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German Pages 282 [281] Year 2019
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 126
Hans-Martin Schönherr-Mann
Dekonstruktion als Gerechtigkeit Jacques Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie
© Titelbild: Gryffindor, 2006, Arkaden des Palais Royal in Paris. Hier befindet sich neben der Comédie-Française auch der von Napoleon I. gegründete Conseil d’État, der dem deutschen Bundesverwaltungsgericht ähnelt, aber auch politische Aufgaben hat. Eine solche Institution, die Macht und Recht verkörpert, aber auch die Idee der Gerechtigkeit symbolisiert, gibt es in dieser Form nur in Frankreich.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5875-3 (Print) ISBN 978-3-7489-0008-5 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Irmi
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.
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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Vorwort: Metaphysik statt Dekonstruktion!
Zuerst die frohe Botschaft für jene, die Derrida nicht schätzen: Im Folgenden han‐ delt es sich sprachlich um einen rhetorischen, inhaltlich um einen metaphysischen Text und keinesfalls um einen dekonstruktiven. Die apokalyptische Nachricht dagegen heißt: Der folgende Text eruiert immanent die Logik von Derridas politischem Denken, kritisiert es nicht primär als verspielt, sondern versucht es möglichst nachvollziehbar darzustellen, damit man sich jenseits der verbreiteten Animositäten rings um Jacques Derrida ein eigenes Bild machen kann. Es geht mir also nicht darum, Derrida Fehler über Fehler nachzuweisen, sondern ich versuche sein Denken als Ausdruck der Zeit darzustellen, das seine Epoche auf den Begriff bringt, wie es Hegel von der Philosophie fordert; als ein Denken, das theoretisch das politische Geschehen verständlich macht und zwar in einem ähnli‐ chen Sinn, wie John Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit schreibt; das politisch auch Stellung nimmt, und zwar auf der Seite der diversen Emanzipationsprozesse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich versuche also aus den Erzählungen apokrypher Geschichten, die nach Richard Rorty politisch irrelevant sein sollen, den staatstheoretischen und politikphilosophi‐ schen Kern herauszuschälen. Das wird den Freunden Derridas missfallen, denn je‐ denfalls methodisch stelle ich ihn nicht in seinem eigenen Sinn dar, sondern versu‐ che vielmehr den Sinn der Dekonstruktion mit Begriffen der politischen Philosophie – also im Sinn von Derrida metaphysisch – zu erfassen. Daher möchte ich nicht nur bestimmte Aspekte im Denken von Derrida verständ‐ lich machen: sein Rechtsverständnis, die Kritik am demokratischen wie am totalitä‐ ren Staat, der Anschluss an Marx und Nietzsche, seine politische Philosophie der Emanzipation sowie die Dekonstruktion als politische Ethik und als weit verbreitete alltägliche Haltung. Vielmehr versuche ich Derrida aus der Tradition der politischen Philosophie heraus zu verstehen, also im Hinblick auf die Antike, die Aufklärung sowie die moderne politische Philosophie von Carl Schmitt, Eric Voegelin, Leo Strauss, John Rawls, Jürgen Habermas, Michel Foucault etc. So folge ich Derrida nicht darin, dass Dekonstruktion verheißt, einer Angelegen‐ heit gerecht zu werden: Ich versuche ihm nicht dekonstruktiv gerecht zu werden, sein Denken also in seine Aporien hinein zu untersuchen. Vielmehr geht es mir darum, Ähnlichkeiten zwischen der Dekonstruktion und der politischen Philosophie aufzuzeigen, um Derrida verständlich zu machen, was ihm schwerlich gefallen könnte, wiewohl ich ihn dabei nicht selber zum Metaphysiker stempeln möchte.
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Von vornherein verhehle ich dabei nicht meine Sympathie mit den Gehalten des Derridaschen Denkens so wenig wie meine Antipathie gegenüber seiner weitschwei‐ fig ausufernden Argumentationsweise, also einem literarisch eigentlich schlechten philosophischen Stil, haben die meisten seiner Texte eine mündliche Ausdruckswei‐ se, die einfach leserunfreundlich ist. Danken darf ich an dieser Stelle als erstem Michael Löhr mit seiner scharfen Kri‐ tik an Derrida und besonders Michael Ruoff, Bernd Mayerhofer, Linda Sauer sowie allen Saloniennes im Philosophischen Rau(s)chsalons und den Teilnehmerinnen meines Doktorandenseminars für die vielen philosophischen Debatten. Außerdem für befruchtende Gespräche und Hilfen: Irmgard Wennrich, Theo Hug, Hans-Georg Pfarrer, Ulrike Popp, Bernhard Lienemann, Ulrich Weiß, Margit und Roland Jordan.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Derrida zwischen politischer und Sozialphilosophie
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I. Teil: Derridas Auseinandersetzung mit Benjamin und Schmitt 1. Kapitel: Gewalt als Grundlage von Recht und Staat 1. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt 2. Recht und mythische Gewalt 3. Anomalie und Ausnahmezustand: Gesetzeskraft 2. Kapitel: Staat und gewaltlose Gewalt 1. Gewaltlose göttliche Gewalt 2. Gewalt als Ausdruck des Lebens 3. Heilende Kreativität der Gewalt 3. Kapitel: Staatsverständnis und linguistische politische Philosophie 1. Die Performanz der Gewalt 2. Widerstreit oder Heiligkeit der Sprache 3. Ereignis oder Geschichte 4. Kapitel: Staat ohne Recht 1. Staat und Revolution 2. Die ‚Endlösung‘ 3. Die Signatur des Verwalters einer Ruine 5. Kapitel: Demokratie zwischen Recht und Gerechtigkeit 1. Die demokratische Politik des Ausnahmezustands 2. Derridas Antwort: Gerechtigkeit ohne Recht 3. Die Zukunft der Demokratie
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II. Teil: Zur Genealogie der Dekonstruktion 6. Kapitel: Von der Biographie zur Dekonstruktion 7. Kapitel: Différance und Dekonstruktion 1. Die Schrift als Ursprung der gesprochenen Sprache 2. Die Gewalt des Phono- und Logozentrismus 3. Die erweiternde Differenz 4. Dekonstruktion und politische Philosophie 5. Von der Schrift zum Programm und darüber hinaus
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III. Teil: Nationalismus, Marxismus und Emanzipation 8. Kapitel: Politik der Freundschaft? 1. Freundschaft als Bedingung der Demokratie 2. Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung
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3. Brüderlichkeit und Nationalismus 4. Nietzsches ‚neue Gerechtigkeit‘ und die Frauen 5. Freundschaft und Verantwortung 9. Kapitel: Von der Marxschen Sozialphilosophie zur Staatstheorie 1. Von Geschichte und Ökonomie zur politischen Philosophie 2. Marx‘ Denken als Wegbereitung der Dekonstruktion 3. Das Marxsche Erbe und die Gerechtigkeit ohne Recht 4. Das Marxsche Erbe und das Messianische 5. Emanzipation und kommende Demokratie
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IV. Teil: Gerechtigkeit als Dekonstruktion? 10. Kapitel: Staat und Wahrheit 1. Die performative Gewalt des besseren Arguments: Habermas 2. Der ‚mystische Grund‘ bei Pascal und Montaigne 3. Die mythische Nähe von Recht und Gerechtigkeit 11. Kapitel: Gerechtigkeit und Recht 1. Aporien der Sprache: Lyotard 2. Aporien der Verantwortung: Max Weber 3. Aporien der Regelanwendung: Kant und Schiller 4. Aporien der Entscheidung: Schmitt und Rawls 5. Aporien von Dringlichkeit und Wahrheit: Dworkin 6. Aporien von Wahn und Vernunft: Lévinas 12. Kapitel: Dekonstruktion als politische Philosophie 1. Dekonstruktion als Gerechtigkeit 2. Dekonstruktion und Emanzipation
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Nachwort: Die Frage und die Dekonstruktion
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Zitierte Literatur
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Personenregister
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Einleitung: Derrida zwischen politischer und Sozialphilosophie
Als politischer Philosoph gilt Jacques Derrida bis heute nicht gerade. Sein Frühwerk der sechziger Jahre ist dem Geist der Zeit entsprechend sprachphilosophisch orien‐ tiert. Er ergänzt die Sprachphilosophie, die avantgardistische Philosophie des 20. Jahrhunderts, um die Thematik der Schrift, die bis dahin kaum Beachtung fand – vielleicht seine größte Leistung. Der Dialektik als damaligem sozialphilosophischem Zeitgeist setzt er das Denken der Differenz entgegen, mit dem er an die Philosophie Heideggers anschließt. Nach Richard Rorty war sein „Vorhaben, tiefer zu gehen als Heidegger, auf der Suche nach etwas von derselben Art, wie es Heidegger finden wollte: Worte, die die Bedin‐ gungen der Möglichkeit aller früheren Theorien ausdrücken – aller Metaphysik und aller früheren, einschließlich Heideggers, Versuche, die Metaphysik durch Tief‐ schürfen zu unterhöhlen. So verstanden, will Derrida Heidegger unterlaufen, wie Heidegger Nietzsche unterlief.“ (1992, 204) In dieser Phase entwickelt er denn auch sein ebenfalls an Heidegger anschließen‐ des Konzept der Dekonstruktion, das in der Tat Karriere machen wird. Die Schriften der sechziger Jahre sind zwar äußerst schwierig, aber sie reihen sich damit ein in eine lange Tradition der Philosophie, die Derrida gleichzeitig fortsetzt, wie er sie hintergehen will. So sagt er 1966 in einem Vortrag: „es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir ver‐ fügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre.“ (1976 b, 425) Insofern steht er in der Tradition der Auf‐ klärung, in der man alle Arten der Metaphysik überwinden will, also alles spekulati‐ ve, idealistische, an der Tradition orientierte Denken, insbesondere jegliche Theolo‐ geme, aber auch Materialismus wie Empirismus. Ob ihm damit ein endgültiger Abschied von metaphysischen Strukturen gelungen ist, darüber darf man diskutieren, gehört es zum Habitus philosophischer Debatten in aufklärerischer Tradition, das jeweils zu bestreiten. Einen der härtesten Vorwürfe dieser Art formuliert Jürgen Habermas. Für ihn „kehrt freilich Derrida an jenen hi‐ storischen Ort zurück, wo einst Mystik in Aufklärung umgeschlagen ist.“ (1985, 218) Danach verlässt Derrida nicht nur den Pfad der Aufklärung, ja er kehrt sich wieder der Metaphysik zu, darf man die Mystik zu einer ihrer radikalen Spielarten zählen. Oder der Mystizismus kehrt mit Derrida in die Philosophie wieder ein. Und diese Umkehr geschieht dadurch, dass Derridas Kritik an der Metaphysik für Haber‐ mas zu fundamentalistisch und für das abendländische Denken zu selbstzerstörerisch ausfällt.
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Rorty sieht in Derrida keinen politischen Denker, sondern einen dessen Philoso‐ phie den Menschen bei der privaten Lebensgestaltung behilflich ist. Angesichts der Komplexität und Schwierigkeit der meisten obendrein aus- und weitschweifenden Texte von Derrida suchen bei ihm bestimmt nur wenig Rat in schwierigen Lebensla‐ gen. Seit den siebziger Jahren folgen unzählige kulturphilosophische Schriften, die pointiert Derridas sprachphilosophische Ansätze in unterschiedlichen Themenfel‐ dern abarbeiten. Er bleibt dieser Arbeitsweise bis zu seinem Tod weitgehend treu. Seine Texte weichen durchgängig von den üblichen Vorgehensweisen auf zumeist überraschende Art und Weise ab – was nicht unbedingt mystisch sein muss, zumin‐ dest aber mysteriös, aber sicherlich very sophisticated. Rorty kommentiert diese Schreibweise wohlwollend ironisch: „Der spätere Derrida privatisiert sein philoso‐ phisches Denken und (...) gibt die Theorie – den Versuch seine Vorgänger gleichmä‐ ßig und als Ganzes zu sehen – einfach auf zugunsten des freien Phantasierens über diese Vorgänger, zugunsten des spielerischen Umgangs mit ihnen; er lässt den Asso‐ ziationen, die sie hervorrufen, die Zügel schießen.“ (1992, 207) Damit verschärft Rorty seinen Vorwurf, dass Derridas Philosophie politisch irrelevant bzw. unbrauch‐ bar ist, dass sie eher der Literatur nahesteht. Andererseits wäre das wohl die einzig adäquate Antwort darauf, dass man der Metaphysik nicht entgeht. Jedenfalls – so scheint es zumindest und so haben es viele Intellektuelle gesehen – spielt Politik bei alledem im Werk von Derrida höchstens eine Nebenrolle, wo‐ möglich eine dubiose. Dann lässt er sich vor diesem Hintergrund kaum in die Tradi‐ tion der politischen Philosophie einordnen, der gerade alles Spielerische abgeht. Denn der erklärte politische Philosoph Leo Strauss konstatiert: „Das Thema der po‐ litischen Philosophie sind die großen Ziele der Menschheit, Freiheit und Regierung oder Herrschaft, Themen die fähig sind, alle Menschen aus ihrem ärmlichen Selbst zu erheben.“ (1959, 10) Eine Ferne Derridas zur politischen Philosophie erscheint auch aus einem anderen Grund wenig überraschend, da jenseits der antiken politischen Philosophie von Pla‐ ton und Aristoteles, die Strauss klassische politische Philosophie nennt, eine moder‐ ne politische Philosophie primär von konservativer Seite betrieben wird, der man im Lager des Poststrukturalismus und der postmodernen Philosophie sehr reserviert ge‐ genübersteht wie allen Formen des Traditionalismus, der Metaphysik, gar der Mys‐ tik. Denn postmodern gesprochen verlängert jeder Traditionalismus das metaphysi‐ sche Denken, dem man nicht mehr aufsitzen will: die zentrale Gemeinsamkeit der poststrukturalistischen oder postmodernen Denker aus Frankreich und Italien, wie‐ wohl sich Derrida davon dezidiert abgrenzt: „Ich betrachte mich weder als einen Poststrukturalisten noch als einen Postmodernisten.“ (2004 b, 42) Gemeinsam ist diesen Philosophen, dass sie dabei den Metaphysikvorwurf im Anschluss an Nietz‐
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sche und Heidegger auch auf Marxismus und Neopositivismus ausdehnen, während sie sich produktiv mit dem Strukturalismus auseinandersetzen, mit der Sprachphilo‐ sophie insbesondere derjenigen des späten Wittgensteins. Dabei entwerfen sie Dis‐ kurs- und Medientheorien, die nicht mehr den Menschen als mächtiges Subjekt in den Mittelpunkt stellen, die diesen vielmehr als Produkt von Medien bzw. Diskursen interpretieren. So bemerkt Derrida 1989: „Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wa‐ ren vor allem in Deutschland die Krisen, die das Radio in dem traditionellen Raum einer parlamentarischen Demokratie auszulösen vermochte, Anlass zu ernsthaften und gewichtigen Debatten.“ (1992 a, 89) Die primär konservative politische Philosophie verlängert dagegen nicht nur dezi‐ diert die Metaphysik. Sie schließt auch an das jüdisch christliche Denken an. So fragt Strauss nach dem guten Leben, für das die Politik Sorge zu tragen hat, ein gu‐ tes Leben, das im Anschluss an Platon die Entfaltung der jeweiligen individuellen Natur zur Aufgabe hat und damit in einen Ständestaat mündet, wird dieser auch libe‐ ral von einer repräsentativen Demokratie organisiert. Oder man sucht wie Eric Voegelin nach originären – letztlich transzendent beseel‐ ten – Ordnungsstrukturen in den historischen Konstellationen des Staates, um damit an den scholastischen Realismus des Thomas von Aquin anzuschließen. Er schreibt 1938: „In der politischen Gemeinschaft lebt der Mensch mit allen Zügen seines We‐ sens von den leiblichen bis zu den geistigen und religiösen.“ (Voegelin 1993, 63) Carl Schmitt geht es vor dem Hintergrund fortschreitender Parlamentarisierung und des politischen Niedergangs des Katholizismus um die Legitimation der Dikta‐ tur oder zumindest autoritärer Herrschaftsformen als Antwort auf die sozialen und liberalen Herausforderungen. Dabei schließt er an reaktionäre Ideologien des 19. Jahrhunderts an – man denke an Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald und Donoso Cortés. Bei allen dreien – was natürlich nicht für den nationalsozialistisch orientier‐ ten Schmitt gilt, sondern für den frühen – soll die Religion einem von der sozialen Frage wie der ökonomisch technischen Entwicklung überforderten Staat wieder Halt verleihen. So schreibt Schmitt über Joseph de Maistre: „Infallibilität ist für ihn das Wesen der inappellablen Entscheidung und die Unfehlbarkeit der geistlichen Ord‐ nung mit der Souveränität der staatlichen Ordnung wesensgleich; die beiden Worte Unfehlbarkeit und Souveränität sind ‚parfaitement synonymes‘.“ (Schmitt 2004, 60) Wenn man das als die Hauptströmung der modernen politischen Philosophie be‐ trachten darf, dann verwundert es nicht, dass man Derrida mit dieser nicht in Verbin‐ dung bringen kann, obgleich ihm Sozialphilosophen und Vertreter der analytischen Philosophie gerne eine mystische Neigung unterstellen. So bemerkt Susanne Lüde‐ mann 2011 über die Philosophie Derridas, dass „die Universitätsphilosophie und auch die politische Theorie sie entweder gar nicht zur Kenntnis nahmen oder ihr ab‐ lehnend bis feindselig gegenüberstanden (eine Lage, an der sich bis heute nicht viel geändert hat).“ (2011, 99) Oder man wirft ihr gar einen fatalen Relativismus vor, wie
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Wolfgang Kersting schreibt: „die Universalisten führen die Korrumpierung des Mo‐ ralbewusstseins in den Zeiten des Nationalsozialismus auf die Zerstörung des nor‐ mativen moralisch-politischen Universalismus durch Relativismus und Dezisionis‐ mus zurück und sahen ähnliche Gefährdungen im Trüben Kielwasser des dissensund eigensinnfreundlichen, Vernunft pluralisierenden Postmodernismus.“ (2002, 261) Dem konservativen Trend innerhalb der politischen Philosophie steht das aufklä‐ rerische liberale Denken von Locke, Rousseau und Kant gegenüber, das von Natur oder der Vernunft aus gegebene Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat geltend macht und diesen dadurch legitimiert sieht, wenn er diese Rechte sichert. Nach dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit im 19. Jahrhundert, das kaum noch auf Moral, son‐ dern lieber auf Gewalt setzt, erlebt der Liberalismus eine Neuauflage vor allem bei John Rawls, der solche individuellen Rechte nicht mehr naturrechtlich, sondern im Anschluss an Kant rational, d.h. logisch, entscheidungstheoretisch und konsequen‐ tialistisch rechtfertigt. Dem Liberalismus steht der Poststrukturalismus sicher näher als dem Konservativismus. Nur gilt und galt jener ja lange beinahe als der schlim‐ mere Erzfeind aller anderen politischen Lager und zwar als Verfechter eines wilden ungezügelten Kapitalismus, was im ‚Neoliberalismus‘ von Friedrich August von Hayek oder von Milton Friedman kulminiert. Rawls ist aber ähnlich wie Richard Rorty – der gelegentlich zur postmodernen Philosophie gezählt wird – ein Vertreter eines sozialen Liberalismus, der der Sozial‐ demokratie viel näher steht als einem Neoliberalismus. Rorty dagegen gibt der Sozi‐ aldemokratie bereits 1989 keine große Zukunft mehr, womit er Recht behalten soll‐ te: „Wer jetzt versucht, das sozialdemokratische Standardszenario von der Gleich‐ heit der Menschen, das unsere Großeltern um die Jahrhundertwende schrieben, auf den heutigen Stand zu bringen und neu zu schreiben, hat nicht viel Erfolg damit.“ (1992, 148) Hier lassen sich denn auch eher Verbindungen zwischen Liberalismus und Poststrukturalismus im Allgemeinen und Derrida im Besonderen ziehen. Auf der politisch oder philosophisch linken Seite, der man den Poststrukturalis‐ mus wie die Postmoderne eher zuschreiben kann, beschäftigt man sich in den letzten zwei Jahrhunderten wenig mit politischer Philosophie, die als Oberflächenphänomen erscheint. Es geht nicht darum, wie die Institutionen strukturiert sind und welche Ordnungsvorstellungen politisch durchgesetzt werden müssen, wie sich der Staat le‐ gitimiert. Man blickt nicht zentral auf Demokratie und Rechtstaat, die erst in den letzten Jahrzehnten mit den Grünen auch von links ernst genommen werden. Politik‐ philosophische Themen haben als solche betrachtet für Linke eher ideologischen Charakter. Stattdessen beschäftigt man sich im linken Spektrum mit Sozialphilosophie und Ökonomie, also mit der Grundstruktur der Gesellschaft oder auch mit deren materi‐ ellen Bedingungen, aus denen heraus man dann Perspektiven einer humaneren Ge‐
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sellschaft entwirft. Dergleichen tritt an die Stelle einer Anthropologie in der klassi‐ schen politischen Philosophie, einer religiösen Orientierung in deren moderner kon‐ servativer Variante, des Naturrechts im klassischen Liberalismus oder des Rationa‐ lismus im sozialen Liberalismus des 20. Jahrhunderts wie der Anthropologie in der analytischen Philosophie. So insistiert noch 2003 Ernst Tugendhat darauf „dass die Frage ‚Was sind wir als Menschen?‘ diejenige Frage ist, in der alle anderen philoso‐ phischen Fragen und Disziplinen ihren Grund haben.“ (2010, 34) Es darf daher nicht verwundern, dass man in der Sozialphilosophie entweder ge‐ wisse Neigungen zu gewaltsamen Gesellschaftsveränderungen findet. Oder es geht um Reformen auf der ökonomischen, bzw. der sozialstaatlichen Ebene. Die soziale Marktwirtschaft der fünfziger Jahre hätten damalige Sozialdemokraten und Gewerk‐ schaften gerne erheblich sozialistischer gestaltet. Heute gilt dieses Modell als Vor‐ bild, das man entweder beinahe gar nicht mehr zu erreichen vermag, oder von dem heute marxistisch orientierte Linke wie Slavoj Žižek, Paul Mason oder Wolfgang Streeck träumen, weil es der Neoliberalismus zerstört hätte. Doch der Poststrukturalismus, dem man Derrida getrost zurechnen darf, entwi‐ ckelte sich zwar aus den Themenfeldern solcher Sozialphilosophie heraus, stand er im Allgemeinen in Frankreich der gemäßigten Linken, also den Sozialisten nahe. Er verabschiedet sich indes von solchen sozialen und ökonomischen Grundlagen, weil er diese selbst als metaphysisch begreift. Derrida spricht vom Phallogozentrismus, womit er sowohl einen Bezug zu Freud wie zum Feminismus herstellt bzw. darauf verweist, dass die Metaphysik eine patriarchalische Perspektive entwickelt. „Derrida dekonstruiert nicht etwa nur den Binarismus von ‚Mann‘ und ‚Frau‘, sondern defi‐ niert im gleichen Zug sein Schreiben als ‚weiblich‘,“ was Derridas Philosophie, so Oliver Marchart, „erst (...) ihre herrschaftskritische Schärfe“ (2010, 272) verleiht. Jedenfalls bemerkt man in der Literatur eine deutliche Wende, schreibt Lüde‐ mann: „Seit dem Ende der 1980er Jahre hat sich Derrida verstärkt explizit politi‐ schen und ethischen Themen zugewandt.“ (2011, 97) Nicht erst in seiner Politik der Freundschaft aus dem Jahr 1994 entwickelt er einen differenzierten Blick auf die Struktur des Staates. In Marx‘ Gespenster von 1993 und dem 2002 daran anschlie‐ ßenden Text Marx & Sons, der auf Kritiken des ersteren reagiert, schließt er sein de‐ konstruktives Denken an das Marxsche Erbe an, wiewohl er dieses natürlich in an‐ dere theoretische Traditionen versetzt. Rückblickend schreibt er: „Ich versuchte da‐ mals, das phallogozentrische Gefälle dieser Metaphysik zu erkennen, das Erbe, das sie seit jeher mit der Frage nach dem Vater verbindet (deshalb ist mein Titel, Marx & Sons, alles andere als ein Witz).“ (2004 b, 96) Aber sein späterer politikphilosophischer Blick wird seine früheren Analysen nicht hinter sich lassen. Ja, Derrida insistiert ein Jahr vor seinem Tod explizit darauf, „dass es in den achtziger und neunziger Jahren niemals – wie es gelegentlich heißt – einen political turn oder ethical turn der ‚Dekonstruktion‘ gegeben hat, jedenfalls
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soweit ich sie erprobt habe. Das Denken des Politischen war immer ein Denken der différance, und das Denken der différance stets auch ein Denken des Politischen, (...).“ (2003 a, 63) Der Autor hat indes nun mal nicht die Macht, die Einschätzungen seiner Interpreten zu lenken. Da nützt es wenig daraufhin zu verweisen, dass Derrida bereits 1967 einleitend beiläufig konstatiert: „Jedes philosophische Colloquium hat notwendigerweise eine politische Bedeutung.“ (1988 b, 119) Denn vor allem waren es primär zwei Vorträge, die so originär wie konzentriert Derridas politische Philosophie beinhalten. Sie haben es politisch in sich und sie verändern die Interpretationsmöglichen seines Werkes nachhaltig, so dass ich im vorliegenden Text die These begründen möchte, dass man Derrida nicht nur am Ran‐ de der politischen Philosophie zurechnen darf, dass er vielmehr originär ein politi‐ scher Denker ist, der auch ein dezidiertes Verständnis vom Staat entwickelt, wie‐ wohl das primär für den späten Derrida gilt. Denn die beiden Vorträge von 1989 und 1990, die unter dem Titel Gesetzeskraft – Der ‚mystische Grund der Autorität‘, 1991 auf Deutsch erscheinen, konstituieren nicht nur Derridas Rechtsphilosophie, sondern enthalten auch sein Staatsverständnis. Giorgio Agamben bemerkt 2003 in seinem Buch über den Ausnahmezustand dazu: „Der Vortrag, der in Wahrheit eine Lektüre des Benjaminschen Essays Zur Kritik der Gewalt war, löste bei Philosophen wie Juristen eine breite Debatte aus. Dass unter letzteren niemand versucht hat, die titelgebende offensichtlich enigmatische Formel des Vortrags zu analysieren, zeigt nicht nur, dass die juristische der philosophischen Kultur völlig den Rücken gekehrt hat, sondern zeugt auch von ihrem Verfall.“ (2004, 47) Derridas Staatsverständnis findet sich in dem nicht weiter betitelten zweiten Vor‐ trag, auf den sich Agamben bezieht und den man daher als Grundlage des ersten be‐ trachten muss, der seinerseits der programmatische ist. Um diesen zu verstehen, ist es unabdingbar, dass man Derridas Ansatz der Dekonstruktion kennt, die im Mittel‐ punkt dieses ersten programmatischen Vortrags steht, im zweiten dagegen nur am Rande vorkommt, so dass man in den zweiten zunächst einführen muss, um die Per‐ spektiven auszuloten, zwischen denen sich das Derridasche politische Denken be‐ wegt und um damit Derridas politische Philosophie als zentrale Perspektive der De‐ konstruktion aufzuzeigen. Zwar lässt sich der erste Vortrag seinerseits als eine Erläuterung der Dekonstruk‐ tion lesen. Ja, er stellt sogar eine überraschend klare Einführung in die Dekonstrukti‐ on dar. Allerdings erfährt man die weiteren Dimensionen, die theoretische Herkunft der Dekonstruktion nur, wenn man sich mit deren Herkunft im Werk der sechziger Jahre auseinandersetzt. Daher leite ich systematisch zunächst Derridas politisches Denken mit der grund‐ legenden Auseinandersetzung mit Benjamin ein, woraus sich Derridas Staatsver‐ ständnis entwickelt. Die Erläuterungen zur Dekonstruktion begeben sich danach auf
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einen Abweg in die Biographie Derridas, der mir sowohl für die Herkunft wie auch die Systematik der Dekonstruktion hilfreich erscheint, um folgend auf die Dekon‐ struktion im Werk der sechziger Jahre einzugehen. Eine eigene Antwort, die in die Tiefen der politischen Philosophie führt, d.h. zu Schmitt, Platon und Aristoteles, leistet Derrida 1994 mit Politik der Freundschaft – ein Buch, das man als Herz der politischen Philosophie wie des Staatsverständnisses von Derrida betrachten kann. Anschließend beschäftige ich mich mit Derridas Aus‐ einandersetzung mit Marx, die sich auch inhaltlich aus Derridas Benjamin-Lektüre ergibt. Abschließend ist erst die Einführung in die Dekonstruktion als ein zentraler Begriff von Derridas politischer Philosophie möglich, in der der vorliegende Text gipfelt und der Dekonstruktion als Gerechtigkeit diskutiert, also eine Auseinander‐ setzung mit dem ersten Vortrag aus der Gesetzeskraft.
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I. Teil: Derridas Auseinandersetzung mit Benjamin und Schmitt
Beim zweiten Vortrag aus der Gesetzeskraft, der im April 1990 auf einem Kolloqui‐ um an der Universität von Kalifornien in Los Angeles unter dem Titel Nazism and the ‚Final Solution‘ gehalten wurde, handelt es sich um eine intensive Lektüre von Walter Benjamins äußerst komplexem und theoretisch scheinbar abwegigem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt aus dem Jahr 1921, der wiederum Carl Schmitt zur Konzepti‐ on des Ausnahmezustands in seiner Schrift Politische Theologie (1922) motivierte. Denn Benjamins Aufsatz erscheint 1921 im bis kurz zuvor noch von Max Weber mitherausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, das Carl Schmitt fleißig rezipierte. Ja, Derrida weist daraufhin: dieser Text „hat Benjamin un‐ mittelbar nach seiner Veröffentlichung einen Glückwunsch Carl Schmitts einge‐ bracht, einen Brief dieses großen konservativen, katholischen Juristen, der zu jener Zeit noch ein Konstitutionalist war (...).“ (1991, 67) Derrida verweist auch auf „des‐ sen seltsame Bekehrung zum Hitlerismus im Jahr 1933“ (1991, 67) und darauf, dass Schmitt sowohl mit Benjamin wie auch mit Heidegger korrespondierte. Am Anfang war also ein Abweg, der sich erst im Nachhinein zwielichtig verdunkeln wird. Nach Derrida reflektiert Benjamins Text die Krise der Demokratie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit angesichts eines pazifistischen Diskurses, der scheitert und den Benjamin mit diesem Text nachhaltig kritisiert. Zumindest virtuell – so Der‐ rida – lässt sich in diesem Text bereits die ‚Endlösung‘ erahnen: eine Unterstellung, die weitreichend erscheint, ist 1921 Mussolini auf dem Weg zur Macht, aber dort noch nicht angekommen, das Ausmaß der faschistischen Bewegungen folglich noch gar nicht absehbar. Eher schien sich nach dem Kapp-Putsch 1920 die Demokratie in Deutschland etwas zu festigen. Für eine solche spekulative Perspektive von Verbindungslinien zwischen Benja‐ mins Text und der ‚Endlösung‘ spricht allerdings der damals seit Jahrzehnten gras‐ sierende Antisemitismus, der wesentlich zur Entstehung des Zionismus beitrug, als sich das europäische Judentum, speziell das deutsche zunehmend an den Rand ge‐ drängt sah und nach Auswegen aus einer unerträglichen Situation suchte. So schließt sich 1900 Martin Buber dem Zionismus an und wenig später auch Benjamins Freund Gershom Scholem, der 1923 nach Palästina auswandert. Bereits 1908 in der zweiten Alija, der zweiten Einwanderungswelle emigrierte beispielsweise der spätere Nobel‐ preisträger Samuel Josef Agnon, ein Freund Scholems, die beide mit ihrem Denken Benjamins Text just an einer Stelle erhellen, die auch für Derridas Verbindungslinie zur ‚Endlösung‘ relevant ist, begegneten sich Benjamin, Scholem und Agnon wäh‐ rend des Kriegs in Berlin.
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Nicht allein ob solcher traumatischen Bezüge ist dieser Text Benjamins von äu‐ ßerster Brisanz für das politische Denken, obwohl er weder in der politischen Philo‐ sophie noch in der Benjamin-Rezeption eine große Rolle spielt, vermutlich nicht zu‐ letzt ob seiner Komplexität wie auch seiner seltsam politiktheoretischen, geschichts‐ philosophischen aber auch theologischen Implikationen. Daher passt er auch nicht in den primär kulturphilosophischen Trend von Benjamins späteren Werken, entwickelt er vielmehr eine rechtsphilosophische Theorie der Revolution, die sich um Ökono‐ mie wenig schert, und die gerade daher in der sozialphilosophisch orientierten Lin‐ ken schwer nachzuvollziehen ist, wo man zudem mit einer theologischen Implikati‐ on der Revolutionstheorie noch weniger anzufangen weiß. Zudem erweist sich diese Implikation als wenig schmeichelhaft für ein Denken, dass sich an einer Gesellschaftsveränderung beteiligen möchte, gar einer revolutio‐ nären Beifall klatscht. Denn in der Bemühung Marx‘ Revolutionstheorie juristisch zu unterfüttern, dekonstruiert Benjamin dieselbe mehr aus Versehen, aber trickreich. Derrida ist jedenfalls der Auffassung: „Mit einigem Arbeitsaufwand und unter Be‐ rücksichtigung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen kann man 1989 in den westlichen Demokratien noch Lehrreiches daraus folgern“ (1991, 68), also aus Benjamins Zur Kritik der Gewalt.
1. Kapitel: Gewalt als Grundlage von Recht und Staat In den Zeiten um 1900, als man Gewalt weitgehend als ein legitimes Mittel der Poli‐ tik betrachtete, beschied sich der Diskurs über Gewalt zumeist auf die Frage, inwie‐ weit Gewalt das angemessene Mittel für einen bestimmten Zweck ist. Aber darauf will sich Benjamin nicht beschränken, geht es ihm nach Derrida vielmehr darum, „dass die Frage, ob die Gewalt ein Mittel zu einem (gerechten oder ungerechten) Zweck sein kann, uns bereits daran hindert, die Gewalt selber zu beurteilen, über sie selbst ein Urteil zu sprechen.“ (1991, 70) Dagegen setzt Marx‘ Theorie der Revoluti‐ on die Gewalt als selbstverständlich voraus und kritisiert sie nicht, es sei denn als Gewalt, die von den herrschenden Klassen ausgeht. Benjamin betrachtet aber nicht die ökonomischen Voraussetzungen revolutionärer Gewalt, sondern die rechtlichen. Zunächst stellt Benjamin fest – dem Marxismus anscheinend nicht so fern –, dass jedes Recht, somit der Staat, auf Gewalt beruht. Daher beginnt er seinen Text mit den fast harmlos klingenden Worten, die indes noch fleißig nachhallen werden: „zur Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes wird eine wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche Verhältnisse eingreift. Die Sphäre dieser Verhältnisse wird durch die Begriffe Recht und Gerechtigkeit bezeichnet.“ (1965, 29) Derrida kommentiert das mit den Worten: „Der Begriff der Gewalt gehört der symbolischen Ordnung des Rechts, der Politik und des Sittlichen an. Allein in dieser Hinsicht kann
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er einer Kritik stattgeben.“ (1991, 70) Das Problem der Gewalt setzt überhaupt eine Rechtsordnung voraus, innerhalb derer man von Gewalt sprechen kann.
1. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt Im Naturzustand gibt es folglich keine Gewalt. Wenn der Löwe die Antilope frisst, dann ist das keine Gewalt bzw. so absurd das auch klingen mag, eine Gewalt, die jedenfalls nicht gewalttätig ist, sondern verglichen damit gewaltlos. Dass es im staatsfreien Raum keine Gewalt gibt, hat auch schon Thomas Hobbes bemerkt: „Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Unge‐ rechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören weder zu den körperlichen noch zu den geistigen Tugenden.“ (1984, 98) Zudem problematisiert Derrida 1964, im zentralen Aufsatz über Emmanuel Lé‐ vinas aus Die Schrift und die Differenz bereits das Verhältnis von vorsittlichen und sittlichen Bedingungen auf ähnliche Weise. Nach Lévinas, an den Derrida sowohl im Hinblick auf die Ethik wie auch der politischen Philosophie anschließt, verdankt sich der ethische Diskurs einer unhintergehbaren Begegnung mit dem Anderen, da‐ mit einer Notwendigkeit, „der sich kein Diskurs von frühestem Anbeginn entziehen kann,“ (1976 a,195) die damit – das betont Derrida – einen irreduziblen Zwang aus‐ übt, der immer schon quasi a priori vorgegeben ist; „diese Notwendigkeit ist die Ge‐ walt selbst oder vielmehr der transzendentale Ursprung einer irreduziblen Gewalt,“ (1976 a,195) die der Andere auf mich ausübt, wenn er mich in die Verantwortung ruft. Das ist für Derrida nur der Fall, „vorausgesetzt, es hat (...) irgendwelchen Sinn, von vorethischer Gewalt zu sprechen. Denn dieser transzendentale Ursprung als die irreduzible Gewalt des Bezugs zum Anderen ist zugleich Gewaltlosigkeit, da er den Bezug zum anderen eröffnet.“ (1976 a,195) Dann wäre eine ursprüngliche ethische Gewalt aber nicht nur gewaltlos, weil sie vor allen ethischen Umständen stattfindet, sondern weil sich dabei der Andere als Anderer konstituiert, indem dieser nach Lévinas Verantwortung und Freiheit glei‐ chermaßen einsetzt und zwar als eine ethische Gewalt, eine Aufforderung, der man sich nicht entziehen kann. So bemerkt auch Judith Butler: „Ethische Systeme oder Moralcodes, die von der Selbsttransparenz des Subjekts ausgehen oder die uns die Verantwortung für eine uneingeschränkt Selbsterkenntnis zuschreiben, neigen dazu, fehlbaren Geschöpfen eine Art ‚ethischer Gewalt‘ anzutun.“ (2003, 10) Also selbst die Ethik von Lévinas, auf die sich Derrida bezieht, entgeht der Gewaltproblematik nicht.
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Damit stellt sich erstens die Frage: Wann ist Gewalt legitim? Ist sie dann nicht gewalttätig? Wäre sie dann gar gewaltlos? Und zweitens: gibt es eine Gewalt, die mit dem Naturzustand verglichen werden kann und dann als gewaltlos qualifiziert werden dürfte? Denn es geht Benjamin in unruhigen Zeiten um eine revolutionäre Gewalt die das Gewaltmonopol des Staates angreift. Just dabei zeigt sich, dass sich der Staat primär auf Gewalt stützt, auch wenn das die Institutionen der Demokratie gemeinhin ver‐ schleiern oder zumindest zu rationalisieren versuchen, d.h. sie bemühen sich darum, diese Gewalt scheinbar in den Dienst der Bevölkerung zu stellen – man denke an den Sozialstaat. Mit dem Gewaltmonopol beansprucht der Staat, dass er sich allein der Gewalt bedienen darf, seine Gewalt also als einzige legitim ist, während die re‐ volutionäre illegitim erscheint. Grundsätzlich geht es dabei dem Recht – so Derrida – um den Selbsterhalt: „Dieses Monopol tendiert nicht dazu, diesen oder jenen Rechtzweck in Schutz zu nehmen, sondern dazu, das Recht selber zu beschützen.“ (1991, 73) Das Gewaltmonopol stellt also primär keine innere Sicherheit her, wie es Hobbes unterstellt. Vielmehr sichert sich das Gewaltmonopol nach Derrida primär selbst ab. Es gibt zwar auch gewaltlosen Umgang der Menschen miteinander primär in der privaten Kommunikation. Auf der politischen Ebene geht es Parlament, Diplomatie oder Schiedsgerichten ebenfalls um eine gewaltlose Vermittlung. Gerade im Recht spielt diese Gewaltlosigkeit jedoch keine Rolle. Selbst ein zivilrechtlicher Vertrag, den Privatleute miteinander schließen, erhält seine bindende Kraft durch die Andro‐ hung von staatlicher Gewalt, ist also keinesfalls so gewaltfrei, wie er sich präsentiert und von den Betroffenen zumeist verstanden wird. Dass der Staat mit Gerichtsvoll‐ ziehern zur Not nachhilft, wird gemeinhin nicht als Gewaltanwendung verstanden, ist aber letztlich nichts anderes. Auch im Hinblick auf eine Theorie revolutionärer Gewalt unterscheidet Benjamin zwischen rechtserhaltender und rechtsetzender Gewalt. Wird ein Staat neu aufge‐ baut, beispielsweise nach einer Revolution, einem verlorenen Krieg und inneren Wirren, operieren die dabei tätigen Gewalten rechtsetzend. Dagegen bemühen sich in einem Staat die jeweilig zuständigen Institutionen darum, das bestehende Recht zu erhalten. Zur rechtsetzenden Gewalt zählt Benjamin trotzdem unter anderem die Polizei, der man gemeinhin die Rechtserhaltung zuschreibt – heute würde man vor allem an die Geheimdienste denken, die rechtsetzend wirken. Die Polizei, so Derri‐ da, „begnügt sich gegenwärtig nicht mehr damit, das Gesetz anzuwenden und folg‐ lich zu erhalten; sie erfindet es, sie lässt Erlasse ergehen, sie greift jedes Mal ein, wenn die gesetzliche Lage nicht eindeutig ist, mit der Absicht, die Sicherheit zu ga‐ rantieren. Heute geschieht dies beinahe ununterbrochen.“ (1991, 90) Die Frage der Rechtsetzung hat also nicht nur mit revolutionärer Gewalt zu tun, sondern bestimmt
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die internen staatlichen Institutionen. Dann erscheint rechtsetzende Gewalt auch in‐ nerstaatlich als legitim. Aber lassen sich beide Formen der Gewalt so sauber trennen, wie Benjamin das in der Tat versucht? Derrida bezweifelt das. Auch jede rechtserhaltende Gewalt ver‐ ändert unmerklich das Recht, wird die rechtsetzende Gewalt von der rechtserhalten‐ den sogar repräsentiert. Ergo wandelt sich der Staat aus sich selbst heraus – jenseits der reinen Legislative, die ja innerhalb eines bestehenden Staates eine rechtsetzende Funktion ausübt, die sich folglich nicht allein auf die Stiftung des Staates be‐ schränkt. Derrida möchte verdeutlichen, „dass die ‚rechtsetzende Gewalt‘ eine ‚rechtserhaltende Gewalt‘ in sich bergen muss und sich nicht von ihr loslösen kann. Es gehört zur Struktur der (be)gründenden Gewalt, dass sie eine Wiederholung ihrer selbst erfordert, dass sie jenes (be)gründet, was erhalten werden und erhaltbar sein muss (...).“ (1991, 83) Die rechtserhaltende Gewalt konstituiert und realisiert sich durch ständige Wiederholungen, sie existiert nicht in einer vermeintlichen Präsenz. Damit distanziert sich Derrida vom traditionellen Verständnis in der politischen Philosophie, dass Geltung von Recht und Gesetz ein permanenter Zustand ist. Denn im Sinn einer platonisch essentialistischen Interpretation, die dauerhafte Entitäten unterstellt, existiert ein geltendes Recht ununterbrochen. Aber faktisch greift es im‐ mer nur punktuell ein, wenn es einen Verstoß bemerkt und selbst dann nicht immer. Rechtsgeltung heißt dann nicht Permanenz, sondern die Wiederholung von rechtli‐ chen Eingriffen, die punktuelle Rechtsanwendung, die platonisch essentialistisch in‐ terpretiert eine Art wesenhafte Dauer suggeriert. Aber beobachtbar bleiben nur Wie‐ derholungen. Damit verschiebt Derrida die politische Philosophie und verleiht ihr eine neue Perspektive. Auch die rechtsetzende Gewalt beschränkt sich niemals auf einen einzelnen Akt – obwohl man sich das traditionalistisch gerne als einen einzelnen, beispielsweise göttlichen Eingriff vorstellt, wenn Moses die Gebote erhält, die von da an bis in alle Ewigkeit permanent und dauerhaft quasi im Himmel der Ideen gelten sollen. Doch so selbstverständlich funktioniert kein Recht, das durchgesetzt und wieder‐ holt, also erhalten werden muss. Bereits das Volk Israel brauchte als Führer einen Propheten, der die göttliche Lenkung und damit die Anwendung der Gesetze ermög‐ licht, d.h. wiederholt. Das Christentum bedient sich dazu in der Trinitätslehre der hintergründig die Welt lenkenden Hand durch den heiligen Geist, so dass sich die göttliche Ordnung auf der Welt langsam durchsetzt. Allerdings soll sich dadurch im‐ mer schon eine Form der Dauerpräsenz entfalten, die zumindest die religiös Erleuch‐ teten wahrnehmen. Die für die Rechtsetzung notwendige Wiederholung einer rechtsetzenden Gewalt beherbergt umgekehrt ein Moment von rechtserhaltender Gewalt. „Das Recht“ – so Derrida – „hat ein Interesse daran, sich selber zu setzen und zu erhalten; es ist daran interessiert, das Interesse, das es ja gerade – und zu Recht – repräsentiert, seinerseits
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zu repräsentieren.“ (1991, 73) Dem Recht eignen also zwei Dynamiken, die es be‐ wegen, nämlich die des Interesses und die der Repräsentation. Dabei dient letztere ersterer, hebt diese aber weitgehend in sich auf. In der Repräsentation siedelt denn auch ein Moment, das das Element der Gewalt verbergen soll. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt spielen auch bei Benjamin zusam‐ men. So bestätigt sich Derridas Behauptung, dass diese Unterscheidung nicht so strikt durchzuführen ist, wie Benjamin unterstellt, vor allem wenn man den plato‐ nisch essentialistischen Standpunkt vermeiden will und Geltung wie Setzung als Wiederholungsakte interpretiert. Daher bemerkt Derrida: „Die Setzung ist bereits Iterabilität, Ruf nach einer selbsterhaltenden Wiederholung. Die Erhaltung verhält sich ihrerseits wieder-gründend, um jenes erhalten zu können, was sie zu (be)grün‐ den beansprucht.“ (1991, 83) Die Gewalt bleibt beiden inhärent und damit unter‐ scheiden sie sich vom Mainstream der politischen Philosophie, die Gewalt nicht als solche begreift. „Es besteht“, sagt Derrida weiter, „also kein strenger Gegensatz zwi‐ schen der Setzung und der Erhaltung;“ (1991, 83) Selbst die Setzung ist kein singu‐ lärer bzw. einmaliger Akt, sondern ein sich wiederholender, Schritt für Schritt, also Iterabilität. Sonst wäre das gerade gesetzte Recht ja sofort wieder verschwunden, wenn man diesem jene essentialistische Dauergeltung abspricht. Die Setzung verlangt nach Bestand, der nicht einfach dadurch hergestellt ist, dass ein Gesetz in Kraft gesetzt, ihm dadurch Geltung verschafft wird. Den Bestand einer Rechtsetzung zu gewährleisten, gelingt nämlich nur dadurch, dass sich die Setzung wiederholt, was damit bereits als Erhaltung verstanden werden kann, nämlich die Wiederholung der Setzung als Erhaltung, so dass sich schon aus dieser Perspektive beide nur schwierig voneinander abgrenzen lassen. Und auch die rechtserhaltende Gewalt operiert implizit mit der Setzung, wenn sie nämlich aus Wiederholungen besteht, die ihrerseits nicht immer dieselben sein kön‐ nen. Eine Wiederholung vermag mit dem Wiederholten nicht identisch zu sein. Die minimalste Differenz liegt bereits in der zeitlichen Abfolge. Die Wiederholung ist nicht gleichzeitig mit dem Wiederholten. Und wenn könnte sie nicht am selben Ort sein, sonst wären sie identisch und keine Wiederholung, entstünde hierbei nicht mal die Frage nach dem Original, das ja dann nur noch wiederholt würde. Zudem lässt sich schwerlich etwas finden, was man als absolute Kopie unterstellen könnte – man denke an den berühmten Satz des Heraklit: „Wenn man auch in denselben Fluss steigt, strömen doch immer wieder andere Wasserfluten zu.“ (1956, Nr. 93, 111) Kein Prozess gleicht einem anderen, es sei denn man sieht nicht genau genug hin. Diese prozessuale Vielfalt lässt sich mit dem Lebenswelt-Begriff verbinden, den Edmund Husserl in den dreißiger Jahren übernimmt und der seither Karriere machte. Das erläutert Helmut Reinalter: „Sowohl Habermas als auch Michel Foucault führen Motive der Kritischen Theorie weiter, Jacques Derrida Motive Heideggers, und bei‐ de Richtungen sind der Lebenswelt-Konzeption Edmund Husserls stark verpflich‐
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tet.“ (2016, 82) Für Hans Blumenberg geht es dagegen Husserls Phänomenologie darum, das Selbstverständliche verständlich zu machen, weshalb es dabei um einzel‐ ne Dinge geht. Die Lebenswelt aber stellt das Ganze der Selbstverständlichkeiten dar, das sich als solches nun mal nicht erfassen lässt. So schreibt Blumenberg: „Arg‐ los auch hat Husserl (...) das Attribut der Alltäglichkeit zu dem der Selbstverständ‐ lichkeit hinzugenommen und der Lebenswelt erteilt.“ (2010, 107) Lebenswelt kann man allerdings auch als Zusammensetzung einzelner Prozesse verstehen, wie es et‐ wa der Begründer des Pragmatismus William James mit seiner pluralistischen Philo‐ sophie des „Und“-noch-etwas entwirft: „Die Dinge sind ‚mit’einander in vielen Wei‐ sen verknüpft,“ schreibt James 1909, „aber es gibt keines, das alles umschlösse oder alle anderen vollkommen beherrschte.“ (1994, 208) Dann entspricht Lebenswelt dem, was Derrida mit Differenz, Iteration und Wiederholung skizziert. Den Unterschied zwischen Wiederholungen erläutert Derrida am Beispiel eines in der Schreibweise leicht veränderten Wortes der Differenz, was im Französischen keinen phonetischen Unterschied ergibt. So spricht Derrida: „es gibt allein das, was ich als differantielle (différantielle) Kontamination, die zwischen Setzung und Erhal‐ tung sich ereignet, bezeichnen möchte (...).“ (1991, 83) Daher verschiebt sich in der Wiederholung das Erhaltene wie das Gesetzte, entstehen zwischen den Wiederho‐ lungen Differenzen. Schon 1967 in seinem Hauptwerk, der Grammatologie hat Der‐ rida das französische Wort différence an Stelle des zweiten „e“ durch ein „a“ als dif‐ férance orthographisch verändert, womit er nicht nur einen Unterschied, sondern auch eine Verschiebung des Sinns markiert. Derrida schreibt: „Dieser ökonomische Begriff bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne des Wortes .“ (1983, 44) In diesem differentiallen Sinn – also aufschiebend und differierend, also einen Unterschied markierend, der sich doch so aufschiebt, also verschiebt, dass der Unterschied wie‐ derum verschwimmt, d.h. nicht immer gleich bleibt – kontaminieren sich Rechtset‐ zung und Rechtserhaltung gegenseitig, ist Rechtsetzung gleichzeitig in der Wieder‐ holung auch Rechtserhaltung und diese erlebt ebenfalls in der Wiederholung ein Moment der Rechtsetzung, weil in der Wiederholung immer eine Verschiebung statt‐ findet. Das Verhältnis ist viel komplexer, als dass es sich durch zwei Begriffe einfach be‐ schreiben ließe, gibt sich Derrida mit der Benjaminschen Unterscheidung nicht zu‐ frieden, traut er den Begriffen einfach nicht, die er nicht als Repräsentanten eines festgelegten Gehalts betrachtet, sondern sie vom Gebrauch abhängig macht: das ge‐ hört zu seinem Programm, das er seit den sechziger Jahren entwickelt. Derrida bringt folglich Aufschub und Verschiebung nicht nur in den Begriff der Differenz ein, sondern damit auch in die politische Philosophie als Grundpfeiler eines verän‐ derten politischen Denkens.
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Diesen Aspekt der gegenseitigen Verschmutzung, der Verschiebung, des Ineinan‐ derschiebens, also einer Differenz, die sich ständig wandelt, hat Benjamin in der Tat nicht beachtet. Ihm geht es um die Rechtsetzung, die er daher von der Rechtserhal‐ tung deutlich abgrenzt. Benjamin ist noch ein Denker von Einheiten, die durch Dif‐ ferenzen getrennt werden, wiewohl er sich auch nicht mehr mit den klassischen Dif‐ ferenzierungen zufrieden gibt. Derrida als Vertreter einer immer diffiziler und kom‐ plexer werdenden Differenz analysiert diese just an den Stellen, wo die Differenz unscharf wird, wo sie sich verschiebt, die Differenzen also verschwimmen, wo man diesen daher umso genauer nachspüren muss. Denn die Differenzen lösen sich da‐ durch keineswegs auf. Vor allem aber wiederholt Derrida mit dieser Ineinanderverschiebung von Recht‐ setzung und Rechtserhaltung, dass Recht auf welche Weise auch immer auf Gewalt beruht, dass das Recht der Gewalt nicht entgeht, was sich nicht durch eine Trennung der beiden Gewaltformen wie bei Benjamin mildern lässt. Das wäre auch keines‐ wegs Benjamins Intention gewesen. Denn Rechtsetzung beruht immer auf Gewalt, die sich selbst nur durch ihren Akt legitimiert und auf keine weitere Legitimation verweisen kann. Rechtserhaltung entgeht dieser Gewalt ob der sich verschiebenden Wiederholung ebenfalls nicht. Auch sie stützt sich auf Gewalt, die sich nicht aus dem Recht selbst heraus legitimiert. Derrida stellt dazu eine überraschende Frage: „Ist indes die Tautologie nicht die phänomenale Struktur einer bestimmten Gewalt des Rechts, das sich selbst setzt, in‐ dem es dekretiert, dass all jenes gewaltsam (ungesetzlich, dem Gesetz äußerlich) ist, was es nicht anerkennt?“ (1991, 73) Das Recht operiert insofern tautologisch, wie Recht ist, was Recht setzt und sich selbst betrachtet das Recht nicht als Gewalt, son‐ dern alles andere, was ihm äußerlich ist: Die Gewalt ist außerhalb des Rechts, sagt das Recht. Es geht von den Menschen aus, ob als einzelne oder als Gruppen, die Ge‐ setze brechen oder das Recht insgesamt herausfordern. Das sind die Gewalttäter, nicht das Recht, die Demonstranten, nicht die Polizei. Denn die Gewalt der Gewalt‐ täter verstößt gegen das Recht, ist somit nicht berechtigt, während die Gewalt des Rechts das Recht erhält und somit berechtigt ist. Das wird zwar von Demonstranten häufig in Frage gestellt und manchmal verliert auch die Polizei einen Prozess. An der Grundkonstellation ändert das aber nichts. So bilden für Derrida „performative Tautologie oder Synthese a priori (...) die Struktur einer Gesetzesgrundlegung (...)“. (1991, 73) Den Begriff der Performanz hat John Austin eingeführt. Er schreibt 1962: „Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar sage ‚Ja‘, dann berichte ich nicht, dass ich die Ehe schließe; ich schließe sie.“ (1972, 27) Derart soll Performanz bedeuten, „dass jemand, der eine solche Äuße‐ rung tut, damit eine Handlung vollzieht – man fasst die Äußerung gewöhnlich nicht einfach als bloßes Sagen auf.“ (1972, 27) In der Sprachphilosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet sich die Auffassung, dass Sprechen nicht fol‐
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genlos verhallt, sondern selber ein Handeln darstellt. Dem kann allerdings Burkhard Liebsch entgegenhalten: „Platon weiß (...) längst, dass Worte Taten sind (was angeb‐ lich erst Wittgenstein und Austin deutlich gesehen haben) und dass man mit Worten Gewalt ausüben kann (...).“ (2015, 69) Aber den technischen wie den militärischen Handlungsbegriff der Moderne kannte Platon noch nicht. Dieser aber hatte Sprechen als Handeln weitgehend verdrängt. So schildert Sartre 1948 in seinem Drama Die schmutzigen Hände noch jene Ein‐ stellung, die nur Gewalt als Handeln akzeptiert, nicht aber die Herstellung der Par‐ teizeitung: „du musst mir helfen (...) Louis zu überzeugen, dass er mir einen Auftrag geben soll. Ich bin es satt, maschinenzuschreiben, während die Kameraden sich um‐ bringen lassen.“ (1969, 182) Doch indem man etwas bezeichnet, gibt man einer An‐ gelegenheit einen bestimmten Sinn, der keineswegs ein bloßes Sprechen darstellt, was umgekehrt ja viele auch bis heute für nutzlos halten. Wenn man aber jemanden beleidigt, dann hat man gehandelt und wird vor Gericht zur Rechenschaft gezogen. Ohne diese Unterscheidung von Austin, ohne dessen Begrifflichkeit des Perfor‐ mativen wäre Derridas Denken kaum möglich gewesen. So verwundert es nicht, dass Derrida, Austins Gedanken zu „einem wichtigen theoretischen Ereignis, wohl einem der fruchtbarsten unserer Zeit“ (2004 b, 34) erklärt. Performanz heißt, dass Sprechakte direkte äußere Folgen bzw. Wirkungen nach sich ziehen. Mit Austin en‐ det 1962 jene Epoche, in der einzig die militärische Gewalt – und vielleicht noch die handwerkliche – als wirksam anerkannt war. Derrida kritisierte in den siebziger Jah‐ ren John Rogers Searle, einen Hauptvertreter der Analytischen Philosophie und der Sprechakttheorie, der eine bewusste Kontrolle des Sprechaktes der Performanz vor‐ aussetzt. Die Rechtsetzung ist vielmehr als solche ein performativer Akt: indem sich Recht selbst als Recht setzt, ist es Recht, schafft es Recht, welches Bewusstsein dabei auch einhergeht. Ob rechtsetzend oder rechtserhaltend erweist sich Recht daher als ein synthetisierender Akt. Denn dieser operiert von einem Jenseits der Lebenswelt aus – von bestimmten Verfahren oder Ideen bzw. von Handlungen, die Recht erzwingen, aber noch keine Gewalt sind, solange es (im Naturzustand beispielsweise) noch kein Recht gibt –, so dass ein solcher Akt die Lebenswelt rechtlich ordnet. So bilden Per‐ formanz und Tautologie eine „Gesetzesgrundlegung, die wie jede andere Grundle‐ gung auch die Möglichkeit schafft, auf performative Weise die Konventionen zu er‐ zeugen, die die Gültigkeit des Performativums sichern, dem sich die Mittel verdan‐ ken, über die Legalität der Gewalt zu entscheiden.“ (Derrida 1991, 73) In letzter Konsequenz gibt das Recht die staatlichen Strukturen so zu verstehen, dass man den Eindruck gewinnt, dass permanent Rechtsverhältnisse bestehen. Dadurch begreift man das Leben als rechtlich geregelt, auch und gerade wenn es sich nur um Wieder‐ holungen handelt. Derart schafft das Recht Konventionen, die wiederum das perfor‐ mativ rechtlich Gesetzte bestätigen. Synthetisch a priori, also nicht rückgekoppelt an
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die Erfahrungswelt bzw. nicht explizit aus dieser heraus, sondern gemäß der rechtli‐ chen Prinzipien – sind diese ihrerseits gemeinhin auch historisch gegeben – be‐ stimmt das Recht, welche Gewalt legal ist und welche illegal, schließt das Recht ein und aus, einfach indem es Recht setzt.
2. Recht und mythische Gewalt Um der Frage nach einer Legitimität der Gewalt nachzugehen, unterscheidet Benja‐ min neben der rechtsetzenden und der rechtserhaltenden Gewalt die Rolle der Ge‐ walt im Naturrecht von derjenigen im positiven Recht. Letzteres rechtfertigt die rechtlich verfolgten Zwecke durch berechtigte Mittel, also durch die Gewalt dersel‐ ben: man geht davon aus, dass bestimmte Verfahren – also Anwendungen von Ge‐ walt – legitim sind, so dass sich daraus bestimmte Zwecke als gerecht legitimieren, dass folglich eine derart differenzierte Gewalt legitim erscheint. Das bleibt indes auch immer eine fragwürdige Angelegenheit, hat das positive Recht ein Problem mit der Gerechtigkeit, die sich vom großen Ideal hin zu einer Frage der Anwendung verschiebt. So fragt das positive Recht nicht mehr danach, was gerecht ist, sondern definiert Gerechtigkeit als das, was gemäß dem positiven Recht recht ist. Das Naturrecht hat es in dieser Hinsicht einfacher. Es legitimiert die Gewalt der Mittel durch die Gerechtigkeit der Zwecke – wenn Saint-Just, im Dienst der Tugend den Terror als probates Mittel gebraucht. Naturrechtliche Überzeitlichkeit und Abso‐ lutheit lehnt Benjamin im marxistischen Sinn ab und könnte sich dazu auf Hegel be‐ rufen. So steht Benjamin dem positiven Recht näher als dem Naturrecht, ist für ihn in marxistischer Tradition die Gerechtigkeit nicht die höchste Tugend. Ein konservativer Vertreter des Naturrechts wie Leo Strauss würde Benjamin an dieser Stelle Relativismus und Nihilismus vorwerfen. Denn Strauss schreibt 1953: „Die gegenwärtige Ablehnung des Naturrechts führt nicht nur zum Nihilismus, nein, sie ist identisch mit Nihilismus.“ (1977, 4) Ein geschichtliches Denken, das das Recht aus seiner Geschichte heraus entwirft, relativiert das Recht, wie man es ja bei Benjamins Zuschreibung der Gewalt zum Recht sehen kann. Damit verweigert man sich nach Strauss der Einsicht in die abendländische Tradition und löst die überlie‐ ferten Werte auf, wie es Nietzsche fordert. Beide Rechtsschulen verdrängen Gewalt als Fundament des Rechts, indem sie sie legitimieren wenn auch auf unterschiedliche Weise. Durch die Monopolisierung der Gewalt im Rechtssystem wird nicht nur jede individuelle Gewalt ausgeschlossen. Vielmehr verteidigt sich damit das Recht positiv als Recht unabhängig von den Zwe‐ cken des Rechts. Jeder, der es zu kritisieren versucht, muss der Logik des Rechts fol‐ gen und die Gewalt als so unabdingbar wie legitim für das Recht, damit für Staat
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und Gesellschaft anerkennen. Jedenfalls will sich Benjamin mit beiden Positionen nicht anfreunden, sowenig wie er sich mit dieser rechtlichen Logik zufrieden gibt. Denn – das ist Benjamins Pointe – die Legitimation einer Gewalt hebt ihre Gewalt‐ tätigkeit nicht auf. Wie aber könnte man – so die Überlegung Benjamins – Gewalt von ihrem gewalt‐ tätigen Charakter heilen? Wie kann eine revolutionäre Perspektive dem Vorwurf der Gewalttätigkeit entgehen, wenn das mit Hilfe des positiven wie des Naturrechts nicht möglich ist? Dazu wechselt er das Spielfeld: „Wie es auch sei: Benjamins Kri‐ tik der Gewalt“, sagt Derrida, „erhebt den Anspruch, über beide Traditionen hinaus‐ zugehen; (...) sie will nicht mehr von einer Interpretation abhängen, die in die juridi‐ sche Institution einbezogen ist.“ (1991, 72) Weil der rechtsphilosophische Standpunkt die rechtliche Gewalt bloß legitimiert, sie aber nicht aufhebt, fragt Benjamin nach einer anderen Perspektive der Gewalt als nach der des Rechts. Seine Kritik der Gewalt, so Derrida, „hat ihren Ort in einer ‚Geschichtsphilosophie‘ (...).“ (1991, 72) So sucht Benjamin in der geschichtsphilo‐ sophischen Lesart eine humanisierende Perspektive, die sich im Recht ob dessen Ge‐ walttätigkeit allein nicht finden lässt. Daher sagt Derrida über Benjamins Unter‐ scheidung von positivem und Naturrecht: „Obwohl er beide Traditionen gleicherma‐ ßen abweist (...), behält Benjamin vom positiven Recht und seiner Tradition den Sinn für die Geschichtlichkeit des Rechts zurück.“ (1991, 72) Hegel hat versucht, aus dem geschichtlichen Prozess einen Fortschritt des Rechts abzuleiten, was Marx ja dann vom Kopf auf die Füße zu stellen bemüht ist, indem er den historischen Fortschritt auf Technik, Wissenschaft und Ökonomie basieren lässt und nicht auf dem Fortschritt des Rechts. Benjamins Geschichtsphilosophie behält dagegen posi‐ tiv rechtliche Wurzeln. Nicht dass er pazifistisch auf die Gewalt verzichten wollte! Sie erscheint ihm im Stil des 19. Jahrhunderts notwendig, um den Fortschritt zu befördern. Insofern fragt Benjamin letztlich nach einer revolutionären Gewalt, die sich nicht wie bei Hegel in den Fängen des Rechts verheddern soll, sondern die rechtliche Gewalt aufheben will. Aber das ist erklärtermaßen kein rechtlicher, sondern ein historischer Stand‐ punkt. Dann stellt sich die Frage: Wenn die rechtsphilosophische Perspektive dazu keine Alternativen liefert, gibt es dagegen aus geschichtsphilosophischer Perspektive eine Gewalt, die dieser rechtsphilosophischen Problematik entgeht? Konkret heißt das: Gibt es eine revolutionäre Gewalt, die keine ist, aber so wirkt, als wäre sie eine? Oder lässt sich in der Geschichte eine Gewalt finden, der man keine Grundlosigkeit, sondern volle Legitimität und somit keine permanente Gewalttätigkeit attestieren kann? Oder gibt es etwas in der Geschichte, das wie Gewalt wirkt – es soll ja der Fortschritt in die Gänge gebracht werden – sich aber nicht als Gewalt bezeichnen lässt?
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Das ist die Schlüsselproblematik von Benjamins Text natürlich vor dem Hinter‐ grund der revolutionären Entwicklungen nach dem ersten Weltkrieg sowie der Revo‐ lutionstheorie von Marx. Sie weist Derrida den Weg in ein davon verschobenes Rechts- und Staatsverständnis, das die Revolution aufgeben wird, nicht aber das Thema Gewalt, das zum Angelpunkt von Derridas politischer Philosophie avanciert. Historisch betrachtet agiert die rechtsetzende Gewalt nach Benjamin bereits im Mythos, was sich nach Derrida vor allem auf die griechische Antike bezieht. Die mythische Gewalt gründet durch blutige Eingriffe neue Sitten oder ein neues Recht, die somit immer auf einer rechtsetzenden Gewalt beruhen. Benjamin verweist auf den Mythos von Niobe, die sich ob ihrer 14 Kinder stolz über Leto stellt, eine Sterb‐ liche, mit der Zeus die Ehe brach und die daraufhin zwei Kinder gebar, aber eben nur zwei. Leto wendet sich daraufhin an ihre beiden Zöglinge, die blutige Rache nehmen und die 14 Kinder der Niobe töten. Benjamin schreibt: „Zwar könnte es scheinen, die Handlung Apollons und der Artemis sei nur eine Strafe. Aber ihre Ge‐ walt richtet viel mehr ein Recht auf, als für Übertretung eines bestehenden zu stra‐ fen.“ (1965, 55) Man könnte zudem an den Sturz der Sphinx durch Ödipus denken oder an die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka. Wird mit Niobe die Hybris bestraft und damit eine gewisse sittliche Hierarchie festgeschrieben, wird in den beiden anderen My‐ then jeweils die Polis gewaltsam auf neues Recht gegründet. Homer legt Odysseus folgende Worte in den Mund: „Hunde! Ihr meintet, ich komme nicht wieder vom Volke der Troer / Heim und hierher in mein Haus! Ihr habt es mir ausgeplündert, / (...) Als ich noch lebte, mein Weib mit Werben bedrängt. Ihr kanntet / Keine Furcht vor den Göttern, den Herren im breiten Himmel“. (1961, 593) Letztlich beruhen Staatsgründungen immer auf einer Art organisierter Gewalt, die man auch militärisch nennen könnte, wie sich gerade in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg zeigt, als eine Vielzahl neuer Staaten entstehen, die sich alle schnell einen nationalen Mythos ausdenken. So sagt Derrida – viele seiner Texte scheinen dem mündlichen Vortrag zu entsprechen, der diesen jeweils zugrunde liegt: „Die Staats‐ gründung markiert das Aufkommen eines neuen Rechts, sie tut es immer unter An‐ wendung von Gewalt. Immer: selbst dann, wenn sich nicht jene spektakulären Völ‐ kermorde, Ausstöße, Ausweisungen, Deportationen ereignen, (...).“ (1991, 77) Andererseits kann eine gewaltsame Rechtsetzung und damit Staatsgründung auch aus einer Revolution hervorgehen, z.B. die Machtergreifung der Bolschewiki und die Gründung der Sowjetunion. Just daher wappnet sich der Staat sowohl gegen Feinde im Innern wie von außen. „Der Staat fürchtet sich vor der ‚begründenden‘ Gewalt,“ spricht Derrida, „vor der Gewalt, die in der Lage ist, Rechtsverhältnisse zu legitimieren oder zu verändern, und die selbst als jenes, was ein Recht auf das Recht hat, erscheinen kann.“ (1991, 76) Fremde Rechtsansprüche, gleichgültig ob durch andere Staaten oder von innen her, muss der Staat gemeinhin als Gefährdung des
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geltenden Rechts zurückweisen. Zwar haben demokratische Staaten dazugelernt und versuchen solche Ansprüche durch die Verfassungsgerichtsbarkeit einzudämmen. Aber häufig gelangen demokratische Staaten bei solchen Fragen an ihre Grenzen – man denke an das katalanische Streben nach Unabhängigkeit von Spanien. Dass sich Recht dabei auf Gewalt gründet, ist also keineswegs allein ein Problem des Mythos. Dazu muss auch gar kein Mythos wiederkehren, wie es die Dialektik der Aufklärung oder Ernst Cassirer Mitte den vierziger Jahren diagnostizieren. So schreibt Cassirer: „Vielleicht der wichtigste und beunruhigendste Zug in dieser Ent‐ wicklung des modernen politischen Denkens ist das Zutagetreten einer neuen Macht: der Macht des mythischen Denkens.“ (1978, 7) Die Gründung der Demokratie in Deutschland und Italien nach dem Ende des zweiten Weltkriegs beruhen auf militärischen Niederlagen und militärischer Gewalt. Wie die Odyssee liefert der Ödipus-Mythos dazu eine Vorlage, die die Position von Cassirer in Richtung derjenigen von Horkheimer und Adorno von der Wiederkehr des Mythos hintergeht. Wie heißt es doch in der Vorrede von 1944: „Schon der My‐ thos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ (1971, 5) In der positivistischen Rationalität der modernen Gesellschaft kehrt die mythische Gewalt wieder, also keineswegs nur in einer rechtsetzenden Gewalt. Benjamin war gegenüber Cassirer wie der Dialektik der Aufklärung indes schon etwas weiter. Die Gewalt hat nicht in mythischer Zeit stattgefunden und wäre heute nur noch als ein hintergründiges Rauschen zu diagnostizieren, das man vernachlässi‐ gen könnte. Der Mythos kehrt nicht bloß in Form des Totalitarismus wie bei Cassirer wieder. Das Recht als solches, gleichgültig ob als positives Recht oder als Natur‐ recht beherbergt ihn, ist in diesen ein rechtsetzendes Element vorhanden, das nicht ohne Gewalt denkbar ist, ein Gedanke, der der Dialektik der Aufklärung zumindest näher steht als Cassirers Mythus des Staates. Offensichtlich präsentiert sich bei diesem Blick in die Geschichte die Struktur originärer, nicht legitimierter, also unbegründeter Gewalt sowohl im Mythos wie im Recht. Diese Gewalten besitzen beide keine vorgängige Legitimität, geschweige denn dass ihnen Gewaltlosigkeit eignen würde. Ja, die mythische Gewalt gründet Recht aus der Laune der Götter heraus, was sie ihrer Gewalttätigkeit nicht enthebt. Dass sie dabei zumeist mit Verbrechen kooperiert, spielt nicht mal mehr eine Neben‐ rolle. Jedenfalls befindet sich der Mythos immer schon innerhalb sittlicher Verhält‐ nisse, so dass die mythische Gewalt sich daran messen lassen muss, so dass sie dem Vorwurf der Gewalttätigkeit nicht entgeht. Dass sie im Recht wiederkehrt, desavou‐ iert das Recht ein weiteres Mal.
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3. Anomalie und Ausnahmezustand: Gesetzeskraft Wenn also in der rechtlichen Gewalt die mythische als grundlos gewalttätige wieder‐ kehrt, der rechtlichen Gewalt auch noch dadurch Legitimität entzogen wird, lässt sich dann der Rechtszustand vom Naturzustand im Hinblick auf die Gewalt über‐ haupt unterscheiden? Oder erscheint dann die kriegerische Gewalt nicht mehr als Gewalt, weil sie jenseits rechtlicher Verhältnisse geschieht? Generiert die Gewalt ge‐ mäß dem Denken des 19. Jahrhunderts doch fortschrittliche humanisierende Impul‐ se? „Dem Anschein nach“, sagt Derrida, „erklären Rechtssubjekte den Krieg, um Ge‐ walten zu sanktionieren, deren Zwecke natürlich anmuten (...). Doch diese kriegeri‐ sche Gewalt, die einer ‚raubenden Gewalt‘ ähnelt, entfaltet sich immer im Inneren der Rechtssphäre. Sie ist eine Anomalie im Innern der Rechtsverhältnisse, mit denen sie zu brechen scheint.“ (1991, 84) Im Krieg werden Rechtsverhältnisse aufgehoben, um neue zu begründen. Der Frieden wird gekündigt, die friedliche Beziehung been‐ det, wodurch eine neue Beziehung entsteht, in der die Gewalten verschiedener Rechtssysteme aufeinanderprallen, um sich jeweils gegenüber dem anderen durchzu‐ setzen. Von Naturzustand kann also im Krieg gar keine Rede sein. Der Krieg tritt folglich nicht aus der Rechtssphäre heraus und zwar auch jenseits von Völkerrecht und Kriegsrecht. Gilt das auch dann noch, wenn es sich um Bürgerkrieg handelt? Löst sich dabei nicht das staatliche Gewaltmonopol auf, wenn verschiedene Kriegsparteien militä‐ risch aufeinander losgehen? Denn das Recht soll doch Gewaltverhältnisse zwischen den Bürgern aufheben. Allerdings bedient es sich dazu nun mal der Gewalt – man denke wieder an das Gewaltmonopol. Dann fragt sich, ob sich der Bürgerkrieg wirk‐ lich außerhalb der Rechtssphäre bewegt. Denn nicht nur dass allen vermeintlich friedlichen Vertragsverhältnissen die Gewalt als Drohung inhärent ist. Wenn die rechtserhaltende Gewalt sowohl unter Normal- wie unter Bürgerkriegszuständen im‐ mer wieder auf rechtsetzende zurückgreift, dann entsteht eine Anomalie gegenüber dem Recht, nämlich ein Element eines anscheinend rechtlosen Zustandes, einer rechtlosen Gewalt. Befindet sich diese Gewalt außerhalb der Rechtssphäre? Dann ließe sie sich nicht nach rechtlichen Kriterien beurteilen. Oder befindet sie sich in‐ nerhalb der Rechtssphäre, weil Recht auch nichts anderes als Gewalt ist? Weder Benjamin noch Derrida geht es dabei um eine stiftende ursprüngliche Ge‐ walt, sondern um eine, die sich ständig wiederholt, also immer präsent ist. So fühlen sich ja auch Menschen – z.B. Minderheiten – oft durch rechtliche Verhältnisse unge‐ recht behandelt, diskriminiert, also einer feindlichen Gewalt ausgesetzt. Im Krieg oder in der Revolution zeigt sich das am klarsten, wenn sich Gewalt offensichtlich nicht rechtlich regeln lässt oder wenn das Recht innerhalb der rechtlichen Verhältnis‐ se diese Anomalie performativ zu verdecken sucht.
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Wenn diese Anomalie offenbar wird, dann tritt nach Carl Schmitt der Ausnahme‐ zustand ein, d.h. jemand – nach Schmitt der Souverän – muss ihn ausrufen können. Schmitt unterscheidet dabei die kommissarische und die souveräne Diktatur. Erstere will mit dem Ausnahmezustand den Rechtzustand wiederherstellen. Letztere will ein neues Recht installieren. Auf jeden Fall sieht Schmitt Ausnahme- und Rechtszustand aufeinander bezogen, funktioniert das Recht wie bei Benjamin über eine Anomalie der rechtlichen Gewalt, die sich selber performativ zum Recht erhebt, ohne immer schon Recht zu sein – eine für Derrida unhintergehbare innere Aporie jeden Rechts, für Schmitt die Realität allen Rechts, der darin gar keinen Widerspruch erkennen mag, weil die Grundlage des Rechts die richterliche Entscheidung ist, also alle Rechtsprechung auf einer Entscheidung beruht, die immer einen regellosen Kern birgt, wäre sie sonst keine Entscheidung. Derart möchte Schmitt den Ausnahmezustand denn auch im Recht selbst veran‐ kern und zugleich ihn mit einem transzendenten Element versehen, wenn er den Souverän mit Gott gleichsetzt – er schreibt ja eine Politische Theologie, die 1922 er‐ scheint, und zwar als Antwort auf Benjamins Zur Kritik der Gewalt aus dem Jahr 1921. Denn wie heißt es doch am Anfang der Politischen Theologie: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (2004, 11) Damit öffnet sich in der Theorie Schmitts ein Widerspruch, den sowohl Derrida als auch Agamben markie‐ ren: Gehört der Ausnahmezustand zum Recht, dann stellt er eine grundlose Gewalt dar, die aber nach rechtlichen Kriterien beurteilt werden kann. Oder er steht außer‐ halb des Rechtszustandes, dann kann man ihm weder den fehlenden Grund vorwer‐ fen, noch ihn nach rechtlichen Kriterien beurteilen. Wenn sich allerdings Ausnahmezustand und Rechtsordnung nicht voneinander trennen lassen, wenn sie sich für Derrida gegenseitig beeinträchtigen, sich gegensei‐ tig verschmutzen und dadurch auch unschärfer werden, dann wird der Gedanken‐ gang Benjamins klarer: Denn für Benjamin ist die Gewalt gar keine Ausnahme, son‐ dern dem Recht eingeschrieben, kehrt in der rechtsetzenden Gewalt notorisch die mythische Gewalt wieder, die Schmitt mit dem Ausnahmezustand einerseits vom Recht unabhängig machen möchte und andererseits auch ein Stück weit domestizie‐ ren, soll es dieser Gewalt ja immer um das Recht gehen. Während Benjamin dem Recht ob dessen Gewalttätigkeit inhumane Züge attestiert, die eine Revolution auf‐ heben müsste, sichert das Recht für Schmitt die staatliche Ordnung und darf sich im Ausnahmefall gegenüber allen Bürgern rücksichtslos der Gewalt bedienen. Dem hat Benjamin 1928 im Ursprung des deutschen Trauerspiels entgegengehal‐ ten: Im Barock entwickelt sich der Begriff der Souveränität, den Schmitt auf die Entscheidung über den Ausnahmezustand gründet „aus einer Diskussion des Aus‐ nahmezustandes und macht zur wichtigsten Funktion des Fürsten, den auszuschlie‐ ßen.“ (Benjamin 1972, 245) Denn der Ausnahmezustand erweist sich im Barock nicht als ordnungserhaltende oder Ordnung schaffende Macht wie für Schmitt, son‐
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dern als Katastrophe, die es mit aller Macht zu verhindern gilt. Zwar präsentiert sich der Monarch bei Benjamin als Herr über die Menschen, bleibt aber selber Mensch, kann sich nicht mit Gott gleichsetzen. Daher bricht der Ausnahmezustand mit der rechtlichen wie natürlichen Ordnung, was in nichts anderem als einer Katastrophe enden wird. Oder einfacher noch: der Ausnahmezustand ist die Katastrophe für alle, bis auf den Souverän oder die Regierung, die ihren Handlungsspielraum dadurch von rechtlichen Beschränkungen befreit. Allerdings spielten Ausnahmezustand und Katastrophe im Barock eine erheblich apokalyptischere Rolle als heute, wiewohl sich davon noch einiges erahnen lässt. Leonardo da Vinci erwartet ein gutes halbes Jahrhundert vor dem Barock die Kata‐ strophe: die Natur wird nämlich die Menschheit vernichten, was weder Herrscher noch Beherrschte durch einen Ausnahmezustand zu verhindern vermögen. Sein Bio‐ graph Volker Reinhardt schreibt: „Die Vernichtung des menschlichen Lebens auf der Welt war für ihn kein religiöses oder moralisches, sondern ein künstle‐ risches und wissenschaftliches Problem. Der Maler-Philosoph (...) hat diesen Unter‐ gang nach bestem Wissen und Gewissen bis zum Schluss zu dokumentieren (...).“ (2018, 319) So wird denn auch das christlich apokalyptische Denken, das in der Zeit vor 1500 gerade eine Hochkonjunktur erlebt, in den folgenden Jahrhunderten von den entste‐ henden modernen Wissenschaften übernommen. Noch Carl Schmitt wird sich nicht durch Zufall auf den Paulinischen Katechon beziehen, der den Antichrist aufhalten soll, aber damit auch die Wiederkehr Christi verzögert. Für Schmitt verhindert der Katechon als Souverän durch den Ausnahmezustand den Zusammenbruch des Staa‐ tes. Dass dann auch der Messias nicht wiederkommen kann, war für Schmitt kein Problem. Allerdings verschiebt sich bei Benjamin dieser Fokus nicht zuletzt angesichts des politischen Geschehens. 1940 hat sich seit Jahren gezeigt, dass der Ausnahmezu‐ stand die Katastrophe nicht verhindert, dass er vielmehr in Deutschland von den Na‐ zis auf Dauer geschaltet war, also zum Dauerzustand avancierte und damit die Kata‐ strophe perpetuierte. Für Schmitt ist der Ausnahmezustand zwar anomisch, aber an das Recht rückgebunden, erschien ihm der andauernde Ausnahmezustand unter den Nazis denn auch als problematisch, war er dann keine Ausnahme mehr. So versuchte er in Aufsätzen Mitte der dreißiger Jahre eine Verfassung für das sogenannte dritte Reich zu skizzieren, die aber von den Nazis nicht goutiert wurde, zogen sie es vor, rechtlos also willkürlich zu regieren, hätte sie jede Regel eingeengt. Für Benjamin ist dagegen spätestens 1940 die rechtliche Gewalt der Normal- und zugleich der Ausnahmezustand geworden. Das zeigt sich in seinem letzten Werk, den Geschichtsphilosophische Thesen, wenn Benjamin schreibt: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem ent‐
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spricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Aus‐ nahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf ge‐ gen den Faschismus sich verbessern.“ (1965 b, Nr. 8 84) 1940 ist für die Juden in Europa der totale Ausnahmezustand als Katastrophe der Normalzustand geworden, freilich nicht für diese allein. Er betrifft unter der Aus‐ breitung der faschistischen Herrschaften alle Unterdrückten, neben der Bevölkerung in den besetzten Ländern wie den Juden besonders das Proletariat und die verschie‐ denen ethnischen, sexuellen oder medizinischen Minderheiten, die von den Nazis verfolgt und ermordet werden. Damit schreibt Benjamin gegen Schmitt die Ununter‐ scheidbarkeit zwischen Rechts- und Ausnahmezustand fest, wenn die Ausnahme zur Regel wird, die keine Regel sein darf, wenn aber Regellosigkeit zur Regel wird und die Gewalttätigkeit des Rechts nicht mehr kaschiert wird. Was heißt dann aber „wirklicher Ausnahmezustand“? Schließt Benjamin 20 Jahre später etwa an einen Gedanken an, den er implizit bereits in Zur Kritik der Gewalt formulierte? Jedenfalls hat man den Eindruck, dass seine gerade erwähnte These aus dem Ursprung des deutschen Trauerspiels 1940 keine Rolle mehr spielt. Die Gewalt ist Ausnahme- und Normalzustand gleichermaßen. Ahnt Benjamin 1940, was bevor‐ steht? Die Schmittsche Theorie des Ausnahmezustands unterfüttert trotz Vorbehalte den Dauerausnahmezustand der Nazis. Wenn Benjamin mit seiner Kritik der rechtli‐ chen Gewalt eine Demokratie hinterfragt, die sich der Nazis nicht zu erwehren ver‐ steht, ähnelt das der konservativen Kritik Eric Voegelins, allerdings mit einer völlig anderen Zielsetzung. Für Derrida gerät sie damit indes auf die schiefe Bahn, die als Aufschub oder Verschiebung als solche nicht sein Problem wäre. Allemal aber folgt Derrida nicht der konservativen politischen Philosophie, gleichgültig ob bei Schmitt oder Voegelin, sowenig wie derjenigen von Leo Strauss. Nach Agamben hat Benjamin mit der Ununterscheidbarkeit von Norm und Aus‐ nahme, somit mit seiner achten der Geschichtsphilosophischen Thesen Schmitt ‚Schach‘ geboten. Denn Benjamin dient Agamben als Kronzeuge, um mit Hilfe von Derridas Vortrag über die Gesetzeskraft Schmitt obendrein Matt zu setzen, jenen Theoretiker von Gewalt und Macht nicht bloß als Fundament des Staates, sondern auch als legitimes kriegerisches Mittel der Politik. Als Unterstützer der Nazis hat er damit dazu beigetragen, dass die ‚Endlösung‘ möglich wurde. Aber lieferte ihm da‐ zu Benjamin etwa die Vorlage? Verstrickt sich letzterer damit in diese Grausamkeit, wie es Derrida fragt? Allerdings wehrt sich Benjamin gegen Schmitts Ausnahmezustand als Realität. So schreibt Agamben: „Der Versuch der Staatsmacht, sich die Anomie durch den Ausnahmezustand einzuverleiben, wird von Benjamin bloßgestellt als das, was er ist: eine fictio iuris par excellence, die vorgibt, das Recht genau dort, wo es suspen‐ diert ist, als Gesetzeskraft aufrechtzuerhalten. An seine Stelle treten jetzt Bürger‐ krieg und revolutionäre Gewalt, also menschliches Handeln, das jede Beziehung
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zum Recht abgelegt hat.“ (2004, 71) Das Wort von der Gesetzeskraft entleiht Derri‐ da im ersten, dem 89er Vortrag einer Formulierung von Montaigne, der vom „mysti‐ schen Grund der Autorität“ spricht. Agamben greift das Wort auf und bedient sich Derridas Verfahren der Durchstreichung: Gesetzeskraft, was eine partielle Schwä‐ chung bzw. partielle Aufhebung signalisiert. Dazu leitet Agamben den Begriff zunächst her: Ein Gesetz, das das Parlament in Kraft gesetzt hat, besitzt Gesetzeskraft, ein Begriff der auf eine lange Tradition im römischen und mittelalterlichen Recht zurückblicken kann, der nach Agamben aber erst mit der französischen Revolution seine Dynamik erhielt, die er bis heute in den modernen Demokratien bewahrt. „Im Artikel 6 der Verfassung von 1791 bezeichnet Gesetzeskraft etwa den unantastbaren Charakter des Gesetzes, das selbst der Souve‐ rän nicht aufheben oder modifizieren kann.“ (2004, 48) Aber der Belagerungszu‐ stand war schon 1791 von der konstituierenden Versammlung eingeführt worden – der Anfang des Ausnahmezustands. Daraus wird während des Direktoriums und schließlich durch Napoleon der fiktive oder politische Belagerungszustand, fiktiv bzw. politisch weil er nicht mehr unbedingt mit einer äußeren Bedrohung zusam‐ menhängt. Vom mittelalterlichen Wortsinn her bedeutet Belagerungszustand schließ‐ lich die Belagerung einer Stadt, die sich hinter hohen Mauern verteidigt. Daraus entsteht die juristische Unterscheidung zwischen der Rechtswirksamkeit eines von der Legislative erlassenen Gesetzes und der Gesetzeskraft, die auch Erlas‐ se der Exekutive besitzen. Im Ausnahmezustand geht es dann nicht mehr um das Gesetz oder die Norm, sondern nur noch darum, was bleibt, wenn die Norm außer Kraft gesetzt worden ist, nämlich die reine Anwendung, die ursprünglich einer Norm eignete. „Der Ausnahmezustand“, so Agamben, „definiert einen Zustand des Gesetzes, in dem die Norm zwar gilt, aber nicht angewandt wird (weil sie keine ‚Kraft‘ hat), und auf der anderen Seite Handlungen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben, deren ‚Kraft‘ gewinnen.“ (2004, 49) Ein revolutionäres Regime wie dasjenige Lenins oder eine Diktatur wie diejenige der Nazis erlässt Gesetze, denen der eigentliche Gesetzgeber – das Parlament – fehlt, die Erlassen gleichen und die auch ohne Gesetzgeber jederzeit geändert werden kön‐ nen, die also keineswegs die Gültigkeit und Kraft von vom Parlament verabschiede‐ ten Gesetzen haben. So schreibt Ernst Fraenkel bereits 1938: „Der politische Sektor des Dritten Reichs bildet ein rechtliches Vakuum. (...) Es fehlt jedoch in diesem Sek‐ tor eine auf publizierten und daher generell verbindlichen Normen basierende Rege‐ lung des Verhaltens seiner Behörden und sonstigen Exekutivorgane.“ (2001, 55) Da‐ her unterscheidet Fraenkel den Maßnahmenstaat der Nazis vom Normenstaat, der trotzdem in gewissen Teilen des Rechts, beispielsweise des bürgerlichen, bestehen blieb. Oder wie hatte sich doch Eichmann zu entschuldigen versucht: die ‚Worte des Führers‘ hätten nun mal Gesetzeskraft. Nur dass ihnen das Gesetz fehlte, also bloß
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Gesetzeskraft, abhängig von den Launen jenes Führers, ohne Bestandsgarantie, Zu‐ verlässigkeit und Dauerhaftigkeit oder gar institutioneller Einspruchsmöglichkeiten. Mit der partiellen Durchstreichung im Wort Gesetzeskraft greift Agamben dabei auf ein Verfahren Derridas zurück. Diese Durchstreichung übernimmt letzterer von Martin Heidegger, dem diese dazu dient, auf den im Nihilismus fragwürdig gewor‐ denen Sinn von Sein zu verweisen: Der Sinn von Sein lässt sich strukturell nicht mehr entbergen. Und trotzdem bleibt davon etwas übrig, etwas das sich verschoben hat. Derart überträgt Agamben die Durchstreichung auf das Problem der Gesetzes‐ kraft: „Der Ausnahmezustand ist der anomische Raum, in dem eine Gesetzeskraft ohne Gesetz (die man jedoch Gesetzeskraft schreiben müsste) zum Einsatz kommt. Solche ‚Gesetzeskraft‘, (...) ist (...) eine fictio, durch die das Recht versucht, die Anomie für sich zu vereinnahmen.“ (2004, 49) Damit greift Agamben denn wiederum auf den Titel von Derridas Vortrag von 1989 zurück und kann derart nicht nur den Ausnahmezustand charakterisieren, son‐ dern auch Benjamins Unterscheidung zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Erstere ist eine Kraft ohne Gesetz, die dadurch aber Gesetze schafft und wo‐ möglich auch eine neue Verfassung, wie es sich Schmitt vorstellt, wenn die Diktatur nicht nur kommissarisch die alte Verfassung wiederherstellen soll, sondern wenn sie souverän ein neues Recht setzt. Die rechtserhaltende Gewalt beschränkt sich auf die Gesetze, denen sie Kraft durch ihre Gewalt verleiht. Freilich besteht ein Unterschied zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung bzw. der Norm und deren Anwendung. Denn in der Norm wie im Gesetz ist deren Anwendung keineswegs enthalten bzw. wird damit nicht vorgegeben, wie es auch Schmitt analysiert. Das komplizierte Prozessrecht bestätigt beispielsweise, dass es keinen ableitbaren Übergang von der Norm zu ihrer Anwendung gibt. Damit treten Gesetz und dessen Anwendung auseinander, müsste letztere auch jenseits des Aus‐ nahmezustands Gesetzeskraft geschrieben werden. So verleiht die Polizei ihre Ge‐ walt dem Gesetz, also ihre Kraft. Aber auch hier besteht kein notwendiger, gar me‐ thodisch angebbarer Übergang von der Norm zur Anwendung. Vielmehr bleibt hier immer eine Ermessenslücke, die einen Ermessensspielraum eröffnet, mag man das Polizeirecht auch noch so penibel regeln wollen. Agamben bedient sich dazu diverser Beispiele aus der Linguistik: das Verhältnis von langue und parole bei Ferdinand de Saussure, ohne dabei aber auf Wittgenstein einzugehen. Denn dieser erkennt, dass sich sprachliche Regeln nicht geregelt anwen‐ den lassen: „die Anwendung der Regel im besonderen Fall müsstest du ja doch ohne Führung machen.“ (1971, Nr. 292 127) Dazu bedürfte es wiederum einer Regel, die ebenfalls eine weitere Regel benötigt usw., so dass man dadurch in einen unendli‐ chen Regelregress geriete (vgl. Schönherr-Mann 2017 b, 135). Damit treten Regel und Handeln auseinander, darf man bezweifeln, dass eine Re‐ gel letzteres leitet, ein Problem von dem auch das Rechtsgesetz nicht verschont blei‐
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ben kann. Wie schreibt doch Wittgenstein: „Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wis‐ sen, sondern weil sie keine wirkliche ‚Definition‘ haben. Die Annahme, dass sie eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, dass ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.“ (1980, 49) Zwar sollte das gemäß Wittgenstein nicht für den Gerichtsprozess oder die Polizei gelten. Nur betrifft der unendliche Regelregress jede Art von Normativität und zwar just in der Perspektive, dass eine Norm handlungsleitend funktionieren soll und nicht nur die Handlung interpretiert. Im Anschluss an Wittgensteins unendlichen Re‐ gelregress entwickelt Robert B. Brandom 1994 ein Konzept um die Funktionsweise von Normen und ihr Verhältnis zum Handeln zu verstehen. Wenn eher dunkel bleibt, wie Normen Handlungen leiten, muss es primär darum gehen, zu analysieren, wel‐ che Normen durch Handlungen realisiert werden, heißt der englische Titel von Bran‐ doms umfänglichem Werk Making it explicit. So schreibt Brandom: „Das Besondere an uns ist die Art des Erfassens oder Aufnehmens normativer Signifikanz, zu dem wir in der Lage sind. In diesem Sinne einer von ‚uns‘ zu sein heißt, Subjekt normati‐ ver Einstellungen zu sein, heißt, Richtigkeiten und Unrichtigkeiten von Verhaltens‐ weisen anerkennen zu können, (...).“ (2000, 75) Dagegen erweist sich die Anwen‐ dung von Regeln nicht als regelgeleitet, sondern als diffus. Auch für Agamben gibt es „zwischen Norm und Anwendung keinen inneren Zu‐ sammenhang, der erlaubte, das eine aus dem anderen unmittelbar abzuleiten.“ (2004, 51) Niemand erfasst das besser als Carl Schmitt, aber mit Derridas Verfahren der Durchstreichung lässt sich dergleichen eleganter ausdrücken. So schreibt Agamben weiter: „Der Ausnahmezustand ist in diesem Sinne die Eröffnung eines Raums, in dem Anwendung und Norm ihre Getrenntheit zur Schau stellen und worin reine Ge‐ setzeskraft eine Norm umsetzt (sprich, sie anwendet, indem sie sie nicht anwendet), deren Anwendung suspendiert worden ist.“ (2004, 51) Die Gesetzeskraft enthält die Norm als durchgestrichene, d.h. die Norm ist nicht völlig verschwunden, sondern in gewisser Hinsicht in den Hintergrund verschoben und die Kraft tritt in den Vorder‐ grund. Mit Hilfe des Begriffs der Verschiebung, der Metonymie als differentielle Perspektive interpretiert ja auch Derrida Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt. Sie spielt in der Traumdeutung Sigmund Freuds eine zentrale Rolle, sagt Derrida 1991 in seinem Vortrag Widerstände: „Doch wenn bestimmte Träume sich der Deu‐ tung verweigern, so nicht, weil es ihnen an Sinn fehlt, sondern im Gegenteil, weil die Deutungsarbeit psychische Mächte gegen sich hat, die für Verschiebungen und Entstellungen des Traumes verantwortlich sind.“ (1998, 144) Von Jacques Lacan wird die Verschiebung sprachphilosophisch übersetzt. Derrida und Agamben führen damit die Metonymie in die politische Philosophie ein, mit der sich die Wirkungs‐ weisen von Recht und Staat jenseits des platonischen Essentialismus wie des ratio‐ nalen Universalismus im Stil von Habermas oder Tugendhat erhellen lassen.
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2. Kapitel: Staat und gewaltlose Gewalt Wenn ein Gesetz zwar gilt, aber nicht angewendet werden kann, weil es dazu eines weiteren Gesetzes bedürfte, wenn es nur irregulär, genauer regellos umgesetzt wird, dann erscheint die Gesetzeskraft selbst als illegitime Gewalt. Dann aber unterschei‐ det sie sich hinsichtlich ihrer Anwendung nicht mehr vom Ausnahmezustand, in dem ein aufgehobenes Gesetz zwar als solches gilt, aber auch nur als aufgehobenes angewendet werden kann. Stützt sich der Ausnahmezustand auf eine außerrechtliche Gewalt, die mit derje‐ nigen im Naturzustand vergleichbar wäre, also einem Zustand ohne Recht? Schmitt würde das trotzdem verneinen. Für Agamben bedient sich der Ausnahmezustand der Gesetzeskraft, so dass das Recht hintergründig oder aufgeschoben mitschwingt. Das bezeichnet Benjamin in den Geschichtsphilosophischen Thesen als Ausnah‐ mezustand, der zur Regel wurde. Was heißt dann aber wirklicher Ausnahmezustand? Wäre das einer, der wirklich jenseits des Rechts operiert, dessen Gewalt sich recht‐ lich nicht qualifizieren lässt und die sich daher als eine Gewalt aufführt, die man als solche nicht benennen kann? Benjamin sucht ja nach einer humanen revolutionären Perspektive und ist sich des Problems zumindest bewusst, dass die blanke Gewalt – also die unter sittlich rechtlichen Umständen – dazu irgendwie ungeeignet erscheint, wiewohl sich die Nachfahren von Marx wie Lenin und Trotzki bereitwillig und skrupellos der Gewalt bedienen. Aber handelt es sich dabei nicht nur um Benjamins mythische Gewalt – mit Cassirer eine Wiederkehr des Mythos oder um Platons Geist als Feind der offe‐ nen Gesellschaft nach Popper? Oder um die alliierten Luftflotten?
1. Gewaltlose göttliche Gewalt In der Tat entwickelt Benjamin 1921 eine sehr merkwürdige, schwer nachvollzieh‐ bare Unterscheidung, die von einer Verschiebung kündet, die so komplex wie para‐ dox erscheint und die der Kerngedanke dieses Aufsatzes ist, nämlich den einer ge‐ waltlosen Gewalt. Inwiefern kann eine Gewalt überhaupt gewaltlos sein? Nun, die erste Antwort kann schnell gegeben werden. Eine Gewalt ist nur gewalttätig unter rechtlichen Bedingungen. Gewaltlos ist eine Gewalt im Naturzustand, wenn der Lö‐ we die Antilope frisst. Kann es eine solche Gewalt nach der Gründung von Staaten und der Entstehung von Systemen des Rechts überhaupt noch geben? Aber haben die Nazis nicht mit dem permanenten Ausnahmezustand geherrscht – regieren kann man das freilich nicht nennen –, so dass das Recht aufgehoben war und es dann gar keine Gewalt bzw. Gewalttätigkeit mehr geben konnte? Vielmehr nur den reinen Terror? Schmitt
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würde dem nicht zustimmen, behält das Recht für ihn im Ausnahmezustand immer eine Orientierungsfunktion. Aber sollte von der Gesetzeskraft doch nur die Kraft üb‐ riggeblieben sein, wäre dann jegliches Recht zerstört und das Tun der Menschen frei von jeder rechtlichen oder moralischen Orientierung? Die Gewalt unter Rechtsverhältnissen wirkt entweder rechtsetzend oder rechtser‐ haltend. Eine gewaltlose Gewalt dagegen hat nach Benjamin keine solchen Konse‐ quenzen weder in der einen noch in der anderen Hinsicht. Insofern ist sie einerseits rechtlich neutral, andererseits wirkt sie in eine verrechtliche Welt hinein, kann also nicht völlig neutral sein. Was für Auswirkungen hat die gewaltlose Gewalt? Während der politische Generalstreik, wie er beispielsweise angesichts des KappPutsches 1920 stattfand und den demokratischen Staat in Deutschland rettete, wie eine rechtserhaltende Gewalt und somit innerhalb des Rechtssystem operiert, will nach Benjamin der proletarische Generalstreik den Staat schlicht definitiv abschaf‐ fen. Damit richtet er diesen proletarischen Generalstreik weniger marxistisch als vielmehr anarchisch aus. Denn Marx geht ja geschichtsphilosophisch davon aus, dass vor dem Kommunismus erst der Sozialismus herrschen muss, dessen Kennzei‐ chen die Diktatur des Proletariats ist, was man nach Carl Schmitt als souveräne Dik‐ tatur bezeichnen könnte, wenn im Sozialismus mittels revolutionärer Gewalt ein neues Recht gesetzt wird. Erst danach stirbt der Staat langsam ab. Über politischen und proletarischen Generalstreik konstatiert Benjamin überraschend: „Während die erste Form der Arbeitseinstellung Gewalt, ist, da sie nur eine äußerliche Modifikati‐ on der Arbeitsbedingungen veranlasst, so ist die zweite als ein reines Mittel gewalt‐ los.“ (1965, 51) Mit dieser Gewaltlosigkeit zeichnet Benjamin eine Revolution aus, die alle Gewaltverhältnisse nachhaltig beseitigen soll, d.h. sie schafft letztlich das Recht ab und damit den Staat, die ja beide auf Gewalt bzw. nach Schmitt auf dem Ausnahmezustand beruhen. Benjamin beseelt womöglich der anarchische Traum einer so rechtslosen wie gewaltfreien Welt. Ob ihm dabei bewusst ist, dass er damit allen Revolutionen der Geschichte die mit ihnen gemeinhin verbundenen Hoffnungen raubt, bleibt offen. Aber diese Hoff‐ nungen waren eben Illusionen. Denn eine erfolgreiche anarchische Revolution hat es nie gegeben. Alle anderen Revolutionen wollten sich des Staates bemächtigen, um ihn für ihre Zwecke einzusetzen bzw. umzuwandeln. Jedenfalls verschieben sich die verschiedenen Begrifflichkeiten ineinander wie auseinander, so dass – das diagnosti‐ ziert Derrida gegen Benjamin – die historische Revolution der Gewalt jedenfalls verhaftet bleibt, während die anarchische als reines Mittel ohne Zweck mit dem merkwürdigen Wort „gewaltlos“ umschrieben wird. Man könnte das reine Mittel auch als rein destruktiv bezeichnen, weil sein Zweck kein konstruktiver ist, eben nicht der Aufbau eines neuen Rechts bzw. Staates. Wie kann eine Revolution, die Recht und Staat abschaffen will, gewaltlos sein? Handelt es sich dabei nicht gleichfalls um einen gefährlichen Traum? Oder soll es
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eine friedliche Revolution sein? Das sicher nicht; denn Benjamin weiß, dass es friedliche Revolutionen nicht gibt, jedenfalls nicht im Verständnis des 19. Jahrhun‐ derts, das geistig bis mindestens noch 1945 herrschte: Entweder sie sind mehr oder weniger gewalttätig oder sie sind keine Revolutionen, jedenfalls nicht in der politi‐ schen Hemisphäre. Noch dazu, wenn sie Recht und Staat abschaffen wollen, d.h. das staatliche Gewaltmonopol und die Institution, die dieses hütet. Kann man Gewalt ohne Gewalt abschaffen? Nein, Benjamin denkt nicht an Jesus Christus, auch nicht an jenen 1920 noch unbekannten Gandhi. Die pazifistischen Bewegungen nach dem ersten Weltkrieg erscheinen ihm naiv. „Inkonsequent“ – so Derrida – „sind die antimilitaristischen Pazifisten, weil sie nicht den gesetzmäßigen und unangreifbaren Charakter der rechtserhaltenden Gewalt zu erkennen vermögen.“ (1991, 86) Benja‐ min wie seine Freundin Arendt denken noch aus dem Geist des 19. Jahrhunderts he‐ raus, der Fortschritt nicht ohne Gewalt zu denken vermag, jedenfalls nicht ange‐ sichts der Nazis (vgl. Schönherr-Mann 2006, 96). Die entscheidende Voraussetzung dafür, dass eine gewalttätige Revolution als doch gewaltlos erscheinen soll, liefert Benjamin mit dem erwähnten Hinweis am Anfang seines Aufsatzes Zur Kritik der Gewalt, wenn er feststellt, dass es Gewalt nur unter Bedingungen des Rechts gibt, also nicht in einem rechtlosen Naturzustand. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Wie kann die anarchische Revolution oder der proletarische Generalstreik – nicht der gewerkschaftliche, nicht Trotzkis ro‐ te Garden – dem Naturzustand ähneln? Schließlich entstehen sie in einem so kultu‐ rellen wie rechtlichen Zusammenhang und wirken auf diesen ein. Geht es hier etwa um jenen ‚wirklichen Ausnahmezustand‘ der achten der Geschichtsphilosophischen Thesen? Während nach Benjamin die rechtsetzende Gewalt der mythischen entspricht und insoweit griechischen Ursprungs ist, erweist sich für Derrida dagegen Benjamins an‐ archische, Staat und Recht aufhebende Gewalt als jüdisch. Denn diese anarchische, gewaltlose Revolution vergleicht Benjamin mit dem göttlichen Eingriff im Tanach, den die Christen etwas umgestellt als Altes Testament kanonisierten, wenn Jahwe in‐ terveniert. Benjamins Beispiel ist vor allem die Rotte Korah, ein Aufstand gegen Aaron und Moses, die Jahwe unangekündigt und plötzlich verschwinden lässt, also eine quasi natürliche Gewalt, die kein neues Recht setzt, sondern schlicht jenseits des Rechts interveniert. Dass dergleichen womöglich Folgen für das bestehende Recht nach sich zieht, macht die Intervention nicht zu einem Rechtsfall bzw. zu einem Fall widerrechtlicher Gewalt. Vielmehr ähnelt die Intervention dem Unwetter. Nach Derrida kann das indes durchaus nachhaltige Konsequenzen haben: „Zu‐ nächst soll das Recht, ich sage nicht: die Gerechtigkeit ausgelöscht werden; zum Recht zählen dabei auch die Menschenrechte, zumindest in dem Maße, indem sie im Rahmen einer naturrechtlichen Überlieferung griechischen oder aufklärerischen Typs gedeutet werden können.“ (1991, 60) Die gewaltlose göttliche Gewalt nimmt
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also keine Rücksicht auf das Recht, schon gar nicht dort, wo es um Individualrechte geht. Daher entfaltet Benjamins Kritik am Recht wie der außerrechtliche göttliche Ein‐ griff für Derrida von vornherein fragwürdige, ja gespenstische Züge. Denn Benja‐ min verlässt den gängigen wissenschaftlichen Diskurs, der sich sprachlich auf die Repräsentation dessen stützt, was ist. Der unmittelbare Eingriff Gottes lässt sich nicht sprachlich repräsentieren, also erfassen, sondern besitzt höchstens eine ge‐ spenstische Anwesenheit, die sich unmittelbar als anwesend jenen zeigt, die den reli‐ giösen Gehalt der Sprache als Offenbarung verstehen, als Ausdruck eines unmittel‐ baren göttlichen Gehaltes – das Unwetter –, nicht als Repräsentation. Dann lässt sich der göttliche Eingriff auch nicht durchdenken geschweige denn kritisieren. Denn der Mensch ist nicht befugt, göttliches Handeln einer Kritik zu unterziehen. So bedeutet für Benjamins Freund Gershom Scholem „Offenbarung die Stufe, auf der jede Sprache absolut positiv wird und nichts mehr ausdrückt als das Positive der sprachlichen Welt (...),“ (2019, 35) was er 1917/18 in der Zeit des intensivsten Kon‐ takts mit Benjamin schreibt. Dagegen haben die Figuren des Textes für Derrida ei‐ nerseits schon eine Bestimmung, eine Singularität – der eingreifende Gott –, ande‐ rerseits aber unterliegen sie ständigen Verschiebungen. Selbst wenn der göttliche Eingriff nämlich den rechtlichen Gewaltzustand been‐ det, fragt sich, wie das geschehen soll. Aber für Benjamin ist diese göttliche Gewalt quasi natürlich und insofern entweder gewaltlos, weil sie aus einem Jenseits des Rechts stammt, oder ein reines Mittel, also Mittel ohne rechtlichen Zweck, was nach Benjamin folglich gar keine Gewalt darstellt, vor allem deshalb, weil sie in keinem Fall wie die mythische Gewalt einen neuen Rechtszustand installiert. In diesem Sinn stellt Benjamin „die Frage nach einer reinen unmittelbaren Gewalt (...), welche der mythischen Einhalt zu gebieten vermöchte. Wie in allen Bereichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die göttliche entgegen. (...) Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so ver‐ nichtet diese grenzenlos, (...).“ (1965, 59) Die göttliche Gewalt, der göttliche Ein‐ griff operiert nicht im Rahmen des Rechts, sondern von einer transzendenten Posi‐ tion außerhalb der in der Lebenswelt gegebenen Rechtsphäre mit ihren Ein- und Ausschlüssen, also ihren Grenzziehungen. Doch das Transzendente lässt sich nicht repräsentieren. Es drückt sich unmittelbar im Eingriff aus, sozusagen wird die Welt selbst zum Zeichen, das genau zu verstehen gibt, was man sieht. Merkwürdig allerdings, dass die göttliche Gewalt nicht bloß das Recht vernichtet, sondern überhaupt alles grenzenlos. Welche Gewalt hat derart je operiert? Aber beim göttlichen Eingriff handelt es sich um keine historische Gewalt. Was geschah dann mit der Rotte Korah? Derrida dagegen bezweifelt die Ferne des Transzendenten. Im Geschehen äußert sich diese doch unmittelbar durch den Revolutionär in welcher Form auch immer.
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„Die unzugängliche Transzendenz des Gesetzes,“ so Derrida, „vor dem der ‚Mensch‘ (räumlich und zeitlich) steht, scheint nur soweit unendlich transzendent und also theologisch zu sein, wie sie, dem ‚Menschen‘ ganz nahe, von ihm allein ab‐ hängt, von dem performativen Akt, durch den er sie einrichtet.“ (1991, 79) Wie an‐ ders kann die gewaltlose göttliche Gewalt sich in der Erfahrungswelt bemerkbar ma‐ chen! Durch einen Menschen, der das Recht performativ aufhebt. Das erscheint aus der Perspektive der beobachtenden Menschen gewaltsam, aus der göttlichen bzw. natürlichen Perspektive, des subjektiv in Gottes Namen Handelnden indes nicht. Aber diese bleibt im jüdischen Sinn immer eine, die erst kommen wird: der Mes‐ sias, auf den das Volk Israel wartet. Das umschreibt denn Agamben mit den Worten: „Der spezifische Wesenszug dieser Gewalt ist, dass sie weder Recht setzt noch bewahrt, sondern Recht ent-setzt (...) und so eine neue Geschichtsepoche eröff‐ net.“ (2004, 65) Damit hintergeht Benjamin den Schmittschen Ausnahmezustand: Eine Gewalt nicht bezogen auf das Recht, sondern absolut jenseits des Rechts, tran‐ szendent soll den Rechtszustand aufheben, so dass die Menschen in eine veränderte Lebensform einkehren bzw. dass sie ins Leben überhaupt zurückkehren. Aber das impliziert nach Agamben noch einen anderen Gedanken, den Benjamin in einem Brief vom Januar 1919 erläutert: Reinheit hat nichts mit dem Wesen einer Sache zu tun, als würde man sie allein aus sich selbst heraus erklären: das reine We‐ sen der Gewalt, ihr Kern, nicht wie sie sich in der Lebenswelt aufführt. Reinheit ist vielmehr eine Bedingung, die von außen an die Sache herantritt. So heißt es im be‐ sagten Brief: „Für die Natur ist die außerhalb ihrer selbst liegende Bedingung ihrer Reinheit die menschliche Sprache.“ (zit. Agamben 2004, 73) Agamben verweist an dieser Stelle auf den Mittelcharakter, der sich bei der reinen und der mythischen Ge‐ walt unterscheidet. Die mythische Gewalt ist Mittel zum Zweck, während die reine Gewalt ohne Zweck ist, also zwecklos. Gewalt um ihrer selbst willen? Durchaus! Zwecke werden gemeinhin sprachlich formuliert, verfolgt man nur Zwecke, wenn man sich dazu Mittel ausdenkt und das nicht intuitiv sondern bewusst unternimmt. Man darf zwar bezweifeln, dass sich Handelnde so benehmen. Nichtsdestotrotz exis‐ tieren Zwecke nur in der Sprache, die diese vorstellt. Wenn sich reine und mythische Gewalt unterscheiden, dann liegt das nicht an der jeweiligen Gewalt selbst, sondern daran wie sie sich entweder sprachlich unmittelbar ausdrückt oder wie sie sich mit‐ telbar sprachlich repräsentiert. Gemäß dem vorherrschenden wissenschaftlichen Ver‐ ständnis von Sprache ist letzteres ihre primäre Funktion, also die Repräsentation. Dass Sprache etwas unmittelbar ausdrückt und mit dem Ausgedrückten gar eine Ein‐ heit ergibt, gilt als Sonderfall. Nicht so für Benjamin im Anschluss an Scholem, für den in jüdischer Tradition das Althebräische die Wahrheit unmittelbar ausdrückt, was selbstredend daran liegt, dass das Althebräische einen offenbarenden Charakter entfaltet. So spricht Scholem 1918 von einer „unbefleckten Erkenntnis“: Auch „sie hat in der Strenge der Sprache,
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in der Ehrfurcht vor dem Guten, das zu erzeugen ihr versagt ist, den Mythos über‐ wunden.“ (2019, 534) Wie im Benjaminschen Text, wenn die reine göttliche Gewalt die mythische hinter sich lässt, entwickelt das Hebräische eine dem Mythos überle‐ gene Ausdrucksform, die Reinheit in der Einheit von Ausdrückendem und Ausge‐ drücktem, die sich eigentlich nicht unterscheiden lassen. Dagegen kritisiert Scholem in jenen Jahren ein aufgeklärtes Judentum, das sich seit dem 18. Jahrhundert um Säkularisierung bemüht sowie eine neuhebräische Lite‐ ratur, die sich von der religiösen Tradition löst. So bemerkt Scholem: „Bei der Wan‐ derung der Sprache vom Buch ins Leben ist die ‚Seele‘ verloren gegangen. Das, des‐ sen wir uns so rühmen, ist keineswegs rühmenswert, denn wir haben das Hebräische nicht wiederbelebt, sondern nur einen Golem davon, ein Esperanto, d.h. wir haben gerade etwas Negatives geleistet.“ (2019, 299) Vor diesem Hintergrund lässt für Scholem das Neuhebräische die religiösen Wurzeln des Hebräischen auf. Nur eine reine Sprache aber, beispielsweise die des biblischen Hohen Liedes, ent‐ spricht der geistigen bzw. göttlichen Ordnung der Welt, die das Althebräische direkt ausdrückt und nicht erst repräsentiert. In dieser Sprache formulieren sich die Dinge in ihrer Reinheit. Das Hebräische des Tanach oder der Thora offenbart die Welt in ihrer reinen Positivität. Schon 1917 schreibt Scholem: „Die Hebräische Sprache, wie jede Sprache in der Epoche ihrer Würde – die das Hebräische niemals verlassen hat –, kann keine Gemeinheiten ausdrücken.“ (2019, 229) Es drückt nur reine Wahrheit aus, die sich niemals mit Lügen, Gemeinheiten oder Obszönitäten gemein machen kann. So hat das Althebräische eine Würde, die man diesem gar nicht nehmen kann. Sie verdankt sich einer unauflösbaren Verbindung zu den religiösen Grundlagen als göttlicher Offenbarung. Auch für Benjamin drückt die Sprache die Natur der Dinge unmittelbar aus, d.h. letztlich dass die Reinheit der Gewalt gar nicht von außen an diese herantritt, son‐ dern in dem liegt, wie sie sich formuliert. Verglichen mit der Sprache, die als reine nicht als Mittel der Kommunikation oder Repräsentation dient, sondern allein Aus‐ druck ist, erweist sich reine Gewalt als Demonstration oder Manifestation ihrer selbst: Etwas moderner formuliert, sie tut etwas, d.h. sie entfaltet einen performati‐ ven Charakter und sei es nur dadurch, dass sie benennt und damit die benannten Dinge direkt zu verstehen gibt. Für Scholem wäre das eine massive Verkürzung. Als reiner sprachlicher Ausdruck tritt Gewalt aus dem Kontext des Rechts heraus, in dem Gewalt immer nur sprachlich repräsentiert wird. Das lässt sich im Sinn von Agamben dann durchaus mit dem Ausnahmezustand bei Schmitt vergleichen. Trotz‐ dem unterscheiden sich die beiden Positionen just eben im Verhältnis zum Recht, das von der jeweiligen Gewalt, der reinen göttlichen oder der souveränen Ausnah‐ me, auf unterschiedliche Weise auf Distanz gehalten wird, was auch auf unterschied‐ liche Differenzen und Verschiebungen verweist. So stellt Agamben fest: „Während die Gewalt, die Mittel zur Setzung des Rechts ist, den eigenen Bezug zu diesem nie
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entsetzt (...), exponiert und unterbricht reine Gewalt die Verbindung von Recht und Gewalt und kann so letztlich nicht als Gewalt erscheinen, die regiert oder ausübt (‚die schaltende‘), sondern als Gewalt, die rein handelt und manifestiert (‚die wal‐ tende‘).“ (2004, 75) Eine Gewalt, die nicht um die politische Macht kämpft, diese aber destruiert, oh‐ ne neue staatliche Institutionen zu errichten, lässt sich weder als rechtsetzende noch als rechtserhaltende Gewalt bezeichnen. Sie zerstört die Bedingungen einer solchen sprachlichen Repräsentation. Sie drückt sich nur selbst aus, fallen Bezeichnendes und Bezeichnetes in eins und zwar nicht dadurch dass sich das Bezeichnete in Be‐ zeichnendes auflöst, also semiotisch auf weitere Zeichen verweist, sondern umge‐ kehrt dadurch dass das Bezeichnete selbst als Bezeichnendes erscheint. Die das Recht aufhebende reine Gewalt ist primär ein performativer sprachlicher Akt, ein Ausdruck, der zugleich etwas bedeutet: indem der Rechtszustand beendet wird, ist folglich die Gewalt anarchisch und rein. Aber eine zerstörerische Kraft bleibt die reine Gewalt, zerstört sie zumindest das Recht und den Staat. Wenn diese beiden auf Gewalt beruhen, dann handelt es sich bei der reinen Gewalt um eine Gewalt, die Gewalt aufhebt. Trotzdem erhält sie ihre Reinheit gerade nicht dadurch, was sie angeblich tut und bewirkt, sondern was sich damit unmittelbar ausdrückt, also sprachlich. Allerdings wird diese sprachlich aus‐ gedrückte reine Gewalt auf die Sprache zurückwirken, d.h. diese ihres repräsentie‐ renden oder kommunikativen Charakters entheben. Das erweist sich säkular formu‐ liert als die reine Performanz, wenn Sprache etwas tut, beispielsweise reine gewalt‐ lose Gewalt. Andererseits gibt sie damit auch unmittelbar die Welt zu verstehen und erweist sich als hermeneutische Macht. Aber sie repräsentiert diese nicht, sondern drückt sie unmittelbar aus, ist just dieser Ausdruck hermeneutische Macht. Was könnte machtvoller sein! Was könnte unkommunikativer sein! Derrida jedenfalls be‐ trachtet das Szenario mit großer Skepsis.
2. Gewalt als Ausdruck des Lebens Wie der Ausnahmezustand folgt die reine göttliche oder anarchische Gewalt keiner Regel. Doch während Schmitt den Ausnahmezustand auf den Rechtszustand bezieht, drückt sich die reine Gewalt unmittelbar aus, bedarf sie keiner rechtlichen Vermitt‐ lung. Was aber drückt die reine Gewalt aus, wenn sie sich selbst ausdrückt? Entzieht sie sich jeder anderen Bedeutung? Oder schwingt darin doch auch etwas anderes mit? Überführt das eine Sprache als Ausdruck wiederum in eine der Repräsentation? Daraus ergibt sich die Frage nach dem theoretischen Status von Benjamins anarchi‐ scher Revolution bzw. gewaltloser Gewalt. Handelt es sich um eine Aufforderung zum Handeln oder um eine zum Nachdenken?
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Da es Gewalt nur innerhalb des Rechts und nicht in der Natur gibt, steht diese göttliche oder anarchische Gewalt außerhalb dieser Rechtssphäre und ist als Gewalt – jenseits des Rechts – doch keine Gewalt, also eine gewaltlose Gewalt: Gott ist nun mal weder ein Gewalttäter noch ein Verbrecher: wenn seine Strafe noch so gewalt‐ sam erscheint, insistiert doch Thomas von Aquin darauf, „dass es den Heiligen, ‚da‐ mit ihre Seligkeit noch erfreulicher wird (..) verliehen ist, die Strafe der Gottlosen vollkommen zu schauen.‘“ (zit. bei Agamben 2007, 68) Eine solche göttliche Ge‐ walt braucht kein Recht, ist vielmehr rechtlos, was genau die gewaltlose Gewalt aus‐ macht. Auch bei Scholem verschwimmt die Gerechtigkeit, auf die man sich in kei‐ nem Fall berufen kann, vor allem nicht gegenüber den Menschen, mit denen man in rechtlichen Verhältnissen lebt. Gott gegenüber kann man auch nicht gerecht sein, weil eigentlich nur Gott gerecht sein kann, die Menschen diese Gerechtigkeit aber nicht erfassen. Folglich verdunkelt sich die Gerechtigkeit nicht nur bei Benjamin, sondern auch bei Scholem, also sowohl in revolutionärer wie in religiöser Perspekti‐ ve. Trotzdem drückt sich die reine Gewalt nicht bloß selbst aus. Damit entfaltet sie eine Performanz, die allerdings in die Natur zurückverweist, was sich als Repräsen‐ tation verstehen ließe. Denn nach Benjamin erhält der göttliche Eingriff das Leben als solches, war das Leben das große Thema der Jahrhundertwende, das viele der da‐ maligen Zeitgenossen durch Recht und Kultur, rechtliche bzw. rationalisierte Ver‐ hältnisse bedroht sahen, nach Max Weber damit durch ein „stahlhartes Gehäuse“ (1979, 188). Demgegenüber besinnen sich viele auf die Natur. Solch ein Zeitgeist entspricht durchaus Rousseau, für den der Mensch naturnah erzogen werden soll, weil seine ursprüngliche Natur nicht egoistisch sei. Aber für Rousseau kann die Natur selbst keine solche Rolle spielen, gibt es für ihn auch kein ‚Zurück zur Natur‘. Wie heißt es doch im Zweiten Diskurs von 1755: „Muss man die Gesellschaften zerstören, Mein und Dein beseitigen, zu einem Leben mit den Bären im Walde zurückkehren? Das ist eine Folgerung in der Art meiner Gegner.“ (1971, 125) Rousseau betrachtet den Naturzustand als einen vorrechtlichen Zustand und kommt damit Benjamins These durchaus nahe, dass es Gewalt nur unter Bedingun‐ gen von Sittlichkeit und Recht gibt. Heidegger lässt dagegen im Spiegel-Gespräch mit Rudolf Augstein im Jahr 1966 den berühmten Satz fallen: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“ (1988, 100) Das klingt beinahe wie Benjamins göttlicher Eingriff mit gewaltloser Gewalt. Doch Heidegger denkt nicht mehr aus dem Horizont der Subjektphilosophie, ist der Mensch nicht mehr Herr der Technik, so dass er sich nicht selbst helfen kann. Ge‐ mäß Benjamin müssen die Menschen dagegen so agieren, wie es der göttliche Ein‐ griff unternehmen würde, müssen das machen, was Geschichte oder Gott von ihnen verlangen. Jedenfalls warten sie nicht auf Heideggers ‚Ankunft des letzten Gottes‘, was eher jüdisch klingt und Scholem nicht so fern ist.
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Andererseits antizipiert Benjamin mit dem Eingriff Gottes im Dienst des Lebens Foucaults gouvernementale Perspektive, wenn der neuzeitliche Staat primär das Le‐ ben zu sichern hat, wie es Hobbes auf den Begriff brachte. Ähnlich lässt sich auch Agambens Homo sacer Projekt interpretieren, für den das nackte Leben zum Gegen‐ stand der modernen Politik avanciert, heißt es bei Agamben: „Die Politik ist nun buchstäblich die Entscheidung über das Unpolitische (das heißt das nackte Leben).“ (2015, 182) Benjamins Vorstellung einer anarchischen Revolution bedeutet das Ende des Rechts, des Staates und damit der Politik. Während bei Foucault das Leben jedoch staatlich verwaltet und somit juridifiziert wird und dadurch der Politik einen Zweck und Sinn anweist – für Schmitt wäre das das Ende der Politik im bloßen rationalen Verwaltungshandeln, womöglich in der Ökonomisierung –, generiert sich Politik bei Agamben aus dem nackten Leben he‐ raus, stellt sich dadurch eine Beziehung zu dem der Politik gegenüber anderen her, das sich mit Benjamins Ansatz in Zur Kritik der Gewalt vergleichen lässt, bei dem nämlich das Leben entweder als göttlicher Eingriff oder als anarchische Revolution in Recht und Politik interveniert. Benjamin wird dabei von Georges Sorel inspiriert, der in seinem Buch Über die Gewalt aus dem Jahr 1908 bereits einen ähnlichen Gedanken formuliert. „Die prole‐ tarische Gewalt (...) steht im Dienste der zutiefst begründenden Interessen der Zivili‐ sation; sie (...) vermag die Welt vor der Barbarei zu erretten.“ (1928, 103) Nach So‐ rel führt die proletarische Gewalt nicht in einen gewerkschaftlich dominierten Staat, sondern steht im Dienst des Lebens, wenn sich der Proletarier nicht in der Arbeit, sondern im Klassenkampf auslebt. Das führt zu keiner Lohnerhöhung und zu keinen betrieblichen Rechten. Dagegen verkörpert das Proletariat für Sorel eine lebendige Stärke, die dem Bürgertum in seiner Dekadenz längst abgeht. So gehört Sorel zu den Wegbereitern von vor allem rechten, konservativen, aber auch linken Vordenkern, die die Demokratien gemeinhin als schwach abkanzeln. In den fünfziger Jahren kritisieren insbesondere Arnold Gehlen und Eric Voegelin die westlichen Staaten, dass sie den Konsum förderten, anstatt die Militärausgaben zu erhöhen. So schreibt Gehlen: „alle Regierungen befinden sich heute in dem Dilem‐ ma zwischen Stärkung der Wehr- und Verteidigungskraft und Senkung des Lebens‐ standards.“ (1978, 18) Carl Schmitts ähnliche Liberalismus- und Parlamentarismus-Kritik stammt ja be‐ reits aus der Zeit nach 1918 und wird seither im rechten Lager fleißig wiederholt. Im Zentrum steht – seitdem Schmitt Benjamin gelesen hat – ein Gedanke, den bereits Sorel gemäß dem lebensphilosophischen Zeitgeist gedacht hat, wenn Schmitt den Ausnahmezustand entwickelt, über den der Souverän zu entscheiden hat: „In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wieder‐ holung erstarrten Mechanik.“ (2004, 21)
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So weist auch Giorgio Agamben 2003 daraufhin, dass sich im Sinn von Schmitt das Recht nicht unmittelbar mit dem Leben verbindet, sondern allein vermittels der Ausnahme, die zugleich der Ursprung des Rechts ist, also quasi aus der Sphäre des Lebens oder der Natur stammt. Allerdings stellt sich diese Beziehung zwischen Recht und Leben nur dadurch her, dass das Recht aufgehoben wird – nun ja, das Recht ist ja eine „in Wiederholung erstarrte Mechanik“. Daher entwickelt Agamben eine Theorie des Ausnahmezustands. Sie ermöglicht das „Verständnis der Bezie‐ hung, in der sich das Lebendige ans Recht bindet und – zugleich – an es verliert.“ (2004, 7) Nach Sorel ist die Bourgeoisie so dekadent, d.h. in ihren ökonomischen Zwängen, ihren bürokratischen Strukturen und in einer humanistischen Rechtsmoral verfan‐ gen, dass sie sich um einen sozialen Ausgleich bemüht, anstatt das Proletariat in einer Art verschärftem Klassenkrieg zu bekämpfen und zu unterwerfen. Solch ein sozialer Ausgleich schwächt nach Sorel die Macht und stärkt sie nicht. Die Konse‐ quenzen daraus wird der Faschismus ziehen. McCarthy-Ära und Christian Coalition wie Tea-Party, die alles Liberale verschärft und radikal bekämpfen, ziehen ebenfalls quasi die Lehren aus Sorel. So stellt Hannah Arendt 1970 in ihrem Buch Macht und Gewalt einen Zusam‐ menhang bei Sorel fest, der sich ähnlich bei Benjamin diagnostizieren lässt – Arendt geht 1970 auf Benjamins Zur Kritik der Gewalt aber nicht ein: „Sorel entwarf seine ‚Apologie der Gewalt‘, weil er in ihr die größte, wenn nicht einzige Manifestation des Lebens sah“ (2003 b, 70), zu der der Dekadente nicht mehr fähig wäre. Dagegen würde sich durch die Gewalt das Leben selbst kraftvoll äußern und nach seinem Recht verlangen, genauer die rechtlichen Fesseln sprengen, verkörpert der Krieger als Revolutionär das Leben, nicht der Arbeiter als arbeitender, der sich vielmehr der Revolution anschließen muss, um damit zum Krieger werden – ähnlicher Topoi be‐ dient sich die terroristische Organisation Islamischer Staat – eine Attribuierung mit der auch Schmitt kein Problem haben sollte. Dieser will 1922 den starken Staat, der sich mit dem Ausnahmezustand gegen die Angriffe aus der Arbeiterbewegung ver‐ teidigt. Just die Nazis werden diese Figur des Kriegers als Bild für das Lebendige in die historische Realität umsetzen und sich dabei fleißig lebensphilosophischer Bilder bedienen – man denke an Leni Riefenstahls Film über den Nazi-Parteitag 1934 Tri‐ umph des Willens (Deutschland 1935). Benjamin gibt sich indes mit Sorels Antwort auf die Frage nicht zufrieden, wie das Lebendige als das Andere des Rechts zurück in die Geschichte kommt. Nur durch einen Akt von außen, der sich weder an einem Moralcode noch an einer Rechtsordnung orientiert – also nicht am Sittlichen – und auch nichts dergleichen herstellen will, schon gar keine neue Rechtsordnung. Ich darf nochmals daran erin‐ nern, dass Benjamin am Anfang von Zur Kritik der Gewalt feststellt, dass es im Na‐ turzustand keine Gewalt gibt.
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Das Recht produziert die Gewalt und daher muss der Rechtzustand aufgehoben werden, um dadurch in eine Art Naturzustand zurückzukehren. Daher dürfte Schmitt der Benjaminsche Gedanke einer gewaltlosen Gewalt durchaus fasziniert haben. Denn er eröffnet eine morallose Perspektive auf den Ausnahmezustand und damit auf die Politik, kritisiert Schmitt schließlich jede Form der Moralisierung derselben. Zudem enthebt er den Ausnahmezustand auch einer rechtlichen Kritik, die ihn wie auch immer beeinträchtigen könnte. So deutet sich in der Tat eine Linie von Sorel über Benjamin zu Schmitt an, die das Leben jenseits von Recht und Moral mit einer natürlichen Gewalt verbindet, an die die Nazis anschließen konnten. Dass sich diese reine Gewalt eines Außen des Rechts verdankt, dem folgt Carl Schmitt natürlich nicht. Vielmehr dreht er diese Konzeption um, was Agamben als eine Kritik Schmitts an Benjamin liest, wenn er schreibt: „Schmitts Lehre von der Souveränität, die er in der Politischen Theologie entwickelt, kann in mehreren Punk‐ ten als Antwort auf Benjamins Essay gelesen werden. Während Benjamins Vorge‐ hensweise in der Kritik der Gewalt darauf abzielte, sich der Existenz einer reinen anomischen Gewalt zu versichern, geht es dagegen für Schmitt darum, eine solche Gewalt in den Rechtskontext zurückzuholen.“ (2004, 66) Der Ausnahmezustand steht für Schmitt ja in einem Zusammenhang zur Norm, zum Gesetz, zum Recht, de‐ nen gegenüber er die Ausnahme sein soll. Nur dass er das nicht bleibt, dass er zur Normalität werden könnte, daran hatte Schmitt 1922 noch nicht gedacht. So schreibt Agamben weiter: für Schmitt „ist der Ausnahmezustand der Raum, in dem die Ben‐ jaminsche Idee einer reinen Gewalt festgehalten und die Anomie in das Corpus des nómos selbst eingeschrieben werden soll. Für Schmitt kann es so etwas wie eine rei‐ ne, absolut außerhalb des Gesetzes stehende Gewalt nicht geben (...).“ (2004, 66) Freilich würde Benjamin dem allen widersprechen, für den erweiterte Polizei‐ rechte die rechtsetzende Gewalt der Polizei untermauern, damit dem Recht verhaftet bleiben, weist ja Derrida auch daraufhin, dass sich die rechtsetzende von der rechts‐ erhaltenden Gewalt nicht scharf trennen lässt. Außerdem begegnet Benjamins reine göttliche Gewalt dezidiert dem Recht von außen, wie die anarchische Revolution, nicht von innen wie bei Schmitt. Reine Gewalt zielt auf die Aufhebung bzw. Zerstö‐ rung des Rechts. Nur vor diesem Hintergrund ist Benjamins Gewaltlosigkeit dieser reinen Gewalt zu verstehen. Aber eine solche Wirkung gesteht Benjamin ähnlich wie Georges Sorel weder dem politischen Generalstreik noch der kommunistischen Revolution zu, die beide nur in neue Rechts- bzw. in neue Gewaltverhältnisse führen, sehr wohl aber dem proletarischen Generalstreik, der anarchisch den Staat abschafft bzw. rechtlich be‐ trachtet in den Naturzustand zurückspringt, jedenfalls aus dem Rechtszustand her‐ ausspringt. Genau in diesem Sinn steht die anarchische Revolution – man müsste von fundamentaler Kulturrevolution sprechen wie der Eingriff Gottes im Dienst des Lebens. Denn diese Revolution befreit das Leben von den gewaltbasierten rechtli‐
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chen Verhältnissen, von Rationalisierungsprozessen, die das Leben erstarren lassen. Stattdessen wird es wieder verlebendigt, wenn die Gewalt einfach zur Natur gehört und insofern keine Gewalt ist, weil die Kultur diese nicht mehr derart diffamieren kann. Man darf allerdings einwenden, ob dann im Ausnahmezustand oder jenseits des Rechtszustands das menschliche Leben just so erscheint, wie es Hobbes im Na‐ turzustand charakterisiert, nämlich als „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (1984, 96): das Leben des Kriegers in der Kriegergesellschaft, an den Sorel denkt, Benjamin nicht unbedingt. Nach Derrida will Benjamin damit eine Position außerhalb des Rechts und des Staates finden, von dem aus staatliches wie politisches Handeln zu beurteilen wäre. Das könnte den Sinn von Benjamins Text aus dem Jahr 1921 wohl am besten wie‐ dergeben, ist eine anarchische Revolution so wenig absehbar wie die Ankunft des Messias, also der göttliche Eingriff. Und womöglich ging es Benjamin angesichts der Oktoberrevolution eher um den Aufschub, die Verschiebung von revolutionärem Handeln, schreibt Scholem 1918 in einer Zeit intensiven Austausches mit Benjamin das Lehrgedicht von der messianischen Zeit, dessen folgende Zeilen wie eine Antizi‐ pation von Zur Kritik der Gewalt gelesen werden können: „Was du sahst hat sich verwandelt / jedes Wesen ist verjüngt / jeder der im Aufschub handelt / in die Welt Erlösung bringt“. (2019, 708) Dazu bemerken die Herausgeber von Scholems Poeti‐ ca im Glossar des Gedichts: „Scholems Konzeption vom Handeln im Aufschub, die er 1918 entwickelte und eingehend mit Benjamin diskutierte, soll ihrem Urheber zu‐ folge die ‚zentrale ethische Idee‘ im Judentum darstellen und meint die Nicht-Voll‐ streckung des göttlichen Urteils, wodurch Recht zu Gerechtigkeit gewendet wird.“ (in: Scholem 2019, 709) Dann dient Benjamins Revolutionstheorie im Sinn von Der‐ rida nicht nur dem politischen Verstehen, sondern auch der Verhinderung von Revo‐ lutionen, eben im Sinn von Aufschub. Außerdem erhellt dieser Begriff auch Derri‐ das Différance, bei der der Aufschub und die Verschiebung ja eine zentrale Rolle spielen. Nicht nur dass sich damit der jüdische Migrationshintergrund der Dekon‐ struktion bekräftigt, auch Derridas These von der Dekonstruktion als Gerechtigkeit dürfte davon inspiriert sein, wenn sich Gerechtigkeit nicht durch Recht, sondern durch Aufschub entwickelt. Dann verwundert auch Bertolt Brechts hartes Urteil aus marxistischer Perspektive nicht mehr. Ja, die Debatten mit Scholem über den Aufschub als ethisches Prinzip lassen es umso berechtigter erscheinen: „Alles Mystik, bei einer Haltung gegen Mystik. In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft.“ (zit. bei Palmier 2009, 980) In einem etwas anderen Sinn als Brechts Urteil kritisiert Derrida, dass Benjamin ein Abschied aus der Tradition des Rechts durch eine außerrechtliche Gewalt letzt‐ lich nicht gelingt: „Allerdings trifft umgekehrt zu, dass jenes was Benjamin später dann zur göttlichen Gerechtigkeit äußert, nicht durchgängig mit dem theologischen
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Hintergrund oder Wesen aller naturrechtlichen Konzeptionen unvereinbar ist.“ (1991, 72) Einerseits lassen sich Naturzustandskonzeptionen der Aufklärung mit Benjamins Idee einer göttlichen gewaltlosen Gewalt parallelisieren: Aus rechts- wie geschichtsphilosophischer Perspektive liegt der Naturzustand genauso außerhalb des Rechtszustands wie eine transzendente Gewalt. Andererseits transformieren sich un‐ ter der Perspektive des Aufschubs theologisch eschatologische Vorstellungen in jene eines historischen Fortschritts. Und das gilt gleichfalls in doppelter Hinsicht: Erstens verbleibt Benjamins Revolutionstheorie in der jüdisch messianischen Tra‐ dition, wenn der apokalyptische Eingriff Gottes die Welt auf den richtigen Weg bringt, dabei aber nicht wie in der christlichen Apokalypse mit einem Untergang, d.h. einem absolutem Ende der Welt droht. Damit nähert sich Benjamin denn auch einer Geschichtsphilosophie des Marxschen Stils an, da dessen Geschichtsphiloso‐ phie, und erst recht seine ökonomische Theorie nicht der christlichen Eschatologie entspricht, sondern dem jüdischen Messianismus. Zweitens darf man speziell vor dem Hintergrund der Debatten mit Scholem um den Aufschub unterstellen, dass sich mit Benjamins Radikalisierung von Marx‘ Re‐ volutionstheorie als Aufhebung des Rechts just dort, wo Marx den Staat mit der Dik‐ tatur des Proletariats fortschreibt, im Sinn von Derrida eine Kehre andeutet, die sich auch im Leben von Marx vollzog. So bemerkt Kurt Bayertz: „Unter dem Eindruck der politischen Verhältnisse Englands hat er (...) später (...) die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus nicht mehr ausgeschlossen.“ (2018, 199) Marx‘ Prognose einer baldigen sozialen Revolution hatte dabei noch ganz uner‐ wartete Effekte, die an den Aufschub erinnern. Er selbst warnte Revolutionäre da‐ vor, die Revolution gewaltsam vom Zaun brechen zu wollen. Dafür müssten erst die Bedingungen eintreten, also der Kapitalismus in eine ernste Krise geraten. Die Sozi‐ aldemokraten um den Marx-Freund Wilhelm Liebknecht oder August Bebel durften sich ja auch nicht revolutionär gebärden, wären sie dann massiven staatlichen Re‐ pressionen ausgesetzt gewesen. Stattdessen konnten sie sich beruhigt auf soziale Re‐ formen konzentrieren in der Gewissheit, dass die große Krise des Kapitalismus ein‐ treten und damit die Revolution von selbst kommen werde. Dafür würde das ‚Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate‘ automatisch sorgen – Reformpolitik würde das nicht verhindern. Marx‘ historische Perspektive schiebt sich somit selbst auf, moderiert das politische Handeln weg von einem revolutionären hin zu einem refor‐ merischen und zwar durch die sichere Gewissheit der Ankunft der Revolution. Dann kann man sie reformerisch auch noch etwas aufschieben, muss sie so wenig sofort kommen wie der Messias. Das steht nun in krassem Gegensatz zu Benjamins anarchischer Revolution als gewaltloser Gewalt im Sinn eines göttlichen Eingriffs. Wenn aber der ethische Kern des Judentums darin liegt, just diesen Eingriff Gottes aufzuschieben, dann eben
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meint Benjamin seine Kritik der Gewalt gar nicht so anarchisch revolutionär wie es scheint. Dann ist sie mehr noch als eine Theorie der Revolution eine Kritik der Re‐ volution. Diese Kritik trifft sich mit Marx wiederum dort, wo sie nicht so ethisch gemeint sein könnte, wie es sich wahrscheinlich Scholem gewünscht hätte. Denn Benjamin geht ja zum Recht auf Distanz und sucht anders als Derrida sein Heil nicht in der Gerechtigkeit. Auch Marx beruft sich nicht auf die Ethik, Sittlichkeit und Gerechtig‐ keit, sondern konzentriert sich auf die ökonomischen Interessen und die damit ver‐ bundene Macht, die sich letztlich auf Gewalt stützt. Dann darf man ein wenig speku‐ lieren, dass speziell der späte Marx, der die Revolution nicht mehr so sehr in den Vordergrund schiebt, gegen Benjamins Interpretation nicht so viel einzuwenden ge‐ habt hätte wie Brecht. Aus dieser jüdischen Perspektive schwächt sich die Kritik Derridas ab, göttliche Gewalt im Dienst des Lebens jenseits des Rechts entspreche einer Biopolitik, die staatlich das Leben lenkt. Wenn der Eingriff Gottes wie die anarchische Revolution utopisch verblassen, dann dient Benjamins Konzeption dem Aufschub der Revoluti‐ on. Nur dass dergleichen nicht verhindern konnte, dass eine ganz andere stattfand als die, die Benjamin erwartete, unterstützt ex post Derridas Kritik weiterhin. Er grenzt dabei seine politische Philosophie vor allem von Schmitt sowie einem Staatsver‐ ständnis ab, das diesen normativ am Sicherheitsdispositiv orientiert, das für Derrida wie für Foucault nur deskriptiven Charakter behält.
3. Heilende Kreativität der Gewalt Verliert reine Gewalt mit ihrer Orientierung am Leben nicht ihren Status als reine? Gibt damit die reine Gewalt ihren unmittelbaren Ausdruck auf und kehrt in die sprachliche Repräsentation des Lebendigen ein? Oder realisiert sich derart der wirk‐ liche Ausnahmezustand, den Benjamin 1940 erhofft? Voraussetzung für die Übertragung des jüdischen Modells auf die zeitgenössi‐ schen Ereignisse ist, dass der Staat nach Benjamin mit dem Streikrecht den Gewerk‐ schaften eine nichtstaatliche Ausübung von Gewalt zugesteht, die sogar rechtsetzen‐ den Charakter annehmen kann. Denn es handelt sich bei einem Streik immer um eine Ausübung von Gewalt – eine Auffassung, die man, das hat Hannah Arendt be‐ reits 1970 bemerkt, heute nicht mehr unbedingt teilen würde. Trotzdem bleibt der Gedanke durchaus plausibel, wenn man Recht mit Gewalt verbindet und nicht wie Arendt unter dem rechtlichen Raum einen gewaltfreien versteht: außerhalb der Mau‐ ern der Polis herrscht der Kriegszustand, innerhalb diskutieren die Athener Bürger friedlich über die politischen Angelegenheiten. Aber beide Positionen – jene von Benjamin, der Gewaltlosigkeit nur historisch punktuell erkennen will, und die von
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Arendt, die dem Recht attestiert, einen gewaltfreien Raum zu erstellen – werden in der aktuellen Debatte eher verdrängt. So spricht Derrida: „Offensichtlich glaubt Benjamin nicht an das Argument der Gewaltlosigkeit des Streiks. Die Streikenden stellen Bedingungen, um die Arbeit wieder aufzunehmen, sie brechen den Streik nur ab, wenn sich ein bestimmter Stand der Dinge geändert hat. Gewalt steht also gegen Gewalt.“ (1991, 75) Also nicht nur ein politischer Generalstreik, der dabei auf eine Neugründung des Staates abzielt, entfaltet rechtsetzende Gewalt, sondern letztlich jeder Streik, wie‐ wohl sich das Problem der Gewalt offen erst im Generalstreik präsentiert. So ist Benjamin durchaus ein Skeptiker des Streiks, dem er nicht nur einen gewalttätigen Charakter, sondern damit auch einen rechtsetzenden attestiert: In beiden Fällen ist die Gewalt des Streiks kein reines gewaltloses Mittel im Sinn eines Eingriffs Gottes, der den Rechtszustand als solchen aufhebt. Schon Sorel hatte sich vom gewerk‐ schaftlichen Streik nichts erwartet und damit der Argumentation von Benjamin den Weg geebnet. Obendrein entfalten Sorels Worte ja beinahe prophetischen Charakter: „da das Proletariat vollkommen in offizielle Gewerkschaften eingereiht sein würde, würden wir die soziale Revolution in eine wunderschöne Knechtschaft auslaufen se‐ hen.“ (1928, 204) Den proletarischen Generalstreik versteht Benjamin dagegen weniger aus marxis‐ tischer, denn aus anarchischer Perspektive, will letztere den Staat als solchen ab‐ schaffen und somit die Gewalt, auf die sich alle staatlichen Institutionen stützen, ist die Gewalt nach Benjamin durch den Staat in die Geschichte getreten und kann nur durch dessen Aufhebung bzw. durch die des Rechts beendet werden. Das ist die ge‐ schichtsphilosophische Perspektive Benjamins mit einem jüdisch messianischen Einschlag. Darin sieht Derrida nicht nur „die eigentümliche Vielfalt der Sprach‐ codes, die sich in diesem Text kreuzen,“ (1991, 63) sondern das betrachtet er auch als „die Aufpfropfung der Sprache der marxistischen Revolution auf die der messia‐ nischen Revolution, (...).“ (1991, 63) Ob jüdische oder marxistische Tradition, bei‐ den eignet für Derrida ein aufklärerischer Zug, der alle Mythologien zu überwinden trachtet. Beide blicken dabei gebannt auf die Zukunft. In diesem Sinn attestiert Benjamin dem proletarischen Generalstreik eine das Recht aufhebende Gewalt. Sie stellt jenseits jeglicher Zweck-Mittel-Korrelationen eine reine Gewalt dar, die daher gar keine Gewalt mehr ist. Denn dazu fehlt es ja am bereits aufgehobenen Recht. Daher schafft sie die Feinde der Menschheit wie des Lebens überhaupt gewaltlos beiseite wie der Eingriff Gottes die Rotte Korah. Diese Feinde können sich auf kein Recht berufen, wird ihnen bei ihrer Vernichtung auch kein Unrecht angetan, weil das Recht ja zuvor aufgehoben wurde und sich die reine Gewalt nicht wie bei Schmitt der Ausnahmezustand vom Recht herleitet, es somit überhaupt kein Kriterium mehr gibt, gewaltlose reine ‚Gewalt‘ als gewalttätig und ungerecht zu disqualifizieren. Obendrein kann ja für Benjamin ein Recht gar nicht
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gerecht sein, beruht es schließlich seinerseits originär auf der Gewalt, was der Schmittsche Ausnahmezustand reflektiert. Auch für Derrida bietet sich just aus diesem Kontext heraus die Möglichkeit des revolutionären Umschlags, wenn die Gewalt nicht mehr als solche, sondern als das Lebendige erscheint, das sich von den verrechtlichten Verhältnissen befreit. So be‐ merkt Derrida: Der Staat „kann den Generalstreik als widerrechtlich verurteilen; wenn dieser jedoch weiterhin anhält, stehen wir vor einer revolutionären Situation. Eine solche Situation ist die einzige, die es uns erlaubt, die Gleichartigkeit von Recht und Gewalt zu denken.“ (1991, 75) Selbst wenn der Staat die revolutionäre Gewalt rechtzeitig vor deren offenem Ausbruch zu unterdrücken vermag, offenbart sich in einer solchen Situation, dass Recht und Staat unabdingbar auf Gewalt auf‐ ruhen – just wie es Benjamin dem Staat in revolutionärer Perspektive attestiert. Dabei besteht ein entscheidender Unterschied zur Position von Benjamin, wenn Derrida schreibt: „Die Gewalt ist der Rechtsordnung nicht äußerlich. Sie bedroht das Recht in dessen Innern.“ (1991, 75) Nach Benjamin kommt die gewaltlose reine Ge‐ walt von außen. Es ist verständlich, dass Derrida Benjamin an dieser Stelle nicht folgt, spielt ja auch der revolutionäre Akt 1989 keine perspektivische Rolle mehr. Vielmehr verbindet er damit sogar eine scharfe Kritik und hinterfragt Benjamins göttliche Gewalt. Stattdessen könnte Schmitt wahrscheinlich dem gerade zitierten Satz zustimmen. Selbstredend wird Derrida einen anderen Ausweg aus dem proble‐ matischen Verhältnis von Recht und Gewalt ansteuern. Nichtsdestotrotz stellen Benjamins Analysen die gängige revolutionäre Perspekti‐ ve in Frage, der Generationen begeistert folgten und sich dafür opferten – man den‐ ke an das zitierte Verdikt von Brecht. Zwar kämpften sie sicher auch für Gerechtig‐ keit, aber sie hätten kaum angeben können, wie sich diese Gerechtigkeit ohne Recht realisieren lässt – immerhin hat ihnen Marx nach der Diktatur des Proletariats eine ferne Perspektive offeriert, die sich dann wiederum dem messianischen apokalypti‐ schen Denken annähert, die einer Reinigung ähnelt, keinem christlichen finalen Weltuntergang. Denn nach Marx endet mit Beginn des Kommunismus die bisherige Geschichte, bricht die wahre Geschichte an, die erfreuliche Züge zeichnet, wenn sich alle sozialen Widersprüche auflösen. Was aber hätten die Revolutionäre geantwortet, wenn man ihnen klar gemacht hätte, dass ihre Vorstellung von Revolution entweder Schmitts Ausnahmezustand, seiner souveränen Diktatur oder Benjamins göttlicher Intervention entspricht? Hät‐ ten sie mit Sorel zum Revolver gegriffen? Oder wären sie sozialdemokratisch wieder arbeiten gegangen? Und auf welche Seite hätte sich das Leben geschlagen? Auf die der Ordnung bzw. des Terrors oder auf die der Freiheit bzw. des Chaos? Dem Ver‐ hältnis von Recht und Staat einerseits und Gewalt und Revolution andererseits nach‐ zuspüren, betrachtet Derrida als Hauptaufgabe seiner Rechts- oder politischen Philo‐ sophie.
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Das Lebendige realisiert sich entweder in der reinen Gewalt oder in der souverä‐ nen Diktatur. Aber auch als reine Gewalt greift sie in die Gewaltverhältnisse ein, wie sich am Streik zeigt. Erfolgt dieser Eingriff wirklich von außen oder wirkt er immer im Innern des Rechts, wie es Derrida behauptet, der damit Benjamins Revolutions‐ theorie verschiebt? Hebt die reine Gewalt wirklich alle Rechtsverhältnisse auf? Aber wohin führt das dann? In das anarchische Chaos oder in eine rechtlose Ordnung, die an den ‚großen Bruder‘ erinnert? So hinterfragt Andreas Oberprantacher Benjamins Messianismus: „Die besondere Schwäche des Benjaminschen Verständnisses von messianischer Kraft besteht mithin darin, keine Ordnung durch eine neue Ordnung, keine Identität durch eine neue Identität, kein Gesetz durch ein neues Gesetz zu er‐ setzen, sondern, genau umgekehrt, die historischen Formationen durch die ‚Entset‐ zung des Rechts‘ eben dort zu suspendieren, wo sie Gewalt entfalten – ‚Dialektik im Stillstand‘. (2011, 105) Der marxistischen Dialektik traut Benjamin in der Tat wenig zu. Wenn der anarchische bzw. proletarische Generalstreik eine von außen in den Staat einbrechende reine Gewalt entfaltet, die Benjamin als gewaltlos bezeichnet, dann entspricht das nach seiner Lesart einem göttlichen Eingriff, der die herrschen‐ den Rechtszustände und -Gewalten abschafft, also die Gewalt schlechthin, die es ja nur in rechtlichen Verhältnissen gibt. Inspiriert von Benjamins Idee einer gewaltlo‐ sen Gewalt jenseits des Rechts entwickelt Schmitt 1922 einen signifikanten Ver‐ gleich: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.“ (2004, 43) Denn der Ausnahmenzustand hebt die Rechtsordnung auf und ist aus der Rechtsordnung heraus nicht zu regeln, mögen das Notstandsparagraphen wie auch immer vorzugaukeln versuchen. Das Wunder lässt sich aus der Naturordnung nicht erklären, sondern einzig und allein aus der religiö‐ sen Offenbarung. Das wahre Leben spielt sich jenseits der rechtlichen Rationalisie‐ rung ab, ein damals gängiger Gedanke, und jenseits der Naturordnung, ein erheblich weniger evidenter Gedanke. 1923 wird Schmitt eines seiner theoretisch anspruchsvollsten Werke veröffentli‐ chen Römischer Katholizismus und politische Form, in dem er die Bedeutung des Katholizismus für die Politik mit Worten betont, die an Max Scheler erinnern: „Die‐ se Welt hat ihre Hierarchie der Werte und ihre Humanität. In ihr lebt die politische Idee des Katholizismus und seine Kraft zu der dreifach großen Form: zur ästheti‐ schen Form des Künstlerischen, zur juridischen Rechtsform und endlich zu dem ruhmvollen Glanz einer weltgeschichtlichen Machtform.“ (1984, 35) Dieser Glanz verdankt sich auch jenem Wunder, in dem Ausnahmezustand und wahres Leben zu‐ sammenfallen, werden Gottesurteile immer im Ausnahmezustand einer souveränen Diktatur gefällt, die im christlichen Sinn keine neue Rechtsordnung errichtet. Im Pa‐ radies gibt es keine Rechtsordnung so wenig wie eine Verfassung. Die Rede vom Wunder ist also keine zufällige Bemerkung. Wolfgang Palaver wendet dagegen ein:
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„Schmitt steht nicht wirklich für den Gehorsam gegenüber der biblischen Offenba‐ rung als solcher, sondern nimmt noch deutlicher als Hobbes eine heidenchristliche Position ein, d.h. er vertritt im Mantel des Katholizismus eine letztlich mythische Theologie, die seine politische Theorie stützen soll.“ (2011, 238) Andererseits denkt Schmitt nicht in anarchischen oder nur naturrechtlichen Per‐ spektiven der Staatslosigkeit. Es geht ihm nicht darum, den Rechtszustand anar‐ chisch oder christlich aufzuheben bzw. zu beenden. Vielmehr soll der Ausnahmezu‐ stand als kommissarische Diktatur den Rechtszustand wiederherstellen, nachdem letzterer in Gefahr geraten war, entstandene Probleme selbst nicht lösen konnte und es daher den Ausnahmezustand brauchte, um den Staat vor Chaos und revolutionä‐ ren Bewegungen zu schützen. Oder eine souveräne Diktatur schafft ein neues Recht. Ist die Gefahr durch den Ausnahmezustand beseitigt, kann er beendet werden, so dass man zum Rechtszustand zurückkehrt. Derart behält der Ausnahmezustand denn auch immer einen Bezug zum Rechtszustand, der ihn vor der völligen Rechtlosigkeit bewahren soll. 2003 weist Agamben freilich darauf hin, dass es in der Rechtswissenschaft keine Theorie des Ausnahmezustands gibt, unter anderem weil manche Theoretiker diese für überflüssig halten, braucht es für eine Notwendigkeit nun mal kein Gesetz, drückt der Ausnahmenzustand ja eine Art Notwendigkeit aus. Außerdem gibt es das Paradox, dass der Ausnahmezustand innerhalb des Rechts doch kein Recht sein kann, sondern eben die Ausnahme vom Recht bleibt, die somit rechtlich auch nicht gefasst werden kann. Im Sinn von Benjamin indes kehrt eine solche jenseits des Rechts operierende Gewalt – just wenn sie nach Schmitt eine Ordnung ohne Recht verkörpert – auch wieder in die juridifizierte Erstarrung des Lebendigen ein, eben in die Gewalt des Rechts. Und das wäre im Sinn von Schmitt, der sich trotzdem der lebensphilosophi‐ schen Gestimmtheit seiner Zeit bedient. Jenseits davon dass Benjamin mit seinem Revolutionskonzept womöglich die Gewalt aufzuschieben beabsichtigt, sagt sein Text eher, dass er zum revolutionär Lebendigen durchdringen will, hofft er auf eine revolutionäre Abschaffung des Rechts, was nur durch Gewalt erreichbar ist, partizi‐ piert Benjamins Text nicht nur an einer seit dem 19. Jahrhundert weit verbreiteten Hoffnung auf die Gewalt, die dem Fortschritt Beine machen oder die Ordnung retten soll. Vielmehr ebnet er ihr den Weg ins 20. Jahrhundert. Allerdings darf man fragen, wer denn vor Agamben außer Schmitt und Derrida Zur Kritik der Gewalt wirklich rezipiert und verstanden hat. Nicht nur Schmitt und Benjamin – wiewohl beide eher von ferne – schließen an jenen Zeitgeist an, der das Leben feiert, sondern vor allem Sorel. Inspiriert hat die‐ sen Prozess der Begriff des Élan vital von Henri Bergson, der dem Krieg ebenfalls eine lebendige Kraft attestiert. Er schreibt 1932: „Der kriegerische Instinkt ist so stark, dass er als erster zutage tritt, wenn man die Zivilisation abkratzt, um die Natur
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wiederzufinden.“ (1964, 463) Bereits für Carl von Clausewitz ein Jahrhundert zuvor von der Romantik inspiriert wie noch nach Bertrand de Jouvenel in Du Pouvoir aus dem Jahr 1947 verwirklicht sich in der Gewalt lustvoll die Männlichkeit. Nicht nur im rechten und konservativen Lager werden seit dem 19. Jahrhundert die rationali‐ sierten modernen Lebensverhältnisse als erstarrt und lebensfeindlich kritisiert. Die Gewalt erscheint darauf die angemessene Antwort. Im linken Lager feiert man die revolutionäre Gewalt, der gerade Sorel reale kreative Chancen einräumt, wenn er schreibt: „Die proletarischen Gewalttaten (...) sind rein und schlechthin Kriegshand‐ lungen, sie haben den Wert militärischer Kundgebungen und dienen dazu, die Schei‐ dung der Klassen kenntlich zu machen.“ (1928, 127) Etwas, das die Bourgeoisie ja tunlichst vermeiden möchte, in der nach Benjamin pazifistische Kräfte am Werk sind, denen noch Arendt im Angesichts des Nationalsozialismus keine Chancen ein‐ räumen wird: Gegen letzteren helfen nur alliierte Panzer. Ähnlich wie Sorel werden noch Sartre und Frantz Fanon argumentieren. Nach Sartre verliert der bloß arbeitende Mensch, der sich der Gewalt enthält, seine Leben‐ digkeit. Sartre und Fanon halten dementsprechend die Gewalt des kolonialen Befrei‐ ungskampfes gar für kreativ, die sowohl den neuen Menschen wie das Neue in der Politik schafft. Sartre gerät auf ähnliche Abwege wie Benjamin, wenn Gewalt gar heilend wirken soll: „Gibt es Heilung? Ja. Die Gewalt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunden vernarben lassen, die sie geschlagen hat.“ (1969 b, 25) Unter‐ scheidet sich in dieser Hinsicht nicht just die göttliche von der mythischen Gewalt? Soll nach Benjamin nicht die revolutionäre Gewalt die rechtliche abschaffen, um derart aller Gewalt ein für allemal ein Ende zu bereiten? Wenn die göttliche Gewalt das Leben bewahrt, heilt sie dann nicht im selben Sinn wie die Lanze des Achill? Nun, für Sartre geht das nicht ganz so schnell, bleibt die Gewalt Gewalt, selbst wenn sie kreativ, gar heilend erscheint (vgl. Schönherr-Mann 2005, 135). Und Benjamins göttliche gewaltlose Gewalt bleibt ja als das Lebendige erhalten, nur dass sie nicht mehr rechtlich reglementiert wird. Im Anschluss an Oberprantacher wendet Jósef Niewiadomski dagegen ein: „Die Aporien der Konzeption treten (...) voll in Erschei‐ nung (...), wenn man bedenkt, dass auch die Suspension selbst ein Gewaltakt sei, selbst dann, wenn sie mit dem Prädikat ‚reiner göttlicher Gewalt‘ versehen wird.“ (2011, 117) Aus der Perspektive des Rechts, darf man einwenden, nicht aus derjeni‐ gen Benjamins, schon gar nicht aus der des Aufschubs. Aber in diesem drückt sich letztlich aus, dass man auf das Recht doch lieber nicht verzichtet. Es verwundert je‐ denfalls nicht, wenn Derrida nach anderen Wegen des Staatsverständnisses jenseits der Gewalt sucht.
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3. Kapitel: Staatsverständnis und linguistische politische Philosophie Wenn sich nach Benjamin im Krieg als der reinen Gewalt das Lebendige realisiert, dann verfolgt sie jedenfalls doch einen Zweck, nämlich die rechtliche Gewalt abzu‐ schaffen. Damit verbleibt reine Gewalt für Derrida an das Recht gebunden. Dann er‐ scheint sie nicht als rein, denn sie verdankt sich ja dem Leben oder der Natur und will Staat und Recht aufheben. Allein aus der zukünftigen Perspektive kann sie da‐ her als rein erscheinen. Drückt sich im Leben Gewalt selbst aus ohne Repräsentati‐ on? Oder gibt die reine Gewalt als das Lebendige und somit etwas anderes ihren un‐ mittelbaren Ausdruck auf und kehrt in die sprachliche Repräsentation ein? Für Derrida ist diese göttliche Gewalt zwar gerecht, angemessen, revolutionär, entscheidend. Aber sie entzieht sich der Erkenntnis. Man weiß nie, ob eine Gewalt eine entsprechende Herkunft hat, kann man nicht erfassen, ob eine gerechte göttliche Entscheidung zugrunde liegt. Kann eine Entscheidung überhaupt gerecht sein? Und wie wird sie wirken? Das lässt sich schwerlich voraussehen. Wird man ihre Wirkung in der Zukunft immer gleich beurteilen? Kaum. Dann könnte für die einen Gott ein‐ gegriffen haben, für andere nicht. Kann man die Heilung, von der Sartre träumt, überhaupt als Heilung erkennen? Das ist zweifellos eine Frage der Perspektive. Selbst bei offensichtlichen Verbrechen wie denen der Nazis gibt es nicht selten Ver‐ teidiger oder Leugner dieser Verbrechen. Dass es sich um unverantwortbare Verbre‐ chen handelt, zeigt sich am ehesten, wenn sie in der Öffentlichkeit geleugnet wer‐ den, man intern und unter sich aber von ähnlichen Handlungen träumt, wie es in rechten Kreisen nicht nur im Internet ja durchaus üblich ist – man denke nur an die Galgen, die auf rechten Dresdner Demonstrationen bevorzugt an Montagen durch die Straßen getragen wurden, an die Morddrohungen, die mit NSU 2.0 unterzeichnet wurden, an den Mord an Walter Lübcke. Würde der göttliche Eingriff die Augen öff‐ nen oder den Blick verengen? Es darf indes bezweifelt werden, dass die göttliche Gewalt innerhalb der Erfahrungswelt dazu imstande ist, die Augen zu öffnen, höchs‐ tens bei denen die daran immer schon glauben.
1. Die Performanz der Gewalt Innerhalb des Rechts lässt sich nur die mythische Gewalt erkennen, die nun mal mit irdischen Mitteln innerhalb der Lebenswelt operiert, nämlich wie Apoll und Artemis die 14 Kinder der Niobe umbringen. Doch die mythische Gewalt operiert nach Der‐ rida willkürlich, planlos, kann sie Rechtsprobleme gerade nicht gerecht entscheiden, geht es ihr ja nicht um Gerechtigkeit, sondern allein um eine Entscheidung ohne Rücksicht auf die vorliegenden Probleme – man denke an Ödipus im Angesicht der Sphinx oder Odysseus in Ithaka. Diese mythische Entscheidung entspricht der Kon‐
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zeption von Schmitt, für den die Entscheidung um ihrer selbst willen im Stil der Ge‐ waltorientierung des 19. Jahrhunderts jedem nachdenklichen Zögern überlegen sein soll: gerecht ist dann das, was möglichst schnell entschieden wurde und das darf nicht mehr bezweifelt werden, stellt sich also eine Frage der Gerechtigkeit gar nicht mehr: Gerechtigkeit wird gesetzt oder für unerheblich erklärt. Der göttliche Eingriff entspricht dagegen der revolutionären Konzeption Benja‐ mins. Aber beide eint, dass Gerechtigkeit, Entscheidung und Erkenntnis nicht zu‐ sammen kommen. Einerseits lässt sich daher die rechtsetzende Gewalt gar nicht ein‐ fach kritisieren, mag es auch so scheinen. Doch man kann sich bei der Kritik nicht auf ein bestehendes Recht berufen. Die rechtsetzende Gewalt operiert jenseits da‐ von, will ja ein neues Recht installieren. Aber sie steht für Derrida keineswegs beziehungslos zum bestehenden Recht, das sie schließlich umwandeln will. Insofern präsentiert sich auch hier das Verhältnis zwischen rechtserhaltender und rechtsetzender Gewalt als Metonymisierung, als Me‐ taphorisierung und somit als Entstellung. Dieses Verhältnis „verwischt oder trübt den reinen und einfachen Unterschied zwischen (Be)gründung und Erhaltung.“ (1991, 87) Gewalt hat immer unkalkulierbare, somit metonymisierende Folgen. Das „schreibt die Iterabilität in das Ursprüngliche ein, in das Einzigartige und Singulä‐ re.“ (1991, 87) Wenn sich die Wiederholungen der Aktualisierung von rechtserhal‐ tender und rechtsetzender Gewalt verschieben, dann erfasst das nicht allein das be‐ stehende Recht, sondern auch dessen Traditionen, seine Herkunft. Zugleich betrifft das das jeweils Besondere einer Rechtsanwendung in ihrer Ein‐ zelheit. Denn Recht existiert nun mal nicht in der Form einer herrschenden umgrei‐ fenden Gültigkeit, sondern es besteht nur aus Ereignissen der Rechtsanwendung. So kann Derrida auch eine gängige Geschichtsinterpretation ausschließen: „Die Iterabi‐ lität verhindert mit aller Strenge (oder strikt betrachtet), dass es reine und große Gründer, Stifter, Gesetzgeber gibt (‚große‘ Dichter, Denker oder Staatsmänner (...)).“ (1991, 92) So gesellt sich Derridas Denken einem anderen Geschichtsverständnis hinzu, das Geschichte nicht mehr als Produkt von Helden versteht, sondern von einer Vielzahl kleiner Ereignisse ausgeht, an denen unendlich viele beteiligt sind, was Foucault mit seiner Archäologie zu beschreiben sucht. Selbstredend verlässt bereits Foucault wie Derrida damit die traditionellen platonisch aristotelischen Pfade der politischen Phi‐ losophie, bringen sie vielmehr ein poststrukturalistisches Verständnis von Staat, und Politik auf den Weg. Jedenfalls kann man daher für Derrida eine Rechtsordnung nicht ohne Gewalt denken. Das zeigt sich im Augenblick der Staatsgründung bzw. der Rechtsetzung, gleichgültig ob es sich um eine gewaltsame Eroberung der politischen Macht in einer Gesellschaft handelt oder um eine Revolution, in der bisher unbeteiligte Grup‐ pen politisch die Macht ergreifen. So sagt Derrida: „Eine ‚gelungene‘ Revolution,
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eine ‚gelungene‘ Staatsgründung (in dem Sinne etwa, in dem man von einem ‚felici‐ tous performativ speech act‘ redet) wird im Nachhinein hervorbringen, was hervor‐ zubringen sie im Vorhinein bestimmt war.“ (1991, 79) Ein performativer Sprechakt glückt, wenn das eintritt, worauf er abzielt und zwar durch diesen selbst, nicht durch beiherspielende Umstände, wenn er also verstanden und befolgt wurde, wenn also Karl-Otto nicht an die Lampe springt, weil es ihm die Mutter gesagt hat, nicht weil er sowieso etwas anderes vorhatte, als an die Lampe zu springen – ein gängiges Bei‐ spiel aus der Sprechakttheorie. Eine Staatsgründung als Revolution zu deklarieren, legitimiert die Gewalt, die da‐ bei stattfand. Diese Gewalt wird nämlich in ein besonderes Licht gestellt, das ihr diese Legitimität verleiht. Es verdankt sich im Nachhinein dieser Interpretation. Jede Staatsgründung ist dementsprechend ein performativer Akt. Das gilt natürlich ge‐ nauso für den göttlichen Eingriff, der sich dann primär als performativer Akt präsen‐ tiert: Der Untergang der Rotte Korah, was als Eingriff ein performativer Akt bleibt. Derrida spricht weiter: „Interpretationsmodelle, die sich zu einer rückwirkenden Lektüre eignen, die geeignet sind, (...) die Notwendigkeit und besonders die Legiti‐ mität dieser Gewalt hervorzuheben.“ (1991, 79) Der Sturm auf die Bastille generier‐ te Interpretationsmodelle, die diesen nicht nur als Revolution qualifizieren, die diese vielmehr als gerecht rechtfertigen. Man kann hier von einem Paradigmenwechsel im politischen Denken sprechen. Die Aufklärer wollten durch Wissen die Menschen bilden und moralisieren. Nach dem Gewaltakt der Revolution träumte man fast zwei Jahrhunderte davon, im Hand‐ streich durch Gewalt die Welt zu verändern. So wurden dergleichen Versuche fleißig legitimiert und mit Marx denn auch noch als notwendiger Gang der Geschichte be‐ trachtet, so dass der Revolutionär die Gewalt gar nicht zu verantworten braucht – ein Modell, das sich in allen politischen Lagern verbreitete. Das zukünftig zu errichtende neue Recht rechtfertigt von dieser Zukunft aus die gegenwärtige Gewalt, die in seinem Namen verübt wird: der Kommunismus in fer‐ ner Zukunft rechtfertigt den Gulag – man opfert einige Zig Millionen, damit Billio‐ nen in Millionen von Jahren glücklich leben werden. Derrida: „Da dieses ausstehen‐ de Recht rückwirkend (im Austausch) die Gewalt rechtfertigt, die das Gerechtig‐ keitsgefühl verletzen mag, wird sie bereits von dessen vergangener Zukunft gerecht‐ fertigt.“ (1991, 77) Die unglaubliche Rechnung Millionen im Dienst einer fernen Zukunft zu opfern, wird vor einem historischen Hintergrund trotzdem gerechtfertigt. Für viele seiner Zeitgenossen wie Albert Camus entschuldigte Maurice MerleauPonty die Moskauer Prozesse der großen Säuberung in der Sowjetunion der dreißi‐ ger Jahre, indem er sie zu gut zu verstehen versuchte. So schreibt er: „Die Moskauer Prozesse sind nur unter Revolutionären verständlich, das heißt unter Menschen, die überzeugt sind, die Geschichte zu machen, und die infolgedessen die Gegenwart be‐ reits als Vergangenheit und die Zögernden als Verräter betrachten.“ (1968, 72)
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Nicht direkt für die Moskauer Prozesse, aber für derartige Ereignisse bringt denn Derrida zumindest indirekt mehr Verständnis auf als Camus. Allerdings geht es ihm um ein anderes Problem, wenn er sagt: „Diese Augenblicke (...) versetzen uns in Schrecken. Sicherlich aufgrund des Leidens, der Verbrechen, der Foltern, mit denen sie fast immer einhergehen, aber auch, weil sie in sich selbst, weil sie in ihren ge‐ waltsamen Zügen sich nicht deuten oder entziffern lassen.“ (1991, 77) Camus würde hier sicherlich keine Unklarheiten anerkennen wollen (vgl. Schön‐ herr-Mann 2015 b, 78). Es gibt Legitimationen von Genoziden, auf deren Termino‐ logie man sich mit Richard Rorty nicht einlassen würde. Eine Gewalt, die sich nicht deuten lässt, tangiert die Grenzen des Verstehbaren. Hier zeigt sich Derrida Benja‐ min gar nicht so fern: Sowohl die göttliche wie die revolutionäre Gewalt sind in ihrer angeblichen Gewaltlosigkeit und Reinheit entweder kaum oder gar nicht zu verstehen. Derrida wird das umgekehrt zu einer noch genaueren Betrachtung reizen, was er ja zu seinem philosophischen Programm erhoben hat, das in sein dekonstruk‐ tives Staatsverständnis führt. Denn will man der Gewalt im Recht wie im Staat nachspüren, dann muss man mehr noch als dieser Gewalt den damit verbundenen performativen Akten nachspü‐ ren bzw. der Gewalt als performativem Akt. Nach Derrida unternimmt Benjamin dergleichen, nämlich das Performative an der Gewalt zu diagnostizieren und dabei gerade nach dem Augenblick zu suchen, wenn sich die Gewalt performativ aufhebt: der Gott, der aus der Transzendenz heraus eingreift und Sinn zerstört, um dadurch neue Sinnebenen zu schaffen, ähnlich dem Revolutionär, der Verhältnisse schaffen möchte, die des Rechts wie des Staats nicht mehr bedürfen, die man also anders, nämlich so interpretieren muss, dass die Gewalt dann entweder keine mehr war oder ist. Albert Camus bemerkt diese Konstellation gleichfalls, wenn er die Auffassung von Saint-Just schildert: „Die Staatskunst hat, wie er meint, nur Ungeheuer hervor‐ gebracht, weil man vordem nicht der Natur entsprechend regieren wollte. Die Zeit der Ungeheuer ist vorbei, gleichzeitig mit der der Gewalt. ‚Das Herz des Menschen schreitet von der Natur zur Gewalt, von der Gewalt zur Moral. (...) Unser Ziel ist, eine solche Ordnung der Dinge zu schaffen, dass eine allgemeine Neigung zum Gu‐ ten sich einstellt.‘“ (Camus 1969, 100) Die Kultur hat die gewalttätigen Ungeheuer hervorgebracht. Wer dagegen gemäß der Natur regiert, wird diese Ungeheuer bändi‐ gen. Aber zunächst ist dazu die Gewalt unabdingbar, avanciert der Terror zum Mittel der Tugend, der damit gar kein Terror sein soll, sondern naturrechtlich legitimiert. Rousseaus Depravationstheorie der Kultur entfaltet eine solche Perspektive eben‐ falls, lässt sie sich zumindest in diesem Sinne deuten. Zwar darf man bezweifeln, dass der Jurist Saint-Just wirklich das Recht abschaffen wollte. Dann verbleibt sein Programm zwischen mythischer und rechtsetzender Gewalt hängen, die das alte Recht bloß durch ein neues ersetzt. Doch man kann sein Modell anders interpretie‐
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ren. Dann unterscheidet es sich nicht allzu sehr von demjenigen Benjamins. Der Ein‐ griff des Terrors als göttliche Gewalt beendet die Gewalt, so dass die Menschen das Gute freiwillig tun, ohne dass sie vom Recht dazu gezwungen würden. Davon träumen Sorel, die Anarchisten auch, viele Fromme, beispielsweise die Anhänger der Hare Krishna Bewegung, für die die Kultur zusammenbrechen wird, so dass die Menschen auf das Land zurückkehren und dort freiwillig tugendhaft le‐ ben. Als Realist und Utopist zugleich soll nach Marx der Staat nicht sofort abster‐ ben, aber in wenn auch nicht ganz überschaubarer Zeit. So ähnelt Marx Modell dem‐ jenigen von Rousseau, genauer von Saint-Just. Aber erst Benjamins Diagnose dieser Art der Revolution, die die gewaltbasierte Kultur aufhebt, und zwar als göttlicher Eingriff, als Eingriff von außen, aus dem Naturzustand, entlarvt die Struktur solcher Revolutionsvorstellungen von Saint-Just, Marx, den Anarchisten bis hin zu Sorel. Benjamin macht daher das, was Derrida vorschwebt, wenn er schreibt: „Man hat das Recht, die legitimierende Macht oder Autorität und all ihre Lesevorschriften zu suspendieren, (...).“ (1991, 81) Im Hinblick auf Scholems Aufschub des göttlichen Gerichts sowie Benjamins Barockfürsten im Trauerspiel-Buch, der den Ausnahme‐ zustand verhindern soll, also aufschieben, könnte ihn sogar eine ähnliche Intention wie Derrida beseelt haben. Jedenfalls macht diese Intention den Text zu einem auf‐ klärerischen entbergenden Schlüsseltext von allen Arten revolutionärer bzw. gewalt‐ tätiger Vorstellungen wie solcher, die primär im Horizont des Ausnahmezustands denken, also aller gewaltbasierter Staatsverständnisse. Aber das leistet als erster Derridas Interpretation des Textes, dann Angambens Hinweis auf das TrauerspielBuch sowie der Bezug zur jüdischen Religiosität. Bereits Hobbes sieht es kommen, dass der Staat daran scheitert, die hermeneuti‐ sche Macht über das Weltbild aufrechtzuerhalten. Er ist dazu Realist genug, während Leo Strauss kritisiert, dass Hobbes dem Menschen eine Mündigkeit zugesteht, die in politischer Hinsicht sogar gefährlich werden kann. Strauss schreibt: „Wenn aber je‐ der noch so törichte Mensch von Natur aus darüber richten kann, was für seine Selbsterhaltung notwendig ist, dann kann mit Recht alles als für die Selbsterhaltung unerlässlich angesehen werden: alles ist dann von Natur aus gerecht. Wir können dann von einem Naturrecht der Torheit sprechen.“ (1977, 192) Doch der Staat kann dem Individuum schlicht nicht abnehmen, darüber zu entscheiden, ob es sich sicher fühlt. Sowenig kann der Staat eine derartige Kritik verhindern, wozu ihn Strauss aber aufruft. Benjamin befreit sich von den interpretativen Vorgaben, seien sie von Marx, Sorel oder der konservativen politischen Philosophie. Das ist keineswegs einfach, wie die geringe Rezeption von Zur Kritik der Gewalt vorführt. Benjamin tritt damit gleich gegen mehrere Traditionen an, wie er es auch in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen unternimmt. Er kämpft gegen Lesevorschriften zur Revolution, die Pierre Bourdieu Anfang der neunziger Jahre auf den Begriff gebracht hat: „All die Debat‐
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ten über die Französische Revolution als bürgerliche Revolution sind falsche Debat‐ ten. Ich denke, dass die Probleme, die Marx zum Staat, zur Französischen Revoluti‐ on, zur Revolution von 1848 gestellt hat, katastrophale Folgen hatten, weil sie sich allen aufgezwungen haben, die in allen Ländern über den Staat nachdachten.“ (2014, 600) Derrida hätte dem wahrscheinlich nicht zugestimmt, verteidigt er in den neun‐ ziger Jahren Marx zumindest indirekt. Aber da Bourdieus Vorlesungen erst 2012 in Frankreich erschienen, dürfte er sie schwerlich gekannt haben. So bringt Benjamin bereits eine völlig andere Perspektive in die Debatte ein, die sich den gängigen Lesevorschriften entzieht, die Revolution nämlich nicht als Er‐ gebnis der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, als quasi notwendigen historischen Prozess aus materiellen Bedingungen heraus, sondern dass just dieses Verständnis durch die Revolutionen erzeugt wird und sie derart erst legiti‐ miert: Die Revolution stattdessen als Gewalt zu verstehen, die einen performativen Akt darstellt, der quasi wie der göttliche Interventionismus der Gewalt einen ent‐ sprechenden Sinn verleiht – was wiederum materialistischen bzw. dialektischen In‐ terpretationen marxistischer Provenienz völlig widerspricht. Benjamin folgt dabei durchaus den Ansprüchen, mit denen Derrida der politi‐ schen Philosophie begegnet, wenn dieser schreibt: „man kann dies im Zuge des treu‐ esten, wirksamsten, treffendsten Lesens tun, eines Lesens, das natürlich zum Unles‐ baren in Bezug tritt, (...).“ (1991, 81) Ben‐ jamin liest genauer als Saint-Just, Marx oder Sorel, indem er sich von den gängigen Revolutions- und Staatsverständnissen fernhält. Damit trifft er nicht nur die Angele‐ genheit der Gewalt genauer, als Performativum. Die Gewalt interpretiert, wie es schon Nietzsche im Hinblick auf den Willen zur Macht formulierte, der damit den Gedanken der Performanz von Austin antizipiert. Im Nachlass heißt es 1885/86: „Der Wille zur Macht interpretiert: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. (..) In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden (Der or‐ ganische Prozess setzt fortwährendes Interpretieren voraus.)“ (1999 d, Bd. 12, 138) Die Gewalt stiftet folglich Sinn, den bereits Nietzsche versucht, genealogisch zu re‐ konstruieren – für Wolfgang Kersting „der immer noch nicht von Lyotard überholte Philosoph der Postmoderne“ (2002, 262). Ähnliches wie Nietzsche unternimmt Ben‐ jamin und Derrida wird diese Bemühung noch intensiveren. Doch etwas davon, dass Gewalt einen performativen Charakter hat, ahnt auch der revolutionsbegeisterte Marx, wenn er 1852 über die Revolutionäre schreibt: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Kri‐ se beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Ver‐
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kleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzufüh‐ ren.“ (1978, 115) Da die Gewalt dem Recht nichts Äußerliches ist, stützt sich das Recht auf sie, ist die Gewalt der Motor des Rechts. Doch zugleich stellt sie auch eine Bedrohung dar, die dazu in der Lage ist, das Recht aufzuheben und ein neues Recht zu etablieren. Derrida schreibt: „Dieser Augenblick der Suspension, des Schwebens oder In-derSchwebe-Haltens, diese Epoché dieses rechts(be)gründende oder das Recht umstür‐ zende, revolutionäre Moment sind im Recht eine Instanz des Nicht-Rechts (des Un‐ rechts).“ (1991, 78) Der Begriff der Epoché bedeutet in Edmund Husserls Phänome‐ nologie ein Absehen von der Tradition wie von der natürlichen Einstellung, die eine Sache immer schon vorprägen. um dadurch zur Sache selbst vorzudringen. So schreibt Husserl: „Die ganze, in der natürlichen Einstellung gesetzte, in der Erfah‐ rung wirklich vorgefundene Welt, vollkommen ‚theorienfrei‘ genommen, (...) gilt uns jetzt nichts, sie soll ungeprüft, aber auch unbestritten eingeklammert werden. In gleicher Weise sollen alle noch so guten, positivistisch oder andersbegründeten Theorien und Wissenschaften, die sich auf diese Welt beziehen, demselben Schick‐ sal verfallen.“ (1993, 57) Derrida verwendet Epoché in dem Sinn, dass sich die Geltung und Durchset‐ zungsfähigkeit des Rechts abschwächt, weil ein revolutionäres Gegenrecht entstan‐ den ist, das eine andere Leseordnung, eine andere Form der Lektüre einbringt, die im Rahmen des noch geltenden Rechts als unlesbar gilt, also Leseordnungen, die sich gegenseitig nicht verstehen, sich in Frage stellen und damit in eine Situation drohender Umwälzung geraten. In der revolutionären Krise kann sich das Recht nicht mehr durchsetzen. So spricht Derrida: „Dieser Augenblick ereignet sich stets und ereignet sich nie in einer Gegenwart. Es ist der Augenblick, da die Begründung des Rechts im Leeren oder über dem Abgrund schwebt, an einem reinen performativen Akt hängend.“ (1991, 78) Das Recht durchlebt einen Schwebezustand, es gilt noch, aber auch nicht mehr oder nicht mehr durchgängig, wenn es entweder von vielen nicht mehr befolgt wird oder sich in bestimmten Gebieten nicht mehr durchsetzen lässt, wenn sich beispiels‐ weise die Polizei zurückzieht. So sieht es sich mit einem Gegenrecht konfrontiert, das aus der Perspektive des noch herrschenden als Unrecht erscheint, gerne als Ter‐ rorismus. Wie sich diese beiden Rechte oder Gewalten zueinander verhalten, lässt sich ge‐ meinhin nicht genau bestimmen, jedenfalls nicht im Prozess des Konflikts. Insofern ist das Ereignis erst im Nachhinein genauer zu eruieren. Im Geschehen entzieht es sich der Erfassung, ist es nicht als gegenwärtig erfahrbar. Wie weit das alte Recht noch gilt und inwieweit das neue sich breitmacht, hängt von diversen Performanzen während des Geschehens ab. Insofern sind alle Begründungen fragwürdig geworden. Aber wiewohl Rorty gegenüber Derrida kritisch anmerkte, er versuche jenseits der
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Metaphysik zu denken und wiederhole damit doch nur dieselbe vergebliche Bemü‐ hung seiner Vorgänger, so kann es Derrida just in dieser Perspektive nicht um Be‐ gründungen gehen, um Kausalitäten und Teleologien, sondern nur noch um Genea‐ logien, Destruktionen und daraus folgend Dekonstruktionen, die auf Begründungen verzichten. Das ist die poststrukturalistische Wende sowohl im modernen Staatsver‐ ständnis wie in der politischen Philosophie.
2. Widerstreit oder Heiligkeit der Sprache Schwerlich verwundert es, dass sich für Derrida Benjamins göttliche Gewalt als sol‐ che nicht erkennen lässt – ein tief religiöser Gedanke, der sich Benjamins Verbun‐ denheit mit Scholem und einer religiösen Aufbruchsstimmung rings um die Einwan‐ derungsbewegungen von Juden nach Palästina verdankt, im intellektuellen Geist der Zeit indes skurril anmutet. Aber der religiöse Bezug macht für Benjamin die Ge‐ rechtigkeit des Rechts unwichtig, was aus anderen Motiven Marx und Schmitt tei‐ len. So verschieben sich für Derrida rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt so ineinander, dass sich die eigentliche Macht der Gewalt in ihrer Performanz zeigt, durch die sie nicht nur Bedeutung erlangt, sondern durch die sie die Welt zu verste‐ hen gibt, auch religiös. Da ein Ausweg aus dem rechtlichen Gewaltzustand durch die Abschaffung des Rechts durch eine anarchische Revolution verschwimmt, sucht Benjamin nach einer anderen Lösung des revolutionären Problems, nämlich in der Sprache. Aber welche Lösung bietet sich aus der Sprache heraus an? Nach Derrida gerät Benjamins schicksalhafte oder Rechtsgewalt in einen Kon‐ flikt, der sich nicht lösen lässt, dass nämlich ein Widerstreit zwischen berechtigten Mitteln und gerechten Zwecken entsteht, was sich schon im Konflikt zwischen Rechtsgewalt und Demokratie zeigt: Berechtigte Mittel – polizeiliche Kontrollen – widersprechen den demokratischen Freiheits- und Teilhaberechten der Bürger und umgekehrt. Das Recht kann seinerseits diesen Konflikt zwischen Demokratie und Ordnung nicht lösen. Dann lassen sich gerechte Zwecke mit den berechtigten Mit‐ teln nicht mehr ins Verhältnis setzen, wird eine Entscheidung darüber unmöglich. Letztlich erweisen sich dadurch die Probleme des Rechts insgesamt als unentscheid‐ bar, d.h. es mangelt solchen Entscheidungen an hinreichenden Begründungen. Das liegt eben – dessen ist sich Schmitt bewusst – in der Natur der richterlichen Ent‐ scheidung, der immer ein Element der Ausnahme als ein letzter Mangel der Rationa‐ lität eignet. Noch vor Derrida 1989 begründet Jean-François Lyotard 1983 in seinem Opus Magnum Der Widerstreit die postmoderne politische Philosophie. Denn er weist nach, dass das Recht die Aufgabe, die ihm die Politik erteilt, gar nicht lösen kann, nämlich Konflikte juristisch zu vermitteln. Um die jeweiligen Stellungnahmen der
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Streitparteien in einem Rechtsstreit in die juristische Sprache zu übersetzen, gibt es kein sicheres Verfahren der richtigen bzw. geglückten Übersetzung. Ein Gericht kann also gar kein Urteil fällen, das richtig begründet wäre. Damit tut es den strei‐ tenden Parteien „notwendigerweise Unrecht, indem es die Heterogenität der Sätze, um die es im Sozialen und in dessen Kommentar geht, in sein eigenes Idiom tran‐ skribiert.“ (Lyotard 1987, 233) Derart wird aus jeder juristischen Entscheidung eines Rechtsstreits ein neuer Widerstreit geboren, den entweder eine letztlich auch will‐ kürliche höchstrichterliche Entscheidung beendet oder die Streitparteien geben den Rechtstreit auf. Dabei liegt der Grund für diesen Widerstreit nicht etwa im Rechtsystem selbst, al‐ so in der Unvermittelbarkeit von berechtigten Mitteln mit gerechten Zwecken, son‐ dern in der Struktur der Sprache, darin dass es nicht die eine Sprache gibt, sondern viele verschiedene Idiome mit jeweils eigenen Regeln und Semantiken, die sich nicht verlustfrei in eine andere Sprache übertragen lassen. Der ökonomische, der so‐ ziale, der technische oder gar ästhetische Diskurs entfalten jeweils eigene Struktu‐ ren, die sich auch von jenen des juristischen Diskurses unterscheiden. Einem solchen Gedanken würden Scholem und Benjamin nicht folgen wollen. Beide unterscheiden eine repräsentierende kommunikative Funktion von Sprache von einer Sprache des Ausdrucks. Relativismus und Konflikte zwischen Sprachen betreffen nur erstere. So schreibt Scholem 1926: „Der Relativismus der Sprachen ist ein sekundäres Element. Die Genesis deutet dies an, indem sie den Menschen vor Gott gültige Namen für die Dinge finden lässt. Jene von einigen Mystikern vertrete‐ ne Meinung vom Vorhandensein eines himmlischen Alphabets steht im letzten Zen‐ trum dieser Anschauung.“ (2019, 297) Dieses essentialistische Verständnis von Sprache als Ausdruck einer „geistigen Ordnung“, in der adäquate Namen die Dinge ausdrücken, kann ein Sprachrelativismus nicht nachvollziehen, für den es keine letz‐ ten Wahrheiten gibt, für Scholem dagegen schon und zwar als Manifestation der Sprache, die sich auf ihre religiösen Gehalte stützt. Äußerst ambivalent hat Benjamin – so Derrida – eine ähnliche Problematik be‐ reits vorausgedacht und zwar im Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen aus dem Jahr 1916. Benjamin hinterfragt die vermittelnde und kommunikative Funktion der Sprache. Die Sprache als Mittel zu betrachten, er‐ klärt Benjamin im politischen Sinne als eine bürgerliche Auffassung von Sprache. Denn das Wort als bloßes Mittel der Kommunikation verkommt zum Geschwätz – hier hallt Schmitts Wort vom Parlament als sinnloser Quasselbude nach, der die Per‐ formanz gar nicht denken kann geschweige denn, dass Sprechen gar das eigentliche Handeln ist, wie es Heidegger schreibt: „das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins an die Hand gehen.“ (1978 b, 40) Spra‐ che und Denken interpretieren das, was ist und verleihen allem Tun damit dessen Sinn. Freilich mangelt es der Sprache in kommunikativer Funktion an originären Be‐
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deutungen, also an festen, für alle Beteiligten klaren Bedeutungen, was der späte Wittgenstein bestätigen, keinesfalls kritisieren wird. Benjamin denkt aber an damit zusammenhängende biblische Ursprünge. Der Baum der Erkenntnis sollte nicht die Frage nach Gut und Böse eröffnen, die in ein ewiges Geschwätz führt, sondern das Gericht symbolisieren, vor das der Fragende zu treten hat. Vor dem göttlichen Gericht wird keine Verhandlung geführt, bei der der Betroffene sich mit diversen Argumenten verteidigt. Vielmehr nimmt er sein göttliches Urteil entgegen, das keiner weiteren Begründung bedarf, weil es sich einer unterstellten göttlichen Gerechtigkeit verdankt, die sich nicht begründen muss und das auch nicht in Lyotards formale, sprachliche Aporien gerät. Dagegen operiert das Recht ganz anders, nämlich mit diversen Begründungen, die am Ende immer widersprüchlich bleiben. Daraus ergibt sich für Benjamin: „Diese ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechts.“ (1977 a, 154) Und in diesem waltet nicht ein bürgerlicher Anspruch der Gerechtigkeit, son‐ dern eine ursprüngliche Gewalt, die sich der Frage der Gerechtigkeit enthebt, die sich implizit den göttlichen Anspruch zu eigen macht, dass Gott sein Urteil nicht stundenlang begründen muss. Das Recht fällt ein Urteil nicht auf der Suche nach Gerechtigkeit, sondern aus seiner Autorität, d.h. Gewalt heraus, was Benjamin in die Nähe von Carl Schmitt bringt. Das führt nach Derrida in „die Einsicht einer eigentümlichen und entmutigenden Erfahrung. Wohin soll man gehen, hat man einmal die unabwendbare, unausweich‐ bare, unvermeidbare Unentscheidbarkeit erkannt?“ (1991, 102) Dann stellt sich die Frage nach einer Gewalt, die das Problem zwischen berechtigten und unberechtigten Mitteln hinsichtlich des gerechten Zwecks hintergeht. Dann befindet sich diese Ge‐ walt jenseits der Mittelproblematik. Sie würde gar kein Mittel mehr sein und sich auch des Zweck-Mittel-Verhältnisses nicht mehr bedienen. Damit führt auch gerade die Sprache in eine ausweglose Situation. Sie vermag ihre Aufgabe als Mittel der Vermittlung, der Kommunikation nicht mehr zu erfüllen, so dass sie nicht mehr die Gewalt zu vermeiden hilft, wie es sich Apel und Habermas vorstellen. Genauso we‐ nig vermag sie den Widerstreit der Diskursarten auszuhalten, der für Lyotard die Be‐ dingung einer pluralistischen Welt ist: Dann gibt es keinen Konsens, aber mit dem Dissens kann man auch nicht leben – der Weg in die Diktatur, wenn nicht gar in den Totalitarismus. Oder zurück in die Religion? Wohin weist der Benjaminsche Text? Derrida beant‐ wortet diese Frage folgendermaßen: „Wo es keinen Ausweg gibt, macht jedoch gera‐ de die Aussichtslosigkeit Denk-Entscheidungen erforderlich; sie zielen auf nichts Geringeres als auf den Ursprung der Sprache in seinem Verhältnis zur Wahrheit, auf die schicksalhafte Gewalt, die sich über die Vernunft stellt, (...) auf Gott: auf einen anderen, vollkommen anderen ‚mystischen Grund der Autorität‘.„(1991, 102) Wenn die Rechtsgewalt notorisch Ungerechtigkeit erzeugt, weil es Rechtsfälle niemals ge‐
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recht entscheiden kann – es sei denn durch Zufall, würde Lyotard hier einwenden – dann bleibt nichts anderes, um der Gerechtigkeit gerecht zu werden, als auf eine Ent‐ scheidung zu hoffen, die von einem Transzendenten aus ergeht. Das nennt Derrida eine Denk-Entscheidung, die natürlich ihrerseits derselben Entscheidungsproblema‐ tik unterliegt. Er bemerkt anschließend noch: „Das ist es also, was die Aussichtslo‐ sigkeit des Rechts offenlegt, an diesen Ort führt die Ausweglosigkeit des Rechts.“ (1991, 102) Scholem würde dem widersprechen. Er unterfüttert Benjamins reine Gewalt des göttlichen Eingriffs mit einer vergleichbaren Theorie, die sich auf die Macht einer Sprache des Ausdrucks gegenüber einer Sprache als Kommunikation stützt. Scho‐ lem schreibt 1917: „Die Würde der Sprache ist das, was an einer Sprache schlecht‐ hin unübersetzbar ist. Sie ist nicht der Stil, sondern macht vielmehr seine eigene Ordnung aus, die die Verbindung mit der Thora begründet.“ (2019, 228) Das Hebräi‐ sche beruht auf dem Gesetz Gottes und hat sich davon auch nie gelöst, kann sich da‐ von gar nicht lösen. Wer letzteres versucht, beendet den Bund mit Gott. Scholem avanciert daher zu einem Kritiker des Zionismus wie der neuhebräi‐ schen Literatur, die das Neuhebräisch, das in Israel gesprochen wird, säkularisieren, d.h. dessen religiöse Gehalte verwässern. Bereits 1926 schreibt er in Palästina: „Dies Land ist ein Vulkan. Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von vielen Dingen, an denen wir scheitern können, man spricht heute mehr denn je von den Arabern. Aber unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen mit Notwendigkeit heraufbeschworen hat: Was ist es mit der ‚Aktualisierung‘ des Hebräischen?“ (2019, 290) Das Hebräische beherbergt den göttlichen Ausdruck, der keine Repräsentation, damit keine Übersetzung erlaubt – ein großes Thema im Judentum war die Übersetzung des Tanach. Scholem schreibt weiter: „Muss nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? Freilich, man weiß hier nicht, was man tut. Man glaubt die Sprache verweltlicht zu haben, ihr den apokalyptischen Stachel ausgezogen zu haben. Aber das ist ja nicht wahr, die Verweltlichung der Sprache ist ja nur (...) eine Phrase. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache selbst.“ (2019, 290) In der Tradition der jüdischen Apokalypse, wenn der Messias kommt und die Welt ordnet, sie aber anders als in der christlichen Apokalypse nicht untergeht, das Leben vielmehr durch göttliche Impulse beseelt wird, beschwört Scholem den Ein‐ griff Gottes als die Revolution, bei der man die Stimme Gottes als unmittelbaren sprachlichen Ausdruck hören wird. Die messianische Hoffnung wie die apokalyptische Drohung haben die Zionisten in Palästina 1926 längst vergessen. Aber dadurch, dass man das Hebräische mit dem Neuhebräischen wiederbelebt, droht aus dessen ursprünglicher Heiligkeit heraus das göttliche Gericht bzw. der göttliche Eingriff wie bei der Rotte Korah. Das göttlich
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fundierte Hebräisch wird das säkularisierte Neuhebräisch wieder auflösen: das ist Scholems hoffnungsfrohe Seite, wenn er droht: „Gott wird in einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen wird, nicht stumm bleiben. Diese un‐ ausbleibliche Revolution der Sprache aber, in der die Stimme vernommen wird, ist der einzige Gegenstand, von dem in diesem Land nicht gesprochen wird“. (2019, 292) Während Benjamin den göttlichen Eingriff als reine Gewalt nicht weiter zu un‐ termauern vermag außer mit Verweisen auf den Tanach, bietet Scholem eine Unter‐ fütterung dieses Eingriffs an. Warum und wie wird der göttliche Eingriff der reinen Gewalt erfolgen? Die heili‐ ge Sprache selbst, die des Ausdrucks, wird die relativistische säkulare Sprache der Repräsentation und Kommunikation, des ‚Geschwätzes‘ ‚in die Luft‘ sprengen, um einen Ausdruck aus dem Kommunistischen Manifest zu verwenden, schreibt Scho‐ lem weiter: „denn die, die die hebräische Sprache zum Leben wieder aufriefen, glaubten nicht an das Gericht, das sie damit über uns beschworen. Möge uns dann nicht der Leichtsinn, der uns auf diesem apokalyptischen Weg geleitet, zum Verderb werden. Jerusalem, den 7. Teweth 5687“ (2019, 292) Hans Joas hat 2016 eine ähnliche Theorie des Heiligen entworfen, nachdem die Gläubigen durch ihre Beziehung zu einer transzendenten Instanz berechtigt sind, an‐ deren vorzuschreiben, wie sie politisch oder sozial zu leben haben. Ähnlich wie bei Scheler steht das Heilige über dem Profanen: „Fundamentaler als (...) Gerechtig‐ keitsfragen sind aus meiner Sicht dagegen die Dynamiken der Heiligkeitserfahrung und ihrer Interpretation, die den Rahmen erst hervorbringen, in dem solche Fragen gestellt werden können.“ (Joas 2016, 372) Ironischerweise entfaltet sich zwischen Scholem und Lyotard eine gewisse, wie‐ wohl ferne Parallele. Beide unterstellen nämlich eine Macht der Sprache, die die Prozesse in der Welt nachhaltig beeinflussen wird. Allerdings ist der Grund dafür bei Lyotard just der Relativismus der Sprache – in der Terminologie Scholems formu‐ liert – in der Lyotards: Dass die Sprache aus miteinander inkommensurablen Spra‐ chen besteht, verhindert die Hegemonie einer einzelnen Sprache, insbesondere derje‐ nigen des scheinbar übermächtigen ökonomischen Diskurses. So schreibt er: „Das einzige unüberwindliche Hindernis, auf das die Hegemonie des ökonomischen Dis‐ kurses stößt, liegt in der Heterogenität der Satz-Regelsysteme und Diskursarten, liegt darin, dass es nicht ‚die Sprache‘ und nicht ‚das Sein‘ gibt, sondern Vorkomm‐ nisse.“ (1987, 299) Das betrifft jedes religiöses Idiom. Bei Scholem dagegen handelt es sich um den religiösen Kern des Hebräischen, der eine Macht auf die Sprache ausübt. Dagegen argumentiert Lyotard formal: „Das Hindernis besteht nicht im ‚Wil‐ len‘ der Menschen im einen oder anderen Sinne, sondern im Widerstreit. Dieser wird gerade aus der Beilegung der vorgeblichen Rechtsstreitfälle neu geboren.“ (1987, 299) Konsequent universalistisch ist Scholems Modell nicht gedacht, das Modell Lyotards von der Inkommensurabilität der Diskursarten schon, auf das er seine poli‐
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tische Philosophie einer pluralistischen Gesellschaft gründet. Lyotard nimmt die Apelsche Konsenssuche ernst und führt sie in einen Widerstreit, der sich just der Sprache als Kommunikation verdankt. Das ist Scholems Problem gar nicht. Benjamin wählt ein anderes zweifellos oberflächlicheres Beispiel, um eine Ge‐ walt aufzuzeigen, die nicht als Mittel dient, nämlich den Zorn, der ja gerade in der Religion eine wichtige Rolle spielt: der Zorn Gottes. Gewalt, die sich dem Zorn ver‐ dankt, hat keinen Zweck und ist dementsprechend auch kein Mittel zu Zwecken. Im Zorn manifestiert sich die reine Gewalt. Damit schließt auch Benjamin an das jüdi‐ sche apokalyptische Denken an, heißt es doch in Psalm 21, den Scholem übersetzt hat: „Du machst sie wie einen Feuerofen / zur Zeit deiner Gegenwart / Gott in sei‐ nem Zorn verschlingt sie / Es frisst sie ein Feuer / Ihre Frucht vertilgst du von der Erde / und ihren Samen aus den Menschenkindern.“ (2019, 198) Der Zorn Gottes waltet während der Apokalypse und entscheidet biopolitisch darüber, wer die Erde bewohnen darf und wer nicht. Aber nicht nur in Benjamins göttlichem Eingriff reiner Gewalt in Form des Zorns schwingt daher mehr als ein apokalyptisches Element mit. Der Zorn erweist sich vielmehr allen Formen göttlicher Gewalten als inhärent, besonders aber der mythi‐ schen Gewalt, z.B. im Niobe-Mythos. Hier zeigt sich nach Derrida „die furchtbare ethisch-politische Zweideutigkeit des Textes“ (1991, 105) von Benjamin, der auf diese Weise auch in die Nähe jener gerät, die das Recht einer autonomen Souveräni‐ tät anheimgeben und Politik als eine Form des Krieges verstehen, wenn das Gericht im Ausnahmezustand seine Urteile gleich vollstreckt und keine Widerrede zulässt, ja vom Opfer sogar noch Anerkennung und Unterwerfung verlangt. Benjamin unterscheidet die mythische Gewalt, die rechtsetzenden Charakter hat, von der jüdisch verstandenen göttlichen reinen Gewalt, die ohne rechtliche Zwecke zu verfolgen, doch Gerechtigkeit walten lasse, d.h. ohne diese begründen zu können. Nicht nur dass Derrida nicht wie Benjamin politisch mit Theologemen argumentie‐ ren will. Vielmehr sind diese für Derrida natürlich unfähig die politischen Probleme zu lösen, geschweige denn diejenigen der Gerechtigkeit. So bemerkt Derrida: „In diesem ursprünglichen und mythischen Augenblick gibt es noch keine austeilende Gerechtigkeit, es gibt keine Züchtigung oder Strafe, sondern nur Sühne.“ (1991, 106) Die Rede von der Gerechtigkeit Gottes erweist sich als leer. Und rechtlich ver‐ mag man auf diese Weise sowieso nicht zu argumentieren. Die göttliche Gewalt bleibt in der Erfahrungswelt dunkel, ja unauffindbar, was indes auch auf die Revolu‐ tion jedweder Couleur zurückschlägt. Mit seinen Vorträgen aus dem Jahr 1989/90 wird Derrida die von Lyotard auf den Weg gebrachte postmoderne oder poststruktu‐ ralistische politische Philosophie fortsetzen, und zwar auf sprachlichen Wegen, und damit den politisch philosophischen Sinn der Grammatologie wie der Dekonstrukti‐ on unterstreichen.
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3. Ereignis oder Geschichte Nicht die Sprache als Mittel der Kommunikation vermag Rechtsprobleme zu lösen – da würde Lyotard Benjamin zustimmen. Dazu nah und sehr fern zugleich bewegt sich Scholem, der den Background zu Benjamins göttlichem gewaltlosem Eingriff liefert, erwartet Scholem gar eine göttliche Intervention als Revolution in der Spra‐ che. So besitzt die Sprache eine eigene Dynamik, die sich dem Geschehen wider‐ setzt, wie bei Lyotard die Heterogenität der verschiedenen Sprachen die Hegemonie eines Diskurses verhindert. Nur dass Lyotard damit einen ‚Sprachrelativismus‘, bzw. eigentlich Strukturalismus entwirft, während Scholem sich auf einen Sprachabsolu‐ tismus stützt. Doch während sich das Gottesurteil für Derrida als so grundlos wie leer erweist, ebnet für Benjamin im Anschluss an Scholem die göttliche Sprache den Weg Zur Kritik der Gewalt des Rechts und damit zu einer Aufhebung dieser Gewalt. Dementsprechend kritisiert Derrida jene revolutionäre oder göttliche Gewalt, die Benjamin als reine Mittel bezeichnet, denen jede Gewalt abginge bzw. die eine Art natürliche Gewaltlosigkeit ausdrücken sollen: Wie der Löwe der Antilope keine Ge‐ walt antut, wenn er sie frisst, so ist es keine Gewalttat Gottes, wenn dieser die Rotte Korah versenkt. Dabei interpretiert Benjamin den gemeinhin als gewalttätig charak‐ terisierten Naturzustand im Sinn von Rousseau einfach um. Allerdings unterscheidet er sich von Rousseau, der den Naturzustand als friedlich charakterisiert, während er für Benjamin nur einen Zustand der Gewaltlosigkeit markiert, da es in ihm noch kein Recht gibt. Doch auch für Rousseau herrscht im Naturzustand beim natürlichen Menschen mangels Bosheit keine ethische Güte. Derrida trifft ins Herz von Benjamins gewaltloser Gewalt: „Diese plötzliche Be‐ zugnahme auf Gott, über die Vernunft und die Allgemeinheit hinweg, jenseits einer bestimmten Aufklärung des Rechts, ist nichts anderes als die Bezugnahme auf die irreduktible Besonderheit jeder Situation.“ (1991, 104) Die göttliche Intervention stützt sich weder auf die Vernunft noch auf einen Gedanken der Allgemeinheit, auf kein allgemeines gleiches Recht. Der göttliche Eingriff muss keine Rechtsfälle auf‐ klären, bei dem immer ein Fall einem allgemeinen Gesetz subsumiert wird. Gott muss sich nicht selbst aufklären, sich nicht reflexiv selbst erfassen. Er kennt keine Horizonte und braucht sich nicht im Denken zu orientieren. Kein Recht, keine allge‐ meine Moral, auch nicht mal eine besondere, lokale dichte Moral, die nach Michael Walzer „kulturell integriert und Teil eines komplizierten Gewebes“ (1996, 17) ist, auch kein noch so aufgeklärtes Denken, können jeglichem Ereignis, jeglicher Ein‐ zelheit und Individualität gerecht werden. Das vermag nur Joas‘ transzendenter Gott, der von allem eine unmittelbare, vollständige und adäquate Erkenntnis hat, was man wahrscheinlich gar nicht sagen darf. So geht es nach Derrida bei der Frage der Gerechtigkeit um das Einzigartige, aus dem nicht nur die Lebenswelt, sondern damit auch die Geschichte besteht, also um
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das Ereignis, das Heidegger „als Leitwort im Dienst des Denkens“ (1957, 25) mit dem griechischen Logos vergleicht und somit zum zentralen Begriff der Philosophie des 20. Jahrhunderts erhebt, das dann in der Tat in der postmodernen Philosophie auf unterschiedliche Weise rezipiert wird, im Mainstream der Philosophie, nämlich der sprachanalytischen, jedoch kaum Beachtung findet, so dass Heideggers Statement als etwas gewagt erscheint. Allerdings weist Klaus Englert daraufhin, dass Derrida auch eine gewisse Distanz zur Heideggerschen Verwendungsweise von Ereignis ein‐ nimmt, „aus dem er stets das ‚Eigene‘, die ihm verdächtig erscheinende ‚Metaphorik der Nähe‘, heraushörte.“ (2009, 96) In der Tat denkt Heidegger Ereignis vom Eräu‐ gen her, d.h. im Blicken zu sich rufen. Über das Ereignis kann es so wenig eine vollständige Information geben wie über einen am Ereignis teilnehmenden Menschen, der damit notorisch überfordert er‐ scheint, das Ereignis vollständig fassen zu wollen. So sagt Derrida: „Jene, die ‚unse‐ re Zeit‘ sagen und dabei ‚unsere Gegenwart‘ im Lichte einer zukünftig vergangenen Gegenwart oder Anwesenheit denken, wissen definitionsgemäß nicht genau, was sie sagen. Gerade in diesem Nicht-Wissen besteht das Ereignishafte des Ereignisses, das man auf naive Weise als dessen Gegenwart, als dessen Vorhandensein bezeichnet.“ (1991, 77) Das präsentiert sich als Problem jener, die sich in einem stattfindenden Ereignis sehen. Denn im Vorhinein lässt sich das gemeinhin nicht sagen, nur vermit‐ tels einer Zukunft, die man auf sich zukommen sieht. Und das bleibt notorisch eine ungewisse oder willkürliche Angelegenheit: da nimmt man die Geburt eines Men‐ schen und startet damit als Nullpunkt die Zeitrechnung. Dagegen impliziert die monotheistische transzendente Gottesvorstellung die uni‐ verselle vollständige Information aus der heraus einzig ein gerechtes Urteil ergeht, das aber durch kein Recht und durch keine Moral eingeschränkt werden darf, das dergleichen auch nicht nötig hat, braucht man Recht und Moral, weil es an Informa‐ tionen mangelt. Aber Allmacht und Allwissenheit überschreiten jede Regel und jede Methode. Für Alfred North Whitehead macht sich der jüdisch christliche Monotheis‐ mus pharaonische Phantasien zu eigen und überträgt diese auf seine Gottesvorstel‐ lung. Whitehead schreibt 1928: „Aber die tiefergehende Idolatrie, Gott nach dem Bilde der ägyptischen, persischen und römischen Reichsherrscher zu gestalten, wur‐ de beibehalten. Die Kirche wies Gott Attribute zu, die ausschließlich Cäsar angehör‐ ten.“ (1984, 612) Judentum, Frühchristentum und asketischer Protestantismus radikalisieren diese Struktur, so dass der allwissende Gott unberechenbar wird. Mit der Trinitätslehre versucht das sich konsolidierende Christentum dieser Unberechenbarkeit eine gewis‐ se Rationalität und Moral einzutröpfeln. Der radikale Monotheismus widerspricht aber dem Gedanken einer Verfassung, der der absolute Herrscher unterläge, gemäß der man seine Eingriffe deuten könnte. Der monotheistische Gott der jüdisch-christ‐ lich-islamischen Tradition kennt absolut keine Begrenzungen und ist instantan über
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alles informiert. Eben nur jener allwissende, von keinen Regularitäten beengte Gott spiegelt das Ereignis vollständig, lässt Gerechtigkeit gegenüber der Besonderheit der Situation walten, was keiner Regel gehorcht. Das befindet sich jenseits der Kultur, operiert aus einer Position des absolut Transzendenten heraus, wie es sich Joas vor‐ stellt. Auch wenn Benjamin in Zur Kritik der Gewalt eine eher anarchische als eine marxistische Haltung einnimmt – Derrida ordnet ihn letzterer zu, Oberprantacher ersterer – so schließt er allemal an den marxistischen Fortschrittsoptimismus als Ver‐ längerung des Aufklärungsdenkens an. Marx empfiehlt sich denn auch als bester Vermittler zwischen religiösen und wissenschaftlichen Hoffnungen. Es gibt also vielfältige Verbindungen zwischen der gewaltlosen göttlichen Gewalt und der anar‐ chischen Revolution, die mit und gegen Marx vom Fortschritt der Produktivkräfte beseelt ist, der den allgewaltigen Gott irgendwann arbeitslos machen, wenn nicht so‐ gar überflügeln wird. Doch Benjamin hat noch eine andere Entwicklung vor Augen, nämlich die Ein‐ bindung der Arbeiterschaft in die ökonomische und technische Entwicklung, die ihr, so die marxistische Lesart, demnächst den Sieg automatisch einbringen würde. So erklärt die elfte Geschichtsphilosophische These: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, (...). Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des tech‐ nischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar.“ (1965 b, Nr. 11 86) Noch 1940 kritisiert Benjamin im Stil von Sorel und revolutionären Sozialisten eine Konstellation, von der der späte Marx indes bereits ahnte. Andererseits scheint in diesem technisch industriellen Fortschritt das verloren zu gehen, was Geschichte ausmacht, nämlich die Einzigartigkeit der Vorgänge im Le‐ ben der Menschen. Diese wird vom Sturm des Fortschritts überrollt, den Benjamin im Bild von Klee Angelus Novus – Benjamin erwarb das Bild vom Maler, später ging es in den Besitz von Scholem über – vom Paradies her wehen sieht, in dem sich die Flügel des Engels der Geschichte so verfangen haben, dass sie ihn über die Op‐ fer, die Trümmer, die Katastrophen der Geschichte hinwegtreiben. „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“ heißt es in der berühmten neunten Geschichtsphilosophischen These. Doch „dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ (1965 b, Nr. 9 85) Scholem sieht das Gemälde indes völlig anders. Er widmet diesem 1921 ein Ge‐ dicht mit dem Titel Gruß vom Angelus, in dem es gegen und am Schluss heißt: „Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück / denn blieb ich auch lebendige Zeit / ich hätte wenig Glück.“ (2019, 715) Soweit zitiert es Benjamin als Motto zur neunten These. Doch kurz danach heißt es: „Ich bin ein unsymbolisch
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Ding / bedeute was ich bin / Du drehst umsonst den Zauberring / Ich habe keinen Sinn.“ (2019, 715) Das geringe Glück kann man im Sinn von Benjamin als Erfolglo‐ sigkeit interpretieren. Aber die letzte Strophe spricht eher die Sprache Derridas: Der Sinn zerfließt im Zeichen. Als reiner Ausdruck verlängert er aber die göttliche Spra‐ che, der Benjamin nähersteht als Derrida. Denn das Ereignis, „die irreduktible Besonderheit jeder Situation“ zeigt sich nicht nur individuell, sondern drückt sich in der Sprache aus. Die Sprache speziell als pa‐ role im Sinn von Saussure, also als gesprochenes Wort verstanden, besteht gleich‐ falls aus Ereignissen, Sätzen, Ausdrücken, die sich aneinanderreihen bzw. nebenei‐ nander herlaufen, die sich nach Wittgenstein nur beschreiben lassen, die man auf keinen repräsentierenden Begriff bringen kann. Das gesprochene Wort, die parole, gehört unmittelbar dem Ereignis an, wie es dieses auch ausdrückt. Nach Wittgen‐ stein hat indes jeder Ausdruck, auch der göttliche, nur dann einen Sinn, wenn er ver‐ standen werden kann, d.h. dass er kommunikativ ist. Auch die Sprache als Ausdruck funktioniert nicht nur performativ im göttlichen Kommandoton, vielmehr kann dem auch widersprochen werden. Damit generiert sich Geschichte als Geschehnisse, als eine Kollektion von Ereig‐ nissen, bemerkt Benjamin: „Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Ge‐ schichte.“ (1965, 63) Die göttliche Gewalt zerstört ein auf Gewalt basierendes und zumindest unter bestimmten Umständen allgemein geltendes Recht – was man nach Derrida sowohl als historischen Eingriff wie als Kritik an einem solchen Recht ver‐ stehen kann: ein Recht, das demjenigen Hegels entspricht, wenn dieser schreibt: „Es ist das sittliche Ganze – der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individu‐ um seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist.“ (1970 a, 55) Das Individuum wird bei Hegel durch das Recht konstituiert, mit dem der Staat dem Individuum Rechte gewährt. Außerhalb des Rechts und außerhalb des Staates gibt es kein Individuum. Da Vernunft, Recht und Staat zusammengehören, lässt sich demgegenüber keine andere vernünftige Position entwickeln. Auf den Staat überträgt Hegel damit das katholische Dogma aus dem Jahr 1445 „Extra ecclesiam nulla salus“, das auf Cyprian von Karthago im dritten Jahrhundert zurückgeht. Die Verschiebung ergibt dann: Ohne Recht kein individuel‐ les Heil. Für Derrida ist die Geschichte dagegen nicht der Fortschritt des Rechts, auch nicht der ökonomische, sondern Geschichte verläuft über Brüche, die dadurch ent‐ stehen, dass man die Geschichte immer wieder von einer anderen Perspektive her betrachtet, womöglich sogar perspektivlos einfach einen Blick auf das Detail und nicht wie Hegel und Marx auf das vermeintlich Ganze des Ablaufs wirft. So stellt Foucault 1979 die Handlungsfähigkeit des Staates in Frage: „Alles in allem ist der Staat vielleicht nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mythifizierte Abstraktion, deren Bedeutung viel beschränkter ist, als man glaubt.“ (2004, 163)
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Und Pierre Bourdieu warnt: „Ich könnte Ihnen Kilometer von Literatur nennen, in denen das Wort ‚Staat‘ als Handlungssubjekt, als Subjekt von Aussagesätzen vor‐ kommt. Dies ist eine ganz gefährliche Fiktion, die uns daran hindert, den Staat zu denken.“ (2014, 31) Nach Derrida darf man die Gerechtigkeit weder dem Staat, noch Gott, auch nicht den Revolutionären überlassen. Staatstheorie und politische Philo‐ sophie müssen ihr jenseits traditioneller Staatsverständnisse nachgehen. Derart avan‐ ciert die Dekonstruktion zum rechtsphilosophischen Gegenmodell zum System des Rechts bei Hegel, zum Dezisionismus von Schmitt und zum Naturrecht bei Strauss, das das göttliche einbegreift.
4. Kapitel: Staat ohne Recht Vor dem Hintergrund einer Geschichte der Sieger drückt die Sprache jenseits der Kommunikation wie Klees Angelus Novus das aus, was in der Geschichte unterging. Damit kehrt Benjamin vermittels des göttlich imprägnierten sprachlichen Ausdrucks sogar zum Individuum zurück, das in den revolutionären Prozess zumindest als un‐ tergehendes eingeht, wenn sich die Gewalt des Rechts im Ereignis generiert. Dem ähnelt die souveräne Entscheidung als Eingriff Gottes oder das Wunder des Ausnahmezustands, in dem der Rechtszustand jedenfalls aufgehoben ist. Als wenn der Gott eingreift und der Rechtszustand belanglos wird! Denn man kann so wenig hinreichende Gründe für das Eingreifen Gottes angeben wie für die souveräne Ent‐ scheidung. Die eine ist ja göttlich, die andere souverän. Läuft die Geschichte damit aus dem Ruder? Schliddert Benjamin dabei in ein Desaster seiner Ideen?
1. Staat und Revolution Von dieser Entscheidung aus – der souveränen, göttlichen oder auch der revolutionä‐ ren – wird die Geschichte entworfen und interpretiert, also von einem Jenseits der Lebenswelt, allemal von einer Perspektive, die in der Lebenswelt nicht vorliegt. Nach Benjamins soll der Gott das Leben retten, bei Schmitt der Souverän den Staat: „Die Existenz des Staates bewahrt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Gel‐ tung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Ge‐ bundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt.“ (2004, 18) Das hat Schmitt von Benjamin gelernt, klinkt er sich damit in die jüdischen Vorstell‐ ungen von Apokalypse ein, wenn das Leben nach dem Eingriff Gottes weitergeht, wiewohl neu geordnet. Bei Schmitt soll damit freilich der Rechtszustand wiederher‐
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gestellt werden. Trotz allem erscheint das eine willkürliche Wiedereinsetzung des Rechts. Nach Schmitt beruft sich der Staat auf ein Selbsterhaltungsrecht, das aber kein Recht sein kann, weil es außerhalb der Rechtssphäre anzusiedeln ist, sich vielmehr allein der Gewalt verdankt, also einem Naturzustand im Sinn von Hobbes. So kann Giorgio Agamben darüber das Verdikt fällen: „Aber fehl gehen auch jene Lehren, die wie die Schmittsche den Ausnahmezustand mittelbar in einen Rechtskontext zu stellen versuchen (...). Der Notstand ist kein ‚Rechtszustand‘, sondern ein Raum oh‐ ne Recht (...).“ (2004, 62) So hob die Notverordnung ‚zum Schutz von Volk und Staat‘, die im Februar 1933 erlassen wurde, alle individuellen Grundrechte auf. Die‐ se Verordnung galt bis zum Ende der Nazi-Herrschaft und wurde von Nazi-Juristen als ‚gewollter Ausnahmezustand‘ bezeichnet. Mit diesem Ausnahmezustand, der ja ein Kriegszustand jenseits des Rechts ist, wurde nach Agamben ein Bürgerkrieg geführt, der auf die Vernichtung aller objekti‐ ven oder subjektiven Feinde des Regimes abzielte. Dieser Ausnahmezustand konnte natürlich keine Legalität wahren, ging es schlicht nicht mit ‚rechten‘ Dingen zu, galt ja kein Recht mehr, gab es auch keine Legalität mehr – aller Schmittschen Hoffnun‐ gen zum Trotz. Die Nazis passten schon auf, dass sie sich außerhalb des Rechts be‐ wegten, wenn sie diskriminierten und ermordeten. Man könnte fast meinen, sie hät‐ ten Benjamin gelesen, dass es außerhalb des Rechts keine Gewalt gibt. Nicht allein weil Schmitt den Ausnahmezustand mit dem „Wunder für die Theo‐ logie“ vergleicht, avanciert selbst die Geschichte des Ausnahmezustands zur Heils‐ geschichte, die Benjamin mit der revolutionär verstandenen Geschichte gleichsetzt, die ja mit und gegen Marx ebenfalls eine Heilsgeschichte werden soll – man denke nur an den Refrain der Internationale, in dem es um ein ‚letztes Gefecht‘ gehen soll. Weil das Recht aus sich selbst keine Entscheidung ableiten kann, weil Entscheidung daher immer auf einem willkürlichen Akt beruht, transformiert sich die Rechtsphilo‐ sophie notwendig in eine Geschichtsphilosophie: Man kann das Recht nicht syste‐ matisch, sondern nur historisch erfassen. Daher verlieren die Marxisten darüber ge‐ meinhin keine weiteren Gedanken, liegt deren Fokus stattdessen auf der Ökonomie, muss es bei der Revolution nicht gerecht zugehen. Oder es geht automatisch gerecht zu wie bei Saint-Just: der Terror im Dienst der Tugend, ein Terror, der dann keiner wäre, wie die gewaltlose Gewalt Gottes. Der Eingriff Gottes, die Revolution oder der Ausnahmezustand, wenn man diesen jen‐ seits des Rechts situiert, brauchen dazu allemal keine guten Gründe in Recht und Staat. Gott greift aus dem Transzendenten der Erfahrung unvorhersehbar und uner‐ klärlich ein und die Menschen geben sich damit zufrieden. Ähnliches verlangen tota‐ litäre Führer von ihren Untertanen.
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Ob göttlicher, souveräner oder revolutionärer Eingriff, sie geraten in die Aporie – so Derrida: Erstens „auf der einen Seite die Entscheidung (angemessen, gerecht, geschicht‐ lich, politisch usw.), eine Gerechtigkeit jenseits des Rechts und des Staats, aber ohne entscheidbare Erkenntnis, (...).“ (1991, 112) Die Revolution erweist sich erst im Nachhinein als eine solche, wenn ihr das gelingen sollte, was sich Marx und Benja‐ min von ihr erhoffen. Aber wann lässt sich das in Erfahrung bringen? Historisch werden sich die Urteile wandeln, die ja dann auch nichts mehr mit der Sache selbst zu tun haben. Und der Souverän macht sowieso, was er gerade will, wiewohl sich das seine Anhänger gemeinhin anders vorstellen, wenn sie wie Schmitt daran glau‐ ben, dass es dem Souverän um die Selbsterhaltung geht. Doch das ist längst nicht immer der Fall. Just Schmitt erlebt den todestriebhaften Untergang der Nazi-Dikta‐ tur mit, bei der ihr Anführer das von ihm so benannte deutsche Volk untergehen se‐ hen wollte, wozu Schmitt sein Scherflein beitrug, wenn die Rückkoppelung des Sou‐ veräns an das Recht als Illusion verglüht. Der göttliche, revolutionäre oder dezisio‐ nistische Eingriff beurteilt Recht und Staat von einem externen Standpunkt aus, ent‐ weder von einer souveränen Entscheidung aus, aus einer göttlichen oder der revolu‐ tionären Perspektive, also dezisionistisch, theologisch oder geschichtsphilosophisch. Letztlich interessieren sich alle drei nicht für das Recht oder gar die Gerechtigkeit des Rechts. Zweitens: Für Derrida besitzt man zwar Erfahrungserkenntnisse in der staatlichen Welt des Rechts. Aber zu einer gerechten Entscheidung reichen sie nicht hin, schreibt Derrida über die rechtliche, somit die mythische Welt des Staates: „auf der anderen Seite entscheidbare Erkenntnis und Gewissheit in einem Bereich, der struk‐ turell betrachtet der des Unentscheidbaren, des mythischen Rechts oder des Staates ist.“ (1991, 112) Das entscheidungstheoretische Paradox lautet schließlich, dass es keinen angebbaren Weg von der Information zur Entscheidung gibt, bzw. man kann aus Informationen keine Entscheidung deduzieren. Marx‘ Problem wäre diese Unentscheidbarkeit wiederum nicht. Vielmehr würde sich ihm das Problem völlig anders stellen, nämlich als Einsicht in einen histori‐ schen Prozess, der den Betroffenen letztlich sagt, was sie zu tun haben, so dass es gar nichts zu entscheiden gibt, es nur die beschworene Einsicht in die Notwendigkeit braucht, das sich Einreihen in die Arbeitereinheitsfront. Denn Marx ist weder ein Rechts- noch ein Moralphilosoph, schließlich werden durch die Revolution die rechtlichen und staatlichen Schranken und Widerstände gewaltsam im Stil des My‐ thos aufgehoben, muss man sich um diese weder rechtlich noch staatlich kümmern, konstituieren diese kein philosophisches Problem, sondern alleine eins einer der ge‐ waltlosen Gewalt zwar ähnlichen, die aber für Marx nicht gewaltfrei ist, heißt es in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt
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muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur ma‐ teriellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ (1972, 385) und diese damit zur Gewalttat anstachelt. Marx geht natürlich nicht wie Benjamin davon aus, dass die Gewalt nur unter sittlichen Bedingungen existiert. Außerdem dementiert Marx diese rechtlichen Verhältnisse nicht, die für ihn vielmehr schlicht historisch entstanden sind, kann man nicht wie Proudhon mit moralischen Vorwürfen kommen, dass bei‐ spielsweise Eigentum Diebstahl sei. Dass die rechtlichen Verhältnisse gewalttätig sind, versteht sich von selbst, nur sind sie das legaler Weise. Umso nötiger ist für Marx die revolutionäre Gewalt, die als reale gar keine Legitimität braucht. Lenin sagt das dann klar und deutlich: „die Unterdrücker, die Ausbeuter, die Kapitalisten (...) müssen wir niederhalten, um die Menschheit von der Lohnsklaverei zu befreien, ihr Widerstand muss mit Gewalt gebrochen werden, und es ist klar, dass es dort, wo es Unterdrückung, wo es Gewalt gibt, keine Freiheit, keine Demokratie gibt.“ (1973, 550) Da der Staat wie das Recht, die neu entstehen, den Revolutionären als nur transi‐ torisch gelten, braucht es auch nicht darum zu gehen, dass dabei Gerechtigkeit wal‐ tet. Dann ist der Terror legitim, den Merleau-Ponty mit den Worten erklärt: „Es ist sicher, dass der Terror weder für Bucharin noch für Trotzki noch für Stalin einen Wert an sich darstellt. Jeder von ihnen beabsichtigt, durch ihn hindurch die wirkli‐ che, noch nicht begonnene Geschichte der Menschheit zu realisieren, und darin liegt ihrer Meinung nach die Rechtfertigung der revolutionären Gewalt.“ (1968, 141) Gerechtigkeit tritt für Marx wie für die von Merleau-Ponty erwähnten drei erst als ein langfristiges Ergebnis ein, das sich dann beinahe von selber versteht. Außerdem möchte Marx zwar rein innerweltlich bzw. wissenschaftlich denken. Doch über die zukünftigen Wirkungen innerweltlicher Tendenzen lässt sich nicht empirisch spre‐ chen, entfaltet jede Rede von der Zukunft einen unüberprüfbaren, letztlich metaphy‐ sischen, quasi jenseitigen Ausgangspunkt, vor dem sich Hegel hüten wollte, wäh‐ rend Marx darin den Sinn moderner Wissenschaft sieht und zwar jener von der Ge‐ schichte wie jener von der Ökonomie. Derridas Vergleich der beiden Perspektiven – des Eingriffs von außen und der in‐ nerrechtlichen Sphäre – fällt dann folgendermaßen aus: „Auf der einen Seite die Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit, auf der anderen die Gewissheit des Unentscheidbaren – oder ohne Entscheidung.“ (1991, 112) Von außen lässt sich will‐ kürlich eingreifen, also Entscheidung ohne Grund, gleichgültig ob als göttliche, re‐ volutionäre oder souveräne Entscheidung. Innerhalb der Rechtssphäre ist es klar, dass sich die Probleme nicht lösen lassen. Agamben attestiert dabei dem Ausnahmezustand stärkere Bezüge zum Rechtszu‐ stand als Derrida. Aber er interpretiert diesen Zusammenhang ähnlich wie Derrida: „In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle
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oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht aus‐ schließen, sondern sich un-bestimmen (s’indeterminano).“ (2004, 33) Denn damit entsteht hier dieselbe Unentscheidbarkeit durch Unbestimmtheit, die sich gegensei‐ tig noch verschärft, wenn Agamben die Verbindung zwischen Ausnahme- und Rechtszustand an einer Schwelle festschreibt, an der beide sich gegenseitig ihrer je‐ weiligen Bestimmungen berauben. Auf der Seite von Recht und Staat hat man zwar viele Informationen, aus denen sich aber keine Entscheidungen deduzieren lassen. Auf der Seite der Ausnahme gibt es nichts zu entscheiden im Sinne einer begründeten Handlung. Entscheidung ent‐ spricht einem dezisionistischen Akt der Gewalt, der in Schmitts Ausnahmezustand eine angemessene Symbolik findet. Auf der zweiten Seite lässt sich nicht anders zu einer Tat schreiten als durch einen gewaltsamen Abbruch der Diskussion über Infor‐ mationen bzw. der Kommunikation. Entweder es wird interpretiert oder gehandelt, aber in letzter Konsequenz in beiden Fällen willkürlich. Daraus ergibt sich für Derrida eine weitere Problematik. Denn Benjamin schreibt kurz vor dem Ende des Textes den Satz: „Nicht gleich möglich noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem be‐ stimmten Falle wirklich war.“ (1965, 64) Der Mensch erkennt die göttliche Gewalt nicht. Er versteht die Entscheidung nicht als göttlich, so dass auch an dieser Stelle die Unentscheidbarkeit einkehrt, die schon die mythische Gewalt des Staates charak‐ terisiert. „Die Entscheidung, die hier gefragt ist,“ sagt Derrida, „ die ausschlagge‐ bende, bestimmende, entscheidende Entscheidung, jene, die es uns erlaubt, eine sol‐ che reine und revolutionäre Gewalt als solche zu erkennen oder wiederzuerkennen, ist eine dem Menschen unzugängliche Entscheidung.“ (1991, 111) Denn die göttli‐ che, die gewaltlose Gewalt ist zwar gerecht und revolutionär, aber als solche vom Menschen nicht erkennbar, gibt es für diesen darüber gar keine annähernde Gewiss‐ heit, was selbstredend dann für die revolutionäre gilt. Damit wird die Revolution kri‐ tisiert, wie sich überhaupt revolutionäre und göttliche Gewalt gegenseitig in Frage stellen. Nicht dass man die Wirkungen nicht sähe. Aber sie lassen sich unter keinen Be‐ griff bringen, nicht mit etwas anderem vergleichen, keiner sprachlichen Allgemein‐ heit zuordnen. Das ist allein für die mythische Gewalt möglich. Doch die Rechtspro‐ bleme kann letztere trotzdem nicht entscheiden. Also steht Benjamin wiederum vor dem Problem, dass auf der einen Seite erkennbare Unentscheidbarkeit vorliegt und auf der anderen nicht erkennbare, also wieder nicht entscheidbare Entscheidung. So gelangt Derrida zur Konklusion: „In jedem Fall (...) findet sich das Unentscheidbare auf beiden Seiten wieder und ist die gewaltsame Bedingung der Erkenntnis oder der Tat.“ (1991, 112) Derart hat denn die mythische Gewalt die göttliche immer ‚bastar‐ diert‘, wie es Benjamin nennt, eine Formulierung, die für Derrida drohend eine un‐
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heilige Allianz ankündigt, bei der sich nicht nur religiöse und revolutionäre Perspek‐ tiven gegenseitig desavouieren. Viel schlimmer noch!
2. Die ‚Endlösung‘ Wenn der Ausnahmezustand aus staatlichem Selbsterhaltungsdrang die Norm auf‐ hebt, ähnelt er dem göttlichen Eingriff um des Lebens willens. Insoweit stehen beide außerhalb des Rechts, wie sich die Nazis auf den Überlebenskampf des Volkes berie‐ fen – was bezeichnenderweise allemal jenseits des Rechts liegt. Damit stellt sich die Frage: Ruiniert Benjamin dadurch nicht Revolution und göttlichen Eingriff gleicher‐ maßen? Hat dazu nicht vor allem die Rezeption von Schmitt beigetragen – und im weiteren historischen Geschehen der von den Nazis auf Dauer gestellte Ausnahme‐ zustand? Gewinnt dadurch der unblutige Eingriff Gottes eine gefährliche Nachbar‐ schaft? Hat Arendt den Text daher wohlweislich später nicht rezipiert? Vor diesem Hintergrund verfolgt Derrida eine weitere Spur des Textes, eine sehr fatale, die eine mögliche Logik des Textes mit dem Nazismus, dem Rassismus und dem Antisemitismus verbindet und dabei auch die ‚Endlösung‘ andenkt. Zwar ent‐ steht der Text, als der Nazismus noch nicht als solcher in der Geschichte aufgetaucht ist. Aber Derrida versetzt den Text in diese Geschichte hinein und liest in diesem eine Perspektive, an die Benjamin natürlich noch nicht denken konnte und die sich nach Derrida dennoch andeutet, um daraus eine eventuelle Stellungnahme zur ‚End‐ lösung‘ abzuleiten, die ja erst nach dem Tod Benjamins mit der Wannsee-Konferenz 1942 ihre völkermörderische Lokomotive auf die Schiene setzte. Eine solche Positionierung in der Terminologie von Zur Kritik der Gewalt würde den Nazismus in etwa folgendermaßen charakterisieren: und zwar „als Radikalisie‐ rung des Bösen, das an den Fall in eine Sprache der Mitteilung gebunden ist, an den Fall in eine Sprache der Vorstellung, der Repräsentation, der Information.“ (Derrida 1991, 117) Derart kritisiert Benjamin die totalitäre Logik des zeitgenössischen Staa‐ tes, dem auch ein revolutionärer nicht entgeht. Derrida verweist dabei auf die Medi‐ en-Gewalt, auf politische Ausbeutung, auf die technischen und industriellen Spra‐ chen, auf die wissenschaftliche Terminologie. Die Kritik ähnelt jener von Horkhei‐ mer und Adorno: die Sprache ist eine des Mythos nämlich extrem gewalttätig (vgl. Schönherr-Mann 1989, 73). Dazu gehört die Pervertierung der Demokratie durch die Logik der Polizei, die Recht nach Gutdünken setzt. Diese arbeitet an der Perfektionierung ihrer Tätigkeit und überschreitet dabei die rechtserhaltende Funktion ständig – man denke nur an die Ausweitung polizeilicher Kontrolle im Zuge der Informatisierung. So lassen sich nach Derrida die beiden Gewalten letztlich nicht mehr unterscheiden. „Dort, wo Po‐ lizei ist, überall also und auch an diesem Ort hier,“ schreibt Derrida, „kann man die
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beiden Gewalten, die setzende, (be)gründende, und die erhaltende nicht länger unter‐ scheiden; darin besteht die schmachvolle, schändliche, abstoßende Doppelsinnig‐ keit.“ (1991, 91) Dann widerlegt die Polizei Benjamins Diskurs und umgekehrt ent‐ larvt dieser die polizeilichen Aktivitäten als einem Rechtstaat oder der Demokratie strukturell widersprechend. Derart hat die Polizei ihren Teil zum Holocaust beigetragen: Untertanen, die jede eigene Verantwortung ablehnen, jedwedem Herren dienen und beispielsweise gerne als Bewacher die aus Viehwaggons bestehenden Züge in die Vernichtungslager be‐ gleiteten oder die Juden vor den Bahnhöfen zusammentrieben und vor allem am 9. November 1938 weder Juden noch jüdische Bauwerke vor der SA und dem NaziVolk schützten. Just in diesen Perspektiven deutet sich denn auch die ‚Endlösung‘ an, die hier von der reinen gewaltlosen Gewalt einer anderen Geschichte aber noch getrennt erscheint. Staat und Recht verlangen bereits im ersten Weltkrieg unzählige Opfer, die ästhe‐ tisiert werden. So erscheint 1920 in Ernst Jüngers In Stahlgewittern der Krieg als „männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen.“ (1961, 11) Auf derartige gewalttätige Sprachen stützen sich gerade Nazismus wie Faschismus und lassen im Sinn von Ernst Cassirer den Mythos wiederkehren. Nach Derrida reagiert Benjamin „auf die Gewalt eines von der Gerechtigkeit voll‐ kommen dissoziierten Rechts, das der begrifflichen Allgemeinheit entspricht, die der Massenstruktur angemessen ist und sich der Betrachtung des Besonderen und seiner Einzigartigkeit entgegensetzt.“ (1991, 118) Ob es sich um die institutionellen Aus‐ wüchse der Bürokratie handelt, um die Farce der Gesetze, die Grausamkeit der da‐ maligen Justiz, die Unterwürfigkeit der Untertanen unter Autoritäten, hierarchische Perversionen, die wissenschaftlich technische Enthumanisierung, nach Derrida ge‐ hören sie zusammen nicht nur zu den Wegbereitern, sondern den Verantwortlichen für die ‚Endlösung‘. Alle zusammen haben den Gedanken der Gerechtigkeit hinter sich gelassen bzw. nie auch nur angedacht, hat vielmehr der Nazismus die konserva‐ tive Revolution just in diesen Bereichen in die Tat umgesetzt bzw. massiv beschleu‐ nigt. Gegenüber dieser Perspektive greift Derrida einen Gedanken auf, der im deut‐ schen Historikerstreit intensiv diskutiert wurde, nachdem der damalige Bundespräsi‐ dent Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 vom ‚Tag der Befrei‐ ung‘ gesprochen hatte: Ist die ‚Endlösung‘ eine einmalige unvergleichliche Katastro‐ phe? Oder lässt sie sich in eine Reihe von Geschehnissen einordnen, mit denen man sie dann vergleicht und damit auch gleichartig macht? „Andererseits aber“, sagt Der‐ rida, „kann man (weil also der Nazismus im Sinne seiner logischen Konsequenz zur ‚Endlösung‘ als seiner eigenen Grenze führen (...) soll) die Einzigartigkeit der ‚End‐ lösung‘ nur von einem Ort aus denken und sich in Erinnerung rufen, der nicht dem Raum der mythologischen Rechtsgewalt zugehört.“ (1991, 118)
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Verharrte man im mythischen System des Rechts, dann wäre die ‚Endlösung‘ nur ein Verbrechen unter unendlich vielen dieses Systems. Aber wie schon die Nazis mit dem Wort ‚Endlösung‘ andeuten, lässt sich diese mythologisch gar nicht erfassen. Wenn Derrida Recht hat und die ‚Endlösung‘ an der Grenze der inneren Logik des Nazismus siedelt, dann gehört sie zum Mythos desselben wie sie diesen als singulä‐ res Ereignis in ihrer Einzelheit gleichzeitig überschreitet. Die Nazis mussten ihr un‐ denkbares Verbrechen geheim halten, verstecken und bis heute leugnen oder kleinre‐ den, eben daraus eines unter vielen machen oder es anderen in die Schuhe schieben. Sie können die Verantwortung dafür nicht öffentlich übernehmen, nur an ihren Stammtischen wie Eichmann vor Jerusalem in geheimer kleiner Runde einer ab‐ schließenden Rede der erst durch Bettina Stangneth richtig bekannt gewordenen In‐ terviews mit dem SS-Mitglied Willem Sassen im Herbst 1957 in Argentinien, die die ‚Endlösung‘ eigentlich relativieren sollten: „Wir kämpfen gegen einen Gegner, der durch vielvieltausendjährige Schulung uns geistig überlegen ist. (...) / Auch ich bin schuld mit daran, dass die (...) mir vorgeschwebte Konzeption der wirklichen, um‐ fassenden Eliminierung nicht durchgeführt hat werden können.“ (zit. Stangneth 2011, 392 f) Als singuläres Ereignis kann man die ‚Endlösung‘ nicht aus der Logik des My‐ thos wie des Rechts mit seinen Gerichten verstehen, nicht aus der politischen oder ästhetischen Repräsentation heraus. Dann verlöre die ‚Endlösung‘ ihre Singularität, ließe sie sich einreihen in andere große Verbrechen der Geschichte. Die Singularität der ‚Endlösung‘ realisiert sich in einer Sprache, die weder die Nazis noch ihre impli‐ ziten Verteidiger oder ihre expliziten Kleinredner sprechen bzw. verstehen wollen. Umgekehrt versuchte der Nazismus aus der mythologischen Perspektive heraus betrachtet eine alternative Interpretation zu zerstören, die Sicht aus einer anderen als der mythologischen Ordnung, nämlich die Perspektive entweder einer göttlichen ge‐ waltlosen Gewalt, oder einer Forderung nach Gerechtigkeit jenseits des Rechts wie auch des rechtlichen Universalismus, zu dem vor allem die Menschenrechte zählen, die bis heute von Nationalisten nicht anerkannt werden, beruft man sich in solchen Kreisen nicht auf die Menschenwürde, betreibt man vielmehr eine breitflächige dis‐ kriminierende Politik. Deshalb reicht es nicht, den Nationalsozialismus als Wiederkehr des Mythos zu verstehen. Vielmehr muss man ihn aus der Perspektive begreifen, gegen die er mit allen Mittel kämpft. „Im Inneren seines Systems“, so Derrida, „kann man die Ein‐ zigartigkeit eines solchen Ereignisses wie das der ‚Endlösung‘ nicht als äußerste Spitze der mythischen und repräsentativen Gewalt denken. Man muss dieses Ereig‐ nis von seinem Anderen aus zu denken versuchen, das heißt von dem aus, was es auszuschließen und zu zerstören versucht hat, von dem aus, was es radikal extermi‐ nieren wollte: dieses Andere hat seinerseits das Ereignis von innen und zugleich von außen aus heimgesucht.“ (1991, 119) Die göttliche gewaltlose Gewalt, also diese
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Benjaminsche Interpretation des Judentums, interveniert in die mythologische Inter‐ pretation der Geschichte, die in der Regel von jenen im Historikerstreit vertreten wurden, die die Einmaligkeit des Ereignisses bestreiten. Wenn man von der Einmaligkeit der ‚Endlösung‘ ausgeht, dann bedeutet das für Derrida im Anschluss an den Benjaminschen Text die ‚Endlösung‘ vom Namen aus zu verstehen. Denn in der Tat hat der Nazismus mittels Repräsentation nicht nur Millionen Menschen ausgelöscht. Er hat den Juden Staatsangehörigkeit und Namen geraubt, so dass sich niemand mehr an sie erinnern sollte – ein Aspekt, den auch Hannah Arendt betont. Dadurch sollte ein Verständnis von Gerechtigkeit zerstört werden, dass just auf die Singularität rekurriert: Die Nazis wollten keine Frage nach der Gerechtigkeit mehr aufkommen lassen. So ist der Nazismus selbst an die Grenze seines eigenen Verbrechens geraten: in einer monströsen Art bürokratischer Verwaltung und technisch perfektionierter Ver‐ nichtung, die jede Verantwortung beiseiteschiebt, indem sie an ihre Stelle die be‐ rüchtigten Sprachregelungen setzt. Der Nazismus hat das Archiv seines eigenen Handelns so zerstört, dass die Besonderheit und Ereignishaftigkeit des Geschehens verdrängt wird, eine Neutralisierung, an dem sich noch die revisionistischen Vertre‐ ter des Historikerstreits beteiligt haben, denen es um eine historiographische Um‐ schreibung des historischen Ereignisses geht im Namen positivistischer wissen‐ schaftlicher Objektivität, wenn sie zur historischen Vereinheitlichung die ‚Endlö‐ sung‘ mit dem Gulag vergleichen, um erstere dann noch in den Kontext von Kriegs‐ handlungen einzubeziehen, wenn Chaim Weizmann, Präsident der Zionistischen Weltorganisation, im Namen der Juden den Deutschen 1939 gar den Krieg erklärt haben soll. Dann wäre die ‚Endlösung‘ eine militärische Antwort darauf, die derart als legitim erscheinen soll. Auf solche Argumentationen hätte sich Benjamin selbstredend nicht eingelassen, vermutet Derrida. Aus der Perspektive der mythischen Rechts- oder Unrechtsgewalt lassen sich Ereignisse als Ereignisse nicht erfassen, sondern nur die ständige Wie‐ derkehr des Gleichen, als Massenphänomen. Außerdem kann der Mythos Probleme grundsätzlich nicht entscheiden, weil sich nach Derrida rechtsetzende und rechtser‐ haltende Gewalt nicht nur gegenseitig stören, sondern auch jedes theoretische Urteil über die Ordnung, was ansonsten durchaus möglich wäre. Zwischen Vertretern der mythologischen Gewalt und Derridas Vorstellungen von Gerechtigkeit besteht ein augenscheinlicher Mangel an gemeinsamer Evidenz. Benjamin selbst versucht aus der mythischen Rechtsordnung herauszutreten, um derart in die Geschichte einzutreten, eben die Geschichte, die sich entweder der gött‐ lichen oder der revolutionären Gewalt verdankt: also Benjamins geschichtsphiloso‐ phischer Standpunkt, mit dem er sich aus der Geschichte der Gewalt heraushieven möchte. Doch dazu fehlt den Menschen ein Urteilsvermögen, ein Kriterium, Ge‐ schichte entsprechend zu deuten, ein Maß, mit dem man die neue Geschichte ermes‐
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sen könnte: Sowenig wie die göttliche gewaltlose Gewalt lässt sich die anarchische reine Gewalt als solche ermessen. Das hat für Derrida die Konsequenz, „dass die Deutung der ‚Endlösung‘ (und die Deutung dessen, was das Ganze und das Umgrenzende der mythologischen und der göttlichen Ordnung ausmacht) vom Menschen nicht gemeistert werden kann, ihm nicht angemessen, kein für ihn Ermessbares ist.“ (1991, 121) Kein Diskurs über Menschenrechte, des Humanismus, der Aufklärung besitzt ein Verfahren, um die fundamentale Bruchstelle zwischen der mythischen Rechtsordnung und der göttlich oder revolutionär angeschobenen Geschichte zu erfassen. Daher lässt sich die Grenz‐ erfahrung, die die Nazis mit der ‚Endlösung‘ konstituierten, nicht objektivieren. Da‐ zu fehlt ein Standpunkt, der solche Objektivität gewährleisten könnte. Außerdem versuchte die mythische Gewalt das ihr andere, die göttliche Gewalt und damit die Gerechtigkeit definitiv aus der Geschichte auszutreiben. Wenn der Nazismus Millionen Juden ermordete, wollte er damit jene Menschen vernichten, die durch die von Gott erhaltene Sprache in der Lage sind, Zeugnis abzulegen, die Dinge zu benennen, die Dinge zu nennen, nicht sie zu repräsentieren, nicht sie vor‐ zustellen, nicht sie mitzuteilen, nicht Zeichen zu benutzen, um damit Zwecke zu ver‐ folgen. Dann verfolgt der Antisemitismus eine ihm fremde Sprache, die er natürlich auch nicht versteht. Damit untermauert sich jedoch ein Verdikt Benjamins, das Derrida sowohl als „furchterregend“ als auch als „belastend“ (1991, 122) qualifiziert, das Benjamin be‐ reits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1918 über die Aufklärung fällt, wenn es darin heißt: „Dass Kant sein ungeheures Werk gerade unter der Konstellation der Aufklä‐ rung in Angriff nehmen konnte, besagt, dass diese an einer gleichsam auf den Null‐ punkt, auf das Minimum von Bedeutung reduzierten Erfahrung vorgenommen wur‐ de.“ (1977 b, 158) Benjamin kritisiert an der Aufklärung einen Mangel an metaphy‐ sischer Tiefe, beschränkt sich diese doch auch bei Kant auf die oberflächliche sinnli‐ che Erfahrung als Gegenstand verstandesmäßiger Erkenntnis und lässt denn auch der Vernunft nur den Spielraum, die Strukturen dieses Verstandes zu erfassen und deren Reichweite auszuloten – eine Kritik, die Bezüge zur kritischen Theorie beinhaltet, heißt es bei Horkheimer und Adorno: der Diskurs der Aufklärung „zeigt, wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt.“ (1971, 5). Benjamin stellt also der aufklärenden Sprache der Repräsentation wie der Kom‐ munikation eine Sprache des Ausdrucks entgegen, die das Singuläre bezeugt, das Einmalige, das Ereignis. Damit aber ordnet Benjamin die Nazis derselben Sprach‐ ordnung, nämlich derjenigen der Repräsentation zu, in der sich auch die Aufklärung bewegt – und man könnte auch den Marxismus hinzufügen, die dann alle für die ‚Endlösung‘ zumindest indirekt verantwortlich gemacht werden können.
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Dergleichen ähnelt der primär religiös orientierten, konservativen Kritik an der Aufklärung, dem Liberalismus und Marxismus: der Faschismus sei nur deren Kon‐ sequenz. So schreibt Eric Voegelin 1958: „Auf den Gottesmord folgt im geschichtli‐ che Prozess nicht der Übermensch, sondern der Menschenmord – auf das deicidium der gnostischen Theoretiker das homicidium der revolutionären Praktiker.“ (1999, 98) Ob man die Linie bis zur ‚Endlösung‘ ziehen will oder nicht, speziell Benjamins Position ist nicht zuletzt ob seiner jüdischen Orientierung 1921 der konservativen Kulturkritik nicht so fern. Nicht alle von ihnen konnte man der konservativen Revo‐ lution zurechnen, die den Nazis den Weg bereitete, allemal nicht Voegelin. Aber Vo‐ egelin seinerseits wirft Aufklärung, Liberalismus, Sozialismus und Faschismus in einen Topf und demonstriert damit ein undifferenziertes Denken, das den Kampf ge‐ gen den Faschismus letztlich behindert, wiewohl er den Kampf stärken möchte. So skizziert sich allerdings eine weitere Interpretationsmöglichkeit von Zur Kritik der Gewalt, die für Derrida erschreckend ist, weil sie Benjamins Denken selbst im Horizont der konservativen Revolution hält und damit in einem Bezug zur ‚Endlö‐ sung‘. Es geht in der Tat um das Kernstück des Benjaminschen Aufsatzes, nämlich um die Parallele zwischen der gewaltlosen göttlichen und der gewaltlosen revolutio‐ nären Gewalt. Sie zerstören nicht nur die rechtliche Gewalt. Diese betrachtet Benja‐ min zwar als mythisch, so dass Recht ja immer mit Gewalt verknüpft ist. Aber der Holocaust setzt die Aufhebung des Rechts voraus, fand er unter Bedingungen des Ausnahmezustands statt. Benjamin hat hier nicht nur Schmitt einige Ideen geliefert, vielmehr lässt sich die gewaltlose rechtlose Gewalt auch als Ausnahmezustand le‐ sen, nämlich als eine Gewalt ohne Recht. Läuft also Benjamins Kritik der rechtlichen Gewalt von vornherein in eine fal‐ sche Richtung? Entlarvt Benjamin nicht wider Willen die revolutionäre anarchische Gewalt als nicht anders denn als metaphysisch regellos und somit höchst gefährlich? Lässt sich dergleichen nicht auch auf die ‚braune Revolution‘ übertragen? Dann wä‐ ren allerdings Voegelin und Strauss brüskiert. Dann entsteht nämlich eine Linie des metaphysischen Denkens vom religiösen über das revolutionäre bis hin zum faschis‐ tischen. In diesem Sinn könnte man Benjamin immerhin noch gegenintentional lesen und diese Leseordnung würde bei ihm in der Tat sehr kritische Elemente entbergen, wiewohl es sein Unternehmen auf den Kopf stellt. Auch Scholem, der den Zionismus und die neuhebräische Literatur des Säkularis‐ mus bezichtigt, nähert sich einer ähnlichen Position, die einerseits Liberalismus, Kommunismus und Nationalsozialismus aneinander annähert, andererseits aber auch ein jüdisches Denken in diesem Horizont zwielichtig werden lässt. Er kritisiert alle Formen sexueller Liberalisierung, vor allem eine Kritik an der Religion, die dieser Prüderie vorwirft und religiöse Texte anders verstehen möchte. Als Zwanzigjähriger schreibt er 1917: „Jede Auffassung des Hohen Liedes, die es in irgendeiner Hinsicht
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nicht vollkommen ernst und rein nimmt, richtet sich selbst. Schweinen ist es gelun‐ gen, auch im Hohen Liede Zoten zu entdecken.“ (2019, 229) Solch eine konservati‐ ve Prüderie legt er auch später nicht ab. Das Hebräische besitzt für ihn eine ursprüngliche göttliche Reinheit, die es zum Ausdruck des Universums macht. Es muss davon entfremdet werden, um es zu miss‐ brauchen. Das sei Philip Roth gelungen, vielfach ausgezeichneter US-Schriftsteller jüdischer Herkunft. Seinen Roman Portnoys Beschwerden aus dem Jahr 1969 be‐ zeichnet Scholem als ekelhaft, wenn es dem Helden nur darum geht, „an die Vagina von Schicksen heranzukommen“ (2019. 609). Daraus ergibt sich gar eine apokalyptische Drohung, dass nämlich mit der säkula‐ ren Zersetzung des Hebräischen die Sprache überhaupt endet und damit das Juden‐ tum. Und jüdische Literaten wie Philip Roth mit seinem für Scholem ekelhaften Ro‐ man tragen wesentlich zum Zerfall der religiösen Tradition des Judentums bei. Denn die Erotik in der Literatur jüdischer Provenienz befeuert den Antisemitismus, womit Scholem zumindest indirekt einen Bezug zum Holocaust herstellt. So schreibt Scho‐ lem über Roths Roman: „Das ist das Buch, das alle Antisemiten sehnsüchtig erwar‐ tet haben, und ich wage zu behaupten, dass dieses Buch uns allen vorgehalten wer‐ den wird, wenn sich die Zeiten einmal ändern sollten, was kaum mehr lange dauern dürfte, und wir werden es sein, die dafür grade stehen müssen, nicht der Autor mit seinen unflätigen pornographischen Worten.“ (2019, 610) Dass Scholem einem Glaubensgenossen verbieten möchte, über Sex zu schreiben, ist nicht das Problem, solange er keine Macht hat dergleichen durchzusetzen. Aber diese Aufforderung mit eigenem möglichen Leiden zu verknüpfen, noch dazu 1965, das stellt doch einen Akt der Intoleranz dar, der quasi gewaltsamen Eingemeindung und Verpflichtung ei‐ nes anderen, der nun mal von Scholems Vorstellungen von Judentum abweicht – ein Habitus, der ansonsten unter religiösen Fundamentalisten wie unter Nationalisten verbreitet ist. Daraus ergibt sich eine zu einseitige Erklärung des Antisemitismus mit einer ge‐ radezu falsch verteilten Schuldzuweisung. Zudem lässt sich der Spieß denn auch umdrehen und solchen Traditionalismus zumindest in die Nähe der Diktatur rücken. Auch Benjamin in dieser Perspektive verstanden kehrt allemal in eine religiöse Me‐ taphysik ein und verteilt implizit, ähnlich wie Voegelin es explizit äußert, problema‐ tische Verantwortlichkeiten für den Antisemitismus. Das verschärft sich noch bei einem fatalen Vergleich. Während nach Benjamin die mythische Gewalt eine des Blutes ist, die blutige Spuren hinterlässt, gilt das für die göttliche Gewalt nicht, die im Dienst des Lebens eingreift. Die mythische Ge‐ walt interveniert so in das Leben, dass sie das Lebendige blutig opfert, und zwar um ihrer selbst willen – was diverse Staaten fleißig betreiben. Der göttlichen Gewalt geht es dagegen um das Leben selbst. Wenn diese es opfert, dann will sie es dadurch retten: der vermeintliche Sinn des Opfers. So gilt nach Derrida für die göttliche Ge‐
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walt: „statt den Tod auf blutige Weise zu bringen, vernichtet sie ohne Blutvergießen. Am Blut hängt der ganze Unterschied. Die Deutung dieses Blut-Gedankens, dieses Denkens des Bluts ist – ungeachtet gewisser Dissonanzen – bei Benjamin und Ro‐ senzweig ebenso verstörend (besonders wenn wir an die ‚Endlösung‘ denken).“ (1991, 106) Warum lässt das Derrida an die ‚Endlösung‘ denken? Erscheint das nicht doch et‐ was weit hergeholt? Und warum betont Derrida dabei das Blut? Weil sich der Anti‐ semitismus rassistisch und pseudoevolutionär auf die Abstammung beruft, wie Han‐ nah Arendt betont und die ihn daher vom alten Judenhass unterscheidet? Hatte das Benjamin 1921 übersehen oder war für ihn diese sozialdarwinistische These, die sich ja auch mit dem Zweck des Lebens einschleicht, nicht mal so abwegig, waren die Juden selbst über Jahrtausende weitgehend unter sich geblieben. Oder weil es schlicht merkwürdig klingt, dass Vernichtung ohne Blutvergießen einhergehen soll? Ein Phänomen, das vor Auschwitz manchen normal erschien, sprachen die Nazis im Vorfeld des Krieges vom Gnadentod im Gas, den man unheil‐ bar Kranken angedeihen lassen wollte. So äußerte noch der von der Bundesregie‐ rung in Bonn gestellte Anwalt von Eichmann in Jerusalem Robert Servatius, der auch schon als Strafverteidiger an den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen teil‐ genommen hatte, „die verblüffende Überzeugung (...), dass das Töten durch Gas als ‚medizinische Angelegenheit‘ zu betrachten sei.“ (Arendt 2005, 197) Akzeptiert Benjamin die Vernichtung der Rotte Korah als legitim, weil man davon in der Bibel lesen kann? Derrida zweifelt denn auch an Benjamins Interpretation des Judentums, wenn die‐ ser unterstellt, dass, während die mythische Gewalt Opfer fordert, die göttliche Op‐ fer entgegennimmt. Das wäre ja nicht allzu viel freundlicher. Außerdem träumen moderne Diktatoren davon, dass sich ihre Untertanen freiwillig opfern und nicht da‐ zu gezwungen werden müssen. Dabei besitzt die göttliche Gewalt nicht nur eine reli‐ giöse Dimension, sondern eine diesseitige, wenn sie sich im Leben manifestiert. Sie zerstört das Recht, das Lebendige wie auch Güter. Aber damit will sie den Kern des Lebens retten. Das könnte sie sogar mit den Intentionen der Rassisten gemein haben, die ein bestimmtes Leben erhalten wollen. Aber Derrida zielt noch auf eine weitere Problematik. Die gewaltlose göttliche Gewalt gilt Benjamin nicht nur als vernichtend, sondern auch als so entsühnend wie unblutig und das unangekündigt. Der göttliche Eingriff vernichtet unvermittelt die Rotte Korah. „Wenn man an die Gaskammern und die Brennöfen denkt, lässt einen diese Anspielung auf eine Vernichtung, die entsühnend sein soll, weil sie unblutig ist, erschaudern. Die Vorstellung, dass man den Holocaust als Entsühnung und un‐ entzifferbare Signatur eines gerechten und gewaltsamen göttlichen Zorns deuten könnte, versetzt uns in Angst und Schrecken.“ (1991, 124) Letzteres verdankt sich natürlich dem positiven Verhältnis, das Derrida zu Benjamin empfindet. Denn er
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schätzt die Dynamik des Benjaminschen Denkens, das sich immer wieder in Derri‐ das Sinn auf Verschiebungen einlässt. Denn leicht kann man eine solche Parallele nicht unterstellen. Schließlich schränkt Derrida auch im Hinblick auf den Text Benjamins ein: „Man ist also nicht dazu berechtigt, den Schluss zu ziehen, dass die göttliche Gewalt allen möglichen menschlichen Verbrechen den Weg bahnt. Das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ ist und bleibt ein absoluter Imperativ, da ja das Prinzip der am stärksten zerstörerischen göttlichen Gewalt Achtung vor dem Lebendigen gebietet – und zwar jenseits des Rechts und des Urteils. Darin besteht in Benjamins Augen das Wesen des Juden‐ tums.“ (1991, 107) Allerdings – das betont Derrida gleichfalls – insistiert Benjamin darauf, dass eine Heiligung des Lebens allein um seiner selbst willen, für ihn nicht in Frage kommt. Vielmehr lässt sich nur ein gerechtes Leben bzw. Dasein heiligen, nicht das Dasein als solches oder das bloße Leben. Es geht Benjamin also doch um die Gerechtigkeit und nicht um das Lebendige um seiner selbst willen, womit er sich auch vom Ein‐ griff Gottes distanziert – man erinnere sich wieder an den Aufschub bei Scholem. Ahnte Benjamin, worauf das hinauslaufen könnte? Jedenfalls kritisiert Benjamin damit den Vitalismus und das stellt ihn nach Derrida in eine Linie mit Hegel und Heidegger. Benjamin leitet diese Position freilich vom Judentum ab, wiewohl er sich bewusst ist, dass eine solche Herkunft nicht eindeutig nachzuweisen ist. Aber Benja‐ min lehnt es ab, das Tötungsverbot als Urteilskriterium der vollbrachten Tat zu ver‐ wenden. Das Tötungsverbot, so Benjamin, „steht nicht als Maßstab des Urteils, son‐ dern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung, vom ihm abzusehen, auf sich zu nehmen haben.“ (1965, 61) Das ist zwar ein intelligenter Gedanke, schränkt aber das Tötungsverbot auch an einer ent‐ scheidenden Stelle ein, kann man die vollbrachte Tat damit ja nicht mehr beurteilen. Und das Urteil über die Tat kommt viel häufiger vor, als die Tat selbst, könnte Ähn‐ liches eher verhindern als eine einzelne Tat als Vorbild, sei es auch als negatives. Doch das führt in eine weitere Bedenklichkeit. Wenn sich nämlich der göttliche wie der revolutionäre Eingriff jenseits von Recht und Moral aufhält, dann legt das nahe, auch das Geschehen um die ‚Endlösung‘ herum nicht einfach von einem mo‐ ralischen Standpunkt aus zu beurteilen. Dann sind alle Maßstäbe aufgehoben. Dann kann man versuchen jenseits der Moral und des Rechts zu operieren – wie die reine Gewalt. Aber just das wollten die Nazis tun. Ob man ihnen dabei noch eine Moral attestieren soll, erscheint fraglich. So schreibt Rolf Zimmermann 2005: „Der Nazismus enthüllte ein Potenzial der morali‐ schen Transformation des Menschen, sodass es angemessen ist, von einer nazisti‐ schen Transformationsmoral zu sprechen, durch die herkömmliche moralische Gren‐
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zen verlassen werden sollten, um in einem groß angelegten Transformationsprojekt ein neues ‚Menschentum‘ zu schaffen.“ (2005, 10) Dem könnte man entgegenhalten, dass die Nazis intern an der traditionellen Mo‐ ral und an der traditionellen Werteordnung festhielten. So konnte das passieren, was Arendt beschreibt: „Ich erwähnte den totalen Zusammenbruch moralischer und reli‐ giöser Normen unter Leuten, die allem Anschein nach immer an sie geglaubt hatten, und ich habe auch die unleugbare Tatsache angeführt, dass die Wenigen, denen es gelang, nicht in den Wirbel hineingezogen zu werden, keineswegs die ‚Moralisten‘ waren, also Leute, die schon immer Regeln des richtigen Verhaltens hochgehalten hatten, sondern im Gegenteil sehr oft jene, die schon vor dem Debakel sowieso von der objektiven Nicht-Gültigkeit dieser Normen als solcher überzeugt gewesen wa‐ ren.“ (2006, 139) Die ethischen Orientierungen gegenüber diskriminierten Gruppen aufzuheben, demoliert die Mitläufer auch im Inneren, was nur die Kritiker der Ethik erkannten, während die Untertanen auf ihrer moralischen Integrität beharrten. So könnte man denn doch einen zentralen Unterschied zwischen jener rechtlosen Gewalt Benjamins und jenem Ausnahmezustand der Nazis entdecken. Denn die rechtaufhebende Gewalt hat nicht das für die jüdische Religion zentrale Tötungsver‐ bot in Frage gestellt, der Ausnahmezustand schon. So werten die Nazis das Tötungs‐ verbot sogar um in ein Tötungsgebot lebensunwerten Lebens. Damit verlassen sie die abendländische ethische Tradition, sprechen sie eine Sprache, auf die man sich diskursiv keinesfalls einlassen darf, wie es Richard Rorty fordert. In einem ver‐ gleichbaren Sinn bezeichnet Max Czollek 2018 den Umgang der Öffentlichkeit mit der neuen Rechten als „Rhetorik der Zärtlichkeit“. (2018, 117) Im messianischen wie im marxistischen Stil entwirft Benjamin ein neues Zeital‐ ter, die eigentliche Geschichte, die die vom Mythos beherrschte Geschichte beendet. Die reine göttliche Gewalt greift in das Geschehen entscheidend ein, zerstört das mythische Recht, das notorisch in der Unentscheidbarkeit verharrt, alleine schon zwischen Rechtsetzung und Rechtserhaltung. Das impliziert nach Derrida: „Man meint, dass die Geschichte dieser göttlichen Gewalt zugehört, dass sie auf deren Sei‐ te, ihr zur Seite steht – die Geschichte im Gegensatz zum Mythos.“ (1991, 109) Es sind also nach Derrida zwei verschiedene Geschichten. Die Frage stellt sich, auf welche Seite die ‚Endlösung‘ gehört. Auf beiden Seiten wirkt sie verheerend. Kri‐ tisch betrachtet, weist sie der Kritik selbst eine blutige Gewalt zu, der sie sich mit Habermas doch gar nicht zugehörig fühlen möchte. Im Sinn von Derrida wird die ‚Endlösung‘ mit der revolutionären Geschichte jenseits des Rechts verknüpft. Viel‐ leicht sollte man sich im Stil von Nietzsche damit begnügen, sie zwischen diesen Polen genealogisch pendeln zu lassen. So heißt Benjamins geschichtsphilosophisches Programm Abschied von der my‐ thologisch und rechtlich geprägten Geschichte als einer, die auf Gewalt basiert, ver‐ bunden mit der Hoffnung dass sich letztere irgendwann zu einer touristischen At‐
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traktion transformiert – frei nach Agamben formuliert. Durch die Abschaffung des Staates, seiner Autorität wie seiner Gewalt soll primär der gewalttätige Charakter des Rechts aufgehoben werden. Wenn man anders als Schmitt die Politik nicht mit dem Staat notwendig verknüpft, sondern wenn man die Politik von Staat und Recht freisetzt, dann beginnt mit dem neuen Zeitalter auch eine neue Politik. Benjamin stellt dem staatlichen Recht und Gewaltpotential, das in der Unentscheidbarkeit ver‐ harrt, den göttlichen und revolutionären Eingriff entgegen. Doch damit gerät Benjamin auf die schiefe Bahn. Denn auf den göttlichen Ein‐ griff fällt spätestens seit dem Holocaust ein Schatten, nicht im Sinn, die ‚Endlösung‘ als eine absurde göttliche Strafe zu verstehen, die jedes Maß verloren hätte, sondern im Sinn, dass sich die göttliche gewaltlose Gewalt ob ihrer Struktur nicht vom Schatten der ‚Endlösung‘ zu befreien vermag. Denn Benjamin macht es sich damit zu einfach, die Gewalt nur im Recht zu suchen, die mit seiner Abschaffung ver‐ schwunden wäre. Nazis wie heute ihre Nachfahren folgen nicht nur reduktionisti‐ schen Welterklärungen, sondern wollen selber Recht und Moral schlicht abschaffen und den Staat im Ausnahme- als Dauerzustand erhalten. Just an dieser Stelle entsteht eine Parallele, die durch einige beiherspielende Aspekte wie Blut, Leben und Recht‐ losigkeit untermauert wird. Derrida warnt denn auch vor bestimmten Implikationen im Text von Benjamin, die er schlicht für gefährlich hält. Er kritisiert Benjamin, zu sehr im Bann von Heidegger zu stehen, gleichzeitig zu messianisch und zu marxistisch zu denken, zu‐ dem zu eschatologisch, so dass Benjamins Bemühung, das Singuläre zu denken, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Alle Verbrechen der Geschichte sind singuläre Ereignisse, die sich nur als solche ausdrücken lassen, die man durch keine Begriffe repräsentieren kann. Daraus folgt für Derrida die Konklusion: Eine Lehre, sollte sie sich aus der ‚Endlösung‘ ziehen lassen, und wenn es eine solche gäbe, so müsste man sie gemäß Derrida denn auch ziehen, das wäre die Komplizenschaft zu markieren, die solche Texte wie derjenige Benjamins, aber natürlich auch viele an‐ dere Text – man denke an Heidegger, Carl Schmitt oder an den von Sloterdijk ver‐ ehrten Gehlen – gegenüber der ‚Endlösung‘ einnehmen, die Mitschuld zu benennen, die sie als Wegbereitung des Holocaust oder als dessen spätere Verharmlosung oder Rechtfertigung tragen. So bemerkt Derrida kurz vor Ende seines Vortrags: „Damit sind aus meiner Sicht eine Aufgabe und eine Verantwortung umrissen, deren Gegen‐ stand ich weder in der Benjaminschen ‚Zerstörung‘ noch in der Heideggerschen ‚Destruktion‘ habe ausmachen können.“ (1991, 125) Zerstörung bezieht sich hierbei auf den zerstörerischen Eingriff Gottes, jene gewaltlose Gewalt, auf die Benjamin von einem anderen historischen Standpunkt aus hofft und die nach Derrida doch auf schreckliche Abwege geraten ist, weil auch sie nicht davon frei ist – und das gilt ja für eine Reihe von Aspekten im Denken Benjamins – Haltungen bestärkt zu haben, die dann den Nazis zupass kamen oder die den Widerstand gegen diese schwächten.
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Allerdings betont Derrida ausdrücklich, dass Benjamin keineswegs auf die Spra‐ che der Repräsentation zugunsten einer Sprache des reinen Ausdrucks verzichten will. Vielmehr verweist Benjamin in seinem Moskauer Tagebuch aus den Jahren 1926/27 „auf die Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein.“ (1985, 331) So sind für Benjamin beide Sprachformen notwendig, kann man nicht auf eine der beiden einfach verzichten, selbst wenn sie miteinander inkommensurabel sind. Vielmehr braucht man sowohl die Repräsentation als auch eine Sprache des Ausdrucks, die das Einzigartige ausdrückt und dieses dadurch „ihrer Einschreibung in die Ordnung des Allgemeinen oder des Vergleichs entzieht.“ (Derrida 1991, 123) Dann erscheint die Sprache des Ausdrucks als ein ergänzendes Gegenmodell zur Sprache der Repräsentation. Wenn diese offenbar für andere Zwe‐ cke weiterhin benötigt wird, dann entspräche eine Linie von der Repräsentation zur ‚Endlösung‘ einer allgemeinen Depravationstheorie der Kultur, oder diese Linie er‐ hält eine eingeschränkte, vor allem kontingente Struktur. Jedenfalls gibt sich Derrida mit der Sprache als Ausdruck auch nicht zufrieden, gleichgültig ob diese die ‚Endlösung‘ beredt werden lässt, oder ob Sprache als Aus‐ druck der gewaltlosen göttlichen oder revolutionären Gewalt in jene Aktivitäten hin‐ eingerät, die der ‚Endlösung‘ den Weg bereiteten. Außerdem bleibt Derrida gegen‐ über einer Sprache des Ausdrucks als einer Ursprache skeptisch, ähnlich wie gegen‐ über Heidegger, dem er ein solches Ansinnen unterstellt. Das bestätigt zwar Richard Rorty, der gleichzeitig Derrida attestiert, ein ähnliches Vorhaben zu betreiben, eben‐ falls nach einer Ursprache zu suchen, die sich als Grundstruktur aller späteren Meta‐ physik enthüllt, selbstredend einschließlich derjenigen von Nietzsche und Heidegger. Nach Rorty ist Derrida daran genauso gescheitert wie diese beiden: Denn „sein Unternehmen ist eine Fortsetzung von Heidegger, insofern auch er Worte fin‐ den will, die uns an einen Ort ‚jenseits‘ der Metaphysik gelangen lassen – Worte, die eine von uns unabhängige Kraft haben, Worte die ihre eigene Kontingenz vorfüh‐ ren.“ (Rorty 1992, 204)
3. Die Signatur des Verwalters einer Ruine Man könnte den Eindruck haben, davon würde etwas aufblitzen, wenn Derrida nach dem Autor des Aufsatzes Zur Kritik der Gewalt fragt und bemerkt: Benjamin „kann ihn höchstens signieren, wie man ein gespenstisches Ereignis signiert – er kann ihm höchstens die Signatur eines gespenstischen Ereignisses verleihen.“ (1991, 91) Wo ist das Problem, genauer das Gespenst? Müsste man erst eine Benjamin-Biographie lesen, bevor man seinen Aufsatz rezipieren darf? Eine Signatur wird zwar einmal durchgeführt, dann gaukelt sie für Derrida eine ständige Anwesenheit bloß vor, die eine Art Autorität verkörpert. Die Unterschrift
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steht für den Autor und konstituiert womöglich ein ganzes Werk, genauer die Einheit des Werkes, was längst in Frage steht, so dass die Signatur bzw. der Autor verblasst – ein gängiges Thema in jenen Jahren. So schreibt Derrida 1971 in Signatur Ereignis Kontext: „Die Auswirkungen des Unterzeichnens sind die gewöhnlichste Sache der Welt. Aber die Bedingung der Möglichkeit dieser Auswirkungen ist gleichzeitig (...) die Bedingung ihrer Unmöglichkeit, der Unmöglichkeit ihrer strengen Reinheit.“ (1988 d, 313) Jedenfalls war damals, den Autor in Frage zu stellen, geradezu eine Modeerscheinung: Wer ist das? Was heißt das? Sollte der Autor nicht im sozialen Kollektiv aufgehen? Der Text hat auch nicht nur gespenstischen Charakter, weil sich Gehalte und Ar‐ gumentationsgänge nicht eindeutig fixieren lassen, sich vielmehr banaler Weise ver‐ schieden deuten lassen und verschieden gedeutet werden müssen: „Text und Signa‐ tur sind Gespenster. Benjamin weiß es – das Ereignis des Textes Zur Kritik der Ge‐ walt besteht in dieser seltsamen Ex-position (Aus-setzung, Darlegung): der Vortrag eines Gedankengangs ruiniert (...) die Unterscheidungen, die er trifft.“ (1991, 91) Speziell in diesem Fall lässt sich nicht eindeutig bestimmen, wer unter der Signatur signiert, entbirgt die Signatur nämlich einen doppelten Sinn. Wer signiert den Text denn noch? Die eigentliche Signatur präsentiert sich für Derrida im Schlusssatz von Zur Kritik der Gewalt: „Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.“ (1965, 64) Es handelt sich um eine doppelte Signatur, nämlich Gott oder etwas ganz Anderes signiert, und zwar mittels ihrer Gewalt, die nicht nur historisch, sondern auch sprachlich konstitutiv ist und die so Namen gebend ist, wie sie diesen vorausgeht. Gott signiert als ‚waltender‘, nachdem er zuvor sein Siegel gesetzt hat. Das könnte man gar als reinen Ausdruck verstehen. Aber die Signatur repräsentiert doch. Denn für Derrida signiert Benjamin Zur Kritik der Gewalt mit dem vorletzten Wort „waltende“ höchstpersönlich: Walter, der mit ‚Insignium und Siegel‘ verbunden ist und zugleich jeden Mittelcharakter demen‐ tiert: Die göttliche Gewalt vollstreckt keinen vorausgesetzten Zweck, sondern sie waltet. Und der Walter mit ihr, was eine Verbindung andeutet, die sich nach Derrida vor dem Hintergrund der Thematik des Blutes als noch problematischer erweist. Aber hat sich Benjamin als Walter hier wirklich mit dieser göttlichen Gewalt gemein gemacht? War es Absicht? Eine Geste gegenüber Scholem vielleicht, nichtsahnend wohin das noch weisen könnte, aber ahnend, dass der Text von den Linken kaum rezipiert werden wird. Oder die göttliche Gewalt verwaltet wie der Ver-Walter – ein Wortspiel, das Der‐ rida nicht mehr spielt, tauchte dabei auch die Frage nach dem Mittel auf. So könnte man hier eher auf Agamben Bezug nehmen, der darauf hingewiesen hat, dass gemäß der christlichen Trinitätslehre die Engel die Beamten des Himmels sind, die mit un‐ sichtbarer Hand hintergründig das irdische Geschehen natürlich im Sinne des göttli‐
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chen Vaters in seiner abgehobenen Herrlichkeit lenken. Aber damit verschiebt sich der Bezug in die christliche Trinitätslehre, was in der Tat hier weniger angebracht erscheint. Gespenstisch bleibt allemal der Eingriff Gottes, der den modernen Gedanken der Revolution rettet, indem er diese aber ruiniert. Und weil Derrida auf Sinnbezüge aufmerksam macht, die keinesfalls auf der Hand liegen, die sich so gespenstisch – auch durch das historische Geschehen hindurch – wie geradezu hinterhältig in den Text einschleichen, um den Text selber zu ruinieren, der doch so vieles zutage för‐ dert. Die Signatur reicht auch nicht aus, die Bestimmungen einfach zu klären und einen Gehalt zu beschreiben: Es handelt sich um einen Text von Benjamin und muss als solcher gelesen werden. „Der Gedankengang führt die Bewegung seiner eigenen Implosion vor und archiviert sie; er hinterlässt, was man einen Text nennt, das Ge‐ spenst eines Textes“. (Derrida 1991, 91) Benjamin hat nicht geschafft, was er ver‐ sprochen hat, eine Kritik der Gewalt zu leisten, die eine Revolution legitimiert und das bestehende Recht delegitimiert; denn „das Gespenst eines Textes, der, selber verfallen, selber eine Ruine, Begründung und zugleich Erhaltung, weder das eine noch das andere gänzlich zu sein vermag und so verbleibt, bis zu einem gewissen Punkt, für eine gewisse Zeit, lesbar und unlesbar, einer exemplarischen Ruine gleich, (...).“ (Derrida 1991, 91) Daher hat sich der Text bei diesem Bemühen selbst ruiniert. Es sei denn, Benjamin hatte das gar nicht vor, sondern wollte die Revolution da‐ mit verhindern – der Gedanke des Aufschubs, den er mit Scholem diskutierte und der natürlich den Eingriff Gottes betrifft, angesichts aber der Funktion desselben im Text die anarchische Revolution als aufzuschiebende charakterisieren würde und dann indirekt darauf verweist, dass Aktivitäten, die sich außerhalb des Rechts bewe‐ gen, unfassliche einzigartige Katastrophen heraufbeschwören, und zwar selbst dann wenn sie daran nicht unmittelbar beteiligt sind: die Verstrickungen von Schmitt, Heidegger und vielen anderen als Wegbereiter der ‚Endlösung‘. Selbstredend betrifft das nicht Benjamin selbst – auch wenn man das extra sagen muss –, ruiniert aber seinen Text, der von seiner dubiosen doppelten Signatur in Frage gestellt wird. Auch wenn sich die Ruine mehr noch als bloß äußerst ruinös herausstellte, be‐ hauptet Derrida, Ruinen ob ihrer Zerbrechlichkeit wie ihrer Endlichkeit zu lieben, könne man schließlich überhaupt nur Zerbrechliches und Endliches lieben: „Wie soll man anders lieben als in solcher Endlichkeit?“ (1991, 93) Derrida will solche sich eine Weile präsentierende Angebote ob ihrer Zerbrechlichkeit und Endlichkeit wei‐ terdenken und bedient sich denn des Benjaminschen Textes wie einer liebenswürdi‐ gen Ruine. Er nimmt diese als Beispiel für eine Diskursstiftung wie eine Diskurser‐ haltung, was sich alleine schon deshalb kaum bewerkstelligen lässt, da sich das Ge‐
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stiftete nicht ungebrochen erhalten lässt, weil die Erhaltung das Gestiftete ständig verschiebt, wie Schmitt, Derrida und Agamben vorführen. Aber trotz aller fataler Parallelen hat Benjamin damit nicht nur einen bis dahin beschränkten Diskurs über die Gewalt wie über das Recht geöffnet und ihm neue Perspektiven gegeben, Perspektiven die allerdings den Text selbst, die politische Philosophie, besonders die Theorie der Revolution peinigen: seine religiösen Bezüge desavouieren nicht nur bestimmte religiöse Vorstellungen vom Wirken Gottes oder von Gläubigen, sondern jede Idee, durch Revolution eine vom Unrecht befreite Welt zu schaffen, ja dass vielmehr droht, dass solche Bemühungen gewisse Ähnlichkeiten mit der ‚Endlösung‘ annehmen. Aber gerade ob dieser Peinsamkeiten ist Benjamins Text als Ruine für das Staatsverständnis im Allgemeinen und die politische Philoso‐ phie äußerst lehrreich. Und es ist Derridas Verdienst diese Perspektiven von Benja‐ mins Text entborgen zu haben.
5. Kapitel: Demokratie zwischen Recht und Gerechtigkeit Der Eingriff Gottes entzieht sich jedenfalls der Erfahrung und lässt sich nicht dia‐ gnostizieren. Dabei entfaltet sich ein performatives Modell von Gewalt, das just im modernen Revolutionsverständnis wiederkehrt, dieses völlig umdreht und auseinan‐ dernimmt, wenn man es nicht konstruktiv denkt: die Revolution entspricht nicht den ökonomischen Verhältnissen, die außer Kontrolle geraten wären, so dass der Kapita‐ lismus zusammenbricht und das Proletariat zwangsläufig als stärkste Klasse die Macht übernehmen muss. Wenn eine Revolution stattfindet, dann entspricht sie viel‐ mehr einem wie auch immer halluzinierten Eingriff Gottes und stiftet eine neue Ord‐ nung des Interpretierens. Damit hintergeht Derrida Benjamins revolutionäre Per‐ spektive. Die Revolution, die auf ein bestimmtes Verständnis zurückgreift, drückt sich sprachlich als neue Leseordnung aus, die zu lesen und zu interpretieren gibt. Die Sprache der Revolution erweist sich derart als Ausdruck eines Ereignisses, das dann in die Repräsentation übergeht, wenn daraus entsprechende Schlüsse gezogen werden und die Welt in ein revolutionäres Licht getaucht wird.
1. Die demokratische Politik des Ausnahmezustands 1921 entwickelt Benjamin jedenfalls eine vom Marxismus abweichende revolutionä‐ re Perspektive, die er 1936 in seinem Kunstwerkaufsatz untermauert, wenn es ihm um die „Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik“ (1963, 11) geht, die das marxistische Kunstverständnis überschreitet, auch wenn Benjamin ähn‐ lich wie die Kommunisten eine „Politisierung der Kunst“ (1963, 51) propagiert, aber
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eine, die kritisch die technischen Bedingungen der Produktion wie Rezeption von Kunst reflektiert. Während er sich im Kunstwerk-Aufsatz den revolutionären Thesen der Kommu‐ nisten zumindest annähert, nachdem er im Trauerspiel-Buch den Ausnahmezustand eher als einen zu vermeidenden betrachtet hat, kehrt er 1940 in den Geschichtsphilo‐ sophischen Thesen zur anarchischen Position von Zur Kritik der Gewalt nicht nur dadurch zurück, dass er den Ausnahmezustand zum Normalzustand erklärt: das Recht selbst produziert ja einen permanenten Gewaltzustand. Darüber hinaus erklärt er „als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“ (1965 b, Nr. 8 84), was sich jetzt vor dem Hintergrund seines Revolutionsverständnisses mit der Parallele zum Eingriff Gottes besser verstehen lässt. Nicht das marxistische Revolutionsverständnis verbessert „unsere Position im Kampf gegen den Faschis‐ mus“ (1965 b, Nr. 8 84). Will man im Angesicht des Nazismus etwa darauf warten, dass der Kapitalismus zusammenbricht? Es kann also nicht mehr nur darum gehen, rechtserhaltende und rechtsetzende Ge‐ walt miteinander ins Verhältnis zu setzen. Es reicht nicht aus, dass gegen den im Sinne Fraenkels maßnahmensetzendem Ausnahmezustand der Nazis mittels alliier‐ ter Bomber militärisch ein neuer Rechtszustand errichtet wird. Vielmehr kommt es mit Derrida auf eine ‚neue Leseordnung‘ an, auf eine genaue Lektüre, die einen ‚wirklichen Ausnahmezustand‘ als Performativum liest. Es muss im Angesicht des Faschismus um die absolute Ausnahme gehen, um eine Gewalt, die nötig ist und die doch keine sein soll, wie eine Art Notwehr. Bis hierhin nähert Benjamin sich Leo Strauss an, wenn dieser 1953 während des Korea-Krieges im Hinblick auf die klassi‐ sche politische Philosophie schreibt: „Eine wohlgesittete Gemeinschaft wird nicht in den Krieg ziehen, es sei denn, es handele sich um eine gerechte Sache. Was sie aber während eines Krieges tun wird, das hängt bis zu einem gewissen Grad von dem ab, was ihr der Feind – möglicherweise ein absolut gewissenloser und barbarischer Feind – zu tun aufzwingt.“ (1977, 165) Aber wenn man so naiv wäre, dann näherte man sich schon wieder dem Niveau der Nazis an, ein Schicksal, dem auch Benjamin nicht entgeht. Da würde es auch nichts helfen, wenn der wahre Ausnahmezustand einen anderen Anfang möglich machte, ähnlich wie man in Italien und Frankreich in den Widerstandsbewegungen darauf hoffte, eine neue gesellschaftliche Übereinkunft zu schaffen, die alte Gräben überwinden sollte – natürlich eine Illusion, die sich nicht außerhalb des Rechts situ‐ iert. Die weithin gelobten Geschichtsphilosophischen Thesen entbergen vor diesem Hintergrund diverse Schattenseiten, die schon Zur Kritik der Gewalt eigneten. Für Derrida entbirgt sich Benjamins Perspektive weniger als eine revolutionäre, sondern als eine performative, die sich im Recht selbst spiegelt. Wie kann es über‐ haupt noch eine revolutionäre Hoffnung geben, wenn Derridas folgende Interpretati‐ on richtig ist? „Die Rechtsordnung ist so eingerichtet, dass es ‚nur ein einziges
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Schicksal‘ – nur ein einziges Geschick, nur eine einzige Geschichte – gibt. Dieser Begriff des Schicksals (des Schicksals selbst oder seiner vollkommenen Einzigartig‐ keit) ist ein Schlüsselbegriff des Textes, aber auch einer der dunkelsten.“ (1991, 88) Nun, die gängigen Hoffnungen stehen mehr als in Frage, wenn die Gewalt gar zum Schicksal avanciert. Denn eine Notwendigkeit, die das Schicksal ausmacht, verdankt sich der gewaltsamen Unterwerfung, die entweder das bestehende Recht verlangt oder zu der ein sich einsetzendes Recht zwingt. Wenn man das Recht als Kernstruktur staatlich verfasster Gesellschaften begreift, dann verläuft die Geschichte gemäß der Entwicklung des Rechts. Das ist der zentrale Gedanke von Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie. Er begreift die Entwick‐ lung des Rechts als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ (1970 b, 32) Diese Notwendigkeit unterstreicht die Schicksalshaftigkeit, der alle Bürger ausgeliefert sind, ja die Bürger überhaupt erst zu solchen macht. Aber auch jenseits eines derartigen Denkens domi‐ niert das Recht die Menschen, unterwirft sie einem gemeinsamen Schicksal. Jede Infragestellung des Rechts wie auch jede neue Leseordnung trifft auf das staatliche Gewaltmonopol. Je nach Härte des Gesetzes wird sie denn auch verfolgt: man darf die Ordnung nicht in Frage stellen – deshalb spricht Leo Strauss von einem „Naturrecht der Torheit“ (1977, 192); denn die nicht in Frage gestellte Ordnung wie die dementsprechend interpretierte Geschichte stabilisiert die Gesellschaft. Wer an‐ deres unternimmt untergräbt die staatliche Ordnung. Die Gewalt der Rechtsordnung erweist sich somit als schicksalsmächtig, wenn sie sich wie Schmitt auf Hobbes verweisend auf das Verdikt stützt: „Auctoritas, non ve‐ ritas facit legem.“ (2004, 39) Oder, wie es Schmitt vermeintlich selbst paradox for‐ mulieren will: „die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.“ (2004, 19) Dann bleibt nach Arendt nur „dass Sieg oder Niederlage (...) offenbar das letzte Wort sind für die Schicksale der Menschen.“ (2000, 368) Das führt in eine Geschichte, die von den Siegern geschrieben wird, wie es in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen heißt, dass doch nur die Gewaltverhältnisse allen Rechts Geschichte schreiben. Mit dem Hobbes-Zitat gibt Schmitt das auf, was das Abendland seit seinen Anfängen kennzeichnete, nämlich das, was Herodot forderte, ‚legein ta eonta‘, folglich sich im Urteil über das Geschehene um Objektivität zu be‐ mühen, ohne die denn für Arendt Gerechtigkeit nicht gedacht werden kann, sowenig wie das Recht. Just hier entlang verläuft die Scheidelinie zwischen dem zeitgenössi‐ schen diskriminierenden Populismus von Rechts und der Zivilgesellschaft, die Men‐ schenrechte, Demokratie, Sozial- sowie Rechtsstaat verteidigt – und damit auch des‐ sen Gewalt, wiewohl eine rechtlich geordnete –, während die diskriminierenden Be‐ wegungen Staat und Recht beschränken und durch die Souveränität der Regierung – oder Führung – ersetzen wollen.
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Aber Benjamin denkt eher positivistisch. Mit der Todesstrafe verleiht sich die Rechtsordnung auch eine Form der existentiellen Notwendigkeit. Jede Rechtsord‐ nung gibt sich als die einzig mögliche, historisch entstandene und insofern notwen‐ dige Rechtsordnung aus. Die jeweilige Rechtsordnung ist kein Zufall, sondern histo‐ risch geschickt, d.h. auf den Weg gebracht, somit ein Geschick – ein Begriff, den Heidegger für Geschichte einsetzt; denn Geschichte hat etwas Geschickliches und das Geschick ergibt sich aus der Geschichte. So entgeht man dem Geschick so we‐ nig wie der Geschichte, gehören beide eng zusammen bzw. ergänzen sich gegensei‐ tig. Das gilt auf jeden Fall dann, wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte nur einen einzigen Sinn besitzt, den man entdecken muss, um ihn von den falschen In‐ terpretationen abzugrenzen. Just darum aber bemüht sich jede Rechtsordnung. Das kann Benjamin noch weitgehend ohne Zweifel vertreten, wird noch bis ca. Mitte des 20. Jahrhunderts um den richtigen Sinn der Geschichte fleißig gestritten. Denn die meisten Kombattanten sind sich zumindest in der einen Auffassung einig, dass Ge‐ schichte nur einen Sinn haben kann. Doch wenn Paul Ricœur 1969 vom „Konflikt der rivalisierenden Hermeneutiken“ (1973, 30) spricht, hat das Verständnis vom einen richtigen Sinn der Geschichte Ris‐ se bekommen, transformiert sich der Krieg der Ideologien, die sich jeweils selbst für keine halten, in einen Konflikt der Interpretationen oder der Pragmatismen und Re‐ lativismen. So deutet sich für die Geschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel an. Geschichte wird zunehmend nicht mehr als Einheit, sondern als Vielheit verstanden, so dass Gianni Vattimo 1994 feststellen kann: „Die ‚wahre Welt‘, die zur Fabel wird (wie es in der Überschrift zu einem berühmten Kapitel aus >Nietzsches< Götzen-Dämmerung heißt), überlässt ihren Platz keineswegs einer tie‐ feren glaubwürdigeren Wahrheit; sie überlässt ihn dem Spiel der Interpretationen, das sich philosophisch auch seinerseits nur als eine Interpretation präsentiert.“ (1997, 22) Wenn die Geschichte ihren einheitlichen Sinn verliert, macht dieser Prozess vor dem Recht nicht Halt. Umso hartnäckiger wird sich das Recht dagegen wehren, wird das Recht auf seiner einzigen Geschichte wie auf dem einzigen richtigen Sinn insis‐ tieren, dem die davon betroffenen schicksalhaft ausgeliefert sind, nämlich der Per‐ formanz der Gewalt. Das hat das Recht längst gelernt, noch bevor die postmoderne Philosophie die ‚wahre Welt zur Fabel‘ erklärte. Die Rechtsordnung verteidigt ihr schicksalhaftes Gewicht mit aller Gewalt, weil nicht erst seit dem Zeitalter der Revolutionen, son‐ dern schon seit der Reformation dieses Gewicht zu zerbröseln beginnt, wenn viele am eigenen Leib erleben, wie eine Rechtsordnung der anderen folgt und man heute ein längst nicht mehr so weit verbreitetes Untertanenbewusstsein immer noch braucht, um dergleichen stoisch über sich ergehen zu lassen. Doch letztlich vermag
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sich die Rechtsordnung als Schicksal dann stärker zu präsentieren, wenn sie sich auf eine religiöse Weihe berufen kann. Darauf weist Leo Strauss hin: „Das Gesetz erhält höhere Würde, wenn das Universum göttlichen Ursprungs ist.“ (1963, 144) Auch Strauss anerkennt damit die Gewalt, auf der jedes Recht aufruht. Wenn diese Gewalt religiös zum Ausdruck des göttlichen Willens und nicht als Repräsentation bloßen Rechts erklärt wird, wenn sie sich mit Scholem unmittelbar in der Sprache geltend macht, dann lässt sie sich nicht so leicht hinterfragen. Spätestens Hobbes dreht diese christliche Relation um, übernimmt der Staat die hermeneutische Macht, wiewohl das letztlich in den Krieg der Ideologien führen wird, durch den schließlich die wah‐ re Welt in eine Fabel überführt wird. Der Revolutionär kann sich damit gemeinhin nicht zufrieden geben, es sei denn er beruft sich selbst auf die Schöpfung, die die Zeitgenossen im Sinn von Rousseau de‐ praviert haben, und sei es nur wie Heinrich Heine in der Berg-Idylle der Harzreise auf ironische Weise: Der Heilige Geist „zerbrach die Zwingherrnburgen, / Und zer‐ brach des Knechtes Joch.“ (1980, 50) Oder der Revolutionär beruft sich wie Benja‐ min im Kampf gegen das Schicksal anders als Heine auf einen der Welt entzogenen, nicht mitmischenden, aber gelegentlich interventionsfreudigen Gott und sei es auch, um dessen Intervention aufzuschieben. Just das ändert indes nichts an der Sachlage, dass dann das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit anders gedacht werden muss, als es sich Hegel vorstellt, beginnt der § 1 der Einleitung in die Rechtsphilosophie von 1820 mit den Worten: „Die phi‐ losophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ (1970 a, 29) Die Idee des Rechts enthält die Gerechtigkeit durch das Zusammenspiel von Rechtsbegriff und dessen Verwirk‐ lichung, also der Geschichte des Rechts, so dass Recht und Gerechtigkeit nicht ge‐ trennt gedacht werden können, verwirklicht das Recht die Gerechtigkeit, gibt es aber nicht mehr Gerechtigkeit, als im Recht lanciert wird. Woher sollte sonst Hegels ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‘ kommen? Allein durch das institutionali‐ sierte Recht, herabsteigend vom Allgemeinen zum Besonderen. Hegels historischem Fortschritt hält Hannah Arendt kurz vor ihrem Tod, also ein gutes Jahrzehnt vor Derridas Vortrag, eine andere Notwendigkeit entgegen: „Letzen Endes werden wir vor der einzigen Alternative stehen, die es hier gibt – entweder sagt man mit Hegel: die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und überlässt das letzte Urteil dem Erfolg, oder man besteht mit Kant auf der geistigen Autonomie der Men‐ schen und ihrer Fähigkeit, sich unabhängig davon zu machen, wie die Dinge nun einmal sind oder geworden sind.“ (2002 a, 212) Derrida integriert in das Recht – etwas verschoben zu Benjamin – nicht nur die Drohung, die das Recht ausübt, sondern auch die Drohung, der das Recht immer ausgesetzt ist, die zum Recht selbst gehört, eben das, was es bedroht. Das Recht konstituiert eine Ordnung in ihrer Einzigartigkeit, die keine andere zulässt, damit
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aber jeden Widerstand als immanent ausweist. Daher gelangt Derrida zur These über die Rechtsordnung: „Man kann ihr allein in ihrem Inneren Gewalt zufügen, allein in ihrem Inneren kann man sie verletzten oder übertreten.“ (1991, 89) Damit ist klar, dass entweder Benjamins Eingriff Gottes von außen kommt, aber das Recht eigent‐ lich nicht tangiert – und zwar weil man die Göttlichkeit des Eingriffs nicht erkennen kann – oder aber er kommt von innen, lässt sich erfassen, repräsentieren, drückt aber nicht etwas Göttliches, höchstens etwas Religiöses aus. Jede Veränderung gehört dann wieder zum Recht selbst, ist diesem immanent, weil es eine Struktur hat, durch die sich das Recht als drohendes auch selbst bedroht. Damit avanciert es zum Schicksal: „Das Recht ist drohend wie das Schicksal.“ (Derrida 1991, 89) Das Recht droht gleichzeitig mit seiner Auflösung, die doch nur eine Transforma‐ tion zur Folge hat. Insofern lässt sich der Konflikt zwischen Schmitt und Benjamin nicht so leicht entscheiden. Eine Gewalt jenseits des Rechts ist jedenfalls kaum zu bestimmen. Umgekehrt ist Schmitts Lösung in sich widersprüchlich. So kann Agam‐ ben bemerken: „Der Streit findet in ein und der‐ selben Zone der Anomie statt, die für die eine Seite um jeden Preis mit dem Recht verbunden bleiben muss, während sie für die andere ebenso sehr davon gelöst und befreit werden soll. (...) Auf den Gestus von Schmitt, der Gewalt jedes Mal neu in den juristischen Kontext hineinzuschreiben versucht, antwortet Benjamin, indem er ihr als reiner Gewalt – jedes Mal eine Existenz außerhalb des Rechts zu sichern sucht.“ (2004, 72) Aber in beiden Fällen soll die Ausnahme bzw. die Gewalt, die keine sein soll, das Lebendige entweder ins Recht oder in die Politik ohne Recht zu‐ rückbringen. Bei Schmitt verkörpert die Ausnahme das Leben gegenüber der rationalisierten Welt des Rechts. Für Benjamin greift die gewaltlose göttliche Gewalt im Dienst des Lebendigen ein, stellt letztlich auch das dar, was Agamben primär Schmitt attestiert, nämlich bloße Gesetzeskraft zu sein. Er schreibt: „Aber ebenso wesentlich ist es für die Rechtsordnung, dass diese Zone – Ort menschlichen Handelns ohne Bezug zur Norm – mit der äußersten und gespenstischen Form des Rechts zusammenfällt, wo es sich spaltet in reine Geltung ohne Anwendung (Gesetzesform) und reine Anwen‐ dung ohne Geltung: Gesetzeskraft.“ (2004, 72) Gott mag gelegentlich Gesetzgeber sein. Dadurch mögen Gesetze gelten. Durchgesetzt werden sie deshalb noch lange nicht. Wenn indes die göttliche Gewalt interveniert, dann befolgt sie weder Gesetze, noch setzt sie welche in Kraft. Ähnlich funktioniert die anarchische revolutionäre Gewalt. Eventuell propagiert sie moralische Prinzipien und Tugenden. Aber sie gießt sie nicht in Gesetze, denen sie dann Gesetzeskraft verleihen würde. Dennoch besitzt diese Gewalt dieselbe Gesetzeskraft wie die göttliche oder Schmitts Souverän. In dieser Form präsentiert sich das Schicksal als eine Struktur, die sich nicht hinterge‐ hen lässt, weder bei Benjamin noch bei Schmitt. Damit wird sich Derrida nicht be‐
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scheiden. Jenseits des Naturrechts oder jeglicher absoluten Souveränität wirft er die Frage der Gerechtigkeit auf. Wenn auch auf ganz anderen Wegen so nähert er sich trotzdem John Rawls‘ Eine Theorie der Gerechtigkeit bzw. weist seine politische Philosophie zumindest als liberal aus. Dagegen deutet Agamben Benjamins Aufsatz im Kontext mit dessen Rezeption durch Schmitt als frühe Einsicht darein, dass beginnend mit dem ersten Weltkrieg, als der Ausnahmezustand in allen beteiligten Staaten flächendeckend angewandt wurde, in demokratischen Staaten immer stärker auf den Ausnahmezustand als nor‐ male Maßnahme des Regierens zurückgegriffen wird – man denke nur an Frankreich nach den Attentaten am 13. November 2015 oder an die USA nach dem 11. Septem‐ ber 2001. So beschränkt sich für Agamben diese Problematik auch keineswegs auf das Na‐ zi-Regime mit seinem permanenten Ausnahmezustand. Agamben schreibt: „Ange‐ sichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als ‚weltweiter Bürgerkrieg‘ bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regie‐ rens.“ (2004, 9) Angesichts vielfältiger Bedrohungen heute durch den Terrorismus bedarf der Rechtsstaat anscheinend des Ausnahmezustands und er entbirgt dadurch sein Fundament in der Gewalt. Dadurch verschieben sich die gängigen Bestimmungen verschiedener Verfassun‐ gen, so dass sich nach Agamben dadurch die Demokratie nicht mehr klar von Dikta‐ turen welcher Couleur auch immer unterscheiden lässt. Gemäß der von US-Präsi‐ dent George W. Bush am 13. November 2001 erlassenen military order durften Nicht-US-Bürger unbeschränkt inhaftiert werden und sogar jenseits des Kriegsrecht behandelt und verurteilt werden. Damit besaßen diese Personen keinerlei Rechte mehr. „Vergleichbar ist dies allenfalls“, so Agamben, „mit dem rechtlichen Status der Juden in den Nazi-Lagern, die mit der Staatsbürgerschaft jede rechtliche Identi‐ tät verloren, aber wenigstens die jüdische noch behielten. Wie Judith Butler überzeu‐ gend dargelegt hat, erreicht mit dem detainee von Guantanamo das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit.“ (2004, 10) Immer häufiger verabschieden sich die westlichen Demokratien dabei von der Beachtung der Menschenrechte, die man mit dem Ausnahmezustand Flüchtlingen und Migranten verweigern kann, nicht nur sogenannten Terroristen. So wird es heute nach Agamben immer klarer, „dass nämlich ab dem Augenblick, wo ‚der Ausnah‐ mezustand (...) die Regel ist‘ (Benjamin...), dieser sich nicht nur immer mehr als Technik des Regierens (statt als Sondermaßnahme) erweist, sondern auch sein für die Rechtsordnung paradigmatisch-konstitutives Wesen ans Licht kommt.“ (2003, 13)
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So scheitern nach Agamben alle Bemühungen – seien sie theoretischer Natur wie bei Schmitt, Carl Joachim Friedrich 1941 in Constitutional Government and Demo‐ cracy oder Clinton L. Rossiter 1948 in Constitutional Dictatorship – Crisis Govern‐ ment in the Modern Democracies, oder in den Verfassungen beispielsweise von Frankreich und der Bundesrepublik – den Ausnahmezustand rechtlich zu regeln: die Ausnahme lässt sich nun mal nicht regeln bzw. ist die Ausnahme von der Regel. Das gilt in gleicher Weise für alle Anstrengungen, in Verfassungen ein Wider‐ standsrecht aufzunehmen. Denn, so Agamben, „beim Recht auf Widerstand wie beim Ausnahmezustand steht das Problem der juristischen Bedeutung einer Hand‐ lungssphäre in Frage, die sich per se außerhalb des Rechts befindet.“ (2004, 18) Dann würde sich Benjamins wirklicher Ausnahmezustand auf diese rechtliche Lücke als Grundlage der Normalität beziehen. Das fällt aber hinter die Einsicht Der‐ ridas zurück, dass zwischen wirklichem Ausnahmezustand und Eingriff Gottes eine hintergründige Beziehung besteht. Wenn Agamben Recht haben sollte, dass seit dem ersten Weltkrieg der Ausnah‐ mezustand beinahe zur Regel des Regierens in demokratischen Staaten wurde, so ist er das vor allem gegenüber dem vielleicht daher umso mehr beschworenen Recht‐ staat. Dann scheint der übliche heutige Umgang mit dem Notstand Schmitt Recht zu geben. Man darf indes einwenden, dass ein ausdifferenzierter funktionierender Recht‐ staat häufiger auf den Notstand zurückgreifen muss, als ein eingeschränkter Recht‐ staat in einer gelenkten Demokratie oder gar keiner in einer Diktatur, die ja zumeist Ausnahmezustandsstrukturen durchherrschen. Der ausdifferenzierte Rechtstaat da‐ gegen, der zunehmend vielfältige individuelle Rechte garantiert, der damit die Tür zu diversen Gerichtsprozessen öffnet, muss schlicht schneller zur Aufhebung von In‐ dividualrechten greifen, wenn er sich bedroht sieht. Das würde Agambens These er‐ heblich entdramatisieren und Schmitt die Zähne ziehen: Wenn der Rechtstaat sich ausdifferenziert und die Bürgerrechte garantiert, muss er im Dienst der Individual‐ rechte diese häufig einschränken, selbst wenn das paradox erscheint. John Rawls, dem es nicht um den Ausnahmezustand geht, hat dafür zwei Bedingungen genannt: die Einschränkungen der individuellen Rechte müssen das System der Freiheits‐ rechte insgesamt stärken; die Einschränkungen müssen für die Betroffenen akzepta‐ bel sein. Man denke an die Sicherheitskontrollen im Luftverkehr. Angesichts des von Agamben diagnostizierten verbreiteten Ausnahmezustands in liberalen Demokratien scheint es kaum einen Ausweg für ihn zu geben. Aber zumin‐ dest denkt er sich ein anderes, wiewohl utopisches Szenario aus. In seinem Aufsatz über Kafka skizziert Benjamin eine Gerechtigkeit, die sich nicht mehr der Ausübung des Rechts verdankt, sondern nur noch dessen Studium. Die mythische Gewalt des Ausnahmezustands wird auf diese Weise aufgehoben und als Gesetzeskraft entlarvt. Sowohl im Judentum wie im Marxismus stellt sich das Problem, was aus dem Recht
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wird, wenn es durch die Ankunft des Messias nicht mehr gebraucht wird, oder wenn der Staat abgestorben ist. Also es geht nicht um die Übergangszeit, die sich unend‐ lich verlängern könnte, sondern wirklich darum, dass das Recht außer Funktion ist und allein zum Gegenstand eines historischen Studiums wird. Damit präsentiert es sich keineswegs als Gerechtigkeit a posteriori. Aber sein Stu‐ dium könnte den Weg zu Einsichten in die Gerechtigkeit bereiten. Und daraus ergibt sich dann eine skurrile Utopie, die auf Benjamins Kafka-Interpretation aufruht: „Ei‐ nes Tages“, so Agamben, „wird die Menschheit mit dem Recht spielen wie Kinder mit ausgedienten Gegenständen, nicht um sie wieder ihrem angestammten Gebrauch zuzuführen, sondern um sie endgültig von ihm zu befreien.“ (2004, 77) Damit ist das Recht außer Kraft gesetzt. Aber man kann an seinen Problemen und Schwierigkeiten einiges über Gerechtigkeit lernen. Das Bild vom spielenden Kind erinnert an die drei Verwandlungen in Nietzsches Zarathustra. In Analogie zu seiner Vorstellung, dass der Mensch neue Werte erfin‐ den müsste, gelangte man dann aber wieder zurück zum Recht: die Wiederkehr des Gleichen oder des Rechts nach dessen Aufhebung. Soweit denkt Agamben aller‐ dings nicht.
2. Derridas Antwort: Gerechtigkeit ohne Recht Benjamins Analyse zeigt zahlreiche Aporien auf, die sich rings um das Recht ran‐ ken. Derrida folgt ihm in seiner Diagnose, dass Recht durch die ihm inhärente Ge‐ walt verschmutzt wird. Benjamin sucht den Ausweg in einer religiös inspirierten Ge‐ schichtsphilosophie. Derrida will sich damit nicht zufrieden geben. Wenn das Recht ein problematisches Fundament hat, muss das für die Gerechtigkeit doch nicht gel‐ ten. Just an der Idee der Gerechtigkeit – freilich nicht als Idee im engeren Sinn – hält Derrida gegen die Tradition der konservativen politischen Philosophie fest, auch ge‐ genüber der Sozialphilosophie Marxscher Provenienz. Die Parallele zur normativen liberalen politischen Philosophie wird sich dabei abschwächen bzw. verschieben, da es Derrida nicht um eine normative Neubegründung der Gerechtigkeit geht. Im Anschluss an Benjamin entwickelt Derrida einen Begriff der Gerechtigkeit, der zum Kern seiner politischen Philosophie avanciert. „Der gewagte, kühne, ebenso notwendige wie gefährliche Gedanke einer Art Gerechtigkeit ohne Recht (ein Aus‐ druck, der von mir, nicht von Benjamin stammt)“ (1991, 104) dominiert sowohl Derridas Rechtsphilosophie, wie dieser Gedanke dazu beiträgt, sein Staatsverständ‐ nis weiterzuentwickeln. Ihn setzt Derrida geradezu provokativ Benjamin wie Schmitt entgegen, die sich ja beide prinzipiell am Recht orientieren anstatt an der Gerechtigkeit. Derrida schreibt: „Gerechtigkeit ohne Recht hat sowohl für die Ein‐ zigartigkeit des Individuum als auch für das Volk und die Sprache, also für die Ge‐
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schichte Geltung.“ (1991, 104) Eine „Gerechtigkeit ohne Recht“ bezieht sich näm‐ lich auf die Unendlichkeit der Dinge: auf alle Individuen, die jemals gelebt haben, auf alle Völker oder Gemeinschaften, die sich sprachlich konstituieren – was keines‐ wegs eine einheitliche Sprache unterstellt – so dass man letztlich dem Gesprochenen gerecht zu werden hat und sich damit auf die Unendlichkeit der Geschichte bezieht. Um Hegel in ähnlicher Perspektive zu widersprechen, beruft sich Arendt auf einen anderen Satz: „Der alte Cato (...) sagte: ‚(...) ‚Die siegreiche Sache gefiel den Göt‐ tern, die unterlegene aber gefällt Cato.‘“ (2002, 212) Denn Gerechtigkeit wird von Individuen wie von Gemeinschaften in bestimmten Situationen vom Staat verlangt und zwar immer als eine sprachliche Forderung, die sich gegen ungerechte Rechts- bzw. Gewaltverhältnisse richtet, die dadurch in Frage gestellt werden. Für Derrida sieht sich umgekehrt die Rechtsordnung bedroht, denn diese wird mit einer permanenten latenten Hinterfragung konfrontiert. Problematisch ist denn der Gedanke einer „Gerechtigkeit ohne Recht“, weil man sich in einer säku‐ laren demokratischen Welt nicht auf eine absolute Gerechtigkeit berufen kann, auch nicht wie Leo Strauss auf das Naturrecht, weil man zur Gerechtigkeit immer das Recht braucht und zwar einen auf Gewaltenteilung beruhenden Rechtstaat. Aber ein positives Recht, das die Gerechtigkeit quasi aus sich selbst heraus generiert und da‐ mit den Schranken ihres Relativismus unterliegt, schafft immer nur eine beschränkte Gerechtigkeit, die mit den Ansprüchen kollidiert, die der Idee der unendlichen wie situativen Gerechtigkeit inhärent sind. Daher erscheint der Gedanke einer „Gerechtigkeit ohne Recht“ für Derrida drin‐ gend geboten. Wenn man darauf verzichtet, dann schreiben nicht nur mit Benjamin die Sieger die Geschichte. Ihren Opfern, den Besiegten droht – so Benjamins sechste Geschichtsphilosophische These –, „sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. (...) auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (1965 b, Nr. 6 81) Und die Sieger schreiben die Geschichte auch so um, dass sie als Sieger im Recht sind, was man gemeinhin in der Geschichtsschreibung durchweg beobachten kann, wenn beispielsweise „ein Mann namens Trotzki, in der Russischen Revolution eine gewisse Rolle gespielt hat,“ (2000, 331) – so Arendt – in der sowjetischen Geschichtsschreibung eliminiert wur‐ de. Dem Problem einer „Gerechtigkeit ohne Recht“ bzw. umgekehrt einem Recht oh‐ ne Gerechtigkeit geht Derrida dabei weniger normativ nach wie Rawls, sondern eru‐ iert die Aporien des Rechts selbst. So entfaltet die rechtsetzende Gewalt notorisch eine metonymische Dynamik, so dass sich das Recht ständig verschiebt bzw. schlicht verändert. Die bestehende rechtserhaltende Rechtsgewalt wird aufgehoben bzw. verschoben und dadurch neu konstituiert. Es handelt sich um einen Auflö‐
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sungs- und Verschiebungsprozess der zugleich diverse Einblicke in die Gewalt als Performanz freigibt und zwar sowohl im Prozess der Intervention, als auch, in den Zusammenhang von Performanz und Erhaltung. Das verdunkelt die Mechanismen zwischen Rechtserhaltung und Rechtsetzung. Gerechtigkeit spielt in diesen metony‐ mischen Prozessen der Performanz, der Setzung von Recht keine Rolle. Das Recht gibt performativ sich selbst zu verstehen und blickt nicht darüber hinaus. Erst die nachträgliche Interpretation der rechtsetzenden Gewalt auf der Grundlage von deren Performanz erlaubt den vorhergehenden Prozess zu verstehen. Schritt für Schritt schreibt sich derart die begründende bzw. setzende Rechtsgewalt in das bestehende Recht ein und verschiebt im Detail deren Gewalt, somit als eine Vielzahl unter‐ schiedlicher und unterscheidender Ereignisse, wobei es nicht um Gerechtigkeit geht. Im Inneren des Rechts, speziell des internationalen, siedelt das Risiko der Entar‐ tung durch diverse Interessen wie widersprechende Strukturen. So bleibt das Recht immer umstritten, muss es sich deshalb seinerseits so schicksalhaft wie notwendig gebärden. Daher beruft sich Schmitt auf die blanke Autorität, Benjamin auf einen Eingriff von außen: den Hintergrund jeglicher Gewaltverherrlichung, sei sie souve‐ rän, revolutionär oder göttlich, entlarvt der Gedanke einer „Gerechtigkeit ohne Recht“, indem er dessen Aporien des Rechts entbirgt. Nichts, weder der Krieg noch der Frieden sind natürlich, erweist sich der Krieg weder als Naturzustand, wie ihn Hobbes beschreibt. noch als schlichter Ausnahme‐ zustand, der alles Recht aufheben würde. Im Krieg offenbart sich vielmehr die dem Recht immanente Gewalt ungeschminkt, bei der die Gerechtigkeit dann gar keine Rolle mehr spielt. Es geht einfach darum, ein neues Recht zu setzen – man denke an die radikal islamistischen Bewegungen, die die Einführung der Scharia fordern und diese denn auch mit Gewalt durchsetzen – mit was auch sonst –, in der sich die Ge‐ walt vergleichsweise offen als Teil des Rechts präsentiert wie überhaupt in den tradi‐ tionell orientierten Teilen der islamischen Welt, von der aber bestimmte Praktiken der US-amerikanischen gar nicht so fern liegen, so bei Trump. Handelt es sich dabei gar um universelle Rechtsvorstellungen, so offenbaren sie, dass sie anderen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, dass also an eine Gerechtigkeit als solche jenseits des Rechts gar nicht gedacht wird. Wenn der Krieg auf ein neues Recht abzielt, dann liegt Schmitt also nicht ganz so falsch, wenn er den Ausnahmezustand an den Rechtszustand rückkoppeln will. Nur hält ihm Derrida entgegen, dass es dabei nicht um eine Wiederherstellung des ehe‐ mals bestehenden Rechts geht, also gewissermaßen um eine verzögerte Rechtserhal‐ tung, sondern schlicht um eine neue Rechtsetzung. Doch der begründenden Gewalt mangelt es an einer eignen Logik, die sich nur aus der Gerechtigkeit her entwickeln ließe. Aber ein neues Recht wird durch die Autorität bzw. die Gewalt eingeführt, nicht durch die Gerechtigkeit.
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In der Tat gibt es keinen notwendigen Übergang von der rechtsetzenden Gewalt zu einer bestimmten Form des Rechts, also keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Setzung und Recht, zwischen Ausnahmezustand und Rechtszustand, ent‐ weder dem vorhergehenden oder einem neuen Recht. Das Kriterium für einen be‐ gründeten Übergang vom Ausnahmezustand zu einem bestimmten Rechtszustand könnte nur die Gerechtigkeit sein. Doch es geht dabei nicht um eine Gerechtigkeit, die gegenüber dem Ausnahmezustand vielmehr zufällig bleibt, was die Gerechtig‐ keit ihrerseits vom Recht freisetzt und für Derrida in eine „Gerechtigkeit ohne Recht“ umwandelt. So bemüht sich Derridas „Gerechtigkeit ohne Recht“ im Gegen‐ satz zur mythischen, göttlichen, revolutionären Gewalt oder der des Ausnahmezu‐ stand darum, Recht und Staat gerecht zu werden, d.h. diesen genau nachzugehen. Einer solchen Bemühung, genauer Derridas Gedanken einer „Gerechtigkeit ohne Recht“ erteilt Agamben dagegen eine schlechte Note. Gegenüber der dem Recht in‐ härenten Gewalt wie des damit verbundenen besonderen oder normalisierten Aus‐ nahmenzustands präsentiert sich eine „Gerechtigkeit ohne Recht“ doch als Illusion, die gerade nicht weiterhilft. Agamben bezeichnet das als „den Prozess einer unendli‐ chen Dekonstruktion, der das Recht in einer gespenstischen Welt aufrechterhält und zugleich nicht mehr mit ihm zu Rande zu kommen vermag.“ (2004, 76) Das ent‐ spricht dem klassischen Vorwurf gegenüber der Moral, diese sei handlungsunfähig und damit wirkungslos. Freilich ist der Anspruch, den Derrida dabei entwickelt, weitreichend, der sich fast schon mit einer göttlichen Intervention vergleichen lässt. „Gerechtigkeit ohne Recht“ ist auch kein Problem des Rechts, sondern eine Frage, wie man den Ereignis‐ sen gerecht werden kann: nur durch genaues Hinsehen, nur durch die Dekonstrukti‐ on aller Strukturen, die die Ereignisse erst dazu machen, wie sie verstanden werden. Das hat sich Derrida zur Lebensaufgabe gemacht. Damit gibt er der politischen Phi‐ losophie eine andere Wendung, die sie allerdings von der Orientierung an einem ver‐ meintlich tatkräftigen Handeln entfernt.
3. Die Zukunft der Demokratie Doch Derridas „Gerechtigkeit ohne Recht“ eröffnet durchaus neue Perspektiven im Hinblick auf die Demokratie. Das Recht bestimmt Staaten und Gesellschaften und zwar jenseits der Frage der Gerechtigkeit. Die Antwort Schmitts darauf erscheint als Gesetzeskraft, die Antwort Benjamins als Gottes Eingriff von außen, auch eher Kraft als Gesetz. Damit erweist sich die Gewalt des Rechts als unhintergehbar, als Schick‐ sal. Wie sollte sich das Individuum gegen die Gewalt des Rechts zur Wehr setzen? Führt nicht der Krieg vor, dass das Individuum dem kulturellen Prozess immer un‐
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terliegt, wie es Anfang des 20. Jahrhunderts Georg Simmel diagnostizierte? Oder gibt es eine Orientierung der Demokratie an einer „Gerechtigkeit ohne Recht“? Für Benjamin ruht das Recht auf Gewalt auf und erzwingt dadurch die Unterwer‐ fung des Individuums unter das Recht. Das zeigt sich besonders bei der Todesstrafe, wiewohl diese in vielen Teilen der Welt heute abgeschafft ist. Die Befürworter der Todesstrafe können sich jedoch just darauf berufen, dass das Recht in seinem Ur‐ sprung auf Gewalt beruht, die physisch vernichtend ist. So schreibt Benjamin: „Ist nämlich Gewalt, schicksalhaft gekrönte Gewalt, dessen Ursprung , so liegt die Vermutung nicht fern, dass in der höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod, wo sie in der Rechtsordnung auftritt, deren Ursprünge repräsentativ in das Be‐ stehende hineinragen und in ihm sich furchtbar manifestieren.“ (1965, 42) Wenn je‐ mand die Todesstrafe in Frage stellt, dann bezweifelt er nämlich für Benjamin auch das Recht, will sich der Kritiker selbst dem Recht nicht existentiell bzw. schicksal‐ haft fügen, wie es heute in der Zivilgesellschaft ja weit verbreitet ist. Doch eine sol‐ che Fügung ist für die absolute Geltung des Rechts unabdingbar. Nicht umsonst sind Kant und Hegel Befürworter der Todesstrafe, ist auch Kant kein Vertreter eines libe‐ ralen Individualismus. Nach Derrida offenbart das Recht durch die Todesstrafe, dass es sich von vornhe‐ rein auf eine widernatürliche Gewalt stützt bzw. dass es im Naturzustand gar keine Gewalt gibt. Daher lässt sich die rechtliche Gewalt anders, als es sich Leo Strauss vorstellt, nicht durch die Natur oder Gott legitimieren, auch nicht durch einen evolu‐ tionären Kampf von diversen Gemeinschaften, der damit ja als Naturgegebenheit präsentiert werden soll, wie es sich beispielsweise Carl Schmitt vorstellt. So schreibt Strauss: „Hobbes hatte den Naturstand als in sich selbst unmöglich dargestellt: der Naturstand ist der Stand des Krieges eines jeden gegen jeden; (...). Nach Schmitt sind die Subjekte des Naturstandes nicht Individuen, sondern Gesamtheiten; (...). Der so verstandene Naturzustand ist in sich selbst möglich. Dass er aber wirklich ist, beweist die gesamte Geschichte der Menschheit (...).“ (2001, 226) Man könnte dem historisch entgegenhalten, dass es den Krieg kämpfender Ge‐ meinschaften erst seit ca. 10.000 Jahren gibt, entsteht er schließlich mit der Sesshaf‐ tigkeit. Darauf müsste man die Menschheitsgeschichte denn auch konzentrieren. Wenn mit der Sesshaftigkeit der Naturzustand endet – was sich keineswegs von selbst versteht – kann der Krieg nicht als Naturzustand bezeichnet werden. Wenn man folglich den Naturzustand mit dem Nomadentum verbindet, dann kommt Rous‐ seaus Vorstellung vom Naturmenschen als eines einsam streifenden den historischen Informationen näher als die Vorstellungen von Schmitt und Strauss. Über Hobbes Naturzustand bemerkt Rawls: „Ich glaube, wollte ein überzeugendes phi‐ losophisches Argument vorbringen, aus dem sich ergibt, dass ein starker und durch‐ setzungsfähiger Souverän mit allen Machtbefugnissen (...) die einzige Möglichkeit darstellt, zu bürgerlichem Frieden zu gelangen.“ (2008, 70)
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Allerdings darf man fragen, ob sich die frühen staatlichen Mächte wirklich Si‐ cherheit zur Aufgabe machten und sich dann Rousseaus Vorwurf an Hobbes bestä‐ tigt, dass sich nämlich sein Naturzustand zu sehr auf die zeitgenössischen Sachlagen bezieht, als Staaten anfingen, sich die Sicherheit der Bevölkerung zur Aufgabe zu machen. Derartige Reflexionen über den Naturzustand ändern allerdings wenig da‐ ran, dass sich Recht aus der Gewalt über Leben und Tod in den frühen Ansiedlungen heraus entwickeln konnte, dass es dabei weniger um Ordnung oder gar Rechte ging als vielmehr um Macht und Gewalt, um Opfer an die Götter. Die Naturrechtstheori‐ en der Aufklärung dienten dagegen dem Zweck, individuelle Rechte gegenüber einer monarchischen oder aristokratischen Herrschaft zu begründen. Ähnlich wie Arendt kritisiert Benjamin den zeitgenössischen Pazifismus nach dem ersten Weltkrieg. Wer die Militärgewalt, sowohl die rechtsetzende wie die rechtserhaltende Gewalt, moralisch kritisieren will und sich dabei der Moralphiloso‐ phie Kants rückversichern möchte, der übersieht erstens, dass der Begriff der Kritik bei Kant gar nicht ethisch begründet ist. Zweitens beachtet er nicht, dass sich jede Rechtsgewalt nicht nur auf den kategorischen Imperativ im Allgemeinen, sondern sogar auf dessen Selbstzweckformel stützen kann, die da lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jeder‐ zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (1968 b, 429) Die Mili‐ tärgewalt entspricht dieser Zweck-Mittel-Relation durchaus, denn sie kann für sich in Anspruch nehmen, im Namen der Freiheit zu operieren. Das erkannte Benjamin 1921 nach dem ersten Weltkrieg, wiewohl es gerade da eher absurd erscheint. Nicht nur das Militär und der Krieg vermischen die rechtsetzende und die rechts‐ erhaltende Gewalt, ja machen sogar die rechtsvernichtende Intervention fragwürdig, sondern auch die Polizei. Das hat nach Benjamin besonders tragische Konsequenzen für die Demokratie. Denn in der absoluten Monarchie – oder in der Diktatur – zeigt sich diese rechtsetzende Funktion der Polizei ungeschminkt. Benjamin schreibt: „Und mag Polizei auch im einzelnen sich überall gleichsehen, so ist zuletzt doch nicht zu verkennen, dass ihr Geist weniger verheerend ist, wo sie in der absoluten Monarchie die Gewalt des Herrschers, in welcher sich legislative und exekutive Machtvollkommenheit vereinigt, repräsentiert, als in Demokratien, wo ihr Bestehen, durch keine derartige Beziehung gehoben, die denkbar größte Entartung der Gewalt bezeugt.“ (1965, 45) So entsteht in der Demokratie ein Widerspruch, der sich in den öffentlichen Debatten immer wieder spiegelt, beispielsweise in der häufigen War‐ nung vor dem Überwachungsstaat. In der Monarchie bzw. in der Diktatur verkörpert die Polizei einen Geist der Un‐ terwerfung des Lebens durch die Todesstrafe. Derrida bezieht sich auf eine Stelle in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, wenn der Geist die Diktatur er‐ möglicht, die die Polizei umsetzt. So schreibt Benjamin: „Geist – so lautet die These des Jahrhunderts – weist sich aus in Macht; Geist ist das Vermögen, Diktatur auszu‐
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üben. Dieses Vermögen erfordert ebenso strenge Disziplin im Innern wie die skru‐ pelloseste Aktion nach außen.“ (1972, 273) Das ändert sich in der Demokratie kei‐ neswegs. Vielmehr lebt der Geist der Despotie auch in der Demokratie fort, jener Geist der Despotie, den die Polizei verkörpert. Das hat sich nach Derrida auch heute keineswegs geändert: „Benjamin deutet hier das Prinzip einer Analyse der Wirklich‐ keit der Polizei oder der polizeihaften Wirklichkeit an, die den industriellen Demo‐ kratien und ihren militärisch-industriellen Komplexen mit hoher Computer-Techno‐ logie entspricht.“ (1991, 96) Für Derrida zeigt sich hier der gespenstische Charakter der Polizei, die die beiden Gewalten vermengt und dadurch noch gewalttätiger wird. Vor allem aber ist die Po‐ lizei überall und nirgends. Selbst wenn sie nicht körperlich präsent ist, ist sie anwe‐ send. „Die Polizei wirkt sinnestäuschend und gespenstisch,“ so Derrida, „weil sie al‐ les heimsucht; sie ist überall, ebenfalls dort, wo sie nicht ist.“ (1991, 95) Insofern scheint die Polizei im platonischen Sinn des Gesetzes überall zu sein, aber letztlich deshalb, weil Menschen Gesetze internalisiert haben. Wie hat es der berüchtigte Max Stirner doch richtig formuliert: „Man soll das Gesetz, die Satzung in sich tra‐ gen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. (..) Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht ‚Ich lebe, sondern das Gesetz lebt in Mir’. (...) ‚Jeder Preuße trägt seinen Gendarmen in der Brust’ – sagt ein hoher preußischer Offizier.“ (2009, 61) Rousseau und Kant haben das noch in einer ande‐ ren Zeit positiv gesehen, nämlich als Unterwerfung unter den Allgemeinwillen oder die allgemeine Vernunft. Gleichgültig wie man es normativ beurteilt, es ändert wie‐ derum nichts daran, dass das Gesetz nur dann umgesetzt wird, wenn die Leute sich wirklich daran halten. Und dann wird es wiederholt. So klinkt sich Derrida in eine Kritik am Polizei- und Überwachungsstaat ein, die in der Linken eine lange Traditi‐ on hat. Häufig hört man in demokratischen Rechtstaaten die Klage über Gesetzesinitiati‐ ven, die den Sicherheitskräften und der Justiz größere Macht einräumen. Dass hinter dem Rücken der Öffentlichkeit unbemerkt eine Politik stattfindet, die sich nicht mal unbedingt als Arkanpolitik bezeichnen lässt, dass die Polizei – so Benjamin – von sich aus Maßnahmen durchführt, die rechtsetzenden Charakter annehmen, darum kümmern sich diese öffentlichen Debatten entweder gar nicht oder höchstens am Rande. Dabei widerspricht vor allem diese Polizeiaktivität allen demokratischen Grundsätzen. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich nach Derrida in der Logik Benjamins ein Gegensatz zwischen Demokratie und Recht, letztlich dem Rechtstaat, auf den De‐ mokraten gemeinhin besonders stolz sind. So schreibt Derrida: „Doppelte Schluss‐ folgerung oder doppelte (inbegriffene) Verwicklung: 1. Die Demokratie ist eine Ent‐ artung des Rechts und der Rechtsgewalt. 2. Es gibt noch keine Demokratie, die ihres Namens würdig ist. Die Demokratie bleibt im Kommen: sie muss noch erzeugt oder
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erneuert, regeneriert werden.“ (1991, 96) Begrifflich widersprechen sich Demokratie und Recht, wenn letzteres auf Gewalt beruht und die Polizei eine eigenständige rechtsetzende Kraft bleibt jenseits des Demos. Dann präsentiert sich das Recht, das die Polizei erlaubt, sogar als Entartung, ja als „größte Entartung“, wie Benjamin es nennt. Umgekehrt aber weist Derrida daraufhin, dass die Demokratie eine Entartung des Rechts ist, denn sie will die Rechtsgewalt aufheben, ja sie strebt nach einem Recht ohne Gewalt, also einem Recht, das es nicht gibt. Und just weil ein solches Recht nicht existiert, gibt es auch keine Demokratie bzw. muss eine solche Demokratie überhaupt erst geschaffen werden, die auf die Rechtsgewalt verzichten kann, nur ein Recht ohne Gewalt verlangt, damit die Ge‐ rechtigkeit, aber ohne Recht. Somit beruft sich eine demokratisierte Polizei als Bür‐ gerwehr, die von den Bürgern unmittelbar selbst organisiert wird, auf jene gewaltlo‐ se göttliche Gewalt, die nach Benjamin „reine Gewalt über alles Leben um des Le‐ bendigen willen“ (1965, 59) ist. Dann ist der Traum der wahren Demokratie ein göttlicher; denn sie will in ähnlicher Weise die absolute Gerechtigkeit walten lassen. Marx und Engels haben das mit ihren prophetischen Worten aus dem Kommunis‐ tischen Manifest 1848 richtig auf den Begriff gebracht, geht es ihnen um „eine Asso‐ ziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Ent‐ wicklung aller ist.“ (1972, 482) Was das heißen soll, lässt sich indes nicht genau an‐ geben, könnte es sich quasi nur um ein Wissen auf der Basis einer vollständigen In‐ formation handeln. Daher entfaltet für Derrida der Benjaminsche Text eine gefährliche Perspektive: „Benjamins Diskurs, der sich nun in Richtung auf eine Kritik des Parlamentarismus liberaler Demokratien entwickelt, ist folglich revolutionär, ja er nimmt marxistische Züge an; revolutionär ist er aber im doppelten Sinne des Wortes, das ebenfalls eine reaktionäre Bedeutung hat, die einer Rückkehr zu der Vergangenheit eines reineren Ursprungs.“ (1991, 96) Die linke Parlamentarismus-Kritik kommt der rechten sehr nahe, nähert sich Benjamin nach Derrida nicht nur alleine, sondern mit anderen lin‐ ken Theoretikern zusammen der Kritik von Schmitt und Heidegger an. Eine ähnliche Parallele kehrt in der Demokratie-Kritik heute sowohl aus linker wie rechter Per‐ spektive wieder. So lobt der Soziologe Wolfgang Streeck explizit die neue Rechte: „Die neuen Protektionisten (...) holen (...) die Politik ins Spiel zurück und bringen ihr die zu Globalisierungsverlierern gewordenen Mittel- und Unterschichten nach‐ haltig in Erinnerung.“ (2017, 270) Derrida zieht eine Parallele zwischen Benjamins Konzept der Zerstörung und Heideggers zentralem Begriff der Destruktion: „von Affinitäten lässt sich ebenfalls aufgrund einer gemeinsamen Thematik der ‚Destruktion‘ sprechen, die zu jener Zeit weit verbreitet war. Zwar geht Heideggers Destruktion nicht einfach in den Begriff der Zerstörung über, der im Mittelpunkt des Benjaminschen Denkens steht.“ (1991, 65) Heidegger versteht unter Destruktion einen Abbau, mit dem er die Überset‐
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zungsfehler rückgängig machen will, die beim Übersetzen vom Griechischen ins La‐ teinische gemacht wurden und die das abendländische Denken auf Abwege geraten ließen: also geht es um eine richtige Erinnerung an eine griechische Sprache, die dem philosophischen Denken zugrunde liegt. Das hat für Derrida problematische Konsequenzen: „man kann sich jedoch fra‐ gen, was zwischen den beiden Weltkriegen eine Thematik bedeutet, vorbereitet oder ankündigt, die eine so große Heimsuchungskraft besitzt: umso mehr als diese De‐ struktion auch die Bedingung einer authentischen Tradition, eines echten Gedächt‐ nisses und einer Bezugnahme auf eine Ursprache sein soll.“ (1991, 65) Heidegger bedient sich dieses Wortes Destruktion in einem Umfeld, in dem es primär um die Zerstörung der bürgerlichen Welt mit ihren Traditionen geht und zwar gleichgültig ob von Rechts oder von Links. Der Nazismus hat eine Vorgeschichte, die Derrida in Vom Geist – ein Text, in dem es primär um Heidegger geht – mit diesem verknüpft und zwar auch noch von ferne: „Und selbst wenn der Nazismus aus dem Nichts kommt, selbst wenn er, fernab aller Wüsten, wie ein Pilz in der Abgeschiedenheit, in der Stille, im Schweigen eines europäischen Waldes gewachsen ist, so ist er doch im Schatten großer Bäume, von deren Schweigen oder von deren Gleichgültigkeit be‐ hütet, in jedem Fall aber auf demselben Boden gewachsen.“ (1988, 127) Daher weist die Parallele einer revolutionären Demokratie mit der gewaltlosen göttlichen Gewalt oder mit einem ursprünglichen Naturzustand keinen Weg in eine nachhaltige Demo‐ kratie. Im Gegenteil, sie verunsichert das revolutionäre Denken insgesamt, wenn sie die‐ ses nicht sogar desavouiert, indem Benjamin anhand der göttlichen Gewalt zeigt, dass die anarchische Revolution genauso funktioniert – der Verdienst des Textes von Benjamin, der seine Schatten auf heutige Linke wie Wolfgang Streeck, Paul Mason oder Slavoj Žižek wirft. Derrida schreibt weiter: „Ich werde all die Bäume, all die Baumarten, die in Europa den Bestand eines riesigen Schwarzwaldes ausmachen, nicht (...) aufzählen. Eine solche Aufzählung (...) würde Namen von Religionen, von Philosophien, von politischen Regimen, von wirtschaftlichen Strukturen, von reli‐ giösen oder akademischen Institution enthalten. (...) was man undeutlich mit den Be‐ griffen ‚Kultur‘ und ‚Geisteswelt‘ meint.“ (1988, 127) Welche Herrschaft oder Herr‐ schaftslosigkeit wird mit der revolutionären Demokratie kommen? Reproduziert sie eine vergangene Struktur? Kehrt sie an einen reinen Ursprung zurück? Dabei hätte es Benjamin besser wissen müssen, öffnet seine Kritik der Gewalt doch die Augen für die Schwäche des Parlaments angesichts einer Polizei, die Recht nicht nur erhält, sondern nach diktatorischem Geschmack setzt. So bemerkt Derrida: „Ein solcher das Gedächtnis auslöschender Bewusstseinsschwund geschieht nicht zufällig. Er ist nichts anderes als der Übergang (...), der den Weg des Niedergangs, der institutionellen Entartung, des Verfalls vorzeichnet.“ (1991, 98)
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Die Repräsentation vertuscht die Sachlage selbst und gaukelt auch wohlmeinen‐ den Kritikern etwas vor, so dass sie aus der Macht der Polizei einen Niedergang des Parlaments ableiten, anstatt zu erkennen, dass sich das Parlament vielleicht erst die‐ se Macht über die Polizei erarbeiten müsste. Benjamin kritisiert, dass die Parlamente ihre Herkunft aus der Revolution von 1918 vergessen hätten, und damit die Gewalt, der sie sich mal verdankten. Das hat indes strukturelle Hintergründe, neigen Parla‐ mente zum Kompromiss und zum Pragmatismus, sitzen in Parlamenten gemeinhin Abgeordnete mit sehr unterschiedlichen Weltbildern, die nicht alle eine revolutionä‐ re Herkunft goutieren. Derrida wirft Benjamin vor, dass er wie Sorel die reale Möglichkeit einer Rechts‐ änderung durch einen politischen Generalstreik ablehnt und mit Sorel von einer re‐ volutionären Aufhebung des Staates träumt. Dem entgegnet Derrida: „Im Grunde haben wir uns gerade vor Augen geführt, dass das Recht seinem Ursprung und sei‐ nem Zweck nach, in seiner Setzung (Begründung) und in seiner Erhaltung von der unmittelbaren oder vermittelten, gegenwärtigen oder repräsentierten Gewalt un‐ trennbar ist.“ (1991, 99) Und dass er andererseits Gewaltlosigkeit zwischen Privat‐ personen für möglich hält, das Private also vom Öffentlichen trennt. „Kann man da‐ raus nun ruhig folgern, dass jede Gewaltlosigkeit bei der Beilegung eines Konflikts ausgeschlossen ist? Keineswegs. Aber das Denken der Gewaltlosigkeit muss die öf‐ fentliche Rechtsordnung übersteigen.“ (1991, 99) Just das macht Benjamin nicht, oder nur in einer theologischen Weise. Damit überschreitet Derrida die These von Karl-Otto Apel, der 1988, also ein Jahr vor Derridas Vortrag, schreibt: „Die in modernen Rechtssystemen und in den Spielregeln der demokratischen Regierungsform implizierten Moralprinzipien – wie etwa die Voraussetzung eines Grundkonsenses und eines approximativ immer wie‐ der zu erneuernden Konsenses der Betroffenen als Legitimationsbasis für die Gesetz‐ gebung – diese Institutionsprinzipien repräsentieren sogar durchweg ein höheres, postkonventionelles Niveau des moralischen Bewusstseins als das von der Mehrzahl der Bürger erreichte.“ (1988, 364) Wenn die Gerechtigkeit nicht durch die Rechtsordnung nachhaltig befördert wer‐ den kann, dann bleibt nur gegen Apel die Hoffnung, dass sich die Bürger außerinsti‐ tutionell um Gerechtigkeit bemühen. 1988, 20 Jahre nach 1968 hätte man in dieser Perspektive doch gewisse Entwicklungen bemerken können. Bis etwa vor einem Jahrzehnt erscheint mit der dabei entstandenen Zivilgesellschaft wirklich eine Ent‐ wicklung einzutreten, die Derrida Recht gibt und Apel widerspricht. Seit dem Aufkommen des Populismus ist das allerdings nicht mehr so selbstver‐ ständlich, wiewohl dieser nichts mit der Zivilgesellschaft gemein hat, auch wenn seine Anhänger auf der Straße demonstrieren, eigentlich aufmarschieren, also die militärische Ordnung den bürgerlichen Verhältnissen entgegensetzen. Indes lässt sich das institutionalisierte Recht trotz Moralisierung von seiner Grundlage in der
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Gewalt schwerlich freischwimmen. Daher kann man auch bezweifeln, ob es in der Sprache wirklich eine Form der Gewaltlosigkeit gibt, in der die Sprache primär auf Mitteilung aus ist, auf Kommunikation, die ohne physische oder psychische Gewalt‐ anwendung auskommt bzw. eine solche umschifft. Für Benjamin gibt es jedenfalls bestimmte Sprachformen der Gewaltlosigkeit: „die Kultur des Herzens (...) Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen“ (1965, 47), Konflikte ohne Vertrag regeln, Schiedsgerichte jenseits des Rechts und seiner Ordnung. Diese gewaltlosen Strukturen überschreiten den privaten Bereich, so dass es auch im öffentlichen friedliche Konfliktlösungen gibt, z.B. die diplomati‐ schen Beziehungen. Dass Impulse aus dem privaten Bereich heraus auf den öffentli‐ chen erfolgen können, um außerinstitutionell auf das institutionalisierte Recht wie den Staat einzuwirken, darauf hat Jan-Werner Müller in seinem 2013 erschienenen Buch Das demokratische Zeitalter hingewiesen. Solche Impulse können durchaus Erfolge vorweisen. Die Nachkriegsdemokratie, die auch den Sozialstaat entwickelte, wurde nämlich nach Müller wider das Diktum Ralf Dahrendorfs vom sozialdemo‐ kratischen Jahrhundert nicht von den Sozialdemokraten aufgebaut, sondern von den Christdemokraten und das in zumeist patriarchalischer Manier, so dass die Einwände Benjamins gegen die Demokratie darauf durchaus angewendet werden können. Eine Wende zu mehr Demokratie und zwar in partizipatorischer Perspektive entstand nach Müller erst durch die Bewegungen in den späten sechziger Jahren. Er schreibt: „Gleichzeitig glaubten immer weniger Menschen daran, dass sich Gesellschaften durch kollektives politisches Handeln nach Belieben selbst verändern könnten, sei es innerhalb oder außerhalb politischer Institutionen wie Parlamenten. Nicht mehr die kollektiven sondern die individuellen Veränderungsprozesse waren es, die jetzt zähl‐ ten. Die Ereignisse wie auch das Denken von 68 und danach stellten traditionelle Begriffe des Politischen in Frage, rissen ideologische Trennwände zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ein und machten die alltägliche Erfahrung zu etwas explizit Politischem (...).“ (2013, 334) Das weist den Weg in die Zivilgesellschaft, zu Foucault und Derrida (vgl. Schönherr-Mann 2018, 50). Während in den USA vor allem die Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jah‐ ren die Entfaltung der Zivilgesellschaft auf die Schiene setzte, erfuhr diese Entwick‐ lung ihre Beschleunigung in Europa in den siebziger Jahren durch die Emanzipation der Frauen, die Umwelt- und die Friedensbewegung. Derart entstand eine Art außer‐ institutionelle Gewaltenteilung, die Odo Marquard 1988 betont: „Die politische Ge‐ waltenteilung ist nur ein spezieller Fall jener durchgängigen Gewaltenteilung der Wirklichkeit, von der der skeptische Zweifel ein anderer spezieller Fall war und ist: beide gehören zur individuogenetischen Wirksamkeit der umfassenden Buntheit der menschlichen Lebenswirklichkeit.“ (2004, 83) Von linken Intellektuellen wie von radikalen Vertretern des Nationalismus ist die‐ se Entwicklung indes massiv kritisiert worden. Die Linken machen sie gar für den
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aufgekommenen Rechtspopulismus verantwortlich. 2017 kritisiert Nancy Fraser: „Die Vertreter der Emanzipationsbewegungen verbündeten sich mit den Partisanen des Finanzkapitalismus zum Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme. Das Ergeb‐ nis ihres Team-ups war: der progressive Neoliberalismus.“ (2017, 82) Dieser hat den Populismus beflügelt, der versucht die Entwicklungen der letzten 60 Jahre wieder rückgängig zu machen, wie Ivan Krastev bemerkt: „Deshalb versuchen an die Macht gelangte Populisten stets, das System der checks and balances abzubauen und unab‐ hängige Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken, Medien und zivilgesellschaftli‐ che Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen.“ (2017, 131) Wenn man die verschiedenen Strebungen dieser Entwicklungen zusammenbringt, also Apels avancierte institutionelle Ethik und die Zivilgesellschaft aus aktiven Bür‐ gern könnte sich daraus doch eine fortgeschrittene Demokratie ergeben haben, weil diese sich nicht außerhalb des Rechts stellt, dieses aber einerseits von außen ergänzt, erweitert sowie verengt, und andererseits gleichzeitig außerhalb des Rechts eine mo‐ ralische Konkurrenz institutionell wie individuell entsteht – die Vorstellung von einer „Gerechtigkeit ohne Recht“ –, was Rortys Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im Sinn von Derrida unterläuft. Dann wird auch das Private poli‐ tisch und Rortys Kritik, Derridas Philosophie tauge nicht für die Politik, aber für die private Selbstfindung, liefe ins Leere, weil sie dann über das Private ins Politische zurückkehrt.
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II. Teil: Zur Genealogie der Dekonstruktion
Sein Hauptwerk veröffentlicht Derrida 1967: die Grammatologie, die Lehre von der Schrift, heißt griechisch gramma Buchstabe. Damit erweitert er die Sprachphiloso‐ phie um eine wegweisende Perspektive, auch wenn deren Rezeption eher bescheiden blieb, was einerseits am Dogmatismus der analytischen Sprachphilosophie liegt und andererseits an der Konventionalität der Linguistik. Einen gewissen Einstieg in das berühmteste Thema Derridas, die Dekonstruktion, findet man in einem relativ kleinen, eher abseitigen Text aus dem Jahr 1996: Die Einsprachigkeit des Anderen. Es ist trotz Dementi ein hochbiographischer Text, der sich gut lesen lässt, sobald der Leser seine verschlungenen Einstiege überstanden hat. Derrida erklärt die Dekonstruktion aus der Distanz zum Französischen heraus, die ihn aufgrund seiner Herkunft zeitlebens beseelt. Und damit erläutert er in gewisser Hinsicht die Dekonstruktion biographisch, aus den Lebensumständen, die der ab‐ strakten Vision der Dekonstruktion so fern zu stehen scheinen.
6. Kapitel: Von der Biographie zur Dekonstruktion Jacques Derrida kam 1930 im algerischen El Biar zur Welt und starb 2004 in Paris. Ab 1949 besuchte er in Paris das Lycée Louis-le-Grand. Danach studierte er an der französischen Elitehochschule École Normale Supérieure unter anderem beim Neo‐ marxisten Louis Althusser (1918–1990). Ein Stipendium führte ihn zu einem Studi‐ enaufenthalt nach Harvard. Seine wissenschaftliche Laufbahn beginnt 1960 an der Sorbonne. 1965 wechselt er an die ENS, 1983 an die École des Hautes Études en Sciences Sociales. Bekannt wurde er 1967 vor allem mit seinem Werk Grammatologie, in dem er die im 20. Jahrhundert vor allem durch Ludwig Wittgenstein entfaltete Sprachphilosophie um das Thema Schrift erweitert, aus dem heraus er sein an Martin Heideggers Begriff der Destruktion anschließendes Konzept der Dekonstruktion entwickelt. Diese machte trotz massiver Anfeindungen vor allem von Seiten der analytischen Philoso‐ phie eine steile Karriere sowohl in der Philosophie als auch in den Literatur-, Kunstund Kulturwissenschaften. 1983 gehört er zu den Mitbegründern des Collège international de philosophie in Paris, das von der kurz zuvor ins Amt gekommenen Regierung von Sozialisten und Kommunisten unter Präsident François Mitterand (1916–1996) gefördert wurde. In
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dieser Institution sollten neue Wege für Lehre und Forschung im Fach Philosophie gesucht werden. Es gibt keine Zulassungsbeschränkungen oder Voraussetzungen, um ein Diplom zu erwerben, das allerdings keinen universitären Status besitzt. Der erste Direktor war Derrida. Es handelte sich um eine politisch philosophische Rich‐ tungsentscheidung zwischen dem Hauptvertreter der poststrukturalistischen Philoso‐ phie – als postmodern hat sich Derrida nie bezeichnet – und Paul Ricœur, dem wich‐ tigsten Vordenker der Hermeneutik in Frankreich – das Pendant zu Hans-Georg Ga‐ damer in der Bundesrepublik. Während in letzterer die Sozialdemokraten mit den Nachfahren der Frankfurter Schule und der analytischen Philosophie in Verbindung stehen, neigten die französischen Sozialisten zur avancierten, der Vernunft gegen‐ über skeptischen postmodernen Philosophie, die sich von neomarxistischen Einflüs‐ sen weitgehend befreit hatte, wiewohl sie sich ursprünglich aus solchen Traditionen speiste. Derrida engagierte sich vielfältig politisch. Er beteiligte sich daran, verfolgte In‐ tellektuelle in Osteuropa zu unterstützen. Zusammen mit seinem philosophischen Antipoden, Jürgen Habermas kritisierte er 2003 den US-geführten Krieg gegen den Irak. Ernst Tugendhat, einer der Hauptvertreter der analytischen Philosophie, hielt bereits die europäische Solidarität mit den USA im ersten Golfkrieg für „eine irratio‐ nale und infantile“, die „im Politischen wie im Menschlichen verhängnisvoll“ (1992, 112) erscheint. In politikphilosophischer Perspektive trat Derrida markant erst 1989/90 mit den zwei wegweisenden Vorträgen über Gesetzeskraft in Erscheinung. Nicht nur dass er darin der Dekonstruktion einen originär ethischen und politischen Sinn verleiht. We‐ niger denn als Kritiker denn im Sinne einer Art Analyse, demonstriert er dabei, dass der moderne Staat auch als Rechtsstaat auf Gewalt beruht, die sich in revolutionären Bemühungen nicht etwa mildert, sondern verlängert. So wird denn Derridas Antwort auf diese Sachlage in der Dekonstruktion selbst bestehen, die sich solchen Zusam‐ menhängen nicht nur verweigert, sondern auch eine andere Perspektive aufzeigt, wobei sie sich dessen bewusst bleibt, die jede Gesellschaft stiftende Gewalt schwer‐ lich hintergehen zu können. 1942 musste der Sohn sephardisch jüdischer Eltern die Schule verlassen, hatte die Kollaborations-Regierung in Vichy die Quote für jüdische Schüler gesenkt. Nach der deutschen Besetzung wurde den algerischen Juden bereits 1940 von der französi‐ schen Regierung die französische Staatsbürgerschaft aberkannt, die sie erst ein gutes halbes Jahrhundert zuvor erhalten hatten. In Algier, das um 1940 eine Art französi‐ sche Kulturhauptstadt im Exil war, lernte Derrida in der Schule plötzlich nicht mehr die Sprache der Metropole, des Mutterlandes, sondern die Sprache der anderen, der Katholiken, der Franzosen, der Kolonisatoren. Zuvor war ihnen noch der Zugang zu jeder nichtfranzösischen Sprache auf sehr hintergründig raffinierte Weise untersagt worden. Sie wurden schlicht behindert, an‐
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dere Sprachen zu lernen und zwar unter der Devise der Friedfertigkeit, der nationa‐ len Einheit, wurden andere Sprachen verdrängt. Man spricht immer nur eine Spra‐ che, obwohl man sie nicht zählen kann. Man spricht zwar auch noch andere Spra‐ chen, aber nicht gleichzeitig und niemals in dem Sinn, dass es eine richtige Sprache gäbe. Natürlich beanspruchten die Kolonialbehörden indes sprachlich eine Art He‐ gemonie der richtigen Sprache. Unabhängig davon hat man die Sprache nie, besitzt man sie nicht. Sie kommt im‐ mer vom Anderen her, sie kommt einem vom Anderen zu, sie wird vom Anderen bewahrt. Die Sprache der Metropole war die Muttersprache und doch nicht die Mut‐ tersprache. Im Schulunterricht lernten die Schüler in Algier die letzten Flüsschen Frankreichs, aber nichts über Algerien. Dabei hätte Derrida das Arabische und das Berberische räumlich nahegelegen, wohnte er am Rand der arabischen Stadtteile. Nicht dass Hebräisch, Berberisch oder Arabisch verboten gewesen wären. Aber das Hebräische identifizierte die Juden kaum noch mit ihrer Herkunft. Das Arabische lernten nur die Kinder von französischen Siedlern, die mal die Sprache ihrer arabi‐ schen Arbeiter sprechen wollten, um diesen Kommandos erteilen zu können. Die jungen eingeborenen Juden konnten sich weder mit den Katholiken, nicht mit den Arabern noch mit den Berbern identifizieren. Aber auch gegenüber ihrer eige‐ nen Herkunft und der jüdischen Kultur blieben sie Fremde – ein Schicksal, dem Ju‐ den häufig nicht entgingen und gegen das sich jüdische Vordenker zumeist unter Be‐ rufung auf das Althebräische zur Wehr setzen. Doch es gibt für den jüdischen Alge‐ rier keine solche Ausgangs- oder Herkunftssprache mehr, sondern nur eine An‐ kunftssprache. So konnte er das Französische im Grunde nie als seine Muttersprache bezeichnen und doch hatte er nichts anderes zu verlieren. Derrida will das als Chan‐ ce verstehen, denn das sei einfacher, als es zu verfluchen. So konstatiert Derrida: „Das war auf jeden Fall diese radikale Unkultur, aus der ich zweifellos niemals her‐ ausgekommen bin.“ (2003, 90) Doch just diese Chance nutzt er, indem er der Kultur, der gegenüber er ein Fremder bleibt, mit dem Rasiermesser begegnen wird. Denn er befindet sich in einer Art Distanz gegenüber der Sprache, die sich zum Prinzip der Übersetzung erhebt, die immer nötig sein wird, weil die Sprache ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. So sagt Derrida: „Denn jenes doppelte Postu‐ lat: / – Man spricht immer nur eine einzige Sprache... (ja, aber) / – Man spricht nie eine einzige Sprache..., / ist nicht nur das Gesetz selbst von dem, was man Über‐ setzung nennt. Es soll das Gesetz selbst als Übersetzung sein.“ (2003, 23) Seit seiner Schulzeit also spricht Derrida Die Sprache der Anderen, eine Sprache, die nicht mehr die seinige ist und somit seither nicht die seinige ist. Deshalb muss diese Spra‐ che ihm trotzdem nicht fremd sein. Doch ist die Situation einer oder der anderen Sprache seltsam ver-rückt, die Übersetzung geradezu herausfordert, eine Über‐ setzung, die fast nicht genau genug sein kann: „Ein Gesetz, das ein wenig verrückt ist (...). Ich habe das Gesetz als Sprache immer im Verdacht gehabt, verrückt bezie‐
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hungsweise die einzige Quelle und die erste Bedingung der Verrücktheit zu sein.“ (2003, 23) Dieses Gesetz der Übersetzung erhöht eine Sprache und wertet andere Sprachen ab. Das ist im doppelten Sinn des Wortes ver-rückt. Denn es gibt dafür kei‐ nen sachlichen Grund: Keine Sprache kann als Sprache hegemoniale Ansprüche durchsetzen, wie es Jean-François Lyotard ja 1983 bemerkt, wiewohl Sprachen häu‐ fig durchaus hegemoniale Ansprüche erheben. Insofern gaukelt das Gesetz etwas vor, hält es Derrida für egozentrisch, eifersüch‐ tig und somit letztlich für gemeingefährlich. Wenn man immer nur eine einzige Sprache spricht und doch nie bloß eine einzige, dann spricht man nie die einzige ei‐ gene, sondern letztlich immer die Sprache des Anderen. Aber Derrida geht eine Her‐ kunftssprache ab, auf die er sich berufen könnte, die er zu einem eigenen Maßstab machen könnte. Dabei hatte Derrida noch ein weiteres Problem. Er spricht nicht nur die Sprache des Hegemon Frankreich und nicht mehr seine eigene. Er sprach diese verräterisch mit einem algerienfranzösischen Akzent. Also selbst wenn er Franzose geblieben wäre, gehörte er nicht richtig dazu. Ja, er hatte Angst, enttarnt zu werden. Er musste also sein Algerienfranzösisch verbergen. So ergriff er in der Muttersprachlosigkeit letztlich eine Chance, nämlich sich ohne emotionale Affektion, ohne die selbstverständliche Vorprägung durch bestimmte Be‐ griffe mit der Sprache beschäftigen zu können. Vor diesem Hintergrund bemerkt Derrida weniger kryptisch als die Übersetzung: „Diese Struktur der Entfremdung ohne Veranderung (aliénation sans aliénation), diese unveräußerbare Veranderung ist nicht allein der Ursprung unserer Verantwortung, sondern sie strukturiert das Eigene und das Eigentümliche der Sprache. Sie instituiert das Phänomen des Sich-Spre‐ chen-Hörens um zu bedeuten.“ (2003, 47) Das Französische wurde ihm entfremdet, ohne dass es ihm genommen worden wäre. Es blieb und doch war es die Sprache des Anderen geworden, der richtigen Franzosen, womit er selbst ein Anderer wurde, oh‐ ne ein Anderer zu sein. Ich nenne diesen Prozess im Anschluss an die Übersetzung mit einer kleinen si‐ gnifikanten Verschiebung Ver-Anderung. Diese zeigt die Entfremdung auf, indem sie diese Entfremdung aufhebt, aber natürlich nicht vollständig. Es handelt sich um einen ambivalenten Prozess: die Muttersprache ist für den zehnjährigen Schüler nicht mehr die Muttersprache, sondern die Sprache, die jenen gehört, zu denen er nicht mehr gehört. Und doch hat er keine andere Sprache, bleibt diese Sprache die einzige. Somit wird er selbst in gewisser Weise ein Anderer, ja in doppelter Weise, er wird zum Algerier entfremdet, der er nicht ist, als Jude kenntlich gemacht, der ei‐ gentlich ein Franzose ist und der er doch nicht mehr ist. Dieser Prozess der Entfremdung beruht in der Tat darauf, in doppelter Weise ein Anderer zu werden: „diese unveräußerbare Veranderung“ oder eben eine schlichte unveräußerliche Entfremdung – ein Widerspruch in sich: In der Entfremdung bleibt
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er bei sich selbst, der er doch nicht ist! Sartre wird diese Erfahrung unter ähnlichen Umständen und in etwa derselben Zeit machen und sie in ähnlich paradoxen Formu‐ lierungen fassen, die er von Kierkegaard übernimmt. So konstatiert er 1945: „der Mensch ist ständig außerhalb seiner selbst“ (1994, 141). Auch wenn sie sich gegen‐ seitig Feind waren, so fern sind sie sich just an dieser Stelle nicht, wiewohl sich Der‐ rida um andere Formulierungen bemüht, die zunächst keine Nähe zu Sartre vermu‐ ten lassen. Der Zehnjährige hört sich, wenn er selbst spricht und er hört damit zu‐ gleich einen Anderen, der er doch in doppelter Hinsicht geworden ist. Er, der auf sein algerisches Judentum zurückgeworfen scheint, bleibt doch ein fremder Franzo‐ se, ein ver-anderter Franzose. Damit wird das Eigene wie die eigene Sprache zu einem Problem des Umgangs damit, den man indes auch gestalten kann, wenn man älter geworden ist, und den man daher auch verantworten muss. Daher entsteht hier so etwas wie Verantwortung – natürlich noch nicht für den Zehnjährigen. Aber auch hier zeigt sich wieder die Parallele zu Sartre, der wie gesagt unter ähnlichen Um‐ ständen 1942 auf den Begriff der Verantwortung stößt, der sich just in dem Augen‐ blick aufdrängt, wenn doch niemand mehr für irgendetwas verantwortlich zu sein scheint, wie es Arendt formulieren wird. Dort, wo Sprache automatisch identifiziert, wo die Muttersprache ob ihrer Selbst‐ verständlichkeit und scheinbaren Ausdruckssicherheit von der Einheit wie der Wahr‐ heit einer Ursprache träumen lässt, blieb für Derrida immer nur eine Differenz, die man nicht als notorisches Leiden beschreiben muss, wie es metaphysisch indentitäts‐ heischend ständig wiederholt wird, die ihm vielmehr eine Distanz ermöglichte ge‐ genüber den abendländischen Metaphysiken mit ihren jeweiligen Obsessionen, sei es des Guten, des Wahren, der Seele, des Begriffs, des Programms, der Identität. Solche metaphysischen Begriffe verkörperten für Derrida fremdartige Perspektiven, die ihn doch animierten sie zu zerlegen. Denn gebunden war er an diese Begriffe nicht. Diese Differenz zur Muttersprache wie diese Distanz gegenüber ihren Produk‐ ten erlaubte ihm vielmehr eine vorbehaltlose Analyse, die nicht nach kleinsten Teil‐ chen sucht, im Sinn der analytischen Philosophie nach den ‚Kernelementen‘, aus de‐ nen man die eigene Identität entwickelt. Vielmehr zerbröseln diese vermeintlichen Bestimmungen und verwickeln sich dabei in immer weitere Aporien. Vielleicht wür‐ den bestimmte Methoden, hätte sich Derrida deren rückversichert, solcherart chaoti‐ schen Zerfall verhindern. Just dann aber hätte Rorty Recht behalten, just mit be‐ stimmten Methoden wäre das Denken dem Bann der Metaphysik wieder erlegen: die Dekonstruktion! 1975 konstatiert Paul Feyerabend, „dass der Gedanke einer festge‐ legten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen beruht.“ (1976, 45) Derrida hat sie schon zehn Jahre zuvor aufgelassen und begreift die Mutterspra‐ che nicht als vereinigende Einheit, sondern als Vervielfältigung kolonialer Macht,
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die die Welt zu verstehen gibt, und zwar als Unkultur des Anderen, aus der heraus jedoch Derrida denkt, wie er in Die Einsprachigkeit des Anderen bekennt, so dass er die Etymologie, vor allem die Heideggers hinter sich lassen kann. Er sagt: „Jede Kultur ist ursprünglich kolonial. Wir müssen nicht allein auf die Etymologie zählen, um dies in Erinnerung zu rufen. Jede Kultur wird durch die einseitige Auferlegung irgendeiner ‚Politik‘ der Sprache eingesetzt. Die Herrschaft beginnt, wie man weiß, mit der Macht zu benennen, seine Benennungen aufzuerlegen und zu rechtfertigen.“ (2003, 67) Hier zeigt sich das originär Politische der Dekonstruktion, spiegelt sich bei Derrida die Einsicht, die bereits Thomas Hobbes formulierte: Will der Staat das Weltbild bestimmen, muss er über die hermeneutische Macht verfügen, also eine ‚Politik der Sprache‘ betreiben. In einer direkten Variante ist der moderne Staat an dieser Aufgabe gescheitert, wiewohl Staaten sich einer solchen Bemühung bis heute befleißigen – man denke nicht nur an China. Daher erfolgen die staatlichen Eingriffe in das Weltbild seiner Bürger in demokratischen Staaten wie in Frankreich indirekt, sei es durch ein Bekenntnis zum Humanismus oder durch intensive Sozialpolitik. Die staatliche Kulturpolitik setzt die überlieferte Kultur fort, wie sie sie gleichzeitig prägt, lenkt und weitertreibt. So heißt es bei Derrida: „Man weiß, wie es mit dem Französischen in Frankreich selbst war, im revolutionären Frankreich ebenso oder mehr noch als im monarchisti‐ schen Frankreich. Diese souveräne Mahnung (mise en demeure) kann offen, legal, bewaffnet oder auch listenreich sein, versteckt unter den Alibis des ‚universellen‘ Humanismus oder bisweilen der freigiebigsten Gastfreundschaft. Sie folgt der Kul‐ tur immer oder geht ihr voraus wie ihr Schatten.“ (2003, 67) Man könnte statt von souveräner Mahnung auch von einer souveränen Festsetzung von Ort und Zeit spre‐ chen. Die Politik, die im revolutionären Frankreich den Kalender änderte oder wenn Napoleon die revolutionären Errungenschaften in Form eines Eroberungskrieges in Europa verbreitet, bestimmt sich im entstandenen Territorialstaat räumlich und ka‐ lendarisch zeitlich, gibt somit allen Bürgern diese Bedingungen als ein „historisches Apriori“ vor – man denke an Foucault (1974, 24) –, von dem aus gelebt, gedacht und somit die Welt verstanden wird. Wie bei Foucault handelt es sich nicht um ein nichtempirisches Apriori wie bei Kant, der diesen Begriff geprägt hat, sondern um eine historische Bedingung von Erfahrung, die quasi genauso zugrunde liegt, aber historisch Veränderungen ausgesetzt ist. Dergleichen Hegemonie haben die europäischen Kolonialmächte überall in der Welt betrieben, haben die jeweilige Kultur unterdrückt, verändert, ‚verandert‘, ange‐ passt, genauso wie sie die eigene Kultur gestalteten, um deren koloniale Kraft auf fremde Teile der Welt auszubreiten. Natürlich ist Kolonialismus historisch weit ver‐ breitet. Aber dass Gesellschaften dafür Opfer bringen, ist nicht unbedingt selbstver‐ ständlich. Es mag für bundesrepublikanische Ohren fast banal klingen, hat der natio‐ nalsozialistische Bruch der deutschen Kultur diese so nachhaltig in Frage gestellt, so
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dass es keinen nachdenklichen Bürger in der Bundesrepublik gibt, der nicht ein ge‐ spaltenes Verhältnis zu dieser deutschen kulturellen Tradition hätte. Der französische Kolonialismus stellt natürlich keinen derart massiven Kulturbruch dar wie der Natio‐ nalsozialismus. Aber er entlarvt die Funktionsweise von nationalen Kulturen mit ihren imperialistischen Tendenzen. So fasst Oliver Marchart Derridas Haltung in die Worte: „Dazu wird man von der Unterstellung einer spezifischen kulturellen Identi‐ tät – sei diese nun ‚wertvoll‘ oder nicht – ablassen und stattdessen an der Hypothese festhalten, dass keine Kultur mit sich identisch ist.“ (2010, 358) Jene, die wie Derrida von der Grenze solcher Kulturen stammen, von der Grenze, genauer von der Differenz aus denken, spüren diese Dominanz leichter als andere. Die Dekonstruktion, mit der sich Derrida bekannt gemacht hat, entspringt diesem Erfahrungshorizont. Sie verzichtet von vornherein auf die kulturelle Integration oder den Anschluss an die herrschende Kultur oder wie die Frankfurter Schule im An‐ schluss an eine selbst entworfene Tradition, will vielmehr allen Kulturphänomenen ohne Ausnahmen vorbehaltlos bis in die letzten Verästelungen nachspüren, die als vermeintliches Fundament des eigenen qualifizierten Ethos gelten. Doch das ist nicht allein Derridas Intention, betreiben ähnliches vielmehr sehr viele, gehört die Dekonstruktion längst zu einem Habitus der eurozentrisch globalisierten Kultur, ist die Moderne nicht bloß in ihre Dialektik geraten, sondern auch durch ihren hinterfra‐ genden Gestus in einen unendlichen methodischen Zweifel, aus dem auch keine Me‐ thodenlosigkeit mehr befreit. Wenn man diesen Zusammenhang beachtet, dann zeigt sich, dass die Dekonstruk‐ tion von ihren Herkünften her politischer inspiriert war, als es die Anfänge in den sechziger Jahren verraten, als sie denn auch primär als kulturphilosophisches Phäno‐ men missverstanden wurde. Sie beschreibt eine weit verbreitete kritische Haltung, die sich nicht durch hehre Ideen bändigen lässt. So könnte man die Dekonstruktion beinahe als die lenkende Institution im ver‐ breiteten postmodernen Bildungsroman verstehen, den zumindest die postmodernen Philosophen auf unterschiedliche Weise zu schreiben scheinen, und Die Einspra‐ chigkeit des Anderen selbst als einen solchen Bildungsroman. Doch das dementiert Derrida explizit: „Was ich hier entwerfe, stellt keineswegs den Anfang einer auto‐ biographischen oder anamnetischen Skizze dar, nicht einmal den scheuen Versuch eines intellektuellen Bildungsromans (dt.i.O.).“ (2003, 135) Aber man könnte einwenden, es sei ein Antibildungsroman, so dass man damit Derrida zumindest implizit widerspricht. Die klassische Bildungsromantradition be‐ ginnt im deutschsprachigen Raum 1766 mit Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon und sie endet mit Günter Grass‘ Blechtrommel als einem Antibildungs‐ roman, in dem sich der Held Oskar Matzerath angesichts der Nazi-Welt und der Le‐ bensform seiner Eltern nicht nur zu bilden, sondern auch zu wachsen weigert und stattdessen als Trommler erst die Nazi-Welt und dann die der frühen Bundesrepublik
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aufmischt. Doch auch ein Antibildungsroman bleibt ein Bildungsroman und Oskars Trommel ließe sich mit Jacques Dekonstruktion vergleichen, die die intellektuelle Welt ähnlich in Verwirrung stürzt wie jene Trommel zumindest im Roman aber auch ein wenig damals außerhalb desselben. Und ähnlich wie in Danzig Matzerath wurde Derrida in Algier im Alter von zehn Jahren vom nazifizierten Regimes die Sprache geraubt. Oskar versicherte sich noch kurz vorher seiner Blechtrommeln: „Als man ihm den Spielzeughändler nahm und des Spielzeughändlers Laden verwüstete, ahnte er, dass sich gnomhaften Blechtrommlern, wie er einer war, Notzeiten ankündigten.“ (1968, 200) Nur dass das Derrida motivierte, just diese geraubte und doch weiterhin dominante Sprache und ihre implizit verborgenen metaphysischen Selbstverständ‐ lichkeiten ins filigrane Gewebe, bis in ihre Aporien hinein aufzufieseln. Aber was macht Grass anderes, zeigt er ihr keineswegs bloß den blechtrommlerischen Stinke‐ finger. Für Habermas oder Tugendhat rührte auch ein Derrida eine unerfreuliche Trommel, nämlich die Dekonstruktionstrommel, die sich mit der metaphysischen Angepasstheit der analytischen Philosophie wie der Frankfurter Sozialphilosophie nicht arrangieren mochte, weil sie vorführt, dass beide den Geist der Zeit unterschät‐ zen.
7. Kapitel: Différance und Dekonstruktion Seit dem späten 19. Jahrhundert interessiert man sich in der Philosophie zunehmend für das Thema Sprache zunächst primär als kulturelles Phänomen. Ferdinand de Saussure begründet um die Jahrhundertwende den Strukturalismus, indem er die Sprache weder als kulturelles, noch als historisches Phänomen betrachtet, sondern so, wie sie aktuell praktiziert wird, und zwar weitgehend ohne Bezüge zu außer‐ sprachlichen Phänomenen. So heißt es in seinem grundlegenden, 1916 posthum er‐ schienenen Cours de linguistique générale: „Die Sprache an und für sich selbst be‐ trachtet ist der einzige wirkliche Gegenstand der Sprachwissenschaft.“ (1967, 279) Dann kann es in der Tat primär nur noch um die internen Strukturen der Sprache ge‐ hen, wobei sogar Sinn und Bedeutung als semantische Dimensionen der Sprache langsam in den Hintergrund treten, weil sie einerseits mit Phänomenen wie Geist und Bewusstsein und andererseits mit einer äußeren Welt verknüpft sind. Damit ebnet Saussure den Weg in die strukturale Linguistik, die zur Wiege der modernen Linguistik avanciert und besonders die Ethnologie – man denke an Clau‐ de Levi-Strauss – und die Literaturwissenschaft – Roland Barthes – beeinflusst. Der Poststrukturalismus wird später dabei vor allem versuchen, die ahistorische Ausrich‐ tung des Strukturalismus zu überwinden, ohne indes in das Fahrwasser der damali‐ gen Geschichtswissenschaften zurückzugleiten.
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Mindestens in einer Hinsicht bleibt Saussure dabei der Tradition verhaftet. Da es ihm um die lebendige Sprache geht, wie sie gerade gesprochen wird, konzentriert er sich auf die gesprochene Sprache, die parole im Unterschied zur langue als einem Korpus der Sprache. Die Schrift bzw. das Geschriebene kann in einem solchen Zu‐ sammenhang nur stören, da mit ihr als dem Geschriebenen ja eine Form der Histori‐ zität in die Sprache einkehrt und die lebendige, die gesprochene Sprache vorab prägt. Davon aber möchte Saussure absehen. Er schreibt: „Aber die Tyrannei des Buchstabens geht noch weiter. Viele Leute unterliegen dem Eindruck des Geschrie‐ benen, und so beeinflusst und modifiziert es die Sprache.“ (1967, 37) Damit inspi‐ riert er negativ die Grammatologie, schreibt Derrida 1967 in seinem Text Der Gen‐ fer Linguistenkreis: „Rousseau und Saussure räumen der Stimme ein ethisches und metaphysisches Privileg ein. Beide postulieren die Minderwertigkeit und die Äußer‐ lichkeit der Schrift gegenüber, dem ‚inneren System der Sprache‘ (Saussure) (...).“ (1988 c, 153)
1. Die Schrift als Ursprung der gesprochenen Sprache Dagegen begreift Derrida diese Perspektive als eine Entwertung der Schrift, die in der abendländischen Philosophie häufig als störend empfunden wurde, die das ge‐ sprochene Wort vernachlässigt, das für Aristoteles der Ausdruck der Seele ist und das nach Augustin das innerliche Gespräch mit Gott führt. Was dagegen aufge‐ schrieben wird, das ist von diesem lebendigen, entweder kommunikativen oder inne‐ ren Sinn des gesprochen Wortes weiter entfernt und hat damit nicht den Wert des di‐ rekten Gesprächs mit Gott oder dem anderen Menschen. „Die Epoche des Logos“, der bis heute die modernen Wissenschaften durchzieht, „erniedrigt also die Schrift, die als die Vermittlung der Vermittlung und als Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht wird.“ (1983, 27) Die Schrift vermittelt Sinn zweiten Grades, weil sich dieser Sinn von dem gesprochenen oder auch gedanklich verfassten Sinn ent‐ fernt. Man muss sich das Gelesene erst verständlich machen. Das Buch in der Bi‐ bliothek wird dann lebendig, wenn es jemand liest. Saussure unterscheidet Signifikat und Signifikant, das Bedeutete, also die Bedeu‐ tung, nach Saussure in der Regel eine Vorstellung, und das Bedeutende, also das lautliche Wort: „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.“ (1967, 77) Beides zusam‐ men fasst Saussure unter dem Wort Zeichen. An diese Unterscheidungen haben viele angeschlossen auch jenseits der Semiotik und Linguistik, besonders Jacques Lacan und Derrida. Dieser gibt sich indes mit dem Programm von Saussure nicht zufrie‐ den. So schreibt er im Hinblick auf die „Epoche des Logos“ an der zuletzt zitierten Stelle weiter: „In diese Epoche gehört die Differenz zwischen Signifikat und Signifi‐
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kant, zumindest aber der befremdende Abstand ihres ‚Parallelismus’ (...).“ (1983, 27) Denn wenn man nach der Bedeutung eines Wortes fragt, dann antwortet man mit anderen Worten, also wiederum Signifikanten. Die Bedeutung, das Signifikat, das Bedeutete verläuft sich also zwischen Signifikanten. Daher spricht Derrida vom ‚be‐ fremdenden Abstand‘, der sich eigentlich aufhebt, so dass ein ‚Parallelismus‘ nicht sinnvoll erscheint. Auf der anderen Seite entwirft schon Platon eine Form der Unsterblichkeit durch die Produktion unsterblicher Werke, so dass die Schrift das Gespräch gar mit Gott abwertet. Auch deshalb kann Saussure von der „Tyrannei des Buchstabens“ spre‐ chen. So betrachtet denn die Tradition der Metaphysik die Schrift als eine Art Äu‐ ßerlichkeit der Rede, durch die diese ihrerseits fixiert, festgeschrieben, diszipliniert wird, d.h. tyrannisiert: Man muss so sprechen, wie es die Schrift verlangt, erscheint das Geschriebene eher als den Regeln entsprechend als das Gesprochene. Letzteres soll sich doch an ersterem orientieren: „dies geht so weit, dass man spricht wie man schreibt, dass man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder Re‐ flex des Repräsentierenden.“ (Derrida 1983, 65) Signifikant und Signifikat nähern sich aneinander an, lassen sich kaum noch un‐ terscheiden, was sich für die linguistischen Bestimmungen als gefährlich erweist, kann man diese schwerlich aufrechterhalten. Das Signifikat, das Repräsentierte, geht im Signifikant auf. Das führt dann zu verwirrenden Wechselwirkungen und Ambiva‐ lenzen: „Hier drängt sich der Gedanke auf, dass die Schrift dem gesprochenen Wort äußerlicher, sofern sie nicht dessen ‚Abbild’ oder ‚Symbol’, und ihm zugleich inner‐ licher ist, wo es in sich selbst eine Schrift darstellt.“ (Derrida 1983, 81) Die Buchsta‐ ben symbolisieren die Laute nicht. Sie bilden sie auch nicht ab, aber sie geben sie in gewisser Hinsicht äußerlich wieder, handelt es sich bei den abendländischen Schrif‐ ten um phonetische. Aber das gesprochene Wort findet sein Pendant im geschriebenen, womit letzteres auch in ersteres eingeht, zeigen sie gemeinsam die Bedeutung an. Die Schrift bezieht sich dabei auf eine Spur, eine Art Grundform der Schrift, die hinterher immer auf den verweist, der sie verursachte. Spurenleser verstehen die ihnen bekannten Spuren. Spuren kann man als Schrift verstehen. So schreibt Derrida: „Noch bevor er < der Begriff der Schrift> mit der Einkerbung der Gravur, der Zeichnung oder dem Buch‐ staben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird, der im Allgemeinen auf einen von ihm bezeichneten Signifikanten verweist, impliziert der Begriff der Schrift (graphie) – als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée).“ (1983, 81) Oder man verstehe die Spur besser als eine anerkannte, d.h. man erkennt eine Veränderung als eine Spur. Bei Fußspuren handelt es sich gemeinhin um Abdrücke, die sich kaum vermei‐ den lassen. Aber man kann auch Spuren legen, etwas eingravieren, einkerben, ver‐
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weist dann dieser Signifikant auf einen Laut in der gesprochenen Sprache, einen Laut, den jemand versteht, bis er das Schriftzeichen unmittelbar erkennt. Daher erscheint für die traditionelle Perspektive die Schrift als eine Art Äußer‐ lichkeit, die sich dauerhaft sichtbar auf einer Oberfläche zeigt, während das gespro‐ chene Wort verhallt. So bemerkt Derrida: „Die Schrift – sinnlicher Stoff und künstli‐ che Exteriorität – ist ein ‚Gewand‘. Dass das gesprochene Wort ein Gewand für den Gedanken sei, wurde zuweilen bestritten, unter anderen von Husserl, Saussure und Lavelle. Hat man aber je bezweifelt dass die Schrift das gesprochene Wort kleide?“ (1983, 62) Die Schrift besteht aus geschriebenen oder gedruckten Buchstaben, so dass sie wie die Spuren im Schnee sinnlich wahrgenommen wird und damit eine les‐ bare Äußerlichkeit besitzt wie eine Art Kleidung, gar eine Art buchstäbliche Mate‐ rialität. Man kann das als eine Avance an den in den sechziger Jahren noch verbrei‐ teten Materialismus verstehen, eine Avance, von der sich Marxisten indes kaum sprachphilosophisch verführen lassen. Für strukturalistische Linguisten hat diese Materialität indes gefährliche Konse‐ quenzen, verschwimmen die Zusammenhänge, lassen sich in ihnen keine Kausalitä‐ ten mehr identifizieren: Weder geht der Signifikant dem Signifikat voraus noch um‐ gekehrt, während man in der Repräsentationslogik noch glaubt, dass etwas repräsen‐ tiert wird, bemerkt Derrida: „In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ur‐ sprungspunkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Auf‐ einander-Verweisen – aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ursprung.“ (1983, 65) Dagegen präsentiert sich die Geschichte der Metaphysik selbst als eine Geschich‐ te der Wahrheit, also als das, was man unter Wahrheit versteht, wie Wahrheit zustan‐ de kommt. In der Stimme drückt sich die Wahrheit aus, indem sie die Seele als letzte Quelle bezeugt. Die Schrift ist davon entfernt und somit unerheblicher als das ge‐ sprochene Wort. Doch für die Metaphysik bedroht die Schrift dieses gesprochene Wort. „Die Geschichte der Wahrheit, der Wahrheit der Wahrheit ist,“ so Derrida, „(...) immer schon Erniedrigung der Schrift gewesen, Verdrängung der Schrift aus dem ‚erfüllten‘ gesprochenen Wort“. (1983, 12) Denn die Schrift erscheint der Meta‐ physik als sekundär, trübt sie die Unmittelbarkeit des Gesprochenen, indem sie die‐ sem eine ferne Repräsentanz verleiht, die dem Gesprochenen doch nie gerecht zu werden vermag. Nach Derrida – so Alfred Hirsch – entwertet Rousseau die Schrift: „Das stumme Zeichen bedeutet den Bruch mit der Unmittelbarkeit und der Nähe menschlicher Beziehungen.“ (1999, 13) So insistieren Rousseau, Saussure und LéviStrauss auf dem Phonozentrismus. Dagegen, so Tatjana Schönwälder-Kuntze, „weist Derrida nach, dass sie in ihren Beispielen und Argumentationen implizit Eigenschaf‐ ten, die seiner Auffassung nach Schrift definieren, immer schon voraussetzen.“ (2015, 156)
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Denn die Bedeutung der Schrift kann für die Sprache gar nicht überschätzt wer‐ den. Nicht nur dass sie ihr eine Art Halt verleiht, kann man das Geschriebene korri‐ gieren und das Gesprochene daran orientieren und damit beurteilen. So bemerkt Derrida: „Man wird gewahr, dass die des Landes verwiesene, die von der Linguistik geächtete, heimatlos gemachte Schrift die Sprache als ihre erste und innerste Mög‐ lichkeit immerfort heimgesucht hat.“ (1983, 77) Am Ende muss die Linguistik sich doch am Geschriebenen orientieren und dieses zu ihrem Gegenstand wie Ausdrucks‐ mittel machen. Aller Widerstand Saussures, alle Beschwörungen der parole konnten das nicht verhindern. Vor diesem Hintergrund gelangt Derrida zu einer seiner Haupt‐ thesen in der Grammatologie: „Im Saussureschen Diskurs schreibt sich etwas, das nie gesagt wurde: nichts anderes nämlich als die Schrift selbst als Ursprung der Sprache.“ (1983, 77) Das sollte man indes nicht kausal verstehen im Sinn einer Ur‐ sache und einer Wirkung, auch nicht als Urgrund, als Basis. Aber Theorien über die Schrift erkennen zwischenzeitlich durchaus an, dass man zu einer ausdifferenzierten Sprache eine Schrift braucht, die erstere stabilisiert, ihr nämlich gewisse Formen verleiht, die sich dann wiederholen lassen, dass Wiederholungen dadurch überhaupt erst möglich werden, weil sie sich vergleichen lassen. So bemerkt Bernward Hoff‐ mann: „Durch Verschriftlichung wird gesprochene Sprache standardisiert. Schrift verstärkt kulturelle Identität, (...).“ (2003, 95) In diesem Sinn lässt sich die Schrift als eine Art Struktur der Sprache verstehen, wiewohl man gesprochen hat, als man noch nicht schrieb. Doch man darf bezweifeln, dass sich das als Sprache im heutigen Sinn bezeichnen lässt.
2. Die Gewalt des Phono- und Logozentrismus Wenn die Stimme der Ausdruck der Seele ist – was für Aristoteles nicht mehr heißt, so Armand Marie Leroi, als „Kontrollsysteme von einer ausreichenden Komplexität, um zielgerichtetes Verhalten zu zeigen“ (2017, 196), was aber vom Christentum zum Kern des Menschen erhoben wird –, dann hat das gesprochene Wort dionysi‐ sche Effekte, wird man von der Stimme des Anderen ob ihrer Authentizität geradezu berauscht. So lange man sie nicht technisch sowohl räumlich wie zeitlich reprodu‐ zieren konnte, verkörperte der Phonozentrismus, genauer die Stimme, das gespro‐ chene Wort die totale Präsenz. Das überträgt sich auf das durch die Stimme vernehmbar gewordene Sein, auf das Ganze dessen, was ist. Derrida schreibt: „Man ahnt bereits, dass der Phonozentris‐ mus mit der historischen Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz ver‐ schmilzt, im Verein mit all den Unterbestimmungen, die von dieser allgemeinen Form abhängen und darin ihr System und ihren historischen Zusammenhang organi‐ sieren“. (1983, 26) In der Präsenz zeigt sich die Idee des Dinges genauso wie dessen
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Wesen bzw. Substanz, so dass man seine Existenz hier und jetzt bemerkt, d.h. sie wird von einem Subjekt wahrgenommen und ihm somit bewusst. Denn Derrida schreibt weiter: „Präsenz des betrachteten Dinges als eidos, Präsenz als Substanz/ Essenz/Existenz/, Präsenz als Punkt des Jetzt oder des Augen‐ blicks , Selbstpräsenz des cogito, Bewusstsein, Subjektivität, gemeinsame Präsenz von und mit dem anderen, Intersubjektivität als intentionales Phänomen des Ego usw.“ (1983, 26) Die Präsenz hat also viele Erscheinungsweisen, die sich in den zentralen Begriffen der Philosophie repräsentieren. So konstatiert Derrida: „Der Lo‐ gozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher.“ (1983, 26) Das, was ist als Seiendes wie als das Sein, das dem Seienden sein Sein verleiht, erscheint als gegenwärtig im Hier und Jetzt. Denn das findet im‐ mer zu einem bestimmten aktuellen Zeitpunkt statt, so dass das Ding den Betrachter anwest. Daraus ergibt sich die subjektive Perspektive, die reflexiv den Blick auf den Be‐ trachter zurücklenkt, so dass sich das Bewusstsein auf einen intersubjektiven Zu‐ sammenhang ausgerichtet erkennt. Wenn die Seele Anteil am Logos hat, an der Ver‐ nunft, in der Stoa an einer Art Weltseele, dann repräsentiert der Phonozentrismus einen Logozentrismus, wird die Welt nicht mehr allein aus der Seele, sondern aus der Vernunft heraus verstanden, durch die sich die Seele ausdrückt, so als durchhallt sie das Universum. Wenn aber die Vernunft ihre Heimat in der Schrift hat, dann ist der Logozentrismus eine geschichtlich wirkungsmächtige „Entfaltung einer allge‐ meinen Schrift, deren System des Sprechaktes, des Bewusstseins des Sinns, der An‐ wesenheit der Wahrheit usw., nur ein Effekt ist und als solcher analysiert werden muss.“ (Derrida 1988 d, 313) Nach Clemens von Alexandria, einem umstrittenen Kirchenvater um 200, lehrt Christus den „Logos. Als Wort lehrt er das Gesetz Gottes; und die Lehren, die er for‐ muliert, sind die universale und lebende Vernunft“ (2019, 28), schreibt Michel Fou‐ cault im vierten Band von Sexualität und Wahrheit über Die Geständnisse des Flei‐ sches und er zitiert Clemens mit dem Worten: „das Leben der Christen, für das wir jetzt erzogen werden, ist eine Art Vereinigung vernunftgemäßer Handlungen, das ist die von uns Glauben genannte, in keinem Punkte fehlende Ausführung der von dem Logos gegebenen Lehren.“ (zit. Foucault 2019, 28) Der Logozentrismus als Phono‐ zentrismus durchzieht somit das abendländische Denken von Aristoteles bis zu Saussure und darüber hinaus. So bemerkt Peter Zima: „Wie seine Erben, wie alle idealistischen Philosophen verurteilt Plato schließlich die Schrift, die er für lebens‐ fremd oder gar lebensfeindlich hält. Da sie in verschiedenen widersprüchlichen und sich wandelnden Zusammenhängen gelesen und wiedergelesen werden kann, ist sie vieldeutig und unbeständig.“ (1994, 37) Die Schrift entspricht ja nicht dieser Präsenz und Unmittelbarkeit, die dem ge‐ sprochenen Wort eignen. So schreibt Derrida: „Die Schrift ist die Verstellung der na‐
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türlichen und ersten und unmittelbaren Präsenz von Sinn und Seele im Logos.“ (1983, 66) Das Geschriebene wird nicht durch die Stimme interpretiert, tritt über‐ haupt aus der Präsenz der Stimme heraus – was durch Audio- und Videotechnik aber am Ende auch für das Gesprochene gilt: Ein Film ist keine Theateraufführung. Durch die Schrift werden die Unmittelbarkeit und die Präsenz in die Vergangenheit verschoben. Die Schrift hat kein Bewusstsein, überwältigt aber die Seele, an deren Stelle sie tritt, deren Hall sie im stummen Buchstaben zum Schweigen bringt. Der Autor wird zu seinem Text, der den Autor verdrängt. So schreibt Derrida weiter: „Als Unbewusstes bemächtigt sie sich der Seele. Diese Tradition zu dekonstruieren kann jedoch nicht darin bestehen, sie umzukehren, die Schrift von Schuld reinzuwa‐ schen“. (1983, 66) Die Bedeutung der Schrift wurde nach Derrida einerseits verkannt und anderer‐ seits geflissentlich übersehen. So hat die abendländische Metaphysik der Schrift nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Das will Derrida nachholen, freilich nicht um die Schrift als Ort der Wahrheit oder gar des Guten auszumalen. Nein, die Schrift hat umso mehr Anteil an der Entwicklung der abendländischen Metaphysik, je bedeu‐ tender ihre Rolle dabei ist. Und diese Tradition beruht, wie es sich ja in Benjamins Zur Kritik der Gewalt zeigte, strukturell auf der Gewalt des Rechts. Denn dazu gehören auch Sprache und Schrift. So fährt Derrida fort: „sondern vielmehr darin, zu zeigen, warum die Gewalt der Schrift nicht eine unschuldige Sprache überkommt. Es kann eine ursprüngliche Gewalt der Schrift nur geben, weil die Sprache anfänglich Schrift (...) ist (...).“ (1983, 66) Sprache und Schrift gehören zusammen. Aber Schrift fixiert den Sinn, was an sich schon eine Art Überwältigung des Einzelnen darstellt, der sich an solchem Sinn orientieren muss, d.h. entsprechend sprechen. Bis heute muss man sich an die kulturelle Gepflogenheit anpassen, sich der Alphabetisierung unterwerfen, der staatlichen Verwaltung, des IT-Programms der Steuerbehörden – verbunden mit der Drohung hoher Haftstrafen, sollte man den Anforderungen nicht ordnungsgemäß folgen. Wie sagt Bourdieu in seiner Vorlesung am 10. Januar 1991: „wenn ich ein Formular der Verwaltung ausfülle (...) verstehe ich den Staat; der Staat gibt mir Anweisungen, (...)“ (2014, 195) Im pharaonischen Ägypten war die Ausbildung zum Schreiber ein langer und mühsamer Weg. Das hat eine Vorgeschichte, die an den Benjamin-Text erinnert. Derrida fährt nämlich fort: „Die ‚Usurpation‘ hat immer schon begonnen: was recht und billig ist, offenbart sich in einer Art mythologischer Rückkopplung.“ (1983, 66) Im Zusammenspiel von Sprache und Schrift entfaltet sich die Gewalt des Mythos, die ob in der Odyssee Homers oder der griechischen Götterwelt der Tragödien im‐ mer zentrales Thema bleibt. Dieser nachzuspüren ist die Aufgabe der Grammatolo‐ gie, die insofern indirekt auch das Thema von Benjamins Zur Kritik der Gewalt auf‐ greift.
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Damit begründet Derrida die Dekonstruktion, d.h. die Grammatologie dekonstru‐ iert die Geschichte des abendländischen Phono- und Logozentrismus und entbirgt dabei die Bedeutung der Schrift. Derart erhellt die Schrift die Strukturen der Spra‐ che, indem diese bis in die Buchstäblichkeit hinein zerlegt werden. So bestimmt Derrida die Rolle der Dekonstruktion: „Unsere Beweisführung wäre etwa folgende: dieser und einige weitere Indices (ganz allgemein, die Behandlung des Schriftbe‐ griffs) geben uns bereits das sichere Mittel an die Hand, die Dekonstruktion der größten Totalität – den Begriff der episteme und die logozentrische Metaphysik – in Angriff zu nehmen.“ (1983, 81) Um die abendländische, am Logos – also einem en‐ gen Verhältnis von Vernunft und Geist – orientierte Metaphysik zu betrachten, ver‐ folgt Derrida in der Grammatologie die Struktur des Wissens, in der sich diese Me‐ taphysik manifestiert. Ein Jahr zuvor geht Michel Foucault einem ähnlichen Unterfangen in seinem Buch Die Ordnung der Dinge – eine Archäologie der Humanwissenschaften nach. Zum Zwecke epistemologischer Studien entwickelt Foucault die Archäologie. Diese „versucht, die am weitesten ausgearbeiteten Formen des Diskurses in der konkreten Landschaft, im Milieu des Wachstums und der Entwicklung, das sie hat entstehen sehen, erneut zum Leben kommen zu lassen.“ (1995, 196) Einen ähnlichen Zweck verfolgt Derrida mit der Dekonstruktion und wird damit auf größere Resonanz sto‐ ßen. Foucault wird denn auch die Archäologie in eine Machtanalytik und eine Ge‐ nealogie überführen. Auch deren Erfolg kann sich mit dem der Dekonstruktion kaum messen. Denn Derrida verhält sich dabei im Grunde pragmatischer, indem er unter dem Schlagwort einfach alle gebräuchlichen geisteswissenschaftlichen Verfahrensweisen subsumiert, wenn er an der zuletzt zitierten Stelle weiterschreibt: „In ihr sind, ohne dass die radikale Frage nach der Schrift je gestellt worden wäre, alle abendländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpretation entstanden.“ (1983, 81) Foucaults Archäologie betrachtet episte‐ mologische Prozesse unter sehr komplexen und speziellen Gesichtspunkten, die es derart in der abendländischen Tradition kaum gibt, was die Rezeption natürlich er‐ schwert. Die Archäologie zeigt nach Foucault: „dass der allgemeine Raum des Wis‐ sens nicht mehr der der Identitäten oder der Unterschiede ist (...), sondern ein Raum, der geprägt ist (...) von inneren Beziehungen zwischen den Elementen, deren Ge‐ samtheit eine Funktion sichert.“ (1974, 270) Auf die Gefahr hin, dass ich damit Proteste provoziere, scheint es mir doch eine zumindest intentionale Nähe zwischen Dekonstruktion und Archäologie wie Macht‐ analytik zu geben. Nicht nur dass beide sich um epistemologische Strukturen bemü‐ hen, geht es auch beiden um eine Zerlegung traditioneller Begrifflichkeiten, wobei Foucault eine konstruktivistische Wende einschlägt, Derrida eben die dekonstrutive. Sowohl Foucault als auch Derrida schließen dabei an einen Gedanken Husserls an,
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über den Derrida noch 2003 in Die ‚Welt‘ der kommenden Aufklärung, dem zweiten Essay von Schurken sagt: „Nun evoziert Husserl in einem der Krisis-Texte (dem so‐ genannten Wiener Vortrag von 1935) im Namen der phänomenologischen Vernunft das Verhängnis einer transzendentalen Pathologie. Gleichsam einer Krankheit der Vernunft.“ (2003 b, 169) Dekonstruktion und Archäologie nehmen die aufkläreri‐ sche Vernunft beim Wort.
3. Die erweiternde Differenz Im Unterschied zur Metaphysik, der es um Wesensbestimmungen, um Inhalte, um Substanzen geht, beschränkt sich Derridas Dekonstruktion darauf, in Schrift und Sprache Differenzen nachzugehen. Denn die Schrift als Schrift betrachtet – Saussure betrachtet die Sprache als Sprache – stellt eine strukturelle Differenz dar, die bloß unterscheidet, ohne damit eine inhaltliche Bestimmung vorzunehmen, eben das was in der metaphysischen Tradition die Sprache betreiben soll, gleichgültig ob als ge‐ sprochenes Wort oder als geschriebenes. Dann ist die Schrift originär Differenz, die nichts anderes als Differenz erzeugt. Diese Funktion der Schrift erläutert Derrida mit dem Namen Ur-Schrift, die er vom üblichen Schriftbegriff abgrenzt. Er schreibt: „Eine Ur-Schrift, deren Notwendigkeit angedeutet und deren neuer Begriff hier um‐ rissen werden soll, und die wir nur deshalb weiterhin Schrift nennen wollen, weil sie wesentlich mit dem vulgären Schriftbegriff verbunden ist.“ (1983, 99) Schrift als Abfall vom gesprochenen Wort, nicht als reine Differenz, verdankt sich dem meta‐ physischen Bemühen, das gesprochene Wort mit Inhalt zu versehen und die Schrift als sekundär zu disqualifizieren. Der traditionelle Schriftbegriff „konnte sich histo‐ risch nur aufgrund der Verstellung der Urschrift, aufgrund des Wunsches (désir) nach einem gesprochenen Wort durchsetzen, das sein Anderes und sein Duplikat vertrieb und die Reduktion seiner Differenz betrieb.“ (1983, 99) Die Bedeutung der Schrift lässt sich dadurch übergehen. Damit verliert denn auch die originäre reine Differenz ihre stiftende Funktion und reduziert sich auf unterschiedliche Gehalte, die als Signifkate einen Gegenstand in‐ haltlich bestimmen sollen. Dem hält Derrida entgegen: „Wenn wir also darauf behar‐ ren, diese Differenz Schrift zu nennen, so deshalb, weil die Schrift durch die fort‐ währende historische Unterdrückung von ihrer Stellung her dazu bestimmt war, die verwerfliche Seite der Differenz darzustellen.“ (1983, 99) Denn die reine Differenz bedroht schließlich die inhaltlichen sprachlichen Bestimmungen der Metaphysik: Die Schrift als Differenz entleert das gesprochene Wort, raubt ihm seine inhaltlichen Bestimmungen, von dem nur Differenzen übrigbleiben. Die Schrift „war das, was sich dem Wunsch nach dem lebendigen gesprochen Wort drohend näherte, es von innen her und von Anfang an aufbrach. Und die Differenz kann (...) nicht ohne die
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Spur (trace) gedacht werden.“ (1983, 99) Die Schrift zeigt, dass Sprache nur Diffe‐ renzen und gerade nicht aus sich selbst heraus inhaltliche Bestimmungen erzeugt, die ihr vielmehr zusätzlich attestiert werden müssen. Just hier unterscheiden sich die Analyse in der sprachanalytischen Philosophie, der es um inhaltliche Bestimmungen von Elementen geht, und die Dekonstruktion. Dann reduziert sich die Schrift als Dif‐ ferenz entweder auf Urschrift oder eben auf Spur. Zunächst erscheint sie als reine Differenz, bei der nicht bloß die Schrift als Schrift, sondern auch die Differenz als Differenz betrachtet wird. Aber Derrida erweitert den Begriff der reinen Differenz, so dass man davon bei ihm auch nicht mehr reden sollte, ist das nur mein didaktischer Kunstgriff im An‐ schluss an Benjamins Begriff der reinen Gewalt. Die Differenz ist allemal kein Si‐ gnifikat, aber auch kein einfacher Signifikant, der bloß unterscheidet. Vielmehr un‐ terscheidet die Differenz darüber hinaus das Unterscheiden – ein Prozess, bei dem „nicht alles in einem Zug zu denken ist.“ (Derrida 1983, 44) Bei der Produktion von Differenz geht es nicht allein um diese selbst, sondern um das, was in ihr vorgeht und dabei handelt es sich um einen zweifachen Vorgang: „différer – aufschieben / (von einander) verschieden sein“ (Derrida 1983, 44) Die Differenz unterscheidet ei‐ nerseits, andererseits aber schiebt sich die Unterscheidung auf, was man zeitlich ver‐ stehen darf, hat die Schrift nicht nur als Mnemotechnik eine zeitliche Dimension, die ihre Unterscheidungen so unterscheiden, dass in der Wiederholung von Differenz immer eine Verschiebung stattfindet. Wie heißt es bei Gilles Deleuze in dessen Hauptwerk Differenz und Wiederholung, das 1968 erscheint, also ein Jahr nach der Grammatologie: „Die Differenz bewohnt die Wiederholung.“ (1992, 106) Differenz steckt also noch in der Wiederholung bzw. ergibt sich aus ihr, da ein sich wiederho‐ lender Vorgang mindestens zeitlich in sich unterscheidet. Das Thema Differenz schreibt sich also just in jenen Jahren aus dem Strukturalismus kommend radikal fort, genauer verschiebt sich aus inhaltlichen Bestimmungen heraus, also just in der Zeit als der Neomarxismus noch einmal versuchte, mit Inhalten und Wesensbestim‐ mungen – wiewohl dialektisch aufbereitet – das soziale Geschehen zu erklären. Diese Art des erweiterten Differierens, also des Unterscheidens und Aufschie‐ bens, was sich wiederholend generiert, schreibt Derrida im Französischen nicht mehr différence, sondern différance. Der Unterschied lässt sich in der Tat nicht spre‐ chen, jedenfalls hört man den Unterschied nicht, was zwischen Sprache und Schrift freilich häufiger vorkommt – man denke an ganz oder die Gans. Derrida, der Theo‐ retiker der Schrift betont damit implizit das Funktionieren der Schrift wie ihre Do‐ minanz gegenüber dem gesprochenen Wort: Man muss lesen. Insofern stellt Schön‐ wälder-Kuntze zwar die falsche Frage: „Wie also sprechen über etwas, über das sich mittels einer repräsentativ verstanden Sprache nicht sprechen lässt? (2015, 168) Denn natürlich lässt sich das ausdrücken, nur nicht mit einem einfachen Wort sagen. Doch Schönwälder-Kuntze gibt die richtige Antwort: „Indem sprechend gezeigt
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wird, was sie tut: dass sie sämtlichen Differenzen, d.h. Verweisungszusammenhän‐ gen inhärent ist.“ (2015, 168) Ich möchte die différance an Stelle einer reinen Differenz bloßen Differierens als erweiternde Differenz bezeichnen. Damit will ich nur ein Zeichen setzen, nicht bean‐ spruchen, die différance gar differenzlos zu erfassen. Aber das Wort soll einen Hin‐ weis darauf geben, dass die différance kein statischer oder instantaner zeit- und rau‐ munabhängiger Akt ist und auch nicht bloß ein reproduktiver der zeitlichen Wieder‐ holungen. Vielmehr treibt die différance in immer weitere aufschiebende Verschie‐ bungen: daher erweiternde Differenz. Nach Derrida „ist die différance, die kein Be‐ griff ist, auch kein einfaches Wort, das sich als ruhige und gegenwärtige, auf sich selbst verweisende Einheit eines Begriffs und eines Lautes vergegenwärtigen lässt.“ (1988 a, 37) Nein, es deutet eine Bewegung an, weil man seit dem 19. Jahrhundert annimmt, nur noch in Prozessen und nicht mehr in Einheiten oder Substanzen die Welt erfassen zu können. Man kann sich – so John Dewey bereits 1920 – „nicht mehr auf die Naturwissenschaften berufen,“ um geistige Konzepte „von Erwägun‐ gen der Zeit und des Ortes, d.h. also von Prozessen der Veränderung, auszunehmen.“ (1989, 17) Heideggers fundamentale Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem wird da‐ mit hintergangen. Die différance, so Derrida, „wäre zwar ‚ursprünglicher‘, doch könnte man sie nicht mehr ‚Ursprung‘ und auch nicht ‚Grund‘ nennen. Denn diese Begriffe gehören wesensmäßig in die Geschichte der Onto-Theologie, das heißt in das System, das als Auslöschung der Differenz fungiert.“ (1983, 44) Wenn man nicht mehr mit metaphysischen bzw. onto-theologischen oder inhaltlichen Bestim‐ mungen arbeiten will, die die Schrift als reine Differenz negieren, dann macht ein Rekurs auf einen Anfang, auf einen gründenden Ursprung, auf den Grund schlecht‐ hin keinen Sinn. Denn dann bleiben nur Differenzen, die man unterschiedlich wie‐ derholen kann, die im Sinn von Dewey durchaus in der Zeit sind, aber keinesfalls mehr auf einen Ursprung verweisen. Man kann sich die erweiternde Differenz – die différance – allerdings so vorstellen, als gründe sie in Heideggers Unterscheidung von Sein und Seiendem, wenn das Sein dem Seienden sein Sein, d.h. seine Bedeu‐ tung verleiht, die nach Heidegger jedoch nicht überzeitlich, sondern in der Zeit ist und sich somit von Epoche zu Epoche unterscheidet. Was bei Platon dem Seienden sein Sein verleiht, ist das Gute, über das Derrida bemerkt: „Die Idee des Guten (...) hat ihren Ort jenseits des Seins und des Wesens. (...) Aber dieses nicht-sein (ne-pasêtre) ist kein Nicht-Sein (non-être), es hält sich (...) jenseits der Gegenwärtigkeit oder des Wesens (...), der Seiendheit des Seins.“ (1989, 59) In der Geschichte des Seins verlängert sich dieser Gedanke, wenn Gott das Gute ist, das das Seiende in sein Sein setzt, bevor bei Galilei das Sein als mathematisch, bei Nietzsche als Wille zur Macht, bei Heidegger als Sprache oder im Poststrukturalismus eben als différan‐ ce sein Unwesen treibt. Doch dann muss man diese Unterscheidung hinter sich las‐
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sen, muss man sie streichen, wie es Heidegger ja selbst eingeführt hat, wenn er mit der Durchstreichung auf den verlorengegangen Sinn von Sein verweist: Sein. Dabei konstatiert Derrida: „Der Weg über die gestrichene Bestimmung und die Notwendig‐ keit dieses schriftlichen Kunstgriffs sind irreduzibel.“ (1983, 44) Es gibt folglich einen notwendigen Weg von Heideggers Begriff der Differenz zur erweiternden Dif‐ ferenz Derridas. Ja, ohne Heideggers Durchstreichung, ohne die Einsicht darein, dass Sein keine bestimmte Bedeutung hat, dass sich der Sinn von Sein in der Zeit verschiebt, lässt sich auch die erweiternde Differenz der Verbindung von aufschie‐ bender, verschiebender und unterscheidender Differenz nicht denken. Denn Aufschub und Verschiebung erlauben es erst, dass sich Sinn aus der Spur, der erweiternden Differenz generiert. Man kann sich das so vorstellen: Eine Spur im Schnee ist nur eine reine Differenz, die durch Wiederholung überhaupt erst erkannt werden kann. Dann gibt sie einen Hinweis auf ihren möglichen Verursacher: eine Verschiebung als ein zeitlicher Aufschub in der Wiederholung macht den Unter‐ schied. Aber dergleichen Dekonstruktion eines Zeichens führt in eine Aporie, wenn Der‐ rida schreibt: „In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allge‐ meinen; was aber bedeutet, (...) dass es einen absoluten Ursprung des Sinns im all‐ gemeinen nicht gibt.“ (1983, 114) Das hat selbst eine Doppelbedeutung. Ein allge‐ meiner Sinn oder der Sinn an sich ist bestenfalls eine metaphysische Illusion. Aber selbst wenn man das auf einen konkreten Sachverhalt beziehen will, erweist sich das als unmöglich: man kann dergleichen nicht zurückverfolgen, handelt es sich höchs‐ tens um einen dekonstruktiven Wunsch: ‚die Spur als der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen‘. Hier droht der Rückfall in die Metaphysik, wie ihn Rorty diagnostizierte, würde Derrida nicht umgehend den Sachverhalt dementieren und da‐ mit in einer Aporie landen: einen absoluten Ursprung kann es nicht geben; trotzdem konstituiert die Spur originär den Sinn, der über den bloßen tierischen Laut hinaus‐ reicht. So formuliert denn Derrida den Sachverhalt noch einmal etwas anders: „Die Spur ist die *Differenz , in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.“ (1983, 114) Das lässt sich einerseits im Sinn von Foucault als eine Art historisches Apriori verstehen: Aller Erscheinung und aller Bedeutung liegt die‐ se Struktur, also die erweiternde Differenz zugrunde – aber nicht immer schon, son‐ dern historisch entstanden. Damit ist diese andererseits gleichzeitig ein theoretisches Aposteriori; denn man kann Phänomene aller Art damit auch dekonstruieren. Aber die erweiternde Differenz ist letztlich nur ein Schema, wie man Sinn und Bedeutung eruiert, genauer zerlegt, nicht um deren Nuklei, deren eigentliche Sinngehalte oder wesentlichen Bestimmungen zu identifizieren – wie es üblicherweise die sprachana‐ lytische Philosophie betreibt – sondern um die Aporien aufzudecken, die zwischen Differenzen und Verschiebungen ihr Wesen so treiben, dass mehr als das am Anfang
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aller Dinge nicht zu finden ist. Jede Identifizierung gerät bei genauerer Betrachtung in Aporien und löst sich dadurch als Identität auf. So hat Burkhard Liebsch recht, wenn er bemerkt: „Diese von Derrida beschriebene aporetische Lage bleibt ersicht‐ lich in einem gewissen Formalismus stecken.“ (2015, 379) Wenn man das vermei‐ den will, dann bleibt man indes in Identitäten stecken, die zerbröseln, wenn man sie genauer betrachtet. Derart erscheint die erweiternde Differenz zwischen diversen Spannungsfeldern: „Als Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen schlechthin,“ erläutert Der‐ rida, „als Ursprung aller Wiederholung, als Ursprung der Idealität ist die Spur so we‐ nig ideal wie reell, intelligibel wie sinnlich, und sowenig transparente Bedeutung wie opake Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben.“ (1983, 114) Die Spur ist ein Zeichen des Lebendigen, das sich im Lebendigen aufführt – man denke an das Tattoo –, aber als Zeichen primär ins Leblose verfällt, so bleibt, wie es ist – das Tattoo. Das Zeichen zeigt in viele Richtungen, muss als Spur gelesen wer‐ den. Damit hat sie etwas Allgemeines, Ideales, doch ist sie konkret – aber damit wie bei Hegel hoch komplex, ist für Hegel das Konkrete ausführlich bestimmt, während das Abstrakte unterbestimmt ist. Die Spur zeugt von etwas Vergangenem, hinkt sie der Realität also notorisch hinterher wie der Spurenleser oder der Bücherleser. Sie hat etwas Sinnliches, doch weist sie just darüber hinaus. Sie hat etwas Intelligibles und verfällt doch ihrem materiellen Charakter. Die Spur zeigt in eine Richtung und bezeugt damit diffus das Lebendige – besser das Bewegliche, zeugt ein Krater bei‐ spielsweise von einem Einschlag oder einem Ausbruch. Und nichts ruht. Derart entzieht sich die Spur als erweiternde Differenz dem Zugriff des Metaphy‐ sischen, das Dinge festschreiben, benennen, identifizieren will, das nach dem Ur‐ grund der Dinge fragt und diesen manchmal in Gott findet, während Derrida von den Dingen nur noch Spuren ausmacht, liest. So kann er fordern: „Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.“ (1983, 82) Es braucht erst eine erweiternde Differenz, um Seiendes wenigstens bloß differentiell zu markieren. Aber als Spur ist diese Diffe‐ renz niemals ein Anfang, sondern immer schon ein Zeichen, das aufschiebt und ver‐ weist. Die erweiternde Differenz dekonstruiert jeden Anfang, von dem nur Aporien bleiben. Denn er lässt sich an der Spur als Spur nicht ablesen: „Aber die Bewegung der Spur“, so Derrida, „ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst.“ (1983, 82) Schließlich verweist die Spur notorisch auf etwas anderes als sie selbst und doch präsentiert sich dieses andere als Spur und damit als etwas Anderes als es selbst. „Wenn das Andere als solches sich ankündigt,“ dekonstruiert Derrida, „gegenwärtigt es sich in der Verstellung seiner selbst.“ (1983, 82) Die Dekonstruktion eruiert derar‐ tige Verstellungen, die verbergende Spur, wobei es der Dekonstruktion nicht darum geht, dass sie die Wahrheit dahinter entbirgt, die sich im besten Fall als große meta‐ physische Konstruktion erweist. So dementiert Derrida, indem er fortfährt: „Diese
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Formulierung ist nicht, wie man übereilt annehmen könnte, theologisch. Das ‚Theo‐ logische’ ist ein bestimmtes Moment in der gesamten Bewegung der Spur.“ (1983, 82) Eben das Element der umfassenden Erklärung, das den Sinn des Geschehens durchschaut. Deshalb verbleibt Umberto Eco mit seinem Roman Der Name der Rose im Horizont der Dekonstruktion, wenn der Detektiv keinen umfassenden Zusam‐ menhang und keinen eindeutigen Täter ausmachen kann: „Es ist hart für einen grei‐ sen Mönch an der Schwelle des Todes, nicht zu wissen, ob die Lettern, die er ge‐ schrieben hat einen Sinn enthalten, oder auch mehr als einen, viele gar, oder kei‐ nen.“ (1982, 634) Eben nur erweiternde Differenzen! So könnte das Martin Schnell bestätigen, wenn er schreibt, „dass dekonstruktivistische Texte (...) keine eigenstän‐ digen Theorien sind, da sie immer in einer Abhängigkeit zum dem stehen, was sie jeweils dekonstruieren.“ (2001, 190) Andererseits darf man das im Hinblick auf den Benjamin-Vortrag doch bezweifeln: Ergibt sich daraus etwa keine Theorie der Ge‐ rechtigkeit? Aber Schnells Feststellung könnte durchaus im Sinn von Derrida sein. Wie bemerkt doch Rorty 1995 ironisch: „Derridas Freunde in den Vereinigten Staa‐ ten, jedenfalls diejenigen, die ihn für einen Theoretiker erklären und ihn nicht seine Rolle als Theorie-Ironiker weiterspielen lassen wollen – legen der ‚Philosophie‘ ge‐ genüber genau die Art von Ehrerbietung an den Tag, die in ‚Envois‘ (der erste Teil von Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits aus dem Jahr 1980> auf die Schippe genommen wird.“ (2000 a, 454) Jedenfalls geht die Spur bzw. die erweiternde Differenz dem Seienden in seiner Anwesenheit, also dem Anwesenden voraus, muss man mittels Differenz das mar‐ kieren, was seiend ist, d.h. anwest – Derrida weiter: „Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann.“ (1983, 82) Aber was anwest, ist dann immer etwas anderes, auf das die erweiternde Differenz verweist und was insoweit gerade nicht anwest, nämlich als ein Hinweis über die Spur, die gegenwärtig ist, aber auf Nichtgegenwärtiges, also auf Nichtanwe‐ sendes deutet, wenn man sie als Spur zu entziffern vermag. So präsentiert sich die Präsenz als aporetisch, was nicht ohne Folgen für das Sei‐ ende in seinem Sein bleiben kann, heißt es bei Derrida weiter: „Die Gegenwärtigung des Anderen als solchem, das heißt die Verstellung seines ‚als solches‘ hat immer schon begonnen, und keine Struktur des Seienden vermag sich dem zu entziehen.“ (1983, 82) So kann man der Dekonstruktion vorwerfen, sie führe, ja sie verführe in ein Verwirrspiel und widerstreite damit den Intentionen der Aufklärung, sich endlich über die Welt klar zu werden. Vor dem Hintergrund religiöser Phantasien erscheint letzteres als legitimier Anspruch. Doch Derrida weist den Vorwurf zurück, die De‐ konstruktion sei „eine bastardierte Wiederauferstehung der negativen Theologie (...).“ (1989, 36) Jede Form der Theologie, auch die negative, zielt auf Wahrheiten, auch wenn diese sich nur negativ formulieren lassen, nicht auf Aporien. Daher führt
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die Dekonstruktion ähnlich wie Ecos Roman vor, dass die Klarheit vor den Verwick‐ lungen nicht zurückschrecken darf, will sie ihren Ansprüchen genügen. So hat denn Jonathan Culler bereits 1982 Derrida vor dem Vorwurf sinnloser Spielerei verteidigt: Die Dekonstruktion eines Textes führt vor „wie er selbst die Philosophie, die er ver‐ tritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er ruht, unterminiert, (...)“ (1999, 99), wie sich also dekonstruktiv – d.h. heißt unter dem Einfluss der erwei‐ ternden Differenz –, der Text in Aporien auflöst und nicht in kleinsten Einheiten. Auch Thomas S. Kuhn geht davon aus, dass die Entwicklung der Wissenschaften von Anomalien angetrieben wird, also durch Brüche, nicht durch kontinuierliche Fortschritte. So stellt Kuhn 1961 fest, also einige Jahre vor der Grammatologie: „Pa‐ radigmawechsel veranlassen die Wissenschaftler tatsächlich, die Welt ihres For‐ schungsbereichs anders zu sehen.“ (1973, 132) Insofern lässt sich die Dekonstrukti‐ on durchaus als ein Paradigmenwechsel verstehen. Es könnte sich in alter sokratischer Tradition dabei herausstellen, dass solche Klarheit, die die Aufklärung anstrebte, unmöglich erscheint. Nur die Theologen soll‐ ten sich hüten, zu früh zu jubeln. Allerdings deutet sich auch an, dass die Dekon‐ struktion die Vertreter der philosophischen Tradition ähnlich verunsichert, wie So‐ krates und dessen Schüler die Athener reizten. Eigentlich sollte sich Derrida nicht wundern, dass ihre Kritiker den Dekonstrukteuren vorwerfen „eine Sekte, eine Bru‐ derschaft, eine esoterische Körperschaft, ja vulgärer noch, eine Clique, eine Gang oder, ich zitiere, eine ‚Mafia‘ zu bilden.“ (Derrida 1989, 36)
4. Dekonstruktion und politische Philosophie Aber bleibt die Dekonstruktion nicht allein schon ob ihres von Liebsch attestierten Formalismus eine politisch folgenlose theoretische Reflexion, wie es auch Rorty un‐ terstellt? Die Dekonstruktion steht für Derrida in der Tradition der Kritik: „auf hy‐ per-kritische Weise vorzugehen – werde ich wagen zu sagen: auf dekonstruktive Weise?“ (2004 a, 128) Aber im Unterschied zur Kritik, die bei Marx den Schleier der Ideologie lüften soll, um die wahren Interessen zu entbergen, oder die bei Ador‐ no vorführt, wie Kultur und Gesellschaft die Menschen leiden lassen, eine Kritik, die just dieses Leiden ‚beredt‘ machen soll und sich vor allem in der Kunst aus‐ drückt, zielt die Dekonstruktion weder auf eine soziale Wahrheit noch auf ein ethi‐ sches Prinzip, wiewohl die Dekonstruktion weder Wahrheit noch Moral aufgibt. Ja, man könnte umgekehrt unterstellen, dass die Dekonstruktion beiden ein neues Fundament baut. Freilich besteht dieses weniger aus analysierten und geklärten Be‐ griffen, aus begründeten Prinzipien noch aus festen Strukturen, als vielmehr aus einer Sammlung von erweiternden Differenzen, die in sich selbst immer schon einen aporetischen Charakter entfalten, mit dem sie die Gegenstände destabilisieren, in die
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sie eindringen, um sie auf diese Weise beredt werden zu lassen. Oder bringen sie sie zum Schweigen? Bereits Hegel und Marx erkannten, dass die lexikalischen und begrifflichen Ord‐ nungen der Aufklärung einer Natur und Kultur nicht gerecht werden, die sich in ständiger Bewegung befinden. Hegel versucht mit der Dialektik die Begriffe in Be‐ wegung zu versetzen. Marx wollte mit der politischen Ökonomie das unüberschau‐ bare Handeln der Zeitgenossen vorausberechnen. Umso mehr ist letzterer daran ge‐ scheitert, dass sich die Welt immer noch schneller und unkontrollierter entwickelt, als es sich dialektisch oder ökonomisch erahnen lässt. Wissenschaftstheorien und die analytische Philosophie versuchen diese Prozesse, die beinahe schon evolutionären Charakter annehmen, dadurch zumindest in be‐ scheidenem Rahmen unter Kontrolle zu bringen, dass sie die Sprachstrukturen ana‐ lysieren. Was kommt dabei raus? Marx Geschichtsvision domestiziert Popper inso‐ weit, wie es historische Gesetze für ihn nur von der Art geben kann, dass die große Armee zumeist die kleine besiegt. Oder Tugendhat möchte am ethischen Universa‐ lismus festhalten, muss aber anerkennen, dass dieser am Ende von einer individuel‐ len Entscheidung abhängt, die niemand mehr vorschreiben, ja nicht mal mehr nach‐ haltig begründen kann. Denn, so Tugendhat: „Die Moral der universellen und glei‐ chen Achtung (...) hängt in gewisser Weise in der Tat in der Luft: es lässt sich nicht mehr zeigen, dass sie das plausible (bestbegründete) inhaltliche Konzept des Guten ist, (...).“ (1993, 29) Das bestätigt die Ausgangslage der Dekonstruktion, dass sich das Wissen nicht mehr mit Gewissheit begründen und nicht mal vernünftig angemessen ordnen lässt, wie es Hegel versuchte. Vielmehr befindet es sich bestenfalls in einer schwankenden Ordnung, die Deleuze und Guattari mit einer rhizomatischen Struktur vergleichen: „Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden.“ (1977, 11) Daran schließen Umberto Eco und Gianni Vattimo an. Für letz‐ teren ist der Mensch ein Akrobat im Netz der Zeichen. Für ersteren lässt sich die Epistemologie nur noch als ein topologisches Labyrinth der Zeichen verstehen, in dem ebenfalls „jeder Punkt mit jedem anderen verbunden werden kann. (...) Es hat weder ein Inneres noch ein Äußeres.“ (1983, 77) Es bestehen also keine sachlich vorgegebenen Strukturen, sondern nur selbstreferentielle. Dann wird man dem mit einer Kritik nicht mehr gerecht, die noch immer nach der wahren Wirklichkeit greift oder die ein klares Bekenntnis verlangt. Denn was hat man philosophisch schon von einem Gläubigen oder einem sich Hingebenden, einem Bekennenden? Nur einen Anhänger, der sozial wichtig, philosophisch indes bedeutungslos ist. Wenn man dem Wissen, den Erkenntnissen und den Tugenden ge‐ recht werden will, dann muss man nach Derrida vielmehr allen „Wandlungen der Europäischen Geschichte hindurch (...) in aller Strenge Rechnung tragen (...).“ (2002, 147) Das gelingt nur, wenn man diesen Wandlungen nachspürt, ohne sie auf
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Begriffe zu fixieren, ohne sie in definierte Einheiten zu zerlegen, ohne ihnen letzte Gründe unterzuschieben, ja ohne überhaupt noch Erklärungen geben zu wollen. Wie bemerkt doch Nietzsche: „Wir beschreiben besser – wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren.“ (1999 a, 112) Vielmehr gilt es, die epistemologischen Strukturen in ihre zumeist buchstäblichen Verästelungen hinein zu beobachten, sie bis dorthin zu zerlegen, wo sie sich in Aporien verlieren, wie es den Zeitgenossen häufig ergeht, ohne dass sie das beabsichtigen würden: Dekonstruktionen aus Versehen oder weil man der Welt ironisch begegnet, aber erst recht wenn man sie ernst nimmt. Dass selbstredend fleißig weiter erklärt wird – und zwar ernsthaft ohne schlechtes Gewissen – das hängt von einem Diskurs ab, wie er noch immer weit verbreitet ist und der das eigentlich auch schon in der Antike war. Auch die Dekonstruktion sieht sich damit in doppelter Hinsicht konfrontiert und zwar als schlichtes Faktum, wenn die Welt erklärt wird und damit den Zeitgenossen stabil erscheint und als Erbschaft Platons, der ohne es zu wollen hinter aller Erklärung und Stabilität ein gespensti‐ sches, wiederum destabilisierendes Unwesen treibt. So konstatiert Derrida: „halten wir fest, dass zumindest in diesem Maße unser kritisches oder ‚dekonstruktives‘ Un‐ behagen selber noch ein in dieser Ironie auf uns gekommenes platonisches Erbe an‐ tritt: vielleicht partizipiert sie an ihm, vielleicht wird es von ihr geteilt, und also ge‐ spalten.“ (2002, 151) Das Unbehagen in der Kultur, das sich dekonstruktiv weniger verengt erfassen lässt als mittels der Psychoanalyse Freuds spiegelt ein Unbehagen Platons, das längst nicht bloß die Politeia durchzieht. Es sieht sich mit der dekon‐ struktiven Ironie konfrontiert, durch die es erschüttert wird. Aber – so fährt Derrida fort – „selbst dann sollten wir nicht vergessen, dass Pla‐ ton von einer Thematik und einer Beredsamkeit handelt, die den stabilsten Struktu‐ ren, den beherrschenden und verbreitetsten topoi einer bestimmten griechischen Re‐ de entsprechen.“ (2002, 151) Sokrates will diese dekonstruieren, Platon ansatzweise auch. Denn letzterer gibt sich mit der Dekonstruktion nicht zufrieden, hat er viel‐ mehr ein konstruktives Interesse, das er dem herrschenden Diskurs entgegenstellt. Platon kennt nicht nur alle Formen der Gerechtigkeit. Er weiß auch, wie sie unter einer großen Idee in Einklang zu bringen sind. Demgegenüber klingt die Dekon‐ struktion beinahe bescheiden, wenn Derrida weiterschreibt: „Nicht einer griechi‐ schen Rede oder einem griechischen Volk, die homogen und mit sich selbst identisch wären, und an die wir nicht glauben, aber doch, sagen wir: dem, was in ihnen für eben jene ‚Mehrzahl‘ steht, ob es nun um die Politik im allgemeinen oder die Demo‐ kratie im Besonderen geht.“ (2002, 151) Doch just das ist längst nicht mehr das, was Platon vorschwebt. Nein, es ist das Gegenteil. Dekonstruktion geht subtil vor und erreicht damit mehr als eine harte Kri‐ tik, die sich durch ihre Härte selbst in Frage stellt. Nein, Dekonstruktion operiert subtil und sophisticated, geht es Derrida um größte Genauigkeit, deutet sich dabei sein Begriff der Gerechtigkeit an, den er im Benjamin-Vortrag ja als Gerechtigkeit
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ohne Recht bezeichnet hat: „Aber bemühen wir uns, genauer – und gerechter zu sein.“ (2002, 321) Will man einer Angelegenheit gerecht werden, so die dekonstruk‐ tive Annahme, muss man sie möglichst genau betrachten, und zwar so lange, bis man alle Aporien entborgen hat – und was anderes bleibt nicht. Allerdings darf man zwei Einwände dagegen anführen: Erstens, verfließt nicht die Genauigkeit im Unendlichen, je weiter man den Gegenstand zerlegt? Zweitens könnte die Gerechtigkeit nicht sogar in der Unschärfe liegen? Wie fragt doch Witt‐ genstein: „Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – ‚Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?‘ – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein un‐ scharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ (1971, Nr. 71, 50) Oder ist Derrida Wittgenstein doch nicht so fern, wenn er feststellt, dass der Be‐ griff nie seinem Gegenstand entspricht? Dann gibt es für Derrida gleichfalls keine begriffliche Schärfe. Sind dann Dekonstruktion und différance Begriffe ‚mit ver‐ schwommenen Rändern‘? Oder gar keine Begriffe? So schreibt er: „Keine Politik hat jemals ihrem Begriff entsprochen. Kein politisches Ereignis kann mittels eines solchen Begriffs angemessen beschrieben werden.“ (2002, 161) Das gilt nicht nur für die Politik. Dann erfasst man Angelegenheiten notorisch unscharf und nicht ein‐ deutig. Dann hat Derridas Rede von Genauigkeit allerdings einen anderen Sinn. Gerecht wird man einer Angelegenheit nicht dann, wenn man sie genau erfasst, sondern dann, wenn man just deren Unschärfen nachgeht. Allerdings darf man wiederum einwenden, ob es möglich ist, Unschärfen genau zu verfolgen. Aber die Möglichkeit der Verfolgung bleibt und geht – das überrascht – von der Politik selbst aus. Denn Derrida schreibt: „Nirgends tritt diese Nichtübereinstimmung des Begriffs mit sich selbst deutlicher zutage als in der Ordnung des Politischen, gesetzt, dass diese Ord‐ nung oder vielmehr die Möglichkeit dieser Ordnung nicht geradezu den eigentlichen Ort, das Phänomen, den ‚Grund‘ der Nichtübereinstimmung eines jeden Begriffs mit sich selbst bezeichnet.“ (2002, 162) Dann gibt es zumindest einen engen Zusam‐ menhang zwischen der Politik und allen anderen Lebensbereichen, die verstanden und begriffen werden müssen, obwohl ihre Begrifflichkeiten ständig verschwimmen und sich verschieben, sich jede erreichte Klarheit sofort wieder eintrübt, wenn man noch genauer hinschaut. Das ist schließlich dann der Fall, wenn Polis und Kultur voneinander nicht ge‐ trennt werden können, was Platons Politeia demonstriert. Dann könnte sich Leo Strauss täuschen, für den die Philosophie der politischen Philosophie vorausgeht. Vielmehr wäre die politische Philosophie der Vorgänger der Philosophie oder die différance. Jedenfalls ist die Polis der Ort, an dem und über den notorisch unzuläng‐ lich nachgedacht wird, was Folgen für die Kultur nach sich zieht, die diesen Mangel
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nicht auszugleichen vermag, wiewohl das immer wieder unterstellt und versucht wird, wenn beispielsweise Heidegger oder Adorno die Kunst zum Ort erheben, wo einzig richtig gedacht wird. Aber selbst dort tritt die Ambivalenz, das Aporetische oder schlicht das Unzulängliche des Begriffs auf. Vielleicht könnte man die Dekon‐ struktion damit umschreiben, bemüht sie sich notorisch um das Differente im Be‐ griff, um die begrifflichen Selbstverständlichkeiten zu befragen, womit sie das be‐ griffliche Selbstverständnis erschüttern will. Das soll nach Derrida aber in keine Mystik einkehren: „Die Dekonstruktion (...) bleibt in meinen Augen ein unbedingter Rationalismus, der gerade im Namen der kommenden Aufklärung niemals davon abgeht, in dem zu eröffnenden Raum einer kommenden Demokratie argumentativ, durch rationale Diskussion, sämtliche Bedingungen, Hypothesen, Konventionen und Vorannahmen zu suspendieren (...).“ (2003 b, 191) Die Demokratie wird aus der Aporie und nicht der Identität geboren. Nicht nur weil Derrida der Freundschaft in der Politik sowohl historisch als auch in der Gegenwart eine wichtige Rolle attestiert – Aristoteles stützt die Polis auf die Freundschaft –, sondern weil sie ein Kulturphänomen ist, das philosophisch vielfäl‐ tig diskutiert wird, wirkt sich die dekonstruktive Unschärfe des Begriffs im Allge‐ meinen auch auf die Freundschaft aus, die zu dekonstruieren politisch erhellend wie hilfreich sein könnte. Derrida folgert: „So betrachtet könnte die Frage der Freund‐ schaft zumindest ein Beispiel oder ein Leitfaden für die beiden großen Fragen ‚de‐ konstruktiven‘ Typs, die beiden großen Fragen nach der ‚Dekonstruktion‘, sein. Die Frage der Geschichte der Begriffe und die einer trivialerweise so genannten Hege‐ monie des ‚Textuellen‘, die Frage der Geschichte tout court und die des Phallogo‐ zentrismus.“ (2002, 371) Die dekonstruktive Frage nach dem Text hintergeht nicht nur alle anderen Fragen, fokussiert sich hier der patriarchalische Logozentrismus. Dekonstruktion wirft auch einen Blick auf die Geschichte, genauer auf die Her‐ kunft. Dabei bedient sich Derrida des Wortes Genealogie, allerdings nicht in der Form wie es Nietzsche oder Foucault verwenden, sondern im landläufigen Sinn von Herkunft, die sich darin nicht erschöpft, sondern darüber hinaus weisen soll. „Wenn wir diese Erfahrung“, sagt Derrida, „(...) als ‚genealogische Dekonstruktion‘ be‐ zeichnen, so ist damit nicht länger, wie nur zu oft geschehen, ein Verfahren benannt, das sich in der Analyse, der Retrospektion, der genealogischen Rekonstruktion er‐ schöpfen würde.“ (2002, 155) Aber dieser Rückblick wird nicht ausgeschlossen, was man erwarten dürfte, wenn sich die Dekonstruktion schließlich nicht mit dem gängi‐ gen Geschichtsverständnis zufrieden geben wird. Selbstredend soll es übergangen werden. So schreibt Derrida weiter: „Es handelt sich vielmehr auch um eine Dekon‐ struktion des genealogischen Schemas, um eine paradoxe, zugleich genealogische und a-genealogische Dekonstruktion des Genealogischen selbst.“ (2002, 155) Die Dekonstruktion der Genealogie verleiht dieser erst ihren eigentlichen Sinn, der sich eben nicht im Genealogischen, also Herkünftigen erschöpft, sondern die
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Genealogie als solche in Frage stellt. Damit wird Derrida ins Herz des späteren Iden‐ titären treffen, in alles völkische oder nationale Verständnis. Derart betont Derrida den politischen Sinn der Dekonstruktion: „Ihr bevorzugter Gegenstand wäre daher ihr Attribut, das Genealogische – wo immer es seine Herrschaft im Namen einer Ge‐ burt und einer nationalen Natürlichkeit geltend macht, die nie das gewesen sind, was zu sein man von ihnen behauptet hat.“ (2002, 155) Die Dekonstruktion hintergeht jede Vision von natürlicher Gegebenheit, wie sie der Rassismus behauptet. Das wäre zwar keine Heldentat, zumindest aber eine Klarstellung.
5. Von der Schrift zum Programm und darüber hinaus Dekonstruktion überschreitet die Kritik, so dass die Begriffe des Politischen un‐ scharf werden. Aber in welche Richtung weist das die Dekonstruktion? Wird sie apokalyptisch, wie es seit der frühen Neuzeit in den modernen Wissenschaften und heute umso mehr eine Modeerscheinung ist? Man denke an Jonas, Latour und Ma‐ son. Derrida kann 1967 auf viele aktuelle Entwicklungen verweisen, bei denen die Schrift eine immer größere Rolle spielt – es ließe sich ergänzen: die gesprochene Sprache unterwandert, prägt und lenkt – und indirekt der Aversion Saussures weitere Nahrung anliefert. Denn mehr noch als die gesprochene Sprache prägt die Schrift die Wirklichkeit, entfaltet sie eine massive hermeneutische Macht, lässt sie performativ die Welt verstehen: „Ebenso gut könnte man von einer athletischen Schrift sprechen und, in Anbetracht der Techniken, die heute dieses Gebiet beherrschen, mit noch größerem Recht von einer Schrift des Militärischen oder des Politischen“. (1983, 21) Das Militärische wie das Politische erklären die Welt, geben sie zu verstehen, prägen damit das, was man unter Welt versteht. Die Schrift des Politischen ist beispielswei‐ se das Gesetz, die des Militärischen unter anderem der Aufklärungssatellit oder das Navigationssystem von Drohnen: „all das mit dem Ziel, nicht nur das Notationssys‐ tem, das diesen Tätigkeiten sekundär zugeordnet ist, sondern auch das Wesen und den Gehalt der Tätigkeiten selber zu beschreiben.“ (1983, 21) Wenn Hegel 1820 im Vorwort zur Rechtsphilosophie behauptet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (1970 a, 24); dann müsste man das grammatologisch folgendermaßen umformulieren: was aufgeschrie‐ ben ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist aufgeschrieben. Das gilt umso mehr im Zeitalter der Digitalisierung, schreibt Derrida weiter: „Im Hinblick auf die elementarsten Informationsprozesse in der lebenden Zelle spricht auch der Biologe heute von Schrift und Pro-gramm.“ (1983, 21) Im Wort Programm steckt explizit das gramma, also der Buchstabe. „Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich – ob ihm nun wesensmäßig Grenzen gesetzt sind
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oder nicht – ein Bereich der Schrift sein.“ (1983, 21) Der Algorithmus, der heute in aller Munde ist und die digitale Welt hintergründig lenkt, ist eine Handlungsvor‐ schrift aus mehreren Einzelschritten und dient damit einem Programm. Es kann sich um ein Thermostat einer Heizung handeln oder die Flugabwehr bedient sich seiner, um für eine kurze Zeit die Flugbahn von Flugzeugen vorauszuberechnen – Norbert Wiener, John von Neumann und Claude Shannon sahen sich damit konfrontiert – die Geburtsstunde der Digitalität. Darum ging es rund 25 Jahre vor der Grammatologie. Derrida trifft mit seiner Theorie der Schrift ins Mark der späteren digitalen Ge‐ sellschaft. Ob als Algorithmus oder als bewegtes Bild, also als piktographische Schrift, die Digitalisierung bindet die Zeitgenossen an ihre Bildschirme – unterstützt durch Audioprogramme, die dionysische, also rauschhafte Effekte entfalten. Diese Entwicklung hat Galilei auf den Weg gebracht, indem er die Mathematik zur Grundlage der Naturwissenschaft macht. „Die Natur (...) ist in mathematischer Sprache geschrieben“ (1983, 32), zitiert Derrida Galilei. Damit unterstellt er, dass al‐ les in der Natur einen quantitativen Index hat, sich die Natur also berechnen lässt. Damit will Galilei die Natur erfassen, wie sie ist, also nicht etwa subjektiv gebro‐ chen. Der Weg bis zur Kybernetik ist zwar noch weit, aber Derrida weist daraufhin, dass mit der Mathematisierung der Naturwissenschaften diese vor allem verschrift‐ licht werden. „Innerhalb der Kulturen mit phonetischer Schrift“, schreibt Derrida, „ist die Mathematik mehr als nur eine Enklave. Auf diesen Umstand weisen alle Schrifthistoriker hin und erinnern gleichzeitig an die Unzulänglichkeiten der alpha‐ betischen Schrift, die für so lange Zeit als die bequemere und die ‚intelligentere‘ Schrift galt.“ (1983, 22) Das Programm der künstlichen Intelligenz besteht aus Schrift und ist dabei, die menschliche zu überholen. Rechnen, was sich im Kopf gar nicht mehr rechnen und was sich vokal schon gar nicht mehr sagen lässt, das ermög‐ lichen nichtlineare Gleichungen, die komplexe Zusammenhänge darstellen. Die Schrift tritt an die Stelle der Sprache und symbolisiert, was sich gar nicht sagen lässt, was schon längst kein Problem einer Homophonie wie bei der différance ist. So schreibt Derrida weiter: „Diese Enklave ist auch der Ort, wo die Praxis der wis‐ senschaftlichen Sprache von innen her und immer radikaler das Ideal der phoneti‐ schen Schrift und die ganze ihr implizite Metaphysik (die Metaphysik) in Frage stellt, das heißt insbesondere die philosophische Idee der episteme.“ (1983, 22) Natürlich kann man die Relativitätstheorie Einsteins erzählen. Aber erfasst man sie damit? Bleibt sie nicht immer nur eine Rechnung, während der philosophische Begriff sie notorisch verfehlt? Ist das nicht das Geschick der Metaphysik überhaupt? Aber was weiß man, wenn man die Relativitätstheorie nachrechnen kann? Das lässt sich nur rechnen, nicht mehr sagen, nur noch metaphysisch umschreiben, präsentiert sich die gesprochene Sprache insofern als strukturell metaphysisch.
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Diese Sachlage demonstriert Derrida in einem anderen Zusammenhang. Wenn Metaphysik nur noch als Erzählung verstanden werden kann, dann tritt an die Stelle ihres Ernstes die Ironie des Spiels „Die Heraufkunft der Schrift“, so die Grammato‐ logie, „ist die Heraufkunft des Spiels.“ (1983, 17) Die Schrift, die zunehmend von der Mathematik beherrscht wird, entwertet die Bedeutung der Metaphysik, die ihren Ernst verliert und damit gewisse spielerische Züge annimmt. Das hat weniger inhaltliche Hintergründe, wenn die ‚großen Erzählungen‘ an Überzeugungskraft verlieren, als vielmehr strukturelle, semiotische, genauer gram‐ matologische: „heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können,“ (1983, 17) verschwimmen durch die différance die Unterscheidungen zwischen Zeichen, Signi‐ fikat und Signifikant, verschieben sie sich ständig oder schieben sich gegenseitig auf. So spielt er in seinem Vortrag No Apocalypse, not now selbst mit den Verschie‐ bungen der Signifikanten: „Ich wähle also (...) die rhetorische Gattung oder Form kleiner Atomkerne (im Verlauf einer Spaltung oder Teilung als ununterbrochene Kettenreaktion), die ich anordnen werde oder vielmehr die ich Ihnen entgegen‐ schleudern werde, als kleine inoffensive Missiles.“ (1985 b, 97) Der Aufschub eröffnet das Spiel, das die Metaphysik in geschwächter Form noch etwas aufrechtzuerhalten erlaubt. So übernimmt das Spiel die Rolle der Metaphysik – so die Grammatologie –, „indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfassten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten.“ (1983, 17) Wenn die Signifikate in Signifikanten auslaufen, dann bleibt vom Sinn von Sein nur noch das Ereignis übrig und selbst das vermag kein Zeichen mehr zu setzen. So schreibt Vladimir Jankélévitch 1964, also wenige Jahre zuvor: „Ironie ist die Macht zu spielen, sich in die Lüfte aufzuschwingen, mit den Inhalten zu spielen, entweder um sie zu verleugnen oder um sie neu zu schaffen.“ (2012, 18) Metaphysische Ord‐ nungen erhalten spielerischen Charakter, verfallen der Beliebigkeit. So gipfelt Derridas Verbindung zwischen Schrift und Spiel in den Worten: „Strenggenommen läuft dies auf die Destruktion des Begriffs ‚Zeichen‘ und seiner ganzen Logik hinaus.“ (1983, 17) Derrida bezieht sich dabei nicht auf Wittgenstein. Aber dessen Sprachspiel gesellt sich zu diesem Trend, müsste sich die Linguistik ei‐ gentlich wieder auflösen, erhält dadurch jedenfalls einen spielerischen Charakter. Derrida spricht denn damit nicht zu Unrecht nicht nur von der „Inflation des Zei‐ chens“, sondern von einer Krise der Sprache, die weniger die Sprache selbst als die Metaphysik erschüttert, die sich auf ein bestimmtes Verständnis von Sprache ver‐ steift. Solcherart Begehren scheitert nicht allein „weil alles, was die Begierde dem Spiel der Sprache entreißen wollte, sich von diesem wieder erfasst sieht,“ (1983, 16) wenn sich Signifikate in Signifikanten verschieben und dadurch nicht nur ihre se‐ mantische Kraft verlieren, „sondern auch deshalb, weil davon zugleich die Sprache
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selbst in ihrem Leben bedroht wird, aus den Fugen gerissen und entwurzelt zu wer‐ den droht, wo ihre Grenzen wegfallen,“ (1983, 16) wenn die mathematische Schrift hegemoniale Züge entwickelt und sich die gesprochene Sprache dagegen nicht mehr zu Wehr setzen kann, und wo die Sprache „auf ihre eigene Endlichkeit in gerade dem Augenblick zurückgeworfen wird, wo ihre Grenzen zu weichen scheinen, wo sie ihrer selbst nicht länger gewiss sein kann, gehalten und eingesäumt vom unendli‐ chen Signifikat, das über die Sprache hinauszugehen schien“ (1983, 16), wenn die Semiotik die Sprache durch Zeichen ersetzt, somit die Natur selbst zur Sprache wird, so dass die Sprache einerseits beschränkt wird, andererseits über diese Beschränkun‐ gen hinaus verfließt, weil sich gar nicht mehr bestimmen lässt, wo die Sprache auf‐ hört und die Schrift oder die Zeichen beginnen. So konstatiert Umberto Eco 1976: „Ich möchte vorschlagen, alles Zeichen zu nennen, was (..) als etwas aufgefasst wer‐ den kann, das für etwas anderes steht.“ (1987, 38) Selbst wenn sich Derrida von der Linguistik distanziert, gibt es nicht nur viele Nähen, vielmehr trägt er wesentlich zum von Rorty so benannten linguistic turn bei. Wenn Derrida der Sprache die Schrift zugrundlegt – was keinesfalls als ein kausa‐ les Verhältnis gedacht werden darf, auch nicht als ein historisches, sondern als ein genealogischer Zusammenhang im Sinne von Nietzsche verstanden werden muss, dass etwas nur nachvollzogen werden kann, wenn man es aus etwas ganz anderem heraus versteht – dann eröffnet das einen anderen Blick auf die Kulturgeschichte, ja sogar auf die Anthropologie. Derrida: „Es scheint so, als ob das, was man Sprache nennt, in seinem Ursprung und an seinem Ende nur ein Moment (...) oder eine Art der Schrift sein könnte; und nur im Verlaufe eines Abenteuers (...) konnte es diese Tatsache vergessen machen, das heißt, auf eine falsche Spur bringen.“ (1983, 19) Das überschreitet freilich das genealogische Muster im Sinn von Nietzsche; denn es diagnostiziert eine Bemühung, diesen genealogischen Prozess zu verbergen. Die Schrift bedroht weiterhin das Primat der gesprochenen Sprache, die erstere nicht hinter sich lassen kann, wie nach Nietzsche das Christentum die antiken Werte – und auch dabei darf man fragen, ob diese nicht ebenfalls weiterhin unterschwellig boh‐ ren. Dann beschränkt sich die Genealogie denn auch weniger auf einen historischen Prozess als dass sie überall und ständig funktioniert: die erweiternde Differenz der Verschiebung und des Aufschubs. Trotzdem blickt Derrida auf eine Geschichte, wenn er weiterschreibt: „Im ganzen gesehen währte dieses Abenteuer nicht sehr lange. Man könnte sagen, dass es mit der Geschichte eins wird, welche die Technik und die logozentrische Metaphysik seit nahezu drei Jahrtausenden miteinander verbindet, und dass es sich jetzt seiner eigenen Erschöpfung nähert, von der wir nur ein Beispiel erwähnen wollen: den Tod der Buchkultur, von dem so viel die Rede ist und der sich vor allem in der konvulsi‐ vischen Wucherung der Bibliotheken offenbart.“ (1983, 19) Hier hat sich Derrida wohl getäuscht. Die Buchkultur schreibt sich fort und gelesen wird wahrscheinlich
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noch mehr als früher. Aber das Buch ist nicht mehr die Basis der Kultur. Als es das war, beschränkte diese sich auf das Abendland. Das Programm, das aus Algorithmen besteht, ersetzt nicht nur die phonetische Schrift, sondern bringt eine intensive Glo‐ balisierung auf den Weg, die die gesprochene Sprache nur noch am Rande braucht. Und Derrida kann es nicht lassen, dem späteren und wahrscheinlich auch dem da‐ maligen Zeitgeist gemäß in der Einleitung der Grammatologie unter dem Titel Devi‐ se auf eine apokalyptische Geste zurückzugreifen – in vielen seiner Formulierungen hallt dieser Ton bis heute nach: „Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich. Sie ist das, was mit der konstituierten Normalität voll‐ ständig bricht und also nur in Gestalt der Monstruosität sich kundtun, sich präsentie‐ ren kann.“ (1983, 15) Aber könnten nicht Dekonstruktion und erweiternde Diffe‐ renz, also die différance, einen Ausweg aus dem apokalyptischen Zeitgeist anwei‐ sen? Könnten Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie entgegen dem Zeitgeist und natürlich in einer völlig anderen Perspektive, vor allem keiner utopi‐ schen, Ernst Blochs Prinzip Hoffnung wieder aufleben lassen?
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III. Teil: Nationalismus, Marxismus und Emanzipation
Die Dekonstruktion gibt sich mit Analyse oder Genealogie nicht zufrieden. Ange‐ sichts einer ‚wahren Welt‘, die zur ‚Fabel‘ wurde, wenn sich epistemologische Si‐ cherheiten grammatologisch im Unendlichen verlieren, bleibt nichts anderes, als die Welt dekonstruktiv zu verstehen, als eine die sich in unendlichen Informationen, ma‐ thematischen Sprachen und ständig auftauchenden Aporien verliert. Das bleibt nicht ohne Folgen für Derridas Staatsverständnis wie für seine politi‐ sche Philosophie, was sich ja bereits in seiner Benjamin-Interpretation andeutet. Da‐ raus ergibt sich die Frage: Worauf stützt sich die Politik jenseits der Gewalt, die sich im Recht konfiguriert und in der Sprache fortschreibt? Im Mai 1990, also kurz nach dem Vortrag über Benjamin, hält Derrida auf einem von Gianni Vattimo in Turin veranstalteten Kolloquium über Die kulturelle Identität Europas den Vortrag Das andere Kap – Erinnerungen, Antworten und Verantwor‐ tungen. Darin stellt er die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas und KarlOtto Apel in Frage, nach der sich Politik auf öffentliche Kommunikation stützt, die sich als ein vernünftiger Diskurs generiert, der Konsens herstellen soll. Dieser als paradigmatisch vorgestellte Diskurs der Moderne diskreditiert alle sprachphilosophi‐ schen Bemühungen, der Komplexität von Diskursen nachzugehen und diese Kom‐ plexität nicht zu reduzieren. Just darum bemüht sich schließlich die Dekonstruktion. So bemerkt Derrida: „Unter anderem aus Sorge um solche Formen der Verdächti‐ gung und der Unterdrückung wären bestimmte rhetorische Regeln zu untersuchen, die die analytische Philosophie und den in Frankfurt als ‚Transzendentalpragmatik‘ bezeichneten Diskurs beherrschen. Die Sprachmodelle, die diesen Regeln zugrunde liegen, stellen auch institutionelle Machtfaktoren dar, die nicht auf den angelsächsi‐ schen oder den deutschen Raum beschränkt sind. (1992 b, 42) Politik auf einen ra‐ tionalen Diskurs zu stützen, organisiert keine Freiheit, sondern einen Zwang, mag sich dieser auch als zwanglos präsentieren – eine Argumentationsstruktur, die nicht erst bei Rousseau auftaucht, wenn der Gesetzgeber für sich beansprucht, den Ge‐ meinwillen zu verkörpern und damit auch den wahren, nicht egoistischen Indivi‐ dualwillen, so dass die Gemeinschaft berechtigt ist, das Leben der Menschen „einzu‐ fordern, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu befragen“ (1977, 19). Dieses Muster der Politik beherrscht das 19. und das 20. Jahrhundert und ist auch heute im Zeichen eines wiedererstarkten Nationalismus nicht verschwunden. Die di‐ versen Emanzipationsbewegungen der Juden, der Arbeiter, der Farbigen, der Frauen und zwischenzeitlich zahlloser Minderheiten verkörpern dazu weitgehend das Ge‐
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genmodell. Hier liegt die große soziale Konfliktlinie, die sich längst interkulturali‐ siert und globalisiert. (vgl. Schönherr-Mann 2017 a, 37)
8. Kapitel: Politik der Freundschaft? Gegenüber einem Modell des Allgemeinwillens, den immer eine Elite durchsetzen muss, findet sich in der Tradition der Philosophie besonders bei Aristoteles ein ande‐ res wiewohl abwegiges, weil kaum berücksichtigtes Modell, das der Politik zugrun‐ de liegt, nämlich die Freundschaft, mit der sich Derrida im Laufe der achtziger Jahre in verschiedenen Seminaren und Symposien auseinandersetzt, aus denen dann der umfängliche Band Politik der Freundschaft entsteht, der 1994 erscheint und gegen dessen Titel Susanne Lüdemann einwendet: „Der deutsche Titel ist insofern unge‐ schickt gewählt, als er den Plural des französischen Titels ‚Politiques de l’amitié‘ / ‚Politiken der Freundschaft‘ unterschlägt und ihn auf den monolithischen Singular der einen Politik reduziert.“ (2011, 141) Den Geist des Suhrkamp-Verlages durch‐ herrscht aber nun mal die analytische Philosophie. In gewisser Hinsicht lässt sich dieser Text als Derridas politikphilosophisches Hauptwerk bezeichnen, mit dem er jenseits von Tradition und Mainstream ein ande‐ res Verständnis von Politik und Demokratie entwickelt. Dabei dekonstruiert er den langen Diskurses über die Freundschaft, der sich von Aristoteles und Cicero über Montaigne, Kant, Nietzsche, bis zu Schmitt, Bataille und Maurice Blanchot zieht. Implizit formuliert sich hier die Grundfrage der Politik: Kann man in postmodernen Gesellschaften Politik auf die Freundschaft stützen? Ja, muss man das sogar? Dagegen weit verbreitet und Grundlage monarchischer Politik ist das Familien‐ modell, das sowohl demokratisch als auch sozialistisch mit der Vision der Brüder‐ lichkeit fortgeschrieben wird. Doch schon Platon erkennt, dass die Familie in der Politik Loyalitätskonflikte nach sich ziehen kann und lässt in der Politeia den zwei‐ ten Stand der Wächter kollektiv, aber ehelos leben. Die Politik wird von der Weis‐ heit gestaltet, was Platon selbst schon in seinem Spätwerk Nomoi relativiert. An die Stelle der Weisheit setzt Aristoteles dann die Klugheit und in der Polis soll die Familie durch die Freundschaft in Schranken gehalten werden. Denn um die Po‐ lis zu stabilisieren, sollten die Bürger miteinander befreundet sein, was in der Antike der Liebe nicht so fern stand, war ja schließlich die Liebe mit dem gleichen Ge‐ schlecht nicht nur weit verbreitet, vor allem öffentlich geachtet, wenn diese nicht so‐ gar höher geschätzt wurde, eine Liebe, die zugleich aktiv und passiv war.
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1. Freundschaft als Bedingung der Demokratie In den öffentlichen Angelegenheiten, jenen der Polis, also in der Politik kommt es nach Aristoteles darauf an, dass der Bürger aktiv wird. Bezogen auf seine Mitbürger bedeutet das, dass es besser ist, aktiv zu lieben, als sich passiv lieben zu lassen und zwar in einem weiten Sinn. Denn das hat für Derrida eine klare politische Implikati‐ on: „Aristoteles erklärt also, dass es der Freundschaft besser ansteht zu lieben als ge‐ liebt zu werden. Verlieren wir nicht den allgemeinen Horizont dieser Behauptung aus dem Auge. Es geht um die Gerechtigkeit und es geht um die Politik.“ (2002, 26) Wie am Anfang von Platons Politeia, wenn der alte Kephalos erklärt, dass Alter und Reichtum die Tugend der Gerechtigkeit fördern, nämlich gegenüber jedermann sich gerecht zu verhalten, dienen Liebe und Freundschaft dazu, in der Polis gerechte Ver‐ hältnisse zu schaffen. Denn die Freundschaft erleichtert es, sich gerecht gegenüber seinen Mitmenschen zu betragen und umgekehrt fördern gerechte Verhältnisse die Freundschaft. Nach Derrida bedient sich Aristoteles dabei des Wortes philia, mit dem er ver‐ schiedene Dimensionen der Freundschaft erforscht. Seine beiden Ethiken, die Eude‐ mische wie die Nikomachische, liest Derrida als Diskurse über die Freundschaft: „Seine eigene Sprache musste letztlich auf ein und dasselbe Wort zurückgreifen, philia, um ganz unterschiedliche (...) Bedeutungen in ihm zu fassen.“ (2002, 309) Sowohl für Aristoteles als auch für die Tradition der späteren politischen Philoso‐ phie gibt es keinen selbstverständlichen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Politik. Aber Aristoteles hat entgegen der Philosophie seiner Zeit die Freundschaft und die Politik eng miteinander verknüpft: Nur Tiere und Götter können alleine le‐ ben. Die Menschen brauchen die Freundschaft, um zusammenzuleben, so dass die Freundschaft auch umgekehrt nur den Menschen eignet, eben nicht den Göttern und auch nicht den Tieren. In der Politik mindert die Freundschaft Konflikte, schreibt doch Aristoteles: „Wo Freunde sind, da bedarf es keiner Gerechtigkeit, aber die Ge‐ rechten brauchen die Freundschaft dazu, und beim Gerechten ist das Gerechteste dasjenige unter Freunden.“ (1972, 1155 a 27, 232) Derrida möchte eine solche Ver‐ bindung neu generieren. Damit eröffnet sich die Perspektive des Politischen, insistiert Aristoteles schließ‐ lich darauf, „dass der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist.“ (1973, 1253 a3, 49) Derart „hat sich gezeigt, dass es die Herstellung (Hervorbringung, Er‐ zeugung etc.) der größtmöglichen Freundschaft ist, auf die das Werk des Politischen der eigentlich politische Akt, die eigentlich politische Operation ausgerichtet sind. Kraft (...) dieses telos scheinen Freundschaft und Politik ihrem Ursprung und Zweck nach aneinander gebunden.“ (Derrida 2002, 267) Die Freundschaft entwickelt sozia‐ le Bindungen, die wiederum zu ihrer Stabilisierung einer politischen Organisation bedürfen.
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An sich beruht die Freundschaft nach Aristoteles grundsätzlich auf der Gleich‐ heit. Doch es gibt keine durchgängige Reziprozität. Denn Freundschaft kann auch in ungleichen Verhältnissen vorkommen, wenn einer der beiden dem anderen überle‐ gen ist, wie beispielsweise zwischen Vater und Sohn, Gatte und Gattin, Regierendem und Regiertem. Also auch in hierarchischen Beziehungen spielt die Freundschaft eine Rolle, in einer hierarchischen Politik, nicht nur in einer demokratischen unter einander gleichen Bürgern. Das gilt sogar an einem Extrem, was heute kein philosophisches Problem mehr wäre, weil es in die Kategorie der Strafverfolgung gehörte wie der sexuelle Miss‐ brauch von Kindern oder die Sklaverei, was in der Antike eine völlig andere Bewer‐ tung erfuhr. So bemerkt Derrida: „Wäre er nichts als ein Werkzeug, so gäbe es dem Sklaven gegenüber keine Freundschaft. Aber das beseelte Werkzeug ist zugleich ein Mensch; und nach allgemeiner Auskunft gibt es etwas Gerechtes, ein Gerechtig‐ keits- oder Rechtsverhältnis zwischen allen Menschen, das heißt zwischen Wesen, die fähig sind, an einer durch Gesetz (nomos) und vertragliche Übereinkunft (synthe‐ ke) geregelten Gemeinschaft teilzunehmen (koinonesai), durch Konvention überein‐ zukommen.“ (2002, 265) Es gibt zwar keine Gleichheit, trotzdem stellt sich zwi‐ schen Ungleichen die Frage der Gerechtigkeit, auch gegenüber Sklaven, Frauen, Kindern. Derrida schreibt weiter: „Wenn Aristoteles also sagt, man könne dem Sklaven als einem Menschen Freundschaft entgegenbringen, dann spricht sich darin der systemi‐ sche Zusammenhalt einer ganzen Reihe untrennbarer Begriffe aus: Die Freundschaft (philia), der Mensch (anthropos), die Seele (psyche), das Rechte und das Gerechte (dikaion), das Gesetz (nomos) und der Vertrag (syntheke).“ Denn von diesen vor al‐ lem rechtsphilosophischen Begriffen sind alle Zeitgenossen betroffen, unabhängig von ihrer sozialen Position. Dann verbindet die Freundschaft nicht nur Gleiche, son‐ dern auch Ungleiche, trägt damit zur politischen wie sozialen Stabilisierung bei. So kann Derrida feststellen: „Die Freundschaft wäre demnach ursprünglich und durch und durch politisch.“ (2002, 268) Die Freundschaft könnte also in jedem Regime nützliche Dienste leisten, was ja auch der Fall ist. Natürlich hat die Freundschaft einen höheren oder reineren Grad unter Ebenbürti‐ gen, also unter Gleichen, die größere Gemeinsamkeiten miteinander teilen als jene, die sich in einer hierarchischen Beziehung befinden. Mit der Gattin kann man nicht in derselben Form befreundet sein wie mit dem Mitbürger. Trotzdem stärkt die Freundschaft die Beziehung zwischen den Bürgern wie ihr Verhältnis gegenüber ihrer Familie, die noch nicht wie heute durch eine Liebesbeziehung zwischen den Eheleuten eine innere Dynamik entfaltet. Durch die Freundschaft werden die Bürger auf die Polis bezogen, die unter bestimmten Umständen ihrerseits die Freundschaft fördert. Denn wie weit sich die Freundschaft ausbreiten kann, hängt von der Art der politischen Herrschaft ab. „Da es“ nach Derrida „unter Gleichen mehr Gemeinsames
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gibt und die geteilte Gemeinschaft in höherem Maße das Gesetz, den Vertrag, die Übereinkunft einschließt, ist die Demokratie der Freundschaft förderlicher als die Tyrannis. Das Verhältnis zwischen Vater und Kind ist königlich oder monarchisch, das zwischen Mann und Frau aristokratisch.“ (2002, 265) Demokratie gibt es nur zwischen Gleichen wie umgekehrt die uneingeschränkte Freundschaft auch. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum die Tyrannis der Freundschaft weniger förderlich erscheint als die Demokratie: Die Freundschaft stellt nämlich nicht nur eine Verbindung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit her. Vielmehr ist Freundschaft nur auf der Grundlage von Tugend und Vernunft möglich. Man könnte beinahe daraus folgern, dass es bei der Mafia keine Freunde gibt – und wenn, dann durchbricht diese Freundschaft als Tugend die mafiösen Gewaltverhältnisse. Sie müsste dazu führen, dass sich die Freunde aus der Mafia lösen. Das gilt für Nazis und verwandte Orientierungen gleichermaßen: Ohne Tugend keine Freundschaft. Damit zeichnet sich ab, dass die Freundschaft bei Aristoteles eine völlig andere Struktur hatte als heute, wenn Freundschaft primär eine private Angelegenheit ist, die man weniger auf Tugend als auf Übereinstimmung stützt. Oder sind das keine Freundschaften? Derart entfaltet Freundschaft, die sich auf Tugend gründet, immer einen öffentli‐ chen Bezug, heißt es in Ciceros Schrift Über die Freundschaft aus den Jahren 45/44 v. Chr.: „Wir dürfen Freunde nur um sittlich Gutes bitten und um der Freunde willen nur sittlich Gutes tun.“ (1927, 38). Daher kann sich Freundschaft nicht in blinder Gefolgschaft realisieren. Freundschaft gibt es nur dann, wenn diese Art von Gefolg‐ schaft gar nicht möglich ist und vor allem auch nicht nötig. „Freundschaft“, so Der‐ rida, „kann es nur zwischen Ehrenmännern geben, Cicero wiederholt es beharrlich. Sowenig Vernunft und Tugend privat sein können, so wenig können sie mit der res publica in Konflikt geraten. Die fraglichen Begriffe von Tugend oder Vernunft sind von vornherein auf den Raum des Staats- und Gemeinwesens zugeschnitten.“ (2002, 251) So spricht man überall dort, wo die Gewalt wichtiger ist als die Moral, also beim Militär und bei den Faschisten von Kameradschaft, bei den Kommunisten vom Genossen, jedenfalls nicht von der Freundschaft. Als Schiller und Hölderlin die Freundschaft besangen, lag die an der Ethik orientierte Aufklärung in den letzten Zügen und die zunehmend die Gewalt verherrlichende Romantik erlebte gerade ihren Take-off. Eine Wiederkehr der Freundschaft als politischer Tugend, um die es Derrida geht, kann sich also durchaus auf eine nähere Vergangenheit als die Antike berufen. Trotzdem muss sie die unmittelbar zurückliegende und noch nachwirkende Orientierung an Gewalt, Gehorsam und Autorität hinter sich lassen. Die Freundschaft beherbergt für Derrida dabei noch einen anderen Aspekt, der im Zentrum seines politischen Denkens steht, nämlich den der Individualität und der daraus sich ergebenden konkreten Beziehung zum anderen Menschen in einer An‐ dersheit wie in einer Singularität, die nicht von der Gemeinschaft abhängen, nicht in
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dieser aufgehen und schon gar nicht von dieser unterdrückt werden dürfen. So kon‐ statiert Derrida: „Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität.“ (2002, 47) Also weder Freundschaft noch Demokratie unter totalitä‐ ren, identitären, nationalistischen wie religiösen Verhältnissen in Staat und Politik, also reinen Gewaltverhältnissen, die von keinen ethischen Anstrengungen moderiert bzw. gemildert werden. Derrida beruft sich mit der Andersheit des Anderen auf Lévinas‘ Vorstellung, dass man die Andersheit des Anderen strukturell nicht hinlänglich zu erfassen in der Lage ist, die es daher umso mehr zu achten gilt. Bereits 1964 schreibt Derrida über Lévinas, an dem er sich zeitlebens orientiert: „Jede Reduktion des Anderen (...) auf den Zustand eines empirischen alter ego ist (...) eine empirische Zufälligkeit, die man Gewalt nennt (...). Zur Ichheit des alter ego als seiner Andersheit selbst Zugang zu suchen, ist dagegen die friedlichste Geste, die es gibt.“ (1976 a, 193) Allerdings schränkt er ein, dass es sich dabei nicht um eine absolute Geste handeln kann. So kritisiert Burkhard Liebsch Derrida, dass er damit keine souveräne Selbstheit aner‐ kennt, die es in der Politik allerdings gerade braucht. Liebsch schreibt: „Bei Derrida verfallen vielmehr die Selbstheit (ipséité) und die Souveränität im gleichen Zug einer sie geradezu vernichtenden Kritik, die zu besagen scheint: es gibt überhaupt keine souveräne Selbstheit.“ (2015, 372) In der Tat könnte es diese nach Lévinas nur in einer morallosen Politik geben. Individualität kann sich auch für Derrida nicht auf sich selbst stützen, sondern wird immer durch den Anderen aufgegeben, so dass sie selbstredend weder souverän noch unbedingt sein kann. Die Freundschaft bürgt andererseits dafür, dass es durchaus eine Gemeinschaft gibt, allerdings eine von Freunden, nicht eine von Kameraden oder Genossen. Und wie diese Gemeinschaft der Freunde die Andersheit des Anderen in den Vordergrund schiebt, so beruht sie ebenfalls auf der Gleichheit der Befreundeten. Derrida schreibt weiter: „Aber auch keine Demokratie ohne ‚Gemeinschaft der Freunde‘ (...), ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, (...) und unter‐ einander gleiche Subjekte.“ (2002, 47) Die rechtliche Gleichheit, die Gleichberechti‐ gung ist also für die ausdifferenzierte Freundschaft wie die Demokratie unabdingbar, eine notwendige Bedingung, keine hinreichende. Dazu bedarf es der Anerkennung der Andersheit. Doch das erweist sich als eine komplexe Angelegenheit. Denn mit der Andersheit des Anderen kehrt eine gewisse Unsicherheit in die Politik ein. Man wird es dann ständig mit Überraschungen zu tun haben, mit anderen Menschen, deren Aktivitäten nicht prognostizierbar sind, die sich jeder Berechnung und auch einer schlichten Er‐ wartung entziehen. „Gibt es“, fragt Derrida, „ein anderes Denken der Berechnung und der Zahl, eine andere Weise, die Universalität des Singulären zu fassen, die oh‐ ne die Politik dem Unberechenbaren preiszugeben, den alten Namen Demokratie noch rechtfertigt?“ (2002, 154) Natürlich haben Singularität, Individualität, Alterität
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und Andersheit als solche eine universelle Bedeutung. Jeder Mensch ist einzigartig, ist anders, kommt mit ihm etwas Neues in die Welt, wie es Hannah Arendt entwor‐ fen hat und sie bemerkt: „Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz.“ (2002 b, 343) Keine andere Staatsform, nur die Demokratie kann diesem Anspruch gerecht wer‐ den, wird sie schließlich auch von totalitären Regimen wie Bewegungen gemeinhin unterdrückt. Dann verschieben sich die gängigen Kategorien, mit denen Demokratie seit der Glorious Revolution und der Französischen Revolution verbunden werden, fragt Derrida weiter: „Wird es auch dort noch sinnvoll sein, von Demokratie zu spre‐ chen, wo es nicht mehr (zumindest nicht im Wesentlichen und nicht konstitutiv) um das Land, die Nation, ja selbst den Staat und den Staatsbürger, anders gesagt: zumin‐ dest nach Maßgabe der überkommenden Bedeutung dieses Wortes nicht mehr um Politik ginge?“ (2002, 154) Denn wenn sich Demokratie auf die Freundschaft stützt, dann verblassen diese modernen Begriffe der Nation und des Staatsbürgers. Erstere reduziert sich auf ein Zufallsprodukt, letzterer kann sich auch in keinem Stand mehr verstecken. Ja, verschiebt sich dann sogar das Verständnis von Politik, wie es sich in der modernen Tradition gebildet hat, wenn es dabei um staatliche Aktivitäten geht, an denen die Betroffenen selber kaum einen gestalterischen Anteil haben, denen sie vielmehr weitgehend hilflos ausgeliefert sind, wenn Platon weiterhin recht hat, der Sokrates rhetorisch fragen lässt: „Und besteht nicht die Besonnenheit für den großen Haufen in dergleichen vornehmlich, dass sie den Herrschenden unterwürfig sind, selbst aber auch herrschen über ihre Lust an Speise und Trank und an den Liebessa‐ chen?“ (1958, 389 d 123) Derrida beginnt seine Politik der Freundschaft mit einer Reflexion über einen Satz, den Diogenes Laertius Aristoteles zuschreibt und den Montaigne in den Essais zitiert: „O meine Freunde, es gibt keinen Freund.“ (zit. Derrida 2002, 17). Er heißt bei Montaigne im Essay Über die Freundschaft: „O mes amis, il n’y a nul amy.“ (zit. Derrida 2002, 18) Gibt es keine Freunde, weil niemand die Ansprüche der Freund‐ schaft erfüllen kann? Eine andere der sich ergebenden Fragestellungen zielt im Anschluss an Aristote‐ les darauf, dass man nicht unendlich viele Freunde haben kann. So fragt Derrida: „Wo sitzt die grammatische Ungewissheit in der ‚Konstruktion‘ des Textes von Dio‐ genes Laertius? (...) Wer zu viele Freunde hat, der hat keinen.“ (2002, 281) Man kann nicht beliebig viele Freundschaften pflegen. Es kann keine große allgemeine Freundschaft in der Polis geben, bei der sich alle zu jedermanns Freund erklären lassen wie bei Facebook. Dessen war sich schon Aristoteles bewusst. Nach Derrida „sollten wir festhalten, dass Aristoteles nicht eine bestimmte Zahl fordert, sondern eine Zahl, die sich in gewissen Grenzen hält (...). Goldene Mitte, Mäßigung, rechtes Maß.“ (2002, 286) Allerdings schränkt Aristote‐ les dieses Prinzip hinsichtlich der Polis auch wiederum ein. Die politische Freund‐
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schaft der Bürger ist von niederer Qualität, dreht es sich bei ihr primär um Nützlich‐ keit und erhebt daher keinesfalls die weitreichenden Ansprüche, die im Privaten gel‐ ten. Doch auch im Privaten gibt es nicht nur numerische Grenzen der Freundschaft. Selbst die erwartete Intensität erweist sich häufig als unerreichbar. Dann lässt sich der Satz des Diogenes Laertius folgendermaßen verstehen: „Es gibt keinen Freund, weil die Perfektion schlicht und einfach zu schwer zu erlangen ist, das ist alles.“ (Derrida 2002, 300) Der performative Selbstwiderspruch des Satzes von Diogenes müsste dann die Anrede eigentlich zurücknehmen. So darf man nicht nach Perfekti‐ on streben, die schlicht nicht erreichbar ist. Dann ist es klar, dass es keine Freunde geben kann. Aber derart löst sich dann die Freundschaft generell auf, was auch Pierre Aubenque diagnostiziert: „‚Die vollkommene Freundschaft zerstört sich selbst‘, wie Aubenque zu Recht bemerkt.“ (Derrida 2002, 300) Auch dann gibt es keine Freunde. Diese hohen Ansprüche verleiten die Freundschaft in die Politik, wo sie mit weniger Ansprüchen durchaus noch eine Rolle zu spielen vermag.
2. Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung Nach Derrida verschiebt die Freundschaft das Prinzip der Gleichheit, so dass sich Singularität und Andersheit im Anschluss an Lévinas als politische Orientierungen andeuten – ein in der politischen Philosophie und im Staatsverständnis trotzdem ab‐ seitiges Unterfangen. Denn führt die Freundschaft nicht ihrerseits in die Feindschaft und damit in jene Unterscheidung Carl Schmitts, die die Politik durch den Krieg be‐ stimmt? So heißt es in Der Begriff des Politischen aus dem Jahr 1927: „Die spezi‐ fisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ (2005, 196) Schmitt möchte damit das Politische neben dem Moralischen, dem Ästheti‐ schen oder dem Ökonomischen als einen eigenständigen Bereich qualifizieren, der ähnlich wie diese anderen Bereiche über ein eigenes Grundprinzip verfügt. Dass Schmitt damit vielfältige Bestimmungen des Politischen ausschließt, ist sehr wohl beabsichtigt. Es handelt sich um ein Politikverständnis, das gemäß dem politi‐ schen und sozialen Denkens des 19. Jahrhunderts Politik auf Gewalt stützt, geht es Schmitt bei der Feindbestimmung um dessen physische Vernichtung. Derrida schreibt: „Wir haben es mit einem Politologen zu tun, der jedem anderen regionalen Wissen, jeder nicht ‚politischen‘ Erfahrung das Recht abzusprechen gedenkt, eine Politologie, eine Ontologie oder Epistemologie des Politischen zu begründen. Was das rein Politische ist, (...) kann uns einzig das Politische selbst lehren. Dies ist das Anliegen (...) Schmitts (...).„(2002, 162) Diese Begriffsbestimmung setzt Schmitt dem Staat voraus, den er mit Volk und Nation verbindet.
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Doch so einleuchtend und unmissverständlich, wie diese Unterscheidung auf den ersten Blick erscheint, ist sie für Derrida keineswegs. So macht sich Derrida auch hier auf den dekonstruktiven Weg, die Aporien in dieser Unterscheidung von Freund und Feind aufzuzeigen. Dabei kann sich Schmitt keinesfalls auf philosophische oder wissenschaftliche Begriffe und Referenzen beziehen. Die Unterscheidung von Freund und Feind – so Derrida – „verfügt (...) über keine andere Garantie als diese statistische Referenz auf den Alltagsgebrauch der natürlichen Sprache.“ (2002, 168) Umgekehrt bedarf eine solche vage alltagssprachliche Unterscheidung der Stabili‐ sierung, die sie von Seiten des Staates erhält, so dass sich Schmitts Beziehung zwi‐ schen Staat und Politik umdreht. Nicht das Politische geht dem Staat voraus, wie Schmitt meint, vielmehr verleiht erst der Staat der Politik eine gewisse Form, näm‐ lich durch den Nationalstaat, deren „Staatsoberhäupter,“ wie Kant 1795 bemerkt, „des Krieges nie satt werden können,“ (1968 e, 343) die sich denn auch ständig auf gewaltsame Konflikte mit anderen Staaten vorbereiten. Klar, dass in den Chefetagen der Nationalstaaten fleißig in Kategorien von Freund und Feind geredet wird. Das führt unvermeidbar in den Konflikt mit den Bürgern, was wiederum die Souveränität der Staaten beeinträchtigt – für Schmitt, Generäle, Imperialisten und Faschisten eine unerträgliche Vorstellung. Denn, so Derrida, „die Analyse des im strengen Sinne Po‐ litischen und seines irreduziblen Kerns, der Freund-Feindgruppierung, muss von Anfang an als ihren Leitfaden die staatliche Form dieser Konfiguration, anders ge‐ sagt: den Freund oder Feind als Staatsbürger privilegieren.“ (2002, 169) Wenn für Schmitt der Einzelne nur Wert durch den Staat erhält, so provoziert er dadurch geradezu den Widerstand all jener, die sich derart nicht diskriminieren las‐ sen wollen. Je mächtiger der Staat umso mehr regt sich der Widerstand, der in letzter Konsequenz in den Bürgerkrieg führt, welchen Schmitt wiederum mit dem Krieg zwischen Staaten parallelisieren muss, ähnlich wie es vor ihm Platon passierte. Der‐ rida zieht dagegen in Zweifel, dass sich beide überhaupt unterscheiden lassen und beruft sich dabei auf letzteren: „In der Tat sagt Platon, die Barbaren seien natürliche Feinde und die Griechen dagegen (...) ‚von Natur einander freund‘. Aber er zieht da‐ raus nicht schon den Schluss, der Bürgerkrieg (stasis) oder die Feindschaft unter Griechen sei schlicht und einfach unnatürlich.“ (2002, 134) Dagegen hat der Krieg für Schmitt immer einen Sinn, bestimmt er letztlich die Politik und gewährleistet die soziale Stabilität, was indes nicht heißt, dass der Krieg gut oder sinnvoll in irgendeinem Sinn sein muss. Er möchte dabei den Begriff des Feindes von jeder Form des Hasses, der Leidenschaften oder der Xenophobie frei‐ halten, um dadurch das Politische in einer Art Reinform zu generieren, genauso wie eine Art des reinen und sauberen Krieges. Dem hält Derrida entgegen: „Ist man sich wirklich sicher, dass durch alle Wandlungen der Europäischen Geschichte hindurch (...), irgendein Begriff des Politischen und der Demokratie jemals mit dem Erbe die‐ ser beunruhigenden Notwendigkeit gebrochen hat? Radikal mit ihr gebrochen und
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sie eigens thematisiert hat?“ (2002, 147) Es eröffnet sich indes eine andere Perspek‐ tive, die Schmitts Begriff des Politischen bedroht, nämlich jene Bemühungen im 20. Jahrhundert, das Politische von Formen des Krieges und Differenzen des Feindes zu befreien. Dann steht für Schmitt mit dem Verlust des Feindes letztlich das Politische selbst in Frage, was er ja auch immer wieder beklagt. Als sein Reich untergegangen war und es Schmitt drohte, als Kriegsverbrecher angeklagt zu werden, als er darauf in Nürnberg in Einzelhaft wartete, als die Feinde gesiegt hatten und gar keine Feinde mehr waren, richtet er den Blick nach innen, transformiert sich der äußere Feind in einen inneren, der Fragen stellt, bemerkt Schmitt in jenen Jahren konsterniert: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Ge‐ stalt.“ (1950, 90) Dann erscheint das Fragenstellen selbst als Feind, weil es den Krieg in Frage stellt und damit den Kern seines Denkens. „Der fragliche Feind“, wendet Derrida ein, „ist der, der in Frage stellt. Aber in Frage stellen kann er einzig den, der sich in Frage stellen kann. Man kann nur in Frage gestellt werden, wenn man sich selbst in Frage stellt. Der Feind, das ist man selbst. Ich bin mir selbst mein eigener Feind. Dieser Begriff des ‚eigenen Feindes‘ bekräftigt alles, und er wider‐ spricht zugleich allem, was Schmitt je vom Feind gesagt hatte.“ (2002, 225) Damit ist seine Freund-Feind-Unterscheidung ad absurdum geführt, genauer de‐ konstruiert. Sie entscheidet ja auch nicht nur über den Feind, sondern auch über die Freundschaft. Sie ist der Akt der Diskriminierung, d.h. gleichzeitig Differenz als Diffamierung und als Zeit der Entscheidung, die ein Akt der willkürlichen regello‐ sen Festlegung bedeutet. Daher erscheint Schmitt für Derrida in gewisser Hinsicht aus der Zeit gefallen, als jemand, der die Zeichen der Zeit zwar erkannte, sich aber widersinnig mit aller Macht gegen sie stemmt – eine Attitüde, die er mit den Nationalsozialisten teilt. Derrida schreibt: „Das Paradox und das Interesse der von Schmitt unternommenen Anstrengungen liegt ja nicht zuletzt in der Sturheit, mit der er die klassischen oppo‐ sitionellen Unterscheidungen in eben dem Augenblick festhalten (...) will, in dem seine Aufmerksamkeit für eine bestimmte Modernität (der ‚Technik‘ und eines von ihr untrennbaren Krieges, des Partisanenkriegs oder des Kalten Krieges, der gegen‐ wärtigen oder künftigen Kriege) ihn zu der Einsicht zwingt, dass die grundlegenden Unterscheidungen (als (...) onto-theologische Unterscheidungen) sich verwischen.“ (2002, 333) So hat ihm umgekehrt Agamben nachgewiesen, dass die zentralen katholischen Begriffe wie derjenige der Trinität sich der politischen Philosophie verdanken, näm‐ lich auf die Oikos-Lehre des Aristoteles zurückgehen, so dass es sich geradezu um‐ gekehrt verhält, als es Schmitt behauptet, wenn er in einer berühmten Formulierung schreibt: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ (2004, 49).
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1922 verschanzt sich Schmitt hinter der Theologie, um der liberalen Demokratie mit ihren, vor allem juristischen Begriffen zu widerstreiten und letztlich bleibt ihm nicht mehr als der Dezisionismus. Er ahnt, dass sein Begriff des Politischen unterge‐ hen wird, dass er durch einen rationalistischen und technokratischen Begriff ersetzt wird. Er kämpft um die Politik, aber nicht um die Demokratie, allemal nicht um die liberale mit Parlamenten und Parteien, höchstens um eine autoritäre akklamatori‐ sche, die ja Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte auch nicht schützen soll. Dazu entwickelt er vermeintlich klare Begriffe und Unterscheidungen, die dem Ge‐ schehen längst nicht mehr entsprechen, so dass sie ihre Klarheit nicht durchzuhalten vermögen, sich vielmehr quasi selber dekonstruieren. Daher avanciert er für Derrida zu einem der letzten großen metaphysischen Theo‐ retiker der Politik, der den Rationalisierungen und Differenzierungen der Politik wi‐ derstreitet, was ihn an Orten populär macht, wo man es nicht unbedingt erwarten würde: „Dass er links ‚Freunde‘ gefunden hat,“ konstatiert Derrida, „verdankt sich keineswegs einer zufälligen oder aus irgendwelchen Fehldeutungen entstandenen Stimmungslage. Wir haben es hier mit einem kaum zu überschätzenden historischpolitischen Symptom zu tun, dessen Gesetzmäßigkeit zu denken uns noch bevor‐ steht.“ (2002, 193) Das wird heute gerade nötig. So stellt Schmitts Theorie des Partisanen, die er 1963 publiziert, doch das Ge‐ genteil zur Theorie des Guerillakrieges dar, wie sie von Seiten der Maoisten propa‐ giert wird, was er auch selbst bemerkt. Zwar ist die Führerstruktur in etwa dieselbe. Doch Derrida erläutert: „Wie die Spanier, wie nahezu alle Europäer hatte Preußen, hatte der preußische König den Partisanenkrieg gegen den französischen Besatzer erfunden und ‚eine Art Magna Carta des Partisanentums‘ geschrieben.“ (2002, 200) „Das preußische Edikt über den Landsturm vom 21. April 1813“ (Schmitt 1963, 47) schrieb sicher nicht Friedrich Wilhelm III., sondern preußische Generäle. Aber er hat es unterzeichnet und es ist „in der preußischen Gesetzessammlung in aller Form ver‐ öffentliche worden. (...) Ausdrücklich wird gesagt, dass ‚Ausschweifungen zügello‐ sen Gesindels‘ weniger schädlich sind als der Zustand, dass der Feind frei über alle seine Truppen verfügen kann.“ (Schmitt 1963, 47) Die Untertanen wurden zum Wi‐ derstand gegen den Feind in allen Formen aufgerufen, auch zum Ungehorsam ge‐ genüber einer erfolgreichen Okkupationsmacht. Allerdings verschwand das Edikt nach drei Monaten aus dem Gesetzblatt wieder und es sind keine Fälle seiner An‐ wendung bekannt. Hier zeigt sich eine Parallele zu den Manifesten, die die Avantgarden des interna‐ tionalen Proletariats propagierten, in denen man davon ausgeht, dass sich die Prole‐ tarier, die Arbeiter und Bauern, die Armen und Entrechteten engagieren oder sich wie bei Sorel als Soldaten in die Pflicht ihrer Klasse nehmen lassen, genauer ihrer intellektuellen Führer, die sich regelmäßig in Militärs verwandelten.
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Nach Schmitt war ein solches Engagement aber nicht die Intention eines „einfa‐ chen oder gar analphabetischen Volkes. In einer solchen Atmosphäre, in der sich ein erregtes Nationalgefühl mit philosophischer Bildung vereinigte, wurde der Partisan philosophisch entdeckt und wurde seine Theorie geschichtlich möglich.“ (Schmitt 1963, 49) So darf man denn unterstellen, dass Marxisten, Faschisten, heutige Rechtspopulisten vornehmlich die Ablehnung der liberalen Demokratie verbindet, die in ihrer heutigen zivilgesellschaftlichen Form allen dreien noch gefährlicher er‐ scheint, weil diese sich partizipatorisch und emanzipatorisch entfaltet. Für viele lin‐ ke Kritiker stützt das indes nur den Neoliberalismus. So schreibt der Darmstädter Soziologe Oliver Nachtwey: „So gesehen, folgten Emanzipationsprozesse in den letzten dreißig Jahren der Logik des Liberalismus, in dem kulturelle Gleichstellung und ein deregulierter Markt miteinander verkoppelt sind.“ (2017, 224) Gleichzeitig passt Schmitt mit der Theorie des Partisanen sein Politikverständnis an die Sachlage an, dass die Feindschaft in der Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch eine erheblich andere Rolle spielt als in der ersten. Derrida kon‐ statiert: „Die Entfesselung der reinen Feindschaft aber erscheint nur – und lässt sich von Schmitt nur diagnostizieren – durch sämtliche Phänomene der Entpolitisierung hindurch, nur im Zuge dessen, was die klassischen Grenzen des Politischen nieder‐ reißt.“ (2002, 184) Dann entsteht eine ‚Welt ohne Politik‘,was die Macht der Politik indes nur erweitert, wenn die traditionellen Verständnisformen des Politischen im Zuge einer Entpolitisierung verblassen und an ihre Stelle die absolute Feindschaft tritt, der totale Krieg, der nicht mehr aus Hass vernichten soll, sondern angeblich aus rationalem Kalkül – eine Angelegenheit die allerdings bereits im Peloponnesischen Krieg vorkommt. Diesen totalen Krieg entfesseln heute indes theologisch politische Paradigmen, die absolute Autorität beanspruchen und deren Feinde letztlich die liberale Demo‐ kratie wie jegliche Emanzipationsbestrebungen sind. Damit antizipiert Schmitt Sa‐ muel Huntingtons The Clash of Civilizations aus dem Jahr 1996. So führt Derridas Dekonstruktion der Theorien von Schmitt in die folgende Aporie: „In den Sympto‐ men der Neutralisierung und Entpolitisierung, die Schmitt mit geschultem Blick an unserer Moderne ausmacht, würde sich so in Wahrheit nichts anderes als eine Überoder Hyperpolitisierung bekunden. Je weniger Politik es gibt, desto mehr gibt es. Je weniger Feinde es gibt, desto mehr gibt es. Und im selben Rhythmus und Ausmaß wächst auch die Zahl der Freunde.“ (2002, 183)
3. Brüderlichkeit und Nationalismus Soweit die Freundschaft beinahe in allen Epochen weitgehend desavouiert wurde, ersetzte man sie durch die Brüderlichkeit, also durch einen Diskurs über Herkunft
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und Zugehörigkeit. „Wie in allen Rassismen,“ bemerkt Derrida, „in allen Ethnozen‐ trismen, genauer: in allen Nationalismen der Geschichte, regelt ein Diskurs über die Geburt und die Natur, eine physis der Genealogie (genauer gesagt: ein Diskurs oder ein Phantasma der genealogischen physis) die Bewegung der jeweiligen Gegensätze: Anziehung und Abstoßung, Widerstreit und Einmütigkeit, Krieg und Frieden, Hass und Freundschaft. Drinnen und draußen.“ (2002, 136) Phantasmatisch sind alle der‐ artigen Herkunftsvorstellungen Konstruktionen, die sich nicht auf konkrete Daten der Erfahrung stützen können, sondern bestenfalls auf immer schon interpretierte, halluzinierte, ‚erträumte‘. So propagierte selbst die Französische Revolution nicht die Freundschaft sondern die Brüderlichkeit. Mit der Wiederkehr politischer Theologie in Form diverser reli‐ giöser Fundamentalismen verstärken sich parallel die diversen rechten populisti‐ schen Totalitarismen. Sie stützen sich nicht auf Freundschaft, sondern – auch etwas Demokratie vorgaukelnd – auf die Bruderschaft, damit auf Familie und Geburt. Carl Schmitt weist denn auch daraufhin, dass der Freund ursprünglich der Verwandte ist, also der ‚Sippengenosse‘ und in der Sprache des Rassismus der ‚Blutsfreund‘. Bereits in Platons Menexenos erklärt Aspasia in ihrer Leichenrede, dass Politik sich nur einer guten Herkunft verdanken kann, dass sie der Mutter Erde entspringt und dadurch zur Verbrüderung führt: „Denn Ehre zu haben von den Vorfahren her ist für die Nachkommen ein schöner und köstlicher Schatz.“ (1957, 247c, 120) Die fei‐ erliche Grabrede bezeugt die absolute Gebundenheit der Überlebenden an ihre Her‐ kunft, die unaufhebbar erscheint: „Solange sie das Andenken ihrer Toten wahren,“ so Derrida, „solange sie den Vätern ihrer Toten, das heißt den Gespenstern ihrer wohlgeborenen Väter treu bleiben, solange sind sie an dieses testamentarische Band gebunden, das in Wahrheit nichts anderes ist als ihr väterliches Erbe.“ (2002, 148) Der Bruder steht ob des gemeinsamen Vaters nicht nur näher als der Freund, viel‐ mehr kann man ihn nicht wählen. Er ist mit der familiären Herkunft unabdingbar vorgegeben. Freiheit heißt in einer Politik der Brüderlichkeit Bindung an die Erinne‐ rung, an die Tradition, an die Herkunft, also auch Bekenntnis zu dieser Herkunft. Nicht individuelle Freiheit ist dabei gefragt, sondern die Entfaltung der väterlich vorgeprägten und brüderlich erhaltenen Freiheit dieser Gemeinschaft. Das ist nicht nur zugleich ihre Wahrheit. Diese schließt vielmehr alles Fremde, je‐ des unvorhergesehene Ereignis, jeden Zufall aus, gibt es in einer solchen Welt nur die Notwendigkeit der testimonial und brüderlich begründeten Ordnung. Dieser sich zu fügen, heißt sich in deren Freiheit, also in die Freiheit der Gruppen einzugliedern. Andererseits ist der Bruder schließlich derjenige, den man nicht verraten darf, der daher doch eine Bedeutung für die Politik entwickelt, der man auch nicht auswei‐ chen kann, so dass das Brüderliche die Freundschaft mit Tugend und Politik verbin‐ det. Doch auch hier taucht eine aporetische Struktur auf – man denke nur an den bib‐ lischen Brudermord: „Niemals darf man, in dieser Menschheit mit ihrer Mensch‐
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lichkeit, seinen Bruder verraten. Ihn verfemen oder verleumden“ – so legt es Derrida Kant in den Mund. Doch daraus ergibt sich die Aporie: „Verraten kann man einzig seinen Bruder. Der Brudermord ist die allgemeine Form der Versuchung, die Mög‐ lichkeit des radikal Bösen, das Böse des Bösen.“ (2002, 364) Nur wenn man brüderlich verbunden ist, dann handelt es sich um wirklichen Ver‐ rat, heute Landesverrat, wenn man sein Land, also seine Brüder verrät, während der Fremde im selben Fall Spionage betreibt. Der absolute Feind avanciert damit einzig und allein zum Bruder. Wenn ein Muslim seinen Glauben aufgibt, begeht er für den Islamismus einen ähnlich absoluten Verrat. Ungläubige sind dagegen bloß Ungläubi‐ ge. Fundamentalisten hassen die Welt der Ungläubigen, aber noch mehr ihre Glau‐ bensbrüder, wenn sich diese nicht wie verlangt verhalten. Derrida fragt: „Wie kann ein Bruder Gegenstand und also ein Bruder Subjekt der absoluten Feindschaft sein? Wir werden die Hypothese umkehren müssen. Absolute Feindschaft gibt es nur für einen Bruder, nur gegenüber einem Bruder. Und die Ge‐ schichte der Freundschaft ist nur die Erfahrung dessen, was in dieser Hinsicht einer unaussprechlichen Synonymie, einer mörderischen Tautologie gleicht.“ (2002, 203) Dann ginge es darum, die Brüderlichkeit aus den religiösen, nationalistischen oder ethnozentrischen Fängen zu befreien, um ihr einen allgemeinmenschlichen Charak‐ ter zu verleihen, wenn niemand mehr diskriminiert wird, liegt denn Derrida wenig daran, die Brüderlichkeit als solche zu diskreditieren. Als Beispiel dafür dient ihm Jules Michelet, der 1846 in seinem Buch Le Peuple die christliche Brüderlichkeit in eine universale Brüderlichkeit überschreibt, um da‐ mit sowohl ein aufklärerisches als auch ein revolutionäres Programm zu entwerfen. Das kommentiert Derrida mit den Worten: „Die nationale Besonderheit fungiert als Beispiel der Freundschaft oder der universalen Brüderlichkeit, als das lebendige, das lebendigste, das einzige derzeit lebendige, das exemplarische, das ideale Beispiel, das exemplar in jenem Sinne, den Cicero in De amicitia diesem Wort verliehen hat.“ (2002, 320) Aber damit, was Michelet konzipiert, lassen sich bestimmte Phänomene der Freundschaft nicht in Einklang bringen. Denn eine Bruderschaft kann sich auch ver‐ schwören, was historisch ja häufig der Fall war und ist. Sie teilt ein Geheimnis, das allein schon dadurch über das zwischen Freunden geteilte Geheimnis hinausgeht, weil die Bruderschaft erst dann beginnt, wenn ein dritter hinzukommt. Ansonsten gibt es aber auch zwischen wahren Freunden Geheimnisse, die niemand erfahren darf, vor allem dann wenn sie politisch brisant und gefährlich sind. Aber selbst wenn es nicht um tyrannische oder gar totalitäre politische Verhältnisse geht, wird der ‚Eh‐ renmann‘ aus einem Geheimnis, das ihm anvertraut wurde, keinen eigenen Nutzen ziehen, indem er es offenbart. Freundschaft gibt es nur, wenn dabei kein eigener Nutzen verfolgt wird. Freundschaft gibt es nach Cicero eben nur unter Ehrenmän‐ nern.
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In der Gemeinschaft dagegen, in der Brüderlichkeit herrscht, sind die Brüder Un‐ terworfene unter den Vater und als solche besteht zwischen ihnen nach Kant eine Gleichheit, die sie gegenseitig zur Unterwerfung verpflichtet. Wenn die Menschen indes Brüder sind, dann gehört der Vater nicht dazu, sondern verkörpert die Allge‐ meinheit, nach Rousseau den Allgemeinwillen, der das Gute wie die Glückseligkeit für alle Menschen will, sofern sie die Unterwerfung akzeptieren. So relativiert sich im Anschluss an Kant die Freundschaft. Derrida konstatiert: „Zur Freundschaft ist nicht allein wechselseitige, sondern gleiche Achtung erforderlich. Diese kann es ge‐ genüber dem Vater nicht geben. Es gibt sie nur unter Brüdern, nur gegenüber denen, die man ‚gleichsam‘ als Brüder betrachtet. Demjenigen, der die Freundschaft ermög‐ licht, Freundschaft entgegenzubringen, hieße der Versuchung des Hochmuts zu er‐ liegen. Kein Bruder, ist der Vater auch kein Mensch.“ (2002, 353)
4. Nietzsches ‚neue Gerechtigkeit‘ und die Frauen Vermag sich Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung auch der Brüderlichkeit rück‐ zuversichern, ist die Brüderlichkeit gegenüber der Freundschaft trotzdem ambiva‐ lent. Wenn sie sich dabei indes nicht auf die Differenz und die Andersheit bezieht, verbleibt die Brüderlichkeit in einer hierarchischen Szenerie und damit im Horizont des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts. Der Universalismus einer Brüderlichkeits‐ ethik gerät dabei in die Aporie, alle auszuschließen, die keine Brüder sind, die sich nicht auf denselben Vater berufen, allen voran die Frauen. Das belegt Derrida unter anderen am Beispiel von Victor Hugo mit zahlreichen Zitaten aus dem Jahr 1867. Derrida konstatiert: „Die Männlichkeit des Bruders ist ein unauslöschlicher Buchstabe im Text Victor Hugos. Zum Beweis: (...) ‚Die wahre Geburt ist die Männlichkeit.‘“ (2002, 359) Große Freundespaare sind immer Män‐ ner, die die Kultur geprägt haben und die als solche ins Bewusstsein der Zeitgenos‐ sen eingegangen sind. Frauen unter sich sind gemeinhin Rivalinnen. Freundschaft zum anderen Geschlecht gerät zumeist zur Liebschaft. Frauen sind denn auch aus der Bruderschaft wie der Brüderlichkeit und der Freundschaft ausgeschlossen, selbst wenn sie manchmal dabei mitspielen. In einem Brief redete Franz von Assisi eine Nonne mit den Worten an: „Teurer Bruder Jacqueline“ (zit. Derrida 2002, 214) So könnte es verwundern, dass Derrida die Rolle der Frau bei der Freundschaft mit Nietzsche diskutiert, der ja nicht gerade als Feminist bekannt ist. Derrida selbst fragt sich: „weshalb kehren wir stets wieder zu ihm zurück? Bestätigt er nicht von Grund auf jene alte Überlieferung, nach der die Bedeutung der Freundschaft der Frau fürs erste (‚noch nicht‘ hieß es auch bei Michelet) verschlossen bleibt?“ (2002, 375)
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Freundschaft beruht auf der Freiheit und Gleichheit. Tyrannen und Sklaven ken‐ nen beides höchstens ansatzweise. Nach Nietzsche ist die Frau entweder Sklavin oder Tyrannin oder beides gleichzeitig und kann daher keine Freundin sein. Nach Zarathustra ist die Frau nur zur Liebe fähig, die damit implizit der Freundschaft un‐ tergeordnet wird. Für Aristoteles ist zwischen Mann und Frau zwar die hohe Freund‐ schaft ausgeschlossen, die auf Freiheit und Gleichheit beruht, nicht aber Freund‐ schaft überhaupt. Da zur Fortpflanzung ansonsten die Beziehung zwischen Frauen und Männern nötig ist, geht die Familie sogar der Polis voraus. Aber die Frau spielt in den philosophischen, religiösen, kulturellen Traditionen praktisch keine Rolle. Das kulminiert für Derrida in Schmitts Theorie des Partisa‐ nen und führt zugleich in eine Aporie: „Dass aber die Frau selbst in der Theorie des Partisanen, das heißt in der Theorie des absoluten Feindes nicht vorkommt, dass sie gleichsam in den Untergrund verbannt wird und niemals aus dieser erzwungenen Geheimhaltung heraustritt – eine solche Unsichtbarkeit (...) gibt zu denken. Was, wenn die Frau der absolute Partisan wäre?“ (2002, 216) Implizit muss Schmitt die Partisanin Frau als Mann behandeln, als verhassten Bruder, um die anderen Frauen als blinde Gefolgschaft betrachten zu können, hätte sich ihm sonst eine neue Front im Bürgerkrieg eröffnet. Was hat die Welt eines Carl Schmitt, die Welt des Untertanen, nachhaltiger verän‐ dert als die zweite Frauenbewegung seit den 1970er Jahren? Ja, die Emanzipation der Frauen hat seither auch das Freund-Feind-Denken erheblich beeinträchtigt (vgl. Schönherr-Mann 2015 c, 187). Das stellt für Schmitt eine Form der Entpolitisierung dar, wird dadurch sein Verständnis von Politik trotzdem nachhaltig unterminiert. So fordert und hofft Derrida: „Diese Struktur kann man nur bekämpfen, indem man über das Politische, über den Namen ‚Politik‘ hinausgeht, indem man andere und in anderer Weise mobilisierende Begriffe prägt. Wer wollte darauf schwören, dass dies nicht bereits geschieht?“ (2002, 218) Nietzsche hat zu letzterem trotz alledem den Weg gewiesen, nicht nur wenn er da‐ von spricht, dass die Frau „noch nicht“ zur Freundschaft fähig ist. Das kündigt zu‐ mindest die Möglichkeit an, dass sie es sein wird. Hinzu kommt, dass nach Nietz‐ sche auch der Mann noch nicht zur Freundschaft befähigt ist, mangelt es ihm näm‐ lich an Generosität und Freigiebigkeit. Die Liebe ohne Freundschaft passt zum ma‐ terialistischen Geist der Zeit, den Nietzsche anprangert. Denn dabei geht es nur um Eigentum, will die Liebe besitzen und keinesfalls teilen. Doch ist für Nietzsche die Freundschaft auch eine Art Liebe, zu der ja die Frau fähig sein soll. Allerdings überschreitet die Liebe der Freundschaft die Liebe, wie sie bisher zwischen Mann und Frau praktiziert wird, bemerkt Derrida: „Man darf der Nähe, der Identifikation, der Verschmelzung oder Vertauschung von Ich und Du nicht nachgeben, sondern muss eine unendliche Distanz zwischen ihnen schaffen oder vielmehr wahren und achten – also genau das tun, dessen die Liebe unfähig ist,
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(...).“ (2002, 101) Nicht viel anderes vereinbarten Sartre und de Beauvoir, als sie um 1930 ein Verhältnis eingingen, das den Hippies das Modell der offenen Beziehung in die Wiege legte. Auch Lévinas insistiert darauf, dass Liebe keine Einheit zwischen zweien herstellt, sondern durch deren Andersheit nur eine Begegnung sein kann. Vor diesem Hintergrund versteht Derrida Nietzsches Kritik an der Demokratie. Muss sich diese wirklich gegen jede Demokratie richten? Muss sie sich gegen die Moderne als solche richten? Oder geht es dabei nur um den zeitgenössischen schlechten Geschmack, der sowohl in Europa wie in Amerika vorherrscht? Nietz‐ sche hält schließlich das Gros seiner Zeitgenossen für den ‚letzten Menschen‘, dem es in seiner materiellen Besessenheit an ethischen Orientierungen mangelt, „der Al‐ les klein macht.“ (1999 b, 19) Nietzsche erkennt, dass das, was seine Zeitgenossen als Demokratie und Modernität verkaufen, nur eine Karikatur derselben ist, dass sie zur Demokratie wie zur Moderne „noch nicht“ fähig sind – so wenig wie Frauen und Männer zur Freundschaft –, so dass sie letztlich zu Feinden der Demokratie avancie‐ ren. So verweist de Beauvoir 1949 darauf: „Kein Südstaatler war während des Se‐ zessionskrieges so leidenschaftlich für die Sklaverei wie die Frauen. Niemand war in England zur Zeit des Burenkrieges so unversöhnlich wie sie, niemand in Frankreich so erbittert gegen die Kommune. (...) Im Fall eines Sieges stürzen sie sich wie Hyä‐ nen auf den geschlagenen Feind. Im Fall der Niederlage lehnen sie erbarmungslos jede Versöhnung ab.“ (2005, 751) Auch Nietzsche könnte sich dessen bewusst gewesen sein, dass die Demokratie seiner Zeit ungenügend war, dass sie überhaupt erst noch kommen muss. Dass es mit der Gerechtigkeit nicht weit her ist, dass über die Gerechtigkeit neu diskutiert wer‐ den muss und dass dazu neue Philosophen nötig sind, hat er selbst formuliert: „eine neue Gerechtigkeit tut not! Eine neue Losung! Und neue Philosophen! (...) Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philo‐ sophen!“ (1999 a, 530) Nietzsche denkt zukünftig, so die Impression von Derrida, der die Frage stellt: „Wie könnte eine Gleichheit, wie könnte eine Gerechtigkeit und Angemessenheit aussehen, die nicht länger eine Berechnung dieser Äquivalenz, oder ganz einfach keine Rechnung mehr wäre?“ (2002, 100) Für Nietzsche wie für Derrida ist anders als für den Mainstream der Philosophie die Zukunft offen und von Überraschungen geprägt, die man nicht mit Gewissheit antizipieren kann. Vielmehr muss man sich für Unerwartetes öffnen und mit neuen Entwicklungen rechnen. Gleich am Anfang seines Buches zitiert denn Derrida einen Aphorismus von Nietzsche, der für die Politik der Freundschaft leitmotivischen Charakter annehmen wird: „Vielleicht! – Aber wer ist Willens, sich um solche ge‐ fährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgendwelchen anderen umgekehr‐ ten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, – Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstand. – Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neuen
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Philosophen heraufkommen.“ (Nietzsche 1988, 17) Derrida übernimmt den Gedan‐ ken des ‚Vielleicht‘, der die Philosophie nicht mit der Gewissheit verbindet, um die sich Philosophen gemeinhin kümmern, nicht zuletzt wenn sie sich an der Logik und dem Apriori orientieren, wenn sie ganz sicher gehen wollen. Wenn man dagegen die Philosophie mit der Erfahrung rückkoppelt, dann ver‐ schwimmen die Gewissheiten und dann muss sich die Philosophie mit dem Unwäg‐ baren auseinandersetzen, von dem das Zukünftige wie das Kommende geprägt ist. So konstatiert Derrida: „es liegt nahe, den Gestus Nietzsches, der sich hier abzeich‐ net, mit seinem Aufruf zu einer anderen Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, die Sache der neuen Philosophen, Sache der Kommenden sein wird – und es bereits ist, sind doch diese Künftigen bereits im Kommen.“ (2002, 99) Freilich ergeben sich daraus gleichfalls keine sicheren Perspektiven, sondern ein‐ zig und allein Unbekanntes, auf das man philosophisch neugierig sein darf. Eine sol‐ che Erwartung könnte auch enttäuscht werden und das umso mehr, je höher man die Erwartungen schraubt beispielsweise revolutionär oder messianisch wie bei Benja‐ min. Und Derrida fragt: „was wird aus unserer berechtigten Ungeduld, das Neue kommen zu sehen – neue Gedanken, neue Denker, die neue Gerechtigkeit, die Revo‐ lution oder die messianische Unterbrechung? Nur eine weitere List? Erneut dasselbe Verlangen nach Aneignung? Ja. Ja, vielleicht.“ (2002, 101)
5. Freundschaft und Verantwortung Mit den Frauen, die sich emanzipieren, könnte sich hier eine Perspektive zu einer anderen Form der Gerechtigkeit wie auch der Demokratie ankündigen, die bisher noch keine Realität geworden ist. Ist eine Politik der Freundschaft in der Lage, dafür die Verantwortung zu übernehmen? Für die Gerechtigkeit, die Demokratie, die Emanzipation? Das von Nietzsche fortgeschriebene ‚Vielleicht‘ werden manche Derrida als rela‐ tivistische Standpunktlosigkeit vorwerfen, bemerkt Ernst Tugendhat: „Dieser in der zeitgenössischen französischen Philosophie so populäre und in der heutigen jungen Generation so beliebte totale Relativismus ist natürlich Unsinn.“ (1992, 111) Mögen sich andererseits viele ihren Überzeugungen und ihrem Glauben anvertrauen, so überspielt das bestenfalls einen Relativismus, dem niemand entkommt, sobald er an‐ fängt seine Position zu erläutern. Aber geht mit einem derartigen ‚Vielleicht‘ nicht vor allem Verantwortungslosigkeit einher? Die Position des ‚Vielleicht‘ lässt sich schließlich nicht von dramatischen Warnungen und Appellen verbunden mit apoka‐ lyptischen Drohungen beeindrucken, was bei vielen auf Unverständnis und Ableh‐ nung stößt. Denn, so bemerkt Philip Blom, „unsere theologisch konditionierten Hir‐ ne denken lieber in Bildern wie Erlösung und Verdammnis (...) als mit der Erwar‐
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tung einer Zukunft voller Zufälle und Zwänge, unvorhersehbar, sinnlos, ohne Ziel.“ (2011, 20) Das gilt nicht nur noch für Marx, sondern umso entschiedener für Adorno und Heidegger. Just dem versucht Derrida zu entkommen, was ihm Rorty ja nicht zugestehen will. Wenn Derrida Benjamin hinsichtlich der Extension von Gewalt zu folgen scheint und die Gewalt sich sogar bis in die Ethik der Dekonstruktion auszudehnen droht, dann erhält Rortys Vorwurf aus dem Jahr 1989 auch später neue Nahrung. Denn Derrida bemerkt: „Vielleicht ist es nur die lautlose Entfesselung jener merk‐ würdigen und insgeheim seit jeher, am Ursprung noch der unschuldigsten Erfahrun‐ gen der Freundschaft und der Gerechtigkeit wirksamen Gewalt, die sich in diesem Augenblick vollzieht und deren beunruhigende Erfahrung wir hier machen.“ (2002, 310) Der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit wie die Antwort, zu der er zwingt und die Verantwortung, die damit zugeschrieben wird, mag zwanglos erscheinen, übt indes trotzdem Druck und damit Zwang aus. Er fährt fort: „Wir haben zu ant‐ worten begonnen, wir sind bereits eingebunden, unversehens eingebunden in eine bestimmte Verantwortung, und zudem in eine, der man sich schlechterdings nicht entziehen kann – als wäre es möglich, eine Verantwortung ohne Freiheit zu denken.“ (2002, 310) Derridas Politik der Freundschaft will nicht nur die bisherigen Gedanken darüber aufdröseln und gleichzeitig aporetisch verschlüsseln, sondern daraus Antworten ent‐ wickeln, die einer Verantwortung gerecht werden, die der Bemühung entspringt, einem Denken Paroli zu bieten, das sich dem Antworten wie dem Verantworten strikt verweigerte – man denke an Carl Schmitt oder an Martin Heidegger. Ange‐ sichts dessen antwortet denn Derrida: „Vor anderen für mich selbst verantwortlich, bin ich zugleich und zuvor gegenüber dem anderen für den anderen verantwortlich, und muss ich mich vor ihm verantworten.“ (2002, 106) Wenn sich Derrida vom An‐ deren für diesen in die Verantwortung gerufen sieht, dann erscheint das zwar zu‐ nächst als eine Art der Fremdbestimmung, also als Heteronomie, heißt es weiter: „Diese Heteronomie, die sich der dezisionistischen Konzeption der Souveränität und der Ausnahme zweifellos nicht fügt, steht zur Autonomie nicht bloß in keinem Wi‐ derspruch, sie öffnet vielmehr die Autonomie sich selbst, sie steht für ihren Herz‐ schlag ein.“ (2002, 106) Souveränität und Operieren jenseits des Rechts sähen sich durch eine solche Verantwortung außer Gefecht gesetzt, müssten sie gemäß einer Verantwortung agieren, die ihnen der Andere oktroyiert, wären sie dann nicht mehr souverän. Derrida verteidigt also Autonomie und Freiheit und lehnt apolitische Pas‐ sivität ab. Wenn man aber ohne Verantwortung für den Anderen sich selbst nicht zu entfal‐ ten vermag, dann eröffnet solcherart Heteronomie eine Perspektive der Autonomie, die für Derrida Maurice Blanchot 1988 in einem Brief an den französischen Schrift‐ steller Salomon Malka formulierte. „Es war in der Tat die nazistische Verfolgung
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(und sie wurde von Anfang an betrieben, anders als bestimmte Philosophieprofesso‐ ren uns einreden wollen, um uns weiszumachen, dass 1933, als Heidegger sich ihm anschloss, der Nationalsozialismus noch eine annehmbare Doktrin war, die nicht verurteilenswert war), die uns spüren ließ, dass die Juden unsere Brüder waren und das Judentum nicht nur eine Kultur, ja nicht nur eine Religion, sondern die Grundla‐ ge unserer Beziehungen zum anderen.“ (zit. bei Derrida 2002, 406) Diskriminierung, Verfolgung und völkermörderische Vernichtung führen vor Au‐ gen, dass sich die Freundschaft dort zu bewähren hat, wo es um solche Verbrechen geht, die den Anderen in seiner Andersheit fundamental in Frage stellen. Deshalb ruft der Andere in die Verantwortung, muss man diesem antworten, weil es der an‐ dere Mensch ist, der jemanden konkret anspricht. Dieses Antworten wie das daraus sich ergebende Verantworten ist ein konkreter Akt, eine Reaktion auf einen anderen Menschen, der einem begegnet. Die Begegnung ruft aber nicht nur in die Verantwor‐ tung, sie gibt auch zu denken. Derrida entwirft: „Vor allem und zugleich gibt es aber für den Menschen das Denken einzig deshalb, weil es Denken des anderen ist, und Denken des anderen als Denken des Sterblichen.“ (2002, 302) So verschiebt Derrida Descartes‘ Formel – „ich denke, also bin ich“ (1960, 53) –, die das Subjekt begrün‐ det, in: „Ich denke, also denke ich den (das, die) andere(n) (...): Ich denke, also ist die Möglichkeit der Freundschaft der Bewegung meines Denkens in dem Maße in‐ härent, in dem es den anderen braucht.“ (2002, 303) Indem der Andere das Denken provoziert, begründet sich die Verantwortung und folglich die Freundschaft, nicht weil er einem ähnelt, sondern weil es darauf nicht ankommt: „Die Notwendigkeit des anderen, die Sache und der Grund des anderen im Herzen des cogito.“ (2002, 303) Dann geht es bei der Verantwortung für den Anderen um eine Gabe, die keinen Austausch, keinen Handel, keine Reziprozität verlangt. Die Themen der Gabe wie der Gastlichkeit sind wesentliche Teile der Derridaschen Ethik, die Burkhard Liebsch Derridas politischem Denken zugrunde legt, womit er nicht zu Unrecht Der‐ rida in manche aporetische Verlegenheit bringt. Wenn man indes Derridas Staatsver‐ ständnis wie seine politische Philosophie darauf nicht unmittelbar stützt, werden bei‐ de nicht nur konsistenter, sondern auch seine demokratischen wie emanzipatorischen Perspektiven konsequenter – wiewohl man der Dekonstruktion damit vielleicht kei‐ nen Gefallen tut. Von Nietzsche lässt sich Derrida inspirieren: Indem „eine Logik der Gabe“ der Freundschaft „eine neue, zugleich sanfte und gewaltsame Drehung versetzt, (...) ge‐ mahnt sie die Freundschaft an die Unterbrechung der Reziprozität, (...) die Unver‐ hältnismäßigkeit, die Gastfreundschaft, an die ohne Gegenleistung gewährte oder empfangene Unterkunft, (...) kurzum: an den irreduziblen Vorrang des anderen.“ (2002, 99) Freunde rechnen nicht gegenseitig auf, sondern dienen dem Anderen, übernehmen Verantwortung für ihn. Dann stützt sich Rawls‘ Eine Theorie der Ge‐
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rechtigkeit mit dessen Grundprinzip der Reziprozität auch auf gar kein ethisches Kriterium, sondern höchstens auf ein rechtliches, das sich ja berechnen lässt und so‐ mit allemal nur ‚Eine Theorie des Rechts‘ sein kann. So schreibt auch Susanne Lü‐ demann: „Im Unterschied zum Recht ist Gerechtigkeit für Derrida nicht subsumtiv, sie beruht nicht auf dem Ver- und Ausgleich konkurrierender Ansprüche und nicht auf Reziprozität, sondern sie muss, unbeschadet ihrer Universalität, der absoluten Singularität des Einzelnen angemessen sein.“ (2011, 105) Derridas ethische Vorstellungen von der Gabe weisen denn auch jene Bestimmun‐ gen zurück, die mit der Gabe eine Gegengabe verbinden. Das entspräche nicht mehr als einem Tauschhandel, produzierte Schuldigkeiten, die es abzutragen gelte. Grund‐ sätzlich erscheint die Gabe zwar als gut. Wird sie indes mit einer Gegengabe verbun‐ den, verwandelt sie sich in Boshaftigkeit. Marx versteht dergleichen noch als Meta‐ morphose, Nietzsche als genealogischen Zusammenhang. Dementsprechend sagt Derrida, „dass Geben zwar spontan als gut bewertet wird“, und zwar in seinen Vor‐ trägen, die 1991 unter dem Titel Falschgeld veröffentlich wurden und die auf Semi‐ nare in der Ecole normale supérieure Ende der siebziger Jahre zurückgehen, „dieses ‚Gute‘ sich aber doch leicht ins Gegenteil verkehren kann: bekanntlich kann es als Gutes zugleich schlecht, böse, giftig sein (...).“ (1993, 23) In Falschgeld setzt er sich primär und intensiv mit der Gabe auseinander, was damit Derridas ethische Orientie‐ rung in die siebziger Jahre rückbezieht. So kann eine Gabe als Tausch für Derrida keinesfalls eine Gabe sein. Die Gabe „auf einen Tausch reduzieren, hieße ganz einfach, die Möglichkeit selbst der Gabe annullieren.“ (1993, 103) Die Gabe muss folglich einseitig sein, so dass man sie kei‐ nesfalls mit der heutigen Praxis des Schenkens vergleichen sollte: Selbst die Weih‐ nachtsgeschenke für Kinder verfolgen andere Absichten. So spricht Derrida: „Damit es Gabe gibt, ist es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht be‐ gleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuld‐ verhältnis tritt. (1993, 24) Eltern und Kinder leben notorisch in Vertragsverhältnis‐ sen. Aber das reicht Derrida noch keineswegs, um die Gabe als Gabe zu qualifizie‐ ren. Denn die Gabe dürfte eigentlich gar keine Gabe sein. Um das zu erreichen, gibt es für Derrida nur eine radikal ethische Lösung, die er folgendermaßen erklärt: „Eine Gabe ohne kalkulierbaren Austausch, eine Gabe, die ihren Namen verdiente, würde nicht einmal dem Geber oder dem Beschenkten als solche erscheinen, (...).“ (2003 b, 201) Und das sagt er 2003 in seinem Vortrag Die ‚Welt‘ der kommenden Aufklärung – einer der beiden Texte des Schurken-Buches – was eine thematische Kontinuität im Werk von Derrida bekräftigt. Die Gabe unterliegt also keiner Bedingung. Vielmehr verkörpert sie eine ethische Unbedingtheit wie Absolutheit. Gerade deswegen erscheint sie wenig politisch, was letztlich auch für Derridas Verständnis von Gastlichkeit gilt, wenn er sagt: „Unter all den Figuren der Unbedingtheit ohne Souveränität, (...) gäbe es beispielsweise die der
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unbedingten Gastfreundschaft, die sich dem Kommen des anderen jenseits des Rechts unbeschränkt öffnen. (...)“ (2003 b, 199) Eigentlich dürfte man gar nicht be‐ merken, dass man ein Gast ist und umgekehrt der Gastgeber nicht, dass er einen Gast hat. Natürlich lassen sich Gabe und Gastlichkeit auf die Lage von Flüchtlingen übertragen und gewinnen dabei eine eminent politische Bedeutung, die sich in Derri‐ das Modell allerdings darauf beschränkt, die Gewalt jener zu entbergen, die die Auf‐ nahme von Flüchtlingen ablehnen. Derridas Trennung von Unbedingtheit und Souveränität kritisiert dagegen Burk‐ hard Liebsch. Gegen Derridas Bestimmung des Einzelnen durch den Anderen wen‐ det er nämlich ein, dass dazu eine eigene feste Identität vonnöten ist, die sich auf individuelle Souveränität stützt: „Wer anders als Menschen, Individuen, Subjekte oder politische Wesen, (...), sollte für die Stabilität, die Verlässlichkeit und Gastlich‐ keit einer solchen Lebensform bürgen, (...) wenn nicht gerade sie: politische, menschliche Subjekte, solche Un-Wesen, die immerhin sich und Andere daraufhin befragen können, wer sie sind oder (sein) werden; und zwar (...) auf politisch ver‐ lässliche Art und Weise.“ (2015, 366) Liebsch verbleibt damit indes in einem Poli‐ tikverständnis, das als Bürger einen bestimmten Typus verlangt. In einer Welt von Individualisierungs- und Emanzipationsprozessen könnte das aber abweichende Hal‐ tungen ausgrenzen. Oder umgekehrt, wenn der Andere nur von einem souveränen Ich anerkannt werden kann, dann kann man Derridas Staatsverständnis bezweifeln. Aber geht es nicht darum, dass sehr viele dazu in der Lage sein sollten, auch wenn es ihnen an solcher Souveränität mangelt? Daher spielt die Souveränität für Derrida bei der Verantwortung keine Rolle, tre‐ ten Verantwortung, Freundschaft und Gerechtigkeit aus jeder Form der Identität, des Traditionalen oder gar des Nationalen heraus und lassen diese hinter sich. Sie zwin‐ gen zum Denken, anstatt dass sie erlauben würden, sich mit Ähnlichkeit und Gleich‐ heit einzurichten. So sagt Derrida im Vortrag Das andere Kap: „Gerade im Namen der Identität (...) ereignen sich die schlimmsten Gewalttätigkeiten; (...) die Verbre‐ chen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fanatismus.“ (1992 b, 10) Auch Liebsch will das natürlich verhindern, aber mit einer starken individuellen Identität, die sich auf Souveränität stützt. Und sicherlich konstatiert er in pragmatischer Perspektive in seinem Buch Für eine Kultur der Gastlichkeit zurecht: „Gerade eine Rhetorik gastlicher Solidari‐ tät mit Fremden sollte sich nicht darin erschöpfen, ‚gut gemeint‘ zu sein.“ (2008, 241) Sicherlich wird der Andere auch von Institutionen repräsentiert, dem Recht, dem Gericht, dem Parlament, den Kirchen. Denn die Verantwortung stellt sich doch nicht von selber ein. Man muss über die eigene Verantwortung Bescheid wissen, ein Wis‐ sen, das Institutionen vermitteln. Trotzdem beruht die Übernahme der Verantwor‐ tung auf einer Entscheidung, die als Sprung erscheint, den als erster Kierkegaard
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entwarf. Man überlegt nicht, man kalkuliert nicht, man wägt nicht ab, wenn man die Verantwortung übernimmt, sondern man übernimmt sie einfach und unterbricht da‐ mit den Fluss der Information, des Wissens, die Heteronomie verkörpern und setzt dagegen mit der Entscheidung ohne jegliche Regel die Freiheit ein. Freiheit und Ver‐ antwortung gehören indes zusammen, wiewohl die Entscheidung eine unbewusste bleibt, weil sie schließlich nicht kalkuliert. Jedenfalls widerstrebt es Derrida, Freundschaft einer Gemeinschaft zu unterstel‐ len, selbst wenn man dabei die Menschlichkeit und die Andersheit des Anderen ein‐ kalkulieren würde. Aus solchen Bemühungen hat sich vielmehr eine bestimmte Sprache entwickelt, die zu einer Politik führt, die äußerst problematische Konse‐ quenzen nach sich zieht. Dadurch werden nicht nur Abwege verstellt, die eine ande‐ re, nicht an dieser Tradition orientierte Politik verhindern. So geht es Derrida um ein Denken der Freundschaft, das sich von diesen Traditionen befreit und einen Weg in ein anderes Verständnis der Demokratie ebnet. Derrida fragt: „Ist es möglich, die Demokratie (...) zu denken und ins Werk zu setzen, indem man sämtliche Formen der Brüderlichkeit, nämlich der Familie oder der androzentrischen Ethnie entwur‐ zelt, die ihr von all jenen Figuren der (philosophischen oder religiösen) Freundschaft diktiert werden?“ (2002, 409) Dazu gilt es, das Denken über die Demokratie wie die Freundschaft nicht zu ver‐ engen, es nicht durch eine bestimmte Begründung festzulegen, sondern es gegenüber kommenden, überraschenden Entwicklungen der Demokratie wie der Freundschaft offenzuhalten. Nur so können Demokratie wie Freundschaft unabhängig vom Frater‐ nalismus wie vom Phallogozentrismus entstehen, ohne dass man ihre eigenen Mög‐ lichkeiten verengt. Auch die Dekonstruktion führt in die Aporien von Freundschaft und Demokratie, die sich von den traditionellen Bestimmungen fernzuhalten versuchen. Denn, so Derrida, „stets gibt es Brüderlicheres als den Bruder, Freundschaftlicheres als den Freund, Gerechteres als die Gerechtigkeit, (...) und stets ist es (...) die Inkommen‐ surabilität dieses ‚mehr‘, die das Maß (...) abgibt.“ (2002, 322) Es gibt keinen utopi‐ schen Zustand. Selbst die verwirklichte Utopie würde ständig überschritten. Jede Revolution sieht sich damit konfrontiert, dass ihre Errungenschaften verblassen. Na‐ türlich gibt es kein ‚letztes Gefecht‘. Selbstredend gilt das umso mehr für jede Re‐ form, jede Rettungsbemühung vor dem Weltuntergang, den rechte wie linke Apoka‐ lyptiker – Sloterdijk, Latour oder Mason – beschwören. So fragt Derrida bereits 1983: „worauf wollen jene hinaus, und zu welchem Zweck, die das Ende von die‐ sem oder jenem, des Menschen oder des Subjekts, des Bewusstseins, der Geschich‐ te, des Abendlandes oder der Literatur und als letzte Neuigkeit des Fortschritts selbst verkünden, dessen Idee noch nie bei Rechten oder Linken so schlecht dastand“? (1985 a, 60)
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Damit eröffnet sich indes noch eine weitere Perspektive, nämlich diejenige, dass Freundschaft und Liebe die Politik hintergehen und überschreiten. So schreibt Derri‐ da: „Was, wenn es ein Lieben gäbe (...), das mit der Bejahung des Lebens und der endlosen Wiederholung dieser Bejahung darum und nur darum einherginge, weil sein Weg über das Politische hinausginge (...)?“ (2002, 173) Nietzsche fordert die permanente Bejahung des Lebens. Doch dadurch könnte sich der Gegensatz von Pri‐ vatheit und Öffentlichkeit verschärfen. Aber womöglich passiert es auch umgekehrt, dass aus dem Privaten heraus eine andere Politik auf den Weg gebracht wird, dass die Freundschaft die Politik über sich selbst hinaustreibt zu anderen Formen der Po‐ litik. Nietzsche propagiert neue Werte, die nicht zuletzt auf die Politik rückwirken könnten (vgl. Schönherr-Mann 2009, 153). Derrida bemerkt weiter: „Hinaus (...) über dieses Politische als Horizont der Endlichkeit, (...)? Ein philein jenseits der Po‐ litik oder eine andere Politik, um zu lieben, die Liebe zu einer anderen Politik? Müs‐ sen polis, politeia, philia, Eros etc. in einer ganz anderen Weise voreinander getrennt oder mit einander verbunden werden?“ (2002, 173) Sollte man sich von einem Ende der Politik und einer anderen Politik indes so wenig beeindrucken lassen, dass jetzt endlich die wahre Politik der Freundschaft an‐ bricht? Denn auch diese wird überschritten werden. Also gilt, es angesichts des To‐ des des Freundes die Contenance zu bewahren und nicht plötzlich alles Trennende zu vergessen. So schreibt Maurice Blanchot am Ende seines Buches über Die Freundschaft, das eine Sammlung von Rezensionen ist, 1962 zum Tod von Georges Bataille: „So besitzt der Tod die falsche Tugend, so zu tun, als gäbe er denjenigen die Nähe zurück, die schwere Differenzen getrennt haben. Denn mit ihm verschwin‐ det alles Trennende. (...) Wir sollen nicht durch Kunstgriffe so tun, als setzten wir einen Dialog fort.“ (2011, 372) Denn wie hatte doch Bataille 1944 in seinem Werk über Die Freundschaft ge‐ schrieben: „Wer von Gerechtigkeit spricht, ist selber Gerechtigkeit, schlägt einen Gerichtsherrn, einen Vater, einen Führer vor. Ich schlage nicht die Gerechtigkeit vor. Ich bringe komplizenhafte Freundschaft. Ein Gefühl von Festlichkeit, von Freizü‐ gigkeit, von kindlicher und verteufelter Lust.“ (2002, 58) Das missfällt bestimmt vielen, 2018 Eva Illouz, wenn sie schreibt: „Was die Sexualität aber zu der beherr‐ schenden kulturellen Struktur gemacht hat, als die sie sich heute darstellt, war der Umstand, dass sie von der Wirtschaft erobert und in Szene gesetzt wurde.“ (2018, 99) Bataille stützt die Freundschaft dagegen sogar auf ökonomische Verschwen‐ dung, Ausschweifung und einen Abschied von der Moral des 19. Jahrhunderts. Um‐ gekehrt fordert Illouz vehement, „so etwas wie sexuelle Ehre oder Normen der Mo‐ nogamie zu respektieren.“ (2011, 117) So kann man Derrida vorwerfen, Freund‐ schaft, Eros und Politik im Stil von Nietzsche, also doch etwas phallogozentrisch miteinander zu verbinden. Daher darf man wie Burkhard Liebsch fragen, ob eine solche dekonstruierte Politik nicht in die Entpolitisierung der Politik führt: „seine Fi‐
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xierung auf jene Aporetik des Politischen droht paradoxerweise in eine Depolitisie‐ rung des Diskurses über das Politische zu münden, da sie ganz und gar (nicht ohne Grund, gewiss) offen lässt, was denn wie vor wem und unter welchen Umständen um willen einer gastlichen Demokratie zu tun ist.“ (2015, 384) Und in der Tat ent‐ wirft Derrida kein Konzept für eine konkrete demokratische Politik.
9. Kapitel: Von der Marxschen Sozialphilosophie zur Staatstheorie Aristoteles stützt Politik auf die Freundschaft. Für Derrida zeichnet sich dabei be‐ reits die Frage der Gerechtigkeit ab, wenn es dabei um Verantwortung geht. Just aus dieser Perspektive sieht Derrida einen Weg in eine andere Demokratie wie in eine andere Gerechtigkeit, bei der die Emanzipation, die Andersheit und die Differenz die entscheidende Rolle spielen. Verabschiedet sich Derrida damit von jener Linken, die sich heute weiterhin auf Marx beruft und die Emanzipationstendenzen als neoliberal geißelt? Jedenfalls setzt er sich in jenen Jahren auch intensiv mit Marx auseinander. 1993 veröffentlicht er sein Buch Marx‘ Gespenster, dem zwei Vorträge vom April dessel‐ ben Jahres an der Universität von Kalifornien zugrunde liegen. Der Text ist zwar nachträglich erweitert, hat aber seine mündliche Form behalten, was ihn nicht zu‐ gänglicher macht, handelt es sich wie in ähnlichen Fällen – nicht nur bei Derrida – häufig schlicht um schlechten schriftlichen, dafür mündlich ausuferndem Stil, zu dem Derrida ja neigt. Das gilt beispielsweise auch für Foucaults Vorlesungen. Aber diese sind zumeist posthum vom Tonband abgetippt. Derrida gibt sich zu Lebzeiten und nicht erst im hohen Alter, sondern bereits mit 37 mit dem Gesprochenen zufrie‐ den, ohne es in einen lesefreundlichen Stil zu bringen. 1992 hatte der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama sein Buch Das Ende der Geschichte publiziert, in dem er – sich fälschlich auf Hegel berufend – eine historisch notwendige Entwicklung schildert, die in den Hafen der liberalen De‐ mokratie geführt habe. So schreibt er: „Der liberale Staat ist notwendig universal, das heißt, er bietet allen Bürgern Anerkennung, weil sie menschliche Wesen sind, und nicht, weil sie einer bestimmten nationalen, ethnischen oder rassischen Gruppe angehören.“ (1992, 280) Aber sicherlich nicht nur dieses jubilatorische Verhalten, den Sieg des Kapitalis‐ mus über den Marxismus zu feiern und ihm als ‚gute Nachricht‘ auch noch eine evangelische Weihe zu verleihen, provozierte Derrida zu einer Auseinandersetzung mit Marx. Strukturalismus, Sprachphilosophie, Poststrukturalismus und Postmoder‐ ne – nicht zuletzt weil viele ihrer Vertreter in Frankreich von Althusser beeinflusst waren – standen von Anfang an im Fokus einer linken, besonders neomarxistischen
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Kritik, die diesen Richtungen – etwas grob formuliert – abweichendes Verhalten und gemeinsame Sache mit dem Kapitalismus vorwerfen. Marx brannte seit 1989 schlicht auf den Nägeln eines Philosophen, der sich von jenem abgewandt hatte, aber der sich ihm auch in vieler Hinsicht immer verbunden fühlte. Beide Motive darf man als eine Marxsche Erbschaft bezeichnen, die es ange‐ sichts des jubilatorischen Gestus nicht nur von Fukuyama abzuarbeiten galt. So be‐ merkt auch Zima: „Derrida hat sich zwar nie den marxistischen Sprachgebrauch zu eigen gemacht, aber die kulturrevolutionären Zielsetzungen der Tel-Quel-Gruppe und des Jahres 1968 waren ihm kei‐ neswegs fremd.“ (1994, 198) Noch dazu hatte Derrida ja mit den Vorträgen zur Gesetzeskraft, insbesondere mit jenem über Benjamin, bereits den Grundstein zu einer Auseinandersetzung mit Marx gelegt, wie umgekehrt ihn die dort erarbeitete Perspektive der Dekonstruktion zu einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Marxschen Erbe zwang, wenn es ihm primär um Gerechtigkeit und nicht um Revolution geht. Überraschend erteilt er in‐ des dem Marxismus ein Lob: „Außerdem unterschied sich der Kommunismus durch seinen internationalen Charakter grundlegend von den anderen Arbeiterbewegun‐ gen. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte sich eine organisierte politische Bewegung als geo-politisch präsentiert, auf diese Weise den Raum eröff‐ nend, der inzwischen der unsere ist und der heute an seine Grenzen stößt, Grenzen der Erde und Grenzen des Politischen.“ (2004 a, 60) Der Universalismus gilt ja nicht gerade als Markenzeichen des Denkens von Derrida. Aber jedes Denken – gleich‐ gültig ob empirisch ausgerichtet, relativistisch oder auf das Ereignis fokussiert – be‐ herbergt Elemente, die auf Allgemeines Bezug nehmen. Marx universeller Anspruch war obendrein für das nationalistische 19. Jahrhundert eine Provokation und man darf darüber streiten, ob sich sein Denken im 20. Jahrhundert weniger im real exis‐ tierenden Sozialismus als in der UN wiederspiegelt, was die meisten Marxisten zu‐ rückweisen werden. Trotzki scheitert jedenfalls mit seiner Perspektive: „Die sozia‐ listische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena.“ (1969, 151) Zudem kehrt Derrida gelegentlich in den kritischen Gestus der Marxisten ein, der dem real existierenden Kapitalismus zumindest implizit immer noch den Untergang prophezeit, umso mehr als der Untergang gerade auf der anderen Seite der Geschich‐ te stattfand, wo ihn Marxisten gar nicht erwartet hätten. So schreibt Derrida 1993: „Muss man, was den Bürgerkrieg angeht, noch daran erinnern, dass die liberale De‐ mokratie parlamentarischer Form noch nie so in der Minderheit und noch nie so iso‐ liert in der Welt gewesen ist wie heute?“ (2004 a, 112) Abgesehen davon, dass der Bezug zum Bürgerkrieg unvermittelt erfolgt, darf man darauf hinweisen, dass um 1993 ein weltweiter Prozess von Demokratisierungen im Gange war, auf den sich
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Fukuyama beziehen konnte, wiewohl es noch nicht sicher war, inwieweit viele die‐ ser Demokratisierungen versanden würden. So wirkt dieser Satz von Derrida min‐ destens unzeitgemäß, aber apokalyptisch einer marxistischen Idiosynkrasie folgend. Und im postmarxistischen Sinn sagt er über die liberale Demokratie weiter: „Das auf freien Wahlen beruhende Repräsentativsystem oder das parlamentarische Leben werden nicht nur, wie es immer der Fall war, durch eine große Anzahl sozioökono‐ mischer Prozesse verfälscht, sondern es wird immer schwieriger, in einem öffentli‐ chen Raum Demokratie auszuüben, der durch die techno-tele-medialen Apparate ebenso gründlich auf den Kopf gestellt wird, (...).“ (2004 a, 112) Damit antizipiert er nicht nur die Postdemokratie-These von Colin Crouch aus dem Jahr 2004. En pas‐ sant widerlegt er sie gleichzeitig. Denn Crouch versucht vorzuführen, dass mediale und ökonomische Mächte der‐ art zusammenspielen, dass Demokratie und Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten abgebaut werden. Er konstatiert: „Viele Symptome weisen darauf hin, dass (...) wir uns vom Ideal der Demokratie fort- und auf das postdemokratische Modell zubewe‐ gen.“ (2008, 29) Das mag für den Abbau des Sozialstaates in vielen Ländern der Fall gewesen sein. Dagegen bemerkt Derrida, dass die Demokratie durch mediale und ökonomische Mächte immer schon massiv beeinträchtigt wurde, dass man also nicht im Sinn von Crouch von Postdemokratie sprechen kann. Denn nach Crouch kam es nach dem zweiten Weltkrieg zu Demokratisierung und Ausbau des Sozialstaates, was seit den achtziger Jahren rückgängig gemacht wurde. Dem hält Jan-Werner Müller entgegen: „Man sollte gleichwohl in Erinnerung behalten, dass die Vorzei‐ chen, unter denen diese Modernisierung stattfand, alles andere als modern wirkten. Denn sie wurde mittels einer paternalistischen Politik vorangetrieben, (...).“ (2013, 246) Linke Politiker in den fünfziger und sechziger Jahren genauso wie Marxisten im Allgemeinen verstehen unter Demokratisierung denn auch nicht unbedingt Parti‐ zipation. Das ist erst Sozialdemokraten seit den siebziger Jahren vergönnt. Und wer, wenn auch nur entfernt und selbstverständlich klammheimlich, noch an die Diktatur des Proletariats denkt, dürfte mit paternalistischer Politik wenig Probleme haben. Dass just in den neunziger Jahren sich die zuvor von allen Parteien noch weitge‐ hend bekämpften sozialen Bewegungen als Zivilgesellschaft etablieren konnten, muss Derrida 1993 noch nicht unbedingt ahnen. Das hätte allerdings Crouch 2004 sehen dürfen, wird aber von ihm in postmarxistischer Manier verdrängt, weil diese Bewegungen zumeist nicht mehr dem Primat der Ökonomie folgten, sowenig wie sie den Antikapitalismus als oberstes Gebot betrachten – ein Gebot, das im 19. Jahrhun‐ dert aufkam und seither eine erstaunliche gedankliche Hegemonie entfaltete, die seit langem – schon bei den Nazis – weit ins rechte Lager reicht. 2004 zeigt Derrida kurz vor seinem Tod jedenfalls gewisse Sympathien mit den damals aktiven globalisie‐ rungskritischen Gruppen wie Attac.
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1. Von Geschichte und Ökonomie zur politischen Philosophie Wenn Derrida Benjamin darin folgt, dass Staat und Recht auf Gewalt beruhen und er daraus die Notwendigkeit einer Gerechtigkeit ohne Recht ableitet, dann stellt sich die Frage, inwieweit Marx mit revolutionären und ökonomischen Theorien dabei eine Rolle zu spielen vermag. Jedenfalls hält Derrida den Kapitalismus für zerbrech‐ lich und daher für bedroht – in gut marxistischer Manier. Allerdings gewinnt diese Bedrohung bei Derrida eine gewisse Ambivalenz. Denn sie hat und hatte immer schon etwas Gespenstisches. Das beginnt bereits mit den berühmten Worten aus dem Kommunistischen Manifest: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ (1972, 461) Derrida führt seinen Titel Marx‘ Gespenster auf diese Formulierung zurück. Einerseits hat ein Gespenst etwas bedrohliches, jedenfalls in einer Welt, die Gespensterglauben noch näher stand. Dementsprechend symbolisiert die Tochter des Bergmanns in Heinrich Heines Berg-Idylle 1824 das so ungebildete wie abergläubische deutsche Volk: „Also blühen Märchenbilder / Aus des Mundes Röselein, / (...).“ (1980, 52) Andererseits mindert in aufgeklärter Perspektive die Rede vom Gespenst die da‐ mit ausgedrückte Bedrohung. Ironischerweise – denn so hat es Marx mit Sicherheit nicht gemeint – als er im Auftrag des Bundes der Kommunisten 1847 das Manifest schrieb, ein Bund der sich damals in ganz Europa und Nordamerika auf ca. 500 Mit‐ glieder berufen konnte, der sich zwar in den Revolutionsjahren 1848/49 eines gewis‐ sen, aber bescheidenen Zulaufs erfreute und der sich unter Verfolgungsdruck und an‐ gesichts innerer Zwistigkeiten 1852 auflöste. Davor erzitterten die Mächte Europas schwerlich, noch dass sie – wie Marx unterstellt – zu heiligen Hetzjagden aufgeru‐ fen hätten – jenseits des üblichen Verfolgungsdrucks. Negativ betrachtet ist der Kommunismus nur ein harmloses Gespenst. Nach Derrida hat Gespenst indes noch eine dritte Perspektive, nämlich eine, die die beiden anderen Bedeutungen der Bedrohlichkeit und der Harmlosigkeit ver‐ schiebt, und zwar in die Richtung des Geistes, der Sprache, des Diskurses und der Nicht-Materialität. Derrida schreibt: „Im Grunde ist das Gespenst die Zukunft, es ist immer zukünftig, (...): In (der) Zukunft, sagen die Mächte des alten Europa im letz‐ ten Jahrhundert, darf es sich nicht inkarnieren.“ (2004 a, 61) In der Zukunft – sagt Marx – wird der Kommunismus erstarken. Aber das betrifft für Derrida nicht nur das 19. Jahrhundert, sondern auch seine ei‐ gene Zeit, nachdem die Sowjetunion untergegangen war. Dabei ergeben sich indes diverse Verschiebungen, die sich in einige Ambiguitäten verwandeln. „Als ich die‐ sen Titel vorschlug, Marx‘ Gespenster,“ schreibt Derrida, „dachte ich anfangs an al‐ le Formen einer Heimsuchung, (...). In dem Augenblick, wo eine neue, weltweite Unordnung ihren Neo-Kapitalismus und ihren Neo-Liberalismus zu installieren ver‐ sucht, gelingt es keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen.“
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(2004 a, 59) Damit bleibt nicht nur das Marxsche Erbe eine Drohung am Horizont. Der Kapitalismus selbst erzeugt Strukturen, die als Heimsuchung gespenstische Form annehmen. Was realer dabei ist, bleibt durchaus offen. Bedrohungen hängen nicht nur vom Bedrohenden ab, sondern auch von dem, der sich bedroht fühlt. Und das Unsicherheitsgefühl ist nun mal individuell. Bereits 1989 in seinem Vortrag Die vertagte Demokratie stellt Derrida fest: so „muss man daran erinnern, dass das Ge‐ spenst eine Geschichte hat: eine europäische (...) jungen Datums.“ (1992 a, 84) Einerseits zeigt sich ein marxistisches Erbe oder das Gespenst des Kommunismus bei Derrida bei seiner Kapitalismuskritik, die Marx’ Gespenster durchzieht. Denn er klagt an, dass der Kapitalismus „(...) in der heutigen Weltmarktordnung einen gro‐ ßen Teil der Menschheit unter seinem Joch und in einer neuen Art von Sklaverei hält. Das geschieht und autorisiert sich immer an den staatlichen oder zwischenstaat‐ lichen Formen einer Organisation.“ (2004 a, 133) Mit dem letzten Satz scheint er das zwar insoweit einzuschränken, als er dafür die Staaten mitverantwortlich macht. Al‐ lerdings vertritt er ja auch die marxistische These, dass die modernen Demokratien von ökonomischen Mächten geprägt werden und das nicht erst seit den letzten Jahr‐ zehnten. Andererseits überschreitet er die gängige marxistische Kapitalismuskritik wie‐ wohl in einer Weise, die wiederum zumindest den implizit ethischen Anspruch aus dem marxistischen Erbe verlängert. Denn die Ethik stellt ja keineswegs eine originä‐ re marxistische Perspektive dar, sondern wird von Neo- oder Postmarxisten dem Marxismus heute gerne hinzugefügt. Während zudem Marx für das Lumpenproleta‐ riat wenig übrig hat, kritisiert Derrida die Behandlung von sozialen Randgruppen: „die Ausweisung oder Abschiebung so vieler Exilanten, Staatenloser und Immigran‐ ten aus einem Territorium, das national genannt wird, kündigt bereits eine neue Er‐ fahrung von Grenzen und – nationaler oder bürgerlicher – Identität an.“ (2004 a, 116) Damit stellt er den Nationalstaat in Frage und klinkt sich zumindest implizit in eine Orientierung an der Europäischen Union ein. Das passt indes wenig zum gängi‐ gen postmarxistischen Gestus einer EU-Schelte als einer neoliberalen Institution, eine Schelte, die der rechten Verherrlichung des Nationalstaates häufig nahe kommt. So schreibt Wolfgang Streeck 2013 während der Euro-Krise: „Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kre‐ ditgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher erscheinen, es auch einmal mit un‐ verantwortlichem Verhalten zu versuchen.“ (2013, 218) Lange bevor der nationalistische Populismus global Fahrt aufgenommen hat, tritt dieser bereits in den Fokus von Derridas Gesellschaftskritik. Allerdings spielte der Nationalismus in Frankreich seit Jahrzehnten immer eine Rolle. Und sicherlich ur‐ teilt Derrida im Geist des Marxismus, also durchaus etwas gespenstisch, wenn er
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schreibt: „Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluss, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen.“ (2004 a, 121) Dass ist sicher richtig, weil auf der Welt noch nie so viele Menschen wie heute gelebt haben, verschiebt sich aber etwas gespenstisch, da in früheren Epochen proportional mehr Menschen eines gewalt‐ samen, kriegsbedingten Todes starben als im 20. Jahrhundert. Denn das kündigt ja gar eine Art Fortschritt an, wiewohl dieser sich seinen Weg über die Schlachtfelder ebnet, auf denen heute gleich Millionen ums Leben kamen. So bekennt sich Derrida mit seiner Sozialkritik zu Marx, genauer zum Marxschen Erbe, freilich unter gewissen Vorbehalten, die kontraintuitiv darin gipfeln, dass er in Marx & Sons 1998 die so überraschende wie unpassende, aber alles entscheidende Frage stellt: „Haben wir von Marx oder bekommen wir von ihm noch eine politische Philosophie? Und eine politische Philosophie als Ontologie? (...) Warum scheint (...) auf jenen problematischen Gebieten, die man beispielswiese ‚Politik‘, ‚das Poli‐ tische‘, ‚die Ideologie‘, die ‚Partei‘ oder die ‚Klassen‘ etc. nennt, alles auf sie hin‐ auszulaufen?“ (2004 b 16) Immerhin stellt er diese Frage einige Jahre, nachdem Jacques Rancière, Mitarbei‐ ter von Foucault, der zusammen mit Agamben in den frühen neunziger Jahren am Collège international de philosophie in Paris arbeitete, mit seinem Buch Das Unver‐ nehmen 1995 die politische Philosophie gegenüber Sozialphilosophie und Postmar‐ xismus geöffnet hat, entwickelt Rancière eine linke politische Philosophie, die vom Konflikt zwischen Arm und Reich ausgeht, wenn er schreibt: „Es sind die Alten, weit mehr als die Modernen, die als Prinzip der Politik den Kampf zwischen Armen und Reichen anerkannt haben. Aber genau genommen haben sie in ihm die eigent‐ lich politische Wirklichkeit erkannt – selbst wenn sie ihn auslöschen wollten.“ (2002, 24) Diesen Konflikt reflektiert Rancière vor allem sprachphilosophisch, we‐ niger ökonomisch, so dass man diese ansatzweise auch linke politische Philosophie als postmodern bezeichnen kann. Eingedenk des Marxschen Erbes verschiebt er da‐ mit die traditionell konservative oder liberale politische Philosophie nach links bzw. verbindet sie mit der Postmoderne. Dazu hatte Jean-François Lyotard den Weg geeb‐ net, indem er eine postmoderne politische Philosophie sprachphilosophisch an‐ schiebt. Wenn er dabei die hegemoniale Position der Ökonomie in Zweifel zieht, dann widerspricht er aber gängigen linken Positionen. Wenn Derrida 1998 dagegen nach einer von Marx her inspirierten, politischen Philosophie fragt, dann setzt er die von Rancière forcierte Debatte fort, weniger jene von Lyotard inspirierte. Daher ist es denn auch die richtige Frage, die Derrida stellt, wenn man heute aus dem Erbe von Marx heraus die Politik betrachtet. Je übermäch‐ tiger die neoliberal globalisierte Ökonomie erscheint, umso notwendiger werden Ge‐ genkräfte, zu denen in erster Linie die Politik gehört – aber man darf auch auf die
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Zivilgesellschaft und die Kirchen verweisen, die beide nicht zum Staat und nicht zur Ökonomie gehören, wiewohl sie mit beiden Bereichen zu tun haben. Dass eine von Marx her lancierte politische Philosophie trotzdem die Pfade der Sozialphilosophie und der Ökonomie verlassen könnte, drückt sich in Derridas Fra‐ ge nach der Ontologie aus: Gibt es eine Möglichkeit, das, was ist, nicht bloß ökono‐ misch oder sozial, sondern politisch zu verstehen? So wie es von Aristoteles über Thomas, Machiavelli bis zu Hobbes üblich war und woran heute primär der politi‐ sche Konservativismus festhält, zu denen sich denn noch der politische Liberalismus mit Rawls und Rorty gesellt, um nach der Dominanz der Sozialphilosophie das Feld der Philosophie wieder für die Politik zu öffnen (vgl. Schönherr-Mann 2012, 35). So überrascht nicht nur die Frage nach dem Zusammenhang von Marx und der politischen Philosophie, sondern umso mehr die folgende Feststellung: „Diese drei Fragen (‚Politik‘, ‚Philosophie‘, ‚Marx‘) sind unzertrennlich. Wenn es eine ‚These‘ oder Hypothese in Marx‘ Gespenster gab, würde sie heute diese Unzertrennlichkeit voraussetzen.“ (2004 b, 22) Damit hat sich Marx aber gründlich verschoben. Zwar hatte das Kommunistische Manifest mit Politik und Philosophie zu tun, aber nicht mit politischer Philosophie, sondern mit politischem Aktionismus und einer ge‐ schichtsphilosophischen Interpretation desselben. Ersterer scheiterte und letztere verblasste nachhaltig – zu weniger als einem bloßen Gespenst. Der Marx des Kapi‐ tal beschäftigt sich mit Ökonomie und begründet dabei die Soziologie. Für Derrida dagegen verbindet sich dieses Marxsche Erbe, dessen Topoi Derrida ja durchaus beschwört, mit Politik und Philosophie, was in der politischen Philoso‐ phie zusammenläuft. Lobend interpretiert Derrida das Kommunistische Manifest als ein politikphilosophisches Buch: „Kein anderer Text der Tradition erscheint so hell‐ sichtig in Bezug auf die stattfindende weltweite Ausdehnung des Politischen und den irreduziblen Anteil des Technischen und Medialen am Fortgang noch des tief‐ schürfendsten Denkens (...).“ (2004 a, 28) So verschiebt sich das Marxsche Erbe in eine politische Philosophie.
2. Marx‘ Denken als Wegbereitung der Dekonstruktion Die Generation Derridas war mit Marx auf vielfältige Weise unmittelbar konfron‐ tiert. Auf der einen Seite der dogmatische sowjetische Marxismus als Ideologie einer Weltmacht, der in Frankreich zugleich durch die Kommunistische Partei präsent war. Dann die undogmatischen Marxisten im Gefolge von Louis Althusser und schließlich die Maoisten, genauer die Linksradikalen rings um den Mai 1968 herum. Es verwundert weniger, wenn Derrida vor diesen Anspruch erheischenden Gruppen genauso wie vor der Schulphilosophie an den französischen Universitäten, wo er nicht ganz unschuldig als Randgänger der Philosophie betrachtet wird, ständig in die
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USA ausweicht, wo ihn in jenen Jahrzehnten vor allem die Literaturwissenschaftler schätzen und wesentlich zu seinem Ruhm beigetragen haben. Anfang der neunziger Jahre hat sich diese Lage dramatisch verändert, so dass Derrida konstatiert: „Es wird immer ein Fehler sein, Marx (...) nicht wiederzulesen und über ihn nicht zu diskutieren (...) Es wird mehr und mehr ein Fehler sein, ein Verfehlen der theoretischen, philosophischen, politischen Verantwortung.“ (2004 a, 29) Sowohl politisch als auch philosophisch lassen sich mit Marx soziale Probleme erhellen, wäre es daher verantwortungslos Marx im Stil von Fukuyama oder Popper für überholt zu erklären. Wie hatte letzterer 1945 geschrieben: „Marx war ein Ratio‐ nalist. Mit Sokrates und mit Kant hielt er die menschliche Vernunft für die Grundla‐ ge der Einheit der Menschen. Aber seine Lehre, dass unsere Ansichten durch unser Klasseninteresse bestimmt sind, beschleunigte den Untergang dieses Glaubens.“ (1970, 275) Gut 45 Jahre später sieht die Welt anders aus. Derrida sagt: „Seit die Dogmenma‐ schinerie und die ideologischen Apparate des Marxismus (Staat, Parteien, Zellen, Syndikate und andere doktrinäre Produktionsstätten) im Verschwinden begriffen sind, haben wir keine Entschuldigung mehr, nur noch Alibis, um uns von dieser Ver‐ antwortung abzuwenden.“ (2004 a, 29) Allerdings kann das nicht heißen, dass man einfach von vorne anfängt und sich so benimmt, als hätte es die Sowjetunion nicht gegeben. Vielmehr insistiert Derrida darauf, dass man die Geschichte eines prakti‐ schen und vor allem theoretischen Scheiterns aufarbeiten muss. Der offizielle Mar‐ xismus war gegenüber seinen Häresien wie auch gegenüber Wissenschaft und Philo‐ sophie ins Abseits geraten. Wer das Erbe von Marx erneuern oder auch bloß nicht ablehnen will, der muss dieses Erbe mit der Geschichte ins Verhältnis setzen. Doch angesichts einer realpolitischen kapitalistischen Übermacht, also einer Ana‐ lyse, der auch Derrida folgt, ist der Marxismus erst recht nicht veraltet, ja er ist gera‐ dezu notwendig, will man das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit neu denken. Dazu muss er aber umgestaltet werden: „Um diese Kriege und die Logik ihrer Anta‐ gonismen zu analysieren, wird eine Problematik Marxscher Tradition noch lange un‐ erlässlich bleiben. Noch lange und warum nicht für immer?“ (Derrida 2004 a, 94) Marx ist natürlich nicht das Ende der Geschichte. Doch als solches wird er von sei‐ nen Verehrern behandelt: Danach kommt die wahre menschliche Geschichte. Was für eine Anmaßung! Eine solche Verehrung muss man hinter sich lassen, was zu einer Veränderung dessen führen wird, wie Marx bisher rezipiert wurde. Daher spricht Derrida weiter: „Wir sagen mit Bedacht eine Problematik Marxscher Traditi‐ on, in der Offenheit und konstanten Verwandlung, die sie hätte kennzeichnen sollen und die sie wird kennzeichnen müssen, (...).“ (2004 a, 94) Das Marxsche Erbe muss zwar angenommen werden, aber zugleich dekonstruiert, also nicht bloß analysiert und damit auf grundlegende Begriffe zurückgeführt wer‐ den, sondern in seine Verästelungen hin bis in die letzten Aporien aufgelöst. Dekon‐
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struktion bewahrt vor metaphysischen Urteilen genauso wie vor dogmatischen Ver‐ härtungen. Derrida konstatiert: „(...) alle Menschen auf der ganzen Erde sind heute in gewissem Maß die Erben Marx‘ und des Marxismus.“ (2004 a, 128) Denn die Ausbeutung und Unterdrückung der Armen hat sich ja mit dem Sieg des Kapitalis‐ mus über den Sozialismus noch massiv verschärft. Derrida engagierte sich für Verfolgte nach dem Prager Frühling, wo er auch Vor‐ träge hielt, aufgrund derer er einmal verhaftet wurde und ein paar Tage im Gefäng‐ nis saß, während Präsident François Mitterand alles daran setzte, um ihn frei zu be‐ kommen. Trotzdem fordert Derrida, „dass wir nämlich das Erbe des Marxismus übernehmen müssen, dass wir das ‚Lebendigste‘ davon übernehmen müssen, das heißt paradoxerweise dasjenige davon, was niemals aufgehört hat, die Frage des Le‐ bens zu stellen, die Frage des Geistes oder des Gespenstischen, (...).“ (2004 a, 81) Was gilt es denn dabei zu übernehmen? Marx stellt mit seinem Materialismus die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Leben und dem Geist wie zwischen Leben und Tod, wobei Derrida hier nicht von Gegensätzen ausgeht, sondern von Beziehungen, die sich gegenseitig erschlie‐ ßen, indem sie sich ständig auseinander entfalten wie sie sich ineinander verwickeln. Leben und Geist tauschen sich permanent aus, befruchten sich gegenseitig, wie sie sich gleichzeitig in Frage stellen. Ähnlich gehört der Tod zum Leben und umge‐ kehrt. Wenn man dabei nun mal zu keinem identifizierbaren Kern gelangen kann, der wiederum metaphysisch zerbröselte, dann erfasst man dekonstruktiv nur Prozesse und Bewegungen, höchstens sich verschiebende Differenzen wie sich verschiebende Wiederholungen. Marx klinkt sich in das prozessorientierte Denken des 19. Jahrhun‐ derts ein und treibt es an. Denn alles ist bei ihm in Bewegung, transformiert sich das Geld ununterbrochen in Waren und die Waren wieder in Geld. Nichts besitzt mehr Stabilität im Zeichen von schwankenden Tauschwerten, niedergehenden Profitraten, einer lebendigen Arbeitskraft, die allein Werte schafft, die ihrerseits sich ständig wandeln. So fern ist das der Bewegung der Dekonstruktion nicht. So heißt es in Marx‘ Gespenster: „Die dekonstruktiven Kritiken, die Marx den ‚historischen Kon‐ struktionen‘ und den ‚Montagen‘ Stirners widmet, laufen Gefahr als Bumerang zu ihm zurückzukehren.“ (2004, 192) Den Wegbereiter eines individualistischen Anar‐ chismus hasste Marx besonders. Andererseits dekonstruierte Marx die bürgerliche Ökonomie, um seine Analysen des Kapitals zu entwickeln. Überall entdeckt Marx zudem Metamorphosen oder er entlarvt Illusionen wie vorsätzliche Täuschungen. Ja, selbst die Dinge verwandeln sich, generieren sich gar aus sich selbst heraus. So heißt es in Marx‘ Gespenster: „Ein kapitaler Widerspruch. Am Ursprung des Kapitals selbst. Unmittelbar oder auf die Dauer wird er durch viele differantielle Verschaltungen hindurch unweigerlich den doppelten ’Sach’zwang aller Verfügungen induzieren“ (2004 a, 209), nämlich
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den der Produktions- wie der Warenlogik, die sich beide „differantiell“ auf Auf‐ schub und Verschiebung stützen, so dass sich das Ding selbst ständig transformiert. Marx Denken erhält unter diesem, seinem eigenen Blickwinkel einen durchgängig gespenstischen Charakter, attestiert Derrida Marx‘ Theorien damit einen dekonstruk‐ tiven Grundzug, verbindet das Gespenst Marx und Derrida. Denn Derrida hat es nicht dabei belassen, bloß Marx Gespenster zu attestieren. Vielmehr ergibt sich aus Derridas dekonstruktivem Zugriff, dass die Welt oder die Wirklichkeit nicht anders denn in Form von Gespensterhaftigkeiten erfasst werden kann. Denn es lassen sich weder feste Bestimmungen ausmachen noch bestimmte Einheiten zuordnen. Erkenntnis wie Ethos befinden sich beide in jeder Form in Be‐ wegung – eine Perspektive, die auch im US-amerikanischen Pragmatismus ent‐ wickelt wird – nicht gerade der Freund von Marx –, wenn John Dewey 1920 fordert, „sich systematisch mit menschlichen Prozessen zu befassen.“ (1989, 44) Gespenstisch begegnet man „der neuen Geschwindigkeit der Erscheinung (verste‐ hen wir dieses Wort im Sinn von ‚Geistererscheinung‘), des Simulakrums, dem syn‐ thetischen oder prothetischen Bild, dem virtuellen Ereignis, dem Cyberspace und dem Gestell, den Aneignungen oder Spekulationen, die heute unerhörte Potenzen entfalten.“ (2004 a, 81) Nicht nur, dass sich die Zeitgenossen mit einer medialen Wirklichkeit in virtueller Form konfrontiert sehen, die mit Heideggers Begriff des Gestells als Wesen der Technik die Menschen nur noch technisch denken lässt (vgl. Schönherr-Mann 1994, 24). So heißt es in Heideggers Die Technik aus dem Jahr 1949: „Das Wesen der modernen Technik bringt den Menschen auf den Weg jenes Entbergens, wodurch das Wirkliche überall, mehr oder weniger vernehmlich zum Bestand wird.“ (1978 a, 24) Trotzdem eröffnen sich daraus diverse Interpretationsmöglichkeiten des Wirkli‐ chen. Im Sammelband Ghostly Demarcations, der Antworten auf Marx‘ Gespenster enthält, auf die Marx & Sons wiederum reagiert, lobt Fredric Jameson Derridas Ver‐ wendung des Wortes Gespenst als ‚zukunftsorientierte und aktive‘ „Form der radi‐ kalsten Politisierung“. (1999, 60) Ganz nimmt Derrida dieses Lob nicht an. Denn das Gespenstische hat für ihn kei‐ ne ausschließlich politische Dimension. Er diagnostiziert dergleichen im Verhältnis zwischen Marx und Stirner als persönliche Idiosynkrasie, die schwerlich eine politi‐ sierende Perspektive zu entfalten vermag. Dabei stützt er sich auch keineswegs auf den eigenen Verstand, wenn er mutmaßt: „Mein Gefühl also ist es, dass Marx sich Angst macht, dass er selbst auf jemanden versessen ist, der nicht weit davon entfernt ist, ihm zum Verwechseln ähnlich zu sehen: ein Bruder, ein Doppelgänger, mithin ein teuflisches Bild. Eine Art Gespenst seiner selbst. Das er entfernen, unterschei‐ den: in Gegensatz zu sich bringen möchte.“ (2004 a, 190) In der Tat verfolgt Marx Stirner mit besonderer Impertinenz wie keinen anderen von jenen, die doch eigent‐
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lich Mitstreiter sein wollen, es aber für Marx gar nicht sein dürfen – ein gespensti‐ sches privates wie öffentliches Szenario. Wenn Derrida Marx‘ Kritik an Stirner dekonstruiert, indem er im Sinn von Marx dabei ein gespenstisches Szenario aufscheinen lässt, dann distanziert er sich von Marx gleichzeitig verbunden mit einer Bemühung, an Marx anzuschließen. Derrida will mit dem Marxschen Erbe einer bestimmten marxistischen Tradition die Dekon‐ struktion radikalisieren. So stellt er fest, dass „eine solche Dekonstruktion nie mar‐ xistisch gewesen ist, ebenso wenig wie nicht-marxistisch, obwohl sie einem gewis‐ sen Geist des Marxismus treu geblieben ist, wenigstens einem – denn man kann nicht oft genug wiederholen, dass es mehr als einen davon gibt und dass sie hetero‐ gen sind.“ (2004 a, 110) Natürlich unterscheidet sich die Dekonstruktion von gewissen Formen der Ideolo‐ giekritik just dort, wo letztere hinter dem Schleier der Ideologie auf die wahre Wirk‐ lichkeit zu stoßen glaubt. Aber den Gestus des Entschleierns von Gespenstern teilt die Dekonstruktion mit einem besagten marxistischen Geist. Allerdings nimmt sie erst richtig Fahrt auf, wo wahre Wirklichkeiten propagiert werden. Und das gipfelt in einer Bemerkung sowjetischer Freunde um 1990 herum, einem Vergleich, dem Derrida selbst nicht abgeneigt scheint, wenn er ihn wiederholt: „Die beste Über‐ setzung für ‚Perestroika‘ ist immer noch ‚Dekonstruktion‘.“ (2004 a, 126)
3. Das Marxsche Erbe und die Gerechtigkeit ohne Recht Marx operiert mit Gespensterhaftem, mit der ständigen Bewegung, in der die Ein‐ heiten verschwimmen, was für Derrida durchaus der Dekonstruktion nahekommt. Wenn Marx indes weder ethisch noch rechtsphilosophisch denkt, fragt sich ob, die Gemeinsamkeiten zwischen Marx‘ Erbe und der Dekonstruktion nicht dort enden, wo es letzterer um eine Gerechtigkeit ohne Recht geht. Denn das Thema Gerechtigkeit wird im Marxismus eher als Überbauphänomen behandelt, wie es sich ja bereits bei Derridas Auseinandersetzung mit Benjamin zeigte, der sich am positiven Recht orientiert. Marx interessiert sich für die ökono‐ mischen Prozesse und die sich daraus ergebenden Mächte. Marx und Derrida eint immerhin die Einschätzung, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Die Konse‐ quenz für Marx heißt Revolution, die Konsequenz für Derrida heißt, dass man aus der realen Ungerechtigkeit heraus die Frage der Gerechtigkeit aufwirft. Wie fragt doch Derrida: „Und wenn das désajustement im Ge‐ genteil die Bedingung der Gerechtigkeit (justice) wäre? (2004 a, 36) Während Benjamin im Angesicht eines solchen Zustandes die Revolution mit dem Eingriff Gottes vergleicht, hebt sich für Marx das ungerechte Recht in dem Mo‐ ment von selbst auf, wenn die Produktionsverhältnisse geändert werden. Eine solche
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Revolution hat Sorel ja schon als Diktatur gebrandmarkt, was für Marx kein Prob‐ lem gewesen wäre. Gerechtigkeit über das Recht zu erreichen, das erscheint Derrida indes wie Benjamin und wie Marx mehr als fraglich – eine beachtenswerte Gemein‐ samkeit. Lyotard weist im Widerstreit nach, dass das Recht aus sprachlichen Grün‐ den dazu auch gar nicht in der Lage ist. Doch diese Gemeinsamkeit endet, wenn es um die Begründungen derselben geht. Daher entwickelt Derrida im Benjamin-Vortrag schließlich den Begriff einer Ge‐ rechtigkeit ohne Recht. Andernfalls, also wenn sich die Gerechtigkeit über das Recht entwirft, dann „(...) läuft die Gerechtigkeit Gefahr, sich erneut auf Regeln, Normen oder juristisch-moralische Vorstellungen zu beschränken, in einem unver‐ meidlichen totalisierenden Horizont (...). Dieses Risiko geht Heidegger trotz vieler notwendiger Vorsichtsmaßnahmen ein, sobald er, wie er es immer tut, der Versamm‐ lung und dem Selben (...) den Vorrang gibt vor dem Bruch, den meine Hinwendung zum anderen impliziert, (...).“ (2004 a, 48) Heideggers Augenmerk richtet sich da‐ rauf, Differenzen zwar zu erkennen, sie dann aber zumindest zu verwinden. Für Der‐ rida sieht sich die Gerechtigkeit im Anschluss an Lévinas durch das Andere, den an‐ deren Menschen, den Fremden und vor allem durch die Differenz herausgefordert, die den Diskurs – damit das moderne Leben – durchzieht, wenn überall Konflikte entstehen, die zu denken geben. Dabei unterscheidet Derrida zwischen Differenzen, die sich in den ungerechten Verhältnissen spiegeln und die man versucht rechtlich zu regeln, und Differenzen, die die „Frage der Gerechtigkeit, die immer über das Recht hinausführt, (...)“ (2004 a, 45) aufwerfen. Gerechtigkeit ohne Recht ist ein Anspruch, der sich nicht rechtlich regeln lässt, für den es keine Lösung gibt, der vielmehr immer zu Fragen führt, die sich rechtlicher, politischer, ethischer oder ökonomischer Antworten verweigern, weil diese letztlich nie gerecht genug sind. Bei der Gerechtigkeit ohne Recht geht es nicht um „die kalkulierbare und distributive Gerechtigkeit. (...) die kalkulierbare Gleichheit also, (...) die Zählbarkeit oder die symmetrisierende und synchrone Zure‐ chenbarkeit von Subjekten oder Objekten, (...) ein Üben von Gerechtigkeit, das sich darauf beschränkt, zu sanktionieren, zu restituieren und dem Recht Genüge zu tun, (...).“ (Derrida 2004 a, 40) Das Recht mit seinen diversen Verfahren wird also der Gerechtigkeit ohne Recht gerade nicht gerecht, ist Verteilungsgerechtigkeit höchs‐ tens ein Verteilungsprinzip. Während also Derrida mit der Gerechtigkeit ohne Recht primär ethisch argumen‐ tiert, spielt die Gerechtigkeit bei revolutionären Marxisten gar keine Rolle und bei gemäßigten auch nur eine sekundäre. Derart trennen sich doch die Wege zwischen Derrida und dem Marxschen Erbe. Im Zentrum seines dekonstruktiven Denkens steht dieses Erbe nicht, wiewohl es von außen her die Dekonstruktion zumindest umgarnt.
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Stattdessen verbindet sich die Dekonstruktion mit der Gerechtigkeit, die sich aber nicht wie das Recht innerhalb der aus den Fugen geratenen Verhältnisse situiert, son‐ dern sich einem Bruch zwischen Recht und Gerechtigkeit verdankt, der es um „(...), die de-totalisierende Bedingung der Gerechtigkeit, (...)“ (Derrida 2004 a, 47) geht. Das Recht konzentriert sich auf das Ganze, die Totalität, lässt es Alternativen ge‐ meinhin nicht zu, wie es Benjamin diagnostiziert, wenn sich das Recht zum Schick‐ sal aufschwingt. Marx glaubt monokausal, dass sich die Frage der Gerechtigkeit auf‐ löst, wenn die Produktionsmittel sozialisiert sind und sich der Widerstand dagegen legt, der noch eine Weile eine Diktatur nötig macht. Der Gerechtigkeit geht es dage‐ gen nicht um das Ganze, sondern immer um das Einzelne, das Ereignis, den Ande‐ ren, dem Gerechtigkeit widerfahren muss. Trotzdem gibt es dazu gewisse Bezüge zur Marxschen Erbschaft. Der Ansatz von Marx und die Dekonstruktion lassen sich hier indes nur noch von Ferne her verbinden. Denn Marx interessiert sich weder für das Recht noch die Gerechtigkeit, sondern für die historische Bewegung und die ökonomischen Gesetze.
4. Das Marxsche Erbe und das Messianische Wenn sich die Nähe zwischen Geschichte und Gerechtigkeit in Ferne verwandelt, könnte sich trotzdem eine Verbindung zwischen Marx‘ revolutionärer Perspektive und der Dekonstruktion ergeben? Ist die Dekonstruktion etwa revolutionär? Diese Verbindung deutet sich indes im Anschluss an Benjamin als noch ambivalenter an – man denke an das vernichtende Urteil von Brecht. Auch wenn Benjamins Zur Kritik der Gewalt verschiedene Lesarten erlaubt, spielt der Messianismus mindestens eine unterschwellige, hermeneutische Rolle, was den frühen Benjamin zu einem bloßen Randgänger des Marxismus macht. Denn mit Religion will Marx nichts zu tun ha‐ ben, lehnen die meisten Marxisten Bezüge des Marxismus als Materialismus zur Re‐ ligion ab. Sowenig wie ein Utopismus soll der Marxismus ein Messianismus sein. Dem hält Derrida entgegen, dass sich alle Spielarten des Marxismus einer religiös geprägten Kultur verdanken, die weit verbreitet war und ist. Und diese Religion wird sehr stark von der Vorstellung eines Messias dominiert, auf den die Gläubigen hoff‐ nungsfroh warten, soll jener schließlich deren Probleme lösen – und wenn nicht vollständig für alle und für immer, so doch wenigstens in der einen oder anderen Le‐ benslage. In ähnlichen halb hoffnungsfrohen Situationen befinden sich auch Marx‘ Sons. Für Derrida lässt sich das ohne Messianismus nur schwer verstehen, weil es kaum möglich ist „alle Moral wie alle ‚Religion‘ oder zumindest jeden ‚Glaubensakt‘ aus einem revolutionären Gebot fern zu halten, (...).“ (2004 b, 99) Natürlich behaupten Marx‘ Erben gerne, dass sich der Marxismus beweisen lässt, allemal besser als Reli‐
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gionen. Aber jedem, der nachdenkt, sollte klar sein, dass es sich dabei um eine dog‐ matische Illusion handelt. Dagegen insistiert Derrida darauf, dass man Religion heu‐ te nicht einfach als ein Relikt vergangener Zeiten betrachten darf. Vielmehr braucht man die Religion sogar, um Politik zu verstehen. So konstatiert er: „Es schien mir also nicht möglich, auf jeden Bezug zum Glauben zu verzichten.“ (2004 b, 91) Auch damit tritt Derrida aus dem Horizont des Marxismus heraus und wehrt sich dezidiert gegen die Schüler von Althusser, die jeden Bezug zur Religion ablehnen. Umgekehrt verteidigt er den Marxismus gegenüber seinen liberalen Kritikern, denen er zwar eine emanzipatorische Intention zubilligt, die er aber gleichfalls für eschato‐ logisch hält. So attestiert er dem Marxismus eine messianische Erwartungshaltung, wenn dieser auf ein großes historisches Ereignis wartet, aus dem heraus er den Sinn der Politik bestimmt. Doch dieses Messianische sieht Derrida an gar keine religiöse Tradition gebun‐ den, spricht Derrida vom Messianischen ohne Messianismus, wenn man nicht auf ein bestimmtes Ereignis wartet, ja wenn man eigentlich gar nicht wartet, aber bereit ist, sich vom Ereignis überraschen zu lassen. Das hat auch nichts Religiöses außer dem Wort. Im Anschluss an Lévinas schreibt er bereits 1964: „Die messianische Es‐ chatologie, von der sich Lévinas leiten lässt, (...) wird in seinem Diskurs trotzdem nicht als eine Theologie (...), eine Religion, oder selbst als eine Moral entwickelt. Sie rechtfertigt sich in letzter Instanz niemals durch hebräische Thesen oder Texte. Sie will in einem Rückgriff auf die Erfahrung selbst verstanden werden.“ (1976 a, 128) In der Tat lässt sich Lévinas säkular verstehen (vgl. Schönherr-Mann 2010, 43). Die Revolution in einem solchen säkularen Sinn messianisch betrachtet ist ein er‐ wartetes Ereignis, ohne dass man diese wirklich erwartet. Dann lässt sich die Revo‐ lution nicht prognostizieren, kann man sich von ihr doch nur überraschen lassen. Nach Derrida ist das „(...) die Erwartung eines Ereignisses, eines ‚Ankünftigen‘, das, um ‚anzukommen‘, jede bestimmte Antizipation übersteigen und überraschen muss. Anders gibt es keine Zukunft, kein Zukünftiges, kein Anderes: kein Ereignis, das diesen Namen verdient, keine Revolution. Keine Gerechtigkeit.“ (2004 b, 82) Ähnlich wie nach Hegel die Philosophie nicht in die Zukunft schauen kann, so ist auch die Dekonstruktion zu keinen Voraussagen fähig, womit Derrida sich nicht nur gegen den Marxismus, sondern auch gegen weite Teile der Wissenschaften stellt, die ständig behaupten, gespenstisch in die Zukunft schauen zu können. Wenn Derrida vom Messianischen ohne Messianismus spricht, dann handelt es sich um erheblich weniger als eine Hoffnung, die Ernst Bloch dem Marxismus eintröpfeln wollte. Bei‐ nahe ist es eine normale Haltung des Wartens, ohne zu wissen, auf was und ohne explizit sich diese Erwartungshaltung bewusst zu machen. Umgekehrt lässt man sich gerne von Ereignissen überraschen, selbst wenn sie nicht unbedingt von Vorteil sind. Wie heißt es doch in Nietzsches berühmtem Gedicht Sils-Maria: „’Hier saß ich, war‐
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tend, wartend, – doch auf Nichts, (...) Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra ging an mir vorbei...“ (1999 a, 649) Das Messianische Derridas hat also mit der Religion eigentlich nur ein Wort ge‐ mein, wenn er schreibt: „Das Messianische (das ich für eine universale Struktur der Erfahrung halte und das sich auf keinen religiösen Messianismus reduzieren lässt) ist alles andere als utopisch: Es ist in allem der Bezug auf das Kommen des konkre‐ testen und wirklichsten Ereignisses, d.h. auf die unauflöslich heterogenste Anders‐ heit.“ (2004 b, 78) Das Messianische verheißt keine unerreichbare Utopie, keinen Ort, den es nicht gibt. Vielmehr achtet man darauf, was kommt und was sich ereignet. Ein Ereignis un‐ terbricht das Gewohnte. Das Ereignis eröffnet somit immer eine andere Perspektive auf die Andersheit, die sich der Gewohnheit wie der Gleichheit entzieht, die beide keine Ereignisse ergeben. Derrida sagt weiter: „Nichts ist ‚realistischer‘ und ‚unmit‐ telbarer‘ als diese messianische Sorge, die auf das Ereignis dessen gerichtet ist, der (das) kommt. Ich sage ‚Sorge‘, weil diese Erfahrung, die sich auf das Ereignis rich‐ tet, zugleich eine Erwartung ohne Erwartung ist (...).“ (2004 b, 78) Man könnte mutmaßen, dass es in einer organisierten Welt kaum noch Ereignisse gibt, die daher künstlich geschaffen werden: im Sport, in der Kunst, auch in der Poli‐ tik. In der vollständig durchorganisierten Welt des Totalitarismus geht alles seinen sozialistischen Gang: der träge fließende Strom der Geschichte. Daher hält Derrida am Messianischen fest, weil sich dabei das Ereignis seiner medialen Produktion wie Fesselung entzieht: Auch nicht-totalitäre Medien erfinden ihre Ereignisse. Vom Marxismus mit seiner messianischen Erwartungshaltung bleibt dagegen nicht viel anderes als eine Erwartung des Ereignisses, das man doch nicht erwarten kann: das Ereignis Revolution, das nicht kommt und das man trotzdem erwartet, zu‐ mindest sein Denken um diese Erwartung herum gruppiert. Für Derrida ergibt das eine Parallele zwischen Marxismus und Messianismus. Es verwundert daher nicht, wenn Marxisten mit Derridas Marx-Interpretation eher selten zufrieden sind. Denn es geht Derrida dabei ja nicht mehr um die soziale Revolution, also um die Ökono‐ mie, sondern um die Ethik bzw. um die Gerechtigkeit. Vom Marxismus bleibt bei Derrida neben dem Gespenstischen die Klage über den Zustand der Welt, die er in Marx‘ Gespenster ausführlich und ironisch an Shake‐ speares Hamlet demonstriert, bei dem die Gespenster denn auch eine zentrale Rolle spielen. So schreibt er: „Wenn das Recht auf Rache sinnt, worüber Hamlet sich zu beklagen scheint – vor Nietzsche, vor Heidegger und vor Benjamin –, soll man sich dann nicht nach einer Gerechtigkeit sehnen, die eines Tages, eines Tages, der nicht mehr der Geschichte angehörte, eines gleichsam messianischen Tages, endlich der Fatalität der Rache entzogen wäre?“ (2004 a, 39) Nicht die gleiche Verteilung von Arbeit und Gütern beendet die Geschichte, wenn jeder Widerstand dagegen gebro‐
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chen ist, sondern die Gerechtigkeit, die indes einer Erwartung huldigt, die man nicht erwarten kann. Trotzdem ist das Messianische weder rückwärtsgewandt noch führt es zu einer passiven Haltung des bloßen Wartens. Wenn man das Messianische mit dem Begriff des Aufschubs aus der jüdischen Ethik verknüpft, dann fordert es dazu auf, aktiv die messianische Erwartung antizipierend zu erfüllen. So kann Derrida bemerken: „Das betrifft zunächst die Idee der Gerechtigkeit und des Messianischen selbst, die den ro‐ ten Faden von Marx‘ Gespenster darstellt. Nun hat diese Idee aber nur dann einen Reiz und einen spezifischen Charakter, wenn sie sich dieser Logik der Identität und der Selbstidentität entzieht.“ (2004 b, 39) Das Messianische handelt nicht von einer bestimmten utopischen oder marxistischen Erwartung, die sich immer einer mono‐ kausalen Erklärung verdankt und die alle Probleme auf der Welt lösen wird. Das hat eher einen religiösen Charakter, ähneln solche Erwartungen religiösen Heilsverspre‐ chen, lässt doch der Messias genauso auf sich warten wie die Utopie, die keine sein will. Dann entfaltet das Messianische eine geradezu areligiöse Perspektive als eine Er‐ wartung, die deshalb zum Handeln animiert, weil man die Erwartungshaltung nur einnehmen kann, da das zu Erwartende nicht erwartet werden kann. In der Tat ver‐ wandeln sich derart die Bedeutungen. Derrida schreibt: „In einem Zusammenhang, in dem das, was ich meine, eines Tages verstanden werden wird, falls das geschieht, müsste man davon nicht nur ohne Anspielung auf den traditionellen Messianismus sprechen können, sondern auch ohne Bezug zu einem ‚Messias‘, und sogar ohne das ‚ohne‘. Alle gewohnten Namen wären dann verändert.“ (2004 b, 89) Wie er es Ben‐ jamin unterschiebt, unterzeichnet Derrida hier beinahe zusammen mit dem göttli‐ chen Namen und ist damit abwesend anwesend. Dieses Anspruchsheischende kann aber nur entfernt mit den Selbstbeweihräucherungen Nietzsches in Ecce Homo (1888) oder Rousseaus in Les rêveries du Promeneur Solitaire (1776–1778) konkur‐ rieren. Arrogant Anspruch heischend sind seine transkribierten freien mündlichen Vorträge, was einfach buchstäblich schlechte Literatur ergibt.
5. Emanzipation und kommende Demokratie Jedenfalls denkt Derrida den Marxismus um, wenn er die Revolution ins Messiani‐ sche verschiebt. Vor allem aber lässt er das Marxsche Erbe noch weiter hinter sich, wenn er das Messianische mit der Emanzipation verbindet. Denn zwischenzeitlich sind Marxismen und Emanzipation auseinander getreten. Marxisten versuchen zwar immer wieder, sich mit den diversen Emanzipationsbewegungen ins Vernehmen zu setzen. Doch primär wollen sie diese für die eigenen Zwecke nutzbar machen, näm‐ lich für die proletarische, später soziale Revolution, allemal für eine strukturelle Ver‐
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änderung der Produktionsverhältnisse, die für sie das höchste Gute darstellt. Sie lockten gemeinhin mit dem Versprechen, dass alle diese diversen Emanzipationsan‐ sprüche – von den Farbigen, den Zugewanderten, den Frauen, den Schwulen und Lesben, von Alten und Kindern und natürlich auch von speziell sozial und politisch Engagierten – nach der Revolution erfüllt werden. Dass solche Emanzipationsan‐ sprüche den proletarischen ebenbürtig sein könnten, dass sie punktuell gar wichtiger werden können, ja dass sich die proletarischen sogar in emanzipatorische transfor‐ mieren müssten, darüber empören sich Marxisten regelmäßig. So geht es beispiels‐ weise Chantal Mouffe um eine Repolitisierung der Demokratie, und zwar im An‐ schluss an Carl Schmitts Dezisionismus. Sie schreibt: „Wer dem ‚Politischen‘ als der immer bestehenden Möglichkeit des Antagonismus Rechnung tragen will, muss sich mit dem Fehlen eines letzten Grundes abfinden und die jede Ordnung durchziehende Dimension der Unentscheidbarkeit anerkennen. Mit anderen Worten, er muss den hegemonialen Charakter jeder Form von gesellschaftlicher Ordnung anerkennen (...).“ (2007, 25) Mit der Demokratisierung gibt sich Derrida indes nicht zufrieden. Demokratische Partizipation ist nicht Emanzipation, sondern findet gemeinhin innerhalb der politi‐ schen Institutionen statt. Für Derrida aber tritt mit dem Messianischen an die Stelle der Revolution wie der Demokratisierung die Emanzipation, die ähnlich wie die Ge‐ rechtigkeit nicht dekonstruierbar ist, sich somit gleichwertig neben der Gerechtigkeit positioniert – eine ungeheure Verschiebung und doch die konsequente Folge von Derridas Philosophie bzw. der Philosophie nach Nietzsche. Emanzipation erscheint folglich irreduzibel: „(...), das ist vielleicht eine bestimmte Erfahrung der emanzipa‐ torischen Verheißung; das ist vielleicht sogar die Formalität eines strukturellen Mes‐ sianismus, eines Messianismus ohne Religion, eines Messianischen ohne Messianis‐ mus sogar,“ (2004 a, 89) werden Marxisten ihre helle Freude haben: ist das nicht doch religiös? Emanzipation erscheint hier als eine idealistische Verheißung, wäh‐ rend doch die materiellen Bedingungen die Politik bestimmen. Und man könnte meinen, dass solche Emanzipationsansprüche sogar noch den realhistorischen rechtlichen Horizont verlassen. Denn Derrida schreibt weiter: das ist „eine Idee der Gerechtigkeit – die wir immer noch vom Recht und selbst von den Menschenrechten unterscheiden – und einer Idee der Demokratie – die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unter‐ scheiden.“ (2004 a, 89) Dann verdanken sich Emanzipation und Gerechtigkeit wie die diversen Emanzipationsbewegungen nicht etwa der Erklärung der Menschen‐ rechte, also staatlichen Aktivitäten und Anerkennungen, sondern es handelt sich quasi um Eingriffe in den Staat von außen im Sinn von Benjamin oder um Ansprü‐ che der Andersheit, die bisher am sozialen und politischen Leben nicht hinlänglich beteiligt waren. Das Recht dekretiert dann nicht deren Individualität, wie es sich He‐
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gel vorstellen würde, sondern das Recht wird quasi durch die Emanzipationsansprü‐ che gezwungen, diese anzuerkennen, seine Gewalten weiter zu teilen. In der Terminologie Benjamins handelt es sich entweder selbst um rechtsetzende Gewalten oder sogar um rechtsaufhebende Eingriffe. Derrida würde wahrscheinlich eher zu letzterem neigen. Leute werden immer wieder nach Teilhabe wie nach Aner‐ kennung verlangen – man könnte das fast als ein anthropologisches Kennzeichen be‐ trachten. Denn dergleichen lässt sich höchstens gewaltsam unterdrücken, wenn man Homosexualität für krankhaft erklärt oder Frauen in eine bestimmte Rolle zwängt. Indem sich emanzipatorische Ansprüche auf die Gerechtigkeit ohne Recht berufen, sind sie in gewisser Hinsicht unzerstörbar, weil sie nicht auf derselben Ebene wie Recht und Gewalt operieren. Nichtsdestotrotz können rechtsaufhebende Eingriffe durch Emanzipation rechtsetzende Effekte nach sich ziehen – was die Emanzipation auch manchmal in Verlegenheit bringt. Wenn man Gesetze gegen Homosexualität abschafft, führt das dazu, dass nach einem Gesetz für die gleichgeschlechtliche Ehe verlangt wird. Wenn Derrida konstatiert: „Weit davon entfernt, auf das emanzipatorische Begeh‐ ren verzichten zu müssen, müssen wir, wie es scheint, mehr denn je daran festhalten, und zwar wie am Unzerstörbaren selbst dieses ‚Müssens‘. Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politi‐ schen.“ (2004 a, 109) Dann avanciert Derrida zum Vordenker der Zivilgesellschaft, entwickelt er einen Begriff des Politischen wie des Staates, der nicht von der Einheit der Polis ausgeht, sondern von vielen pluralistischen Bestrebungen, die am Politi‐ schen nicht nur teilhaben, sondern es durch solche Teilhabe erst konstituieren. Das Politische entsteht dann durch seine immer weitere Teilung, die immer weitere An‐ teilnahme ermöglicht, nicht durch Errichtung der Souveränität einiger angeblich er‐ leuchteter – im identitären Jargon – gut ausgebildeter Führer, die sich über die Be‐ völkerung erheben und diese dann ihren Züchtungsphantasien aussetzen – man den‐ ke an Sloterdijks Regeln für den Menschenpark. Ein aus der Emanzipation heraus entfalteter anderer Begriff des Politischen weist jedenfalls über die Vorstellung von bloßer demokratischer Partizipation hinaus, die im gängigen Verständnis immer noch primär durch die politischen Parteien geleistet werden soll, die aber häufig nicht dazu in der Lage sind, bestimmte emanzipatori‐ sche Interessen hinlänglich abzubilden. Es gibt ja Frauenbewegungen nicht zuletzt deshalb, weil ihre Teilhabe in politischen Parteien ihre Ansprüche nicht zu befriedi‐ gen vermag. So unterscheidet Christian Schwaabe Mouffe und Derrida: „Die post‐ modernen Dezisionisten verfolgen also politisch gerade völlig andere Ziele als Carl Schmitt. Ebenso wie Mouffes Plädoyer für eine demokratische Repolitisierung soll auch Derridas Dekonstruktion ein Beitrag zu emanzipatorischer Politik sein, zur In‐ fragestellung des Gegeben.“ (2018, 297) Wenn Schwaabe Derrida zu den Dezisio‐ nisten zählt, dann ist das aus Schmitts Perspektive richtig. Aber ist Derridas Politik
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der Freundschaft in diesem Sinn dezisionistisch? Oder weil es am Anfang des Rechts nur Gewalt gibt? Weil sich die Dekonstruktion in Aporien verliert? Aber ent‐ scheidet sie am Ende des Tages? Lässt sie das nicht vielmehr offen? Denn Derridas Demokratievorstellung, die sich auf Emanzipation und Gerechtig‐ keit stützt, lässt sich nicht geplant Schritt für Schritt umsetzen, hat sie vielmehr mit Erwartungen zu tun hat, die wiederum nicht erwartbar, d.h. planbar sind. Das birgt Derridas Rede vom Messianischen ohne Messianismus. Oder Emanzipation hat kein bestimmtes Ziel, wodurch sie sich von Revolutionshoffnungen bzw. Akten der Rechtsetzung unterscheidet. Auf ähnliche Weise ist dann eine Demokratie, die sich auf Emanzipationsbewe‐ gungen stützt, natürlich nie vollendet, befindet sie sich vielmehr in einer ständigen Veränderung, sieht sich die Demokratie immer mit neuen Emanzipationsansprüchen konfrontiert, jedenfalls in einer Welt, in der die individuellen Interessen des Anderen nicht brutal unterdrückt werden, wie es nicht bloß Identitären, sondern gemeinhin al‐ len Rechtspopulisten vorschwebt, die regelmäßig eine Klientelpolitik betreiben, die sich durch Diskriminierung und Ausgrenzung anderer realisiert. So kann Derrida schreiben: „Deswegen schlagen wir immer vor, von kommender Demokratie zu sprechen (...) und nicht von zukünftiger Demokratie“ (2004 a, 96); denn kommende Demokratie präsentiert sich als Ereignis, aber im Sinn von ‚kommend‘. So weist Klaus Englert daraufhin: „Derrida dachte ‚événement‘ ausgehend von ‚venir‘. ‚Ereignis‘ war ihm zu sehr dem Heideggerschen Denken verhaftet, (...).“ (2009, 96) So verbindet Derrida mit Demokratie kein Ziel oder Zweck, die man ver‐ folgen könnte, eben wie eine ‚zukünftige Demokratie, über die er weiterschreibt: „zukünftig im Sinn von ‚zukünftiger Gegenwart‘, und noch nicht einmal von einer regulativen Idee im Kantischen Sinne oder von einer Utopie (...).“ (2004 a, 96) Die Zukunft wird von allen beschworen und prognostiziert, sei es als utopische Orientie‐ rung oder utopischer Maßstab. Aber mit Hegel kann man philosophisch nicht über die Zukunft sprechen. Man kann höchstens mit Derrida auf Überraschungen setzen und sich dann auch messianisch überraschen lassen. Aber das liefert die Basis dafür, wie man sich mit der Politik in dekonstruktiver Perspektive auseinandersetzt, sagt der späte Derrida: „Der Ausdruck ‚kommende Demokratie‘ steht zweifellos für eine kämpferische und schrankenlose politische Kritik oder verlangt doch danach.“ (2003 a, 123) Die kommende Demokratie ist dann eine, in der Emanzipationsbewegungen auf‐ tauchen und unerwartet die Frage der Gerechtigkeit ohne Recht gestellt wird, also einer Gerechtigkeit, die sich nicht durch den Rahmen des Rechts beschränken lässt, vielmehr diesen von vornherein und immer überschreitet. Auch Kants regulative Idee, auf die sich Derrida an anderer Stelle ja durchaus positiv bezieht, verbleibt im Horizont einer prognostizierbaren Zukunft. So grenzt er sich im ersten Vortrag von Schurken davon klar ab: „was die Redewendung ‚kommende Demokratie‘ vor allem
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nicht bedeuten darf, nämlich bloß eine regulative Idee im Kantischen Sinne, (...).“ (2003 a, 117) Nein, die kommende Demokratie lässt sich nicht voraussehen, auch nicht erahnen. Sie besteht vielmehr aus unerwartbaren einzelnen Ereignissen. Damit werden sich revolutionäre Marxisten schwerlich anfreunden, spielt bei Marx die Demokratie wie das Politische als solches ja auch nur eine untergeordnete Rolle. Und reformorientierte Sozialisten mit einem prägenden Marxschem Erbe wie Colin Crouch stützen die Demokratie auf den Sozialstaat, nicht auf Emanzipations‐ bewegungen, also auf das Recht, nicht auf eine Gewaltenteilung, was sich darin zeigt, dass der Sozialstaat immer weitere Zwangsmitgliedschaften produziert: die Pflegeversicherung, die Krankenversicherungspflicht, eine Rentenversicherungs‐ pflicht. Michael Walzer, mit dem sich diese Perspektive vergleichen lässt, differenziert verschiedene Sphären, in denen es um sehr unterschiedliche Güter und deren Vertei‐ lung geht, z.B. Bildung, Medizin, Ökonomie, etc. So schreibt Walzer: „Was ein um‐ fassenderer Begriff von Gerechtigkeit erfordert, ist (...) dass sie in der einen Sphäre regieren und in einer anderen regiert werden – wobei ‚regieren‘ nicht bedeutet, dass sie Macht ausüben, sondern dass sie einen größeren Anteil an den zur Verteilung ge‐ langenden Gütern haben als andere Menschen (...).“ (1992, 451) Wenn sich Men‐ schen um Emanzipation bemühen, dann verlangen sie einen Anteil dort, wo sie sich bisher benachteiligt fühlen. Damit kommt Walzer nicht nur der Gewaltenteilung, sondern auch Derrida nahe. Dagegen denkt Derrida primär an jene, die Emanzipationsansprüche formulieren und sich gegen Diskriminierung und Benachteiligung zur Wehr setzen. Sie grenzt er von jenen ab, die die Demokratie kritisieren, aber eigentlich aus antidemokratischen Motiven. Es geht ihm um „(...) jene, die Wert darauf gelegt haben, diesen Wider‐ stand zu konzipieren und zu praktizieren, ohne dem Gefallen an reaktionären, kon‐ servativen oder neokonservativen, anti-wissenschaftlichen oder obskurantistischen Versuchungen zu erliegen, (...) jene, die im Gegenteil nicht aufgehört haben, auf hy‐ per-kritische Weise vorzugehen – werde ich wagen zu sagen: auf dekonstruktive Weise?“ (2004 a, 128) Werden jene, die emanzipatorische Ansprüche formulieren Dekonstruktivisten sein? Eigentlich schon! Jedenfalls wenn sie damit nicht behaupten, dass es um die Realisierung eines wahren Wesens geht. Die Emanzipation der Arbeiter im 19. Jahr‐ hundert erhob noch den Anspruch, das Ganze der Menschheit wie das Wesen des Menschen als arbeitendes zu verkörpern. Randgruppen können das schwerlich. So schreibt Gianni Vattimo 1989, „dass (...) anstelle eines Emanzipationsideals der voll‐ ends entfalteten Selbstbewusstheit, des vollkommenen Bewusstseins desjenigen, der um die Dinge Bescheid weiß, (...) sich ein Emanzipationsideal den Weg bahnt, das vielmehr auf Oszillation und Pluralität (...) beruht.“ (1992, 19) Wenn bestimmte Gruppen derartige Emanzipationsansprüche formulieren, müssen sie den Zustand
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dekonstruieren, der sie diskriminiert und ausschließt. Sie können dabei schwerlich fundamentale Gründe ins Feld führen, auch keine eindeutigen Bestimmungen, aus denen sie ihre Ansprüche ableiten. Nur indem sie die Vorherrschaft bestimmter Vor‐ stellungen und Vorgaben in Frage stellen, eröffnet sich für sie die Perspektive als ge‐ recht, eigene Vorstellungen verwirklichen zu dürfen. Daher ist für sie Dekonstrukti‐ on und nicht Analyse angesagt. Daher hält Rorty umgekehrt die Dekonstruktion für privatistisch, weil sie sich nicht auf ein politisches Geschäft einlässt, in dem nun mal mit Metaphysischem gehandelt wird. So schreibt Rorty 1995: „Nach unserer Inter‐ pretation ist Wittgenstein ein therapeutischer Philosoph, dessen Bedeutung darin liegt, dass er uns dabei hilft, Gebrauchsweisen von Wörtern zu entkommen, die zur Erzeugung von Scheinproblemen führen. Aber trotz all der scherzhaften und anstö‐ ßigen Entsublimierung, die in Derridas Büchern stattfindet, ist durchaus nicht klar, dass dieses Entrinnen – das Entrinnen aus einem staubigen Fliegenglas – wirklich das ist, was er erreichen will. (2000 b, 479) Mag ja Metaphysisches politisch helfen und der Handel mit dergleichen demokratisch förderlich sein, aber führt das wirklich aus dem Fliegenglas? Daher möchte Derrida solchen Handel beschränken. Und – so schreibt sich das obige Zitat Derridas fort – sie leisten Widerstand und betreiben ihre Emanzipation „(...) im Namen einer neuen Aufklärung für das kom‐ mende Jahrhundert. Und ohne auf ein Ideal von Demokratie und Emanzipation zu verzichten, indem sie vielmehr versuchten, es anders zu denken und anders zu ver‐ wirklichen“ (2004 a, 128), letztlich wie Vattimo es umschreibt. Dass damit Derrida eine neue Aufklärung für das 21. Jahrhundert fordert, werden seine Gegner als Pro‐ paganda abtun, kritisiert ihn Habermas schließlich, er kehre in die Mystik zurück. Aber es führt kaum ein Weg daran vorbei, dass sich die Aufklärung mit antimeta‐ physischen Methoden fortschreiben muss und nicht mit neometaphysischen. Daher bleibt von Marx auch nur ein Erbe, das Derrida in eine politische Philosophie trans‐ formiert, die nicht nur traditionelle Marxisten gemeinhin ablehnen. Für Liebsch „geht Derrida dazu über, die Begriffe Souveränität und Unbedingtheit vollständig voneinander zu trennen“ (2015, 365), so dass eine stabile Persönlichkeit schwerlich noch erreicht werden kann, die Liebsch aber für die Demokratie für unabdingbar hält. In der Tat geht Derrida von einem fragwürdig gewordenen Sinn der Existenz aus „(...) nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch weil sie in ihrer Struk‐ tur stets aporetisch bleiben wird (Gewalt ohne Gewalt, nicht kalkulierbare Singulari‐ tät und berechenbare Gleichheit, (...) unteilbare und teilbare, nämlich teilhabbare Souveränität, (...).“ (2003 a, 124) Welche Souveränität sollte Emanzipation auch be‐ anspruchen, wenn dabei kein wahres, gar universelles Wesen mehr realisiert werden kann, sondern nur ein aporetisches? Aber Derrida sieht die kommende Demokratie durchaus auch in ein traditionelles politisches Licht getaucht. Allerdings deutet sich dabei auch eine Perspektive an, die nicht an Kants Realismus anschließt, dass ein Weltstaat sich nicht realisieren lässt und man sich daher mit einem Staatenbunde zu‐
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frieden geben muss. Vielmehr sagt Derrida: „die Frage einer weltweiten, internatio‐ nalen, zwischenstaatlichen und vor allem überstaatlichen Demokratisierung bleibt eine ganz und gar dunkle Zukunftsfrage. Das ist einer der möglichen Horizonte des Ausdrucks ‚kommende Demokratie‘.“ (2003 a, 115)
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IV. Teil: Gerechtigkeit als Dekonstruktion?
Derrida Staatsverständnis rekurriert auf eine Rechtskritik, die die im Recht manifest oder latent anwesende Gewalt eruiert. Um die politische oder soziale Situation zu verändern, reichen Eingriffe ins Recht nicht aus, verbleiben diese vielmehr im Hori‐ zont von Gewaltanwendung, gleichgültig ob es sich um revolutionäre oder souverä‐ ne Aktivitäten handelt. Politik kann sich einerseits daher nicht auf Nationalismus oder die brüderliche Gleichheit berufen, sondern bedarf einer Tugend der Freund‐ schaft, die den anderen Menschen in seiner Besonderheit und Andersheit anerkennt und achtet. Daher kann sich Demokratie auch nicht auf politische Repräsentation und eine rechtliche Verfassung beschränken, sondern muss mit immer weiteren Ge‐ waltenteilungen rechnen, die Derrida aus den diversen Emanzipationsbemühungen heraus kommen sieht. Demokratie realisiert sich in solchen Ereignissen, die sich we‐ der absehen, noch planen lassen. Gerechtigkeit tritt damit aus dem Horizont des Rechts und der Berechnung heraus und stellt sich als Frage gerade in Abgrenzung von ihren vermeintlichen rechtlichen Realisierungen. Den ersten Vortrag aus dem Band Gesetzeskraft – Der ‚mystische Grund der Au‐ torität‘, den Derrida im Oktober 1989 während des Colloquiums Deconstruction and the Possibility of Justice an der Cardozo Law School in New York gehalten hat, beginnt Derrida mit einer Überlegung, inwieweit es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Dekonstruktion gibt, was bis heute die Kritiker aus der analytischen Philosophie oder der Frankfurter Schule gerne bestreiten. Auch Rorty hält die Dekonstruktion zwar für eine ironistische Philosophie, die er durchaus schätzt. Aber damit ist sie für die Politik nicht nur irrelevant, sondern er‐ weist sich als eine unpolitische Philosophie im privaten Raum. Für andere kann sie in der Politik sogar gefährlich werden, weil sie die Strukturen moderner rechtlich verfasster Gesellschaften derart hinterfragt, dass diese dadurch gegenüber ihren Feinden geschwächt werden. So schreibt Rorty: „Während Habermas den roten Fa‐ den ironistischen Denkens, der sich von Hegel bis Foucault und Derrida durchzieht, als destruktiv für soziale Hoffnung ansieht, verstehe ich diese Denklinie als weitge‐ hend irrelevant für das öffentliche Leben und politische Fragen. Ironistische Theore‐ tiker wie Hegel, Nietzsche, Derrida und Foucault scheinen mir von unschätzbarem Wert für unsere Versuche, uns ein privates Selbstbild zu machen, aber reichlich nutz‐ los, wenn es um Politik geht.“ (1992, 142) Mag in der Politik engagierter Bürger, gleichgültig ob in der institutionellen oder außerinstitutionellen, Derridas Denken wenig bewegen. Wenn die Dekonstruktion aber von intellektuellen Kreisen rezipiert wird, dann wirkt sie zumindest indirekt auf
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die Politik, kann man erstens sie nicht einfach ins Private abschieben und zweitens wirken Philosophien generell nicht auf die Tagespolitik ein, auch nicht die von Rorty oder Habermas.
10. Kapitel: Staat und Wahrheit Derridas Überlegungen gehen dabei von der Frage aus, ob die Dekonstruktion die Gerechtigkeit überhaupt zu erfassen vermag. Denn die Dekonstruktion vermeidet es ja geradezu, bestimmte Regeln und Methoden als Vorgehensweisen festzulegen, so dass sich durchaus die Frage stellt, ob sie überhaupt in der Lage ist, einen Zusam‐ menhang zwischen Recht und Gerechtigkeit herzustellen, geht es im Recht schließ‐ lich um Gesetze und verfahrenstechnische Regularien. Damit stellt sich grundsätz‐ lich die abschließende Frage: Kann die Dekonstruktion das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit richtig erfassen? Was also heißt Gerechtigkeit in dekonstruktiver Perspektive? Gerecht werden im Allgemeinen hat dabei nach Derrida verschiedene Bedeutungen. Gerecht werden stellt einen Zusammenhang her, urteilt über eine Angemessenheit, eventuell auch über die Richtigkeit. Es geht dabei auch darum, dass etwas, das vorliegt, mit einer Aussage darüber verglichen wird, was in den Bereich der theoretischen Philosophie verweist. Gerecht werden kann sich auch darauf beziehen, wie eine Aussage verstan‐ den wird, womit Gerechtigkeit in die Hermeneutik reicht. Nur wenn man die Frage nach der Erkenntnis von derjenigen nach dem Handeln strikt trennt, erscheinen beide Bezüge absurd. Aber die strikte Trennung im Sinn von Max Weber oder Habermas wird auch von vielen in Frage gestellt und das durchaus von sehr unterschiedlichen Positionen aus. So verbindet Eric Voegelin in traditioneller Manier das Normative mit dem Onto‐ logischen. Er schreibt 1951 in seinem programmatischen Werk Die neue Wissen‐ schaft der Politik: „Mit Max Webers Werk war der Positivismus zu seinem inneren Abschluss gekommen, und die Richtung begann sich abzuzeichnen, in der eine Er‐ neuerung der politischen Wissenschaft sich bewegen würde. (...); die ‚Werturteile‘ hatten wieder in die Wissenschaft zurückgefunden in der Form des Glaubens, an dem sich das Handeln orientiert und dadurch die Einheiten der Sozialordnung schafft.“ (1991, 46) Hier gehören Gewalt, Macht und Ordnung zusammen und erhal‐ ten eine religiöse Weihe, so dass die ordnungsstiftende wie die ordnungserhaltende Gewalt als gewaltlos betrachtet werden. Daher gibt es keinerlei Probleme im Ver‐ hältnis von Gerechtigkeit und Recht und schon gar keine Frage der Gewalt. Andererseits ist der Positivismus keineswegs zusammengebrochen und Webers Wissenschaftslehre kommt den Einsichten des späten Wittgensteins durchaus nahe, die wiederum Derrida nicht so fern liegen. Im Staatsverständnis Voegelins geht es
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um Ordnung, die Gerechtigkeit schafft selbstredend mit Gewalt, die ob ihrer Unab‐ dingbarkeit keine Fragen aufwirft. Im Staatsverständnis Derridas geht es um Proble‐ me der Gerechtigkeit, die ihrerseits Ordnung und Gewalt in Frage stellt.
1. Die performative Gewalt des besseren Arguments: Habermas In liberaler Perspektive stellt Ronald Dworkin ebenfalls eine Verbindung zwischen Ethik und Erkenntnis her, wenn er 2012 schreibt: „Natürlich müssen wir zwischen verantwortungsbewussten und verantwortungslosen Meinungen unterscheiden kön‐ nen. Vor allem wenn es in der Politik um Fragen der Gerechtigkeit geht, sind wir hierauf angewiesen. Treffen können wir diese Unterscheidung aber nur dann, wenn wir uns auf die Idee der Wahrheit und die der Falschheit berufen.“ (2012, 704) Folg‐ lich muss sich die Ethik auf die Wahrheit stützen und ihre normativen Maxime em‐ pirisch begründen. Auch damit gibt sich Derrida nicht zufrieden. Doch so wenig wie Voegelin und Dworkin trennt er strikt Ethik und Erkenntnis. Was also heißt Gerechtigkeit in dekonstruktiver Perspektive? Jemandem gerecht werden‘, hat einen sittlichen Sinn, selbst wenn es um Höflichkeit geht, die aber von Thomas Macho auch schon für eine Ethik der Postmoderne entdeckt wurde, wenn er schreibt: „Das Projekt einer Friedensstiftung durch interkulturelle Kommunikation konturiert sich im Verzicht auf die Kennzeichnung und Behauptung eigener Zugehö‐ rigkeiten. Anders gesagt: Höflichkeit – als Sprache einer Weltgesellschaft (...).“ (2002, 18) Aber Derrida beklagt sich mehrfach in seinem ersten Vortrag über die Gesetzeskraft, dass er Englisch reden muss. Einmal hätte gereicht. Doch der Text wurde so gedruckt, wie er gesprochen wurde. Vor allem bezieht sich nach Derrida Gerechtigkeit auf das Recht als dem Ort, wo Gerechtigkeit realisiert werden soll. Doch dem steht, wie sich im zweiten Vortrag von 1990 zeigt, die enge Verbindung zwischen Recht und Gewalt entgegen. Nach Derrida muss das Recht originär von einer nicht bereits legitimen Gewalt installiert worden sein, die zu diesem Zeitpunkt nicht mal als illegitim bezeichnet werden kann, was eine Aporie zwischen Recht und Gerechtigkeit anzeigt. Im Augenblick der Rechtsetzung kann denn auch nicht von gerecht oder ungerecht gesprochen wer‐ den. Das gilt allemal für eine ursprüngliche Rechtsetzung als auch für eine Rechtset‐ zung durch eine Revolution oder eine fremde Staatsgewalt nach einem verlorenen Krieg. Für das Recht, das dabei aufgehoben wird, ist beides kein Recht, sondern die reine Gewalt. Daraus ergibt sich dekonstruktiv die Frage: Kann ein Recht, das auf Gewalt auf‐ ruht, überhaupt Gerechtigkeit realisieren? Oder sollte gar Gewalt zur Realisierung der Gerechtigkeit nötig sein? Man denke an die Theorie des gerechten Krieges oder an das Wort von der humanitären Intervention, das während der Jugoslawien-Kriege
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der 1990er Jahre Karriere machte. Derrida bedient sich dazu anderer Beispiele, wenn er auf eine bis heute gängige Praxis von Staaten verweist, eine einheitliche Sprache in ihrem Territorium durchzusetzen, d.h. als Amtssprache, Schulsprache, Verkehrs‐ sprache. Das bezeichnet er als eine Gewalttat, denn schließlich werden dadurch an‐ dere Sprachen ausgeschaltet und bestimmte Gruppen diskriminiert. Die Verbindung von Recht und Gewalt liegt dabei für Derrida von den verschie‐ denen sprachlichen Ausdrücken her nahe, sei es im Englischen – to enforce the law – oder im Deutschen – staatliche Gewalten oder auch Gewaltenteilung. So gehört zum Begriff der Gerechtigkeit als Recht die Gewalt, die das Recht durchsetzt, würde es ohne diese ja auch nicht gelten. Wenn jemand das Gesetz bricht, begeht er ein Unrecht bzw. eine Gewalttat, die vom Recht mit Gewalt bestraft werden muss, um derart Gerechtigkeit wieder herzu‐ stellen. Es sieht hier auf den ersten Blick so aus, als ob sich zwischen einer derarti‐ gen legitimen Gewalt des Rechts auf der einen Seite, die das Recht selbst ausmacht, die das Recht nicht zufällig erleidet, die damit keinen akzidentellen, sondern einen notwendigen Charakter hat, und auf der anderen Seite einer ungerechten, illegitimen Gewaltanwendung einfach unterscheiden lässt. Doch das scheint nur so. Vielmehr ergibt sich für Derrida daraus die Frage: „Was ist eine gerechte Gewalt, eine Gewalt, die nicht gewalttätig ist?“ (1991, 13) Ist das Recht, wie es im Fall eines Gesetzesver‐ stoßes operiert, nicht gewalttätig? Zwischen dem Deutschen, dem Englischen und Französischen zeigt sich hier eine interessante Differenz. Zur Übersetzung von Benjamins Aufsatztitel Zur Kritik der Gewalt benutzt man in beiden anderen Sprachen das orthographisch gleiche Wort Violence. Doch das beherbergt nicht die positive deutsche Bedeutung einer Amtsge‐ walt, einer legitimen Autorität, wird die Gesetzeskraft im Französischen Force de Loi genannt, die gerechtfertigt ist. Was aber kennzeichnet die Worte Kraft und Gewalt – Force und Violence? Es geht also wie schon bei Benjamin um keine blinde Gewalt, wenn es eine solche überhaupt gibt, eine, die nicht messbar wäre, eine unermessliche Gewalt, der sich das Individuum gelegentlich ausgesetzt sieht. Es geht ja auch um keine Naturgewalt, die nach Benjamin gar nicht als Gewalt bezeichnet werden kann. Wenn ein Verwirr‐ ter ein Massaker verübt, dann ist das streng genommen keine Gewalttat, sondern ein Unfall, für den auch der Täter nicht verantwortlich gemacht werden kann. Anstatt dass Kraft und Gewalt also blind oder unermesslich, auch nicht naturge‐ geben sind, stellen sie für Derrida vielmehr die Heimstatt des Unterschieds, des Un‐ terscheidens dar. Inwiefern kann Gewalt unterscheiden? Doch bereits Nietzsche weist in Zur Genealogie der Moral auf den Ursprung von Recht und Moral in einer grausamen Mnemotechnik hin, die ein Gedächtnis schafft, indem sie traumatische Schmerzen erzeugt, durch die Unterschiede erkannt werden: „‚Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Ge‐
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dächtnis‘ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psy‐ chologie auf Erden.“ (1999, 295) Derrida verbindet Gewalt folglich mit der Differenz, dem Unterschied, mit einer Kraft oder Gewalt, die Unterschiede herstellt, d.h. sie unterscheidet und indem sie das unternimmt, schafft sie Bestimmungen, wie sich ja in den vorangehenden Kapi‐ teln bereits zeigte. Kraft und Gewalt haben also keinesfalls nur eine physisch zerstö‐ rerische Wirkung, sondern primär eine sprachliche Wirkung, eine Performanz. Denn „es geht mir immer um die differentielle Kraft und Gewalt,“ (1991, 15) sagt Derrida. Das heißt: „um die Differenz als Kraftdifferenz oder als Differenz der Gewalt“. Un‐ terschiede ergeben sich aus Kraft und Gewalt, wie diese selbst durch Relationen be‐ stimmt werden, die Unterschiede markieren. Gewalt hat die Kraft zu unterscheiden und damit zu bestimmen. Dann geht es „um die Kraft und die Gewalt als différance“ (1991, 15), Derridas orthographische Variante, die über den reinen Unterschied markant hinausweist. Diese Art des Unterscheidens als Kern der Dekonstruktion unterscheidet ja nicht nur, sondern fixiert jeden Unterschied als Wiederholung und operiert damit in Form der Iterabilität. Das Trauma wird durch bestimmte Reize aufgerufen, es herrscht als Trauma nicht permanent. Doch das sich wiederholende ‚Schritt um Schritt‘ reproduziert nicht jedes Mal denselben Unterschied, sondern verändert diesen, verschiebt ihn, schiebt ihn auf, was die Differenz fließend macht: „die différance ist eine aufgeschobene-verzögerteabweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Gewalt “ (1991, 15). Die différance entfaltet also als sprachliche Kraft eine Ge‐ walt, die die Sprache entstehen lässt und damit die Welt als eine verstandene. Wie bemerkt doch Heidegger: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ (1967, 361) Gada‐ mer hat diesen Gedanken 1960 nicht nur präzisiert, sondern ebnet damit der Dekon‐ struktion den Weg, wenn er schreibt: „Sein, das verstanden werden kann, ist Spra‐ che.“ (1990, 478) Nur dass beide dabei kaum bzw. gar keine Bezüge zur Gewalt her‐ stellen, ist für Gadamer die Sprache das Medium, in dem das Gespräch stattfindet, das allerdings von den Beteiligen nicht beherrscht wird, sondern in das diese sich verwickeln. Heidegger lässt in seiner anderen berühmten Formulierung auch kaum Gewalt anklingen: „Die Sprache spricht.“ (1982, 20) Paul de Man, den Zima zu den Vätern der Dekonstruktion zählt, verschärft diese Formulierung: „Die Sprache ver‐ spricht.“ (1979, 277) Doch das Spiel, das de Man scheinbar treibt, ist ein Spiel der Sprache selbst, das Derrida folgendermaßen kommentiert: „Paul de Man hat den Satz dann präziser formuliert: ‚Die Sprache verspricht sich‘: die Sprache verspricht, sie verspricht sich, es gehört jedoch auch zu ihrem Wesen, dass sie sich sogleich zu‐ rückzieht und widerruft, dass sie sich auflöst und dass sie ihre eigene Ordnung zer‐ stört (...).“ (1988, 110)
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Das macht es allen nicht leicht, mit ihr umzugehen, gar sie zu lernen. Ob Recht‐ schreibung oder Mathematik, selbst Zeichnen bringt Unterschiede bei, die man da‐ durch übt, dass man sie wiederholt und die Abweichungen dabei nicht zu groß wer‐ den dürfen. Man unterstelle hier, dass die Kulturtheorie Sigmund Freuds Recht hat, wenn sie den Kulturierungsprozess als schmerzvolle Unterwerfung des Lustprinzips unter das Realitätsprinzip interpretiert, die Menschen folglich zum Lustverzicht ge‐ zwungen sind, wenn sie überleben wollen. Auch im richterlichen Urteil entscheidet die Kraft des Rechts nicht nur, sondern sie schafft damit Unterschiede und folglich sprachliche Bestimmungen – alle Bestimmungen sind sprachlich. Beispielsweise er‐ klärt das Urteil jemanden zum Mörder, Staatsfeind, Terroristen, Illegalen, denen alle Rechte aberkannt werden, so dass sie ständig mit der Abschiebung rechnen, somit ein rechtloses Leben im Untergrund führen müssen. Gleichzeitig bringt die Kraft des Rechts diese Bestimmungen in Bewegung, hält sie auf, lenkt sie um: Zu jedem Urteil bedarf es einer Begründung, kann man einer Täterin mildernde Umstände zubilligen, wenn es sich um die Mörderin eines gewalt‐ tätigen Ehemanns handelt. Man kann abgelehnte Asylbewerber schneller oder lang‐ samer abschieben. Jedes Gesetz wirkt nicht in einer einheitlichen und immer glei‐ chen Weise, schafft es vielmehr auf diese Weise unendlich viele Unterschiede, die in Bestimmungen auslaufen, und das Leben jedes einzelnen Menschen unterschiedlich prägen. Offenbar gerät dabei die Gerechtigkeit selbst in diverse Aporien. Damit ver‐ schärft sich die Perspektive, die die Sprache selbst als Gewalt entbirgt: „als Kraft und Gewalt der différance (...)“ (1991, 15) entfaltet der ver- und aufschiebende Un‐ terschied eine eigene Gewalt, ist er eine Gewalt; denn jede Unterscheidung – gleich‐ gültig ob sie dabei immer unscharf bleibt oder einen präzisen Blick ausprägt – reali‐ siert Bestimmungen, die es zuvor nicht gab und die den derart bestimmten Gegen‐ stand deformieren bzw. in dieser Deformanz den Gegenstand als solchen erst erzeu‐ gen, wie sie ihn dem Spiel von Aufschub und Verschiebung aussetzen. Den Illegalen gibt es nur durch das Recht, das diesen zum Illegalen erklärt, ihm seine Rechte und seine Menschlichkeit raubt, ihn folglich deformiert. Aber beruht nicht just darauf die Stabilität von Staaten wie von Gesellschaften? Kann ein Staat heute im Zeichen gro‐ ßer Wanderungsbewegungen darauf verzichten, Zugewanderte zu Illegalen zu erklä‐ ren? Jede différance erzeugt den Gegenstand als Unterschied: den Illegalen von den Legalen. Das ist ein gewaltsamer Akt, der die Welt prägt, damit erst hervorbringt: die Schöpfung. So stellt die différance als solche eine Gewalt dar, wie die Gewalt umgekehrt primär als différance erscheint, wenn sie unterscheidet, verschiebt und aufschiebt. Wie heißt es doch in der Genesis: „Die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.“ (Moses 1.2.) Eine Welt, die keine ist, in der es keine Din‐ ge, keine Unterschiede gibt. Doch dann spricht die différance: „Es werde Licht! Und
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es ward Licht.“ (Moses 1.3.) Aber das reicht noch nicht. Denn dann muss der Schöp‐ fer noch nachschauen, ob die Verschiebung brauchbar ist: „Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis.“ (Moses 1.4.) Wenn Derrida von Kraft und Gewalt des Rechts spricht, geht es um Performanz, wenn Sprache und physische Gewalt zusammenfallen, wenn der Sprache eine inhä‐ rente Gewalt eignet. Der scholastische Realismus im Universalienstreit attestiert dem Wort eine ursächlich stiftende Kraft, die mit Benjamin noch keine Gewalt sein kann, weil es keine rechtlichen Verhältnisse gibt, die erst mit der Sesshaftwerdung und der Staatsgründung anheben. Die Sprache schafft Bedeutung, die es ohne sie nicht gäbe. Damit erhält die Hermeneutik eine performative Dimension. So geht es in Marx‘ Gespenster um die „Dimension der performativen Interpretation, das heißt einer Interpretation, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert, (...).“ (Derrida 2004, 77) Hermeneutik ist eine Macht, die durchaus als gewalttätig wahrgenommen werden kann. Dass die Sprache Gewalt realisiert, das dementieren Apel und Habermas, da sie auf der kommunikativen Grundstruktur von Sprache insistieren, deren Zwang, zwanglos ist, nämlich der des besseren Arguments. Seinen Ursprung hat es in der Salonkultur des 18. Jahrhunderts sowie der literarischen Öffentlichkeit als Vorläufer einer politischen, die sich gegen die Arkanpolitik des Absolutismus wehrt und die öffentliche Meinung schließlich als Richtschnur für die Gesetzgebung unterstellt. „Gleichzeitig beansprucht, was unter solchen Bedingungen aus dem öffentlichen Rä‐ sonnement resultiert, Vernünftigkeit;“ schreibt Habermas, „ihrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren Arguments geborene öffentliche Meinung jene mora‐ lisch prätentiöse Rationalität, die das Rechte und das Richtige in einem zu treffen sucht.“ (1976, 73) Aber auch diese Zwanglosigkeit ist ja zugegebenermaßen Zwang, kann Sprache also durchaus zwingen. Und längst nicht nur im Kontext des Rechts hat Sprache höchstens nebenbei eine kommunikative Funktion, sondern eine die Autorität und Gehorsam beansprucht – man denke nur an die Befehlssprache, gar an jene des mili‐ tärischen Drills, der sogar blinden Gehorsam zur Folge hat und in den modernen Ar‐ meen der Standard ist. Gewalt und Kraft vermitteln und stiften oder verleihen Be‐ deutung, was formgebend wirkt, gehören Gewalt und Sprache originär zusammen – und längst nicht nur, wenn einer Bevölkerung eine Sprache staatlicherseits auferlegt wird: Wenn das Gericht den Täter wegen Mordes verurteilt, dann darf er auch ein Mörder genannt werden. Arbeitet die différance auch im Satz ‚ich liebe dich‘? Oder hebt die Liebe die différance in einer mystischen Einheit auf? Letzterem würde Lévinas widersprechen, während er ersterem vermutlich zustimmen könnte, schreibt er doch: „Die Idee einer Liebe, welche das Ineinanderaufgehen zweier Seienden wäre, ist eine falsche roman‐ tische Idee. Das Pathos der erotischen Beziehung besteht in der Tatsache, zu zweit
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zu sein, wobei der Andere absolut anders ist.“ (1992, 50) Dann ist das Ineinander‐ aufgehen ein Akt der Gewalt, die mystische Einheit allemal – jedenfalls aus rechtli‐ cher Perspektive, wenn nicht sogar aus der der irdischen Gerechtigkeit, findet die unio mystica idealiter jenseits des Rechts statt in der Einheit mit Gott. Nicht nur private Liebeserklärungen, vor allem bringen Institutionen des Rechts diverse Formen von Sprechhandlungen hervor, die entsprechende Kraft oder Gewalt entfalten. So sagt Derrida: „es geht mir um die ‚performative‘ Kraft (Gewalt)“ (1991, 15). Mit dem Begriff des Performativen beschränkt sich Derrida auch nicht auf solche Akte. Vielmehr dekonstruiert er die Performanz, indem er ihr bis in ihre Aporien hinein nachspürt und sie in die Logik einer erweiterten Differenz verstrickt. So überträgt er die Performanz auf die Rhetorik, was an sich nicht verwundert, könnte sie hier ihre Geburtsstunde haben, wenn Platon die sophistische Rhetorik als Verführungskunst zum falschen Denken ablehnt. Jean Baudrillard hat denn die sanf‐ te Verführung zum Markenzeichen der Epoche erklärt, in der heute „alle Diskurse zu Verführungsdiskursen geworden sind, in die sich die explizite Forderung nach Ver‐ führung einschreibt (...): Manipulation, Überredung, (...) Beziehungsmystik, eine sanfte Transferökonomie, (...)“. (1992, 248) Derrida geht es um die trotzdem damit verbundene „persuasive und rhetorische Kraft (Gewalt),“ (1991, 15) die folglich je‐ ne Rede entfaltet, die durch das anscheinend bessere Argument – und sei es nur nett vorgetragen – zu überzeugen versucht. Überredungskünste – auch jene des besseren Arguments – sind Techniken, deren Ziel Menschenbeherrschung ist. Dem könnten Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung zustimmen. Allerdings darf man Derrida entgegnen, dass er hier Habermas‘ gewaltlose Kraft des besseren Arguments gar nicht erst in Erwägung zieht. Zwar muss man kooperati‐ ve Kommunikation nicht unbedingt wie Michael Tomasello als Ursprung der Spra‐ che betrachten. Denn nach Tomasello hat sich die Sprache als kooperative Kommu‐ nikation bereits beim Frühmenschen entwickelt: „Moderne Menschen fingen nicht ganz von vorne an, sondern bauten auf der Kooperation der Frühmenschen auf. Die menschliche Kultur ist frühmenschliche Kooperation im großen Stil.“ (2014, 126) Trotzdem stellt diese Perspektive Benjamins wie Derridas Interpretation gehörig in Frage. Aber ob kommunikativ, performativ oder persuasiv, in allen diesen Fällen birgt die Sprache eine Gewalt, mit der sie entsprechend wirkt – der zwanglose Zwang –, wie umgekehrt die Gewalt sich als Sprache präsentiert. Das bestätigt der Umgang mit heiligen Texten, die als Wort Gottes gelten, die dadurch eine Kraft erhalten, die im Sinn von Benjamin dann keine Gewalt wäre, sondern der Zwang des besseren Arguments, weil Gottes Wort immer das bessere Argument ist, somit ein Zwang, der keiner ist, weil er außerhalb des Sozialen steht, der so zwanglos ist, wie die gewalt‐ lose Gewalt in Benjamins Zur Kritik der Gewalt.
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Derrida entwickelt einen Gedanken, der demjenigen von Apel und Habermas gar nicht so fern steht, wenn man diesen aus einem religiösen Migrationshintergrund her betrachtet, schließlich geht es Derrida „(...) um all jene paradoxen Situationen, in de‐ nen die größte Kraft (Gewalt) und die größte Schwäche sich seltsam kreuzen und in einem denkwürdigen gegenseitigen Austausch stehen.“ (1991, 15) Als es die franzö‐ sische Polizei rings um den Pariser Mai 1968 nicht wagte, Sartre und de Beauvoir daran zu hindern, ein verbotenes linksradikales Blatt La Cause du Peuple zu vertei‐ len, gab der Innenminister zu: ‚Man verhaftet Voltaire nicht.‘ Bei solchen Situatio‐ nen zwischen Schwäche und Stärke gewinnt längst nicht immer der Stärkere bzw. erweist sich der Schwächere womöglich als stärker, so dass hier eine gedankliche Bewegung stattfindet, die der Genealogie Nietzsches nahekommt wie dem zwanglo‐ sen Zwang des besseren Arguments, das nicht durch Macht, sondern durch Schwä‐ che überzeugt.
2. Der ‚mystische Grund‘ bei Pascal und Montaigne Dass in den Kreisen von Dekonstruktivisten bis 1989 wenig von Gerechtigkeit und Recht gesprochen wurde, heißt für Derrida nicht, dass diese Thematik nicht perma‐ nent unterschwellig mitkommuniziert wurde. Im Gegenteil in ihrer Abwesenheit war das Thema anwesend und zwar strukturell ob der Orientierung bzw. Ausrichtung der Dekonstruktion selbst. Die Dekonstruktion will ihren Gegenständen Gerechtigkeit widerfahren lassen und Rechtsfragen haben damit von vornherein zu tun. Diese Be‐ hauptung Derridas wird 1999 auch von Alfred Hirsch indirekt bestätigt, wenn er schreibt: „Im Zusammenhang eines grammatologischen Denkens, das sämtliche Ordnungen des Sinns und der Bedeutung, d.h. diejenigen der Gesellschaft und der Kultur, des Krieges und des Friedens auf das Ereignis der ‚Schrift‘ (écriture) grün‐ det, wird Sprache im allgemeinen zur konstitutiven Dimension für die Ordnungen des Politischen und des Sozialen.“ (1999, 5) Aber warum tauchte das Thema der Gerechtigkeit dann nicht früher in den Wer‐ ken Derridas expliziter auf? Dafür liefert Derrida folgenden Grund, der sich durch seine Benjamin-Analysen bereits ankündigt: „man kann die Gerechtigkeit nicht the‐ matisieren oder objektivieren, man kann nicht sagen ‚dies ist gerecht‘ oder noch we‐ niger ‚ich bin gerecht‘, ohne bereits die Gerechtigkeit, ja das Recht zu verraten.“ (1991, 21) Man kann Gerechtigkeit folglich nicht definieren. Das ist der Unsinn, dem Platon und die Utopisten wie auch noch der Marquis de Sade mit seiner Süd‐ seeutopie in seinem Roman Aline et Valcour kurz vor der Französischen Revolution aufsitzen. Immerhin erkennt letzterer prädekonstruktiv, dass es auch zu viel des Rechts geben kann, wenn er schreibt: „Die Verbrechen machten die Gesetze nötig;
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verringert die Zahl der Verbrechen, seht ein, dass das, was ihr als kriminell betrach‐ tet, einfältig ist und schon bedarf es der Gesetze nicht mehr.“ (1963, 361) Man kann das geltende Recht beschreiben und kritisieren. Man kann es auch ab‐ bauen. Aber das sagt längst nicht, was gerecht ist. Was vielmehr gerecht ist, das zu differenzieren, durch Differenz zu bestimmen, das bleibt nicht nur ständig umstrit‐ ten, sondern wird durch die differenzierende bestimmende Bewegung verschoben, aufgeschoben, entzieht sich allemal einer finalen Festlegung. Zur Gerechtigkeit braucht man eigentlich eine vollständige Information und zugleich eine Instantanität derselben. Aber selbst wenn das möglich wäre, würden darüber Konflikte ausbre‐ chen, und nicht nur dann wenn die Parteien von verschiedenen Voraussetzungen aus‐ gehen, sondern bereits dann, wenn es um die Bewertung dieser Informationen geht. Außerdem steht man vor dem seltsamen Phänomen – eigentlich eine Aporie –, dass das Gerechte, das Derrida mit Angemessenheit umschreibt, weder Kraft noch Gewalt besitzt, die dem Recht vorbehalten bleiben, während Gerechtigkeit letztlich ausdrückt, dass sie gerecht und deshalb nicht gewalttätig ist. Gerechtigkeit erscheint als friedlich und gewaltlos, als unendlich, als final: der Gottessohn ist gerecht, hat aber keine Macht und die, die die Macht haben, sind nicht gerecht. Die Gerechtig‐ keit selbst hat nicht jene Gewalt des Rechts, um sich durchzusetzen, sich zu realisie‐ ren. Daraus ergibt sich, dass das Recht seine Legitimität schwerlich aus seiner Ge‐ rechtigkeit ableiten kann. Auf der anderen Seite werden Kraft und Gewalt mit dem Gerechten wie mit dem Angemessenen verbunden. Doch im Zuge dieser Bewegung können sich Kraft und Gewalt auch der Gerechtigkeit bemächtigen und sie in ihre Dienste stellen. Damit erklären sie sich selbst als gerecht, was indes schwerlich gerecht sein kann. Trotz‐ dem lässt sich dieses Vorgehen nicht mal als illegitim bezeichnen. Denn Gerechtig‐ keit ist mit dem Anspruch verbunden, sich zu realisieren. Dazu aber – das kann man drehen und wenden, wie man will – benötigt die Gerechtigkeit die entsprechende Kraft bzw. die Gewalt, um sich zu realisieren – soll in der Welt doch Gerechtigkeit herrschen. Und auch nur dann kann man sie wirklich als Gerechtigkeit bezeichnen, wäre eine Gerechtigkeit, die sich nicht realisiert auch keine Gerechtigkeit. Also braucht sie die Kraft und Gewalt für diese Realisierung. Dann gilt die Gewalt als solche als gerecht und angemessen, steht im Dienst der Gerechtigkeit. Eben die göttliche Gerechtigkeit wird sich realisieren – so zumindest die Trinitätslehre mit „der Gliederung des göttlichen Wirkens in Schöpfung (creatio) und Erhaltung (conservatio)“ (2010, 115), so Agamben –, das irdische Recht wird wohl unvollkommen bleiben. So bemerkt Augustin, der das perfekte göttliche vom mangelhaften irdischen Reich unterscheidet: „wahre Gerechtigkeit gibt es nur in dem Gemeinwesen, dessen Gründer und Herrscher Christus ist, wenn man es denn schon ein Gemeinwesen nennen will, da es ja unfraglich Volkssache ist.“ (1955, 134) Daher könnten religiös Gläubige geneigt sein anzunehmen, dass Theologen
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eher Gerechtigkeit durchzusetzen in der Lage sind als Juristen. Dann sollen Theolo‐ gen den Staat leiten und die Gerichte kontrollieren, was in eine Theokratie mündet. Erfahrungsgemäß hapert es aber auch dort mit der Gerechtigkeit, weshalb man seit Reformation und Aufklärung in Europa beginnt, Staat und Religion zu trennen. Oder man hofft auf den Eingriff Gottes, eine messianische Hoffnung im Judentum, ein Eingriff, der natürlich gerecht ist, ähnlich wie das finale Jüngste Gericht im Christentum selbstredend Gerechtigkeit walten lässt. Ansonsten bleibt der irdischen Gerechtigkeit gar nichts anderes, um sich zu reali‐ sieren, als dass sich die Gerechtigkeit in Recht umsetzen muss. Wie sollte man sonst Gerechtigkeit walten lassen? Die Gerechtigkeit verlangt das ihrem Wesen nach, will sie sich durchsetzen, indem sie Recht sprechen lässt, wenn dieses denn gerecht ist. Derart gibt es zum Recht eine enge Verbindung, die noch durch deren gemeinsamen Anfang untermauert wird, konstituieren sich beide gemeinsam sprachlich, so dass am Anfang das Wort war. Doch das muss nach Derrida keineswegs einem anderen Anfang widersprechen, nämlich dass am Anfang die Gewalt war oder die Schrift, die mosaische Gesetzestafel und die Rotte Korah. Wenn die Gerechtigkeit die Ge‐ walt braucht, um sich zu realisieren, um Gerechtigkeit zu sein, dann fallen Wort und Gewalt performativ zusammen und entsprechen gegebenenfalls der Gerechtigkeit. Oder die Gewalt als Recht greift auf die Gerechtigkeit über und bedient sich ihrer, um die Gewalt zu legitimieren, d.h. sie zu vertuschen. Dabei bezieht sich Derrida auf eine Bemerkung von Blaise Pascal in den letzten Lebensjahren vor seinem Tod 1662: „Es ist gerecht, dass befolgt wird, was gerecht ist. Es ist notwendig, dass befolgt wird, was die größte Gewalt besitzt. Gerechtigkeit ohne Gewalt ist machtlos. Gewalt ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch.“ (Pascal 2016, 135/103/298, 93) Es geht darum, dass sich die Gerechtigkeit konkret durchsetzt, also Folgen zeitigt, dass die Gerechtigkeit nicht etwa folgenlos verhallt. Dazu braucht sie die Gewalt. Nach Pascal ist daher beides notwendig und hängt voneinander ab. Denn würde sich die Gewalt nicht durchsetzen, hätte auch die Ge‐ rechtigkeit keine Kraft. Nur wenn man dem folgt, was stärker ist, kann die Gewalt dazu beitragen, dass sich die Gerechtigkeit durchsetzt. Jedenfalls muss man sich der Gewalt fügen, gibt es dazu keine Alternative. Und hätte die Gerechtigkeit keine Ge‐ walt, dann wäre sie keine Gerechtigkeit, spielte sie im Recht keine Rolle, weil sie schwach wäre. Beides muss deshalb zusammenspielen, weil eine Gerechtigkeit ohne Gewalt nicht anerkannt würde, genauso wie eine Gewalt ohne Gerechtigkeit sich der Kritik ausgesetzt sähe. Es sei denn, es handelt sich um die göttliche Gerechtigkeit, die bei‐ des nicht nötig hat, aber über beides verfügt. Jedenfalls gelangt Derrida zu folgender Konklusion, die er vom Gedanken Pascals herleitet: „Das Gerechte und Angemesse‐ ne der Gerechtigkeit impliziert folglich die Notwendigkeit der Gewalt (Kraft).“
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(1991, 23) Das liegt dem Naturrecht nicht so fern, wenn Saint-Just die Tugend mit dem Terror durchzusetzen versucht. Pascal bedient sich dabei eines Gedankens, den er Montaigne entlehnt, dass Ge‐ rechtigkeit ihr Fundament in den Gewohnheiten, nicht in der Vernunft hat. Wenn man nach einem rationalen Grund sucht, lässt sich die Gerechtigkeit nicht bestim‐ men, was man mit Nietzsches Kritik an der Aufklärung vergleichen darf, dass es die‐ ser nicht gelungen sei, die Ethik rational zu begründen, hat die Moral vielmehr ihr Fundament in der Gewalt der Starken und Mächtigen. Historisch betrachtet gibt es viele verschiedene Rechtsformen, die miteinander nicht kompatibel sind. Schwerlich lässt sich begründen, dass es nur eine richtige Variante des Rechts gibt, während die anderen Spielarten alle mehr oder weniger falsch wären – und doch behauptet derar‐ tiges der demokratische Staat genauso wie der fundamentalistische Islam mit der Scharia. Bereitwillig übernehmen die Menschen jedenfalls immer ein überliefertes Ver‐ ständnis von Gerechtigkeit, wenn sie das jeweils geltende Recht als Autorität aner‐ kennen. Das ist dann ein mystischer, kein rationaler Grund der Autorität des Rechts, weil er keine weitere Begründung hat: Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit, weil sie das immer schon ist und das Recht hat daher seine Autorität. Dann verdankt sich diese Autorität implizit einer Tautologie. Das formuliert Montaigne in seinen Essais, die in den 20 Jahren vor seinem Tod 1592 entstehen, als Aporie: „Die Macht der Geset‐ ze bleibt ja nicht deswegen unangetastet, weil sie gerecht, sondern weil sie Gesetze sind. Dies ist das mythische Fundament ihrer fortdauernden Geltung, ein andres ha‐ ben sie nicht (....) Wer ihnen gehorcht, weil er sie für gerecht hält, gehorcht ihnen nicht aus dem rechten Grund.“ (1998, 451) In der von mir zitierten Ausgabe wird vom „mythischen Fundament ihrer fortdau‐ ernden Geltung“ geschrieben. In der Übersetzung, die Derridas Gesetzeskraft ent‐ hält, heißt die Stelle „der mystische Grund ihrer Autorität“ (1991, 25) ‚Mythisch‘ würde besser zu Benjamins Zur Kritik der Gewalt passen, denn im Recht realisiert sich ja nach Benjamin die mythische Gewalt, hätte die Autorität einen mythischen Grund, eben einen in dem der Mythos wiederkehrt, gehorchen die Bürger einem my‐ thisch konstituierten und dementsprechend weiter fortgeschriebenen System. Auch ‚fortdauernde Geltung‘ bringt den Gedanken Pascals und daran anschließend denje‐ nigen Derridas gut zum Ausdruck, wenn nicht sogar besser. Denn Geltung hängt ja von der Anerkennung ab und der Grund der Anerkennung ist nicht die Gerechtig‐ keit, sondern verschwimmt im Mythischen mit seiner Gewalt: die dumpfe Angst des Bürgers, von der staatlichen Gewalt behelligt zu werden. Oder sie nehmen, um von ihr geschützt zu werden, auch Ungerechtigkeiten in Kauf – die bis heute üblichen Verhaltensweisen. Heißt ‚uns‘ also die dekonstruktive Perspektive auf diese Weise die Gerechtigkeit zu denken? Denn Heidegger übersetzt den Titel seiner Vorlesung Was heißt Denken? folgendermaßen: „Das Bedenkliche ist das, was zu denken gibt.“
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(1954, 132) Das Bedenklichste ist dann aber für Heidegger, dass ‚wir‘ noch nicht denken. Für Derrida wäre das Bedenklichste, dass ‚wir‘ der Gerechtigkeit nicht ge‐ recht werden, solange ‚wir‘ uns nicht dekonstruktiv verhalten. Angesichts der Übersetzungsproblematik schließe ich mich hier der Formulierung im Text von Derrida an, schließlich ist diese Formulierung auch in den Titel von Derridas Buch eingegangen. Und hier geht es primär um ihn und nicht primär um Montaigne, lässt sich auch für das Wort des Mystischen einiges argumentativ ins Spiel bringen. Mit seiner Formulierung trennt Montaigne nach Derrida jedenfalls Recht und Ge‐ rechtigkeit. Rechtsprechung wie die geltenden Gesetze beherbergen nicht die Ge‐ rechtigkeit bzw. diese ist etwas anderes als die Gerechtigkeit, die das Recht beinhal‐ tet, wenn es überhaupt eine beinhaltet und wenn es darum geht, warum das Recht Gehorsam findet. Das kommt Max Webers Definition von Herrschaft nahe: „‚Herr‐ schaft’ soll, definitionsgemäß die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Be‐ fehle bei einer anggebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden.“ (1980, 122) Macht hängt damit zusammen und wird von Weber in seinem Vortrag Politik als Beruf 1919 folgendermaßen skizziert: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele (...), oder Macht ‚um ihrer selbst wil‐ len‘: um das Prestigegefühl, das sie gibt zu genießen.“ (1971, 495) Just mit dieser Macht erlangt man den Gehorsam anderer Menschen. Wenn man von der Herrschaft des Rechts spricht, dann hat das eine ähnliche Bedeutung, wie sie Montaigne formu‐ liert, nämlich Gesetzesgehorsam. Dann erscheinen die Gesetze nicht als gerecht, müssen das aber auch nicht sein. Wer sie befolgt, kann sie daher nicht ob ihrer Gerechtigkeit befolgen. Das macht er vielmehr ob deren dauerhafter Geltung, also ob deren Autorität. Gesetze werden be‐ folgt, weil sie Gesetze sind, denen man gehorchen muss. Sonst wären es keine gel‐ tenden Gesetze. Das dürfte mit dem Verhalten wie dem Verständnis der meisten Zeitgenossen übereinstimmen, die sich nicht bei jedem Gesetz Gedanken darüber machen, ob das Gesetz gerecht ist oder nicht, sondern es einfach befolgen. Dabei verweist Derrida darauf, dass für Montaigne die Rechtsprechung wie die Gerechtigkeit des Rechts auf Fiktionen beruhen, die das Recht enthält und das daher auch als legitim gilt. Diese ‚legitimen Fiktionen‘ vergleicht Montaigne mit der Schminke von Frauen, mit denen diese einen natürlichen Mangel ausgleichen. Nach Derrida ließe sich das damit parallelisieren, dass positives Recht das Fehlen eines Naturrechts ausgleicht, so dass das historisch überlieferte Recht auf einer Fiktion als naturrechtliche Schminke für das positive Recht beruht. Für Pascal haben umgekehrt an die Stelle von natürlichen Gesetzen und Rechten, die letztlich die göttliche Weisheit bergen, das menschliche Recht und die menschli‐ che Vernunft eine verdorbene Gerechtigkeit gesetzt, die vor der göttlichen verblas‐ sen wird, wie es auch Benjamin unterstellt, die sich aber gleichfalls als gerecht aus‐
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gibt – eine Fiktion, die der Gerechtigkeit. Und welches geltende Recht behauptet nicht von sich, dass es gerecht sei? Und keines kann das beweisen. Auch Lyotard erläutert die paradoxale Logik der Autorität, die sich ständig in Aporien verwickelt, regelmäßig, genauer in religiöser Perspektive, Ansprüche auf Absolutheit erhebt und bei den Begründungen dagegen gar nicht weit kommt, son‐ dern sich in Kurzschlüssen auf die Autorität verheddert: „Die Autorität lässt sich nicht ableiten. Die Versuche zur Legitimation der Autorität führen in den Teufels‐ kreis (ich habe Macht (..) über dich, weil du mich dazu autorisierst), zur petitio prin‐ cipii (die Autorisierung autorisiert die Autorität), zur Regression ins Unendliche (x wird von y autorisiert, das von z autorisiert wird), zum Paradoxon des Idiolekts (...).“ (1987, 237) Damit versammelt Lyotard alle Formen von Aporien, in die die Begründung der Autorität gerät. Just daher greift Derrida auf Montaigne und Pascal zurück, die in Form einer verschiebenden Differenz der Autorität eine Verbindung zur Gerechtigkeit attestieren. Derrida will sich dabei nicht etwa in religiösen Argumenten verlieren, sondern löst Pascal wie Montaigne von ihren christlichen Gehalten, was er für möglich er‐ klärt und was methodisch möglich ist. Aus beiden lassen sich Argumente ableiten, die zu einer ideologiekritischen Betrachtung des Rechts führen. Ergo operiert Derri‐ da selbst nicht aus einem religiösen Kontext heraus. Derridas Anliegen ist nämlich ein anderes und trennt sich von religiösen Perspek‐ tiven: „Das Aufkommen des Rechts und der Gerechtigkeit, von denen Pascal redet, das Moment der Stiftung, der (Be)gründung, der Rechtfertigung des Rechts impli‐ ziert eine performative Kraft (Gewalt), das heißt es impliziert regelmäßig eine deu‐ tende Kraft (Gewalt)“. (1991, 27) Wenn die Gerechtigkeit ihrerseits die Gewalt des Rechts braucht, wenn sie ihren Charakter nicht verlieren will, wenn sich das Recht seinerseits nicht nur der Gewalt, sondern auch der Gerechtigkeit zu bedienen ver‐ mag, wenn das Motiv für die Anerkennung des Rechts nicht die Gerechtigkeit ist, wenn diese Anerkennung aber hintergründig mitschwimmt, dann gründet die Autori‐ tät bzw. Herrschaft des Rechts auf einem Knäuel von unterschiedlichen Argumen‐ ten, die die besagte Mystik ergeben. Das gilt nach Derrida „nicht in dem Sinne, dass das Recht einer Macht dient, dass es ein folgsames, unterwürfiges und also äußerli‐ ches Instrument der herrschenden Mächte ist, sondern in dem, dass es mit der soge‐ nannten Kraft, Gewalt, Macht, Gewalttätigkeit in einem Verhältnis steht, das tiefer ins Innere reicht und eine höhere Komplexität aufweist.“ (1991, 27) Derrida zerlegt also mit Montaigne und Pascal indirekt die reine deskriptive Definition Webers von Herrschaft. Er will dabei eine angemessene Perspektive entwickeln, die trotzdem als Objektivität auch Weber vorschwebt. Das Recht jenseits ideologischer Perspektiven zeigt, dass es sich auf eine Gewalt stützt, die als performative gleichzeitig interpretierend und handlungsanweisend wirkt. Sie verleiht den ihr unterworfenen Menschen Sinn, bei dem es nicht primär
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um Herrschaftsverhältnisse geht, nicht primär um Gehorsam und Untertänigkeit, sondern um Strukturen im Verhältnis von Recht und Gewalt, die sich aus deren Zu‐ sammenspiel ergeben, bei dem die Gerechtigkeit zumindest eine beschränkte Rolle spielt, aber eine, die faktisch der Fall ist, keine idealisierte oder theologisch aufge‐ rüstete, auch keine, die schlicht von der Herrschaft des Menschen über den Men‐ schen abgeleitet wird. Diese spielt keine fundierende Rolle, in deren Dienst dann Gewalt, Recht und Ge‐ rechtigkeit treten würden, sind sie kein Überbauphänomen, wie es Marx sehen wür‐ de. Diese gehören auch nicht einfach zum historischen Prozess, sondern greifen von sich aus in diesen ein, unterbrechen ihn dadurch, dass in ihnen Entscheidungen statt‐ finden – ein Gedanke, den Derrida von Carl Schmitt übernimmt, wenn die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand das Recht aufhebt. Man könnte einen solchen Gedanken dem ideologischen Staatsapparat annähern, ein Begriff, den Louis Althusser entwickelte, bei dem Derrida und auch Foucault studierten. Althusser bestimmt ihn 1970 folgendermaßen: „Um die Staatstheorie voranzutreiben, ist es unbedingt notwendig, nicht nur die Unterscheidung zwischen Staatsmacht und Staatsapparat zu berücksichtigen, sondern auch eine andere Realität (...): die ideologischen Staatsapparate.“ (1977, 119) Natürlich herrscht in diesem die Ideologie der herrschenden Klasse, der man nach Althusser nur in marxistischer Per‐ spektive zu entgehen vermag. Aber dieser ideologische Staatsapparat wirkt nicht nur ideologisch, sondern schafft damit eine politische wie rechtliche Realität, die die Subjekte erst konstituiert, die sich selbst wie ihre Situation entsprechend deuten. So taucht damit hintergründig die Performanz der Sprache auf, die die Wirklichkeit durch ihre Interpretation prägt, ein Gedanke, den Schmitt selbst so nicht denkt, mit dem er aber kein Problem haben sollte. Die ideologischen Staatsapparate tragen ihren Anteil dazu bei, dass Schmitt so denken kann – das ist Ideologie – was aber durchaus die Wirklichkeit stiftet oder prägt, d.h. das Verständnis der Menschen, sich als Subjekt zu verstehen, die dementsprechend mit politischen Entscheidungen um‐ gehen. Aber wie kann denn die Performativität des Rechts als Gewalt legitim sein? War‐ um wird das Recht anerkannt und befolgt? Weil es stark ist, kommt es auf die Ge‐ rechtigkeit nicht an, was ja allemal Wasser auf Schmitts Mühlen ist. Denn an die Stelle der Herrschaft tritt diese Struktur aus dem Zusammenspiel von Gewalt und Recht, das im Anschluss an Montaigne und Pascal weder gerecht noch ungerecht ist, sondern performativ und deutend – auch als Althussers ideologischer Staatsapparat. Der Bürger befolgt nach Pascal die Gesetze, weil sie Gesetzeskraft haben, aber da‐ mit – und das ist ja das Überraschende – auch Gerechtigkeit. Nach Montaigne geht es primär um die Geltung, die wirkt und interpretiert – am Ende gleichfalls um die Gerechtigkeit.
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Diese Gewalt verdankt sich keiner Macht, die ihr vorausginge, keinem Recht oder einer Justiz, die Recht und Macht stiften würde, sowenig wie diese performative Ge‐ walt von solchen Institutionen aufgehoben werden könnte. „Kein rechtfertigender Diskurs“, so Derrida, „kann oder darf die Rolle einer Metasprache übernehmen und dafür sorgen, dass sie gesprochen wird, wenn es um die Performativität der instituie‐ renden Sprache oder um deren vorherrschende Deutung geht.“ (1991, 28) Daraus er‐ gibt sich wiederum in Anschluss an Montaigne und Pascal, dass sich die Gewalt einer überlieferten Anerkennung verdankt, die ihr die Autorität verleiht und die Ge‐ walt damit in Recht transformiert, das man ob seiner Gewalt zu befolgen hat – von dem die Untertanen gleichzeitig hoffen, dass es gerecht ist. Dann schafft die Gewalt sogar performativ die Gerechtigkeit, die sich als solche nur dekonstruktiv in ihren Strukturen zeigt. Just an dieser Stelle verläuft sich die Performativität, der man nicht weiter nach‐ spüren kann. Sie verliert sich in einer Stiftung, einem nicht weiter beschreibbaren Anfang, was Derrida als das Mystische bezeichnet. Denn die stiftende Gewalt beher‐ bergt ein Schweigen. Wie die Gewalt zur Performanz gelangt, bleibt letztlich dunkel. In der Unio mystica, am letzten Grund fallen die Differenzen in eins, gibt es keine Bestimmungen mehr, entfaltet sich eine unaussprechliche Einheit, schreibt Meister Eckhart: „Im Grunde herrscht das größte Schweigen. (...) Hier geht Gott in die Seele ein mit seinem ganzen Sein, nicht mit einem Teile. Hier kommt Gott in den Grund der Seele.“ (1936, 33) Jedenfalls bleibt für Derrida ein blinder Fleck oder dunkler Punkt im Ausgang des Rechts bzw. der Institutionen, Der ‚mystische Grund der Au‐ torität‘, was paradox erscheint und sich in die Aporien einklinkt, die Derrida dekon‐ struktiv zwischen Gerechtigkeit und Recht ausmacht.
3. Die mythische Nähe von Recht und Gerechtigkeit Pascal bemerkt, dass man gehorcht, weil das Recht gerecht ist und weil es mächtig ist. Montaigne hatte das noch ein wenig verschärft. Nämlich aus der Perspektive des Gehorchenden muss man dem Recht gehorchen, weil es gilt, nicht weil es gerecht ist. Dieser Grund der Autorität ist deshalb mystisch, weil die Gehorchenden dafür gerade keine guten oder vernünftigen Gründe anführen können, außer negativen. So verdankt sich die Performativität des Rechts der Anerkennung seiner Geltung, die zugleich die Gerechtigkeit suggeriert, ohne dass man das einfach widerlegen könnte. Bestätigt das indes nicht Habermas‘ Einwand, Derrida verfalle der Mystik? Viel‐ leicht nicht gleich so dramatisch mit Meister Eckhart aber doch mit Montaigne! Aber wenn jemand die Grenzen der Sprache eruiert, befasst er sich nicht unbedingt naiv mit einer mystischen Angelegenheit bzw. avanciert zum Vertreter derselben. Wenn man wie Habermas indes den Verfassungspatriotismus und den Rechtstaat be‐
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schwört, dann kommen auch jene Einwände ungelegen, die nicht aus dem reaktionä‐ ren oder konservativen Lager stammen. Derrida beruft sich zudem auf Wittgenstein: Weniger dass man über das Mysti‐ sche schweigen sollte, als dass alle Antworten darauf keinen logischen Sinn ergeben. Daher erscheint Wittgenstein der Glaube als etwas Absurdes, das man einfach glau‐ ben muss, ohne es zu hinterfragen, womit er an Kierkegaard anschließt, für den Glaube ein Paradox ist, nämlich dass man trotzdem glauben muss. Allerdings braucht man dazu eine Entscheidung, womit er dem Dezisionismus den Weg berei‐ tet, der mit Carl Schmitt primär im Nationalismus Furore machte. So fordert Kierke‐ gaard auf: „Wähle, und Du wirst sehen, welch eine Gültigkeit in der Wahl liegt“! (1957, 179) Auch Wittgenstein beseelt ein religiöser Glaube, der allerdings gewisse metaphy‐ sische Argumente zurückweist. So schreibt er: „Die Religion sagt: Tu dies! – Denk so! – aber sie kann es nicht begründen, und versucht sie es nur, so stößt sie ab; denn zu jedem Grund, den sie gibt, gibt es einen stichhaltigen Gegengrund. Überzeugen‐ der ist es, zu sagen: ‚Denke so! – so seltsam dies scheinen mag.“ (1977, 62) So sto‐ ßen sowohl Kierkegaard als auch Wittgenstein auf gewisse Paradoxien, die Derrida dekonstruktiv gelegen kommen, da sie rationale Begründungen untergraben. Denn Derrida verschiebt die rationale Begründung von Recht und Staat, gleich‐ gültig ob diese naturrechtlich wie bei Hobbes und Locke oder formal bei Kant und Habermas erfolgt. Die rationale Begründung liefert eine Grundlage, die dann perma‐ nent besteht und auf die man sich immer wieder beziehen kann und muss. Doch die‐ se Begründung verschiebt Derrida zu einem performativen Grund. Auch die rationa‐ le Begründung stiftet, wiewohl im eigenen Verständnis nicht genealogisch, also nicht aus dem Anderen heraus. Der Anfang erscheint dann als Anstoß oder Ur‐ sprung, der eine Begründung ist, wiewohl die beiden ersten Buchstaben von Derrida eingeklammert werden; denn eine solche Stiftung lässt sich rational nur relativ be‐ gründen – ein Relativismus, den Habermas und speziell Apel strikt ablehnen. So spricht Derrida: „Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat).“ (1991, 29) Eine Gründung muss nicht wohl begründet sein, was sie in diesem Fall trotz aller Anstrengungen offenbar auch nicht sein kann. Trotzdem stellt diese Gründung eine Begründung dar, und zwar im Sinn eines letzten Grundes, über den freilich ge‐ schwiegen werden muss oder er äußert sich in einer rationalen Systematik sehr be‐ redt, beispielweise in Habermas‘ programmatischen Sätzen: „auf der formalen Ebe‐ ne der argumentativen Einlösung von Geltungsansprüchen ist die Einheit der Ratio‐ nalität in der Mannigfaltigkeit der eigensinnig rationalisierten Wertsphären gesi‐ chert. Geltungsansprüche unterscheiden sich von empirischen Ansprüchen durch die
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Präsupposition, dass sie mit Hilfe von Argumenten eingelöst werden können. Und Argumente oder Gründe haben mindestens dies gemeinsam, dass sie, und nur sie, unter den kommunikativen Voraussetzungen einer kooperativen Prüfung hypotheti‐ scher Geltungsansprüche die Kraft rationaler Motivation entfalten können.“ (1981, 339) Aber warum die ‚Einheit der Rationalität‘ gesichert sein soll, das bleibt offen. Damit soll gar kein stiftender Grund eingeholt werden, sondern ein vernünftiges Ar‐ gument entwickelt werden, das die Bürger überzeugen kann. Der mystischen Stif‐ tung kommt Michael Tomasello näher, wenn er die evolutionäre Entwicklung des Denkens in Kooperation münden sieht, in ‚geteilte Intentionalität‘, die durch die sprachliche Kommunikation konsolidiert wird. So plädiert er: „(...) kulturelle Institu‐ tionen, (...) rekursives und rationales Schlussfolgern, objektive Perspektiven, soziale Normen und normative Selbststeuerung (...) sind durch und durch Phänomene der Koordination, und es ist nahezu unvorstellbar, dass sie evolutionär aus einer nichtso‐ zialen Quelle entsprangen. So etwas wie die Hypothese geteilter Intentionalität muss einfach wahr sein.“ (2014, 225) Damit widerspricht er wohlbegründet der von Nietz‐ sche bis Derrida vertretenen These, dass Gewalt und nicht Kooperation die Kultur‐ entwicklung anschiebt. Aber auch das bleibt eine Hypothese. Es könnte die Gewalt bzw. die Sprache des Kommandos gewesen sein, die die Kooperation erzwungen hat. Dann muss man sich zumindest damit einrichten, dass alle Begründungen rela‐ tiv bleiben. Damit beherbergt die These von der kooperativen Kommunikation einen blinden Fleck, um den sich Derrida kümmert, für den auch eine rationale Begründung zirku‐ lär um sich selbst kreist. Daher könnte am Anfang nicht das Wort im Sinne der Kommunikation gestanden haben, des Gesprächs über die Probleme der Polis, son‐ dern das Wort als Ausdruck eines göttlichen Willens bzw. einer Performanz der ge‐ waltlosen Gewalt, die Sinn und Bedeutung stiftet, also das Recht: die Zehn Gebote. Dann gehören Gewalt und Sprache originär zusammen, sind sie dasselbe, als perfor‐ mativer Ausdruck – man könnte auch gewalttätiger Ausdruck sagen. Das ist der mystische Grund, der sich nicht weiter erhellen lässt, in dem ein Schweigen herrscht: Am Anfang war die Gewalt; „im Anfang war das Wort“ (Johannes 1.1); ‚im Anfang‘ war die Gewalt des Wortes; am Anfang war die Sprache der Gewalt, war die Gewalt Sprache und das Wort Gewalt. Denn wie heißt es am Anfang des Johannes-Evange‐ lium kurz darauf weiter: „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dassel‐ be ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ (Johannes 1.3) Dann war das Wort die reine Gewalt. Nein, die reine Liebe? So einfach ist das nicht. Vor allem handelt es sich um religiöse Mythen, die aber das Denken des Abendlandes bis hin zu Habermas ge‐ prägt haben. Man könnte sich damit beruhigen, dass die Evolution nichts macht, sondern etwas entwickelt. Nur ändert das nichts daran, dass das Entwickelte sprachlich differen‐ ziert werden muss, was man zumindest von Ferne als etwas Gewalttätiges verstehen
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kann, im Sinn einer verschiebenden Differenz. Im Fall von Stiftung erweist sich die Sprache schwerlich als primär kommunikativ, sondern als Ausdruck mit performati‐ ver Kraft, der also beeindruckt, damit bedeutet, so dass der Beeindruckte derglei‐ chen im Wiederholungsfall entsprechend verschoben versteht. So gründet Nietzsche die Mnemotechnik auf Grausamkeit. Und wie heißt es doch in der Dialektik der Auf‐ klärung: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit widerholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (Hork‐ heimer, Adorno 1971, 33) Derart verlaufen die Frontlinien zwischen jenen, für die die Sprache im Dienst einer rationalen Kommunikation steht, und jenen, denen die Sprache auch als Kom‐ munikation nicht frei von Gewalt erscheint. Derridas Frage nach der Stiftung des Rechts liegt außerhalb des Bereichs, in dem es um die rationale Begründung des Rechts geht. Natürlich kann man das Recht rational bzw. pragmatisch begründen. Aber die Dekonstruktion untergräbt rationale Begründungen des Rechts, was die Vertreter rationaler Begründungen gemeinhin wenig beeindruckt. Sie verbleiben in gewisser Hinsicht pragmatisch auf der Ebene rationaler Kommunikation und können sich dabei auch transzendentaler Begründungen rückversichern. Wie heißt es doch bei Apel: „Der Philosophierende braucht demnach die Zugehörigkeit zu einer kriti‐ schen Kommunikationsgemeinschaft weder dogmatisch noch in einer ‚irrationalen Entscheidung‘ (K. Popper) zu wählen, wenn es um Letztbegründung durch transzen‐ dentale Reflexion geht; denn er hat als Argumentierender die Voraussetzung der un‐ begrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft immer schon implizit aner‐ kannt.“ (1973, 222) Damit will Apel jedem Relativismus entgehen. Denn es gibt einen rationalen transzendentalen Anker, der eine nicht zirkuläre letzte Begründung liefert, ohne dabei auf religiöse Themen zurückzugreifen. Dass muss man gar nicht dementieren. Nur dass derartige transzendentale Be‐ gründungen in einem rational bestimmten Bereich verharren. Das konnte Hegel noch für das Ganze halten. Aber Hegel wusste schon: „Wer die Welt vernünftig an‐ sieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung.“ (1970 b, 23) Zwischenzeitlich haben sich jedoch solche rationalen Verfahren häufig als unzu‐ länglich erwiesen, erfüllen sie nicht was sie versprechen, nämlich die Welt mehr als nur rational zu gestalten. Rationalität reicht nicht hin, um die Lebenswelt zu humani‐ sieren. Daher kann man sich mit Transzendentalismus nicht mehr selbstredend in einem aufklärerischen Sinn zufrieden geben, dem sich Derrida verpflichtet fühlt. Auch gemäß der kurz zuvor zitierten Dialektik der Aufklärung kann reine Vernunft nicht genug sein, um zu verhindern, dass mit ihr barbarischer Schindluder getrieben wird. Dann verharren die Begründungsstrategien der Rechtsphilosophie nicht nur in
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ihrem rationalen Rahmen, ohne das ihnen andere hinlänglich zu erfassen. Sie ma‐ chen die Welt vielleicht nicht unbedingt schlechter, aber nicht notwendig humaner. Derrida geht es an der zuletzt zitierten Stelle um etwas anderes, nämlich um das Verhältnis von stiftender Gewalt und Gerechtigkeit. So spricht er weiter: „Das be‐ deutet nicht, dass sie an sich ungerecht sind (im Sinne von ‚unrechtmäßig‘). Im gründenden Augenblick, in dem Augenblick, der ihr eigener Augenblick ist, sind sie weder recht- noch unrechtmäßig.“ (1991, 29) Die stiftende Gewalt bleibt rechtlich neutral, weil es im Augenblick der Stiftung kein Recht gibt, gleichgültig ob es sich um den Naturzustand ohne Recht handelt oder um einen Kriegszustand, in dem das alte Recht aufgehoben war. Gegenargument wäre der Internationale Gerichtshof in Den Haag, der Kriegsverbrechen verfolgt, obwohl zu dem Zeitpunkt und dort, wo sie begangen wurden, eigentlich kein Recht galt. Die damit einhergehende Fiktion des Rechts wäre kein Problem. Aber der Gerichtshof stützt sich selbst auf eine ge‐ stiftete wie stiftende Gewalt. In diesem Fall – das hat sich bei Derridas Benjamin-Interpretation gezeigt – tritt allerdings eine Schwäche in seiner Argumentation auf: Kriegführende Staaten wie Usurpatoren operieren nicht unter Rawls‘ rationalem Schleier des Nichtwissens. Vielmehr können sie auf diverse Formen von Rechtserfahrungen zurückgreifen, die bei der Stiftung eines neuen Rechts eine wesentliche Rolle spielen, die Derrida wie Benjamin zu wenig beachten. Formaliter gilt für diese Rolle selbstredend auch, dass der Augenblick der Rechts‐ stiftung rechtlich neutral ist. Das bedeute aber nicht, dass die rechtlich neutrale Stif‐ tung des Rechts in einer neutralen Zone stattfindet oder genau auf einer fiktiven Scheidelinie zwischen Natur- und Rechtszustand. Beides gibt es nicht bzw. gerät als konkretes Ereignis ins Schwanken oder in Verschiebungen, die indes durchaus Vor‐ prägungen unterliegen. Das Recht fällt nicht vom Himmel, wahrscheinlich nicht mal das allererste, wenn man davon reden will. Die Alliierten haben nach dem zweiten Weltkrieg nicht willkürlich Recht gesetzt, sondern aus ihren eigenen Traditionen he‐ raus. Das ist wohl ein historisch häufiger Fall und wird von seinen Gegnern regel‐ mäßig als Siegerjustiz disqualifiziert, womit diese zwar Recht haben. Doch die Par‐ tei der Verlierer ist nun mal untergegangen. Umgekehrt, weil das Recht nicht vom Himmel fällt, kann man es ob seiner entsprechenden Stiftung immer kritisieren, was die Nazis wie ihre Nachfahren fleißig betreiben, just um von den eigenen Verbre‐ chen abzulenken. Gleichgültig ob die rationale Kritik diese Verschiebungen goutieren würde, in je‐ dem Fall kritisiert sie die rechtliche Neutralität des Rechts in der Phase der gewalttä‐ tigen Stiftung als irrational und schließt sie damit aus der rationalen Begründung aus. Dem widerspricht Derrida im Anschluss an Pascal: Denn wenn man der stiften‐ den Gewalttat folgt, weil es gar nicht anders geht und wenn man gleichzeitig besser dem folgt, was angemessen und gerecht ist, dann ergibt sich daraus eine sich auf‐
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drängende, naheliegende, aber keineswegs zwangsläufige Rückkopplung, nämlich der Gewalt als Notwendigkeit die Weihe der Angemessenheit zu verleihen. Für alle Beteiligten macht das den Umgang mit dem Recht leichter, so lange es nicht verändert werden kann. Für Derrida würde das gesetzte Recht dadurch eher ge‐ stärkt als geschwächt, für Montaigne auch. Schmitt würde dem vermutlich zustim‐ men: wenn man der Autorität den Mantel der Gerechtigkeit umhängt, hat sie ein grö‐ ßeres Gewicht, geht Leo Strauss davon aus, dass ein religiöser Hintergrund ähnli‐ ches leistet. Das sehen Habermas und Apel indes anders, für die man aus rational angebbaren Gründen die Gesetze befolgt, was die Gesetzeskraft für Apel und Haber‐ mas stärkt und nicht schwächt. – an sich die sympathischere Position, die allerdings ihrerseits auf mythischen Voraussetzungen aufruht, nämlich der Rationalität von Sprache und Recht, was sich nicht von selber versteht, auch wenn das kluge Theori‐ en wie jene von Tomasello untermauern. Heißt dann Gerechtigkeit in dekonstruktiver Perspektive eine Genealogie der Rechtsgeltung bzw. der Autorität zu entwickeln? Leitet die Dekonstruktion das Recht im Sinn von Nietzsche aus dem ihm anderen ab? Aber das scheint nur so aus der Perspektive des Rechts oder aus der Perspektive der Rationalität. Daher ist die Dekonstruktion keine Genealogie: Die Dekonstruktion bemerkt, dass Recht und Ge‐ walt nicht etwas Gegensätzliches sind – während Nietzsche das Gute aus dem ihm anderen, dem Willen zur Macht bzw. dem Bösen ableitet –, sondern dasselbe, wie es schon Benjamin 1921 konstatiert. Denn „der Ursprung der Autorität, die (Be)grün‐ dung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst“, so Derrida „gehen über den Gegensatz, der zwischen dem Ge- oder Begründeten und dem Un-be-grün‐ deten besteht, hinaus, sie übersteigen den Gegensatz zwischen dem, was (be)grün‐ den will, und dem, was sich gegen alle (Be)gründung richtet.“ (1991, 29) So entfal‐ tet sich in der verschiebenden Differenz eine Einheit oder zumindest wird der Ge‐ gensatz von Recht und Gerechtigkeit in der Stiftung des Rechts durch Gewalt aufge‐ hoben, indem die Gewalt gerecht erscheint. Wenn sich die Autorität in der Verbindung von Gewalt und Gerechtigkeit stiftet, tritt durch das Argument Pascals der Gegensatz zwischen Begründung und Grundlo‐ sigkeit in den Hintergrund. Die Stiftung findet an einem anderen Ort statt, an dem Begründung so wenig eine Rolle spielt wie die Grundlosigkeit. Letztere wird nur durch erstere zu einem Problem. Aber wenn die stiftende Gewalt und wenn nur ob ihrer Stärke dann als gerecht bzw. angemessen anerkannt wird, stellt sich dem Aner‐ kennenden die Frage nach einer Begründung dieser Gewalt bzw. des Rechts erst ein‐ mal nicht. Kritik erfolgt vielleicht später. Nach Derrida ändert sich daran auch nichts, wenn man bei der Gestaltung eines Staates vorab gewisse Übereinkünfte oder anderweitige Voraussetzungen benötigt. Der mystische Grund der Staatsautorität wird weiterhin eine Rolle spielen, wo es um die Begründung der Deutungshoheit von Konventionen oder Regeln geht wie um die
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Begründung dieser Konventionen und Regeln selbst. Die Menschenrechte lassen sich nicht final begründen, reicht ihren Verfechtern indes, dass sie ein hohes Maß an Anerkennung genießen, was den Konsequenzen aus Pascals Argument nahe kommt: Anerkennung macht stark. Etwas vereinfacht betrachtet, bringt Derrida damit das Dilemma wieder in die rechtsphilosophische Diskussion zurück, dass es keine Letztbegründungen bzw. ab‐ solute Rechts- oder Moralgründe gibt, wie sie von religiöser Seite weiterhin fleißig vorgeschoben werden, aber auch von Vertretern des ethischen Universalismus, bei‐ spielweise in der Transzendentalphilosophie von Apel. Und der verbreitete Pragma‐ tismus, der das Problem übergeht, weil es keine Konsequenzen hätte, versucht damit kritische Fragen auszublenden. Doch das kann nicht gelingen, weil es im Recht um Gerechtigkeit geht, jedenfalls wenn die Betroffenen mündig genug sind, um ihre Stimme zu erheben. Just dieser Protest, der sich seit den sechziger Jahren intensi‐ viert, wird durch die Dekonstruktion reflektiert und legitimiert.
11. Kapitel: Gerechtigkeit und Recht Der Grund des Rechts präsentiert sich als eine Stiftung durch Gewalt, die sich fort‐ schreibt, wie sich bereits bei Benjamin zeigt. Sie verschwimmt im unbestimmt Mys‐ tischen, wo Wort und Performativum, Wort und Gewalt, Wort und Tat zusammenfal‐ len, wenn am Anfang das Wort war. So verläuft die Frontlinie zwischen jenen, die Sprache als gewaltlose Kommunikation verstehen, und jenen, die wie Derrida mit der Performativität der Sprache eine Beziehung zur Gewalt diagnostizieren. Rein ra‐ tionale, gar transzendentale Begründungen des Rechts muss man gar nicht zurück‐ weisen. Nur verbleiben sie im Rahmen der Rationalität und erfassen die Lebenswelt nur beschränkt. Was für Apel und Habermas der rationale Grund des Rechts sein könnte, nämlich die Kommunikativität der Sprache, das erscheint für Derrida nur als ein mystischer Schein. Wenn die Dekonstruktion also den Ungerechtigkeiten des Rechts nachgeht, beför‐ dert sie dadurch aber die Gerechtigkeit? Oder schafft sie dadurch nicht ständig neue Unsicherheiten, die den Zeitgenossen Angst machen? Somit Ungerechtigkeiten?
1. Aporien der Sprache: Lyotard Die Dekonstruktion führt nicht zu den elementaren Bestimmungen einer zu eruieren‐ den Angelegenheit, sondern zu destabilisierenden Aporien. Eine dekonstruktive Be‐ trachtung von Gerechtigkeit und Recht konzentriert sich auf Erfahrungen, die man mit Recht und Gerechtigkeit macht. Erfahrung bestimmt Derrida als Weg und Apo‐
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rie ist das Ende des Weges, dort wo der Weg nicht weiterführt, wenn man in Aporien gerät. Dass der Weg endet, heißt indes nicht, dass man just von diesem Ende nichts lernen könnte. Heidegger bedient sich der Metapher der Holzwege, die als Sackgas‐ sen das Denken herausfordern. „Aus solcher Sicht“ – so Derrida – „wäre die Ge‐ rechtigkeit die Erfahrung dessen, wovon wir keine Erfahrung machen können.“ (1991, 33) Es gibt keine Erfahrung der Gerechtigkeit, weil sich Gerechtigkeit in der Lebenswelt nicht realisiert. Daraus folgt: „Die Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen. Ein (...) Gerechtigkeitsanspruch, eine Gerechtigkeitsforderung, deren Struktur nicht in einer Erfahrung der Aporie bestünde, hätten keine Chance jenes zu sein, was sie sein wollen: ein gerechter, angemessener Ruf nach Gerechtigkeit.“ (1991, 33) Gerechtigkeit ist ein Holzweg. Aber mehr kann man im Wald nicht lernen als auf dem Holzweg, der nun mal in den Wald führt. So ist mit der Aporie, in die eine Forderung nach Gerechtigkeit gerät, immer ein Scheitern der Gerechtigkeit verbunden. Die Dinge sind gerade nicht so, sind nicht gerecht, so dass diese Forderung immer mit einer anderen Realität konfrontiert wird. Die Gerechtigkeit kann sich nicht derart realisieren wie das Recht. Selbst wenn es so scheint, als verliefe ein Prozess im Sinne der Gerechtigkeit, wenn ein Gerichtsurteil einen Sachverhalt richtig unter eine Regel subsumiert, wenn es folglich gerecht er‐ scheint, dann wird man das nicht der Gerechtigkeit, sondern dem Recht zuschreiben. Aber Derrida spricht, „das Recht ist nicht die Gerechtigkeit.“ (1991, 33) Im Recht wird gerechnet, aufgerechnet, gegengerechnet, arithmetisch oder geo‐ metrisch. Ein Gerichtsurteil muss das Ausmaß der Verantwortung wie die Schwere der Schuld bemessen und dementsprechend das Strafmaß berechnen. Das ist inner‐ halb des Rechts durchaus gerecht, zumindest recht. Doch – so Derrida – „die Ge‐ rechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenba‐ ren rechnet.“ (1991, 34) Dabei gerät man unvermeidlich in Aporien und auf Holzwege, die dekonstruktiv trotzdem fruchtbar werden ähnlich wie für Heidegger; denn was gerecht und was un‐ gerecht ist, lässt sich nicht gemäß einer bestimmten Regel festlegen. Es sei denn im Namen des Rechts oder vor Gericht. Doch beide können den davon betroffenen nicht gerecht werden. Sie können nur einen Ausgleich, einen Kompromiss herstel‐ len. Man darf sogar bezweifeln, dass das göttliche Gericht letztlich zu mehr in der Lage ist, als mit seinem mystischen Autoritätsgrund schlicht zu entscheiden und An‐ erkennung nur im Sinne von Montaigne und Pascal zu finden, schwerlich gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit. Die Probleme der Gerechtigkeit auch nur im Sinn von Angemessenheit sind immer besondere, singuläre, eben Ereignisse. „In der Ge‐ stalt des Rechts“, so Derrida, „scheint die Gerechtigkeit aber die Allgemeinheit einer Regel, einer Norm oder eines universalen Imperativs vorauszusetzen.“ (1991, 34) Daraus ergibt sich das Grundproblem im Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, so dass Derrida fragen muss: „Wie soll man den Akt der Justiz (acte de justice), der
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stets ein Besonderes in einer besonderen Lage betrifft, (...) mit der Regel, der Norm (...) in Einklang bringen, wenn diese zwangläufig eine allgemeine Form aufweisen, (...)?“ (1991, 35) Das Problem bleibt, inwieweit das Gericht oder das Gesetz dem Einzelfall gerecht zu werden in der Lage ist. Da mag man noch so viele Prüfungen einführen, noch so viele Besonderheiten in Rechnung ziehen, am Ende geht es darum, den Einzelfall unter eine Regel zu subsumieren, die beide nicht nur verschie‐ denen Diskursen angehören, wie es Lyotard beschreibt, sondern zwischen denen sich die Differenz nicht zuschütten oder überwinden lässt. Das hat nach Lyotard vielfältige Gründe, die sich auf verschiedene Diskurse zu‐ rückführen lassen, die miteinander nicht kompatibel sind. Derart präsentiert sich der Rechtsstreit: In einer „‚Angelegenheit‘ macht das Wesen des Gerichts, das in dieser Sache Stellung beziehen soll, selbst den Gegenstand eines Widerstreits aus.“ (1987, 233) Sprachlich betrachtet kann das Gericht nicht neutral sein, auch keine Metaposi‐ tion einnehmen, ist es vielmehr selber Streitpartei. Und zwar deswegen, weil die Sprache in den Widerstreit führt und sich Konsens höchstens zufällig herstellt – also die krasse Gegenposition zu Apel und Habermas – nicht etwa ob anderweitiger menschlicher Anlagen, lassen sich die zwischenmenschlichen Konflikte nicht lösen. Also, „nicht weil die Menschen bösartig wären, sind ihre Interessen und Leiden‐ schaften antagonistisch.“ (Lyotard 1987, 233) Das wären ordentliche Erklärungen für die Conditio humana. So kann Wolfgang Kersting bemerken: „Die Lyotardisten stellten Universalismus und Konsensorientierung der Aufklärungsvernunft unter Terrorverdacht (...).“ (2002, 261) Das, was Lyotard diagnostiziert, nämlich einen Widerstreit, ähnelt einer Aporie, einem Widerspruch, einer paradoxalen Logik der Sprache, der man sprachlich jeden‐ falls nicht entgeht. So schreibt er: vielmehr „werden die Menschen (...) von Spielein‐ sätzen aus heterogenen Diskursarten in Anspruch genommen, und so kann das Ur‐ teil, das sich auf das Wesen ihres sozialen Seins bezieht, nur (...) einer dieser Dis‐ kursarten entsprechen; und so lässt das Gericht (...) diese Diskursart die Oberhand über die anderen gewinnen und tut diesen notwendigerweise Unrecht, indem es die Heterogenität der Sätze (...) in sein eigenes Idiom transkribiert.“ (1987, 233) Schon 1979 skizziert Lyotard in seiner programmatischen Schrift La Condition postmoder‐ ne eine paradoxale Logik, in die die sich zunehmend verbreitende soziale Orientie‐ rung an der Effektivität und damit an der Performanz immer wieder gerät. Er stellt die Frage: „Das postmoderne Wissen (...) selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder. Die damit ge‐ stellte Frage ist folgende: Ist eine Legitimation des sozialen Bandes, ist eine gerech‐ te Gesellschaft gemäß einem der wissenschaftlichen Aktivität analogen Paradoxon praktikabel?“ (1994, 16) Wer sich allein an das Gesetz hält, der entspricht dem gegebenen Recht, genügt für Derrida trotzdem nicht der Gerechtigkeit, d.h. dem Einzelfall, dem Ereignis, das
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nach Lyotard in zahlreiche andere Diskurse eingebunden ist und dem daher der Rechtsdiskurs denn nicht genüge tun kann. Derrida verweist auf eine Unterschei‐ dung Kants zwischen ‚pflichtmäßig‘ und ‚aus Pflicht‘: pflichtmäßig handelt man, wenn man zwar gemäß des Moralgesetzes agiert, aber nicht aus Achtung vor dem‐ selben, sondern beispielsweise aus Angst vor ihm. So heißt es in der Kritik der prak‐ tischen Vernunft: „Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung objektiv Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber subjektiv Ach‐ tung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe.“ (1968 c, 81) Wer aus Pflicht handelt, der befolgt das Moralgesetz um seiner selbst willen, weil es Gesetz ist und aus keinem anderen Motiv. Leider lässt sich diese Mo‐ tivation empirisch nicht vorführen. Kants Unterscheidung verschiebt Derrida von der Moral zum Recht, was mit Kant keinen Sinn macht, da es sich beim Recht nach Kant um eine äußere Angele‐ genheit handelt, nicht um eine innere der Bestimmung des Willens. Derrida stellt nun die Frage, ob man zwischen rechtmäßig und gerecht unterscheiden sollte, wobei letzteres sich durchaus mit der Moralität vergleichen lässt, weil es dabei auf eine in‐ nere Einstellung ankommt. Inwiefern wäre es möglich, dass eine Person, eine Hand‐ lung, eine Entscheidung gleichzeitig rechtmäßig und gerecht ist? Freilich taucht hier dieselbe Aporie wie bei Kants Pflicht auf: Man kann durchaus beurteilen, ob eine Handlung dem Recht entspricht, längst nicht aber so leicht, wenn überhaupt, ob das gerecht ist, was sie motivierte oder gar wie sie wirkte. Ergo macht diese Aporie die Gerechtigkeit unmöglich. Denn alle vom Recht oder einem Gerichtsurteil Betroffenen müssten die Sprachen, die alle Beteiligten spre‐ chen, in gleicher Weise zugänglich und verständlich sein, was indes nicht das Prob‐ lem der Inkommensurabilität der Diskursarten lösen würde. Dass häufig Recht über Menschen gesprochen wird, die die dabei gesprochene Sprache nicht hinlänglich wenn überhaupt verstehen, ist ein geläufiges Faktum. Das gilt nicht nur für Men‐ schen, die eine andere Muttersprache haben. Das betrifft vielmehr jene, die dieselbe Muttersprache sprechen, in der Recht über sie gesprochen wird und Urteile ergehen. Denn welcher Angeklagte, Zeuge und Prozessbeteiligte spricht die juristische Spra‐ che, in der vor Gericht verhandelt wird oder in der Gesetze erlassen sind? Und das ist bereits ein gewaltsamer Akt gegenüber den davon betroffenen. Es hilft nichts, dass man diesen in der Regel im Prozess einen juristisch Kundigen, einen Anwalt an die Seite stellt, der eine Übersetzungsfunktion hat. Auf jeden Fall hilft es nicht wei‐ ter als zur Rechtmäßigkeit des Urteils. Derrida urteilt: „Das Gewaltsame der Unge‐ rechtigkeit, die darin besteht, dass man die verurteilt, die die besondere Sprache nicht verstehen, in der Recht gesprochen wird und Gerechtigkeit widerfahren soll (...) ist nicht unbedeutend, und es ist auch nicht einfach das Gewaltsame einer unbe‐ deutenden Ungerechtigkeit.“ (1991, 37)
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Das gilt selbstverständlich schon unter optimalen Bedingungen, die sich niemals werden herstellen lassen. Unter normalen Umständen wird diese Ungerechtigkeit von den Beteiligten zumeist als unvermeidlich hingenommen, weil sich Recht prag‐ matisch betrachtet nicht anders realisieren lässt. Doch das ändert nichts am Faktum dieser Ungerechtigkeit, dass sich Gerechtigkeit nicht realisieren lässt.
2. Aporien der Verantwortung: Max Weber Jedenfalls werden viele Menschen vom Recht nicht als Subjekte behandelt. Trotz‐ dem führt eine Dekonstruktion des Subjekts nach Derrida wider diverse Einwände von Seiten der Kritiker keineswegs dazu, dass sich die Frage der Gerechtigkeit gar nicht mehr stellt, oder dass sich das Gerechte und das Ungerechte oder das Ange‐ messene und das Unangemessene nicht mehr unterscheiden lassen, so dass sich die Ungerechtigkeit breit machen kann. Dekonstruktion ist kein Nihilismus, der ethische oder politische Fragen beiseiteschieben würde. Die Dekonstruktion des Subjekts führt aber zu einer Hinterfragung der kulturellen Strukturen, die das Subjekt konstituieren und erhalten, so dass man die Probleme des Rechts, der Politik wie der Ethik zu durchleuchten vermag. Das ist nicht nur eine aktuelle Aufgabe, sondern vielmehr eine historische, die nicht nur historisch vor‐ geht. Vielmehr wird dekonstruktiv das Gedächtnis selbst zum Thema gemacht und zwar als eine Kritik der Begriffe des ethischen, rechtlichen wie politischen Diskur‐ ses, die historisch dominant wurden, die sich auf diese Weise etablieren konnten, die teilweise auch heute noch virulent sind und die Zeitgenossen durch das Gedächtnis als Subjekte mit einem bestimmten Selbst- und Weltverständnis prägen. Das ist keine bloß diagnostische Aufgabe, sondern eine ethische und zwar in einem doppelten Sinn. Es geht Derrida einerseits darum, dass sich mit dieser Traditi‐ on ethische Orientierungen in das Gedächtnis einschreiben, die aus den Menschen Subjekte machen, was es zu dekonstruieren gilt. Es geht andererseits um die Verant‐ wortung gegenüber dieser Tradition, also um eine ethische Aufgabe, die die Dekon‐ struktion nötig macht. Wenn die Gerechtigkeit keine Grenzen kennt – und wer woll‐ te diese ziehen, es sei denn, wie es politisch und juristisch immer wieder dadurch versucht wird, dass Gesetze und Gerichtsverfahren durch die Reduktion von indivi‐ duellen Rechten vereinfacht werden – dann muss man sich der Verantwortung stel‐ len, die zu einer Dekonstruktion verpflichtet. Derrida schreibt: „Man muss der Ge‐ rechtigkeit gegenüber gerecht sein; es muss ihr zunächst in dem Sinne Gerechtigkeit widerfahren, dass man auf sie hört, sie liest, sie deutet, dass man versucht, zu verste‐ hen, woher sie kommt und was sie von uns will (...).“ (1991, 40) Im Anschluss an Lévinas hieße das, dass man von der Gerechtigkeit in die Ver‐ antwortung gerufen wird, der Gerechtigkeit gegenüber Gerechtigkeit widerfahren zu
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lassen. Dazu muss man ihre diversen Dimensionen ausloten. Sie fällt nicht vom Himmel, sondern besteht aus ethischen, rechtlichen und politischen Forderungen, die an die einzelnen herantreten. Diese muss man nicht einfach befolgen – dann wä‐ re man nur ein Untertan – sondern diese muss man durchdenken, sie dekonstruieren. Damit wird man dem Anspruch gerecht, „der Gerechtigkeit gegenüber gerecht“ zu sein. Als reflexives Geschäft ist Dekonstruktion längst nicht nur der Gerechtigkeit gegenüber, sondern sie ist automatisch, d.h. immer, mit der Forderung verbunden, ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Dekonstruktion der Gerechtigkeit des Rechts ist ein theoretischer wie ein ethi‐ scher Vorgang. Dieser spaltet sich so auf, dass der Anspruch der Gerechtigkeit ein universeller ist, und auf der anderen Seite sich immer auf das Besondere, auf das Er‐ eignis richtet. Man muss jedem einzelnen gerecht werden, was nur dekonstruktiv möglich ist. Aber die Dekonstruktion hält nicht ein vor vermeintlichen unverrückba‐ ren Grundlagen oder Prinzipien des Rechts, vor Ansprüchen der Gerechtigkeit, vor vorgeblich Heiligem, das man nicht hinterfragen dürfte, wenn man das Recht und die Gerechtigkeit nicht gefährden will. Nein, die Dekonstruktion kennt keine Ehr‐ furcht, geschweige denn Demut, höchstens weiß sie manchmal nicht weiter. Man kann der Gerechtigkeit nicht gerecht werden, wenn man die Ethik und das Recht nicht in Frage stellt, während sich die Gerechtigkeit als solche vorgeblich nicht dekonstruieren lässt, sowenig wie die Dekonstruktion selbst. Das verbindet Dekonstruktion und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit braucht die Dekonstruktion wie es umgekehrt der Dekonstruktion immer schon um die Gerechtigkeit geht, wenn sie je‐ der Unverhältnismäßigkeit nachspürt und sich keinesfalls in Schranken weisen lässt, so dass es den Rechtspragmatikern vorkommen muss, als übertreibe es die Dekon‐ struktion in ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit. Es geht ihr nicht wie John Rawls um Eine Theorie der Gerechtigkeit, also um ein großes Argument, um die Bürger zu überzeugen, dass sie unter bestimmten Umständen, nämlich jenen der Fairness, wirklich gerecht behandelt werden. Die Dekonstruktion stellt nicht wie Rawls Prin‐ zipien auf, die die rationale Grundlage der Gerechtigkeit darstellen, die gar so ver‐ nünftig sind, dass eigentlich vernünftigerweise alle Bürger diesen Prinzipien folgen sollten. Nein, die Dekonstruktion spürt konkret Ungerechtigkeiten des Rechts nach, und zwar just dort, wo die diversen Rechtslehren und ethischen Theorien oder deren Praktiker regelmäßig nicht weiter fragen. Diese dekonstruktive Haltung gegenüber der Gerechtigkeit nennt Derrida Verant‐ wortung, die sich als sehr weitreichend erweist. Damit klinkt er sich in eine Tendenz der Verantwortungsethik im 20. Jahrhundert ein, wenn nämlich für Sartre, Lévinas und Hans Jonas die Verantwortung ins schier Unermessliche ausufert, während der Begründer der Verantwortungsethik Max Weber und Simone de Beauvoir die Ver‐ antwortung beschränken (vgl. Schönherr-Mann 2007, 208). Weber schreibt: „es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt
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– religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘–, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ (1971, 551) Mit dem Begriff der Verantwortung bestimmt Derrida das Ethos der Dekonstruk‐ tion. Damit distanziert er sich ähnlich wie Weber von der Normenethik, geht es dann nicht um universelle Prinzipien, sondern darum, dass man dekonstruktiv dafür die Verantwortung übernimmt, was sich als Handlungsfolgen, d.h. für die Performanz der Sprache aus dem dekonstruktiven Bemühen ergibt. Die Dekonstruktion soll ja die Überlieferung nicht nur im Blick behalten, sondern sich ihr gegenüber als ver‐ antwortlich erweisen, um damit auch der Verantwortung gegenüber die Verantwor‐ tung zu übernehmen. Das würde nach Weber natürlich zu weit führen. Verantwortung tragen für ihn nur führende Politiker und Manager: „mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht als Dienst an einer ‚Sache‘, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es (...) des Au‐ genmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, (...).“ (1971, 546) Trotzdem zeigen sich hier gewisse Parallelen zu Derrida, denn man könnte diese Bestimmungen auf den Dekonstruktivisten übertra‐ gen. Dabei spielt bei Derrida Handeln im Sinne sprachlicher Performanz die ent‐ scheidende Rolle, während Weber den tatkräftigen Politiker vor Augen hat. Just dieses Handeln stellt die Dekonstruktion in Frage. Denn bestimmte, mit der Verantwortung verbundene Begriffe geraten damit in den Fokus der Dekonstruktion, beispielsweise Freiheit, Subjekt, Gemeinschaft, die bei Weber eine Rolle spielen. Wenn man diese dekonstruiert, dann könnte es für Weber scheinen, als würde man der Verantwortung widerstreiten, ihr den Boden unter den Füßen wegziehen und zwar in dem Augenblick, als die Dekonstruktion auf der Notwendigkeit der Verant‐ wortung insistiert. So sieht Derrida die Gefahr, dass solche Dekonstruktionen den Eindruck erwecken, als werden bestimmte Begriffe und Institutionen geschwächt, die für die Gerechtigkeit unabdingbar sind. Doch dem hält Derrida entgegen: „Dieses Moment der Aufkündigung, der Sus‐ pension, diese Zeit der Epoché (...) sind beängstigend, doch wer wird behaupten, dass er gerecht ist, wenn er die Angst ausspart?“ (1991, 42) Dekonstruktion setzt voraus, dass man das Recht in Frage stellt, es gar suspendiert – zumindest gedank‐ lich – dass man sich in die Position der Epoché begibt, d.h. sich also vom gängigen Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zu verabschieden, diese zumindest distan‐ ziert zu betrachten, um im Stil von Husserl zum Recht und der Gerechtigkeit selbst vorzudringen bzw. zumindest zu einer anderen Leseordnung zu gelangen, was das gängige Rechtsverständnis verhindert. Wie bemerkt Husserl: „wir vollziehen eine Epoché hinsichtlich der ganzen objektiven theoretischen Interessen, der gesamten
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Bezweckungen und Handlungen, die uns als objektiven Wissenschaftlern oder auch nur als Wissbegierigen eigen sind.“ (2012, 147) Eine Epoché könnte nach Benjamin auch durch eine Revolution erreicht werden, die das Recht außer Kraft setzt. Sei es eine Revolution, sei es die Dekonstruktion, beide zielen auf eine andere Lektüre des Rechts wie der Gerechtigkeit und erzeugen damit Angst, wenn sich dadurch Verunsicherungen breitmachen. Aber kann man die Frage der Gerechtigkeit stellen, ohne dabei Angst zu verbreiten? Verbreitet gar die Gerechtigkeit als solche Angst? Wenn man den Rechtszustand in Frage stellt, gar re‐ volutionär, dann lässt sich die dabei auftretende Angst nur durch ein Mehr an Ge‐ rechtigkeit kompensieren. Der Revolutionär geht dabei das Risiko des Scheiterns ein, wovor er Angst hat, wie er gleichfalls verunsichernd das Recht herausfordert, und zwar mit der Verhei‐ ßung, dass es danach mehr Gerechtigkeit geben wird. Und das gilt für den Dekon‐ struktionär in gleicher Weise. So fragt Derrida: „woher würde die Dekonstruktion ihre Kraft schöpfen, woher würde sie ihre Gewalt nehmen, woher würde sie (...) ihre Motivierung haben, wenn nicht (...) von dieser nie zufriedenzustellenden Forderung, jenseits der vorgegebenen und überlieferten Bestimmungen dessen, was man in be‐ stimmten Zusammenhängen als Gerechtigkeit (...) bezeichnet?“ (1991, 42) Die Gerechtigkeit selbst – und damit tritt Derrida aus dem Mainstream der politi‐ schen Philosophie heraus – dekonstruiert das Recht, weil sie notorisch darüber hi‐ naus treibt, weil sie sich mit dem, was das Recht liefert, nie zufrieden gibt. Das ist um ein weiteres Mal beängstigend. Während nämlich die großen Utopisten jeweils ein Ideal der gerechten Gesellschaft entwarfen, das entweder bloß Maßstab oder fi‐ naler Zustand sein soll, der dann alles befriedet – präsentiert sich die Dekonstruktion als unendliche Hinterfragung, die jede Zufriedenheit mit dem Recht untergräbt. Weber würde Derrida wahrscheinlich unter die Utopisten und Gesinnungsethiker subsumieren. Wenn es in der Welt keine Gerechtigkeit gibt, dann liegt das für Weber am Handelnden, der scheitert, oder am Gesinnungsethiker, der die Welt entspre‐ chend falsch interpretiert. Im Sinne Webers idealisiert Derrida die Gerechtigkeit, an‐ statt sie auf das durch Handeln erreichbare Maß zu beschränken. So würde er Derri‐ da wahrscheinlich dasselbe entgegenhalten wie dem Gesinnungsethiker: „Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen (...).“ (1971, 552) Oder für die Dekonstruktionäre die Struktur der Spra‐ che. Ähnlich kritisiert auch Liebsch die Konzeptionen einer solchen Ethik als ver‐ antwortungslos: „Lévinas und Derrida (...) radikalisieren diesen Gedanken der Gast‐ lichkeit in befremdlicher Art und Weise. Dabei laufen sie selbst Gefahr, in ihrer Konzentration auf diese das Subjekt rückhaltlos inspirierende Gastlichkeit aus dem Auge zu verlieren, was man sich konkret von der Gastlichkeit versprechen könnte.“ (2008, 240)
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Für Derrida verharrte Weber dagegen in den Illusionen einer objektiven Wissen‐ schaft und eines Subjekts, das für Derrida dieser Verantwortung nicht gerecht zu werden vermag, was Weber wiederum für eine Übertreibung hielte. Für Weber dürf‐ te die Verantwortung keine Angst machen wie für Derrida, die damit im Sinn von Weber die Instabilität befördern würde. Doch das lässt sich für Derrida schwerlich ändern, werden Zeitgenossen vielmehr immer rechtskritisch sein, so dass manche von ihnen auch dekonstruktiv unterwegs sind. Für Weber wären das indes Unterta‐ nen, die zu gehorchen und die Verantwortung den Verantwortlichen zu überlassen hätten. Dagegen erklärt Derrida die Dekonstruktion für gerecht und angemessen, ja eigentlich als das Gerechteste und Angemessenste. Dass dieser Anspruch Anstoß er‐ weckt und zwar nicht nur unter den Gegnern der Dekonstruktion, dessen ist sich Derrida bewusst.
3. Aporien der Regelanwendung: Kant und Schiller Einerseits herrschen aus dekonstruktiver Perspektive zwischen Recht und Gerechtig‐ keit aporetische Beziehungen, tragen sie miteinander diverse Konflikte aus: viele verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit konfligieren miteinander und mit den unzähligen Formen des Rechts, die wiederum ihrerseits Vorstellungen von Gerech‐ tigkeit entwickeln. Andererseits kann man Recht und Gerechtigkeit nicht präzise und final voneinan‐ der unterscheiden. Ohne Recht lässt sich Gerechtigkeit schwerlich vorstellen, sowe‐ nig wie ein Recht völlig auf die Gerechtigkeit verzichten kann. So sagt Derrida 2003: „Die Heterogenität zwischen Gerechtigkeit und Recht schließt ihre Unzer‐ trennlichkeit keineswegs aus, sondern fordert sie im Gegenteil: keine Gerechtigkeit ohne die Anrufung juridischer Bestimmungen und der Gewalt des Rechts“. (2003 b, 204) Die Aporien zwischen Recht und Gerechtigkeit entstehen just dadurch, dass das Recht vorgibt, Gerechtigkeit walten zu lassen, dass es prätendiert, dass Recht und Gerechtigkeit zusammengehören. Wenn man von einer strikten Trennung zwischen Recht und Gerechtigkeit ausginge, dann würden sich nach Derrida viele der Proble‐ me nicht ergeben oder leichter lösen lassen. Doch, so Derrida weiter, „es gäbe kein Werden (...) und keine Vervollkommnungsfähigkeit des Rechts, wenn es dabei nicht an eine Gerechtigkeit appellierte, die es dennoch stets übersteigt.“ (2003 b, 204) Ein Konflikt, der zwischen Recht und Gerechtigkeit entsteht, ist das Problem, in‐ wieweit bei beiden Regeln nötig sind, die angewendet werden müssen. Für die Ge‐ rechtigkeit lassen sich keine Regeln aufstellen, höchstens solche, die beratenden Charakter haben, regulative Ideen im Sinne Kants. Ansonsten beruht Gerechtigkeit auf einer unendlichen Sammlung von Geschichten, die als Beispiele für gerechtes
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Handeln verwendet werden können, aber nicht müssen. Daher ist Gerechtigkeit nicht berechenbar, sondern erscheint diffus, setzt sich aus unterschiedlichen miteinander nicht kompatiblen Elementen zusammen, um einer Sache, einem Ereignis gerecht zu werden. Wenn sich dabei eine Gerechtigkeit – beispielsweise die Gerechtigkeit eines Rechts – gemäß dieses Rechts an Regeln orientiert, just dann gerät sie in Aporien, die sie fragwürdig erscheinen lassen. Dagegen setzt sich das Recht, das gemeinhin als Ausübung der Gerechtigkeit be‐ trachtet wird, aus den gegenteiligen Elementen zusammen. Es besteht nämlich aus festen geltenden Regeln, sollte berechenbar, durchschaubar und wohlgeordnet sein, so dass es alle nachvollziehen und sich darauf verlassen können. Das Recht beruht auf Gesetzen, deren Sammlungen wie auf den dazugehörigen Institutionen mit ihren jeweiligen Vertretern. Die Gerechtigkeit hat solche festen Institutionen nicht. Aber manchmal über‐ nimmt beispielsweise die Academy of Motion Picture Arts and Sciences mit ihrem Oscar oder das Norwegisches Nobelkomitee mit dem Friedensnobelpreis eine solche Funktion, aber immer nur punktuell als einzelne Ereignisse von Preisverleihungen. Wenn man auf Gerechtigkeit verzichtet, dann kann man wie die Nazis kurze Prozes‐ se machen. Das Problem der Regelanwendung im Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit tritt nach Derrida nämlich als Aporie speziell beim Problem der Freiheit auf. Man kann nur gerecht handeln, wenn man frei ist, d.h. wenn man für sein Handeln als verantwortlich erscheint, und damit für sein Denken wie für seine Entscheidungen. So muss man frei und verantwortlich Entscheidungen treffen unabhängig von der Leitung durch Regeln oder Gesetze. Einem Wesen, dem man dergleichen nicht attes‐ tiert, dem lassen sich keine gerechten Entscheidungen oder Handlungen zuschreiben und somit keine ungerechten: beispielsweise den Untertanen der Nazis wie Eich‐ mann in Jerusalem, womit dieser sich versuchte herauszureden, was ihn indes nicht davor bewahrte, zur Verantwortung gezogen zu werden. Ähnliches gilt beispielsweise in Saudi-Arabien auch für Frauen, denen man nicht zugesteht, über sich selbst in allen Lebenslagen freie Entscheidungen fällen zu dür‐ fen und die von vielen Tätigkeiten ausgeschlossen sind, womit sich viele aber nicht zufrieden geben. Ähnliches betrifft in Ungarn Hochschullehrer, Journalisten oder Vertreter von NGOs, die man daran hindert, ihren Tätigkeiten nachzugehen. Das gilt im Weltbild von identitären Nationalisten für praktisch die gesamte Bevölkerung, der eine Elite vorschreibt, wie sie zu leben hat, wie viele Kinder eine Frau zu be‐ kommen hat, welche Formen sexueller Praxis erlaubt sind, und dass man dem von dieser identitären Ideologie sogenannten Volk sein Leben hinzugeben hat. In den je‐ weiligen Systemen gehören die Individuen nicht sich selbst, sondern der Gemein‐ schaft, sollen sie gar keine Individuen sein.
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Dagegen entsteht bei einer als Verantwortung für seine Entscheidungen und Handlungen verstandenen Freiheit das Problem, dass die Freiheit einer Regel bedarf. Denn – hier benutzt Derrida die Moralphilosophie von Kant, für den Freiheit von Neigung durch die Vernunftbestimmung des Willens gemäß des moralischen Geset‐ zes Freiheit konstituiert – Freiheit heißt nicht, seinen Launen zu frönen, sondern sei‐ nen Willen, somit seine Entscheidungen wie seine Handlungen vernünftig zu be‐ stimmen. Sonst kann man nicht gerecht handeln. Also, die Gerechtigkeit verlangt, dass der verantwortliche Mensch dadurch seine Freiheit realisiert, dass er eine Regel befolgt. Doch wenn die Freiheit dem Menschen ermöglicht, sich an einer Regel zu orien‐ tieren oder einem Gesetz zu gehorchen, wird die Freiheit heteronom, ist keine Auto‐ nomie mehr, wie es Kant behauptet, sondern reine Regelanwendung, die solche Handlungen prognostizier-, also berechenbar macht. Wenn jemand dadurch gerecht sein will, dass er seine Schuld begleicht – ein Beispiel für Gerechtigkeit am Anfang von Platons Politeia, ein Beispiel, das der Freiheit selbstredend nicht genügt –, dann folgt er der Regel, dass man Schulden tilgen muss. Dem hält Derrida entgegen: „Wenn jedoch die Handlung, die Tat, der Akt einfach in der Anwendung einer Regel (...) bestehen, wird man vielleicht sagen, dass sie (...) dem Recht entsprechen, dass sie, metaphorisch gesprochen, sich als gerecht erweisen; allerdings würde man zu Unrecht behaupten, es sei eine gerechte Entscheidung getroffen worden.“ (1991, 47) Wer bloß Regeln befolgt, handelt nicht verantwortlich und dieses Handeln kann man nicht als gerecht qualifizieren, wenn das Recht der Gerechtigkeit nie gerecht zu werden vermag. Es ist ein Handeln gemäß den Gesetzen, gemäß der Vorschriften bzw. das andere zu verantworten haben – insbesondere in hierarchischen Institutio‐ nen. Eichmann in Jerusalem wollte sich damit entschuldigen, er hätte nur Befehle befolgt. Andere reden sich damit heraus, dass sie nur die Gesetze befolgen. Nun ja, als frei und verantwortlich erscheint das in beiden Fällen nicht, wiewohl Befehlen wie Gehorchen der Freiheit noch viel ferner liegen, als die Rechtsgesetze in einem Staat zu befolgen. Doch nicht wenigen erscheint der Gehorsam dramatischer als die Achtung der Gesetze: der Offizier hat dann ein höheres Ansehen als der Bürger, der als Zivilist diskriminiert wird. Allerdings – hier bringt Derrida einen Einwand, mit dem er sich wieder Kant an‐ nähert – wer keiner Regel, keinem Gesetz folgt, der handelt auch nicht aus freien Stücken. Er braucht doch eine Regel. Just hier liegt die Aporie, zu der es nach Derri‐ da indes einen Ausweg gibt. Ein Gerichtsurteil muss natürlich dem Recht entspre‐ chen, um rechtmäßig zu sein, wenn auch nicht gerecht. Aber das alleine reicht nicht. Wenn ein Richter ein Urteil fällt, dann muss er das auf eine Entscheidung gründen, die das Gesetz nicht bloß anwendet, sondern diesem zustimmt, es bekräftigt, es deu‐ tet, so dass das Urteil so erscheint, als wäre es nur Produkt der Überlegungen des Richters, als würde das geltende Gesetz gar keine Rolle spielen: „Damit eine Ent‐
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scheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muss sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, (...) einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen. Sie muss das Gesetz erhalten und es zugleich soweit zerstören oder aufheben, dass sie es in jedem Fall wieder erfinden und rechtfertigen muss; sie muss es zumindest in dem Maße wieder erfinden, indem sie erneut sein Prinzip frei bestätigen und bejahen muss.“ (Derrida 1991, 47) Das ist der Augenblick der Aporie, in dem der Wider‐ spruch erhalten werden muss, wo zwei gegensätzliche Handlungsweisen gleichzeitig stattfinden, was es ja logisch betrachtet an sich nicht geben soll, was also in eine pa‐ radoxale Logik abkippt, die Lyotard zum Kennzeichen der Postmoderne erhoben hat. Dabei kann die Anwendung von Recht als gerecht erscheinen, wenn es so aus‐ sieht, als handele es sich um ein neues autonomes Urteil. Derrida bedient sich dazu eines Topos, nämlich der Zerstörung und der Rekon‐ struktion gleichzeitig, der Neuerfindung wie der Bekräftigung des alten, überliefer‐ ten Gesetzes. Einerseits ähnelt das Schillers Interpretation der Ethik Kants, wenn je‐ ner schreibt: „Schönheit ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung.“ (1976, 357) Wenn man das ethisch interpretiert, erscheint die Gerechtigkeit als Freiheit. Aber es handelt sich trotzdem nur um eine Erscheinung. Andererseits überschreitet der Augenblick der Aporie denn doch die Konstruktion Schillers bzw. nimmt sie wirklich nur als Erscheinung, die keine Freiheit sein kann. Hier wird die Regel be‐ folgt und gleichzeitig zerstört. Der Handelnde macht sich dadurch von ihr frei, ent‐ scheidet aus sittlicher Autonomie und erfindet dabei gleichzeitig die Regel neu – ein absurdes Theater, hat er diese Regel ja längst internalisiert. Hegel hat denn auch dieses Moment der Freiheit als ein verflossenes bezeichnet, da durch die Ausdifferenzierung des Rechts die Spielräume für individuelles sittli‐ ches Handeln immer weiter eingeengt und aufgehoben werden. Doch den Traum sol‐ cher Freiheit hat nach Hegel vor allem der junge Schiller geträumt. So schreibt er: „Das Interesse nun aber und Bedürfnis solch einer wirklichen individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen, wir mögen die We‐ sentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben als noch so ersprießlich und vernünftig anerkennen.“ (1970 c, 255) Wer das Gesetz nicht befolgt, ist nicht autonom, sondern kriminell. Dann gibt es keine Freiheit. Aber wie viel Freiheit erlaubt Derridas Lösung, wenn der Mensch selber das Ge‐ setz neu erfinden muss, aber eben genau das geltende Gesetz? Vielleicht siedeln Ver‐ antwortung und Freiheit nur in Paradoxien und Aporien, die deswegen nötig sind, weil sonst Orwells Großer Bruder herrschte. Deswegen kann es in einem logisch ko‐ härenten System keine Freiheit geben: daher die ewigen Debatten über Willensfrei‐ heit, die an die Stelle der realen Freiheit treten soll und mit Schopenhauer und den Libet-Experimenten von dunklen Trieben übermannt wird.
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Zu Hilfe kommt diesem Paradox die generelle Sachlage vor Gericht, die weder Schiller noch Hegel präsent war, dass jeder Fall eine Besonderheit darstellt, die durch ein Gesetz oder eine Regel nicht einfach oder gar vollständig abgedeckt wer‐ den kann. Schiller war von Kant beeindruckt und Hegel gehört zusammen mit letzte‐ rem zu den großen Systemdenkern, die das Besondere fast ausschließlich als Spezi‐ alfall des Allgemeinen denken und die der Auffassung sind, dass man es adäquat er‐ fasst, wenn man es unter das Allgemeine subsumiert. Doch just in diesem Verfahren des subsumierenden Urteilens wird nur eine Regel angewandt, unter die der Einzel‐ fall subsumiert wird. Würde die Sachlage vor Gericht derart behandelt, wäre ein Richter gar nicht nötig, ließe sich dergleichen automatisch subsumieren. Das ist der Fall in sogenannten Schnellgerichten wie dem militärischen Stand‐ recht, in dem nur ein Sachverhalt eiligst einem Angeklagten zugeordnet wird – so‐ wieso ohne weitere Prüfung – und dann das Urteil abgeleitet. Es braucht dazu weder Richter noch Rechtsanwälte, sondern nur ausführende Offiziere oder Angestellte so‐ wie das Erschießungskommando. Dann aber handelt es sich zwar um eine Regelan‐ wendung, keinesfalls um eine freie – sie wäre ja einfach abgeleitet, ist Freiheit kein Orientierungspunkt des Militärs – und obendrein keine gerechte, geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Regelanwendung. So sagt Derrida: „Aus diesem Parado‐ xon folgt, dass man niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgendjemand sind gerecht (das heißt frei und verantwortlich); und noch weniger: ‚ich bin gerecht‘.“ (1991, 48) Dann wäre das höchstens gesetzmäßig und in gewisser Hinsicht legitim, weil das Urteil mit dem Recht übereinstimmt. Man hätte es berech‐ nen können. Genau das folgt aus Hegels Verdikt, dass es in den ausdifferenzierten rechtlichen Verhältnissen keine sittliche Autonomie gibt, was aus der Perspektive der Allgemeinheit richtig ist, damit aber dem Ereignis keine eigene autonome Per‐ spektive zugesteht, diesem nicht gerecht wird, was Vertreter des Rechts auch nicht für nötig hielten, könnte es sich schließlich im Sinn von Leo Strauss um einen tö‐ richten oder egoistischen Menschen handeln oder im Sinn von Platon gar um einen Wahnsinnigen. Es gibt in der Kriegergesellschaft keine Freiheit, bzw. nur dort, wo Menschen sich gegen ihre Unterwerfung auflehnen. Wenn man sich indes mit der Aufhebung des Ereignisses durch das Recht im Sinn von Hegel nicht zufrieden geben will, erlebt die Gerechtigkeit zumindest einen Auf‐ schub. Sie wird nicht realisiert, aber das Unrecht auch nicht. Das ist das Dilemma der Rechtsetzung, wie es Benjamin thematisiert. Wenn ein Recht gesetzt wird, dann wird dabei die Gerechtigkeit beiseitegeschoben, kann sie nicht zu Rate gezogen wer‐ den. Dieses Problem stellt sich bei jeder Verfassungsgebung wie der Gründung von Nationalstaaten. Aber die Option des Aufschubs, wenn man diese vom Messianis‐ mus befreit und nur mit Derridas Messianischem verbindet, hält die Chance der frei‐ en Entscheidung offen, wenn man die Aporien und Paradoxien miteinbezieht. Ver‐ antwortung, Freiheit und Gerechtigkeit sind nur als Aporien denkbar bzw. jede theo‐
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retische Bemühung um diese gerät in Aporien, die man verwinden muss, will man Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit nicht aufgeben. Derridas Dekonstruktion entfaltet hier einen deskriptiven Anspruch: der postmoderne Mensch lebt nicht in einer Welt klarer Begriffe, die ihn beruhigen, sondern von Aporien, die ihn heraus‐ fordern.
4. Aporien der Entscheidung: Schmitt und Rawls Gerechtigkeit folgt keiner Regel, das Recht schon. Trotzdem hängen sie miteinander zusammen. Bei reiner Regelanwendung wäre die Entscheidung nicht frei und nicht gerecht. Ohne Regelanwendung aber auch nicht. Just in dieser Ambivalenz könnten die Freiheit, die Verantwortung wie die Gerechtigkeit siedeln. Wenn es von Seiten der Regel fragwürdig aussieht, wie diese in die Entscheidung eingeht, die verant‐ wortet werden muss, könnte sich nicht alternativ die Entscheidung einfach des Pro‐ zesses bemächtigen und dann genau das tun, was sie tut, nämlich entscheiden? Ein juristisches Urteil jedoch gerät unweigerlich in das entscheidungstheoretische Dilemma, das im Übergang von der Information zur Entscheidung auftaucht. Selbst wenn es darum geht, dass sich etwas berechnen lässt, dann muss entschieden wer‐ den, dass die Berechnung angestellt wird und dann muss entschieden werden, dass man dem Ergebnis wirklich folgt. Freiheit wie Verantwortung und erst recht die Ge‐ rechtigkeit präsentieren sich hier als pure Aporien. Carl Schmitt weiß um dieses Moment der Willkür oder der Freiheit in der Ent‐ scheidung, die die Entscheidung überhaupt erst zur Entscheidung macht. Daher kann er bemerken: „Der unrichtigen und fehlerhaften Entscheidung kommt eine Rechts‐ wirkung zu. Die unrichtige Entscheidung enthält ein konstitutives Moment, gerade wegen ihrer Unrichtigkeit.“ (2004, 37) Die Entscheidung ist also wichtiger als Wahr‐ heit und Gerechtigkeit. Nicht letzteren verdankt sich das Recht, wie ja auch Montai‐ gne und Pascal bemerkten, sondern allein der Entscheidung. Und das gilt sogar für das Recht insgesamt: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.“ (Schmitt 2004, 16) Daraus ergeben sich für Schmitt sowenig Probleme wie für Kierkegaard oder Sartre. Auch Kierkegaard verbindet die Entscheidung nicht mit der Vernunft oder einer Regel, sondern mit einer Subjektivität, die sich auf Leidenschaft und Interesse stützt, die die Grundlage der Entscheidung ergeben. Kierkegaard schreibt 1846 in seinem Hauptwerk Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift: „Sobald man die Sub‐ jektivität fortnimmt, und von der Subjektivität die Leidenschaft, und von der Lei‐ denschaft das unendliche Interesse, so gibt es überhaupt gar keine Entscheidung (…).“ (1994, 29)
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Auch bei Sartre gibt es dieses Moment der Willkür, das das Leben zu einem Akt der Entscheidung macht, selbst wenn jemand die Entscheidung vermeidet. Sie ent‐ springt nicht dem Leben, sondern sie konstituiert das Leben, gibt ihm a priori eine Richtung. Er schreibt 1943: „Wir können uns als Fliehenden, Ungreifbaren, Zögern‐ den usw. wählen; wir können sogar wählen, uns nicht zu wählen (...): was auch unser Sein sein mag, es ist Wahl“ (1993, 817) Diese Richtung ergibt sich weder aus einer Regel noch aus einer Berechnung. Daher hat man sie zu verantworten. Wenn man sein Leben von den Eltern bestimmen lässt, kann man bezweifeln, dass dabei eine eigene Entscheidung stattfindet, die man sich vielmehr von den Eltern abnehmen lässt. Letzteres hat häufig etwas Bequemes, die Verantwortung eher nicht. Aber heu‐ te würde man auch vom Muttersöhnchen verlangen, dass er für diese Existenz die Verantwortung übernimmt: Es hat sich zwingen lassen. So zeigt sich bei Schmitt, Kierkegaard und Sartre, dass diese Entscheidung nicht dasselbe ist wie die Berechnung. Sie bringt sich rechtlich auf den Weg, wenn nach Derrida der Richter beginnt, sich mit der Problematik einer Rechtsanwendung zu be‐ schäftigen, wenn er angesichts eines Falls über die anzuwendende Regel nachdenkt und er sich seine eigenen Ideen macht. Dabei kann es keinen Automatismus geben, lässt sich diese Entscheidung nicht indirekt zuordnen, wenn man dazu die juristi‐ schen Folgen betrachtet, die eine Rechtsanwendung zur Folge haben kann, Strafe, etc. Hierin liegt für Derrida das Problem des Unentscheidbaren, das die Dekonstrukti‐ on markiert und bei dem es keinesfalls nur darum geht, zwischen zwei Polen hin und her zu schwanken, also abwechselnd zu entscheiden und nicht zu entscheiden. Auf der einen Seite steht zweifellos das besondere Ereignis, das sich keiner Regel von selbst zuordnen lässt, das sich vielmehr jeder Zuordnung widersetzt. Auf der anderen Seite finden sich Imperative wie die Achtung vor dem Gesetz, vor dem es den mündigen Bürger gruseln müsste, weil Kants Moralgesetz ihm vor‐ schreibt, wie er seine Maxime zu bilden hat, er gerade das nicht selber entscheiden darf. Oder die Gerechtigkeit erhebt den Anspruch, umgesetzt zu werden – worauf sich die Bürger nach Rawls nur einlassen würden, wenn sie nicht wissen, wer sie sind. Wie heißt es doch in Eine Theorie der Gerechtigkeit: „Die Grundsätze der Ge‐ rechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt.“ (1979, 29) Die hypothetische Versammlung im Urzustand, die über die Grundsätze der Gerech‐ tigkeit entscheidet, besteht nicht aus wirklichen Menschen, sondern aus Figuren, die über sich selbst praktisch nichts wissen, damit sie keine egoistischen Interessen ver‐ folgen. So stehen sich Ereignis und Regel gegenüber und es sollte entschieden werden. Doch man weiß nicht wie, weil es nämlich keinen Übergang vom Ereignis zur Regel gibt und umgekehrt. „Das Unentscheidbare“, schreibt Derrida, „(...) ist die Erfah‐ rung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugordnet werden kann, weil
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es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt, was dennoch aber – dies ist eine Pflicht – der unmöglichen Entscheidung sich ausliefern und das Recht und die Regel berücksichtigen muss.“ (1991, 49) Kein Ereignis ordnet sich einer Re‐ gel unter, welcher auch immer. Es besteht schlicht ein struktureller Unterschied zwi‐ schen Ereignis und Regel, ähnlich wie zwischen Naturgeschehen und mathemati‐ scher Quantifizierung, mit der Galilei die moderne Naturwissenschaft begründet. Deswegen sind Rawls Protagonisten unter dem ‚Schleier des Nichtwissens‘ auch keine Menschen, keine Individuen, sondern abstrakte Menschen, letztlich Rechner, die nach entscheidungstheoretischen Prinzipien ausrechnen, dass die beiden berühm‐ ten Grundprinzipien in Eine Theorie der Gerechtigkeit die besten für eine auf Fair‐ ness beruhende Gesellschaft sind. Sie wählen nicht und sie entscheiden nicht – dazu müssten sie wissen, wer sie sind, müssten es Menschen mit Passion und Leiden‐ schaft sein –, sondern sie rechnen, sind sie Maschinen. Trotzdem muss mit dem Ereignis etwas passieren, was ihm fremd ist, es muss nämlich einer Regel zugeordnet werden. Das ist an sich unmöglich, weil es um strukturell unterschiedliche Dinge geht, eben um ein Ereignis und um ein Rechtsge‐ setz. Die Zuordnung, die verlangt wird, ist unmöglich, also das Unentscheidbare. Trotzdem muss sie geschehen, muss über sie entschieden werden, eben im Kern eine willkürliche Entscheidung – wie bei Schmitt. Sonst kann es keine Gerechtigkeit ge‐ ben – nach Schmitt kein Recht. Wenn es dieses Unentscheidbare nicht gäbe, dann wäre die Entscheidung nicht frei. Wenn sie trotzdem stattfände, dann handelte es sich höchstens um eine Berech‐ nung, eine Deduktion, was rechtens sein könnte, gerecht indes nicht. Betrachtet man dagegen den Augenblick, in dem die Entscheidung auf das Unentscheidbare stößt, kann sie indes auch nicht gerecht sein, weil sie ja letztlich willkürlich über die Regel hinweg entscheidet, die aber für die Gerechtigkeit gebraucht wird. Sie kann nicht entscheiden oder entscheidet über das Unentscheidbare – die Gerechtigkeit – hin‐ weg, so dass die Gerechtigkeit dem Unentscheidbaren ähnelt. Hat sie das Problem trotzdem irgendwie gelöst, dann hat sie ein Verfahren ent‐ wickelt, das Unentscheidbare entscheidbar zu machen, dann hat sie eine Regel ent‐ wickelt: Nach Rawls entscheidungstheoretischem Konzept der Wahl bzw. der Ent‐ scheidung nicht unter gerechten Bedingungen – das wären die der vollständigen In‐ formation –, sondern unter extrem geregelten, quasi experimentellen Bedingungen, die in der Tat dann keine andere Wahl lassen, entscheiden die Protagonisten unter dem ‚Schleier des Nichtwissens‘ einstimmig wie im Zentralkomitee der KPdSU. In Rousseaus idealer direkter Demokratie sieht es nicht besser aus. Erst nach der Entwicklung der Regel, also in zeitlicher Abfolge wird entschieden. Doch diese Entscheidung ist nicht mehr frei und gerecht, da sie dabei dieser kurz zu‐ vor entwickelten Regel folgt – man stelle sich wieder den ‚Schleier des Nichtwis‐ sens‘ vor –, auch wenn sie sich diese Regel selbst gegeben hat, sich freiwillig unter
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den Schleier begab. Sie folgt nämlich einer in der Vergangenheit entstandenen Regel und ist in der Gegenwart nicht mehr frei, somit auch nicht gerecht. Dabei erscheint es gleichgültig ob es sich um eine vorgegebene oder selbst entwickelte Regel han‐ delt – oder ob man die vorgegebene so begeistert und intensiv rekonstruiert, als wäre es die eigene. Aber man darf nicht mal seinen eigenen Regeln folgen. Denn aus dieser Aporie ergibt sich gleich eine weitere Aporie: Denn hat man eine Regel befolgt, dann heißt das nicht, dass diese Regel mit Gewissheit die richtige ist. Charles Taylor ergänzt diese Aporie noch durch eine weitere: „das Subjekt selbst kann in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichtemachen oder nicht.“ (1988, 125) Für Taylor lässt sich diese Aporie freilich lösen, indem er der Gemeinschaft das Primat gegenüber dem Individuum gibt, die diesem seine Authentizität vorgibt, womit er in die nächste Aporie gerät. Denn dann handelt es frei und verantwortlich nur gemäß der gesellschaftlich vorge‐ gebenen Regeln. Wäre nun die Regel die richtige – gleichgültig aus welchen Gründen –, dann wäre die Entscheidung die richtige. Doch sie hätte sich dabei auf eine Regel gestützt, wäre berechenbar geworden – just das was Taylor vorschwebt, wiewohl es ihm dabei um das Individuum und nicht um das Recht geht, wird aber dann ein Recht gebraucht, das dem Individuum die Regeln entsprechend vorschreibt. Aber dann wäre die Ent‐ scheidung ebenfalls nicht mehr frei bzw. gerecht. Nein, die Freiheit hätte genau die Regeln bekommen, die Taylor als Kommunitaristen vorschweben, nämlich die indi‐ viduelle Freiheit inhaltlich von der Gemeinschaft aus zu bestimmen, was er positive Freiheit nennt, während die liberale Freiheit negativ bleibt, weil sie nur von Zwän‐ gen befreit. Nun gibt nie eine Gemeinschaft irgendetwas vor, sondern immer einzel‐ ne Individuen, selbst wenn sie deren Repräsentanten sind. Jedenfalls entscheiden im‐ mer einzelne über die Regel. Der katholische Kommunitarist Alasdair MacIntyre er‐ setzt diese Freiheit in aristotelisch thomistischer Tradition gar durch Gewohnheit. Denn für MacIntyre „bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzuneh‐ men, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Phi‐ losoph, Diener Gottes.“ (1987, 85) Jedenfalls lässt sich das Problem nicht so einfach lösen, wenn es um die Gerech‐ tigkeit geht. Das Individuum braucht die Regel und darf sie doch nicht einfach an‐ wenden, sondern muss erleben, dass sie gar nicht anwendbar ist. „Deshalb“ – so Derrida – „ist die Erfahrung, die Prüfung des Unentscheidbaren, durch die (...) jede Entscheidung hindurch muss, die den Namen einer Entscheidung verdient, (...) nie ein in der Entscheidung durch die Entscheidung aufgehobenes Moment.“ (1991, 50) Obwohl die Prüfung der Entscheidung vorausgeht, gehört sie unabdingbar zur richti‐ gen Entscheidung. Dann ist die vorhergehende Prüfung doch nicht etwas, das vor‐
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hergeht, nicht in der Vergangenheit, sie ist nicht immer schon durchlaufen und im Hegelschen Sinn in der Entscheidung aufgehoben, also einerseits vorbei und ande‐ rerseits bewahrt. Sie ist vielmehr Teil der Entscheidung. Daher gehört das Unent‐ scheidbare zu jeder Entscheidung und macht die Entscheidung fragwürdig. Das Pa‐ radox in voller Entfaltung. Kann eine Entscheidung als gerechte stattfinden, wenn sie das Unentscheidbare doch nicht überwindet, sondern birgt? Oder ist das der Au‐ genblick, wenn sich das Gemeinschaftliche mit dem Individuellen vermittelt, nur er‐ heblich komplexer als es sich Taylor vorstellt? Wenn das Unentscheidbare – also der durch keine Regel zu gewährleistende Übergang von der Erfahrung zur Entscheidung – erhalten bleibt, dekonstruiert sich jede Gewissheit, dass eine Entscheidung als Ereignis gerecht ist. Ja, dann ist nicht mal klar, ob es überhaupt ein Ereignis der Entscheidung gibt. Wie kann man eindeu‐ tig wissen, dass eine Entscheidung stattgefunden hat? Die Entscheidung könnte auch auf einer Regel, einer Begründung, einem Zweck beruhen. Denn dass die Regel bei der Entscheidung suspendiert wurde, auch das lässt sich empirisch nicht nachweisen. Ist es wirklich mit Georg Simmel gesprochen ein individuelles Gesetz geworden, in dem Individualität und Allgemeinheit sich verbinden und damit die Macht des Gesetzes noch verstärkt, anstatt es individuell abzumildern? So schreibt Simmel 1913: „Dies (...) Individualisieren des Ethos ist al‐ lem Egoismus und Subjektivismus so fremd (...), dass es nicht nur keine Erleichte‐ rung des sittlichen Anspruchs mit sich bringt, sondern umgekehrt das Gebiet der ‚mildernden Umstände‘ eher einschränkt.“ (1987, 227) Derrida erscheint der herrschende Rechtsdiskurs unzulänglich, wenn er sich auf das bewusste, verantwortliche und intentionale Subjekt stützt, dem man die Ent‐ scheidung höchstens zuschreibt, diese aber nicht nachweisen kann. Wenn man in einem Rechtsfall Gutachten einholt, dem Fall gründlich nachgeht, dann ist das für die Entscheidung natürlich unabdingbar, und enthebt diese doch ihres Charakters eine Entscheidung zu sein, noch dazu eine, die gerecht sein will.
5. Aporien von Dringlichkeit und Wahrheit: Dworkin Damit dekonstruiert Derrida indes die Entscheidung selbst, ist nicht mehr klar, ob es sie überhaupt gibt oder ob es sich um eine Fiktion von Subjektivität handelt. Aber könnten sich diese Probleme nicht zeitlich lösen lassen, in der Form, dass man der Regel wie ihrer Anwendung Zeit lässt? Kann man dadurch nicht doch Ereignis und Regel miteinander vermitteln? Gleichgültig ob Rechtsphilosophie, Messianismus oder Geschichtsphilosophie – deren konventionelle Varianten Derrida noch ferner liegen – sie alle warten darauf, dass etwas Einschneidendes passiert: die souveräne Entscheidung, die gar nicht ge‐
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recht, sondern nur recht ist, die Ankunft des Messias, die man auch besser auf‐ schiebt, die Revolution oder zumindest die große Reform, auf die so sehnsüchtig wie hilflos gewartet wird, weil man das Heil vom Ganzen und nicht vom Teil erwartet, was den einzelnen auch entlastet. Doch damit öffnen sich Philosophie und Messianismus nicht gegenüber der Ge‐ rechtigkeit, sondern verschieben sie, setzen ihr damit Grenzen, die umso einschnei‐ dender in der Gegenwart wirken, wie ihre Hoffnungen in der fernen Zukunft liegen. Damit werden diese Theorien der Gerechtigkeit nicht gerecht. Denn Fortschrittsvor‐ stellungen als auch Messianismus nehmen immer eine wartende Haltung ein, mit der sie auf eine zukommende zukünftige Gerechtigkeit warten, die niemals in der Ge‐ genwart ankommt. Was solche Theorien auch gar nicht wollen, ständen sie schließ‐ lich dann vor der Selbstauflösung. Dem hält Derrida entgegen: „die Gerechtigkeit wartet nicht. Sie ist jenes, was nicht warten darf. (...) Eine gerechte, angemessene Entscheidung ist immer sofort unmittelbar erforderlich, ‚right away‘.“ (1991, 53, 54) Damit steht man vor der nächsten Aporie: Gerechtigkeit verlangt nach unmittelbarer Realisierung; denn der ungerecht Behandelte verlangt nach Gerechtigkeit hier und jetzt. Daher hat sie keine Zeit, sich erst langwierig umfassend über die Bedingungen und Sachverhalte zu in‐ formieren und die dazu passenden Gesetzeslagen, Imperative und Regeln zu suchen. Die Endlichkeit der Entscheidung lässt sich mit keiner unendlichen Information oder mit Geduld, mit Reflexion erfassen und eingemeinden. Selbst wenn man dieses Problem beiseitelegte, die Informationen und Gesetzesla‐ gen immer schon vorlägen, oder sich die Entscheidung selbst die Zeit ließe, die sie gar nicht hat, trotzdem steht die Entscheidung unter zeitlichem Druck der Eile wie des Verlangens. Das hat eine weitere Paradoxie zur Folge, spricht Derrida: „Der Au‐ genblick der Entscheidung ist, wie Kierkegaard schreibt, ein Wahn. Dies trifft vor allem auf den Augenblick der gerechten, angemessenen Entscheidung zu, die die Zeit zerreißen und den verschiedenen Dialektiken trotzen muss.“ (1991, 54) Nicht nur dass der Augenblick der Entscheidung endlich ist; er darf sich ja nicht einfach aus den vorliegenden Informationen und Gesetzeslagen ergeben, nicht aus derartigem historischen oder juristischen Wissen, nicht diversen Reflexionen ent‐ springen. Vielmehr muss die Entscheidung in ihrem Augenblick derartige, ihr vor‐ ausgehende Prozesse der Information wie diverser Überlegungen unterbrechen, sei‐ en sie ethischer, juristischer oder politischer Natur. Die Entscheidung interveniert damit in die Zeit, indem sie sie stoppt, ohne Zeit zu brauchen. Daher lässt sich das nicht begründen, was bei der gerechten Entscheidung pas‐ siert, nicht berechnen, schon gar nicht voraussehen, im Grunde eben auch nicht ver‐ stehen, wie sich der Wahn vom rationalen Standpunkt nicht verstehen, höchstens er‐ klären lässt, wie sich das göttliche Gericht weder verstehen noch erklären, sondern nur anerkennen lässt. Die gerechte Entscheidung entzieht sich jeder Erklärung und
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damit erscheint sie wahnsinnig, was man im Falle des göttlichen Gerichts nur ein‐ fach nicht sagen darf. Auch mit Dialektik kommt man der gerechten Entscheidung nicht näher. Es reicht nicht, ihr Widersprüchlichkeit zu attestieren. Damit lässt sich die Entscheidung gera‐ de nicht verstehen. Gemäß Nietzsches Genealogie hätte sich das Recht dann aus dem Wahn der Gerechtigkeit heraus entwickelt. Und letztlich entbirgt der archäologische Standpunkt Foucaults das Recht als Abbruch des Dialogs mit der Gerechtigkeit, wie er in Wahnsinn und Gesellschaft vom Abbruch der Kommunikation zwischen Wahn‐ sinn und Vernunft spricht, wenn „die Menschen miteinander in der Haltung überle‐ gener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gna‐ denlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen“ (1996, 8), während sich historisch zeigt, dass der Wahnsinn in der Vernunft wiederkehrt, also keineswegs verbannt wurde. Zeigt nicht die Dringlichkeit der Gerechtigkeit an, dass wider Derridas Behaup‐ tung auch die Gerechtigkeit dekonstruiert werden muss und zwar just ob der Apori‐ en, in die sie gerät? Denn es mag ja eine Dringlichkeit von der Gerechtigkeit her aufgebauscht werden, ein möglichst gerechtes juristisches Urteil kann es nun mal nicht ohne genaue Prüfung geben, die Zeit braucht. Denn just wenn sich die gerechte Entscheidung einem Wahn verdankt, dann produziert sie keine konstativen, sondern nur performative Akte. Sie beruht schließlich nicht auf Kenntnis, nicht auf Bewusst‐ sein und auch nicht auf Besonnenheit oder Vernunft. Die gerechte Entscheidung bringt trotzdem etwas zustande. Ein performativer Akt kann aber nur gerecht sein, wenn er auf vorgängigen performativen Akten beruht, darf er schließlich auch nicht vom Himmel fallen, wiewohl er in die Zeit einbricht. So kann die gerechte Entschei‐ dung schon gar nicht der theoretischen Vernunft folgen, droht vielmehr, dass sie plötzlich sogar in Gewalt umschlägt: wenn die aufgebrachte Menge in den Palast eindringt und den König lyncht – Benjamins anarchische Revolution – oder man er‐ innere sich an die Rotte Korah. So bedroht die Performanz die konstativen Akte als solche, dringt gar in sie ein, verschiebt sie, so dass sich der Wahn der Gerechtigkeit auf die theoretische Vernunft auszuweiten droht. Allemal ändert sich dadurch deren Charakter. Grundsätzlich kann ein konstativer Akt zwar nicht gerecht sein, sondern höchstens angemessen bzw. richtig, d.h. wahr. Doch auch er beruht auf einem impliziten performativem Akt bzw. lässt sich als solcher formulieren. Denn wenn der konstative Akt eine Sache be‐ nennt, dann beschreibt dieser Akt nicht nur die Sache, sondern bestimmt sie als eine solche, was man als performative Dimension oder als Gewalt des konstativen Aktes verstehen kann. Dann aber setzt der konstative Akt implizit einen performativen vor‐ aus bzw. generiert sich als performativer. Umgekehrt zeigt sich, dass es beinahe kei‐ ne Rede gibt, die nicht auch und wenn nur nebenbei so doch Performanzen entfaltet. Und man möchte mutmaßen, je unabsichtlicher und unbemerkter, umso nachhalti‐
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ger, wenn Sprecher und Hörer die Performanz gar nicht wahrnehmen, um ihr da‐ durch umso stärker ausgeliefert zu sein. Damit erhalten auch Angemessenheit und Wahrheit in der Gerechtigkeit eine Vor‐ aussetzung. Dann aber braucht auch die Wahrheit Überstürzung, die ihrerseits in so etwas wie ein Performativum abzudriften droht. Ergo beschreibt die Wahrheit nicht mehr bloß ihren Gegenstand, sondern erzeugt ihn, verändert ihn, wandelt ihn um. Freilich kommt es in der Folge zu einigen weiteren problematischen Verwicklungen. Denn man könnte die Gerechtigkeit für wahr halten, was sich rückwirkend auf die Wahrheit ausdehnt wie schon bei den konstativen Sätzen. Ronald Dworkin verfolgt einen solchen Gedanken, selbstredend ohne diese letzte‐ re Konsequenz zu ziehen, und insofern erheblich konventioneller als Derrida oder gar Emmanuel Lévinas, für den die Gerechtigkeit der Wahrheit strukturell voraus‐ geht. Denn Dworkin betrachtet die Ethik zwar als einen abgesonderten Bereich oder eigenen Diskurs, der sich von anderen Bereichen nicht bevormunden lassen muss – man denke an die Ökonomie. Trotzdem geht es in der Ethik um ein zusammenhän‐ gendes Ganzes, das in alle Lebensbereiche, gerade auch in den von Erkenntnis und Wahrheit hineinreicht bzw. sich auf derartige Einsichten stützen muss. So schreibt Dworkin: „In der Moral nach Wahrheit zu streben bedeutet, sich um ein kohärentes System zu bemühen, das wir von ganzem Herzen bejahen.“ (2012, 207) Moralisch ist man nur, wenn man versucht, die Normen, die man befolgt, so zu begründen, dass sie in der Lebenswelt gleichzeitig als richtig und wahr erscheinen. Paradoxien, denen Derrida nachgeht, gilt es daher zu vermeiden und durch ihr Gegenteil, die Ko‐ härenz zu ersetzen. In der Politik, wenn es um Gerechtigkeitsfragen geht, muss man nach Dworkin Verantwortung sowohl als ethisch richtig wie auch als wahr bestimmen können, ob‐ gleich immer nur ein Maximum guter Begründung erreicht werden kann – ein ge‐ wisser Relativismus also bleibt bei Dworkin damit erhalten. Aber um dieses Maxi‐ mum muss man sich bemühen, da es in der Ethik für Dworkin keine einfachen Lö‐ sungen gibt. An dieser Stelle würden sich Dworkin und Derrida von Ferne leicht touchieren. Aber für Dworkin darf die Wahrheit umgekehrt nicht von der Ethik be‐ stimmt werden, wie es sich bei Derrida und im Anschluss an Lévinas klar abzeich‐ net. So erscheint der Zusammenhang zwischen dem Performativen und dem Konstati‐ ven, von deren strikter Trennung man ja gemeinhin in der Sprechakttheorie ausgeht, als Übergriff des Performativen auf das Konstative, wenn die Gerechtigkeit der Wahrheit vorausgeht, was Lévinas in ein noch paradoxeres Licht rückt. Carl Schmitt würde dem negativ zustimmen, diskriminiert Moral für ihn politische Entscheidun‐ gen: Wenn man Eichmann in Jerusalem oder ‚Schmitt in Nürnberg‘ zur Verantwor‐ tung zieht, ist das ein Übergriff einer rechtserhaltenden Gewalt auf eine rechtsetzen‐ de Politik, wie sie die Nazis betrieben haben. Dass diese rechtsentsetzend war, dem
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müsste selbst Schmitt zähneknirschend zustimmen. So schreibt Schmitt eine Zellen‐ philosophie. Für Marx wäre Gerechtigkeit ähnlich wie Menschenrechte bürgerliche Ideologie, die die Arbeiterklasse in ihrem Klassenkampf nur behindern soll, wenn Gerechtigkeit von der Arbeiterklasse Rücksichtnahmen verlangt. Verbinden sich die Gerechtigkeit und die Verantwortung ähnlich wie das Recht dann mit einer Form von Gewalt, die auch vor den ethischen Grundbegriffen nicht Halt macht? Nietz‐ sches Genealogie der Moral weist genau das nach. Durch diese Dominanz der Gerechtigkeit gegenüber der Wahrheit wie auch auf Grund der Dringlichkeit der Gerechtigkeit schließt Derrida anders als Lévinas eine teleologische wie eine messianische Perspektive aus, wiewohl sie wenige Jahre spä‐ ter bei seinen Texten zu Marx auftauchen wird. Also die Gerechtigkeit hat kein Ziel und sie hat keine Hoffnung, verschwimmt die gerechte Gesellschaft im vagen, über‐ kommt die Gerechtigkeit höchstens das eine oder andere Ereignis. Die Gerechtigkeit lässt sich nämlich ob ihrer Aporien nicht zur Utopie ausdehnen, gelingt es Platon in der Politeia nicht, so wenig wie nach ihm den Utopisten Morus, Campanella und Bacon die Gerechtigkeit darzustellen bzw. zu durchdenken – was am ehesten noch dem Marquis de Sade in Aline et Valcour gelingt (vgl. Schönherr-Mann 2015 a, 29). Deshalb attestiert Derrida der Gerechtigkeit eine Zukunft, die nicht jener Zukunft als Wiederholung entspricht, wie sie üblicherweise häufig von Rechtstheorien ver‐ treten wird, beispielsweise bei Rawls oder Dworkin. Da die Gerechtigkeit nicht rea‐ lisiert ist, besteht nur die Möglichkeit, dass sie noch kommt, dass sie auf die Men‐ schen zukommt. Allerdings kann sie nicht warten, kann sie nicht erst in ferner Zu‐ kunft aufkreuzen – ein schweres Geschütz gegen die ausgleichende Gerechtigkeit, die trinitarische Ökonomie wie gegen Apokalypsen und Eschatologien: sie können gar keine Gerechtigkeit mehr walten lassen. Sie kommen immer schon zu spät. Wie könnten sie den Ermordeten von Auschwitz denn Gerechtigkeit widerfahren lassen? Allerdings gerät die Gerechtigkeit selbst in diesen Strudel der Zeit, erlebt nicht nur eine Aporie, die sie in Frage stellt, sondern zieht sich ihr eine Grenze, die Derrida selbst nicht wahrnimmt. Wenn man trotzdem die Gerechtigkeit nicht bloß politisch oder juristisch versteht, dann eröffnet sie die Möglichkeit einer Transformation von Politik und Recht. Schließlich verdankt sich die Gerechtigkeit nach Derrida der Erfahrung des Ereig‐ nisses, das nicht vollständig erfassbar ist. Das Ereignis selbst verhindert, dass sich die Gerechtigkeit vereinnahmen lässt, was diese einem gängigen Rechts- und Ge‐ schichtsverständnis entzieht, ihr eine eigene, aber undarstellbare Geschichte verleiht wie einen besonderen Bezug zum Recht. So spricht Derrida: „Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt.“ (1991, 57) Anders formuliert: Derart wie man gängiger Weise das Recht entwickelt, wie man sich mit dem Recht geregelt und hochinformiert um Ge‐
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rechtigkeit bemüht, lässt sich die Gerechtigkeit nicht realisieren – nach Dworkin da‐ gegen müsste man sich genau darum bemühen. Die Dekonstruktion segelt der Main‐ stream-Philosophie zwar davon, wird ihr manchmal trotzdem der Wind aus den Se‐ geln genommen. Für Derrida kann sich Gerechtigkeit indes nur im Ereignis und gegenüber dem Ereignis realisieren, woraus sich keine Konsistenz herstellen lässt, die aber für Der‐ rida der Gerechtigkeit nicht gerecht zu werden vermag. Gerechtigkeit braucht dazu vielmehr ohn‘ Unterlass alles und sofort, weil ihrerseits die Gerechtigkeit denn auch nicht aufhört. Weil sie immer wiederkehrt, bleibt nur, dass sie zukünftig kommt, im‐ mer wieder kommt. Man kann sie nicht geplant und von Regeln geleitet herstellen. Man muss sich ständig um sie bemühen, darum gerecht zu entscheiden – selbst wenn das wider Derridas Diktum etwas Zeit brauchen sollte. Damit gibt es keinen finalen Zustand, den es wie in messianischen oder teleologischen Lehren irgend‐ wann zu erreichen gilt, während es vorher Gerechtigkeit praktisch nicht gibt, ja gar nicht geben kann, weil die Welt ungerecht ist. Deswegen kennt die Gerechtigkeit keine Gelassenheit, erweist sie sich vielmehr als Wahn, die dem rationalen Recht gleichgültig ob als Naturrecht oder als positivem Recht widerstreitet. Derridas Vorstellung von Gerechtigkeit ist trotz seiner Konzeption des Messiani‐ schen ohne Messianismus somit weniger utopisch als messianische, marxistische, li‐ berale oder konservative Ideen, die entweder die Welt, wie sie ist, für soweit gerecht halten, wie dies möglich ist, oder die die jetzige Welt für so ungerecht halten, dass sich das erst in ferner Zukunft und durch abenteuerliche Eingriffe zu ändern vermag, heißen diese nun Revolution oder die Ankunft des Messias. Während die anarchi‐ sche Revolution letzterem ähnelt und ähnlich ungewiss und beinahe noch ferner liegt, so ändert sich das auch bei der marxistischen Revolution wenig, die selbst zwar ständig besungen wird, ihre positiven Wirkungen aber genauso ungewiss ver‐ schwimmen: Die Bevölkerung müsste nur genug Geduld und vor allem Leidensfä‐ higkeit haben. Benjamin wollte die Revolution mit einer apokryphen Theorie retten. Vielleicht wollte er sie auch desavouieren. Derrida verabschiedet sie jedenfalls final als apo‐ kryphes Geschehen. Man kann sich nur wundern, dass die Revolution ein derart gro‐ ßes Faszinosum war und Das Prinzip Hoffnung beherbergen sollte, wenn Ernst Bloch sein Hauptwerk im dunkelsten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit den utopi‐ schen Worten enden lässt: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaf‐ fende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch nie‐ mand war: Heimat.“ (1959, 1628) Einerseits besingt Bloch die Mächtigkeit des ar‐ beitenden Subjekts, andererseits arbeitet er mit Paradoxien und Aporien, dekon‐ struktiv und mit einem Begriff, nämlich der Hoffnung, dem ein theologischer Migra‐
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tionshintergrund eignet. Vor allem beruft er sich auf die Demokratie – kein selbst‐ verständlicher Orientierungspunkt für einen Marxisten. Ja, die Demokratie als kind‐ licher Heimat lässt sogar Revolution und Sozialismus hinter sich. Just dadurch ge‐ winnt er eine gewisse Nähe zu Derrida, half Bloch in Tübingen in den siebziger Jah‐ ren mit, der Zivilgesellschaft den Weg zu bereiten.
6. Aporien von Wahn und Vernunft: Lévinas Derrida orientiert sein Verständnis einer Trennung von Gerechtigkeit und Recht bzw. Gerechtigkeit ohne Recht, wie es der Vortrag über Benjamin entwickelt, an der Ethik von Emmanuel Lévinas, dem bedeutendsten Ethiker des 20. Jahrhunderts, der die Ethik fundamental wendet, weg von der Allgemeinheit der Vernunft, der Gemein‐ schaft oder weg vom Göttlichen und hin zur konkreten zwischenmenschlichen Be‐ gegnung, der die Ethik entspringt. Damit ebnet Lévinas eine neue Perspektive, die Renate Martinsen skizziert hat: „Der dominanten regelorientierten ‚Ethik von oben‘, die ein Instrument politisch-sozialer Herrschaft darstelle, wird bei Bau‐ man eine ‚Moral von unten‘ gegenübergestellt, (...). Die Baumansche Deutung des Gewissens als präsozialer Impuls rekurriert auf – von Emmanuel Lévinas inspirier‐ ten – Reflexionen über die existentielle Qualität des Zusammenlebens mit dem An‐ deren als ‚Antlitz‘ (...).“ (2004, 394) So verbindet Lévinas auch Gerechtigkeit nicht primär mit der Gesellschaft oder dem marxistischen Begriff der Totalität, sondern mit einem religiös konnotierten Be‐ griff der Unendlichkeit, der indes nicht ins Paradoxale und Aporetische abgleiten soll, die ja im Fokus der Dekonstruktion stehen, wiewohl auch Lévinas gewissen Aporien nicht entgeht. Denn Unendlichkeit zielt auf etwas Unerkennbares, dass es zumindest im Himmel der Mathematik wirklich gibt, obgleich es sich dort notorisch und unüberbrückbar entzieht. Ähnlich wie das Unendliche befindet sich Kants Idee eines Dings an sich außerhalb der Erfahrung. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es: „Wenn wir denn also sagen: die Sinne stellen uns die Gegenstände vor, wie sie erscheinen, der Verstand aber, wie sie sind, so ist das letztere nicht in transzendenta‐ ler, sondern bloß empirischer Bedeutung zu nehmen, (...) nicht nach dem, was sie außer der Beziehung auf mögliche Erfahrung folglich auf Sinne überhaupt, (..) sein mögen. Denn dieses wird uns immer unbekannt bleiben, (…).“ (1968 a, 213) Daher markiert Kants Ding an sich nur eine Grenze der Erkenntnis, die aber davon nicht weiter verschmutzt wird. Das Unerkennbare bei Kant beeinträchtigt somit die Er‐ kenntnis selbst nicht weiter. Für Lévinas wirkt das Unerkennbare als das Unendliche dagegen auf den Menschen ein. Anders als bei Kant spielt bei Adorno das Unerkennbare bei der Erkenntnis eine Rolle mit weitreichenden Konsequenzen, wenn der Begriff seinen Gegenstand nie
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vollständig erfasst, was den Prozess der Erkenntnis erheblich schwächt. Denn dann lässt sich der historische Fortschritt nicht mehr begrifflich erfassen und auch nicht mehr prognostizieren mit fatalen Konsequenzen für den Marxismus. So dekretiert Adorno: „Geist, der Totalität sein soll, ist ein Nonsens, (...).“ (1970, 197) Dem würde Lévinas durchaus zustimmen, stellt er dem Begriff der Totalität, dem von Hegel und Marx der Weg bereitet wurde, den Begriff der Unendlichkeit entge‐ gen. Jedoch wirkt bei Lévinas das unerkennbare Unendliche unmittelbar auf den Menschen in sittlicher Hinsicht positiv, nicht wie bei Adorno dialektisch negativ. Denn das Unendliche leuchtet im Antlitz des anderen Menschen auf, wenn dieser mir begegnet und mich in die Verantwortung ruft. Die Gerechtigkeit kommt also auf den einzelnen durch den Anderen zu. Die Unendlichkeit, in der sich das Antlitz Gottes versteckt, macht den Anderen unfassbar, begegnet er mir in seiner Andersheit, die mir immer fremd bleiben wird, selbst wenn man glaubt, ihn sehr gut zu kennen. Auch die engsten Lebensgefährtin‐ nen bleiben einander unendlich anders. Daher begegnet einem der andere Mensch nicht als Gleicher wie ich, der sich enthüllen und erkennen lässt, handelt es sich da‐ bei entweder um allgemeine Eigenschaften, die jedem Menschen eignen oder um be‐ sondere individuelle, mit denen man den anderen Menschen jedoch nie zu durch‐ schauen in der Lage sein wird. Nie spricht mich der Andere daher als Gleicher an – sind wir schließlich nicht dieselben –, sondern nur in seiner Andersheit, so dass Lé‐ vinas 1961 schreiben kann: „Das Andere als Anderes ist der andere Mensch. Es be‐ darf der sprachlichen Beziehung, um ihn ‚sein zu lassen‘; dazu achtet ihn die bloße ‚Enthüllung‘, in der er sich als Thema darstellt, nicht genug.“ (1987, 95) Die Bezie‐ hung zum anderen Menschen konstituiert sich dadurch, dass dieser mich anspricht, ich antworte und daran anschließend verantworte. Man übernimmt die Verantwortung für den Anderen aber nur, wenn man sich nicht berechtigt sieht, ins Leben des Anderen einzugreifen. Verantwortung gibt es daher nicht in hierarchischen Beziehungen, in denen der Andere weisungsgebunden wäre, sowenig wie in pädagogischen Beziehungen – das Gegenteil zu Webers Ver‐ antwortungsbegriff. Verantwortung kann auch kein Arzt für einen Patienten über‐ nehmen. Denn wenn man sich in die Verantwortung für den Anderen gerufen fühlt, dann will man ihn nicht verändern, indem man versucht ihn auf den vermeintlich richtigen Weg zu leiten, sondern man lässt ihn, wie er ist. Bereits an dieser Stelle deutet sich der Riss zwischen Recht und Gerechtigkeit an, wenn es im Recht primär um Gleichheit geht. Lévinas schreibt daher weiter: „Dieses in der Rede von Ange‐ sicht zu Angesicht Ansprechen nennen wir Gerechtigkeit.“ (1987, 95) Dabei beschränkt sich die Motivation nicht auf die Sprache. Vielmehr ist es das nackte Antlitz des Anderen, das ich sehe und das mir gebietet, nicht zu töten. Schließlich orientiert sich Lévinas an der Phänomenologie Husserls. Die soziale Be‐ ziehung, die eine ethische ist, entsteht sowohl sprachlich als auch visuell, ruft damit
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die Gerechtigkeit auf. Lévinas schreibt 1978: „Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtig‐ keit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschie‐ den wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert mei‐ ner Pflichten über meine Rechte.“ (1992 a, 437) Eine gerechte Gesellschaft kann sich nicht auf einen Gruppenegoismus stützen, wie ihn jeder Patriotismus als patriar‐ chalischen Egoismus der Familie, des Clans, der Sippe propagiert, den schon Platon wie Aristoteles fürchten. Pluralistisch muss der Fremde wie der Bekannte, der Nächste wie der Ferne geachtet und berücksichtigt werden. „Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit. Es ist infolgedessen nicht ganz unwichtig zu wissen, ob der egalitäre und gerechte Staat, in dem der Mensch seine Erfüllung findet (...), aus einem Krieg aller gegen alle hervorgeht oder aus der irreduziblen Verantwortung des Einzelnen für alle.“ (Lévinas 1992 a, 437) Daher darf das Recht niemanden diskri‐ minieren, muss vielmehr die Freiheit des Einzelnen schützen. Doch in dieser zwi‐ schenmenschlichen Beziehung zum Anderen gründet die Gerechtigkeit, die Lévinas mit Geradheit und Rechtschaffenheit umschreibt. So lässt sich die Gerechtigkeit jen‐ seits des Rechts nieder, behält aber zu diesem einen Bezug. Es gibt hier eine Pa‐ rallele zu Benjamin und damit zu Derrida. Pascal Delhom weist nämlich daraufhin, dass nach Lévinas die staatliche Friedenssicherung keineswegs friedlich vonstatten‐ geht: „Der Frieden der Institutionen ermöglicht das freie Handeln der Individuen, er ist aber selber gewalttätig (...).“ (2000, 301) Auch Judith Butler formuliert einen ähnlichen Gedanken. Jedenfalls verabschiedet Lévinas die Gleichheit als Grundgedanken der Gerech‐ tigkeit, wie er sich seit Christentum und Aufklärung verbreitete. Derrida entdeckt einen ähnlichen Gedanken bereits bei Nietzsches Vorstellung einer ‚guten Freund‐ schaft‘. Sie „setzt das Ungleichgewicht, die Unverhältnismäßigkeit voraus. Sie er‐ fordert eine bestimmte Unterbrechung der Wechselseitigkeit oder der Gleichheit, einen Bruch auch mit jeder Verwechslung oder Vermischung von Ich und Du.“ (2002, 97) Freundschaft verbindet Derrida auch mit der Verantwortung, die sich der Ungleichheit verdankt und die Differenz aufrechterhält. Lévinas vertraut jener Liebe nicht, die die Andersheit in der Gemeinsamkeit aufgehen lassen will. So hat Gerechtigkeit einen primär ethischen Sinn und keinen rechtlichen. Oliver Marchart kritisiert das als eine Tendenz zur Entpolitisierung: „Eine kompromissleri‐ sche Ethik, darin würden Lévinas, Lacan und Derrida übereinstimmen wäre keine. Es kann keine Ethik geben, die nicht einen wie auch immer gearteten Kontakt zum Unbedingten hält (etwa im Sinne unbedingten Respekts oder unbedingter Verant‐ wortung). Damit aber erweist sich Ethik als im Kern unpolitisch, denn sie bringt ein der Politik – dem Bedingten – gegenläufiges Element ins Spiel.“ (2010, 342) Trotz‐ dem bezieht diese postmoderne Gerechtigkeit den einzelnen Menschen auf die Ge‐ sellschaft und damit auf die Politik und den Staat, der unabdingbar für die Gerech‐
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tigkeit bleibt. Nur dass er sich nicht auf die Gleichheit stützen darf, um den Naturzu‐ stand als Krieg aller gegen alle zu beenden und Sicherheit herzustellen. Vielmehr braucht der Staat die Verantwortung des einzelnen Menschen in seiner Individualität, die dieser aber zunächst nicht gegenüber der Gemeinschaft oder dem Staat übernimmt, sondern immer konkret gegenüber dem anderen Menschen, wie sie beispielsweise Oskar Schindler in die Tat umsetzte. Oder man denke an Anton Schmid, einen deutschen Offizier, der dem polnischen Widerstand half und von den Nazis ermordet wurde. Oder an Wolfgang Abendroth, der in Griechenland desertier‐ te und sich den Partisanen anschloss. Oder an alle, die sich zivilgesellschaftlich für Menschenrechte und gegen Diskriminierung einsetzen. Insofern gibt es einen Weg von Derridas Gerechtigkeit oder Lévinas‘ Verantwortung in die Politik, wiewohl nicht unbedingt in die institutionelle, aber in die die außerinstitutionelle. Zwar will Lévinas den von Sozialphilosophen ständig beschworenen Beitrag zum Gemeinwesen nicht abschaffen. Aber daraus entspringen weder Verantwortung noch Gerechtigkeit. Lévinas schreibt: „Die Gerechtigkeit wäre nicht möglich ohne die Singularität, ohne die Einzigkeit der Subjektivität. In dieser Gerechtigkeit tritt die Subjektivität nicht als formale Vernunft auf, sondern als Individualität; die formale Vernunft verkörpert sich in einem Seienden nur in dem Maße, in dem dieses Seiende den Charakter des Auserwählten verliert und gleiche Geltung hat wie alle anderen.“ (1987, 392) Die Allgemeinheit der Vernunft raubt dem Individuum seine Einzigar‐ tigkeit und setzt es mit allen anderen gleich. Darauf kann man vielleicht einen Amei‐ senhaufen gründen, wie es sich die Nazis vorstellen, nicht aber eine Gesellschaft, die aus Individuen besteht, die die Nazis gerade ausmerzen wollen, wie es Arendt vor‐ führt. Daher gründet nicht die formale Vernunft die Gesellschaft, das Recht und den Staat – mit der man zur Not ein KZ organisieren kann: Derrida würde ergänzen, dass diesen die Frage der Gerechtigkeit abgehe. Stattdessen verdanken sie sich der Ver‐ antwortung des Einzelnen, in die dieser vom Antlitz des Anderen in seiner Anders‐ heit wie durch dessen Anrede gerufen wird. Dabei drücken Antlitz und Anrede die unhintergehbare zwischenmenschliche Beziehung aus, die für Lévinas die Grundla‐ ge der Vernunft wie der Gerechtigkeit ist und damit der Gesellschaft wie des Staates. Auf der Gleichheit, auf der Verteilungsgerechtigkeit oder einem Gleichmaß be‐ ruht auch nicht das Recht, das Lévinas stattdessen ebenfalls mit dem Begriff des Un‐ endlichen verbindet und dabei nicht ein bestimmtes Menschenbild zugrunde legt, sondern die Andersheit des Anderen, was insofern nicht als negatives Menschenbild interpretiert werden darf, wie es an die Stelle eines Bekannten, eines Verstehens, das Unbekannte, Unverstehbare setzt. Insofern besteht hier auch höchstens eine sehr schwache Parallele zu Ulrich Sonnemanns Negativer Anthropologie aus dem Jahr 1969: Für Sonnemann sind die positiven Anthropologien gescheitert, heißt Negative Anthropologie, „insofern sie Kritik nicht nur an Theorien, sondern auch an deren Gegenstand ist, ja die Kritikwürdigkeit der ersteren als Funktion einer des letzteren
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erkennt“ (1969, 245), dass man nur noch negativ über das reden kann, was den Men‐ schen auszeichnet. Bei Lévinas übernimmt die Rolle der Anthropologie ein unendliches Recht als unendliches Recht des Anderen, so dass das Recht auf einer Asymmetrie aufruht. Damit leitet Lévinas seinen Begriff des Rechts von einem jüdischen Humanismus ab, wie Derrida es nennt und konstatiert: „Der Begriff der Gerechtigkeit, den Lé‐ vinas bildet, nähert sich eher dem, was im Hebräischen der Heiligkeit (sainteté) ent‐ spricht (...).“ (1991, 46) Doch auch Derrida verbleibt mit seinem Begriff der Gerech‐ tigkeit im Horizont des jüdischen Denkens. Mit den Aporien der Gerechtigkeit dekonstruiert Derrida die herrschenden Vor‐ stellungen von Verfahrens- und Verteilungsgerechtigkeit, die Gerechtigkeit durch bestimmte Regeln erreichen wollen. Dabei geht er selber im Anschluss an Lévinas von einer unendlichen Gerechtigkeit aus, die sich vor allem am Anderen in dessen Andersheit orientiert, die eine noch stärkere Singularisierung zur Folge hat als Indi‐ vidualität und Besonderheit. Lévinas‘ Andersheit des Anderen erweist sich als Pen‐ dant zu Derridas Ereignis. Daher darf man seinen Begriff der Gerechtigkeit ebenfalls als pluralistisch bezeichnen – ähnlich wie die Ethik von Lévinas. Just mit dieser Ori‐ entierung lässt sich eine unendliche Gerechtigkeit auf keine Prinzipien zurückfüh‐ ren, auch nicht auf bestimmte Vorstellungen reduzieren. Will man dem Anderen ge‐ recht werden, einem Anderen, von dem man sich keine Vorstellungen machen kann, die vielmehr in dessen unendlicher Andersheit verschwimmen, dann darf sich die Gerechtigkeit ihrerseits nicht auf Endliches beschränken, sondern muss sich für un‐ endlich Anderes öffnen, was ihr selbstredend einen Haufen Aporien beschert. Denn die unendliche Andersheit verlangt unendlich viel, für viele zu viel. „Man kann darin also einen Wahn erkennen,“ äußert sich Derrida verständnisvoll, „ja sie des Wahns anklagen.“ (1991, 52) Kann man eine Gesellschaft auf die Andersheit stützen? Burkhard Liebsch, Oliver Marchart, Carl Schmitt oder Henry Kissinger würden Derrida mangelnden Realismus vorwerfen. Doch das wäre die falsche Ant‐ wort. Unendliche Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit ohne Recht zielt nicht darauf, wie die Gesellschaft gerecht organisiert werden kann. Diese Frage ist viel zu fern und für Derrida kein Gegenstand einer Theorie der Gerechtigkeit als Dekonstrukti‐ on. Es geht nicht um das Ganze, sondern darum dem Einzelnen in seiner Andersheit gerecht zu werden. Weil darauf gängige Gerechtigkeitstheorien von Platon bis Rawls gemeinhin verzichten, könnte diesen der Anspruch der Dekonstruktion eher wahn‐ sinnig denn vernünftig erscheinen. Oder die Kritiker formulieren wie Habermas eine andere Kritik, sagt Derrida wei‐ ter: „Man erkennt darin vielleicht sogar eine (andere) Art Mystik (und klagt sie des‐ halb an)“ (1991, 52), weil sich die Gerechtigkeit in der unendlichen Andersheit des Anderen zu verlieren scheint, weil es mystisch erscheint, wenn man sich in einer Gerechtigkeitstheorie um den einzelnen Menschen kümmern will, noch dazu um
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dessen unendliche Singularität. Dann verlöre sich jedes Verstehen und Begreifen in der unendlichen Vielheit einer Welt, die nur aus Ereignissen bestehen soll, die man unter keine Begriffe fassen kann und darf. Im Sinn der Wissenschaftslehre von Max Weber verzichtet man dann auf den wissenschaftlichen Begriff, wiewohl dieser nach Weber immer nur eine allgemeine idealtypische Form besitzt und seine Gegenstände gerade nicht spiegelt. Aber Lévinas unendliche Andersheit des Anderen ist das Gegenteil von Mystik, die eine Einheit unterstellt. Wenn sich der Andere ob seiner Andersheit nicht fassen lässt, dann gibt es keine Einheit mit ihm, auch keine rechtliche, sowenig wie eine mystische Einheit mit Gott. Stattdessen provoziert der Andere die Verantwortung für diese Andersheit, also für die Differenz, die zugleich immer auch Aufschub und Ver‐ schiebung bedeutet, was man als eine andere Formulierung der Unendlichkeit lesen kann. Und Derrida gesteht sogar ein, dass die Kritiker der Dekonstruktion Recht ha‐ ben: „Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Ge‐ rechtigkeit ist sie wahnsinnig. Dieses Gerechtigkeitsverlangen macht sie verrückt.“ (1991, 52) Die Dekonstruktion tritt aus dem abendländischen Diskurs über Gerechtigkeit he‐ raus. Es macht ihr selbst nichts aus, wahnsinnig und verrückt zu sein. Moderate Kri‐ tiker würden das als ein übersteigertes Gerechtigkeitsgefühl qualifizieren. Doch für Derrida liegt das an einem Denken, das sich mit den Disziplinierungen, seien sie aristotelischer, scholastischer oder rationaler Natur, nicht zu arrangieren bereit ist. Oder wie sich Jean Baudrillard gegenüber der Ökologie weigert, „darüber zu disku‐ tieren, ob es eine Errungenschaft ist oder eine Gegebenheit, wenn man mit dem Rü‐ cken an der Wand steht. Ich möchte wissen, ob nicht irgendwo die Ideologie der Kri‐ se eine außerordentliche Wirksamkeit im Sinne des Systems der sozialen Kontrolle selbst entfaltet.“ (1978, 122) So knüpft Derrida eine Verbindung zwischen Vernunft und Wahnsinn, die spätes‐ tens seit der Aufklärung durchtrennt ist, worauf Foucault 1961 hinweist, wenn er schreibt: „Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des acht‐ zehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und lässt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, (...) in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken.“ (1996, 8) Vor der Aufklärung wurden die Wahn‐ sinnigen weniger diskriminiert als seither. Doch für Derrida kehrt mit dem Wahnsinn nicht wie bei Adorno der Mythos und damit die Barbarei wieder, sondern ein origi‐ närer Anspruch auf Gerechtigkeit als Dekonstruktion, der indes von Seiten des Rechts als Wahn erscheinen muss; und wenn man die Dekonstruktion auf sich selbst anwendet – was Derrida zwar ausschließt, woran man sich aber nicht halten muss – erscheint der Wahn als schlichte Aporie.
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Derrida klinkt sich damit in eine Seitenlinie der Aufklärung ein, in der sich der Wahnsinn seiner Assimilierung an die Vernunft immer ein Stück weit widersetzt, könnte man die Linie mit Lenz und Hölderlin starten, über Büchner zu Nietzsche verlängern und im 20. Jahrhundert dieser Linie Beckett, Bataille, Buñuel und Bu‐ kowski zurechnen. Damit bringt die Dekonstruktion zur Sprache, was die Vernunft tunlichst verschweigt, nämlich den Wahn als Teil der Vernunft, der die Vernunft erst vernünftig macht, indem dieser der Wiederkehr des Mythos mit seiner Barbarei und Gewalt widerstreitet. Damit enthüllt die Dekonstruktion die zentrale Aporie zwi‐ schen Recht und Gerechtigkeit, an der sich denn auch Lévinas und Derrida begeg‐ nen, der aber weder die Dekonstruktion noch die Gerechtigkeit entgehen. Mit dem Anspruch der unendlichen Gerechtigkeit und der Aporie, in die diese selbst gerät, entwirft die Dekonstruktion eine Perspektive, die sich den Rationalisie‐ rungsprozessen der Moderne rational und keinesfalls mystisch widersetzt, bzw. diese zumindest moderater zu gestalten sucht, indem sie beinahe kantisch kritisch diesen Grenzen zieht. Dekonstruktiv aber entbergen sich diverse Aporien, in die Vernunft, Recht und Gerechtigkeit geraten, die man nicht überwinden, die man nur verwinden kann, d.h. lernen mit diesen zu leben. Dazu trägt die Dekonstruktion bei. Wenn man sie empirisch versteht, dann be‐ schreibt sie den Umgang der Menschen mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Politik in einer Zeit, in der man, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ‚ohne Geländer denken’ (2007, 113) muss. Oder wie es Nietzsche bemerkt: „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege ins Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut’ und ‚Böse‘?“ (1999 b, 252) Denn bei der Dekonstruktion handelt es sich für Derrida keinesfalls um einen Prozess, den er selbst etwa erfunden hätte. Vielmehr sagt er: „Diese Gerechtigkeit, die kein Recht ist, ist die Bewegung der Dekonstruktion: sie ist im Recht oder in der Geschichte des Rechts am Werk, in der politischen Geschichte und in der Geschichte überhaupt, bevor sie sich als jener Diskurs präsentiert, den man in der Akademie, in der modernen Kultur als ‚Dekonstruktionismus‘ betitelt.“ (1991, 52) Derrida hat die‐ sen Prozess hegelsch gesprochen „nur“ auf den Begriff gebracht. Dabei darf man anmerken, dass etwas trotzdem erst dann existiert, wenn es als solches erscheint und dazu ist es nötig, dass diese Erscheinung als solche wahrge‐ nommen und existentiell bestimmt wird. So ließe sich das Vorgehen Derridas jeden‐ falls gemäß Hegels Logik verstehen. Umgekehrt so lange etwas nicht benannt ist, nicht auf den Begriff gebracht ist, darf man bezweifeln, ob man davon reden kann, dass es existiert, dass es nach Heidegger heraussteht ins Sein, wenn es noch nicht derart verstanden wird. Derrida vergleicht das Bemühen der Dekonstruktion um unendliche Gerechtigkeit mit der regulativen Idee aus Kants Kritik der Urteilskraft, die Arendt ja als dessen politische Philosophie bezeichnet hat. Die reflektierende Urteilskraft geht nicht wie
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die subsumierende von einer allgemeinen Regel aus, unter die der Einzelfall subsu‐ miert werden kann, sondern von Einzelfällen, für die man eine Regel zu suchen ver‐ sucht, ohne dieser jemals habhaft zu werden. So schreibt Kant: „Ist aber nur das Be‐ sondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“ (1968 d, 179) Wenn es keine gemeinsamen obersten Werte mehr gibt, versucht man trotzdem zu Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Denkwegen zu gelangen, wie es Arendt formuliert: „Das Urteil, und besonders das Geschmacksurteil, reflektiert über die anderen und ihren Geschmack, berücksichtigt ihre möglichen Urteile. Das ist notwendig, weil ich ein Mensch bin und nicht außerhalb der Gesellschaft von Men‐ schen leben kann.“ (1998, 91) Die Gemeinsamkeit liegt nicht in gemeinsamen Prin‐ zipien, sondern in gemeinsamen Denk-, Wahrnehmungs- und Kommunikationswei‐ sen, über die Engel oder Rechenmaschinen mangels biologischen Körpers nicht ver‐ fügen. So kann man mit dem ästhetischen Urteil auf die Vorstellungen anderer Men‐ schen rekurrieren, um sich in sie hineinzuversetzen. Ohne messianischen oder apo‐ kalyptischen Bezug wird für Arendt, in deren Denken man ihre jüdische Herkunft kaum bemerkt, das ästhetische Urteil daher zum Paradigma des politischen, weil sich dieses weder auf gemeinsame Gesellschafts- noch Gerechtigkeitsvorstellungen berufen kann. Deshalb muss man Menschen verstehen, die eine andere Denkungsart bewegt. Einerseits rekurriert Derrida auf Kants regulative Ideen, andererseits verweist er auf messianische Ideen im Judentum, Christentum und Islam. Er bezieht also diverse Eschatologien oder Teleologien eines postgeschichtsphilosophischen Typus mit ein, seien es neohegelianische oder postmarxistische Modelle. Ihnen eignet ein ähnlicher unendlicher Anspruch der Gerechtigkeit bzw. sie denken in vergleichbaren Horizon‐ ten und immer aus besonderen historischen Situationen heraus, indem sie weitrei‐ chende Möglichkeiten und bestimmte Bedingungen der Gerechtigkeit eruieren und diese mit Versprechen verbinden, die auszumalen durchaus riskant erscheint, jeden‐ falls vor dem Hintergrund des vorherrschenden Rationalismus. „Das Besondere des geschichtlichen Orts (...)“ (1991, 52) – so Derrida – lässt Gemeinsamkeiten und Konkurrenzen zwischen diesen verschiedenen Ansätzen erahnen, „dies aber von einem Rand aus, an dem der Schwindel oder Taumel auf uns lauern, in dem Augen‐ blick, da wir nichts anderes mehr erspähen als Beispiele (...).“ (1991, 53) Je genauer man hinschaut, verliert sich die große Theorie in ihren Details oder Aporien. Theori‐ en und große Begriffe verblassen, so dass nichts anderes bleibt, als sich auf Beispie‐ le zu beziehen, auf Ereignisse oder den Anderen in seiner unendlichen Andersheit. Dabei gerät der Dekonstruktivist in Schwierigkeiten, die jenem Wahn entspricht, der die Gerechtigkeit antreibt. Wenn sich Aporien nicht auflösen, dann muss man das anerkennen und nicht umgehen oder geflissentlich übersehen: der metaphysische Sinn der Dekonstruktion.
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Denn es geht Derrida um eine Gerechtigkeit ohne Recht, ohne Regel, und doch mit Bezug zu Regel und Recht; eine Gerechtigkeit die vom Ereignis, vom Individu‐ um, genauer vom Anderen ausgeht, die sich damit just der dadurch inspirierten Ver‐ antwortung bewusst ist. Das hat Derrida von Lévinas gelernt, der in einem Interview 1981 fragt: „Was wird aus dem Unendlichen, das im Titel von Totalität und Unend‐ lichkeit angekündigt war? Ich scheue das Wort Gott nicht; es taucht in meinen Auf‐ sätzen öfters auf. Das Unendliche kommt mir bei der Bedeutung des Antlitzes in den Sinn. Das Antlitz bedeutet das Unendliche. Dieses erscheint (...) in dieser ethischen Beziehung selbst: das heißt in der Tatsache, dass ich umso gerechter bin, je verant‐ wortlicher ich bin; man ist niemals frei vom Anderen.“ (1992 b, 80) Der Mensch lebt nun mal nicht allein bzw. ist die Philosophie von Menschen entwickelt worden, die in Gesellschaften leben. In seiner Pfingstpredigt 2019 erklärte der EKD-Ratsvorsit‐ zende Heinrich Bedford-Strohm, dass er von privaten Hilfsorganisationen aus See‐ not geretteten Migranten in Italien begegnete: „Ich habe in ihre Gesichter geschaut und das Antlitz Gottes in ihnen gesehen.“ (SZ 11.6.19, R13) Dagegen liest Derrida Lévinas säkular. Das ist auch möglich, da seine religiöse Orientierung innerweltlich verwurzelt ist und sich keinerlei Mystizismen hingibt. So schreibt er 1961: „Alles was man nicht auf eine zwischenmenschliche Beziehung zu‐ rückführen kann, stellt nicht die höhere Form der Religion dar, sondern ihre auf im‐ mer primitive Form.“ (1961, 109) Das würde Scholem schwerlich unterschreiben, eher Hannah Arendt und Derrida. Damit ist jedenfalls klar, dass sich Lévinas nicht wie Hans Joas auf etwas Transzendentes beruft, das die Religion legitimiert, Nicht‐ gläubigen Vorschriften machen zu dürfen, sondern nur auf die zwischenmenschliche Beziehung. Damit hat er eine Struktur entwickelt, die für Religiöse wie für andere gleichermaßen nachvollziehbar und verstehbar ist, während die Berufung auf Tran‐ szendentes sich einem weltlichen Verständnis entzieht. Etwa zur selben Zeit und unter dem indirekten Einfluss von Lévinas verabschie‐ det sich auch Sartre von seinen revolutionären Hoffnungen, bzw. verbindet sie mit Ethik und Gerechtigkeit. Inspiriert wurde er von Benny Lévy, der ihm das Denken von Lévinas nahebrachte, hatten sich beide Philosophen zeitlebens voneinander dis‐ tanziert. So äußert er sich im Gespräch mit Benny Lévy in seinen letzten Jahren: „Die Revolutionäre wollten eine Gesellschaft realisieren, die human und für die Menschen befriedigend wäre; aber sie vergessen, dass eine solche Art von Gesell‐ schaft keine Gesellschaft der Tatsachen ist, es ist eine Gesellschaft, könnte man sa‐ gen, des Rechts. Das heißt, eine Gesellschaft, in der die Verhältnisse zwischen den Menschen moralisch sind. Also ist diese Idee der Ethik als letztes Ziel der Revoluti‐ on von einer Art des Messianismus, (...).“ (1991, 79) Was Benjamin bereits 1921 er‐ kannte, das begreift Sartre erst gegen Ende seines Lebens. Aber Benjamin benutzt diese Einsicht, um die Revolution aufzuschieben, Sartre um sie zu ersetzen, womit er sich vom gewaltorientierten Denken des 19. Jahrhunderts verabschiedet – eine
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Wende, für die Benjamin zu früh gestorben ist. Das Problem ist nicht die Ökonomie, die Marxisten veranlasste, Probleme der Ethik für Überbauphänomene zu halten. Das Problem ist die Gerechtigkeit. Wenn man diese mit der Revolution verbindet, landet man im Messianismus, den Derrida zum Messianischen säkularisieren möchte und damit Sartre gar nicht so fern steht. Trotzdem bleibt das ein religiös inspirierter Gedanke. Ohne diesen Migrationshintergrund kann man die Dekonstruktion nur un‐ zulänglich erklären.
12. Kapitel: Dekonstruktion als politische Philosophie Derrida verknüpft nicht nur das Problem der Unentscheidbarkeit, sondern auch das der Gerechtigkeit ohne Recht mit der Ethik von Lévinas, wenn an die Stelle von Schmitts entscheidendem Subjekt der Andere tritt, der die Frage der Gerechtigkeit aufwirft, indem er in die Verantwortung ruft. Der Andere in seiner unendlichen An‐ dersheit hat bei Lévinas eine ähnliche Funktion wie bei Derrida das Ereignis, dem man weder rechtlich noch deskriptiv gerecht werden kann. Die unendliche Anders‐ heit lässt die Gerechtigkeit selbst verschwimmen, vom Recht ganz zu schweigen, womit die Dekonstruktion wie die Gerechtigkeit selbst wider die Intention Derridas in diverse Aporien geraten. Denn damit entspringt die Gerechtigkeit keiner reinen Rationalität, keiner ab‐ strakten Gemeinschaft, keinem religiös Transzendenten, sondern allein der zwi‐ schenmenschlichen Ebene, die aber nicht auf der Reziprozität beruht. Darin liegt der Anfang der Gerechtigkeit, demgegenüber Rawls‘ Eine Theorie der Gerechtigkeit als Rechts- und nicht als praktische Philosophie erscheint, eigentlich als eine Theorie der Rechtsbegründung und nicht der Gerechtigkeit. Recht gründet für Lévinas nicht auf dem Krieg aller gegen alle, sondern auf der konkreten Verantwortung für den Fremden. Daher avanciert diese Verantwortung als Gerechtigkeit zur Grundlage der Vernunft, geht nach Lévinas die Gerechtigkeit der Wahrheit voraus. Für Derrida ist die daran anschließende Dekonstruktion verrückt nach Gerechtig‐ keit, verkörpert sie für sich wie für viele ihrer Kritiker einen Wahn, der sich doch an den abgebrochen Diskurs zwischen Wahnsinn und Vernunft anschließen lässt, auf den Foucault hinweist. Damit gerät die Gerechtigkeit in ihre entscheidende Aporie, in der sich Vernunft und Wahnsinn miteinander verbinden und die Dekonstruktion als Antwort auf eine Situation erscheint, in der das Denken ‚ohne Geländer‘ aus‐ kommen muss und somit nichts anderes mehr aufstöbert als Aporien, dem die De‐ konstruktion versucht gerecht zu werden. Dann bringt Derrida wie Hegel mit der Dekonstruktion seine Zeit auf den Begriff. Aber kann die Dekonstruktion damit der Gerechtigkeit gerecht werden?
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1. Dekonstruktion als Gerechtigkeit Mit den zahlreichen Aporien hat sich nach Derrida gezeigt, dass man das Recht de‐ konstruieren kann. Das ist auch möglich, weil das Recht eine Geschichte hat, so dass sich verschiedene Rechtsformen historisch miteinander vergleichen lassen. So dia‐ gnostiziert man vor allem Verschiebungen, die Wandlungsprozesse andeuten, was man manchmal sogar als Fortschritt interpretieren darf. Eine Dekonstruktion des Rechts beruht auf dessen Grundlosigkeit bzw. dessen Mangel an Begründung. De‐ konstruktion zielt nicht darauf, Begründungen zu rekonstruieren, sondern strukturell auf Zusammenhänge, deren rationale Begründungen unzulänglich bleiben. Insofern hintergeht die Dekonstruktion sowohl die Kritik, die entweder Grenzen zieht oder Hintergründe aufdeckt, als auch die Genealogie, der es um gegensätzliche Herkünfte geht, sowie die Destruktion Heideggers, die Übersetzungsfehler aufdeckt. Das umschreibt Zima: „Derrida fasst seine Dekonstruktion nicht als Zerstörung auf, sondern als Grenzüberschreitung, Aufdeckung von Widersprüchen und Zerlegung.“ (1994, 30) So sucht die Dekonstruktion nach Lesefehlern und Aporien, ein Geschäft, in das die Zeitgenossen schier von selbst geraten, wenn heute alle Wegweiser für das Denken längst fraglich wurden. Ob die Dekonstruktion damit in die Metaphysik zu‐ rückkehrt, wie Rorty behauptet, darüber darf man streiten. Oder verhalten sich de‐ konstruierende Menschen verantwortungslos, weil sie in den metaphysischen Be‐ gründungen Aporien aufdecken, was Vertrauen zerstört? Dass die Nachfahren Nietz‐ sches Relativisten sind, kann man vermuten. Aber sie zweifeln an den universalisti‐ schen oder gar absoluten Begründungen von Wissen, Recht und Gerechtigkeit. Ist das verantwortungslos? Aber mit einem ähnlichen Vorwurf von Seiten Gläubiger sa‐ hen sich Weltliche schon in der Aufklärung konfrontiert. Derrida insistiert indes darauf, dass die Dekonstruktion des Rechts für es selbst von Vorteil und nicht von Nachteil ist. Nur dadurch lässt sich so etwas wie ein Fort‐ schritt des Rechts beurteilen, was für die Politik nützlich, ja unabdingbar ist. Damit formuliert Derrida ein Paradox, das wie eine Tautologie klingt: „Weil sie sich dekon‐ struieren lässt, sichert die Struktur des Rechts oder (...) der Gerechtigkeit, der Justiz als Recht, die Möglichkeit der Dekonstruktion.“ (1991, 30) Die Struktur des Rechts ermöglicht die Arbeit der Dekonstruktion, weil sich Lesefehler und Aporien zuhauf aufdecken lassen, weil sich bei genauerer Betrachtung das Recht in Widersprüche und Ungereimtheiten verwickelt – was sich allerdings auf alle moderne Epistemolo‐ gie ausdehnen lässt, was sich von religiösen oder ideologischen Gewissheiten unter‐ scheidet. Eine Kritik des Rechts, wie sie Benjamin entfaltet, führt aus dem Recht hinaus in die Geschichtsphilosophie. Eine marxistische Kritik des Rechts konzentriert sich auf die Ökonomie. Eine Genealogie des Rechts im Stile Nietzsches führt schlicht in das Unrecht als Gewalt einer Mnemotechnik, die mit Grausamkeit die Menschen züch‐
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tet. Eine Dekonstruktion des Rechts dagegen analysiert die Zusammenhänge zwi‐ schen Recht, Gewalt, Justiz und Gerechtigkeit, wobei es Derrida nicht darum geht, dem Recht ein Fundament zu verleihen, sondern um in diesen Strukturen Aporien zu eruieren. Allerdings macht Derrida ja die Einschränkung: „Wenn es so etwas gibt wie die Gerechtigkeit als solche, eine Gerechtigkeit außerhalb oder jenseits des Rechts, so lässt sie sich nicht dekonstruieren. Ebenso wenig wie die Dekonstruktion selbst, wenn es so etwas gibt.“ (1991, 30) Das darf man allerdings doppelt bezweifeln. Wenn man davon ausgeht, dass Dekonstruktion zu einem gängigen Welt-, Rechts und Staatsverständnis avanciert, dann verschwimmt einerseits die Gerechtigkeit. An‐ dererseits wird an sie aber auch immer wieder auf andere Weise appelliert, z.B. in‐ dem man gegen Diskriminierung protestiert. Dabei eröffnet sich ein unendlicher Prozess, ist ein finaler gerechter Zustand schlicht unabsehbar, sogar unmöglich oder absurd. Es kann keine vollkommene Gerechtigkeit geben, in welch ferner Zukunft auch immer, nicht auf Erden... Für Derrida lässt sich die Gerechtigkeit als Begriff so wenig bestimmen, wie sich die Dekonstruktion als ein begrifflicher Komplex präsentiert, so dass sich beide nicht dekonstruieren lassen. Wenn zudem die Dekonstruktion dem Recht nachspürt, wenn sie es analysiert, dann erhebt sie damit nicht nur einen Anspruch auf sachliche Objektivität im Sinn von Max Weber oder als Wahrheit ähnlich wie bei Dworkin. Darüber geht sie vielmehr hinaus und strebt eine Form der Angemessenheit an, mit der sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, die sich also dem Anspruch der Ge‐ rechtigkeit annähert in dem Sinn, dass Dekonstruktion selber die Gerechtigkeit prak‐ tiziert oder verkörpert. Wie sich im I. Teil zeigt, lässt sich das Recht nicht zwischen positivem und Na‐ turrecht entwickeln. Der Ausnahmezustand überschreitet beide. So spricht Derrida: „Vielleicht verhält es sich gerade so, weil sich das Recht (...) konstruieren lässt, in einem Sinne, der den Gegensatz zwischen Konvention und Natur übersteigt; (...) vielleicht lässt es sich deshalb auch dekonstruieren, oder besser: ermöglicht es die Dekonstruktion, das Praktizieren einer Dekonstruktion,“ (1991, 30) Wenn das Recht immer mit seiner Aufhebung und Infragestellung im Ausnahmezustand gleich wel‐ cher Couleur rechnen muss, weil es sich erst aus solcher Gewalt heraus entwickelt, dann dekonstruiert sich das Recht notorisch selbst. Bzw. die Gerechtigkeit stellt das Recht notorisch in Frage. Die Gerechtigkeit dekonstruiert das Recht, weil sie im Recht immer wieder Aporien entdeckt, die nach einer Veränderung verlangen, ge‐ nauer nach Gerechtigkeit. Umgekehrt wiederum ermöglicht das Recht seine Dekonstruktion ob seines Be‐ zugs zum Ausnahmezustand wie zu einer stiftenden Gewalt, damit zu seiner eigenen Grundlosigkeit. Die Gewalt stiftet das Recht und öffnet damit das Einfallstor für die Gerechtigkeit, um das Recht ob seiner Haltlosigkeit zu dekonstruieren. Genauso de‐
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konstruiert der Ausnahmezustand das bestehende Recht. Oder das Recht lebt von dem ihm Anderen, heißt dieses Andere Ausnahmezustand, Mystik der Autorität, Ge‐ rechtigkeit oder alles zusammen: Dekonstruktion. Wenn Gerechtigkeit jenseits des Rechts operiert, dann ist ihr Gestus gegenüber dem Recht als dekonstruktiv zu bezeichnen, da Gerechtigkeit dann dieses Recht in Frage stellt, es daraufhin befragt, ob dieses Recht gerecht ist. So wäre diese Gerech‐ tigkeit als ein bloßer quasi inhaltsleerer Anspruch ihrerseits nicht dekonstruierbar, so als wenn jemand fragt: Ist das gerecht? Doch nicht alle Formen der Gerechtigkeit, nämlich jene, die ein bestimmtes Recht verteidigen, beinhalten eine dekonstruktive Perspektive. Diese ergibt sich um‐ gekehrt aus der Selbstermächtigung des Rechts durch Gewalt wie aus dessen Aufhe‐ bung durch den Ausnahmezustand, die ja zwei Varianten der Dekonstruktion darstel‐ len. Erstere offenbart die Grundlosigkeit des Rechts, die zweite verlängert diese der‐ art, dass sich bei Schmitt zeigt, dass Recht vom Rekurs auf eine Gewalt als Ausnah‐ me abhängig ist, dass Recht selbst nach Agamben auf der Schwelle zwischen Rechtszustand und Naturzustand pendelt, womit es seine Ungerechtigkeit demons‐ triert. Denn Agamben schreibt: Schmitts Verbindung von Ausnahme- und Rechtszu‐ stand „ist insofern paradox, als das, was ins Innere des Rechts hereingenommen werden soll, sich dem Recht als wesensmäßig äußerlich erweist, dass es sich dabei um nichts Geringeres als die Suspendierung der Rechtsordnung selbst handelt (daher die widersprüchliche Formulierung: ‚...besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung‘).“ (2003, 43) Just hier scheiden sich die Geister zwischen Recht und Gerechtigkeit. Schmitt beruft sich auf de Maistre: „tout gouvernement est bon lorsqu’il est établi.“ (zit. bei Schmitt 2004, 60) Aber ist eine rechtlose Ordnung, in der diskriminiert, gefoltert und gemordet wird, etwa bes‐ ser als der Naturzustand und für wen? Ist eine rechtlose Ordnung überhaupt eine Ordnung? Hat Fraenkels Maßnahmenstaat eine Ordnung? Auch in dieser Form stellt sich eine enge Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Dekonstruktion her. So entsteht die Dekonstruktion just in einem ‚Zwischenraum‘, der sich zwischen der Dekonstruierbarkeit des Rechts und der vermeintlichen Nicht‐ dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit eröffnet. Das Recht braucht die Gerechtigkeit nicht in erster Linie – das ist die Gewalt – nur in zweiter Linie – wenn man diese Gewalt als gerecht akzeptieren soll. Das öffnet Spielräume des Rückgriffs auf die Gerechtigkeit. Umgekehrt lässt die Gerechtigkeit dem Recht aber keine Ruhe, indem es das Recht unter Perspektiven betrachtet, die es dekonstruieren. Einerseits erwei‐ sen sich diese Perspektiven als intern angelegt und andererseits treten sie von außen her an das Recht heran. Zwar lässt sich eine ideale Gerechtigkeit unabhängig von sozialen Strukturen höchstens als göttliche vorstellen und diese verschwimmt unfassbar, wie sich im ers‐ ten Kapitel zeigte. Doch wenn eine Gerechtigkeit jenseits des Rechts oder ohne
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Recht vorhandene Rechtsverhältnisse in Frage stellt, lässt sich eine solche Hinterfra‐ gung selbst noch in Aporien und Widersprüche verwickeln, wie sich im zehnten Ka‐ pitel zeigt. Denn soll die vom Recht unabhängige Gerechtigkeit selbst das Recht de‐ konstruieren, seine Strukturen und Ungerechtigkeiten aufzeigen, ließe sich einem solchen Unterfangen eine Parteilichkeit nachweisen, wenn die Dekonstruktion ihr Tun nicht selbst wiederum reflektiert, und das bedeutet: dekonstruiert. Erst dann lie‐ ße sich beinahe sagen: Gerechtigkeit ist Dekonstruieren – aber eben nur als eine Ge‐ rechtigkeit ohne Recht, als ein Anspruch, der Recht hinterfragt – und der sich jen‐ seits von Derrida auf die Gerechtigkeit selbst richten müsste. Aber das ist nun mal nicht die einzige Form von Gerechtigkeit bzw. nicht das ein‐ zige Gerechtigkeitsverständnis, gibt es schließlich eine davon verschiedene Gerech‐ tigkeit des Rechts und nicht nur diese, sondern viele verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit, die das Recht nicht dekonstruieren, sondern womöglich legitimieren. So rechtfertigt Rawls‘ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness ein bestimmtes li‐ berales Recht, das unter demokratischen Umständen gebraucht wird. Daher lautet der Titel des vorliegenden Buches eben nicht: ‚Gerechtigkeit als Dekonstruktion‘, wird der Titel des vierten Teiles ja in Frage gestellt. Nicht nur dass die Gerechtigkeit die Dekonstruktion braucht, vielmehr erhält die Dekonstruktion dadurch einen Charakter, der sie mit der Gerechtigkeit verknüpft. So sagt Derrida über die Dekonstruktion: „Als Erfahrung des Unmöglichen ist sie, selbst wenn es sie (noch) oder nie gibt, dort möglich, wo es Gerechtigkeit gibt.“ (1991, 31) Man darf wohl einschränken, dass die Dekonstruktion weniger von einer Unmög‐ lichkeit durchtränkt ist als die Gerechtigkeit. Dabei handelt es sich doch eher um fal‐ sche Bescheidenheit. Und nicht überall wo sich die Dekonstruktion vorfindet, geht es um Gerechtigkeit in Bezug auf das Recht. Aber Gerechtigkeit hat auch ein ande‐ res Bedeutungsfeld jenseits des Rechts und in diesem spielt die Dekonstruktion mit. Dekonstruktion heißt einer Angelegenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gleichgültig worum es sich dabei handelt, beispielsweise um die Sprache, um die Kunst, um die Philosophie. So weist Derrida den Vorwurf zurück, Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit mit der Dekonstruktion vernachlässigt zu haben, „die im Grund stets Rechtsfragen, Fragen der Rechtmäßigkeit und der Berechtigung, Fragen die das Recht betreffen, aufwirft.“ (1991, 30) Es geht der Dekonstruktion strukturell um rechtsaffine Fragen, so dass sie nicht nur von der Seite der Gerechtigkeit mit dieser verbunden ist, son‐ dern sich aus der Perspektive der Dekonstruktion auf die Gerechtigkeit ausrichtet, ja sogar mit dieser tendenziell gleichgesetzt werden kann, wiewohl sie nicht das ge‐ samte Feld der Gerechtigkeit abdeckt, so dass man nicht konsequent behaupten kann, dass Gerechtigkeit grundsätzlich Dekonstruktion sei.
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Aber umgekehrt lässt jede Dekonstruktion Gerechtigkeit walten. So gipfelt Derri‐ das Gesetzeskraft, d.h. seine beiden Vorträge aus dem Jahr 1989, im einem State‐ ment, das Derrida am Anfang des Textes formuliert – also sprach Derrida: „Die De‐ konstruktion ist die Gerechtigkeit.“ (1991, 30) Darauf will alle Dekonstruktion hi‐ naus. Das ist der zentrale Grundgedanke nicht nur der Gesetzeskraft, sondern der Dekonstruktion überhaupt und damit des Derridaschen Denkens. Ob seine Marx-Studien oder die Politik der Freundschaft, ob er sich mit Heidegger oder Freud beschäftigt, überall operiert die Dekonstruktion als Gerechtig‐ keit in doppelter Perspektive nämlich erstens um dem Gegenstand gerecht zu wer‐ den und zweitens um die politisch philosophische Dimension des Gegenstandes zu eruieren, um ihn ins Verhältnis zum Recht und zur Gerechtigkeit zu setzen. Susanne Lüdemann hält das alles für etwas hochgegriffen: „Die Sätze ‚Die Ge‐ rechtigkeit ist undekonstruierbar‘ und ‚Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit‘ sind, um das Mindeste zu sagen, kühn – man könnte sie auch pathetisch nennen; sie schlagen eine sehr fragile Brücke (...).“ (2011, 108) Jedenfalls in dem Augenblick, wenn Gerechtigkeit ihre Inhaltsleere überschreitet, dann sieht sie sich Nachfragen ausgesetzt, die sie dekonstruieren. Die Gerechtigkeit muss über Derrida hinaus de‐ konstruiert werden, um der Gerechtigkeit gerecht zu werden, indem die Gerechtig‐ keit darüber nachdenkt, was sie treibt. Dasselbe gilt für die Dekonstruktion, die gleichfalls dekonstruiert werden muss. Widersprechen muss man Lüdemann in einer anderen Hinsicht: Denn dass es der Dekonstruktion um Gerechtigkeit geht, das führt Derrida in den neunziger Jahren vor. Das lässt sich schwerlich bezweifeln. Aber man kann der Dekonstruktion vor‐ werfen, sie verfehle ihr Ziel. Vielleicht würde das sogar damit zu tun haben, dass Dekonstruktion als Gerechtigkeit zu weit reicht. Wird der Totalitarismus wiederkeh‐ ren, weil die Demokratie zu komplex und Gerechtigkeitsfragen zu kompliziert sind? Weil zu wenige oder zu viele sich für die Dekonstruktion interessieren oder sie prak‐ tizieren? D.h. wenn sie sich in ihren Nachfragen nicht darum bemühen, Begriffe zu stabilisieren, sondern diese immer weiter zu destabilisieren? Muss nicht an dieser Stelle die Dekonstruktion allemal auf sich selbst angewandt werden, und sei es nur darum, um ihre weitere Ausbreitung einzudämmen? Oder hat sie sich längst erledigt? Doch es wäre für Derrida allein schon eine gro‐ ße Ehre, wenn Peter Sloterdijk Recht behielte. Denn für diesen „wird die Derrida‐ sche Verknüpfung der Begriffe Dekonstruktion und Gerechtigkeit wahrscheinlich binnen weniger Jahrzehnte zerfallen und außerhalb einer spezialisierten Nische nicht mehr plausibel sein. (...) Er neigte zu dem charmanten Trugschluss, seine akademi‐ schen Erfolge seien Erfolge in der Welt oder für die Welt.“ (2016, 174) Wird die De‐ konstruktion wie die Gerechtigkeit dadurch dekonstruiert, weil man sich an dem ori‐ entiert, was für den Leser der Bild-Zeitung wie deren Redakteure plausibel scheint? Oder für jemanden, der angesichts der weltweiten Migrationsbewegungen und der
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Millionen von Vertriebenen den Populisten zujubelt? Das ist natürlich nicht auszu‐ schließen. Daher muss man Gerechtigkeit und Dekonstruktion ihrerseits reflektieren und nach ihren Effekten fragen, was Derrida unternimmt, wenn er nach der Dringlich‐ keit, der Angst oder dem Wahn fragt. Also betreibt Derrida selbst eine Dekonstrukti‐ on der Dekonstruktion wie der Gerechtigkeit, wiewohl mit beschränkter Reichweite. Es kann indes auch zu viel des Guten geben. Wie bemerkt doch Montesquieu: „Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig.“ (1965, 211) Das gilt umso mehr für den guten Willen wider Kants Diktum: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (1968 b, 393) Nein, alles hat Einschränkungen nötig! Also müssen auch Gerechtigkeit und Dekonstruktion de‐ konstruiert werden. Wenn die Dekonstruktion ihren Gegenständen gerecht zu werden versucht, reali‐ siert sie die Gerechtigkeit, so dass Dekonstruktion als Gerechtigkeit firmiert, nicht aber umgekehrt. Vladimir Jankélévitch antizipiert 1964 die Dekonstruktion als Ge‐ rechtigkeit bzw. führt vor, dass sie längst im Gang ist: „Gerecht sein bedeutet dann, jede Sache für sich zu sehen, keinen ‚Standpunkt‘ einzunehmen; oder noch besser: es bedeutet, nacheinander eine Unendlichkeit von Standpunkten einzunehmen, so dass sie sich gegenseitig berichtigen; so entgehen wir allen einseitigen ‚Zentrismen‘, finden die Unparteilichkeit und die Gerechtigkeit der Vernunft wieder.“ (2012, 32)
2. Dekonstruktion und Emanzipation Mit seinem Verständnis von unendlicher Gerechtigkeit, von Gerechtigkeit ohne Recht will Derrida keinesfalls dafür plädieren, dass man sich aus den konkreten po‐ litischen Auseinandersetzungen zurückzieht, im Gegenteil. Dazu bieten sich zwei Wege an. Der erste wäre die politische und staatliche Bemühung, das herrschende Recht gerechter zu gestalten. Nicht dass Derrida dergleichen ausschließt. Aber diese Bemühung reicht nicht weit genug, wird der Gerechtigkeit doch nicht gerecht wer‐ den, sondern höchstens in einer Moderation staatlicher Gewalten verharren, wie es sich bei Benjamin zeigt und maximal auf apokryphe Eingriffe hoffen. Die andere Perspektive formuliert einen hohen Anspruch, der sich indes nicht als ein Modell einer gerechten Gesellschaft und eines gerechten Staates entwerfen lässt, wie es Platon und die Utopisten versuchen: Sie schaffen Menschen nach ihrem Bilde und dem sollen sich dann die Zeitgenossen womöglich noch bis in alle Ewigkeit un‐ terwerfen. Da sie sich dem gemeinhin verweigern, wird Rousseau deren Kinder an‐ ders erziehen oder Platon und Campanella entwerfen Politik gleich als Menschen‐ züchtung. Campanellas Sonnenstaat, so berichtet ein Reisender von der fernen Insel,
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„obliegt vor allem die Sorge für die Fortpflanzung, damit Männer und Frauen so miteinander verbunden werden, dass sie den besten Nachwuchs hervorbringen. Sie spotten über uns, weil wir der Fortpflanzung der Hunde und Pferde unsere eifrige Sorge widmen, die der Menschen aber vernachlässigen.“ (1960, 119) Erziehung und Züchtung ist seit Platon das Programm nicht nur von Tyrannen, son‐ dern gerade von Philosophen und auch von Demokraten. Zumindest steuert der Staat die Erziehung und mit dem Gesundheitswesen die Bevölkerungsentwicklung. Doch das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, bzw. umkreist diese höchstens in großer Dis‐ tanz. Der hohe Anspruch verheißt keine gedankliche Höhe, sondern kommt mit seiner Übermäßigkeit auf die Zeitgenossen zu, so dass sich Gerechtigkeit weder in der Uto‐ pie noch im Recht noch in einer Art Berechnung darstellen, erfassen oder verwirkli‐ chen lässt. Stattdessen präsentiert sich die unendliche Gerechtigkeit als undarstell‐ bar, lässt sie sich nicht konkret bestimmen, muss man indes daran erinnern, dass das die Schwäche der Gerechtigkeit ausmacht, wenn sie sich einfach nicht pragmatisch umsetzen oder gar anwenden lässt, so dass sie hier in eine gewisse wiederum zu de‐ konstruierende Aporie schliddert. Damit gerät die Gerechtigkeit in die Gefahr missbraucht zu werden. Denn sie lässt sich ja weder durch Berechnung oder durch Regeln vor einem solchen Miss‐ brauch bewahren. So überrascht Derrida mit der folgenden Feststellung: „Die jeder Berechnung, jedem Kalkül gänzlich fremde Gerechtigkeit befiehlt also die Berech‐ nung und das Kalkül.“ (1991, 57) Wie ist das möglich? Nun, weil sich die Gerech‐ tigkeit nur durch das ihr Fremde vor ihrem Missbrauch schützen kann. So schreibt Derrida weiter: Denn „dieses Berechnen muss sich so eng wie möglich an jenes hal‐ ten, was man mit der Gerechtigkeit in Verbindung bringt: das Recht, die juridische Sphäre, die man durch eine Abgrenzung nie völlig zu isolieren vermag, deren Gren‐ zen also nie sicher sind“. (1991, 57) Die Gerechtigkeit verliert als unendliche nicht den Bezug zum Recht, auch wenn sie im Anschluss an Lévinas vom Anderen und dem Ereignis ausgeht und auf beide gerichtet ist. Dazu ist es nötig, das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht sowohl zu berechnen, als auch dabei das Unbere‐ chenbare zu beachten, ohne dass man dafür eine Regel angeben könnte. Die Per‐ spektive darf sich dabei nicht auf den Ort und die Zeit beschränken, in der man sich befindet, nicht auf die bekannten moralischen, politischen oder rechtlichen Perspek‐ tiven. So sind die gängigen Unterscheidungen zwischen Internationalem und Nationa‐ lem oder Privatem und Öffentlichen so zu überschreiten, dass Perspektiven entste‐ hen, die diese Bereiche miteinander verbinden: „Man muss nicht nur kalkulieren, den Bezug zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren aushandeln – und zwar ohne Regel: ohne Regel, die man nicht dort, wo wir ‚geworfen‘ sind, wo wir uns aufhalten, wieder erfinden müsste –; man muss dies auch in der
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größtmöglichen Entferntheit tun, jenseits des Ortes, an dem wir uns aufhalten, (...).“ (Derrida 1991, 58) Zwischen „nicht“ und „dort“ müsste man wohl ein „nur“ ergän‐ zen, wie es sich aus dem Schluss des Satzes ergibt. Umgekehrt neigt auch das Recht dazu zu expandieren, immer weitere Bereiche zu juridifizieren. Wer sich an der Gerechtigkeit ohne Recht orientiert, muss diese sich ständig verschiebenden und aufschiebenden Grenzen des Rechts im Auge behalten, weil es dabei in letzter Konsequenz um Gerechtigkeit geht, sowohl um die Gerech‐ tigkeit des Rechts als auch um dessen Ungerechtigkeit. Das gilt – so Derrida weiter – für „all jene Bereiche schließlich, von denen man das Recht nicht abtrennen kann, die in es hineinreichen und die nicht mehr bloß(e) Bereiche oder Felder sind: das Ethische, das Politische, das Ökonomische, das Psycho-Soziologische, das Philoso‐ phische, das Literarische usf.“ (1991, 57) Auch in diesen Bereichen spielen Fragen der Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Dabei versteht Derrida den Prozess der Politisierung als einen andauernden, der an kein Ende kommen kann, was nur eine totale Politisierung mit sich bringen wür‐ de. In der Tat stoppt der Totalitarismus welcher Couleur auch immer den ungeregel‐ ten Prozess der Politisierung, der von jeweils Betroffenen oder Interessierten aus‐ geht, indem er alle Bereiche des Lebens auf seine Weise politisiert: dann darf nichts mehr politisiert werden. Totalisierung heißt Entpolitisierung, weil dadurch die Un‐ terschiede zwischen den Menschen eingeebnet werden „Dem Terror gelingt es, Men‐ schen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singu‐ lar, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, (...)“ (2003 a, 965) konstatiert Hannah Arendt 1951. Insofern muss man die implizite Frage von Liebsch verneinen: „Es fragt sich, ob es überhaupt eine unpolitische Polemologie geben kann.“ (2015, 208) Krieg ist immer das Ende der Politik, kann es keine politische Lehre vom Krieg geben, organisiert Schmitt den Staat des Ausnahmezustands und des Feindbegriffs jenseits der gängigen politischen Probleme. Denn jenseits des Totalitären ist Politisierung mit einer Verschiebung des Verhält‐ nisses von Gerechtigkeit und Recht verbunden. Dann wird das Recht mit neuen An‐ sprüchen und somit neuen Regeln konfrontiert, die sich einem Gerechtigkeitsemp‐ finden angesichts erlittener Ungerechtigkeit verdanken, so dass das Recht neu gele‐ sen und gedeutet wird. Als Beispiele erwähnt Derrida die Menschenrechtserklärun‐ gen, die Aufhebung der Sklaverei sowie die diversen Befreiungskämpfe gestern und heute als Emanzipationsprozesse – man denke im 20. Jahrhundert an die Bürger‐ rechtsbewegung in den USA, an die Frauenemanzipation, an die Ökologie- und die Friedensbewegung, an die Emanzipation von Lesben und Schwulen, Behinderten, Minderheiten, Zuwanderern. So bekennt Derrida: „Nichts scheint mir weniger veral‐ tet zu sein als das klassische emanzipatorische Ideal. Man kann heute nur dann ver‐ suchen, es (auf ausgeklügelte Weise oder in grobschlächtiger Manier) zu diskreditie‐
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ren, wenn man sich einer gewissen Leichtfertigkeit schuldig macht und die schlimmsten Bünde eingeht.“ (1991, 58) Damit widerspricht Derrida nicht nur jenen Kritikern, die die Dekonstruktion wie Sloterdijk als ästhetische Spielerei betrachten, bei der Politik nicht viel bedeutet, und die die Emanzipationsbemühungen für eine Kinderei von ‚Menschenjungen‘ halten. Derrida distanziert sich gleichfalls von jenen, die sich auch der Dekonstruktion be‐ dienen, just um solche Emanzipationsprozesse und den Anspruch auf Mündigkeit von Diskriminierten zu verabschieden, die sich dabei avantgardistisch, postmodern und französisch geben, sich aber vom Sog der Rechten anziehen zu lassen. Wie schreibt doch Slavoj Žižek 2017, nachdem einige Millionen Syrer aus ihrem Land vertrieben worden waren und die fernen US-Amerikaner wiewohl nicht mehrheitlich Trump gewählt hatten: „Die Populisten haben die Irrationalität jenes rationalen An‐ satzes durchaus richtig erkannt, ihre Wut auf gesichtslose Institutionen, die in nicht transparenter Weise ihr Leben regulieren, ist vollkommen berechtigt.“ (2017, 306) Für Leute wie Žižek gilt das, was Derrida im letzten Zitat sagt: trickreich oder leichtfertig. Auch im Kontext mit diesen Emanzipationsbestrebungen wie von Befreiungs‐ kämpfen öffnen sich für Derrida jenseits der üblichen Bereiche von Staat und Politik zugleich neue Felder der Politisierung, die man gemeinhin als unwesentlich oder marginal betrachtet. „Dieses Marginale bedeutet auch, dass hier Gewalt(tätigkeit), ja Terrorismus und andere Formen der Geiselnahme (. . .) wirksam sind und sich gel‐ tend machen (...).“ (1991, 59) Das bezieht sich indes nicht allein auf außerinstitutionelle Gruppen oder Bewe‐ gungen, die ihrer Diskriminierung und Unterdrückung widerstreiten, sondern auch auf die staatlichen Institutionen, die mit ähnlichen Gewaltmaßnahmen reagieren und die dadurch die Politisierung wie die Verrechtlichung unterstreichen. Die Beispiele, die Derrida hier anführt, bleiben weitgefächert und bei allen ist die Tendenz nicht eindeutig formuliert, beispielsweise wenn er die Abtreibung nur als solche erwähnt und daran anschließend auf die Euthanasie, Organverpflanzung und auf ein Gebären außerhalb der Gebärmutter hinweist. Aber es gehört zum Habitus vieler Intellektuel‐ ler, sich gegen die Legalisierung der Abtreibung auszudrücken. Dass er Bio-enginee‐ ring, ‚medizinische Laborversuche‘ und den Diskurs über Aids skeptisch beäugt, darf man annehmen. Trotzdem gilt für Derrida als Verfechter der Emanzipation ge‐ genüber der Macht des Staats und der Gewalt des Rechts, was Michael Walzer for‐ muliert: „Wahrscheinlich sind wir eher dazu verpflichtet, für die ‚Wahrheit’ das Wort zu ergreifen als das Schwert. Und dasselbe gilt für ‚Gerechtigkeit’.“ (Walzer 1996, 31) Derrida kritisiert die Drogenpolitik, den Umgang mit Nichtsesshaften und mit Tieren, Bereiche, die zunehmend politisiert werden. Vor allem verweist er auf Pro‐ zesse, bei denen bisher Marginalisiertes ins Feld der Politik tritt, wenn das Militär
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Forschungsergebnisse der Wissenschaften nutzt, wenn die Erziehung staatlichen In‐ teressen dient – man dürfte hier an die Ökonomisierung im doppelten Sinn denken, einmal die Privatisierung von Schulen und an die Ausrichtung von Lerninhalten an ökonomischen Interessen. Derrida beschäftigt sich wiewohl zumeist nur en passant und oberflächlich mit Angelegenheiten, um die sich gemeinhin die Zivilgesellschaft kümmert. Ansatzweise bezweifelt Alfred Hirsch Derridas Orientierung an der Emanzipation. Hirsch schreibt 1999: Der Schrift bei Derrida „wohnt dabei ein eman‐ zipatorischer Gestus inne, der zwar nicht in bester aufklärerischer Tradition eine Be‐ freiung aus der ‚selbstverschuldeten‘, aber doch aus einer ‚Unmündigkeit‘ ist. Denn die Arbeit der Dekonstruktion wendet sich erklärtermaßen denjenigen Residuen der Ordnung der Sprache und des Sinns zu, die im Rahmen der Herrschaft des Logos und des okzidentalen Ethnozentrismus marginalisiert, vereinnahmt oder ausgegrenzt wurden.“ (1999, 5) Doch der Emanzipationsgedanke hat sich seit der Aufklärung ge‐ wandelt, geht es nicht mehr um die Entfaltung des wahren Wesens der Menschheit, die vielleicht von bestimmten sozialen Gruppen repräsentiert wird. Vielmehr – da‐ rauf hat ja Vattimo hingewiesen – ergreifen zunehmend Minderheiten das Wort, wol‐ len Diskriminierung überwinden und beanspruchen Teilhaberechte dort, wo sie ih‐ nen bisher verweigert wurden. In der Perspektive solcher Emanzipationsbestrebungen hat die Dekonstruktion da‐ her auch keinen primär ökonomischen Sinn, der sozialphilosophisch gemeinhin ge‐ fordert wird. Das ist Derrida von Pierre Bourdieu bereits 1979 vorgehalten: „Die von der Philosophie verkündete radikale Infragestellung findet ihre faktischen Schranken an den Interessen, die sich aus der Zugehörigkeit zum Feld der philosophischen Pro‐ duktion ergeben, anders gesagt an der Existenz dieses Feldes und der damit gegebe‐ nen Zensur.“ (1982, 197) Hier argumentiert Bourdieu beinahe noch marxistisch, al‐ lemal unter dem Primat, dass Philosophie ihre sozialen Bedingungen reflektieren müsste, um eine Art der Ideologiekritik zu betreiben. Radikale Reflexion übergeht die entscheidenden ökonomischen Bedingtheiten, ja lenkt womöglich das Interesse davon ab. Noch 15 Jahre später wird Zima einen ähnlichen Vorwurf formulieren: „Das kritische – im wesentlichen rhetorische – Instrumentarium, über das die De‐ konstruktion verfügt, gestattet ihr nicht, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext zu erschließen, in dem sie entstanden ist und in dem sie wirkt.“ (1994, 201) Aber die Dekonstruktion steht für eine Wende der Sozialphilosophie, wenn die Ökonomie in den Hintergrund tritt und es stattdessen stärker um technologische, rechtliche oder ethische Fragen geht, was sich nicht mehr als Überbauphänomene abtuen lässt und bei denen es nicht primär um die Ökonomie geht. Auch einer der bedeutendste Soziologen des 20. Jahrhunderts, Ulrich Beck interessiert sich in seiner Subjektsoziologie stärker für Probleme der individuellen Existenz. Lüdemann zieht daraus die Konsequenz für ein verändertes Verständnis von Gerechtigkeit: „Derrida bringt nun einen demgegenüber völlig anderen Gerechtigkeitsbegriff ins Spiel, der –
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zumindest dem Anspruch nach – anökonomisch, asymmetrisch, maß-los und unbe‐ rechenbar ist.“ (2011, 105) Dekonstruktion konzentriert sich auf das Ereignis, das Individuum, das Denken, das sich mit keinen Schematismen und keinen Begriffen zufrieden gibt.
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Nachwort: Die Frage und die Dekonstruktion
Nach Derrida geht die Dekonstruktion methodisch auf zwei Wegen vor sich, die er Bahnen oder Stile nennt. „Der eine Stil ist von begründender und dem Anschein nach ungeschichtlicher Art: vorgetragen, vorgeführt werden logisch-formale Parado‐ xien.“ (1991, 44) Systematisch werden in Texten mehr als bloße Widersprüche auf‐ gedeckt, die sich nicht auf die formale Logik beschränken, oder die sich dialektisch aufheben lassen. In beiden Fällen gibt es für solche Widersprüche zumeist Lösun‐ gen. Die Paradoxien, um die es in der Dekonstruktion geht, sind struktural konstitu‐ iert, lassen sich nicht aufheben, präsentieren sich vielmehr als Aporien, wie es Derri‐ da nicht nur hinsichtlich von Recht und Gerechtigkeit vorführt. Der zweite Weg der Dekonstruktion – ihre zweite ‚Methode‘ – hat eine stärker historische Ausrichtung: „Der andere, geschichtlicher und anamnestischer, scheint der eines Lesens von Texten zu sein, einer sorgfältigen Interpretation und eines ge‐ nealogischen Verfahrens.“ (1991, 44) Das zielt zunächst auf eine intensive wie ex‐ tensive Interpretation, die die internen wie die externen Bezüge eines Textes ermit‐ telt. Auf keinen Fall soll die Interpretation dabei etwas vereinfachen: „Eine Unzahl offenbar heterogener Aussagen wäre nicht allein wiederzulesen, sondern miteinan‐ der in Einklang zu bringen. Zudem gälte es – eine furchteinflößende und bislang noch gar nicht ins Auge gefasste Aufgabe –, die ebenso maßlose wie konsequente Vielfalt der Farben und Klangfarben jener Reden zu berücksichtigen, die Zarathustra an seine ‚Brüder‘ richtet (...)“ (Derrida 2002, 95). Dabei bezieht er sich auf die Genealogie, ähnlich wie sie Nietzsche eingeführt und damit das Denken revolutioniert hat, worauf vor allem Foucault zurückgreift. Genealogisch müssen Herkünfte nicht nur historischer, sondern auch systematischer Art eruiert werden, und zwar solche, die nicht auf der Hand liegen, wo sie vielmehr gegensätzlich oder widersinnig erscheinen. Doch diese Gegensätze erweisen sich als Übergänge, nicht als ständig wiederkehrende Aporien, wie in der Dekonstruktion, also nicht als Hürden, sondern als Brandbeschleuniger. So leitet Nietzsche das Gute aus dem Bösen ab: „Es liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort ‚gut’ sich von vornherein durchaus nicht notwendig an ‚unegoistische‘ Handlungen anknüpft: wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist.“ (1999 c, 260) Und Foucault nimmt an, „dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, aus‐ nutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen“ (1977, 39). Nietz‐ sche und Foucault haben ein anderes Verfahren entwickelt, das eine andere Perspek‐ tive als die Dekonstruktion entfaltet, auf die die Dekonstruktion höchstens zurück‐ greift. Die Dekonstruktion bedient sich jedenfalls beider Verfahren zumeist gleich‐
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zeitig und in enger Verbundenheit. So könnte man die Dekonstruktion als eine Fo‐ kussierung der Genealogie betrachten. An die Stelle des Gegensätzlichen gegenüber dem zu Erläuterndem treten Aporien, die keine Übergänge zulassen, wären sie dann nämlich keine Aporien mehr. Aber anders als die Kritik erklären Genealogie und Dekonstruktion nichts, sondern beschreiben problematische Zusammenhänge als Hintergründe von Ereignissen. So wird das Recht in seiner Komplexität dekonstruiert und die enge Beziehung zwischen Recht und Gewalt entborgen. Das aber stellt ja schon Benjamin ohne De‐ konstruktion auf rein analytischem Weg fest, was für Derrida der Dekonstruktion na‐ hekommt. Freilich reduziert sich die Dekonstruktion nicht auf diese rein analytische Perspektive auf fundierende Elemente. Denn die Dekonstruktion gibt sich weder mit vermeintlichen Gewissheiten oder angeblich unvermeidlichen Fundamenten, noch mit simplen Gleichungen, noch mit primitiven Differenzen, den einfachen Antwor‐ ten, auch nicht mit der Reduktion von Komplexität zufrieden. Vielmehr dringt sie in diese ein und entwickelt sie zur vollen Blüte. Die Bestimmungen, die die politische Philosophie gemeinhin vornimmt, damit die gängigen Unterscheidungen, die sie trifft, bleiben für Derrida zu schematisch. Diese Schematismen soll die Dekonstruktion auseinanderziehen und verschieben, so dass deren Logik der einfachen Gegensätze verschwimmt und sich deren Komplexi‐ tät in Form von Aporien entbirgt. Wenn die Dekonstruktion Gegensätze genauer analysieren will, dann betrifft das „all die Gegensätze, die davon abhängen (bei‐ spielsweise – dies ist jedoch nur ein Beispiel – den Gegensatz zwischen positivem Recht und Naturrecht)“ (1991, 17), erklärt Derrida; denn in diesem Horizont zeich‐ net sich das schwierige Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit ab, wie der Vortrag zu Benjamin zeigt. Im positiven Recht ist die Gerechtigkeit unterbestimmt bzw. spielt eine untergeordnete Rolle. Im Naturrecht ist sie überbestimmt und ersetzt das Recht, das sich um Unrecht nicht mehr scheren muss. Dann ist jedes Mittel ge‐ recht, das vermeintlich im Dienst des Rechts als Naturrecht steht. Denn der Zusammenhang von Dekonstruktion und Recht entsteht über die Ge‐ rechtigkeit, die sowohl im Recht wie in der Dekonstruktion eine zentrale Rolle spielt. Die Dekonstruktion ist also methodisch keineswegs neutral, sondern setzt sich selbst in einen normativen Zusammenhang. Sie will nicht wie Weber und Scheler mit ihren Gegenständen rein sachlich umgehen – wiewohl für Weber Sachlichkeit Distanz und Neutralität und für Scheler die Liebe zu den Dingen bedeutet, „die Lie‐ be zum absoluten Wert und Sein“ (1954, 90) – sondern ihnen gerecht werden, was zugleich einen sachlichen wie einen ethischen Anspruch beherbergt, gewissermaßen Scheler und Weber verbindet, so dass sich die Komplexität in weitere Aporien ver‐ wickelt. Sachlich ließe sich Komplexität reduzieren, und zwar unter einer pragmati‐ schen Perspektive. Von Seiten der Gerechtigkeit geht das nicht. Daher insistiert Der‐ rida darauf, dass die Dekonstruktion sich immer mit politischen, ethischen, rechtli‐
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chen Fragen beschäftigt hat und dass solche Fragen sogar ihre Kernthemen sind. Viele Zeitgenossen betrachten die Welt genau auf eine dekonstruktive Weise, ohne dies zu ahnen; denn zumeist landen sie in Aporien, was viele auch verunsichert – man denke an den neurotischen orientierungslosen Intellektuellen der siebziger Jah‐ re. Wie sagt doch Vattimo 1980 in einem Gespräch mit der radikal linken Zeitschrift Lotta continua: „Es geht immer darum zu erfahren, ob wir in der Lage sind, in einer Welt, in der ‚Gott tot ist‘, ohne Neurosen zu leben, in der sozusagen klar geworden ist, dass es keine festen, gesicherten, wesentlichen Strukturen, sondern im Grund nur Justierungen gibt.“ (1986, 34) Und das gilt anders als es sich Arendt noch vorstellt, auch für das Erkenntnisurteil bzw. für das Wissen, das die modernen Wissenschaften auf immer fragwürdigere Pfade gebracht haben, auf denen immer mehr in Frage steht und immer mehr gefragt werden muss. So übernehmen viele eine dekonstrukti‐ ve Betrachtungsweise, seit die marxistischen Perspektiven zu zerbröseln begannen. Damit geht es Derrida um „ein dekonstruktives Fragen, das (...) damit anhebt, be‐ stimmte Werte aus dem Gleichgewicht zu bringen, komplizierter und paradoxer zu fassen, etwa die Werte des Eigenen und des Eigentums (und zwar in all ihren Regis‐ tern),“ (1991, 17) also darum deren Inkonsistenzen und Fragwürdigkeit aufzude‐ cken. Noch wichtiger sind indes „die Werte des Subjekts (des verantwortlichen Sub‐ jekts, des Rechtssubjekts, des moralischen Subjekts, der Rechtsperson) und der In‐ tentionalität, die Werte endlich, die mit den aufgezählten zusammenhängen“ (1991, 17). Es ist die geistige Intentionalität, die Werte entstehen lässt, nicht deren ver‐ meintlich schwere Materialität wie bei Scheler oder wie man es Marx unterstellen könnte. Es ist fraglich, inwieweit das Subjekt verantwortlich zu handeln vermag, was Sartre unterstellt. Es ist das Recht, das Subjekt und Person zuschreibt, ähnlich wie die Moral, und nicht der einzelne Mensch selbst, der sich sein Subjektsein wie sein Personsein nicht selbst verleihen kann. Mit so einfachen Gleichungen oder Bestim‐ mungen wie bei Platon, Paulus, Locke, Kant und Sartre gibt sich die Dekonstruktion nicht zufrieden. Denn damit würde sie dem jeweiligen Gegenstand nicht gerecht. Die Dekonstruktion nimmt das Personsein wie das Subjektsein nicht als solches, sondern stellt es in Frage. Das hat ihr den Vorwurf eingebracht, sie stelle die Grund‐ lagen der Demokratie wie der Moral in Frage. Für Burkhard Liebsch sucht Derrida auf die wirklich wichtigen Fragen keine Antworten, beispielsweise auf „die von Derrida kaum belichtete Frage, wie menschliche Koexistenz im Horizont einer welt‐ weiten, gemeinsamen, geteilten Weltlichkeit zu denken ist, (...).“ (2015, 18) Aber ist das wirklich eine philosophische Aufgabe? Andererseits kann man für Derrida De‐ mokratie und Subjekt nicht dadurch stabilisieren, dass man die Mythen, die mit die‐ sen verbunden sind, nicht hinterfragt. Erst dann lässt sich mit solchen Begriffen an‐ gemessen umgehen, d.h. daraus eine emanzipatorische Perspektive entfalten. Und um eine solche Form der Angemessenheit geht es der Dekonstruktion, so dass Derri‐
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da schließlich feststellen kann: „ein solches dekonstruktives Fragen ist in seiner gan‐ zen Spannbreite ein Fragen, welches das Recht und die Gerechtigkeit betrifft.“ (1991, 17) So hinterfragt die Dekonstruktion die Grundlagen von Politik, Recht und Moral. Insofern ähnelt sie der Genealogie, auch der Kritik. Während letztere sich darauf richtet, an die Stelle von kritisierten Grundlagen neue zu setzen, schreckt die Dekon‐ struktion davor zurück. Sie will das Risiko nicht eingehen, wieder in die Metaphysik zurückzufallen. Aber Begründungen als solche stellt die Dekonstruktion nicht in Frage. So kann Derrida die Dekonstruktion folgendermaßen umschreiben: „Es ist ein Fragen, das keineswegs darauf verzichtet, jene Gelegenheiten wahrzunehmen, die es ihm gestatten, die Möglichkeit oder die letzthinnige Notwendigkeit des Fra‐ gens selbst, der Frageform, die das Denken annimmt, in Frage zu stellen oder zu übersteigen.“ (1991, 17) Damit betrachtet Derrida die Frage selbst als Gegenstand wie als Grenze der Dekonstruktion, ist das Fragen eng mit der Dekonstruktion ver‐ bunden wie es zum Gegenstand derselben avanciert und somit selbst in Frage ge‐ stellt bzw. dekonstruiert wird. Denn dekonstruktiv wird zwar weiterhin gefragt, aber auch nach den Wirkungen und Verästelungen des Fragens gesucht. Das widerspricht der linguistischen Ein‐ sicht, dass man sich immer schon sprachlich bewegt, wenn man über die Sprache spricht, dass sich daher dieses Sprechen nicht hintergehen lässt. Aber Derrida gibt sich ja auch linguistisch nicht mit angeblich unhintergehbaren Grenzen zufrieden – man denke an Schrift und Urspur als Motoren der Sprache. Daher beschäftigt sich die Dekonstruktion mit der Geschichte der Frage und der Rolle, die sie in der Philosophie spielt. Dabei macht Derrida eine überraschende Ent‐ deckung, wenn man die Frage strukturell als vorsichtiger vorgehend betrachtet denn als Behauptungen oder kognitive Akte, wenn die Frage an sich eine schwächere On‐ tologie erzeugt (vgl. Schönherr-Mann, 2003, 28). So schreibt Derrida: „Die Form des Fragens, des fragenden Vorgehens verfügt nämlich über eine Autorität, also über eine legitime Kraft (Gewalt), die uns vor die Frag nach ihrer eigenen Herkunft stellt: woher stammt eine derart große Kraft (Gewalt), wovon zehrt sie in unserer Traditi‐ on?“ (1991, 18) In der Tat kann die Frage gefährlich werden, beispielsweise in der Politik, aber auch in allen anderen Bereichen der Lebenswelt. Die Frage entfaltet eine massive Kraft, so dass sie das Befragte nachhaltig zu erschüttern vermag, schlicht dadurch dass es in Frage gestellt wird – besonders wenn das, was sich in die Frage gestellt sieht, sich das nur ungern gefallen lässt und wenn es sich das nicht gefallen lassen muss. Diese Kraft verdankt sich einerseits der Legitimität des Fragens – selbst dort wo es verboten ist. Gerade dort besitzt das Fragen eine große Autorität. Denn eine ver‐ botene Frage kann man immer stellen, mag das den Kopf kosten. Sie erschüttert
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längst nicht nur diesen. Es gibt aus sprachlicher Sicht keine Struktur, die die Frage an bestimmten Stellen auszuschließen in der Lage wäre, ähnlich wie nach Lyotard der Sprache eine innere Dynamik innewohnt, die verhindert, dass hegemoniale Dis‐ kurse finale Erfolge feiern. Dazu gehört auch die Gewalt der Frage. Dann lässt sich Hegemonie nicht über die Sprache als solche, sondern nur über die rechtliche, also eine spezielle Seite der Sprache durchsetzen, wiewohl das durchaus sehr effektiv be‐ trieben werden kann – man denke an Orwells Großen Bruder, an China, Iran, Tür‐ kei. So klinkt sich die Frage einerseits in den Kontext des Rechts und des Staates ein, andererseits in die Dekonstruktion als Gerechtigkeit, wenn sie dazu wesentlich beiträgt, Recht in Frage zu stellen und Perspektiven der Gerechtigkeit aufzuwerfen. Mit ihrem Fragen, besonders mit ihrer Frage nach der Frage zielt die Dekonstruk‐ tion einerseits auf die Hintergrundstruktur, andererseits auf Folgen, will sie keines‐ falls eine müßige Spielerei sein. Vielmehr beabsichtigt sie verantwortlich einzugrei‐ fen, um an der Welt zu drehen, d.h. um sie zu verändern. Aber „es geht nicht um eine Veränderung in dem zweifellos ein wenig naiven Sinne eines berechenbaren, beabsichtigten und strategisch kontrollierten Eingriffs“ (1991, 19), spricht Derrida. Damit würde sich die Dekonstruktion bloß in die gängige Pragmatik einreihen. Ror‐ ty oder Habermas würden dergleichen von ihr fordern, damit die Dekonstruktion endlich eine ordentliche Politik macht. Doch welches Handeln auch immer, seine Effekte lassen sich nicht voraussehen und planen, so sehr man sich darum auch be‐ mühen mag. Damit hintergeht Derrida die meisten Traditionen der politischen Philo‐ sophie. Eine solche Bemühung um das Handeln verfängt sich in den eigenen Aporien, so dass es Derrida nicht ausreichend erscheint, um die Frage der Gerechtigkeit dekon‐ struktiv aufzuwerfen. Er sagt weiter: „es geht vielmehr um eine Veränderung im Sin‐ ne einer maximalen Intensivierung der Verwandlungen, die gerade geschehen, im Sinne einer Intensivierung, die weder ein bloßes Symptom noch einfach eine Ursa‐ che ist (...).“ (1991, 19) Damit präsentiert sich Derrida allemal nicht als konservati‐ ver Denker, es sei denn, Konservativismus wäre, im Zeitalter, das die Welt als reine Bewegung ohne Ruhepunkte versteht, sich an diesem Verständnis zu beteiligen. Die Revolutionäre wären dann die Metaphysiker, die nach Halt für ein Denken suchen, dessen Geländer nach Nietzsche längst ins Wasser gefallen sind. Auch die Freund‐ schaft bietet keinen Halt, aber sie stellt die Brüderlichkeit genauso in Frage, wie Fa‐ milie, Gesellschaft und Staat, so dass sie sich sowohl von Überraschungen der Emanzipation wie einer kommenden Demokratie nicht erschrecken lässt. Vielleicht hilft sie auch fragend gegenüber einem Recht, das selbst unter demokratischen Um‐ ständen der Gewalt nicht entsagen wird. Derrida macht die Dekonstruktion auch nicht flächendeckend in der Philosophie‐ geschichte aus. Für manche Denker kann man zugestehen, dass ihre Vorgehenswei‐ sen der Dekonstruktion nahekommen. Vor allem in einer Hinsicht – darauf insistiert
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Derrida – lässt sich Dekonstruktion in der Vergangenheit diagnostizieren, nämlich besonders im rechtsphilosophischen Kontext, also im Staat, wo es um verdeckte Ge‐ walt geht, im Recht und in der Gerechtigkeit. So sagt Derrida: „Ein dekonstruktives Fragen, das (so hat es sich tatsächlich zugetragen) damit anhebt, den Gegensatz zwi‐ schen nomos und physis oder zwischen thesis und physis aus dem Gleichgewicht zu bringen und komplizierter zu gestalten, das also den Gegensatz zwischen dem Ge‐ setz, der Konvention, der Institution einerseits und der Natur andererseits (...) desta‐ bilisiert (die différance verschiebt, verlagert, verlegt diese oppositionelle Logik), (...)“ (1991, 17) ein solches Fragen bringt die politische Philosophie und mit dem Rechts- auch das Staatsverständnis durcheinander, gleichgültig welcher Couleur: Wer achtet noch den Staat! Man nimmt ihn als unvermeidbares Übel hin und stellt ihn in Frage, wo immer er stört. Also sprach Zarathustra: „Dort, wo der Staat auf‐ hört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist.“ (Nietzsche 1999 b, 63) Denn, um es zu simplifizieren – ganz antidekonstruktivistisch – die Dekonstrukti‐ on verunsichert Philosophie, Wissenschaft und Lebenswelt durch Hinterfragen vor allem von vermeintlichen Gewissheiten oder Grundbegriffen von Ethik und Politik – ein Geschäft, das auch schon mal Sokrates betrieb und das deswegen heute Furore machen konnte, weil mit moderner Wissenschaft und Aufklärung neue vermeintliche Gewissheiten entstanden waren, auf denen viele von deren Vertretern unreflektiert weiter aufbauten, ohne diese zu hinterfragen. Jedenfalls bekundet das letzte Zitat, das sich System und Geschichte nicht mehr so leicht von der Natur trennen lassen, wie es sich eine konservative politische Phi‐ losophie vorstellt. Ähnliches gilt für den Liberalismus, wenn er Konvention und In‐ stitution jenseits der Natur und womöglich a priori fasst. Und der Marxismus will dergleichen in eins setzen, um zu einer sehr fragwürdigen Natur- wie Geschichtsdy‐ namik zu gelangen, die sich nach Benjamin nur noch mit Gott vergleichen lässt und die Derrida – durchaus positiv gewendet – mit dem Messianismus ins Verhältnis setzt. So schreibt er 1998 in Marx & Sons: „Was ich unter dem Titel des ‚Messiani‐ schen‘ ‚ohne Messianismus‘ verstehe, ist ohne Bezug auf revolutionäre Momente undenkbar, die nicht nur für den Status quo sondern auch für den Reformprozess einen Bruch markieren (...).“ (2004 b, 67) Natürlich dekonstruiert das Messianische die materialistischen Begriffe des Mar‐ xismus: von der wissenschaftlichen Gewissheit des revolutionären Fortschritts zur Humanität, worauf sich die revolutionären Marxisten stützen, bleibt nur noch eine Hoffnung – eine Bewegung, auf die sich als erster Ernst Bloch mit seinem Opus Ma‐ gnum Das Prinzip Hoffnung in den vierziger Jahren besinnt und die Sartre in den letzten Lebensjahren einholte, wenn er 1980 mit Benny Lévy den Gesprächstext Es‐ poir maintenant veröffentlicht – Derrida also zeitlich gar nicht so fern. Und die zahl‐ reichen in den letzten Jahren erschienen Marx-Biographien und Marx-Studien, die Marx immer genauer ausleuchten, immer neue Widersprüche oder Ungereimtheiten
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entdecken, dekonstruieren Marx, jede Studie für sich und umso mehr alle zusam‐ men. Die Dekonstruktion ist auf dem Weg ihrer Verbreitung, ob man sie so nennt oder nicht. Wenn Derrida nach Wegen sucht, um an Marx festzuhalten und ihn dabei gleich‐ zeitige zu problematisieren, d.h. zu dekonstruieren, wird ihn das unter Marxisten nicht populär machen und Antikommunisten bleibt das verdächtig. So kritisiert er den Begriff des Klassenkampfes, der auf dem der Klasse aufruht. Dabei insistiert er darauf, „dass der Begriff und das Prinzip der Identifikation einer gesellschaftlichen Klasse, wie sie im marxistischen Diskurs der damaligen Zeit (in den sechziger Jah‐ ren) gebraucht wurden, in meinen Augen problematisch waren. Ich betone ‚proble‐ matisch‘, das weder ‚falsch‘ noch ‚veraltet‘ noch ‚irrelevant‘ noch ‚bedeutungslos‘ bedeutet, (...) (2004 b, 56) Also kein Abschied von Marx! Aber was bleibt? Statt Revolution Emanzipation, statt Ökonomie Gerechtigkeit und statt Kritik Dekonstruktion! Allemal kein linkes Lamento über ein Bündnis zwi‐ schen Neoliberalismus und Emanzipation oder Lebensformen jenseits der Tradition! Dekonstruktiv problematisiert man Sachverhalte und vermeidet Verdikte. Man stellt hintergründige Fragen, wie man diese Fragen selbst wieder in Frage stellt. Aber anders kann man der Gerechtigkeit nicht gerecht werden. Anders kann die De‐ konstruktion ihrerseits ihren Gegenständen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Anders lässt sich die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft nicht befördern, was kein geringer Anspruch ist. So entwirft die Dekonstruktion eine neue politische wie staatliche Perspektive und zwar in einer Welt, in der die Frage nach der sozialen Gleichheit an Attraktivität einbüßt und von der an der Andersheit orientierten Emanzipation der Minderheiten überstrahlt wird: Umwelt- und Klimapolitik, Menschenrechte, Flüchtlingshilfe, wie weit dabei die Gastlichkeit und die Freigiebigkeit auch immer gehen. Aber beide halten eine mahnende Erinnerung wach.
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Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter – Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013 Oliver Nachtwey, Entzivilisierung – Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaf‐ ten; in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression, Berlin 2017 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1884–85), Kritische Studienausgabe (KSA) Bd.5, München, Berlin, New York 1988 Ders., Die fröhliche Wissenschaft (1881–82), KSA Bd. 3, München, Berlin, New York 1999 (a) Ders, Also sprach Zarathustra (1882–84), KSA Bd. 4, 1999 (b) Ders, Zur Genealogie der Moral (1887), KSA Bd. 5, 1999 (c) Ders., Nachlass, KSA Bde. 7–13, 1999 (d) Jósef Niewiadomski, Von Gott, nicht vom Opfer her... Theologischer Stolperstein der „schwa‐ chen messianischen Kraft“ Walter Benjamins; in: Wolfgang Palaver, Andreas Oberpranta‐ cher, Dietmar Regensburger (Hrsg.), Politische Philosophie versus Politische Theologie? Die Frage der Gewalt im Spannungsfeld von Politik und Religion, Innsbruck 2011 Andreas Oberprantacher, „eine schwache messianische Kriaft...“ Walter Benjamins Hoff‐ nung; in: ebd. 2011 Wolfgang Palaver, Ist das Theologische vermeidbar? Politische Theologie von Thomas Hobbes bis in unsere Gegenwart; in: ebd. 2011 Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin – Leben und Werk, Frankfurt/M. 2009 Blaise Pascal, Pensées – Gedanken, Darmstadt 2016 Platon, Menexenos, Sämtliche Werke Bd. 2, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1957 Ders., Politeia, Bd. 3, Hamburg 1958 Karl Raimund Popper, Falsche Propheten – Hegel, Marx und die Folgen – Die offene Gesell‐ schaft und ihre Feinde Bd. 2 (1945), 2. Aufl. Bern, München 1970 Jacques Rancière, Das Unvernehmen – Politik und Philosophie (1995), Frankfurt/M. 2002 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt/M. 1979 Ders., Geschichte der politische Philosophie, Frankfurt/M. 2008 Helmut Reinalter, Der aufgeklärte Mensch – Das neue Aufklärungsdenken, Würzburg 2016 Volker Reinhardt, Leonardo da Vinci – Das Auge der Welt – Eine Biographie, München 2018 Paul Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus – Der Konflikt der Interpretationen I (1969), München 1973 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989), Frankfurt/M. 1992 Ders., Habermas, Derrida und die Aufgaben der Philosophie (1995); in: ders., Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt/M. 2000 (a) Ders., Derrida und die philosophische Tradition (1995); in: ebd. 2000 (b) Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755: Zweiter Diskurs); in: ders., Schriften zur Kulturkritik, 2. Aufl. Hamburg 1971 Ders., Abhandlung über die Politische Ökonomie (1755); in: ders., Politische Schriften Bd. 1, Paderborn 1977
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Donatien Alphonse François Marquis de Sade, Aline und Valcour oder der philosophische Roman (1784–88), Hamburg 1963 Jean-Paul Sartre, Die schmutzigen Hände (1948), Gesammelte Dramen, Hamburg 1969 (a) Ders., Vorwort zu: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961), Reinbek 1969 (b) Ders., Das Sein und das Nichts (1943), Reinbek 1993 Ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus (1945), Gesammelte Werke Philosophische Schriften I, Bd. 4, Reinbek 1994 Ders., Benny Lévy, L’espoir maintenant (1980), Lagrasse 1991 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (ca. 1912/1916), 2. Aufl. Berlin 1967 Max Scheler, Vom Wesen der Philosophie; in: ders., Vom Ewigen im Menschen (Probleme der Religion – Zur religiösen Erneuerung, 1921), Gesammelte Werke Bd. 5, 4. Aufl. Bern 1954 Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit (1793), Werke Bd. 2, München 1976 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus – Erinnerung der Zeit 1945/47, Köln 1950 Ders., Theorie des Partisanen – Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 Ders., Römischer Katholizismus und politische Form, (1923), Stuttgart 1984 Ders., Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, (1922) 8. Aufl. Berlin 2004 Ders., Der Begriff des Politischen (1927); in: ders., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924–1978, Berlin 2005 Martin W. Schnell, Zugänge zur Gerechtigkeit – Diesseits von Liberalismus und Kommuni‐ tarismus, München 2001 Gershom Scholem, Poetica – Schriften zur Literatur, Übersetzungen Gedichte, Berlin 2019 Hans-Martin Schönherr-Mann, Die Technik und die Schwäche, Wien 1989 Ders., Leviathans Labyrinth – Politische Philosophie der modernen Technik, München 1994 Ders., Sein und Fragen – Ein Essay, Köln 2003 Ders., Sartre – Philosophie als Lebensform, München 2005 Ders., Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral, München 2006 Ders., Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht, München 2007 Ders., Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik, Berlin 2009 Ders., Die Macht der Verantwortung, Freiburg, München 2010 Ders., Was ist politische Philosophie? Frankfurt/M., New York 2012 Ders., Gewalt, Macht, individueller Widerstand – Staatsverständnisse im Existentialismus, Bd. 77 Reihe Staatsverständnisse, Baden-Baden 2015 (a) Ders., Albert Camus als politischer Philosoph, Innsbruck 2015 (b) Ders., Untergangsprophet und Lebenskünstlerin – Über die Ökologisierung der Welt, Berlin 2015 (c) Ders., Involution oder Revolution – Vorlesungen über Medien, „Bildung und Politik“ an der Universität Innsbruck 2013-17, Norderstedt 2017 (a)
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Ders., Das Blau des Sprachspiels – Wittgenstein und die politische Philosophie, Norderstedt 2017 (b) Ders., Michel Foucault als politischer Philosoph, Innsbruck 2018 Tatjana Schönwälder-Kuntze, Philosophische Methoden – zur Einführung, Hamburg 2015 Christian Schwaabe, Politische Theorie – Von Platon bis zur Postmoderne, 4. Aufl. Pader‐ born 2018 Georg Simmel, Das individuelle Gesetz (1913), Frankfurt/M. 1987 Peter Sloterdijk, Der Denker im Spukschloss – Über Derridas Traumdeutung (2009); in: ders., Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Ver‐ nunft, Berlin 2016 Ulrich Sonnemann Negative Anthropologie – Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Rein‐ bek 1969 Georges Sorel, Über die Gewalt (1908), Innsbruck 1928 Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmör‐ ders, Zürich, Hamburg 2011 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (1844), Freiburg, München 2009 Leo Strauss, What is Political Philosophy? and other studies, New York, London 1959 Ders., Über Tyrannis – Eine Interpretation von Xenophons ‚Hieron‘ (1948), Neuwied, Berlin 1963 Ders., Naturrecht und Geschichte (1953), Frankfurt/M. 1977 Ders., Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Gesammelte Schriften Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2001 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit – Die vertagte Kriese des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013 Ders., Die Wiederkehr des Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus; in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression, Berlin 2017 Charles Taylor, Negative Freiheit – Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1985), Frankfurt/M. 1988 Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014 Lew Dawidowitsch Trotzki, Die permanente Revolution (1930), Frankfurt/M. 1969 Ernst Tugendhat, Der Golfkrieg, Deutschland und Israel (1991); in: ders., Ethik und Politik, Frankfurt/M. 1992 Ders., Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993 Ders., Anthropologie als erste Philosophie (2003); in: ders., Anthropologie statt Metaphysik, 2. erweiterte Aufl. München 2010 Gianni Vattimo, Das Fliegenglas, das Netz, die Revolution und die Aufgaben der Philoso‐ phie. Ein Gesprich mit ‚Lotta continua‘ (1980); in: ders., Jenseits vom Subjekt – Nietz‐ sche, Heidegger und die Hermeneutik (1980), Wien 1986 Ders., Die transparente Gesellschaft (1989), Wien 1992 Ders., Jenseits der Interpretation (1994), Frankfurt, New York 1997 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik – Eine Einführung (1951), 4. Aufl. Frei‐ burg, München 1991
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Ders., Die politischen Religionen (1938), München 1993 Ders., Der Gottesmord – Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis (1958), München 1999 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit (1983), Frankfurt, New York 1992 Ders., Lokale Kritik – globale Standards (1994), Hamburg 1996 Max Weber, Politik als Beruf (1919); in: ders., Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl. Tü‐ bingen 1971 Ders., Die protestantische Ethik I (1904/1920), 5. Aufl. Gütersloh 1979 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft (1925), 5. Aufl. Tübingen 1980 Alfred North Whitehead, Prozess und Realität – Entwurf einer Kosmologie (1927/28), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1984 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Frankfurt/M. 1971 Ders., Vermischte Bemerkungen (1949), Frankfurt/M. 1977 Ders., Das Blaue Buch (1933/34) – Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) (1934/35), Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt/M. 1980 Peter V. Zima, Die Dekonstruktion – Einführung und Kritik, Tübingen, Basel 1994 (2. erw. Aufl. 2016) Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz – Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek 2005 Slavoj Žižek, Die populistische Versuchung; in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Re‐ gression, Berlin 2017
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Personenregister
Wolfgang Abendroth 242 Theodor W. Adorno 33, 82, 86, 138, 142, 167, 202, 213, 239 f, 244 Giorgio Agamben 18, 35, 37-41, 45 f, 49 ff, 58, 64, 78, 80 f, 92, 94, 96, 101-104, 107, 158, 178, 204, 251 Josef Agnon 21 Louis Althusser 117, 173, 179, 186, 209 Karl-Otto Apel 69, 113, 115, 149, 201, 203, 211, 213, 215 f, 218 Hannah Arendt 43, 50, 54 f, 59, 82, 85, 89, 91, 98, 100, 105, 109, 121, 155, 242, 245 ff, 256, 263 Aristoteles 14, 19, 125, 128 f, 142, 150-153, 155, 158, 164, 173, 179, 241 Pierre Aubenque 156 Aurelius Augustinus von Hippo 125, 204 John Langshaw Austin 28 f, 65 Francis Bacon 237 Roland Barthes 124, 174 Georges Bataille 150, 172, 245 Jean Baudrillard 202, 244 Zygmunt Bauman 239 Kurt Bayertz 53 Simone de Beauvoir 165, 203, 221 August Bebel 53 Ulrich Beck 258 Samuel Becket 245 Heinrich Bedford-Strohm 247 Walter Benjamin 18 f, 21 f, 24-28, 30-37, 39-61, 63 ff, 67-73, 75-83, 85-114, 130, 133, 140, 149, 166 f, 174, 176, 183 ff, 187-190, 198, 201, 203, 206 f, 214 ff, 223, 228, 235, 238 f, 241, 247, 249, 254, 262, 266 Henri Bergson 58 Maurice Blanchot 150, 167, 172 Ernst Bloch 147, 186, 238 f, 266 Philipp Blom 166 Hans Blumenberg 27 Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald 15 Pierre Bourdieu 64 f, 77, 130, 258
Robert B. Brandom 40 Bertolt Brecht 52, 54, 56, 185 Martin Buber 21 Nikolai Iwanowitsch Bucharin 80 Georg Büchner 244 Charles Bukowski 245 Luis Buñuel 245 George W. Bush 102 Judith Butler 23, 102, 241 Tommaso Campanella 237, 254 Albert Camus 61, 63 Ernst Cassirer 33, 41, 83 Marcus Porcius Cato 105 Marcus Tullius Cicero 150, 153, 162 Carl von Clausewitz 59 Clemens von Alexandria 129 Colin Crouch 175, 192 Jonathan Culler 138 Thascius Caecilius Cyprianus von Karthago 76 Max Czollek 91 Ralf Dahrendorf 114 Gilles Deleuze 133, 139 Pascal Delhom 241 René Descartes 168 John Dewey 134, 182 Juan Francisco María de la Salud Donoso Cortés 15 Ronald Dworkin 197, 236 f, 250 Umberto Eco 137 ff, 146 Albert Einstein 144 Friedrich Engels 111 Klaus Englert 74, 191 Frantz Fanon 59 Paul Feyerabend 121 Michel Foucault 9, 26, 49, 54, 61, 76, 114, 122, 129 f, 135, 142, 173, 195, 209, 235, 244, 248, 261 Ernst Fraenkel 38, 97, 251
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Franz von Assisi 163 Nancy Fraser 115 Sigmund Freud 17, 40, 137, 140, 200, 253 Milton Friedman 16 Carl Joachim Friedrich 103 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 159 Francis Fukuyama 173 ff, 180 Hans-Georg Gadamer 118, 199 Galileo Galilei 134, 144, 231 Arnold Gehlen 49, 92 Mohandas Karamchand Gandhi 43 Günter Grass 123 f Félix Guattari 139 Jürgen Habermas 9, 13, 26, 40, 69, 118, 124, 149, 193, 195 f, 201 ff, 210 ff, 215 f, 218, 243, 265 Friedrich August von Hayek 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 9, 30 f, 76 f, 80, 90, 98, 100, 105, 108, 136, 139, 143, 173, 186, 189, 191, 195, 213, 227 f, 240, 245, 248 Martin Heidegger 13, 15, 21, 26, 39, 48, 68, 74, 90, 92 f, 95, 99, 111 f, 117, 122, 134 f, 142, 167 f, 182, 184, 187, 199, 206 f, 217, 245, 249, 253 Heinrich Heine 100, 176 Heraklit 26 Herodot 98 Alfred Hirsch 127, 203, 258 Thomas Hobbes 23 f, 49, 58, 64, 78, 98, 100, 106, 109, 122, 179, 211 Bernward Hoffmann 128 Hölderlin 153, 244 Homer 32, 130 Max Horkheimer 33, 82, 86, 202, 213 Victor Hugo 163 Samuel Huntingtons 160 Edmund Husserl 26 f, 66, 127, 131 f, 222, 240 Eva Illouz 172 William James 27 Fredric Jameson 182 Vladimir Jankélévitch 145, 254 Jesus von Nazareth 43 Hans Joas 71, 73, 75, 247 Hans Jonas 143, 221
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Ernst Jünger 83 Bertrand de Jouvenel 59 Franz Kafka 103 f Immanuel Kant 16, 86, 108 ff, 122, 150, 157, 162 f, 180, 191, 193, 211, 219, 224, 226 ff, 230, 239, 245 f, 254, 263 Wolfgang Kapp 21, 42 Wolfgang Kersting 16, 65, 218 Sören Kierkegaard 121, 170, 211, 229 f, 234 Henry Kissinger 243 Paul Klee 75, 77 Ivan Krastev 115 Julia Kristeva 174 Thomas S. Kuhn 138 Jacques Lacan 40, 125, 241 Diogenes Laertius 155 f Bruno Latour 143, 171 Wladimir Iljitsch Lenin (Uljanow) 38, 41, 80 Jakob Michael Reinhold Lenz 244 Leonardo da Vinci 36 Armand Marie Leroi 128 Emmanuel Lévinas 23 f, 154, 156, 165, 184, 186, 201, 220, 223, 236 f, 239-245, 247 f, 255 Claude Levi-Strauss 124, 127 Benny Lévy / Pierre Victor 247, 266 Benjamin Libet 227 Wilhelm Liebknecht 53 Burkhard Liebsch 29, 136, 138, 154, 168, 170, 172, 192, 223, 243, 256, 263 John Locke 16, 211, 263 Walter Lübcke 60 Susanne Lüdemann 15, 17, 150, 169, 253, 258 Jean-François Lyotard 65, 67-73, 120, 178, 184, 208, 218 f, 227, 265 Niccolò Machiavelli 179 Thomas Macho 197 Alasdair MacIntyre 232 Joseph de Maistre 15, 251 Salomon Malka 167 Paul de Man 199 Oliver Marchart 17, 123, 241, 243 Odo Marquard 114 Renate Martinsen 239
Karl Marx 9, 19, 22, 31 f, 41 f, 53 f, 56, 61, 64 f, 67, 75 f, 78 ff, 111, 138 f, 167, 169, 173 f, 176-185, 187, 192 f, 209, 236 f, 240, 253, 263, 266 f Paul Mason 17, 112, 143, 171 Joseph McCarthy 50 Meister Eckhart 210 Maurice Merleau-Ponty 61, 80 Jules Michelet 162 f François Mitterand 117, 181 Michel Eyquem de Montaigne 38, 150, 155, 206-210, 215, 217, 229 Charles de Secondat, Baron de Montesquieu 254 Thomas Morus 237 Chantal Mouffe 189 f Jan-Werner Müller 114, 175 Benito Mussolini 21 Oliver Nachtwey 160 Napoleon Bonaparte 38, 122 John von Neumann 144 Friedrich Nietzsche 9, 13 f, 30, 65, 93, 99, 104, 134, 140, 142, 146, 150, 163-166, 168 f, 172, 186-189, 195, 198, 203, 206, 212 f, 215, 235, 237, 241, 244 f, 249, 261, 265 Jósef Niewiadomski 59 Andreas Oberprantacher 57, 59, 75 George Orwell 227, 265 Wolfgang Palaver 57 Blaise Pascal 205-210, 214-217, 229 Paulus von Tarsus 263 Platon 14 f, 19, 29, 41, 126, 129, 134, 140 f, 150 f, 155, 157, 161, 202 f, 226, 228, 237, 241, 243, 254, 263 Karl Raimund Popper 41, 139, 180, 213 Pierre-Joseph Proudhon 80 Jacques Rancière 178 John Rawls 9, 16, 102 f, 105, 168, 179, 214, 221, 230 f, 237, 243, 248, 252 Volker Reinhardt 36 Helmut Reinalter 26 Paul Ricœur 99, 118 Leni Riefenstahl 50
Richard Rorty 9, 13 f, 16, 63, 66, 91, 93, 115, 121, 135, 137 f, 146, 167, 179, 192, 195 f, 249, 265 Franz Rosenzweig 89 Clinton L. Rossiter 103 Philip Roth 88 Jean-Jacques Rousseau 16, 48, 63 f, 73, 100, 108 ff, 125, 127, 149, 163, 188, 231, 254 Donatien Alphonse François (Marquis) de Sade 203, 237 Louis Antoine de Saint-Just 30, 63 ff, 78, 206 Jean-Paul Sartre 29, 59 f, 121, 165, 203, 221, 229 f, 247 f, 263, 266 Ferdinand de Saussure 39, 76, 124-129, 132, 143 Max Scheler 57, 71, 262 f Friedrich Schiller 153, 227 f Oskar Schindler 242 Anton Schmid 242 Carl Schmitt 9, 15, 19, 21, 36 f, 39-42, 46 f, 49 ff, 54-58, 61, 67 ff, 77 ff, 81 f, 87, 92, 95 f, 98, 102 ff, 106 ff, 111, 150, 156-161, 163 f, 167, 189 f, 209, 211, 215, 229 ff, 236, 243, 248, 251, 256 Martin Schnell 137 Gershom Scholem 21, 44 ff, 48, 52 ff, 64, 67 f, 70-73, 75, 87 f, 90, 94 f, 100 f, 247 Tatjana Schönwälder-Kuntze 127, 133 Arthur Schopenhauer 227 Christian Schwaabe 190 John Rogers Searle 29 Robert Servatius 89 Claude Shannon 144 William Shakespeares 187 Georg Simmel 108, 233 Peter Sloterdijk 92, 171, 190, 253, 257 Sokrates 137 f, 140, 155, 180, 266 Ulrich Sonnemann 242 Georges Sorel 49-52, 55 f, 58 f, 64 f, 75, 113, 159, 184 Josef Wissarionowitsch Stalin 80 Bettina Stangneth 84 Max Stirner 110, 181 ff Leo Strauss 9, 14 f, 30, 37, 64, 77, 97 f, 100, 105, 108, 141, 215, 228 Wolfgang Streeck 17, 111 f, 177
281
Charles Taylor 232 f Thomas von Aquin 15, 48, 179 Michael Tomasello 202, 212, 215 Lew Dawidowitsch Trotzki 41, 43, 80, 105, 174 Donald Trump 106 Ernst Tugendhat 16, 40, 118, 124, 139, 166 Gianni Vattimo 99, 139, 149, 192 f, 258, 263 Eric Voegelin 9, 15, 37, 49, 87 f, 196 f Voltaire (François-Marie Arouet) 203 Michael Walzer 73, 192, 257 Max Weber 21, 48, 196, 207 f, 221-224, 244, 250, 262
282
Chaim Weizmann 85 Richard von Weizsäcker 83 Alfred North Whitehead 74 Christoph Martin Wieland 123 Norbert Wiener 144 Ludwig Wittgenstein 15, 29, 39 f, 69, 76, 145, 193, 196, 211 Peter Zima 129, 174, 199, 249, 258 Rolf Zimmermann 90 Slavoj Žižek 17, 112, 257