roter oder ein anderer Attentäter ist. (Große Heiterkeit.)«2 2. Rosa Luxemburg: Diskussionsbeitrag am 7. März 1914 in der Protestversammlung gegen die Verurteilung Rosa Luxemburgs in Freiburg im Breisgau (März 1914). Nach einem Zeitungsbericht: Volkswacht (Freiburg im Breisgau) vom 9. März 1914. In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Fünf Bände; Berlin 1970–1975. Bd. 3, 414–425.
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Die ›große Heiterkeit‹ zeugt dann auch davon, wie genau die Satire sich hier der Allegorie bemächtigt hat, um die Kritik daran gleichsam dingfest zu machen. Ihre künstliche Blindheit ist ein Versprechen, das gehalten werden muss. Es kann nicht genügen, nur den Augenschein zu wahren, vielmehr muss erwartet werden, dass Justitia sich in der Tat einer jeden Parteinahme enthält, um ohne Ansehung der Person – und auch der Staatsräson zu urteilen; das ist das Bild, das ebenfalls bedeutet werden sollte. Es geht also weder um tatsächliche Blindheit, noch geht es um jene Sehergabe, die Teiresias erst aufgrund seiner Blindheit zuteil wurde, sondern um ›gleiches Recht für alle ohne Ansehen der Person‹. Dennoch, die Sichtblende ist ihr spät erst zugedacht worden, anfangs satirisch, dann aber immer mehr in Erwartung ihrer Unparteilichkeit. Ihr eigentliches Symbol, die Waage ist selbst eine hochspekulative Allegorie, zumal es sich bei diesem ältesten und verlässlichsten Attribut der Justitia um ein Rudiment der ägyptischen Seelenwaage handelt. Es geht ursprünglich weniger um allzu diesseitige Rechtsstreitigkeiten, vielmehr ist die Waage eine Anspielung auf die endzeitliche Gerichtsbarkeit. Intendiert ist Gerechtigkeit vor einer mächtigen Referenzebene, es ist das Bild vom geordneten Kosmos: Durch das Urteil, die Sühnetat, durch Wiedergutmachung, aber auch durch Nemesis soll die durch die vorangegangene Tat aus dem Gleichgewicht geratene kosmische Ordnung wieder in den Normalverlauf zurückgebracht werden, in den Zustand der vormaligen, vom göttlichen Uhrmacher vorbildlich eingerichteten prästabilierten Harmonie. Die Waage repräsentiert im ägyptischen Osiris-Kult das Totengericht, dem sich ein jeder Verstorbene am Ende seines Lebens unterziehen musste. In der ›Halle der Wahrheit‹ wurde entschieden, wer ins Jenseits eingehen durfte und wer der Verdammung anheimfallen sollte. In der Mitte die Seelenwaage und Osiris auf seinem Thron, dem andere Gottheiten assistieren. Der schakalköpfige Anubis kontrolliert die korrekte Einstellung der Seelenwaage und der habichtköpfige Schreibergott Thoth, der den Menschen die Schrift brachte, notiert die Ergebnisse. Auf der Waage schließlich das Herz des Toten als Sitz seiner Seele, die nunmehr anhand der Taten des Verstorbenen gewogen werden soll. Der Verstorbene muss derweil Rede und Antwort stehen – angesichts der Wahrheit, denn bei dieser Abwägung findet sich in der anderen Schale der Waage die Wahrheit, repräsentiert durch eine Feder, die Hieroglyphe der Wahrheit. Die Verstorbenen suchten dann um Vergebung nach, sprachen sich anhand von Formeln aus den Totenbüchern von ihren Verfehlungen los, aber die Waage zeigt wie ein Lügendetektor an, ob sie die Wahrheit sprechen, ob die guten
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Taten tatsächlich überwiegen. Neigte sich die Waage dann ungünstig, so wurden Strafen auferlegt, schlimmstenfalls wurde die Seele einem Ungeheuer mit Krokodilskopf, Löwentatzen und Nilpferdfüßen zum Fraß vorgeworfen, worauf das Leben verwirkt war. – Nicht von ungefähr wird später auch der Erzengel Michael immer wieder mit dieser Seelenwaage dargestellt. Auf subtile Weise kehrt die Wahrheit, in ihrer Funktion als Gegengewicht auf der ägyptischen Seelenwaage, wieder zurück in dem 1494 erschienenen Narrenschiff von Sebastian Brant, wenn die Streit- und Prozesssüchtigen gemahnt werden: »Wer stätes zancket, wie eyn kyndt Und meynt Die worheyt machen blynde.«3 Albrecht Dürer illustriert diese Sequenz mit einem Holzschnitt und zeigt, wie ein Narr versucht, der Justitia mit einer Augenbinde die Sicht zu nehmen. Hier geht es allerdings um das Blenden der Wahrheit vor Gericht, die Augenbinde ist nichts weiter als eine Sichtbehinderung und noch nicht ihr Attribut, sie wird es erst später. Interessanterweise wird erst damit die diesseitige von der jenseitigen Gerichtsbarkeit unterscheidbar, denn während sich dem eigenen Anspruch nach auch die Vertreter der Jurisprudenz zunehmend selbst repräsentiert sehen durch eine Justitia mit Sichtblende, hat der ideale Richter im Gericht am Ende aller Zeiten selbstverständlich keine verbundenen Augen. Ganz im Sinne dieser Allegoresen ist ein jedes Vorverständnis von ›Gerechtigkeit‹ souffliert vom Modell einer Waage, die damit gleichsam zu einem kosmologischen Messinstrument wird. Bedenkt man, dass Massenanziehung und Gravitation noch immer Rätsel aufgeben, wie geheimnisvoll muss das Wägen erst erschienen sein, als man noch nicht dazu neigte, den Eindruck zu erwecken, man habe bereits alles erklärt, wenn man nur vorgibt und glaubt, alles alsbald entzaubern zu können. Gerechtigkeit, Gleichgewicht und auch Wahrheit gehören insofern tatsächlich eng zusammen, nur geht es ursprünglich um mehr als um Rache, Sühne, Entschädigung oder auch Schadensausgleich. Sofern es sich bei der Waage der Justitia noch immer um die vormalige Seelenwaage handelt, geht es auch um mehr als um die handwerklich korrekte Anwendung der Gesetze. Spekulationen über die Symbolik dieser Waage führen dementsprechend weit in die Kulturgeschichte zurück, weit vor den Beginn des Rechtsposi3. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Hrsg. v. Karl Goedeke, Leipzig 1872. Nr. 71.
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tivismus, denn mit dieser ursprünglichen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellung war allerdings mehr intendiert als irdische Gerechtigkeit. Symbole, Allegorien und mitunter auch Metaphern können ihren Gehalt fast überzeitlich bewahren und sind zumeist auch in der Lage, unterschiedliche oder gar widersprüchliche Aspekte gleichzeitig und nebeneinander zu repräsentieren. Die Waage der Justitia ist daher noch immer dasselbe Instrument wie jenes der Abwägung im Prozess vor den Göttern am Ende der Zeit. Angesichts des gestirnten Himmels über den Köpfen früher Hochkulturen stand seinerzeit mehr auf dem Spiel als Gerechtigkeit hienieden, intendiert war kosmischer Ausgleich, die apokatastasis panton, die Wiederbringung aller Dinge, was nichts Geringeres bedeutet als die (Wieder-)Herstellung der angestammten Ordnung im Kosmos insgesamt. Schließlich war die Welt in Harmonie eingerichtet worden, es lag nunmehr aber am Menschen, sie nicht in Unordnung geraten zu lassen. Viele Opfervorstellungen und Kulte, viele Priesterschaften und Rituale korrespondieren einem solchen Modell von Ordnung und Gleichgewicht, für die mitunter kein Opfer groß genug und hinreichend schien. Aber auch wir sind längst nicht so aufgeklärt, wie wir uns gerieren. Inzwischen dient die Entzauberung der Welt immer mehr neuer Mythenbildung. Auch heute existieren dementsprechende Priesterkasten, die sich darauf verstehen, herauszubringen, welche Opfer gebracht werden müssen, erzürnte Götter wieder gnädig zu stimmen, – McKinsey, Berger & Co. Was seinerzeit noch in Vogelflug, Eingeweide oder Sterne hinein- und sodann wieder herausgelesen wurde, wird heute allenthalben als Power-Point-Präsentation unter Einsatz sämtlicher Ressourcen an Grafik und Grafiken aufbereitet und vorgebracht in den Chefetagen derer, die selbst längst jeden Glauben verloren haben, an das, was sie anderen da tagtäglich predigen. Das Urmodell setzt auf globale kosmische Harmonie. Noch die Rechtsvorstellung der Vergeltung zielt auf den Ausgleich, den es außer beim Schadenersatz so gar nicht geben kann, ebensowenig wie die vollführte Rache als solche tatsächlich befriedigen oder befrieden könnte. Dennoch souffliert das Sinnbild der Waage und sämtliche sich daran anschließenden Metaphern, man dürfe auf kosmischen Ausgleich spekulieren; so wird dann die vormalige Harmonie zur Uridee, deren man sich nur wieder erinnern, die man nur wieder herstellen müsste, wie die in den letzten Dekaden so oft und eindringlich evozierten natürlichen Gleichgewichte nur erst wieder hergestellt werden müssten. Gerade die Forderung, man möge wieder mehr ›im Einklang mit der Natur leben‹, zeugt von Vorstellungen, denen das Symbol der Waage wiederum korre-
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spondiert. Prominentestes Beispiel ist die Metapher vom ›ökologischen Gleichgewicht‹, aber auch Motive wie der Topos vom ›sozialen Ausgleich‹, ebenso wie viele Prinzipien und Schlussfiguren in den Diskursen über ›Verteilungsgerechtigkeit‹ beziehen sich auf dementsprechende Modelle. Nicht einmal die systemtheoretische Ausgleichsfigur von der so genannten ›Autopoiesis‹ ist frei von Anleihen in diesem Metaphernfeld. – Entscheidend ist also noch immer, was man denn beim Erwägen so alles in die Waagschale wirft und was nicht; hier setzen dann auch die Diskursanalysen von Michel Foucault an, mit der Beobachtung der Gewichtungen, mit Vorentscheidungen darüber, was für wichtig und wesentlich erachtet wird, und auch, was in seiner Geltung gänzlich ausgeschlossen wird und nicht wiegen darf, selbst wenn es Gewicht hätte. Urmodelle der Orientierung wie die Rede vom Gleichgewicht sind selbst unterbestimmt: In der Relation dieser Relation bleibt stets offen, wovon eigentlich die Rede ist. Gleichgewicht – wovon, womit und wofür wäre anzufragen, wenn nicht das Bild so eingängig wäre und Gleichgewicht als solches schon wünschenswert erschiene. Derweil lässt sich am Verlauf des ökologischen Diskurses verdeutlichen, wie sehr gerade der Topos vom wiederzufindenden oder wieder herzustellenden Gleichgewicht dazu verführt hat zu tun, was ursprünglich nicht im Mindesten intendiert war, nämlich globales Management zu betreiben, alles und jedes nunmehr regeln zu wollen, nichts mehr sich selbst zu überlassen, schon gar nicht das ursprünglich als ganz besonders schützenswert angesehene ›Unverfügbare‹ an und in der Natur. Es scheint, als wäre die Rede vom gesuchten Ausgleich nur ein Vorwand gewesen, wieder einmal einzugreifen, als wäre man nur um die Legitimation verlegen gewesen, nun endlich das so genannte ›Steuer‹ global in die Hand zu nehmen, um zu steuern und gegenzusteuern, wie stets ohne tatsächliches Konzept, nur auf der Grundlage der Metaphorik im Namen von ›Gleichgewicht‹ und ›Steuerung‹ oder auch ›Nachhaltigkeit‹. Gegen die allgemeine Idealisierung von der Herstellung und Herstellbarkeit ›des‹ Gleichgewichtes wird man also berechtigterweise die vorherige Beantwortung der Frage anmahnen dürfen, was denn warum zum Ausgleich gebracht werden soll und wozu. Zudem ließe sich konstatieren: Es gebe vielerlei ›Gleichgewicht‹, außerdem sei fraglich, was denn eigentlich die Idealvorstellungen von Gleichgewichtszuständen leisten sollen an Orientierung in einer inzwischen gänzlich dynamisierten Welt? Sind wir nicht allenthalben selbst inzwischen auf Dynamik aus, jenseits statischer Gleichgewichte? Allerdings ist die Rede vom dynamischen Gleichgewicht schwer ins Bild zu setzen; wenn etwa in der Chemie von dynamischen Gleichgewichten zwischen
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Hin- und Rückreaktionen gesprochen wird, so stiftet diese Auffassung begrifflich nur Verwirrung. Ein anderes Beispiel für praktizierte Begriffsverwirrung wäre der seinerzeit in ökologischer Absicht geprägte Begriff vom Nullwachstum, wobei dieser wenigstens noch ausdeutbar ist, dass er ganz bewusst vorenthält, wovon er spricht, nämlich Wachstum. Dynamische Gleichgewichte müssten dagegen solche sein, die sich eben nicht einpendeln, um dann doch statisch zu werden in einem größeren Ganzen. Das Problem aller dieser Idealbilder scheint zu sein, dass sie voraussetzen, was erst herzustellen ist, dass sie Idealität in Aussicht stellen, ohne Hinweise zu geben, woran man denn unter den vielen möglichen Verhältnissen des Ausgleichs oder diejenigen Konstellationen sollte erkennen können, die es in der Tat verdient hätten, höher qualifiziert zu werden als andere. Die Frage wäre schon, woran man denn verlässlich erkennen können soll, ob eine Ordnung, eine Kultur oder auch bestimmte Verhältnisse als gerecht und als ausgewogen empfunden werden dürfen. Interessanterweise sind die Darlegungen der Priesterschaften, etwa eines Meinhard Miegel und allzu vieler seiner Standeskollegen, gar nicht geprägt von Fragen der Gerechtigkeit, vielmehr setzt die Rhetorik der Darlegungen stets an mit der Behauptung, dass man sich soziale Gerechtigkeit wirtschaftlich kaum noch wird leisten können, dass soziale Ausgewogenheit selbst einen viel zu hohen Preis hat, selbst viel zu viel kostet. Noch bemerkenswerter sind die daran anknüpfenden Vorstellungen, wonach man weitere und zusätzliche gesellschaftliche Ungleichgewichte tunlichst werde hinnehmen müssen, weitere und auch größere Opfer gefordert seien und damit einhergehende weitere soziale Verwerfungen. Das Problem scheint zu sein, dass mit diesen Metaphern in den Diskursen ganz bestimmte Schlussfiguren souffliert werden, bei denen das, worauf es ankäme, fast bereits aus dem Blickfeld verschwindet und als Problem kaum noch in Betracht kommt: Wer Gleichgewicht herstellen möchte, muss abwägen, was, warum zum Ausgleich gebracht werden soll. Man wird Präferenzen setzen müssen, was aber wiederum bedeuten kann, dass sich, intendiert oder nicht intendiert, ein völlig anderes, nunmehr ›neues‹ Gleichgewicht einstellt, auf anderem Niveau, auf dem die Verhältnisse sich erwartungsgemäß erneut ›einpegeln‹ sollen, wobei immer die Frage ist, ob sich, was zuvor in Aussicht gestellt worden war, tatsächlich auch einstellt. Zumeist sind es eher neue Ungleichgewichte, die weitere so genannte Nachbesserungen erforderlich machen. Man gewinnt inzwischen den Eindruck, dass die, die da justieren, das
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erforderliche Handwerk entweder gar nicht mehr ausüben wollen oder nicht ausüben können. Mit dem Bild vom Gleichgewicht wird immerzu angedeutet, es gehe nur um ein sehr sensibles Feinjustieren, als sei noch immer der göttliche Uhrmacher am Werke. Währenddessen haben wir aber bereits so sehr eingegriffen in alle erdenklichen vormals noch gewachsenen Strukturen, dass wir uns allmählich auch jenes Teils der Verantwortung bewusst werden sollten, der durch die einschlägigen Sprachbilder immerzu überspielt wird: Es wäre interessant, würde zugegeben, dass man gar nicht über einschlägige Antworten verfügt, dass man zumeist nur im allzu Ungefähren operiert; es wäre noch interessanter, die politischen und interessenpolitischen Rezept- oder Stichwortgeber unserer Tage einmal darauf zu examinieren, ob sie denn überhaupt noch verstehen, worüber sie reden, womit sie da umgehen. So wird dann auch immer seltener davon gesprochen, man wolle nun Gleichgewichte oder Gerechtigkeiten wieder herstellen, wobei dieses ›wieder‹ bereits problematisch wäre. Erhoben werden nur noch sehr viel bescheidenere Ansprüche, mehr Ausgewogenheit oder mehr Gerechtigkeit. Wollte man das Bild vom Gleichgewicht weiterhin ernst nehmen, der Anspruch, Gerechtigkeit, Ausgleich oder auch Gleichgewicht (wieder-)herstellen zu wollen, bedeutete zunächst einmal in jedem Falle, dass Gewichte umzuverteilen, Lasten anders zu lagern wären, so dass sich dann auch der ›Schwerpunkt‹ verschiebt. – Die Waage der Justitia lässt sich also tatsächlich als ganz besonderes Messinstrument verstehen, wenn es darum geht, die Lasten gerechter und in diesem Sinne ›richtiger‹ zu verteilen. Es gibt das bemerkenswerte Phänomen, dass man eine einmal in Szene gesetzte Metaphorik schlechterdings kaum wieder los wird; Symbole und Metaphern verhalten sich wie Geister, die man rief. Um sie wieder los zu werden, bleibt mitunter nur noch eine einzige Möglichkeit: Verfolgt man die Assoziationen metaphorischer Ketten unbeirrt weiter, so gelangt man durch systematisches Weiterspinnen metaphorischer Verknüpfungen ganz in ihrem Sinne schlussendlich zur eigentlichen Symbolebene, von der aus sie ihre Bedeutungskraft beziehen und ihre Sinndominanz entwickeln. Es ist dann die Ebene erreicht, in der die Metaphern sich gründen, wo die Bilder und Symbole in rhizomatischen Strukturen sehr eng und dicht beieinander liegen und miteinander verwoben sind. Auf dieser Ebene können sich zuvor noch ungeahnte mögliche Übergänge zwischen unterschiedlichen Diskursen auftun; außerordentliche Bezüge zeigen sich, die urplötzlich einen Wechsel der Bilder erlauben und
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so den Übergang von der einen zur anderen Metaphorik erfahrbar werden lassen. Nur so wird man die aus rhetorischen Gründen gerufenen Geister auch wieder los, man wird ihnen Opfer bringen, dann aber sind sie sehr wohl bereit, in der Sache selbst mitzugehen. Opfer bringen bedeutet hier, dass man nicht nach Belieben mit einem Bild umgehen kann, was sich spätestens anhand unfreiwilliger Stilblüten zeigt, die sich dann zwangsläufig einstellen. Auch Metaphern können in Unordnung geraten, vor aller Augen, und man wird dieses Geschehen im Publikum als Anzeichen mangelnden Sachverstandes, womöglich sogar als Indiz unlauterer Absichten deuten. Wer die Metaphern, die Bilder und Symbole gegen sich aufbringt, dem wird man infolgedessen nicht einmal mehr zutrauen, dass er die eigene Sache versteht. Die Sachen selbst sind abhängig von den Übergängen zwischen unterschiedlichen Metaphern und davon jeweils abgeleiteten Modellen: Wenn sich zwischen ansonsten unverträglichen Metaphernketten urplötzlich Übergänge zeigen, so lassen sich auch in den Diskursen vergleichbare Verbindungen knüpfen. Wer Gleichgewicht halten oder aber herstellen möchte, muss dementsprechend auch Lasten anders verteilen und austarieren; hier zeigt sich, wie leicht es ist, metaphorisch vom Gleichgewicht zur Lastenverteilung überzuwechseln. Schließlich soufflieren die Bilder diesen Zusammenhang selbst, und fast ungezwungen lässt sich der Bezug zum Thema ›Gerechtigkeit‹ herstellen, die dann eben bedeutete, die Lasten gerecht zu verteilen, so dass … – Spätestens hier wäre allerdings im weiteren Verlauf des Metaphorisierens unmittelbar das Kriterium zum Ausdruck zu bringen, woran man Gerechtigkeit denn soll ermessen können. So trägt etwa der VII. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie das Motto: Gerechtigkeit: Auf der Suche nach einem Gleichgewicht. Demnach wird spekuliert, Gerechtigkeit wäre eine solche Verteilung der Lasten, dass sich Gleichgewicht halten oder herstellen lässt. Mit ›Suche‹ im Titel hätte es allerdings wieder eine eigene Bewandtnis: Wer (um im Bilde zu bleiben) Gleichgewicht sucht, der wankt bereits, ein verlorenes Gleichgewicht müsste aber, dem Bild nach, sofort wiedergefunden werden. Wer Gleichgewicht sucht und es nicht alsbald findet, der fällt! Das Bild vom universellen Gleichgewicht beruht allerdings auf einer sehr alten Vorstellung, dass es so etwas geben müsse, wie eine urtümliche natürliche Ordnung, die nur wieder hergestellt werden müsse. Es wäre angebracht zu fragen, wie weit wir uns um die Bedingungen dieser Möglichkeiten bereits gebracht haben, ob derartige Modelle womöglich stets nur Projektionen wa-
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ren, oder ob die sich daran anschließenden Topoi womöglich noch immer Entscheidendes leisten können, auch in den aktuellen Diskursen. Möglicherweise bemühen wir ganz bewusst eher statische Bilder, wie dasjenige der Waage und ahnen währenddessen sehr wohl, dass statische Allegorien vermutlich längst nicht mehr angemessen sein können, angemessen einer Welt, in die wir immer schon immer mehr eingegriffen haben, die längst dynamisiert ist, jenseits aller erdenklicher ›Gleichgewichte‹. Gleichwohl bedient sich die Ideenpolitik unserer Tage noch immer bevorzugt dieser Bilder, weil sie in ihrer Eingängigkeit derzeit wohl außer Konkurrenz stehen. Dabei ist es stets höchst instruktiv, eingehender zu beobachten, wie, wann und wo vorherrschende Ideal- und Modellvorstellungen in die Welt gekommen sind. So hat sich, im Anschluss an die Diskurse der Ökologie, der über Dekaden in die Defensive geratene ökonomische Diskurs zwischenzeitlich ins Zentrum aller Aufmerksamkeit geputscht, hat beim Erfolgsrezept seines Vorgängers beträchtliche Anleihen gemacht, wie etwa die Vorstellung, es würde sich versündigen, wer in die Freiheit der Märkte eingreift, weil diese ebenso wie vormals die Natur als das Unverfügbare gelten müssten und keinesfalls dürften angetastet werden. Inzwischen hat der ökonomische Diskurs denjenigen der Ökologie fast vollständig abgelöst, was insbesondere daran zu erkennen ist, dass sich auch der ökologische Diskurs fast durchweg nur noch ökonomischer Argumente und Darlegungen bedient. So hat also inzwischen der ökologische Diskurs das genaue Gegenteil dessen erbracht, was zu bewirken ursprünglich beabsichtigt worden war. Nicht Unverfügbarkeit, sondern im Gegenteil die globale Verfügung durch Bilanzen und Rechnungen im Namen der Nachhaltigkeit waren die Folge. In diesem Sinne ist Globalisierung erstmals erprobt worden in den Weltmodellen des ›Club of Rome‹. Der nachfolgende ökonomische Diskurs musste sich diese Rezeptur der ökologischen Konfession einfach nur zu Eigen machen, nunmehr wurde die Freiheit der Märkte zum Schützenswerten um seiner selbst willen, als gäbe es diesen Zusammenhang zwischen florierender Wirtschaft und Humanität vor Ort wirklich. Auch zwischen Ökonomie und Ökologie bestehen weniger in der Sache begründete als vielmehr lediglich wissenschaftshistorisch bedingte Wechselwirkungsverhältnisse, die zunächst einmal weniger mit den Wirtschaftsweisen der Natur oder der Natur der Wirtschaftsweisen zu tun haben, einzig entscheidend sind vielmehr Gemeinsamkeiten im Modellansatz. Immer wieder wurden im Verlauf der vorangegangenen Wissenschafts- und Kulturgeschichte einerseits
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Natur und andererseits Wirtschaft einander gegenübergestellt, immer wieder mit dem Ergebnis erstaunlicher Korrespondenzen. Aber diese Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichsten Problembereichen sollten nicht sonderlich verwundern, wenn man nur bereits ahnt, dass es die Modellvorstellungen ganz einfach so soufflieren. Es ist uns inzwischen fast gar nicht mehr möglich, Natur oder Wirtschaft anders zu sehen, weil die Modelle und Metaphern es so von uns verlangen. Derweil sind die wenigsten Zeitgenossen noch in der Lage, die verräterische Wahl ihrer Ausdrucksweise zu kontrollieren, wenn immerzu die freie Wildbahn zum Modell für die Wirtschaft genommen wird, als säßen wir noch immer in Höhlen. Hier stimmt rein gar nichts mehr, weder die Aussagen über Wirtschaft noch die über Natur und schon gar nicht die über uns selbst – aber die Parolen verfangen. Immerzu werden Analogien zwischen Natur und Kultur gebildet, es sind nur Projektionen und Retroprojektionen, es geht hin und her, und niemand wird schlussendlich noch angeben können, was Urmodell, was Abbild gewesen ist. Erst mit der Ökologie ist die gesamte Natur zum Wirtschaftsraum geworden. Erst durch Ökologie konnte Natur, konnten Naturräume mit allem, was lebt, dem wirtschaftenden und quantifizierenden Kalkül unterworfen werden. Ihr Gründer hatte der Ökologie die Ökonomie mit in die Wiege gelegt; stets, wenn Ernst Haeckel auf die von ihm begründete Ökologie zu sprechen kommt, verwendet er die Analogie zur Ökonomie. So definierte er z. B. in seiner Antrittsvorlesung ›Über Entwicklungsgang und Aufgabe der Zoologie‹ am 12. Januar 1869: Unter Ökologie verstehen wir die Lehre von der Ökonomie, von dem Haushalt der tierischen Organismen.4 Es liegt Haeckel jedoch nicht nur an einer Analogie; für ihn ist Ökologie ›Oeconomie der Natur‹, ›Naturoekonomie‹5, ›Haushalt der Organismen‹, ›Haushaltslehre der Natur‹, ›Biologische Oekonomie‹6 – wobei schließlich die ökologische Ökonomisierung der Natur ihrerseits wiederum die Ökonomie ökologisieren sollte. 4. Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke, hrsg. v. H. Schmidt-Jena, Bd.V.: Vorträge und Abhandlungen. Leipzig 1924, 49. 5. Vgl.: Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke, hrsg. v. H. Schmidt-Jena, Bd.I: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Erster Teil. Leipzig–Berlin 1870, 645. 6. Vgl.: Ernst Haeckel: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel. Stuttgart 1904, 107, 88, u. Tab. S.108.
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Nicht anders verhält es sich mit der Vorstellung vom Geldkreislauf; auch dieses Modell geht auf eine Retroprojektion zurück, eine Physiologie, genauer, eine physiologisch revolutionäre Entdeckung: Mehr als zweitausend Jahre war man vom Prinzip der Körperwärme ausgegangen, das Blut fließt demzufolge aufgrund seiner Wärme durch den Körper. So zog dann die Entdeckung und der Nachweis des (großen) Blutkreislaufs nicht nur eine Revolution in der Physiologie nach sich, sondern, wie sich immer wieder beobachten lässt, im Gefolge eines großen Paradigmenwechsels ist stets auch ein gleichförmiger Ismus zu beobachten, in diesem Falle ist es der Physiokratismus. – Die Initialisierung der bis auf den heutigen Tag wichtigsten Konzepte der modernen Volkswirtschaft geht zurück auf diese Vorstellungswelt, die zuvor durch William Harvey in ihrer ›natürlichen Entsprechung‹ nachgewiesen wurde. Hatte Galen zuvor noch Gesundheit dargestellt als Gleichgewicht zwischen vier Kardinalsäften und Körperwärme, so sollte nun anstelle der rechten Mischung das ständige Zirkulieren treten, an die Stelle des Gleichgewichtes das beständige Umwälzen, angetrieben von einer Pumpe. Seither haben wir es nicht mehr mit kommunizierenden Röhren zu tun, sondern mit Druckbehältern und einem unentwegten Fließen allenthalben, wobei sich zeigt, wie harmonisch sich hier die Dampfmaschine einfügt, von der ausgehend ein konsequent weiterer Weg führt, bis zur Wirtschafts-, System- und Sozialkybernetik unserer Tage. Das Modell ist nach wie vor dasselbe: Claude Lévi-Strauss hat sich einmal dieser Metaphorik bedient, um anhand von Uhren versus Dampfmaschinen den fundamentalen Unterschied zwischen Kulturen mit zyklischem Selbstverständnis von solchen mit einem dynamischen Selbstverständnis zu verdeutlichen.7 Von der Entdeckung des Blutkreislaufs führt ein direkter Weg zur neuen Ökonomie, einfach nur, wie so oft, durch die metaphorisierende Übertragung eines Modells auf einen gänzlich anderen Sektor. Der Begriff vom Wirtschaftskreislauf wurde 1758 geprägt von Francois Quesnay (1694–1774), einem Arzt, bezeichnenderweise Leibarzt Ludwigs XV. Damit wurden die Grundlagen geschaffen für das bis auf den heutigen Tag populäre wirtschaftliberalistische Manifest. Erstmals wurde darauf die Überzeugung vertreten, Eingriffe in den Markt seien kontraproduktiv, erstmals modelliert Quesnay einen Wirtschaftskreislauf auf der Grundlage der von ihm sogenannten ›Naturgesetze der Öko7. Claude Lévi-Strauss: ›Primitive‹ und ›Zivilisierte‹. Nach Gesprächen aufgezeichnet von G. Charbonnier. Übers. von A. Kuoni u. K. Reinhart; Zürich 1972.
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nomie‹. Die Physiokratie ist nach Anschauung, Herleitung und Modellierung und als Argumentationsfigur eine Metaphorik, wie sie im Buche der Metaphorologie steht, als Übertragung eines Modells bemerkenswert, als Aussage über Wirklichkeit jedoch ein Glaubenssystem, weit entfernt von der allenthalben beanspruchten Rationalität. Als William Harvey mit der Tradition brach, war einer der Wortführer seiner Gegner ein gewisser Dr. Primerose, und es ist interessant, was dieser gegen das neue Körpermodell vorbringt, denn es sind keine physiologischen Argumente. Primerose begründete seine Bedenken, so Franz Josef Illhardt, »mit der Körper-Analogie: die Dominanz des Funktionalen würde jede Metaphorik des (menschlich-individuellen, des sozialen und des kosmischen) Körpers zerstören.«8 – Allerdings ist es überhaupt nicht banal, welche Metaphorik prädestiniert sein soll, Körperlichkeit abzubilden und wie dabei Übertragungen und Modellierungen vonstatten gehen sollen, ausgehend vom Blutkreislauf, weiter zum Körper des Königs, dann zum Etat, schließlich zur Volkswirtschaft und schlussendlich zum Leviathan, der seinerseits wiederum nichts weiter darstellt als einen Metabolismus von Staat und Gesellschaft mit Haupt und Gliedern. Wenn etwas auf dem Spiele steht, dann liegen stets auch die Metaphern miteinander im Hader; Auseinandersetzungen in der Ideenpolitik werden schlussendlich auf dieser Ebene entschieden. Das geschieht noch immer, obwohl die Systeme Luhmann zufolge geradezu autistisch gegeneinander abgeschottet sind und keines bereit sein soll, sich auch nur rudimentär auf die Codes und Differenzen des jeweils anderen Subsystems einzulassen, sei es nun Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft oder auch Religion. Dennoch lassen sich derzeit nicht nur Motive, sondern auch Modelle der Gleichschaltung beobachten; etwa wenn namhafte Vertreter der Wirtschaft vor Gericht stehen und sich grotesk in den Gesten vergreifen, wie unlängst der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, als er die Finger spreizte zum Siegeszeichen, wie weiland Winston Churchill und kürzlich Michael Jackson, der übrigens Thema und Anstoß gewesen sein soll. Die Geste ist dann auch als Zeichen übergekommen, wurde aber ganz anders gedeutet, das Medienecho war dementsprechend verheerend. 8. Franz-Josef Illhardt: Das Apriori des Körpers. Vergessene Perspektiven der Medizin. In: ders. (Hrsg.): Die Medizin und der Körper des Menschen; Bern 2001, 45–56, hier: 48. – Vgl. C. Hill: William Harvey and the Idea of Monarchy. In: Past & Present 27 (1964), 54–72.
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Es ist in der Tat bemerkenswert, wie sehr man sich offenbar seiner Macht bewusst ist und gar nicht mehr in der Lage zu sein scheint, überhaupt noch zu realisieren, dass man es mit einem völlig anderen durchaus autonomen Teilsystem der Gesellschaft zu tun hat; denn nach wie vor wird erwartet, dass Justitia die Augenbinde nicht ablegt und urteilt ohne Ansehen der Person. Genau dahin zielte aber eine zusätzliche Bemerkung des Chefs der Deutschen Bank, die nicht minder heftigen Unmut auslöste, als Ackermann hervorhob, Deutschland sei das einzige Land, wo diejenigen, die erfolgreich sind, deswegen vor Gericht stehen. Diese mangelnde Sensibilität passt sich dann auch recht mühelos ein in die unvergessene Bemerkung des ehemaligen Chefs der Deutschen Bank Hilmar Kopper, der, wohl um dem verehrten Publikum einmal die eigentlichen Dimensionen zu verdeutlichen, 50 Mio. Euro, Verluste der Deutschen Bank aufgrund der Pleite des Baulöwen Jürgen Schneider, als ›Peanuts‹ bezeichnete. Auf die arrogante grobe Spitze folgte gleichfalls ein Sturm der Entrüstung, allerdings bar jeder Einsicht. Inzwischen haben sich diese Distanzen weiter vergrößert, die Ungleichgewichte sind größer geworden, und gewachsen ist inzwischen ein eigentümlicher Narzissmus auf Seiten derer, die allen Ernstes zu glauben scheinen, durch vermeintliche wirtschaftliche ›Erfolge‹ in jeder Hinsicht gerechtfertigt zu sein. Man muss schon ein ausgesprochen argloses Verhältnis in Fragen des öffentlichen Auftretens haben, wenn man spaßeshalber das Siegeszeichen bemüht, und dann erst durch Berater auf den Fauxpas aufmerksam gemacht werden muss. »Ach’ du Schande …« soll er gesagt haben, als ihm bewusst wurde, was er da für ein Zeichen gesetzt hat; mit gewissem Recht könnte man allerdings auch konstatieren, das Zeichen habe sich gegen ihn gesetzt. Es sollte eigentlich erwartet werden, dass derart hochbezahlte Interessenvertreter ein adäquates öffentliches Verhalten an den Tag legen, es scheint aber so zu sein, dass man es nicht mehr wirklich für notwendig hält, zudem ist auch zu befürchten, dass sie, selbst wenn sie wollten, gar nicht mehr anders könnten, weil sie die Spielregeln der Diplomatie längst kaum noch beherrschen. Offenbar ist inzwischen ein Großteil eines Sinns für Angemessenheit verloren gegangen, der lange Zeit konstitutiv war auch für das Selbstverständnis der so genannten Eliten.9 So befanden sich in der Entourage von Ackermann nicht nur namhafte Rechtsanwälte, sondern auch weitere Berater, die, wie berichtet wurde, angeb9. Vgl. hierzu: Klaus Guenther: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt/M. 1988.
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lich den gesamten Auftritt im Gerichtssaal zuvor minutiös ausgearbeitet haben sollen, und wenigstens diese reagierten dann ihrerseits noch mit dem notwendigen Gespür – mit hellem Entsetzen. Infolgedessen wurde dann auch weiter gemeldet, Ackermann habe auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, kurze Zeit später, für seinen Auftritt vor dem Düsseldorfer Gericht keinerlei Applaus erhalten; es sei ohnehin schon schwierig genug geworden, sollen Stimmen gesagt haben, die namentlich nichts gesagt haben wollen. Es sei nochmals daran erinnert, dass die Würde des Gerichts nicht unmittelbar die Person des Richters meint, sondern den Richter als solchen, die Institution als solche, die doch bedeutende Aufgabe eines Gerichts und nicht zuletzt auch die Zeichen und die Symbole. Und hatte nicht seinerzeit auch Fritz Teufel sich vor dem Gericht erheben müssen und bei dieser Gelegenheit das Bonmot geprägt: ›Wenns der Wahrheitsfindung dient‹? Was anno 1967 für einen Fritz Teufel galt, sollte auch für einen Josef Ackermann gelten im Jahre 2004. Gleichwohl ist der Düsseldorfer Auftritt vor Gericht symptomatisch: Es macht sich in den Führungsetagen eine seltsame Weltfremdheit breit, man ist sich seiner Macht so sehr bewusst, dass offenbar nicht einmal mehr erwogen wird, welche Zeichen gesetzt werden. Man wird versucht, an eine der größten Schiffskatastrophen zu erinnern, um das Unglaubliche eines Vorgangs um die Führungsriege der Commerzbank ins Bild zu setzen: Als hätten auf der Titanic die Offiziere schon einmal vorsorglich – für sich – die Rettungsboote heruntergelassen und die Passagiere daran gehindert, diese zu benutzen. Aufgrund minutiöser Rekonstruktionen dieser Katastrophe kann mit Gewissheit davon ausgegangen werden, dass niemand unter den Offizieren sich seinerzeit so verhalten hat. Zu Beginn des Jahres 2003 aber hatte die Führungsetage der Commerzbank die eigenen Pensionsansprüche schon einmal vorsorglich gegen Insolvenz abgesichert, wohl auch, weil sie wussten, was dann kommen sollte, weil sie es selbst beschließen würden. Ein Jahr später wurde den eigenen Mitarbeitern unter Berufung auf wirtschaftliche Probleme eben diese Zusatzversorgung gekündigt. Man hat damit nicht nur ein fatales Zeichen des mangelnden Vertrauens der Führungskräfte in ihr eigenes Unternehmen gesetzt, als man schon mal exklusiv nur für die Führungsetage die Boote klar machte, man hat dann auch noch das Verhältnis zu den eigenen Mitarbeitern außerordentlich belastet, und glaubte sodann, die Angelegenheit durchstehen zu müssen, aus Gründen der Autorität, obwohl doch das Vertrauen in die sogenannten Führungsqualitäten solcher Offiziere ohnehin verloren sein dürfte.
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Tröstlich ist allerdings, dass derartige Begebenheiten längst bezeichnend beschrieben worden sind, bei Heinrich Heine: Sie sang das alte Entsagungslied, heißt es in seinem Wintermärchen. Dem Priesterbetrug von heute ähnlich zu Leibe zu rücken, würde allerdings eine ganz andere Auseinandersetzung erforderlich machen. Die Groß-Inquisitoren von heute heißen McKinsey oder Roland Berger und Nachahmer, man vertraut ihnen blind, und hört auf die Propheten dieser neuen Wirtschaftsreligion, man tut Buße und trägt die geforderten Opfer wie befohlen in die Kirchen des Wirtschaftliberalismus. Mit Heine aber lässt sich noch immer und wieder konstatieren: »Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn auch die Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein Und predigten öffentlich Wasser.«10 Es geht um Gerechtigkeit und daher nicht nur um diese an und für sich, sondern vor allem darum, dass gerade Recht und Gerechtigkeit selbst wieder zeichenhaft werden, dass sie selbst Anzeichen sein können dafür, dass etwas generell stimmt oder nicht stimmt. Hier liegt das eigentliche Problem. Wenn Platon ernsthaft erwägt, die Distanz zwischen drückender Armut und überbordendem Reichtum dürfe und solle nicht größer sein als das Vierfache, so geht es doch nicht um diese nun tatsächlich reichlich verschwindend geringe Differenz, hält man sich nur einen Augenblick die derzeit tatsächlich herrschenden Verhältnisse vor Augen. Letztlich geht es nicht darum, ob die selbstgenehmigten Apanagen, die man sich selbst im Anschluss an das vermutlich doch nur inszenierte Vodafone-Mannesmann-Übernahme-Dramolett gegenseitig zugebilligt hat, wie andere außerordentliche Erfolgsprämien und sonstige Zuwendungen im Sinne von Aristoteles verdient waren, so dass also jeglicher das Seine erhielt, oder ob sie eben ungerecht waren, fremdes Gut, zugesprochen und übereignet nicht nach dem Gesetz. Das alles mögen und werden die Gerichte entscheiden, und man wird wohl in seinem Vertrauen nicht enttäuscht werden, dass es dem Rechtssystem sehr wohl gelingt, beliebige Transaktionen und Transfers im Wirtschaftssystem zu rekonstruieren und auch juristisch abschließend bewerten zu können. 10. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg. v. H. Kaufmann, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin–Weimar 1972, 436.
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Das Problem mit der Gerechtigkeit spielt sich allerdings zugleich auch auf einer höheren, der eigentlich entscheidenden Ebene ab, es steht hier wie andernorts immer auch als Beispiel mit Zeichencharakter dafür, welche Idole eine Kultur in Ehren hält, und ob ihr die Vorbilder womöglich schlichtweg versagen. Das scheint bei uns inzwischen fast flächendeckend der Fall zu sein. Selten ist in einer Epoche so intensiv über Ethik nachgedacht und gesprochen worden, selten dürfte die Moral so verkommen gewesen sein wie in unserer Zeit. Wer heilt hat auch Recht, so lautet ein Grundsatz in der Medizin; analog scheint inzwischen der Grundsatz der Medien-Gesellschaft zu sein, wer Gewinn erzielt, hat Recht. Erste Wirkungen dieser neuen ethischen Bodenlosigkeiten lassen sich bereits beobachten, weil Erfolg fast alles noch zu rechtfertigen scheint, zumindest in den Augen allzu vieler, vor allem Jüngerer. Ein solches Versagen der Vorbilder ist ernst zu nehmen, denn es ist bereits das erste Anzeichen für den Beginn einer fatalen Entwicklung. Anlässlich der bevorstehenden Uraufführung des jüngsten Dramas von Rolf Hochhuth, ›McKinsey kommt‹, nahm Kerstin Decker in der Berliner Tageszeitung vom 28. Januar 2004 mit viel Ironie die mögliche weitere Entwicklung schon einmal vorweg. Sozialhilfeempfänger und McKinsey oder Josef Ackermann hätten nichts mehr miteinander zu tun, konstatierte Kerstin Decker; es sei sentimental, noch Gesetze machen zu wollen, die beide betreffen sollen, nur weil sie im selben Land leben.11 Die Waage der Justitia ist auch ein Messinstrument, um herauszubringen, ob mit unseren Verhältnissen womöglich etwas gänzlich nicht mehr stimmt; wenn ich den Ausdruck ›Suche‹ im Motto des Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie richtig ausdeute, wäre es wohl das, worauf es ankommen dürfte.
11. Kerstin Decker: Der überindividuelle Auftrag. In: Die Tageszeitung v. 28.01.2004, 11.
KURZBIOGRAPHIEN DER BEITRAGENDEN
Andreas Blank lehrt am Institut für Philosophie der Humboldt Universität zu Berlin; derzeit ist er Visiting Fellow am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas an der Tel Aviv University. Publikationen: Der logische Aufbau von Leibniz’ Metaphysik (Berlin–New York 2001) und Aufsätze zu Leibniz und Wittgenstein u. a. in Grazer Philosophische Studien, Philosophia, Studia Leibnitiana und British Journal for the History of Philosophy. Barbara Bleisch studierte Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaften in Zürich, Tübingen und Basel. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethik-Zentrum der Universität Zürich (Geschäftsleiterin des Nachdiplomstudiengangs »Master of Advanced Studies in Applied Ethics«). Publikation: Rezension von Thomas Pogge, »World Poverty and Human Rights«, in: Ethical Theory and Moral Practice 6 (2003). Christian Hiebaum, geb. 1969, Ao.Univ.-Prof. am Institut für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinformatik der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: nachpositivistische Rechtstheorie und egalitaristische politische Philosophie. Neuere Publikationen (Auswahl): »Gerechtigkeit und Identität: Richard Rortys Entzauberung der Moral«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), »Gleichheit als Eigenwert«, in: H. Pauer-Studer/H. Nagl-Docekal (Hg.), Freiheit, Gleichheit und Autonomie (Wien 2003), Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität (Berlin–New York 2004), »Rhetorizität und Validität«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beih.99 (2004) sowie »Recht-Schreiben: Über das Wahre, Schöne und Gute in der juristischen Begründung«, in: Juridikum 1/2004. Wolfgang Kersting, geb. 1946 in Osnabrück, Ordinarius für Philosophie an der Universität Kiel. Bücher (Auswahl): Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (1994), Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend (1997), Theorien der sozialen Gerechtigkeit (2000), John Rawls zur Einführung (22001), Thomas Hobbes zur Einführung (22002), Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral (2002), Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (32004), Kant über Recht (2004). Nikolaus Knoepffler, geb.1962 in Miltenberg, Studium der Philosophie und Theologie in Würzburg und Rom, 1998 Habilitation in München über ethische Fragen der Embryonenforschung, seit 2002 Professor für Angewandte Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Menschenwürde, Medizin-, Bio- und Wirtschaftsethik. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Forschung an menschlichen Embryonen. Was ist verantwortbar? (1999), Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle (MHg., 2000), Menschenwürde in der Bioethik (2004), Einführung in die Angewandte Ethik (MVerf., 2005) und Humanbiotechnologie als gesellschaftliche Herausforderung (MVerf., 2005).
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KURZBIOGRAPHIEN
Peter Koller, geb.1947, Studium der Rechtswissenschaften sowie der Philosophie mit Nebenfach Soziologie in Graz; 1985 Habilitation aus Rechts- und Sozialphilosophie sowie Rechtssoziologie. Gastprofessuren an der University of Minnesota, der Rutgers University in New Jersey und der Universität München; seit 1991 Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Universität Graz. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Neue Theorien des Sozialkontrakts (1987), Theorie des Rechts. Eine Einführung (21997), Aktuelle Fragen politischer Philosophie. Gerechtigkeit in Gesellschaft und Weltordnung (Hg., 1997), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart (Hg., 2001), Die globale Frage. Empirische Befunde und ethische Herausforderungen (Hg., 2004). Hans Kraml, geb.1950 in Linz (OÖ), Studium der Philosophie in München und Innsbruck, Theologie in Innsbruck. Ab 1976 Assistent für Philosophie an der Theologischen Fakultät Innsbruck. 1991 Habilitation für Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck. Schwerpunkte Sprachphilosophie, Handlungstheorie, Logik, Philosophie des Mittelalters. Edition von Texten zur Philosophie und Theologie des Mittelalters: Wilhelm de La Mare, Sentenzenkommentar (München 1989, 1995, 2001), Die Rede von Gott sprachkritisch rekonstruiert aus Sentenzenkommentaren (Innsbruck 1984), Johannes Duns Scotus, Über die Erkennbarkeit Gottes. Texte zur Philosophie und Theologie, gem. m. G. Leibold (Hamburg 2000), Wilhelm von Ockham, gem. m. G. Leibold (Münster 2003). Avishai Margalit, geb.1939 in Israel, Studium der Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Hebrew University in Jerusalem, an der er seit dem Doktorat (1970) lehrt, und zwar nunmehr als Schulman Professor of Philosophy; daneben zahlreiche Gastprofessuren an renommierten Universitäten in Europa und Amerika, im Sommer 2005 Tanner Lectures an der Stanford University. Mitbegründer von Peace Now. Bücher (Auswahl): Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (1997), Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen (22002), Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies (MVerf., 2004). Andreas Müller, geb. 1977, Studium der Christlichen Philosophie und der Rechtswissenschaften an den Universitäten Innsbruck und Straßburg. Forschung im Bereich des Völkerstrafrechts, insbesondere des Internationalen Strafgerichtshofes. Derzeit im Alternative Information Center in Jerusalem tätig. Heinz-Ulrich Nennen, geb. 1955. Privatdozent für Philosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe. Habilitation in Philosophie 2003, Cottbus und Düsseldorf. Promotion in Philosophie 1989, Münster. Forschungsinteressen: Hermeneutik, Rhetorik, Diskurstheorie, Anthropologie, Kulturphilosophie, Ästhetik, Sozialphilosophie, Ethik, Theorie der Moderne, Geschichtsphilosophie. Bücher: Ökologie im Diskurs (1991), Das Expertendilemma (1996), Energie und Ethik (1999), Diskurs. Begriff und Realisierung (2000), Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung (2003).
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Otto Neumaier, geb.1951 in Dornbirn, Studium der Philosophie und Germanistik in Innsbruck, seit 1980 am Institut für Philosophie (jetzt: FB Philosophie/KGW Fakultät) der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Ästhetik und Philosophische Anthropologie. Neuere Buchveröffentlichungen (Auswahl): Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie (Hg., 1994), Vom Ende der Kunst (1997), Anfang und Ende des Lebens (MHg., 1997), Applied Ethics in a Troubled World (MHg., 1998), Ästhetische Gegenstände (1999), Satz und Sachverhalt (Hg., 2001), Philosophie im Geiste Bolzanos (MHg., 2003) und Ist der Mensch das Maß aller Dinge? (Hg., 2004). Paul Nnodim studierte Philosophie in Rom und Mainz, wo er 2003 promovierte. Seit 2004 Assistant Professor am Massachusetts College of Liberal Arts, North Adams/MA. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Ethik und Deutscher Idealismus. Veröffentlichungen: Rawls' Theorie der Gerechtigkeit als angemessene moralische Grundlage für eine liberale demokratische Gesellschaft im globalen Kontext (Oberhausen 2004), »Public Reason as a Form of Normative and Political Justification: A Study on Rawls's Idea of Public Reason and Kant's Notion of the Use of Public Reason in ›What Is Enlightenment?‹«, in: South African Journal of Philosophy 23 (2004). Onora O’Neill, geb.1941. Studium der Philosophie, Psychologie und Physiologie in Oxford, Doktoratsstudium in Harvard bei John Rawls. Nach Lehrtätigkeit am Barnard College der Columbia University in New York 1977 Rückkehr nach England, wo sie an der University of Exeter eine Philosophieprofessur übernimmt; seit 1992 Rektorin des Newnham College in Cambridge, seit 1999 Baroness of Bengarve und Mitglied des House of Lords. Bücher (Auswahl): Faces of Hunger. An Essay on Poverty, Justice and Development (1986), Constructions of Reason. Explorations of Kant’s Practical Philosophy (1989), Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens (1996), Bounds of Justice (2000), Autonomy and Trust in Bioethics (2002) und A Question of Trust (2002). Miriam Ronzoni, geb. 1977 in Mailand, Studium der Philosophie in Mailand und Oxford sowie der Politikwissenschaft in Oxford. Derzeit Stipendiatin am St Peter’s College in Oxford. Bisher veröffentlichte Aufsätze: »Is the Personal Political?« (2003), »Husserl on Time« (2003) und »The Value of Civil Disobiedience as Political Practice« (2004). Gewinnerin mehrerer wissenschaftlicher Preise, darunter des Essay-Wettbewerbs der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. Michael Schefczyk, Studium der Philosophie (MA, Dr.) und Volkswirtschaftslehre (Dipl.Volksw.), derzeit Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Zürich, Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, philosophische Fragen der Sozialwissenschaften, insbesondere der Ökonomie. Bücher (Auwahl): Moral ohne Nutzen. Eine Apologie des Kantschen Formalismus (1995), Personen und Präferenzen (1998), Umverteilung als Legitimationsproblem (2004).
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Clemens Sedmak, geb.1971, Studien der Theologie, Philosophie, Sozialtheorie in Innsbruck sowie mehrere Postgraduierten-Studien; Habilitationen in Theologie (1999) und Philosophie (2000). Seit 2001 Univ.-Prof. (Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Religionswissenschaft) an der Kathol-Theol. Fakultät der Universität Salzburg. Neuere Bücher (Auswahl): Lokale Theologien und globale Kirche. Eine erkenntnistheoretische Grundlegung in praktischer Absicht (2000), Doing Local Theology. A Guide for Artisans of a New Humanity (2002), Erkennen und Verstehen. Grundkurs Erkenntnistheorie und Hermeneutik (2003), Kleine Verteidigung der Philosophie (2003) und Katholisches Lehramt und Philosophie. Eine Verhältnisbestimmung (2003). Markus S. Stepanians hat Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und Philosophie an der Harvard University (USA) studiert. Er lehrt seit 1998 am Philosophischen Institut der Universität des Saarlandes. Er ist der Autor von Frege und Husserl über Urteilen und Denken (mentis 1998) und Frege. Eine Einführung (Junius 2001) sowie Herausgeber von Individuelle Rechte (mentis 2005). Derzeit leitet er ein DFGProjekt über den »Begriff eines subjektiven Rechts«. Richard Sturn, geb.1956 in Bregenz. Studium der Volkswirtschaftslehre in Wien. 1988 Doktorat an der Universität Wien. Gastprofessur an der University of Minnesota, Minneapolis, USA. 1997 Professor am Institut für Finanzwissenschaft in Graz. 2004 Forschungsdekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Herausgeber des Jahrbuchs für normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik. Mitglied im Editorial Board des European Journal for the History of Economic Thought. Zahlreiche Publikationen u.a. zu Steuertheorie und Steuergerechtigkeit, zu Familienökonomie und Diskriminierung, zur Analyse von Verteilungsnormen und deren Implementation, sowie der Ideengeschichte. Ulrich Thiele studierte in Bochum und Heidelberg Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Habilitation in Frankfurt/M. (2001). Arbeitsschwerpunkte: Kritische Theorie, Philosophie des Deutschen Idealismus, politische Philosophie der Weimarer Zeit und Kommunitarismus-Debatte. Bücher (Auswahl): Distributive Gerechtigkeit und demokratischer Staat. Fichtes Rechtslehre von 1796 zwischen vorkantischem und kantischem Naturrecht (2002), Repräsentation und Autonomieprinzip. Kants Demokratiekritik und ihre Hintergründe (2003) und Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer »demokratischen« Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung (2003). Werner Wolbert, geb.1946, 1985–1989 Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Paderborn, seitdem Professor für Moraltheologie an der Universität Salzburg. Ehrendoktorat an der Theologischen Fakultät der Universität Uppsala. Bücher (Auswahl): Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der Menschenwürde in normativer Ethik und Metaethik, Münster 1987; Vom Nutzen der Gerechtigkeit. Zur Diskussion um Utilitarismus und teleologische Theorie, Freiburg i.Ue.–Freiburg i.Br. 1992; Du sollst nicht töten. Systematische Überlegungen zum Tötungsverbot, Freiburg i.Ue.–Freiburg i.Br. 2000.
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Michael Zichy, geb. 1975, Studium der Philosophie und Theologie in Salzburg (Mag. phil. 1997, Dr. phil. 2003), Projektassistent und Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg. Bisherige Veröffentlichungen: »Wahrheit im mittleren Werk Friedrich Nietzsches« (2000), »Tod des Subjekts? Eine theologische Herausforderung« (MVerf., 2001), »Neostrukturalismus und Theologie. Zwischenbericht einer Bestandsaufnahme« (2001), »...aber die Wahrheit ist sehr, sehr complizirt«. Der Begriff der Wahrheit im mittleren Werk Friedrich Nietzsches (2002).