Dinge im Kontext: Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart 9783110315943

 

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Inhaltsverzeichnis
Grusswort
Dank des Herausgebers
HANDREICHUNG
Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen. Ein designwissenschaftlicher Versuch über Aquamanile, Retiküle und Savonnettes (sowie „iPhones“)
DINGGESTEN IN ALLTAGS-, THEORIE- UND KUNSTKONTEXTEN
Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt
Wichtige Knöpfe drücken und Knöpfe wichtig drücken. Über gestisches oder bildliches Dingnutzungspotenzial in Alltag und Kunst
Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen
Zwischen, unter, entlang und ringsherum. Zur „Enzyklopädie der Handhabungen“
Enzyklopädie der Handhabungen [Bildserie]
Design als Störfaktor
HANTIEREN MIT ARTEFAKTEN IN MITTELALTER, FRÜHER NEUZEIT UND MODERNE
„Purgat et ornat.“ Die zwei Seiten des Kamms
Scherzgefäße. Zur Wechselwirkung von Gestaltung, Handhabung und Trinkregeln in der Frühen Neuzeit
‚Asbestos Fingers‘ und ‚Flaming Lips‘. Metallgefäße für Heißgetränke und ihre Handhabung im 18. Jahrhundert
WOHNEN MIT UND SITZEN AUF MÖBELN
Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘ versus ‚Was kann man für einen Spaß haben …‘
Sit and think: Zu Gast auf einem „Thonet Nr. 14“. Überlegungen zum Mensch-Ding-Verhältnis
Sitzmaschinen. Vom autoritären Bürostuhl zum offenen Sitzprogramm
Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone
KLEIDUNG TRAGEN UND MODE
Lebende Dinge. Über Kleider und ihre Gesten
Kunst blickt auf Mode
ARTEFAKTE IM MUSEUM
Von der Faszination der Dinge. Ein Rundgang durch das GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig
KOMISCHE GESTEN
Dingkollision. Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen von Erich Ohser/e. o.plauen
ANHANG
Autorenverzeichnis
Abbildungsnachweis
Personenregister
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Dinge im Kontext: Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart
 9783110315943

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Dinge im Kontext

Thomas Pöpper (Hg.)

DING E IM KONTEX T Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der

ISBN 978-3-11-031588-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-031594-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038846-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter De Gruyter GmbH Berlin/Boston Einbandabbildung: Bruno Munari, „Ricerca della comodità in una poltrona scomoda“, Fotoserie, 1944, Corraini Edizioni, Foto: © Bruno Munari, 1944; Maurizio Corraini s.r.l. / all rights reserved. Satz: SatzBild, Sabine Taube Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany

www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis     |

Inhaltsverzeichnis

Grußwort des Rektors der Westsächsischen Hochschule Zwickau   9 Dank des Herausgebers   10 HANDREICHUNG

Thomas Pöpper Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen. Ein designwissenschaftlicher Versuch über Aquamanile, Retiküle und Savonnettes (sowie „iPhones“)   15 DINGGESTEN IN ALLTAGS-, THEORIE- UND KUNSTKONTEXTEN

Philipp Zitzlsperger Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt   57 Christian Janecke Wichtige Knöpfe drücken und Knöpfe wichtig drücken. Über gestisches oder bildliches Dingnutzungspotenzial in Alltag und Kunst  73 Jasmin Mersmann Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen   85 Annette Rose Zwischen, unter, entlang und ringsherum. Zur „Enzyklopädie der Handhabungen“   98 Enzyklopädie der Handhabungen [Bildserie]   106 Susanne König Design als Störfaktor   118

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|     Inhaltsverzeichnis

HANTIEREN MIT ARTEFAKTEN IN MITTELALTER, FRÜHER NEUZEIT UND MODERNE

Julia Saviello „Purgat et ornat.“ Die zwei Seiten des Kamms   133 Antje Scherner Scherzgefäße. Zur Wechselwirkung von Gestaltung, Handhabung und Trinkregeln in der Frühen Neuzeit   145 Rachel King ‚Asbestos Fingers‘ und ‚Flaming Lips‘. Metallgefäße für Heißgetränke und ihre Handhabung im 18. Jahrhundert   163 WOHNEN MIT UND SITZEN AUF MÖBELN

Rainer Hertting-Thomasius Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘ versus ‚Was kann man für einen Spaß haben …‘   177 Xenia Riemann Sit and think: Zu Gast auf einem „Thonet Nr. 14“. Überlegungen zum Mensch-Ding-Verhältnis  183 Karianne Fogelberg Sitzmaschinen. Vom autoritären Bürostuhl zum offenen Sitzprogramm   195 Tobias Lander Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone   206 KLEIDUNG TRAGEN UND MODE

Petra Leutner Lebende Dinge. Über Kleider und ihre Gesten   229 Yvonne Schütze Kunst blickt auf Mode   244 ARTEFAKTE IM MUSEUM

Eva Maria Hoyer Von der Faszination der Dinge. Ein Rundgang durch das GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig   263

Inhaltsverzeichnis     |

KOMISCHE GESTEN

Elke Schulze Dingkollision. Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen von Erich Ohser/e. o.plauen   275 ANHANG

Autorenverzeichnis   287 Abbildungsnachweis  289 Personenregister   297

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Grußwort     |

GruSSwort

Die Erforschung von Wechselwirkungen zählt zu den spannendsten Themen in den Naturwissenschaften. Sie haben Ursachen, wie zum Beispiel die Masse oder die elektrische Ladung der Dinge, und ihre Übertragung erfolgt durch physikalische Felder. Man kennt starke und schwache Wechselwirkungsmechanismen, manche sind auf den Atomkern begrenzt und manche wirken bis ins Unendliche. Auch die Schneeberger Konferenz „Design-Erkundungen: Dinge im Kontext“, deren Ergebnisse in diesem Band vorgestellt werden, widmete sich solchen Wechselwirkungen. Es ging darum, Dinge zu erkunden und danach zu fragen, wie insbesondere über deren Form und Handhabung Wechselwirkungsmechanismen aufgebaut werden. Die Tagung analysierte also die gestische Verbindung von Mensch und Ding in ihrer wechselseitigen Einflussnahme – und dies in beiderlei Wirkrichtung. In der Reflexion auf das Design („angewandtes Gestendesign“) entstehen der wissenschaftliche Nutzen der Tagung und die Inspirationen für Lehre und Forschung weit über die Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg hinaus. Die Fallstudien, die von Kämmen und Trinkgefäßen über Wohn­ welten bis hin zu Karikaturen reichen, werden im vorliegenden Band von namhaften Beiträgern aus dem In- und Ausland, die auf unterschiedlichen Gebieten von Wissenschaft, Design, Publizistik, Museum und Kunst tätig sind, vorgestellt. Es ist ganz wesentlich Professor Dr. Thomas Pöpper zu verdanken, diese Konferenz initiiert, nach Schneeberg geholt und erfolgreich organisiert zu haben. Die Widmung ­seiner Professur „Kunst- und Designgeschichte“ prädestiniert für ein derartiges interdisziplinäres, methodenflexibles Verstehen von Dingen in einem komplexen Kontext. Der Dank gilt gleichermaßen seinem Organisationsteam und der großzügigen Unterstützung der Erzgebirgssparkasse. Professor Dr. rer. nat. habil. Gunter Krautheim Rektor der Westsächsischen Hochschule Zwickau

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|     Dank des Herausgebers

Dank des Herausgebers

Es ist uns ein Bedürfnis, an dieser Stelle einigen Personen und Institutionen Dank abzustatten für die vielfältige ideelle, tatkräftige oder finanzielle Unterstützung des Projekts, dessen papiernes Ergebnis Sie als ‚geneigter Leser‘ gerade ‚in Händen halten‘ – und damit sind wir eigentlich bereits beim Thema des vorliegenden Bandes: Die soeben benutzten Wendungen beschreiben redensartlich die motorische Haltung (Neigung, hier als leichtes Geneigtsein, als Krümmung des Oberkörpers und als Beugung des Hauptes über das Buch verstanden) und die entsprechende gestische Handlung beim Lesen, also im Leseakt, beim Buchgebrauch (das Halten des Buches, das Aufschlagen, das Blättern usw.). Dass wir uns darüber hinaus die Leser als unserem ‚Gegenstand‘ auch im übertragenden Sinn zugeneigte vorstellen, versteht sich von selbst. Die Idee, an der Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg (AKS) unter dem Titel „Design-Erkundungen. Dinge im Kontext“ eine internationale und interdisziplinäre Tagung stattfinden zu lassen, die habituelle, ‚in der Sache‘ be-dingte Gebrauchsgesten – soweit wir sehen erstmals – untersuchen sollte, wurde vom Rektorat der Westsächsischen Hochschule Zwickau (WHZ) bereitwillig und großzügig unterstützt; dafür danken wir dem Rektor Professor Dr. rer. nat. habil. Gunter Krautheim sowie dem damaligen Kanzler Professor E. h. Dr. oec. habil. Joachim Körner. Kofinanziert von der Bergstadt Schneeberg/Erzgebirge und den Stadtwerken Schneeberg GmbH, konnte unsere Fakultät vom 15. bis zum 17. November 2012 mehr als 20 geladene Beiträger, Moderatoren und Diskutanten sowie rund 40 Gäste und natürlich unsere knapp 200 Design-Studenten aus den Bereichen Mode, Textil, Holz-/Produktdesign und Musikinstrumentenbau in Schneeberg begrüßen, beherbergen und bewirten; dafür danken wir dem Bürgermeister Frieder Stimpel sowie Gunar Friedrich, dem Geschäftsführer der Stadtwerke GmbH. Ein besonders herzlicher Dank gebührt den Referenten der Tagung; sie nahmen teilweise sehr weite Wege in Kauf. Hervorgehoben seien an dieser Stelle nur Frau Professor Dr. Jeanette Kohl (University of California, Riverside/USA) und Frau Dr. Rachel E. King (jetzt National Museum of Scotland, Edinburgh/Schottland). Der Künstlerin Anette Rose (Berlin) ist zu danken, dass sie nach Schneeberg kam, um ihr Kunst­projekt „Enzy-

Dank des Herausgebers     |

klopädie der Handhabungen“ zu erläutern und mit Wissenschaftlern und Studenten zu diskutieren. Allen anderen Teilnehmern aus Berlin, Chemnitz, Freiburg im Breisgau, Hamburg, ­Kassel, Leipzig, Markneukirchen, München, Offenbach am Main, Plauen, Reichenbach, Weimar und Zwickau (und anderen Orten) möchten wir ebenfalls für ihr großes Engagement und ihre Diskussionsbereitschaft danken. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Fakultätsmitarbeiter aus den Bereichen De­­ kanatssekretariat, Hausmeisterei, Fahrdienst und Verwaltung sowie unserer studen­ tischen Hilfskräfte hätte die Tagung nicht gelingen können; ihnen allen sei hier ein Danke­schön gesagt. Pfarrer Frank Meinel von der Ev.-Luth. Kirchgemeinde St. Wolfgang in Schneeberg ermöglichte eine Besichtigung des Cranach’schen Altars, mithin des ersten Reformationsretabels in einer der größten und reifsten spätgotischen Hallen­ kirchen Sachsens; d ­ iese kleine Exkursion wurde dankbar angenommen und schloss ­unsere Tagung würdig ab. Es ist das dankenswerte Verdienst des Designkritikers Markus Zehentbauer (München), ausführlich und kenntnisreich über den Schneeberger Kongress in verschiedenen Medien berichtet zu haben (siehe beispielsweise die Rezensionen in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 21. November 2012, Feuilleton, S. 13 und im „Design-Report“, 2013, Heft  1, S. 62f.). Somit konnte das im idyllischen Winkel des Erzgebirges Verhandelte unmittelbar ein großes interessiertes (Fach-)Publikum erreichen. Endlich ist die Erzgebirgssparkasse, Annaberg-Buchholz (vormals Kreisspar­kasse Aue-Schwarzenberg) zu nennen. Sie übernahm großzügigerweise den Druckkostenzu­ schuss für den vorliegenden Band. Damit dokumentieren sich das gesellschaftliche Engagement und die zum wiederholten Mal sehr fruchtbare Zusammenarbeit der regio­ nalen Sparkasse und unserer Fakultät. Namentlich möchten wir dem Vorsitzenden des Vorstandes, Herrn Roland Manz, für die gewährte Förderung danken. Dass der renommierte Wissenschaftsverlag Walter De Gruyter GmbH, Berlin die Betreuung, die Produktion und den Vertrieb des Bandes übernommen hat, ist ein weite­ rer Glücksfall; hierfür sei – stellvertretend für viele Verlagsmitarbeiter – Frau Dr. Katja ­R ichter und Frau Verena Bestle (beide München) ein Dank ausgesprochen. Schneeberg/Erzgeb., im Juni 2014 Professor Dr. phil. Thomas Pöpper Dekan der Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg Westsächsische Hochschule Zwickau

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Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen     |

HANDREICHUNG

„Das Zeugsein des Zeuges besteht in seiner Dienlichkeit. Aber wie steht es mit dieser selbst? Fassen wir mit ihr schon das Zeughafte des Zeuges? Müssen wir nicht, damit das gelingt, das dienliche Zeug in seinem Dienst aufsuchen?“ Martin Heidegger, Holzwege/Der Ursprung des Kunstwerkes, 1935/361

„Der Gebraucher ist ein vom Objekt bei der Hand genommener […].“ Gert Selle, Design im Alltag […], 20072

„Unsere Produkte sind bereits, ob wir das wollen oder nicht, unsere Taten.“ Günther Anders, Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, 19723

„Odradek.“ Franz Kafka, Ein Landarzt / Die Sorge des Hausvaters, 19204

1 Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt am Main 1950 (darin: „Der Ursprung des Kunstwerkes“), S. 22, vgl. hierzu Espinet, David/Keiling, Tobias (Hg.): Heideggers ‚Ursprung des Kunstwerks‘. Ein kooperativer Kommentar (= Heidegger-Forum, 5), Frankfurt am Main 2011. 2 Selle, Gert: Design im Alltag. Vom Thonetstuhl zum Mikrochip, Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 12. 3 Anders, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, 6., durch ein Vorwort erw. Aufl. von ‚Endzeit und Zeitenende‘ (= Beck’sche Reihe, 238), München 1993, S. 38, vgl. hierzu Hofmann, Norbert: Wegwerfwelt. Günther Anders’ ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘, in: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Günther Anders kontrovers, München 1992, S. 173–188. 4 Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten/Textband, hg. von Wolf Kittler u. a. (= Schriften/Tagebücher, Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a.), Lizenzausg., Frankfurt am Main 2002, S. 282-284. – Siehe hierzu auch Anm. 20 des Beitrags von Thomas Pöpper im vorliegenden Band.

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Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen     |

Thomas Pöpper

Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen Ein designwissenschaftlicher Versuch über Aquamanile, Retiküle und Savonnettes (sowie „iPhones“)

„Ich sehe nicht ein, weshalb ich nicht anfangen sollte, uneingeschränkt zu zeigen, daß es möglich ist, endlose Abhandlungen über die einfachsten Dinge [choses] zu schreiben …“ Francis Ponge, Einführung in den Kieselstein, 19331

Motivation Eines der Leitthemen der Hannoveraner „CeBIT 2013“ (Akronym für „Centrum für Büroautomation, Informationstechnologie und Telekommunikation“), einer der weltweit größten Messen für Informationstechnik und digitale Wirtschaft, war die sogenannte Gestensteuerung. Damit ist das berührungsfreie Kommandieren von Geräten gemeint. Diese werden nicht länger über mechanische Knöpfe und Hebel, elektronische Schalter oder digitale (also wörtlich mit dem Finger zu bedienende) Touchscreens, sondern ge­w isser­maßen holistisch und somatisch, ganzheitlich und körperlich regiert, sprich sie werden mittels gestischen Verhaltens ‚gehandhabt‘ – womit eigentlich auch zugleich dieses Verb anachronistisch geworden sein dürfte. Zwecks Bedienung oder besser ‚Bediener­ führung‘ ‚beobachten‘ Sensoren und Kameraaugen der Dinge ihre Nutzer (‚User‘) wie Hunde ihre Herrchen und ‚lernen‘ wie diese, deren nonverbale Befehle und Körper­sprache zu ‚übersetzen‘. Die Vision ist zwischenzeitlich in vielen Anwendungs­bereichen Wirklichkeit geworden; zahlreiche Produkte haben Marktreife erlangt. So richtig warm und vertraut sind wir mit ihnen aber noch nicht geworden. Noch scheinen uns die vor nahezu unbemerkbaren ‚Benutzerschnittstellen‘, den ‚User Interfaces‘ (auch dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang verräterisch; er verleiht dem Ding ein Antlitz), also vor solchen starren Mensch-Maschine-Schnittstellen zu vollziehenden großen, zuweilen ausdrucksvoll pathetischen, jedenfalls stets sehr auffälligen, bewegungsreichen und raumgreifen1 Ponge, Francis: Einführung in den Kieselstein und andere Texte. Französisch und deutsch, mit einem Aufsatz von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1986 (darin: „Introduction au galet“/„Einführung in den Kieselstein“ [1933; Übers. Katharina Spann]), S. 145.

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den Gesten zum Steuern ihrerseits immer kleiner und unauffälliger werdender Apparaturen unverhältnismäßig, wenn nicht albern. Noch befürchten wir, dass uns andere beim Gestikulieren zusehen und nachgerade lächerlich finden könnten. Angefangen hat all dies womöglich mit den Automatiktüren, vor deren erst durch Lichtschranken, s­ päter durch eine komplexere Steuerungselektronik aktivierter Mechanik man – erzwungen vom Ding – einen technikbeschwörenden Tanz aufführt (einen Schritt vor, einen zurück, dann wieder einen vor, dabei mit den Armen wedelnd wie ein Schmetterling mit seinen Flügeln) oder auch mit den ebenfalls durch Bewegungsmelder gesteuerten Beleuchtungen, denen man zuweilen wild zuwinken muss, um nicht im Dunkeln zu stehen. Aber die ­spröde Scham wird sicher in Bälde schwinden; zwischenzeitlich ist ja auch das gestenreiche Telefonieren mit Headsets auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Normalität geworden. Wir leben im Blick auf das Gestische in einer Übergangszeit – das ist unsere Ausgangsthese, unser Apriori. Die Dinge befreien sich nach und nach vom unmittelbar händischen (Zu-)Griff des Menschen; und die Menschen üben sich mehr und mehr in der neuen Kulturtechnik des Dingsteuerns qua Körpereinsatz. Es bleibt nichtsdestotrotz zu befürchten, dass die Dinge den Menschen und seine Taten weiterhin im Griff haben werden, vielleicht sogar mehr denn je. Denn um in den ‚Augen‘ der Dinge unmissverständlich nonverbal und berührungsfrei zu kommunizieren, werden wir unsere Gesten standardisieren und pointieren, jedenfalls kompatibel, geräteverständlich markig ausführen müssen, und dies interkulturell und international. Wir gehorchen stumm, aber theatralisch gestikulierend den global vertriebenen Dingen (wie beispielsweise den „iPhones“ von „Apple“ oder den bewegungssensitiven Controllern der Spielkonsole „Wii“ von „Nintendo“). Anders formuliert, wir schließen uns – auch – somatisch jener weltumspannenden Warenökonomie an. In dem Maß, wie sich das Ding verbreitet, muss auch die es be-dingende Dinggeste epidemisch werden.2 Man bedenke nur, wie wir bereits heute rund um den Erdball beim Telefonieren mit einem Sprachroboter unser Anliegen vorzubringen gewohnt sind: aus einer möglichst ruhigen Zimmerecke ohne Störgeräusche, in konzentrierter Habachtstellung, das Telefon in optimaler Entfernung zum Mund und dieser selbst mit gespitzten Lippen artikulierend wie sonst nur bei Schauspielschülern zu beobachten (Anrufer: „Ich wünsche p-e-r-s-ö-n-l-i-c-h-e B-e-r-a-t-u-n-g!“ – Computer: „Ihr Wunsch wurde nicht erkannt. Bitte rufen Sie später noch einmal an!“). Dinge – auch das haben sie mit klugen Hunden und schlechter Gesten- oder Spracherkennungs-

2 Hermann Sturm bemerkt zu dieser unabweisbaren Sachlage das Folgende: „Wenn die Geste als Bewegung dadurch definiert ist, daß sie sich im Spannungsfeld von Konvention und individueller Freiheit ausdrückt und artikuliert, dann hat ihre Normierung als Voraussetzung für die Aktivierung, Bedienung und Nutzung von Geräten nicht nur die globale Normierung der Apparate und Geräte selbst zur Folge, sondern es reduziert sich damit auch die kulturelle Vielfalt gestischer Kommunikation“, Sturm 1998a, S. 1. – Die hier und im Folgenden abgekürzt zitierte Literatur kann mithilfe der Auswahl­bibliografie allgemeiner Titel (siehe Teil III.) aufgelöst werden.

Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen     |

software gemein – reagieren selten auf Dezenz und einen unaufdringlichen Fingerzeig. Gestensteuerung ist vielmehr – wie die Gestik als solche auch – tendenziell totalitär. Halten wir vorerst fest: Am Vorabend einer neuen Epoche, nämlich jener der ‚dingbefreiten‘ Gesten (wir können uns das vorläufig auch wie echtes töneerzeugendes Musizieren auf einer Luftgitarre vorstellen), also an einer kinästhetischen, anti-haptischen Technikwende, ist es virulenter denn je, über die bisherigen körperlich bedingten Verhaltensmuster von Menschen mit Dingen in kunst- und designwissenschaftlicher, insbesondere in historischer Perspektive nachzudenken. Darum soll es im Folgenden gehen.

Vorbemerkung Vorweg noch eine Bemerkung zur Genese unserer Überlegungen: Dieser Text, der im ­ersten Teil (I.) auf das Skript einer vor angehenden Designerinnen und Designern an der Westsächsischen Hochschule Zwickau/Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg gehaltenen Impuls-Vorlesung zurückgeht (2012/13), 3 stellt den Versuch dar, verstreute und methodisch disparate Ansätze aus der kunst- und designwissenschaftlichen be­ziehungs­weise -geschichtlichen Literatur mit eigenen, durchaus subjektiven Beobachtungen zusammenzuschließen. Der spezielle akademische Gebrauchskontext begründet den kolloquialen Duktus des Texts, erklärt seine gelegentliche (didaktisch gemeinte) Redundanz, und er rechtfertigt die Lizenz, nur ein Versuch sein zu müssen. Als experimentell könnte man in diesem Sinn beispielsweise monieren, dass – nach Ausweis der Überschrift – kategorial unterschiedliche, disziplinär separierte (um nicht zu sagen isolierte), sicher aber unter stark differenten Entstehungsbedingungen erdachte und gemachte sowie in ganz verschiedenen Habitaten beheimatete Artefakte zwangsvergesellschaftet werden sollen: So kümmert sich bislang die europäische Kunstgeschichte beziehungsweise ihr mediävistischer Zweig um unikale Aquamanilen, also Gießgefäße des Mittelalters. Die auf vestimentäre Phänomene und Praktiken spezialisierte Kulturbeziehungsweise Mode­geschichte der Neuzeit befasst sich – wenn auch zumeist nur am Rande ihrer Kleiderpanoramen – mit in Kleinserien hergestellten Accessoires wie den Retikülen, also Damen­taschen. Um die vorindustriell, manufakturell gefertigten Savonnettes der Moderne sorgen sich – wenn überhaupt – nur wenige Special-Interest-Wissenschaftler in ebensolchen Nischenmuseen, in diesem Fall in (Taschen-)Uhrenmuseen. Und welche Disziplin(en) sich zukünftig um „iPhones“ kümmern wird (beziehungsweise werden), ist noch gar nicht auszumachen, außer der Designwissenschaft kämen die 3 Thesen dieser Vorlesung konnten bereits zuvor im Rahmen von Gastvorträgen und Seminaren mit Studierenden diskutiert und experimentell erprobt werden. Allen, die sich an den ‚Versuchen‘ in Linz (Kunstuniversität), Tallinn (Estonian Entrepreneurship University of Applied Sciences), Lodz/ Łódź (University of Technology), Budapest (Moholy-Nagy University of Art and Design) und Leipzig (Universität/Institut für Kunstgeschichte) sowie – vor allem – in Schneeberg (Westsächsische Hochschule Zwickau/Fakultät Angewandte Kunst) beteiligten, möchten wir an dieser Stelle herzlich ­danken.

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Kommunika­tionswissenschaft, aber auch die Psychologie und die Soziologie und wohl noch weitere in Betracht. Auch die Frage nach dem zukünftigen Verwahrungsort von „iPhones“ ist ungeklärt: Design- und/oder Kommunikationsmuseen – oder gar solche, die sich auf (neo­sexuelle) Fetische aller Art spezialisieren? Doch lassen wir das; zurück zum Thema. Es könnte vor dem in der Überschrift entfalteten, offenkundig heterogenen Artefaktetableau weiter beanstandet werden, dass die genannten sächlichen Protagonisten designwissenschaftlich traktiert werden sollen. Design – ein Terrain, auf dem, semantisch eingepfercht, in der Regel nur seriell und industriell produzierte Konsumwaren mit einer signifikanten Gestaltungshöhe kultiviert werden und das verabredungsgemäß erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestellt wurde –, die exklusive (Begriffs-)Kategorie Design also scheinbar unterschiedslos auf all die genannten diachronen Phänomene anzuwenden, könnte, ja muss prima vista ahistorisch wirken und übertritt zweifellos eine weitere auf Konvention beruhende disziplinäre Demarkationslinie.4 Von der vorderhand in Zweifel zu zie-

4 Ermutigt zu dieser begrifflichen und methodischen Weitung hat mich unter anderem die Lektüre von Horst Bredekamps Buch Theorie des Bildaktes (2010; zurückgehend auf die 2007 in Frankfurt am Main gehaltenen Adorno-Vorlesungen). Der Kunst- und Bildwissenschaftler entwickelt hier als Gegenstück zur seit Längerem in der Linguistik diskutierten Sprechakttheorie (hierzu siehe auch weiter unten) eine Erklärung von der Wirkmacht der Bilder. Unter der Überschrift „Allgemeine Definition des Bildes“ beziehungsweise „Homo faber und ästhetische Differenz“ mustert Brede­ kamp die deutlich jenseits des kunsthistorischen Terrains liegenden ur- und frühzeitlichen Artefakte und stellt fest, dass beispielsweise einige der „in Niedersachsen gefundenen, vor 600 000 bis 400 000 Jahren gefertigten Speere […] von einer solchen Vollendung [sind], daß ihre Funktionalität auch eine ästhetische Seite besaß“ (Bredekamp 2010, S. 27). Bredekamp entfaltet so die These, dass die evolutionsgeschichtlichen Vorläufer des heutigen Menschen – schon – willens und in der Lage waren, ihre Werkzeuge und Waffen unter dem Aspekt einer ästhetischen Differenzierung herzustellen und zu betrachten. Zum Kardinalzeugen für diese These beruft er einen bei West Tofts (Norfolk, Groß­britannien) gefundenen und heute in Cambridge verwahrten Faustkeil (Museum of Archaeology and Anthropology). Er ist in der Tat frappierend gearbeitet: Das Steingerät wurde dergestalt um ein eingeschlossenes Muschelfossil herum abgearbeitet, dass dieses wirkungsvoll im Zentrum des Steins zu stehen kam. Die messerscharfen Grate – sie machen das Wesen eines Faustkeils aus, um ihretwillen stellte man in Tausenden von Jahren, bis weit ins Neolithikum Faustkeile her –, diese Grate oder Schneiden erscheinen bei diesem Stück lediglich wie eine Rahmung um die solcherart noch zusätzlich betonte Sonderform der Muschel (Spondylus spinosus), die – wenn man so weit gehen mag – das eigentliche ‚Thema‘ des ungefähr 200 000 Jahre alten Artefakts abgibt. Bredekamp interpretiert das Werkzeug beziehungsweise Artefakt in der Folge als eine Art plastisches Bild: Der beschriebene Faustkeil weise gegenüber anderen ‚normalen‘ Faustkeilen eine ästhetische Unterscheidung auf. Diesen gestalterischen Mehrwert nennt Bredekamp „ikonische Differenz“ (ebd., S. 27f., hier S. 27). Und diese sei nicht bloß „Zutat“, sondern „Ferment der frühen Kulturen“; „im Bild“, so Bredekamp weiter, sei „eine Wesensbestimmung der Spezies Mensch zu erkennen“ (ebd., S. 32). Im Blick auf den behandelten staunenswerten Faustkeil mit der semantischen, das heißt bedeutungsvollen Nebenfunktion eines gestalteten ‚Schmucksteins‘ möchten wir – und hiermit kommen wir wieder auf unseren Zusammenhang zurück – lieber von einem Objekt sprechen, und – warum nicht? – von einem der ersten Designobjekte der Weltgeschichte. Damit wäre zugleich die Gestaltung beziehungsweise das Design als ein Wesenszug des Menschen, und wäre das Gestaltete, also das bewusst designte Ding als eine Art anthropologische Spur oder Signatur des Menschen in der Welt erkannt und der Begriff ‚Design‘, elastisch wie ein Gummiband, sogar

Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen     |

henden Kompetenz des zwangsläufig auf fremden, weiten Feldern dilettierenden, buchstäblich undisziplinierten Verfassers (der von Haus aus ‚klassischer‘ Kunsthistoriker ist) ganz zu schweigen. Freilich, wir sind uns all dessen bewusst – und tun es dennoch, wohlgemerkt versuchsweise, und dies vor allem, um mit einem von einer déformation professionelle möglichst unverstellten Blick nicht Trennendes, sondern Verbindendes im Gebrauch der Artefakte zu erkunden. Die vorgeblich zentrale Dingfunktion, namentlich den Gebrauch, werden wir dabei methodisch in strikter Abhängigkeit von materiel­ ler Formgebung und nichtmaterieller Handlung, also objekt-, gestalt- und wirkungsbezogen betrachten. Und dieser – bislang kaum je ausgeleuchtete – Aspekt von Realien ist nun einmal am ehesten mit einer genuin ding- und benutzersensiblen, designwissenschaftlichen Methodenoptik fokussierbar (jedenfalls aber mit keiner der traditionellen kunsthistorischen, objektfixierten Hermeneutiken). Das für unsere Fragestellung nach der Gebrauchsgeste maßgebliche Tertium Comparationis ist der trivial scheinende, aber unabweisbare Umstand, dass Benutzer die genannten Artefakte, um sie bestimmungsgemäß und sachgerecht zu gebrauchen, auf jeweils spezifische Weise gestisch handhaben mussten (beziehungsweise müssen). Sie mussten diese zum Beispiel in ihren Händen halten und ‚bedienen‘ (auch dies ein merkwürdig abgründiges Verb: wer dient wem/ wer bedient wen oder was?), sie mussten sich gegenüber den Artefakten körperlich verhalten. Das der Literaturwissenschaft entlehnte Wort Konfiguration soll dabei das im Auge eines Dritten wahrnehmbare Aufeinanderbezogensein von Mensch und Ding im Modus des Gebrauchs auf den Begriff bringen. Auf welche Weise und zu welchem Zweck Menschen und Dinge solcherart ‚konfigurieren‘, wird sogleich exemplarisch in drei Fallstudien zu erläutern sein. Diese Vorbemerkungen (die nicht von ungefähr das Gepräge einer klassischen ­Captatio Benevolentiae tragen) abschließend, sei nochmals betont, dass der folgende Text nicht nur sächlich und methodisch einen Versuch, sondern auch formal einen Essay darstellt, wenn auch einen mit über Gebühr langen Anmerkungen. Sie bergen, außer den nötigsten Nachweisen des wörtlich oder sinngemäß Zitierten, das in den Vorlesungen beiseite Gesprochene und Extemporierte. Die Anmerkungen stellen somit keinen kritischen Apparat im engeren Sinn zur Verfügung. Wohl aber offerieren sie punktuell weiter­führende Versuchsanordnungen und können (müssen aber nicht) parallel zum Fließtext gelesen werden. Im zweiten Teil (II.) werden – wie es sich für eine einem Sammelband vorangestellte ‚Handreichung‘ gehört – die von verschiedenen Autorinnen und Autoren beigetragenen und (mit nur zwei Ausnahmen) auf der Schneeberger Designtagung im November 2012 präsentierten Denkanstöße und Objektstudien kursorisch vorgestellt und auf das soeben skizzierte Thema der Mensch-Ding-Konfiguration rückbezogen. um die Urgeschichte gelegt. – Zu Feuersteinen im Allgemeinen siehe Unser, Stefan: Die Feuer­steinTechnologie der Steinzeit. Funde aus der Werkstatt des Neandertalers und seiner Urahnen aus der ‚Regio‘ (Markgräflerland) als Lehr-Modell […], Freiburg im Breisgau 1983.

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Lesehinweise am Schluss des Textes (III.) wollen helfen, eigene Pfade in die interdisziplinäre – im weiteren Sinn – designwissenschaftliche und -theoretische, vor allem deutschsprachige Literatur zu ebnen. Denn das Epistemische im Design zu betonen, hat seit Längerem Konjunktur; das diesbezügliche Schrifttum ist in den letzten Jahren zu einem Berg angewachsen, den ein Einzelner kaum mehr überblicken kann. Die Hinweise sind hoffnungslos subjektiv und erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, können aber sehr wohl als Kompass der ersten Schritte auf einem fruchtbaren Feld dienen, einem Feld, das – noch – über keinen kanonischen Referenzrahmen verfügt.5 Gehen wir nun also buchstäblich in medias res, mitten in die Dinge.

I. Aquamanile sind eine ziemlich alte Gefäßgattung. Bronzene Zimelien dieses Typs wurden vor allem zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in kirchlichen und höfischen, aber auch in zünftigen Zeremonien genutzt. Davon legen Gebrauchspuren an erhaltenen Exemplaren ein klares Zeugnis ab (Abb. 1a, b). Aquamanilen wurden also über ein halbes Jahr­tausend hergestellt, gebraucht und geschätzt. Sie waren damit wohl ihrem Typ nach eine Art Massen­produkt avant la lettre, wenn auch ein jeweils individuell, handwerklich unikal gefertigtes. Solcherart werden Aquamanilen den meisten Zeitgenossen – zumindest im kirchlichen Kontext – präsent gewesen sein. Tatsächlich ist auch die Quantität der auf uns gekommenen Stücke nicht gering, stark schwankend indes ihre Qualität. Die meisten kulturgeschichtlich ausgerichteten Museen können nicht selten eine ganze Reihe von Aquamanilen vorweisen, ausgestellt sind zumeist nur die extraordinären, bizarren. Deutlich jünger als die Realiengattung ist ihre Benennung. Sie stammt – wie auch die Mehrzahl jener Museen, die die Aquamanilen verwahren – aus dem 19. Jahrhundert und bezeichnet summarisch mittelalterliche und frühneuzeitliche, figürlich gestaltete Gießgefäße, die zur Händewaschung dienten. Das deutet schon der Name selbst an. Er ist zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern ‚aqua‘ (Wasser) und ‚manus‘ (Hand). Im Sprachgebrauch seit dem hohen Mittelalter scheint der Begriff aber nicht das Gießgefäß, sondern sein Komplementär bezeichnet zu haben, nämlich jene Schale, die das aus dem Krug (lat. ‚urce[ol]us‘) über die Hände ausgegossene Wasser auffing.6 Doch lassen wir diese Spitzfindigkeiten; schauen wir lieber auf die Gerätschaften: Sie sind, was ihre künstlerische, zumeist zoomorphe, manchmal auch fantastische Formgebung betrifft, durchaus „pikante Dekorationsobjekte“ (Alexander Schnütgen).7 In einer Beschreibung

5 Vgl. hierzu Bürdek 2011; ders. 2012 (mit weiterführender Literatur). 6 Hier und im Folgenden siehe Bloch, Peter: Aquamanilien. Mittelalterliche Bronzen für sakralen und profanen Gebrauch (= Iconographia, hg. von Franco M. Ricci), Genf u. a. 1981 [o. P.]; Hütt, Michael: Aquamanilien. Gebrauch und Form („Quem lavat unda foris …“), Mainz 1993, hier S. 9. 7 Zit. nach Hütt 1993 (wie Anm. 6), S. 10.

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1 a, b  Aquamanile in Gestalt eines Drachen, um 1220, und Löwenaquamanile, Anfang 13. Jahrhundert (Nachbildung, um 1880)

des Mainzer Domschatzes aus dem 12. Jahrhundert werden einige Varianten benannt; ein ganzer Fundus von Aquamanilen scheint dort verwahrt worden zu sein: „Es gab […] Gießgefäße verschiedener Form, die man manilia nennt, weil aus ihnen Wasser über die Hände der Priester gegossen wird. Einige hatten die Form von Löwen, andere von Drachen, Vögeln, Greifen oder auch irgendwelcher anderer Tiere.“8

Die mannigfache Unterschiedlichkeit und vielgestaltige Formgebung der zahl- und variantenreichen Aquamanilen – man könnte auch mit kunsthistorischen Fachtermini von der Realisierung der Konzepte von ‚copia‘ und ‚varietas‘ sprechen – leitet sich nicht leicht aus ihrer vermeintlich schlichten utilitären Funktion des Wasserausgießens her. Aquamanilen sollen augenscheinlich auch Repräsentationszwecke erfüllen und – das können wir an dieser Stelle nur behaupten, nicht aber beweisen – mittels ihrer konkreten figürlichen Gestaltung abstrakte Botschaften verkörpern. Als solche kämen vor allem ethisch-moralische Exempla wie kardinale Tugenden und ritterliche Werte in Betracht; so zum Beispiel Reinheit (für die nach Auskunft mittelalterlicher Naturlehrbücher, sogenannter Physiologi, ein Greif oder Drache stehen könnten), Treue, Mut, Glaubens- beziehungsweise Herrscherstärke oder Macht (die gemeinhin ein heraldischer Löwe anzeigt).9 Aquamanilen sind demnach sowohl als luxuriöse, bedeutungsvolle Prunkgefäße als 8 Bloch 1981 (wie Anm. 6), vgl. die Quellenkritik bei Hütt 1993 (wie Anm. 6), S. 78f. 9 Zum Problem der allegorischen Tierbildauslegung, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, siehe Hütt 1993 (wie Anm. 6), S. 108–137.

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auch als anwendungsbezogene Gebrauchsgeräte anzusehen. Anders ausgedrückt, ihre Funktion war mindestens zu gleichen Teilen eine hygienische und eine symbolische. Ihre äußere Form blieb, wie oben angedeutet, über 500 Jahre – und sogar noch darüber hinaus – nahezu unverändert. Fröhliche Urständ feierten sie übrigens im 19. Jahrhundert, als die Nachbildung von Aquamanilen zu einem Betätigungsfeld geschäftstüchtiger Replikatehersteller wurde, sei es in historisierender Absicht oder sei es mit kriminellem Vorsatz (und wie viele Museen heute anstelle von Originalen moderne Repliken zeigen, ist wohl diesen selbst nicht immer bewusst). Wie dem auch sei, die formale Gestaltung von Aquamanilen war von einer beeindruckenden longue durée, von einer Langlebigkeit, die kaum einem modernen Designprodukt je beschieden sein dürfte. Man kann zudem festhalten, dass ihre, wie oben angedeutet, wertevermittelnde Motivik den situativen Gebrauchskontext, namentlich die Handlung des (Rein-)Waschens im kirchlichen und höfischen Zeremo­niell, allegorisch verstärkte und damit zugleich ikonografisch interpretierte. Und wie um diesen künstlerischen, sinnbildlichen Mehrwert der Allegorese anschaulich zu bekräftigen, durften (beziehungsweise sollten) Aquamanilen widerspenstig, ja unpraktisch sein. Dies sei unsere erkenntnisleitende Annahme, unsere Arbeitshypothese. Was ist nun mit ‚unpraktisch‘ gemeint? Mindestens zweierlei: Nicht nur die Säuberung und Trocknung der Gefäßepidermis beziehungsweise des Gefäßinneren wird sich als reichlich langwierig gestaltet haben (im Mittelalter gab es in den Sakristeien zu­weilen spezielle Abtropfschränke, in denen die Geräte kopfüber hängend aufbewahrt wurden). Auch – und vor allem – die motorische Handhabung, das Handling der Aquamanilen im Gebrauch oder, temporal formuliert, während des Gebrauchs scheint – wie sich mit ein wenig Wohlwollen und Fantasie imaginieren lässt – umständlich, jedenfalls aber nicht ‚benutzerfreundlich‘ (oder gar ergonomisch).10 Zwei realistische Möglichkeiten der Überprüfung unserer Behauptung gibt es: Einerseits können wir grafische, also bildliche Quellen zum historischen Aquamanilengebrauch suchen und befragen. Andererseits können wir empirisch (und analog zur Methode der sogenannten experimentellen Archäologie), das heißt auf Basis der sprichwörtlichen Probe aufs Exempel argumentieren. Zunächst zu einer grafischen Quelle; sie mag hier für eine ganze Reihe von derartigen Verbildlichungen stehen: Die liturgische Realität um 1500 gab offenbar das Muster für die Imagination einer Szene aus der Passionsgeschichte Christi, nämlich der Hände­ waschung des Pilatus im Grazer Diözesanmuseum ab (Abb. 2).11 Das Altargemälde zeigt, wie Wasser aus einem von einem Bediensteten gehaltenen Löwenaquamanile über

10 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei als Coda angefügt: Wir sind uns durchaus bewusst, dass unsere heutigen Begriffe von Zweckmäßigkeit oder – um einen dezidiert designwissenschaftlichen Fachbegriff zu nennen – ‚Usability‘ nicht ohne Weiteres auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit zu projizieren sind. Nach dem sachspezifischen Handling zu fragen, wird aber deshalb nicht per se ahistorisch sein. 11 Vgl. hierzu Kaindl, Heimo: Diözesanmuseum Graz, Auswahlkatalog […], Bischöfliches Ordinariat Graz-Seckau, Graz 1994, S. 42f. (Marientod); Hütt 1993 (wie Anm. 6), S. 101–103, hier S. 101f. mit Abb. 39.

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2  Umkreis von Hans Klocker (?), Händewaschung (Detail), 1503

die Hände des römischen Statthalters von Judäa rinnt, welcher sich solcherart nicht etwa mit einer hygienischen, wohl aber mit einer symbolischen Motivation seine Hände vorsorglich von Christi Blut rein und damit in Unschuld wäscht (siehe Mt. 27, 24). Schon weil es ein Kunstwerk sui generis ist, ist das Gemälde natürlich kein belastbares Dokument zum Dinggebrauch, etwa im Sinne eines Beweisfotos. Und dennoch dürfen wir feststellen, dass die oben erwähnten Gegenstände als Aquamanile (beziehungsweise Krug) und Auffang- beziehungsweise Handwaschschale nicht nur identifizierbar sind, sondern schätzenswert exakt zur Darstellung kamen. Die offenkundige Beobachtungsgabe und Schilderungsfreudigkeit des Malers im Zusammenhang mit den Realien lässt in der Tat keine Wünsche offen; man beachte nur den beseelten Blick des Löwen und das über den Rand der bronzenen Auffangschale im Schwall sich ergießende Nass. Solcherart ermutigt, dürfen wir der Narration auch im Blick auf die Handhabung des Aquama-

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nile unsere Aufmerksamkeit schenken: Wir erkennen, dass der Maler den Bediensteten des Pilatus das Wasser reichlich ungelenk ausgießen lässt. Der Ellenbogen seines rechten Arms scheint oberhalb der Schulterlinie ausgereckt, der Unterarm spitz angewinkelt und das Gefäß eng vor der Brust gehalten. Im Ergebnis muss sich der Diener leicht beugen, das Gießgefäß in geringem Abstand zu den Händen seines Herren kippen und dabei seine eigene Handlung und Pilatus‘ Haltung strikt im Blick behalten, um sich selbst oder diesen nicht zu bespritzen. Die beflissen ergebene, ja untertänige und ganz dem Pilatus zugewandte Geste sowie die konzentrierte Miene des Bediensteten (man meint die Anspannung förmlich im Blick aus seinen zusammengekniffenen Augen zu fühlen) scheint wie zu einem genrehaften Nebenthema der ansonsten ernsten und entsprechend würdevoll gestalteten Szene ausgebaut. Das Wassergießen aus einem Aquamanile lässt sich tatsächlich kaum anders als hier gezeigt verrichten, jedenfalls nicht viel flüssiger, nonchalanter, gelöster oder beiläufiger. Im Gegenteil, es fordert ganzen Körpereinsatz und volle Konzentration. Woher wir das wissen? Kommen wir also zum empirischen Beweis: Wir haben uns im Selbstversuch mit musealen Aquamanilen davon überzeugen können, dass folgende Beobachtungen für sich Geltung beanspruchen dürfen:12 Ein Aquamanile hat in der Regel a) ein relativ ­g roßes Gewicht, es ist jedenfalls schwerer, als man vor dem Angreifen gemeinhin vermutet, beispielsweise, weil nicht der gesamte Körper hohl, sondern teilweise massiv ausgeführt wurde. b)  Sein Schwerpunkt, physikalisch ausgedrückt der Massenmittelpunkt, ist für ein einhändiges Handling beziehungsweise Kippen nicht selten ungünstig ge­lagert. c) Auch die Anbringung und Ausformung des Henkels scheint geradezu antiergonomisch; sie zwingt dazu, anfänglich beide Hände zu benutzen und die Handgelenke mitunter unangenehm stark anzuwinkeln. Und d) die gestalterisch naheliegende Platzierung des Ausflussrohres, der Tülle, im jeweiligen Tiermaul hat in jedem Fall ein unkalkulier­bares, da ungleichmäßiges Fließverhalten des Wassers zur Folge. Die Reihe der Beobachtungen ließe sich fortsetzen, doch lassen wir hier die Details. Halten wir fest: Die konstruktiven, materiellen Eigenarten der getesteten Aquamanile erzwingen (um nicht zu sagen: bedingen), dass der Nutzer sie jeweils mit dem ganzen Körper bedienen muss. Man darf daher – wenn auch mit geliehenen Worten – pointiert formulieren: Mit dem Aquamanile „[…] machen [wir] keine Gesten, wir sind Gesten“ (Gert Selle) oder, ins Philosophische gewendet, „Was aus dem Leib werden soll, ist also jeweils durch das Gerät festgelegt; durch das, was das Gerät verlangt“ (Günther Anders).13 12 Eines der von uns benutzen Aquamanile befindet sich im Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig (Abb. 1b). Wir möchten seiner Direktorin Eva Maria Hoyer für das Placet und Kustos Thomas Rudi für die Hilfe beim experimentellen Hantieren herzlich danken. – Zum Grassi Museum siehe auch den Beitrag von Eva Maria Hoyer im vorliegenden Band. – Andere der an dieser Versuchsreihe beteiligten Museen wollten lieber ungenannt bleiben. 13 Selle 1997, S. 73 (mit allerdings nicht verifizierbarem Nachweis). – Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1,

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Belassen wir es vorerst dabei. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem ersten Gedankengang in allgemeinerer Hinsicht? Zunächst dies: Nicht nur die motivisch-sinnbildliche, ikonografische Gestaltung eines Dings selbst, sondern auch der Eindruck, das Bild, das sich temporal und ephemer beim gestischen Hantieren beziehungsweise beim Gebrauch des Dings im Dazwischen von Mensch und Artefakt ergibt, ist womöglich bedeutsam – und daher auch analytisch deutbar. Unser Beispiel vom Aquamanile soll das Gemeinte illustrieren. Eine Reihe von bewussten gestalterischen – wir sagen daher nun ausdrücklich – Designeigenarten des mittelalterlichen Gießgefäßes bedingt, dass, wie wir soeben gesehen haben, sein Nutzer eine gesammelte, ganz auf die Handlung konzentrierte Haltung einnehmen muss, eine Haltung, die man kurz als ehrerbietig, servil oder sogar als devot charakterisieren könnte. Die Benutzerführung, das gestische Nutzerverhalten – also ‚das, was aus dem Leib werden soll‘ – ist also buchstäblich bedingt, wird offenkundig vom Ding, sofern man es sachgerecht und bestimmungsgemäß nutzen will, diktiert. Wann immer das Aquamanile zum Einsatz kommt, wiederholt sich dieses spezifische Verhalten seines ‚Users‘. Dessen leibliche Dinggebärde ist also keinesfalls sporadisch, sondern repetitiv.14 Sie wird, sooft er zum Aquamanile greift, als die mustergültige Geste aufscheinen. Man könnte diese Gestik nun auch die kinetischpragmatische und handlungsästhetische, eben die aquamanilentypische Bewegungsroutine nennen. Oder theatralisch formuliert: Der Aquamanilenutzer ist gezwungen, wie in einer Rolle zu agieren, je häufiger, desto selbstverständlicher, aber immer in gleicher, erwartbarer Weise. Die performative Gebrauchsgeste ist als solche naturgemäß bildgebend: Im Auge eines Dritten stellt sich die spezielle aquamanilentypische Gebrauchsgeste des Nutzers, mög­licherweise noch verstärkt durch den kultisch-rituellen/höfischen Kontext, in dem sie aufgeführt wird (beispielsweise regelmäßig in einer Messe oder bei einem Bankett), als ein atmosphärisches Bild des Devot-Kultischen, Servil-Zeremoniellen und Feierlich-Würdigen dar. Ausführungen zu liturgiewissenschaftlichen Aspekten des speziellen kirchlichen Aquamanilegebrauchs sollen hier aus Platzgründen unterbleiben. Kursorische Hinweise auf die eminente Bedeutung der Händewaschung nach (oder auch vor) der Gabenbereitung und der Altarinzens als liturgischen, nicht nur visuell, sondern auch verbal akzentuierten, sündenvergebenden (Übergangs-)Ritus (das Wasserausgießen wird regelmäßig begleitet von den die Waschhandlung deutenden und an Ps. 26, 6–12 orientierten Begleitformeln ‚Lavabo …‘ beziehungsweise ‚Lava me …‘), auf das gemeindliche Erfordernis, die Sichtbarkeit und Eindeutigkeit dieser exklusiven

Sonderausg., München 1961, S. 39, vgl. hierzu Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolution, München 2002, S. 65. 14 Der Begriff der (Ding-)Gebärde findet sich mit anderer Akzentuierung beispielsweise bei Martin Rexer, dem es unter der in Anführungszeichen gesetzten Überschrift „Besen-Gebärden“ vor allem um die ordnungspolitische Dingbedeutsamkeit des Objekts zu tun ist; er unterscheidet im Wesentlichen weibliche von männlichen Dinggebärden, oder besser Dingsymboliken des schwäbischen Besens; siehe Rexer 1992, S. 247–252, hier S. 252. – Zum Begriff der Dingbedeutsamkeit siehe auch weiter unten.

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priesterlichen Handlung im Kirchraum (also über eine zuweilen große Distanz) sicherzustellen (oder diese Handlung zumindest gestisch signalhaft anzuzeigen), und – damit zusammenhängend und zugleich allgemeiner ­– auf die vielfältigen, vor allem mittelalterlichen Praktiken der Schaulusterzeugung und -befriedigung müssen an dieser Stelle genügen. Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass die aquamanilentypische Handlungsästhetik (auch) in der theologischen/liturgischen Betrachtungsweise als eine uneingeschränkt sinnvolle, pragmatische aufscheint. Wie dem auch sei, das eindrückliche Gebrauchsbild der Aquamanilenutzung würde es weder in der Kirche noch bei Hofe ohne das Zusammenspiel von Ding beziehungsweise Dinggestaltung auf der einen Seite und Dingnutzung beziehungsweise -nutzer auf der anderen nicht geben. Insofern scheint es gerechtfertigt, das konfigurative Aufeinanderbezogensein von Mensch, Geste und Ding als eine zwar nichtmaterielle, aber, trotz (oder auch wegen) ihrer geradezu Burckhardt’schen ‚Unsichtbarkeit‘,15 designte Dingfunktion anzusprechen, als eine Funktion also, die im produktiven Werkprozess, gewissermaßen im schöpferischen Diskurs mit dem Material und seiner Formung, Gestalt annahm und wirkungsästhetisch auf ein komplexes Handlungsgefüge verweist. So weit, so klar – und so banal. Dass Dinge nur im vortheoretischen Umgang mit ihnen einen unangetasteten Objektcharakter besaßen, ist heute ein Gemeinplatz – wenn auch einer, der immer noch sehr häufig aufgesucht wird. Dass es über den funktionalen und instrumentellen Dinggebrauch hinausgehende kreative Umgangsweisen zu beachten gibt, ist eine Binsenwahrheit. Seit Längerem schon werden symbolische, affektbesetzte und emotionale Mensch-Ding-Relationen in den Fokus gestellt und die kollektiven, kulturell kodierten Dingbedeutsamkeiten betont (es spricht unseres Erachtens einiges dafür, von Dingbedeutsamkeit stets im Plural zu sprechen; sie kommt kaum je im Singular vor).16 Unter den dabei zur Anwendung gebrachten Methoden spielt spätestens seit 15 Siehe Burckhardt 2012, S. 13–25, vgl. auch Burckhardt, Lucius: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hg. von Jesko Fezer u. a., Berlin 2004 (darin: „Design ist unsichtbar“; Erstver­ öffentlichung 1980), (17. 05. 2014). – Für einige Hinweise auf die weiter oben erwähnten liturgischen Aspekte des vortridentinischen Aquamanilegebrauchs sei stud. phil. Paul Brakmann (Leipzig) gedankt; er schrieb eine diesbezügliche Hausarbeit innerhalb eines vom Verf. geleiteten designwissenschaftlichen Seminars an der Universität Leipzig. Siehe auch Suntrup, Rudolf: Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (= Münstersche Mittelalter-Schriften, 37), München 1978, S. 350–355; Lüstraeten, Martin: ‚Ich will meine Hände waschen inmitten der Unschuld …‘. Liturgietheologische Anfragen an den Ritus der Händewaschung, in: Synaxis katholike. Beiträge zu Gottesdienst und Geschichte der fünf altkirchlichen Patriarchate für Heinzgerd Brakmann zum 70. Geburtstag, Teilbd. 2, hg. von Diliana Atanassova u. a. (= Orientalia-Patristica-Oecumenica, 6,2), Wien u. a. 2014, S. 419–440. 16 Zur Erläuterung: „Kulturell kodiert – das heißt: durch objektbezogene Handlungserfahrungen werden im Laufe der Lebenszeit und Kollektivgeschichte Strukturen und Muster aufgebaut, die das Verhältnis zu den Dingen regeln“ (Korff 1995, S. 33). – Der Ethnologe Gottfried Korff (geb. 1942) benutzt zusammenfassend einen von Karl-Sigismund Kramer (1916–98) in die Diskussion gestellten Begriff, die Dingbedeutsamkeit, und führt dazu aus: „Diese Dingbedeutsamkeiten existieren unabhängig

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den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Performanz eine wichtige Rolle – gemeint ist jene von der Linguistik adaptierte, von John L. Austin (1911–60) in den 50er-Jahren begründete und in den 60er-Jahren von anderen Philosophen (wie beispielsweise John R. Searle, geb. 1932) fortentwickelte Sprechakttheorie, die, kurz gesagt, das Wirkmächtige, vor allem aber auch das Inszenatorische und Prozesshafte eines (Sprech-)Aktes, einer (Sprech-)Handlung erkannte. Tatsächlich ist Performanz zu einer festen Größe im Theorienrepertoire der allgemeinen Geistes- und Kunstwissenschaften geworden; mehr noch, man kann von ihr mit Fug und Recht als einer Leit- und Schlüsselmethode auch bei der momentan auf Hochtouren laufenden Traktierung von Dingen sprechen.17 Gleiches gilt für die in der Mitte der 80er-Jahre entstandene „Akteur-Netzwerk-Theorie“ („ANT“), der es – ebenfalls sträflich verkürzt gesagt – um die wissenschaftstheoretische, vor allem sozialkonstruktivistische Beschreibung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu tun ist. In der Perspektive Bruno Latours (geb. 1947) und anderer Protagonisten dieser Theorie (wie beispielsweise Michel Callon, geb. 1945) sind nichtmenschliche Entitäten wie Gegenstände nicht Objekte, sondern Quasi-Subjekte, Mithandelnde („Aktanten“).18 von individuellen Verwendungsformen, unabhängig auch von subjektiven Inskrip­t ionen alltagspraktischer und emotionaler Art. Gleichwohl ist ihr Ausgangspunkt das lebensweltliche Handeln, die materielle Beschaffenheit und die gestaltmäßige Evidenz der Dinge“ (ebd.), vgl. hierzu Kramer 1995. Bei den Dingbedeutsamkeiten handelt es sich also um öko- oder kulturpsychologisch relevante Sinnkonstruktionen beziehungsweise eine symbolische, zuweilen rituelle Ordnung der Dinge, mithin um intra-subjektive und inter-subjektive Koordinationen. – Zur Dingbedeutsamkeit als Zugang zum Verstehen des Alltags siehe auch Hahn 2005, hier S. 9, 11. – Vgl. ferner Mihaly Csikszentmihalyis und Eugene Rochberg-Haltons wichtige Untersuchung zum ‚Sinn der Dinge‘ (bereits 1981 auf Amerikanisch, 1989 auf Deutsch erschienen), die sich unter persönlichkeits- und sozialpsychologischen Aspekten, mit empirischen, befundorientierten Methoden sowie in Anerkenntnis eines entscheidenden Apriori den Gegenständen nähert, nämlich, dass sich der Mensch mit Gegenständen umgibt, die vor allem eines sind, Symbole, also Bedeutungs-, nicht Funktionsträger, vgl. Csikszentmihalyi/Rochberg-Halton 1989; siehe auch grundlegend Selle/Boehe 1986. 17 Voraussetzung der ubiquitären Verwendung des Begriffs Performanz war und ist – wie so oft – ein wenig präzises Verständnis von seiner Bedeutung, vgl. Hempfer/Volbers 2011, S. 7–12 (Vorwort) und Bremer/Wirth 2009. – Hierzu nur so viel: Das Wort ‚performativ‘ stammt aus der Linguistik be­ziehungsweise Sprachphilosophie und bezog sich ursprünglich „auf einen bestimmten Typus von Äußerungen, die im Vollzug einer sprachlichen Handlung das konstituieren, was sie sprachlich äußern“ (Hempfer/Volbers 2011, S. 7–12 [Vorwort], hier S. 7), kurz, es betont die selbstreferenzielle Prozesshaftigkeit beziehungsweise die (theatralische) Konstruktion von Sinnzusammenhängen mittels eines (Sprech-)Aktes, eines Aktes also, der durch Worte soziale Tatsachen entstehen lässt. Ein vielzitiertes Beispiel in diesem Zusammenhang ist der Satz: ‚Ich erkläre euch zu Mann und Frau‘, vgl. Volbers 2011, S. 141. Unerlässlich ist hierbei, wie auch sonst im Bereich des Performativen, eine gewisse Korporalität, das heißt Körperlichkeit oder Verkörperung dieses Aktes, also die physische Präsenz (hier des Hochzeitspaares und des Geistlichen) und das zumeist gleichzeitige gestische Handeln (Sprechakt, Blickkontakt, Handzeichen usw.). Zentral ist also der Gedanke der Aufführung oder der Inszenierung als ebenso intendiertes wie auch sinnstiftendes Momentum des (Sprech-)Aktes. Und in dieser Bedeutung können wir den Begriff in unseren Zusammenhang überführen, wir brauchen hierfür nur ‚(Sprech-)Akt‘ durch ‚Dinggebrauch‘ zu ersetzen. 18 Vgl. Latour 2010; siehe hierzu auch Weber 2008, S. 63f. – So zwingt beispielsweise der von Latour viel beachtete sogenannte Berliner Schlüssel seinen Benutzer, die soeben geöffnete (Hof-)Tür nach dem Hindurchgehen sofort wieder zu verschließen, denn anders lässt sich der Schlüssel dem Schloss nicht entnehmen. Der Schlüssel ist also eine Art „Aktionsprogramm“; Latour 1996, S. 37–52 („Der

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Als solche stehen sie dem Nutzer gleichberechtigt, symmetrisch gegenüber. Auch (Herbert) Marshall McLuhans (1911–80) seit den späten 1960er-Jahren verbreitete, ungemein folgenreiche Medientheorie gehört selbstverständlich in diesem Zusammenhang aufge­r ufen. Es sei hier nur auf die von ihm in aphoristischer Verdichtung auf den Punkt gebrachte reziproke Beeinflussung zwischen Entwurf (Design) und Wirkung (Benutzung) ver­w iesen: „We shape our tools and afterwards our tools shape us“ (hier nach der kongenialen Pointierung John M. Culkins zitiert).19 Eine detaillierte Kritik dieser (und noch anderer) Theorien wäre sicher lohnend, zumal, wenn man sie strikt auf kunst- und designhistorische Artefakte anwenden, in ihrer wechselseitigen Verquickung reflektieren sowie in ihrem Verhältnis zu jüngeren, derzeit ins Kraut schießenden Trieben der sogenannten ‚Thing theory‘ oder ‚Kultursoziologie des Designs‘ erproben wollte. Eine solche metatheoretische Auseinandersetzung soll hier aber nicht nur aus Platzgründen unterbleiben, sie ist einfach nicht unser Thema. Wir können es für unsere Frage bei folgender Feststellung belassen: Dass das Ding zwar grammatikalisch ein Neutrum ist, ihm aber das kartesianische Prädikat von seiner Objektivierung durch das anthropozentrische Subjekt abhandengekommen ist, und ihm demgegenüber nahezu anthropomorphe, jedenfalls vielfältige wirk- und eigenmächtige, zu vielfältigen sozialen Interaktionen fähige Qualitäten eignen, ist, wie bereits oben angedeutet, Communis Opinio und muss für das Folgende auf der Habenseite verbucht werden.20 Für unsere Argumentation wird es ferner zielführend sein, wenn wir Berliner Schlüssel“), hier S. 47. – Dieses ‚Schlüsselerlebnis‘ illustriert, dass dem Ding (hier konkret dem Schlüssel, strenggenommen der ingeniösen Schloss-/Schlüsselmechanik) eine Art Nutzungsbeziehungsweise Nutzeranweisung eingeschrieben ist. – Madeleine Akrich, eine weitere Protagonistin der „ANT“, hat diese impliziten Imperative mit der Metapher des Skripts belegt: „[…] a technical artifact can be described as a scenario replete with a stage, roles, and directions governing the interactions between the actors (human and nonhuman) who are supposed to assume those roles“ (Akrich 1992, S. 174), vgl. auch Weber 2008, 63f. – Zur Metapher der Rolle siehe auch weiter unten. - Einen originellen Ansatz des ‚Theorietransfers‘, namentlich der „ANT“ auf das Design versucht die französische Soziologin Albena Yaneva. Allerdings fokussiert sie vor allem das „Soziale“ beziehungsweise die „Sozialität“ des Designs, nicht die Geste, siehe Yaneva 2012 (Erstveröffentlichung 2009). 19 Culkin, John M.: A Schoolman’s Guide to Marshall McLuhan, in: Saturday Review (London), 18. 03. 1967, S. 70; siehe hierzu auch den Aufsatz von Susanne König im vorliegenden Band. – Der Gedanke ist Allgemeingut geworden, siehe beispielsweise: „Gleichfalls ist zu beobachten, daß mit der Gestaltung der Dinge auch unsere Objektbezüge, Verhaltensformen und unser Selbstbild mitgestaltet werden. Die Gegenstände, denen Designer Form geben, bringen unser Verhalten ‚in Form‘. Beispielsweise fordern Kaffeehausstühle zu einer anderen Sitzhaltung auf als der Ohrensessel, in ­Stöckelschuhen läuft es sich anders als in Birkenstock-Sandalen, und Pünktlichkeit konnte erst zu einer Tugend werden, als es Uhren gab“ (Steffen 1995, S. 9–17 [Einleitung], hier S. 10). – Siehe jetzt auch die bei Hofmann 2012 und Moebius/Prinz 2012 versammelten, vor allem kultursozio­logischen Aufsätze, die die „Objektblindheit der klassischen Soziologie“ (Moebius/Prinz 2012, S. 9–25 [Ein­ leitung], S. 10) zu heilen versuchen und ein Plädoyer für ein neues „Human Centered Design“ vortragen (Hofmann 2012, Klappe); die Geste nehmen sie jedoch nicht gesondert in den Blick. 20 Unübertrefflich hat Franz Kafka vermocht, all dies (und noch mehr) in seinen „Odradek“ zu legen, jenen fantastischen, unbegreiflichen Gegenstand, von dem man nur wenig erfährt und dem die Sorge des Hausvaters in der gleichnamigen, berühmten Erzählung aus den Jahren 1917/19 gilt. Der

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ältere, schon etwas stumpf gewordene, jedenfalls wissenschaftsgeschichtlich fest konnotierte Theoreme und Begrifflichkeiten meiden und andererseits ein neues, hoffentlich (trenn-)scharfes begriffliches Instrument für unsere Dingoperation zur Diskussion stellen: Die dem Ding qua künstlerisch-gestalterischer Formgebung und technischer Konstruktion inhärente, im Moment seiner Handhabung wahrnehmbar zu Tage tretende und beim Nutzer be-dingt, das heißt unabwendbar ausgelöste gestische Handhabung wollen wir kurz ‚ikonisch‘ nennen. Das Adjektiv umreißt (in Abgrenzung sowohl zu den oben genannten Theorien als auch zur kunstgeschichtlichen Terminologie) die den Menschen, seine Geste und das Ding amalgamierende Prozess- und Bildhaftigkeit des Nutzungsverhaltens als Ganzes. Anders formuliert: Wir fokussieren im Folgenden das handlungsästhetische Umgebungs- und Weichbild der Dinge, das gestisch-motorische Dazwischen21 von Mensch und Ding sowie dessen bildliche Wirkung. Wir haben soeben behauptet, die bildgebende Geste sei unabwendbar, vor allem bedingt durch die Dingkonstruktion. Das führt uns zur nächsten Fragekette: Ist diese vorgeblich zwangsläufige Ikonik nun aleatorischer oder (gewissermaßen tat-sächlicher) intentionaler Natur, also zufällig oder, wie wir es bereits mehrfach suggeriert haben, designt? Und nochmals auf unser vielbemühtes Beispiel gemünzt: Könnte es sein, dass die Gestaltung von Aquamanilen – auch – den Zweck erfüllen sollte, das oben beschriebene spezifische gestische Weichbild des Devot-Kultischen, Servil-Zeremoniellen und Feierlich-Würdigen beim Gebrauch durch einen Nutzer sächlich zu provozieren und Odradek, dessen Name unergründlich (oder sinnlos?) scheint, wird zuerst zum „Wesen“, das sich einigermaßen präzis beschreiben lässt, und das sich dennoch stets entzieht und „nicht zu fangen ist“. Dann mutiert Odradek, dessen „ineinander verfitzte“ Merkmale untereinander unvereinbar scheinen, zu einem veritablen Gegenüber, das „man […] behandelt […] wie ein Kind“. Dann sogar erhebt sich der Odradek, der – wie eine klassische présence à soi – sich selbst zu genügen scheint, in den wenigen Zeilen, die die Erzählung einnimmt, sogar zum menschlichen Subjekt (Pronomenwechsel von ‚es‘ zu ‚er‘), das es fertigbringt, obwohl es aus Holz zu sein vorgibt, verständlich zu sprechen und raschelnd zu lachen, „ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorzubringen vermag“. Odradek, um den sich der Hausvater ‚sorgt‘, führt diesen auch buchstäblich zu einem finalen Nachsinnen über den (eigenen) Tod und die unsterbliche Existenz der Dinge („[…] aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche“). Nicht die Vergänglichkeit des menschlichen Einen, sondern die Unvergänglichkeit des dinglichen Anderen scheint das Sonderbare, auf das uns der Text stößt. Anders ausgedrückt, dass sich der Mensch bekümmern muss, dass die Dinge nicht endlich sind, sondern ein Eigenleben führen, und dadurch noch „Kinder und Kindeskinder“ beherrschen, diese Charakteristika sind nachgerade ein Skandalon. Dies ist, in aller Kürze, das eigentliche Kernthema des Rätseltextes, einer meisterhaften literarischen Miniatur, die wohl auch gerade wegen ihrer (beziehungsweise wegen Odradeks) „Winzigkeit“ ein brillantes Reflexionsmedium über das Objekthafte an sich darstellt, siehe Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten/Textband, hg. von Wolf Kittler u. a. (= Schriften/Tagebücher, Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a.), Lizenzausg., Frankfurt am Main 2002, S. 282–284 („Ein Landarzt“/„Die Sorge des Haus­vaters“), vgl. auch Vedder, Ulrike: Das Rätsel der Objekte. Zur literarischen Epistemologie von Dingen. Eine Einführung, in: dies. u. a. (Hg.): Literarische Dinge/Zeitschrift für Germanistik, N.F., 22, 2012, 1, S. 7–16, hier S. 11–14. 21 Die hier von uns zum zweiten Mal adaptierte Wendung, Designer seien „Spezialisten des Dazwischen“, geht – wenn wir richtig sehen – auf Claudia Mareis zurück; sie umreißt damit aber etwas gänzlich anderes, siehe Mareis 2011, S. 208, vgl. hierzu Bürdek 2012, S. 199.

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visuell auszusenden? Wurden Aquamanilen also womöglich bewusst derart widerspenstig konstruiert, damit das beschriebene Gebrauchsbild immer wieder entstehen konnte, weil es entstehen sollte, da es in seiner Zeit (nota bene: mehr als 500 Jahre lang!) integraler und selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen, visuellen Phänomens Aquamanile war; kurz, weil es zum Aquamanile-Akt einfach dazugehörte? Die erste Frage ist eine rein rhetorische (anderenfalls wäre diese Vorlesung um einiges kürzer ausgefallen). Die Antwort auf die zwei letzten lautet, wie wir hier annehmen wollen, ‚ja‘, zumindest, wenn es stimmt, dass „nichts […] selbstverständlich am Design [ist]“ 22 und nichts zufällig – und dies schon aus logischen Gründen, denn sonst wäre es kein Design, nichts Konzipiertes und Gemachtes. Was bedeutet das? Zur einprägsamen Verdeutlichung sei nochmals das Theater bemüht. Man könnte sich hier das Aquamanile als eine Art (Bild-)Requisite, den Erfinder oder Entwerfer des Aquamanile (oder besser seines hochmittelalterlichen Prototyps) als eine Art Textbuchautor (und damit als Gebrauchsbildentwerfer) und schließlich den Aquamanilenutzer als eine Art Schauspieler wider Willen vorstellen, als einen Akteur, der ungefragt Regieanweisungen im redensartlichen Sinne des Erfinders umsetzen und zur Aufführung bringen muss, will er nicht an seiner Rolle,23 seinem Gegenstand und der sprichwörtlichen Tücke des Objekts scheitern.24 Die impliziten, ding-inhärenten Regieanweisungen könnten etwa lauten: „Halte das Aquamanile dicht vor deiner Brust!“, „Beuge dich mit ganzem Körper vor!“ (und so weiter). Die Perfidie liegt in der dingdiktierten Nichthintergehbarkeit dieser Handlungsanweisung. Kurz, im Umgang mit Dingen zählt der freie Wille wenig. Schwenk von der Bühne ins Publikum: Im Auge des Betrachters, des Zuschauers bildet sich das be-dingte ikonische, szenische Ensemble als eine Art ‚Ding-mit-Mensch-Bild‘ ab, eben als Mensch-Ding-Konfiguration.25 Diese ist die sinnlich wahrnehmbare und womöglich sinnstiftende Bildhaftigkeit des gestischen (körperlichen) Nutzerverhaltens beim Dinggebrauch.

22 Selle 2007a, S. 9. 23 Zum Begriff der Rolle siehe auch das oben in Anm. 18 angeführte Zitat von Akrich. – Gudrun Scholz bezieht den Begriff der Rolle, der bei ihr mehr im Plural denn im Singular vorkommt, auf die Gegenstände selbst, und zwar unter anderem als „praktische Mittel zum Zweck“, als „Massen­ objekte“, „Partner“ oder „Fetisch“. Die Rollen, in die die Dinge schlüpfen, stellen, so Scholz, „Möglichkeiten“ dar, keine Gegebenheiten, siehe Scholz 1989, hier S. 33–68. 24 Die Redensart von der ‚Tücke des Objekts‘ – wohl um 1879 von Friedrich Theodor Vischer (1807– 87) geprägt – hat eigenwillige, störrische und sich der Nutzung widersetzende Dinge auf den Begriff gebracht. Ob ein Objekt in diesem Sinn tückisch ist, hängt freilich auch vom Ungeschick des Subjekts ab: „Der Pechvogel kennt nur heimtückische Dinge, der Glückspilz nur gehorsame, und der Artist jongliert mit beidem“ (Götz/Haldner 1991, o. P. [Vorwort]), vgl. auch Heesen/Lutz 2005, S. 11 und Tenner 1999. 25 Die von uns unterlegte Bedeutung des Begriffs Konfiguration deckt sich mutatis mutandis mit der der Literaturwissenschaft, siehe Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur, 8., verbesserte und erw. Aufl., Stuttgart 2001, S. 428: „Konfiguration (lat.), die Anordnung, das wechselseitige Aufeinanderbezogensein der Einzelteile, etwa der Figuren und ihrer Konflikte im Drama als dichter[ischer]. Struktur.“

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Gewiss, im Falle unseres Aquamanile ist (und bleibt wohl für alle Zeit) das über das Intentionale und Sinnstiftende der Ikonik Gesagte (ehrlich: das Spekulierte) eine nicht verifizierbare Hypothese. So kennen wir keine epigrafischen oder archivalischen Einlassungen zu diesem motorischen, haltungs- beziehungsweise handlungsästhetischen Thema. Und es ist auch fraglich, ob solches je schriftlich fixiert wurde, da die Gestaltung von Aquamanilen einerseits überwiegend auf einer zeittypischen, kollektiven Auftraggebererwartung und andererseits auf (bestenfalls mündlich) tradierter und praxis­ erprobter, nicht aber auf theoretisch reflektierter Werkstatterfahrung beruhte und überdies Selbstverständliches naturgemäß keinen Eingang in die Überlieferung findet. Dennoch, das hier – wir betonen es erneut – versuchsweise skizzierte konfigurative Dispositiv des Aquamanile könnte von universellem Wert sein, nicht nur für den besagten Gerätetyp, sondern für ein ganzes Arsenal von Objekten der Kunst- und Designgeschichte. Es könnte diese womöglich in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lassen – hiervon werden zahlreiche Beiträge des vorliegenden Bandes Zeugnis ablegen (siehe II.). Nur zwei weitere Artefakte wollen wir im Folgenden vorab kurz in Betracht ziehen. Zuvor sei aber noch eine mit dem bis hier Gesagten eng zusammenhängende, wenn man so will psychologische oder kinästhetische Beobachtung angefügt. Dazu ein Experiment: Man schließe für einen Moment die Augen und stelle sich vor, wie man einem Dritten nur mit Gebärden das Halten und Ausgießen eines Henkelkrugs darstellen würde, gewissermaßen in einer Pantomime … Sieht die imaginierte Geste der auf der Zeichnung gezeigten ähnlich (Abb. 3a auf der nächsten Seite)? Wahrscheinlich schon, denn in dem Maße, in dem die ikonischen Gebrauchsgesten den Dingen innewohnen (siehe oben), in dem Maße werden sie von uns ‚Usern‘ auch formaliter internalisiert, also der Form nach verinnerlicht. Sie gehen uns buchstäblich in Fleisch und Blut über, fahren uns in die Glieder, werden unsere körperweitenden Prothesen. Offenkundig wird dieses Einswerden im Bereich der gestischen Mimesis vor allem bei nicht-bedingten Hand­gesten, also beispielsweise während des Sprechens über einen Krug, wenn dieser materialiter nicht greifbar ist. Die den Krug be- und umschreibenden Gebärden werden gestisch zu „Artikulatoren körperlicher Kommunikation“, wie die Sprachforscherin Cornelia Müller (die das „Viadrina Gesture Center“ in Frankfurt an der Oder leitet) ausgeführt hat.26 Unsere Abbildung ist ihrem Aufsatz über Mimesis und Gestik (2010) entnommen; sie zeigt, wie die Hand und die Arme eines Sprechers dazu verwendet werden, das Gießen aus einem Krug darzustellen. Dabei ist zu sehen, dass bei dieser durchaus allgemein verständlichen mimetischen Geste weder der Krug beziehungsweise seine voluminöse Form noch das Fließen einer Flüssigkeit dargestellt werden, sondern die Handhabung des Krugs, also die ihm inhärente krugtypische Gebrauchsgeste: Ein Henkel wird in der Luft gefasst, der Krug scheinbar daran angehoben und im Winkel von circa 26 Müller, Cornelia: Mimesis und Gestik, in: Koch, Gertrud u. a. (Hg.): Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, S. 149–187, S. 155. – Zum „Viadrina Gesture Center“ siehe (08. 05. 2014).

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3 a, b  Die Hände als gestische Artikulatoren, a) Das Gießen aus einem Krug, b) Das Schneiden mit einer Schere

90° geneigt. Man könnte sagen, die ikonische Geste seines Gebrauchs ist zum virtualen Äquivalent des Dings selbst geworden (für ein ähnliches Exempel dieser Art Re­i fi­ zierung, dieses menschlichen ‚devenir-chose‘ oder ‚Ding-Werdens‘, sei auf Abb. 3b verwiesen, die das Schneiden mit einer Schere pantomimisch illustriert; vgl. hierzu auch die Beiträge von Anette Rose und Jasmin Mersmann im vorliegenden Band).27

Exkurs: Wider die Objektivierung I Szenenwechsel: Artefakten wie Aquamanilen (und den im Folgenden noch zu behandelnden Retikülen und Savonnettes) begegnen wir in nahezu jedem Museum für Angewandtes, für Kunsthandwerk, für Gewerbe, für Design oder für Gestaltung oder wie sich die Komplementäre der Kunstmuseen, die ‚Dingmuseen‘ sonst noch nennen mögen.28 Blendfrei ausgeleuchtet treten uns hier die in alarmgesicherten, klimatisierten Vitrinen und in choreografisch ausgeklügelten Ausstellungsinszenierungen arrangierten Dinge gegenüber. Wie in einem ‚white cube‘, einem künstlichen und künstlerisch überformten Habitat, fristen sie ihr Leben. Man könnte dabei an das Bild vom goldenen Käfig ­denken, 27 Zur Wendung ‚devenir-chose‘, dt. ‚Sache/Ding-Werden‘ (in Analogie zum Deleuze’schen Konzept des ‚devenir-animal‘) siehe den Text von Jasmin Mersmann im vorliegenden Band (dort ‚devenircruche‘, dt. ‚Krug-Werden‘). 28 Siehe beispielsweise im deutschsprachigen Raum das „Grassi Museum für Angewandte Kunst“ der Stadt Leipzig, das „Österreichische Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst“ in Wien, das „Kunstgewerbemuseum“ der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das „Museum für Kunst und Gewerbe“ der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und „Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich“ in München oder auch das „Museum für Gestaltung“ in Zürich. – Auf das der jeweiligen Benennung innewohnende institutionelle Selbstverständnis be­ziehungsweise die epistemologische Programmatik der Museen kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

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4  Glasvitrine „VG155“ des Herstellers „Ondori“, 2014

in dem sich die Dinge, dem Staub des Alltags enthoben, dekontextualisiert und wie paralysiert wiederfinden. Hier erscheinen sie wie auf einem Altar angerichtet und wie Bühnenstars einer fernen Glamourwelt ins Scheinwerferlicht gerückt (Abb.  4). Hier illustrieren sie nichts, schon gar nicht das, was man, wenn auch etwas pathetisch, das phänomenale, dingliche ‚Weltwissen‘ nennen könnte. Sie generieren vielmehr etwas, im besten Falle Aura, eigentlich aber auratische Ferne.29 Dabei hatte schon der norwegische Ethnologe Knut Kolsrud (1916–89) ebenso griffig wie zutreffend formuliert: „Die Dinge haben […], so paradox das klingt, keine selbständige Existenz.“30 Textliche oder visuelle 29 Readymades (wie beispielsweise Marcel Duchamps „Flaschentrockner“, 1914/16), also aus dem Warenverbund des Kaufhauses herausgelöste, damit ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang enthobene und mittels musealer (also eigentlich inadäquater) Expositionspraktiken zu Kunst erklärte Gegenstände thematisieren eindringlich den Widerspruch von (Gebrauchs-)Ding und (künstlicher) Zweckentfremdung beziehungsweise Unbrauchbarkeit (im Museum) und machen ihn sichtbar und begreifbar. Sie stellen also dieses ‚missing link‘ selbst aus, machen es zum eigentlichen Thema des Kunstwerkes. – Der Begriff ‚white cube‘ geht zurück auf O’Doherty, Brian: In der ­weißen Zelle/Inside the White Cube, hg. von Wolfgang Kemp, mit einem Nachwort von Markus Brüderlin (= Internationaler Merve-Diskurs, 190), Berlin 1996 (Orig.-Ausg. 1986). – Vgl. hierzu auch Heesen/Lutz 2005, S. 13. 30 Zit. nach Bringéus 1986, S. 166.

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5  Savonnette, undatiert

(beispielsweise grafische, fotografische oder filmische) Hinweise auf ihre Unselbständigkeit, die für sie in der Tat existentiell ist, sprich auf ihre Anwendung, ihren Gebrauch, geschweige denn auf die inhärente Gebrauchsgeste fehlen dennoch in der Regel. Die ehemaligen Gebrauchsgegenstände, deren letzte Nutzer schon lange nicht mehr leben, stellen sich uns Heutigen als entrückte, autonome Ästhetizismen vor, deren Material, Originalität, Verarbeitung, Kostspieligkeit und Rarität (und so weiter) wir in einer gebeugten Haltung bestaunen dürfen. Gebeugte Haltungen im Musentempel sind aber immer schlecht für aufrechte, kritische Betrachtungen ‚in der Sache‘. 31 In diesem Sinne werden übrigens Museumsvitrinen, die, wie die Rahmen von Gemälden, ihren Inhalt vom Betrachterraum (Umwelt) separieren und isolieren (und damit buchstäblich definieren, also als eigene ‚Welt‘ begrenzen), selbst zu Handlungsund Gesten-Generatoren: Sie erzeugen jene eigentümliche museumstypische Haltung, die im selben Moment Ferne manifestiert, aber Nähe suggeriert: „Bitte nicht berühren!“.

Savonnettes sind unser nächstes Beispiel. Sie leben doch eigentlich von der Berührung, jedenfalls deutet ihr französischer Name dies indirekt an (dt. wörtlich Seifenstück, Seifchen). Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Savonnettes um einen speziellen Uhrentyp, genauer um eine Variante der einst omnipräsenten Spezies der Herrentaschenuhren (Abb. 5). Wer wüsste heute noch zu sagen, wo diese an einer kurzen Kette getragene Savonnette an der Kleidung befestigt, wie sie aufgezogen und wie ihr bauartcharakteristischer

31 Diese und ähnliche Museumserfahrungen sind wohl ebenso ubiquitär wie sie beklagenswert sind. Nicht erst der bereits mehrfach zitierte Nestor der deutschen Designgeschichte und Kunstpädagoge Gert Selle hat die museologische Praxis vor allem von Designmuseen vehement und vielfach moniert – seine kritischen Beobachtungen und praktischen Vorschläge brauchen hier nicht im Einzelnen wiederholt zu werden, siehe hierzu die Liste der Selle’schen Titel in der Auswahlbibliografie (Teil III.).

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6 a, b  Älterer Mann, um 1900, Fotografie, und Holmes und Dr. Watson, Grafik, undatiert

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Sprung­deckel geöffnet wurde (Abb. 6a)?32 Und weiter: Wie sah eigentlich die Geste des Uhrzeitab­lesens noch vor 100 Jahren aus, als diese Art von an der Kleidung getragenen Taschenuhren (und nicht wie die jüngeren fesselartigen Armbanduhren direkt auf der Haut, am Puls des Handgelenks) in Mode war (Abb. 6b)? Wie wirkte jene gewandt-geschmeidige Geste, die – wohl zu gleichen Teilen pragmatische Handlung und ‚herrliche‘ Attitüde – einst Bestandteil des alltäglichen Angreifens und Anfassens unserer Urgroßväter war, von ihnen selbstverständlich beherrscht wurde und unser atmosphärisches Erinnerungsbild von ihnen und ihrem Umgang mit ihrer handschmeichlerischen Uhr – und vielleicht sogar mit der Zeit an sich – geprägt hat?33 Und, um auf den soeben ein32 Zu Savonnette-Uhren siehe Meis, Reinhard: Taschenuhren. Von der Halsuhr zum Tourbillon […], Sonderausg., München 1999, S. 59f. 33 Wir erlauben uns – nota bene: auch dies rein hypothetisch – eine Weitung des Gedankens. Angelehnt an eine Fragestellung Christian Janeckes (und dessen Antworten) in Bezug auf das Tragen von speziellen Frisuren, fragen wir: Was hatte der in unseren Augen altfränkisch wirkende Savonnette-Nutzer davon, die Zeit so bedächtig ‚gemessen‘ und ‚ausholend‘ und zugleich so ‚geschmeidig‘ abzulesen? „Daß das Bild, das wir äußerlich von uns entwerfen, auf uns zurückwirkt, ist kein neuer Gedanke, eher eine ältere Einsicht der Anthropologie, aber heute von neuerlicher Aktualität: […] Heute […] hat der Begriff und wohl auch das Phänomen ‚Performance‘ Konjunktur, wobei sich die […] Einsicht durchgesetzt hat, der im Alltag, in der Wirtschaft seinen ‚Auftritt‘ Absolvierende verändere dadurch nicht nur in der Sache, sondern auch bei und in sich selbst etwas“ (­Janecke, Christian: Tragbare Stürme. Von spurtenden Haaren und Windstoßfrisuren, Marburg 2003, S. 77). Anders ausgedrückt: die „Vorstellung, wir schlüpften nicht nur in Rollen (aus denen wir wieder hinausschlüpfen könnten), sondern wir brächten uns durch unsere Darstellungen allererst hervor, knüpft deutlich an die ältere Vorstellung an, das von uns entworfene Bild wirke auf uns zurück“ (ebd.). – Janecke verweist zum Beleg seiner These auf die Anthropologie, vor allem die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners (1892–1985). In der jüngsten Forschungsdiskussion hat diese Position wieder eine vermehrte Beachtung gefunden; die Notwendigkeit eines zeitgemäßen Plessner-Verständnisses wurde wiederholt betont (vgl. Rapp, Uri: Rolle, Interaktion, Spiel. Eine Einführung in die Theater­soziologie/Institut für Theaterwissenschaft [= Mimesis, 3], Wien 1993, S. 51–54; Bek, Thomas: ­Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur ‚und‘ Geschichte: Zwei Wege ‚einer‘ Grundlegung Philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit [= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Philosophie, 505], Würzburg 2011). – Und tatsächlich, Plessner bietet schon im Begrifflichen eine große Anschlussfähigkeit auch für unsere spezifische Fragestellung. Anhand des 1948 veröffentlichten Aufsatzes „Zur Anthropologie des Schauspielers“ sei dies exemplarisch probiert (im Folgenden zit. nach dem Wiederabdruck in: Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie des Schauspielers, in: ders.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Bern 1953, S. 180–192): Der – beziehungsweise das Bild vom – Schauspieler sei, so Plessner, bestimmt durch Begriffe wie Verkörperung (einer anderen Person) und Bildentwurf (einer Rolle; auch im Sinne von: der Schauspieler „figuriert als … und er kann dabei eine gute oder schlechte Figur machen“, ebd., S. 188). Beides, so Plessner, verweise mittelbar auf die „Bildbedingtheit der Äußerungsmöglichkeiten, welche den Nachahmenden innerlich mit umformen. Er wird durch seine veränderte Haltung ein Anderer“ (ebd., S. 189). Also ist der Schauspieler einer, der, indem er jemanden vor Dritten repräsentiert (namentlich den in der gespielten Rolle Verkörperten), zugleich auch sein Selbst sich selbst präsentiert. Mit anderen Worten: Der Schauspieler wirkt unmittelbar und unbewusst über das Rollenbild auf sich – ver­ ändernd – zurück, vgl. hierzu auch Janecke 2003 (wie oben), S. 77, 90, Anm. 104. Plessner macht auch auf Folgendes aufmerksam: „Zur Figur gehören das Kleid, die Insignien der Macht und Würde […].“ Und in diesem Zusammenhang zitiert Plessner trefflich Gerardus van der Leeuws (1890–1950) Gedanke, dass, wer je im Ornat, also etwa einem evangelischen Priestertalar oder einer Richterrobe, amtiert hat, „weiß, daß die Kleider den Mann machen, oder viel-

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geschobenen, zugegeben etwas polemischen Exkurs wider die museale Degradierung von Dingen zu Quasi-Kunstobjekten zurückzukommen: Ist es nicht tatsächlich so, dass dieses Angreifen, diese Bewegung nicht nur längst schon auf dem Friedhof der Gesten wohnt, sondern, zusammen mit denen, die sie einst aus- und aufführten, auch gänzlich in Vergessenheit zu geraten droht? Haben Museen als epistemische Räume und „Sinnagenturen“ wirklich kaum eine Chance, dieses performative beziehungsweise ikonische Wissen zu retten? 34 Oder haben sie nicht gar die Pflicht, dies zu tun? Eben dies forderte, auch das wurde bereits angedeutet, Gert Selle (geb. 1933) beredt, unter anderem in einem Vortrag anlässlich der Gründungsveranstaltung der noch jungen „Gesellschaft für Designgeschichte – GfDg“ (gegründet 2008; diesem Vortrag haben wir übrigens auch das Beispiel der Taschenuhr entnommen): „Die kulturelle Farbe einer Epoche sollte bei allem wissenschaftlichen Vorbehalt gegenüber Fik­t ionen, von einfühlsamer Rekonstruktionsfantasie rückversinnlicht, dargestellt werden. Es wären vorgestellte ‚Bilder‘ oder ‚Momentaufnahmen‘ denkbar, die das Kolorit einer Epoche in ihren Objekt- und Ritualbeständen q ­ uasi poetisch aufscheinen lassen: Mit welcher gemessen-ausholenden Gebärde hat mein Großvater seine Taschenuhr aus der Weste gezogen, ihre Kette durch die Finger gleiten, den Deckel aufschnappen lassen, ihn dann wieder zugedrückt, um die Uhr umständlich aufzuziehen! Und wie ruckeln wir kurz mit dem Handgelenk, damit die Manschette für einen Moment den Blick auf das ziffernlose Fenster des digitalen Chronometers freigibt, den eine Batterie antreibt. Die Differenz der Gesten bezeichnet den historischen Abstand.“35

Selle trug diesen Text, wie gesagt, 2008 vor, also vor sechs Jahren – und zwischenzeitlich steht selbst schon die Armbanduhr auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Artefakte. Nicht wenige unserer Zeitgenossen besitzen beziehungsweise nutzen schon alltäglich keine analog-mechanische oder digital-elektromechanische Uhr mehr. Sie nutzen ihre Handys oder Smartphones (beispielsweise das in der Überschrift erwähnte „iPhone“) als Uhren und Wecker. Und diese funkgesteuerten, allzeit vernetzten Kleincomputer zeitigen bekanntlich ganz andere, neue Verhaltensweisen und Gesten. 36 mehr einem den Mann ausziehen, so daß nur der Minister, der Diener übrigbleibt“ (Plessner 1953 [wie oben], S. 188 mit einem Zitat aus Gerardus van der Leeuws Phänomenologie der Religio­nen [Erstaufl. 1933], vgl. Leeuw, Gerardus van der: Phänomenologie der Religionen, 4. Aufl., unveränd. Nachdr. der 2., durchges. und erw. Aufl. (= Neue Theologische Grundrisse), Tübingen 1977, S. 422, § 53). Der Schauspieler – so könnte man Plessners Argument zusammenfassen – wird, was (wen) er spielt – und zwar auch oder besser vor allem unbewusst. Damit ist die aktive persönlichkeitsformende Rückwirkung der (gespielten) bildschöpferischen Rolle benannt. Für unseren Zusammenhang muss nun nur die Rolle inklusiv ihrer sächlichen Requisiten gedacht werden, um deren Wirkung mit zu erfassen. – Siehe hierzu auch den Beitrag von Christian Janecke im vorliegenden Band. 34 Museen speziell in dieser Perspektive thematisiert ein 2005 von Anke te Heesen und Petra Lutz herausgegebener Sammelband, Heesen/Lutz (Hg.) 2005. – Der Begriff ‚Sinnagentur‘ beispielsweise bei Korff, Gottfried: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren, hg. von Martina Eberspächer u. a., mit Beitr. von Bodo-Michael Baumunk u. a., 2., erg. Aufl., Köln u. a. 2007, Klappe. 35 Selle 2008, o. P. 36 Das Handy oder Smartphone, vor allem das „iPhone“ ist hinsichtlich der uns interessierenden Dinggesten ein virulenter Gegenstand von paradigmatischer Bedeutung für die Jetztzeit, siehe beispielsweise folgende Statements: a) „An diesem Ding

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7  Retikül (Ridicule), um 1800/15

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Selle kritisierte in seinem Statement keinesfalls den technischen Fortschritt von der Unruh zum Quarzoszillator; sein Thema ist nicht im Geringsten die laudatio temporis acti. Nicht um Nostalgie, sondern um das Prowerden sich Designhistoriker, Wahrnehmungs- und Handhabungspsychologen und historische Anthropologen noch die Zähne ausbeißen. Vor allem an diesem antikisierenden Vokabular der Bedienungs-Gesten. Beim iPhone wird nicht nur ein touchscreen berührt. Da wird mit der Hand in der Luft etwas weggewischt, mit den Fingerspitzen etwas hervorgezupft, mit der Spreizung zweier Finger ein Bild vergrößert, kurzum mit den Händen mittels einfacher Gesten über die Gerätefunktionen verfügt. Was bedeutet diese Rückkehr zur Geschichte händischer Beschwörung? Warum die Renaissance des Repertoires uralter Gesten? Ich weiß es einfach noch nicht“ (Selle 2008, o. P.). – b)  Das neuzeitliche Handy ist in der Tat mehr noch als der nun auch schon etwas angestaubte „Gameboy“ das „Haupt­requisit neuer Körpergesten“ (Weber, Heike: Zwischen ‚Connectivity‘ und ‚Cocooning‘. Choreographien und Inszenierungen am Medienportable, in: Bairlein, Josef u. a. [Hg.]: Netzkulturen. Kollektiv, kreativ, performativ [= Intervisionen. Texte zu Theater und anderen Künsten, 8], München 2011, S. 215–229, S. 222), beispielsweise jener nicht länger mit dem Zeigefinger, sondern mit dem Daumen ausgeführter Gesten; Gesten, die unter dem Begriff „thumb culture“ und deren Akteure unter dem despektierlichen Epitheton „Generation Thumbie“ (Roll, Evelyn: Generation Thumbie, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 8. 2003, S. 12 [Feuilleton/Zwischenzeit]) subsummiert wurden. Fest steht jedenfalls, dass das spezifische Wechselspiel zwischen Mensch und Gerät nicht nur die Praxen des Kommunizierens, Konsumierens (und so weiter) wesentlich verändert hat, sondern auch die konkrete (Form der) Interaktion. – c) Zum Charakter des „iPhone“ hat der Journalist Hanno Rauterberg (geb. 1967) kürzlich angemerkt, dass es uns stolz als Subjekt gegenübertrete; es habe sogar eine Art persönlichen „Vornamen, ein kleines i“: „Dieses i mag eine Abkürzung für die Intelligenz oder die Internetfähigkeit der Rechner sein. Es erinnert aber vor allem an das englische ‚I‘. Es sind Maschinen, die Ich sagen […]. Manchmal weiß man nicht mehr recht, wer hier eigentlich wem hörig ist“ (Rauterberg, Hanno: Die Diktatur der Einfachheit. Wie das Apple-Design unser Dasein verändert – eine Ideologiekritik, in: Die Zeit, 33 [09. 08. 2012], S. 43).

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blem des wachsenden historischen Abstands war es ihm zu tun, jenes Abstands, der – in seinen Worten – die „Differenz der Gesten“ offenbart. Wir werden auf dieses auch für unsere Überlegungen zentrale Argument noch abschließend zurückkommen.

Retiküle Wechseln wir in unserem imaginären Dingmuseum nun flugs von der Uhren- in die Mode-Abteilung (eine Frage en passant: Warum sind die Abteilungen getrennt, sind Uhren nicht eigentlich ein Teil der Mode, jedenfalls des äußeren Erscheinens, des Ausund Ansehens, des Bildes des Menschen in der Zeit?) und kommen wir zu dem letzten angekündigten Designrelikt, einer Tasche (Abb. 7). Wiederum fragen wir: Wer wüsste, wie jenes typische Accessoire der eleganten Damenkleidung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, jenes Retikül (auch Reticule; franz., von lat. ‚reticulum‘, dt. Netz) genannte ­Täschchen an kürzeren oder längeren Trägerkordeln getragen wurde – eine Tasche übrigens, die prima vista zu klein scheint, um auch nur das Nötigste in sich aufzunehmen (Abb. 8)?37 Wir werden sogleich sehen, dass dies auch in diesem Fall keine banale Frage und ihre Antwort nicht selbstverständlich ist. Erkunden wir also diese Retiküle, mit denen übrigens „die ersten wirklichen Damenhandtaschen geboren [waren], obwohl sie damals noch nicht so bezeichnet wurden.“38 Ihr anscheinend ungenügendes Format ist uns bereits aufgefallen. Gerade wegen der unpraktischen Kleinheit des kunstvoll ge­stalteten ­Beutels wurde die (hauptsächlich) dekorative Miniatur-, wenn nicht gar Pseudo­ tasche von der – seinerzeit besonders beißenden – Modekritik übrigens auch als Ridikül oder Ridicule (franz./lat., dt. lächerlich) bezeichnet. Wenn es also bei dieser vermeintlich zierlich-­komischen Tasche nicht um das Verstauen und Transportieren von kleinformatigen Vademekums ging, worum ging es dann? Wir müssten zur Beantwortung dieser Frage – wie Selle es empfahl – etwas tiefer in die Atmosphäre, in das ‚Kolorit‘ der Zeit des französischen Directoire und Empire eintauchen und würden – verkürzt gesagt – unter anderem feststellen können, dass der Promenade, das heißt dem öffentlichen Spaziergang als gesellschaftlichem Ereignis eine besondere Bedeutung zukam, sei es im Sinne eines sozial kontrollierten Schauplatzes für das comme il faut, sei es als gesellschaftliche Informationsbörse oder sei es als klassenübergreifender Begegnungsort (und dergleichen mehr).39 Beim all- oder wenigstens sonntäglichen demonstra37 Zum Retikül siehe Buresch, Ingrid: Liebling der Frauen. Die Tasche im Wandel der Zeit […], Ausstell.-Kat. Bad Kissingen, Museum Obere Saline, Petersberg 2008, S. 8: „Sie [die Retiküle] wurden vor allem als Handarbeitstäschchen benutzt und zu den aufkommenden Damengesellschaften mitgenommen. Sie dienten aber auch zur Aufbewahrung von Tanzkarten […], Spitzentaschentüchern […], Amuletten, Briefen, Visitenkarten […].“ 38 Pietsch, Johannes: Taschen. Eine europäische Kulturgeschichte 1500–1930. Der Bestand des Bayerischen Nationalmuseums, hg. von Renate Eikelmann, Ausstell.-Kat. München, Bayerisches Nationalmuseum, München 2013, S. 205. 39 Wir könnten hierzu beispielsweise in Louis-Sébastien Merciers (1740–1814) Roman Le Nouveau Paris (erschienen Paris 1798/99) lesen: „An den Tagen, an denen keine Teegesellschaft stattfindet,

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8  Zwei Damen mit modernen Taschen, Modekupfer, 1819

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tiv müßiggängerischen Promenieren wurden Damen, bei denen um 1800 hauchdünne Musselinkleider in Mode gekommen waren (unter beziehungsweise an denen weder Umhänge- noch Gürtel­taschen getragen werden konnten), häufig von mehreren Galanen zugleich umworben; verstohlene Blicke und beiläufige, annähernde Berührungen wurden getauscht und ließen solcherart ein vielfältiges Beziehungsgeflecht entstehen.40 Jedoch: „Bis hin zum gegenseitigen Gruß der Spaziergänger war Gestik und Haltung kontrolliert“; und an anderer Stelle spricht die Ethno­login ­Katharina Oxenius, die die Geschichte des Promenierens seit dem Ancien Régime erforscht hat, sogar von der „Normierung“ der Promenade und ihres gestischen Weichbilds.41 Wir können aus Platzgründen auf diesem thematischen Nebenpfad nun nicht weiter wandeln. Aber schon jetzt ahnen wir: Möglicherweise ging es beim Gebrauch des Retiküls vor allem um das, was wir oben das nichtmaterielle Handlungsgefüge genannt haben, um jenes Bild also, in das es eingebunden war. Konkret ging es wohl um die diesem Beutel inhärente, buhlerisch-kokette Geste, mit der diese Nicht- (zumindest Nicht-nur-)Tasche von Damen getragen oder besser spielerisch verlegen um die Hand gewunden oder winkend durch die Luft geschwenkt werden konnte. Die kontaktwilligen Mademoiselles und vielleicht sogar die abenteuerlustigen Madames konnten sich auch schmeichlerisch und unauffällig andeutungsvoll die Trägerbänder durch ihre Finger laufen lassen. All diese und noch andere mit dem Retikül aufführbaren, wie zufällig und absichtslos wirkenden Gesten und die ebenfalls vorgeblich unbeabsichtigten Berührungen mit dem kleinen Beutel am männlichen Gegenüber stellten eine die Etikette wahrende Form der zwischenmenschlichen, insbesondere der zwischengeschlechtlichen Kommunikation vor allem in Paris um 1800, aber nicht nur dort dar. Und es sind wohl gerade diese sozialen Nebenwirkungen und -funktionen des Retiküls, die eine kommunikative Ikonik etablierten, die Damen wie Herren gleichermaßen für nützlich, ja unentbehrlich hielten. Die englische Bezeichnung für dieses – wie wir annehmen wollen – vor allem gestisch funktionierende Modeaccessoire lautet bezeichnenderweise ‚Indispensable‘ (dt. wörtlich unverzichtbar).42 Was hier als über die Maßen zweckdienlich galt, war wohl kaum der gebospaziert man auf dem Boulevard […]; man nimmt ein Eis […]; man fährt zu den Festen […], zum Feuer­werk […], denn Luxus muss in Paris sein“, hier zit. nach der Übers. von Rasche, Adelheid: Egalité  – Liberté  – Frivolité. Mode um 1800, in: dies./Wolter, Gundula (Hg.): Ridikül! Mode in der Karikatur, 1600 bis 1900, Ausstell.-Kat. Berlin, Kunstbibliothek/Staatliche Museen 2004, Berlin u. a. 2003, S. 185–215, S. 186f., Anm. 8. – Wir könnten auch nach ‚atmosphärischen‘ Informationen in grafischen Quellen suchen, etwa in zeitgenössischen Stichen wie „Le Thé Parisien“ (1801) von Adrien Godefroy nach einer Zeichnung von Fulchran Jean Harriet oder „Le Sérail Parisien, ou le Bon Ton en 1802“ (1802) von Auguste Jean-Baptiste Marie Blanchard nach einer Zeichnung von Thomas Charles Naudet, für Abb. siehe ebd., S. 195–197, Kat.-Nr. 6.11, 6.12. 40 Vgl. ebd., S. 187. 41 Oxenius, Katharina: Vom Promenieren zum Spazieren. Zur Kulturgeschichte des Pariser Parks (=  Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen […], 79), hg. von der Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., Tübingen 1992, S. 25, 29. 42 Vgl. hierzu Rasche 2003 (wie Anm. 39), S. 215, Kat.-Nr. 6e. – Erst im 19. Jahrhundert wurde der bis heute gebräuchliche Begriff ‚Pompadour‘ geläufig und die solcherart bezeichnete Tasche in ihren Dimensionen etwas großzügiger.

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tene Stauraum des Beutels, sondern sein gestischer Aktionsradius und kommunikativer Möglichkeitsraum, kurz, seine im „Unsichtbaren“ akkumulierten „Umgangs­erfahrungen […], die als gestisches Potential im Typus des Objektes angelegt sind“ (Gert Selle).43 Damit kommen wir zum Schluss.

Rekurs: Wider die Objektivierung II Ein letzter Rekurs sei noch angefügt: In Museumspräsentationen stellt sich dieses, den Dingen nicht ohne Weiteres entnehmbare ‚Unsichtbare‘ allzu oft nicht angemessen dar; es bleibt, wie wir bereits weiter oben erörtert haben, ungesagt, ungesehen und zunehmend wohl auch ungeahnt. Die dekontextualisierte, das heißt hier auch ungestikulierte, also ‚entmenschlichte‘ Dingdominanz waltet aber nicht nur im Museum. Sie regiert erstaunlicherweise auch alltägliche Medien wie Versandhauskataloge, Internet-Shops, Auslagen der Warenhäuser und Design- und sonstige Fachzeitschriften.44 Kurz, wo es um Artefakte geht, herrscht nicht selten Menschenleere.45 Nicht erst durch die moderne Produkt- und Werbefotografie sind wir offenbar daran gewöhnt,46 künstlerisch-gestalterisch ambitionierte Objekte, sprich Dinge des Designs vorrangig als elementare Formund Farbereignisse vor neutralem (meist diffus ausgeleuchtetem, weißem oder dunklem) Grund präsentiert zu bekommen, gewissermaßen als autonome, auratische, ästhetische Ereignisse eigenen Rechts. Wie es dazu kam oder ob dies schon immer so war und wie sich gegebenenfalls derartige Sehgewohnheiten, Wahrnehmungserwartungen und Präsentationsmodi ändern, all dies wären interessante Themen; wir können hier aber nicht weiter darauf eingehen. Festhalten lässt sich aber einstweilen, dass sich das Fernhalten jedweder Kontamination durch einen wie auch immer gearteten Kontext zweifellos im 43 Selle 1997, S. 75. 44 Um einem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich werden Menschen und ihre Körperteile auch in derartigen Medien nicht selten abgebildet. In Design-Zeitschriften findet man die Reporter und Designer häufig im Porträt, gerne in Arbeitssituationen simulierenden Atelierschnappschüssen dargestellt – hierin übrigens den regelrecht Heimeligkeit verströmenden Katalogen des schwedischen Möbelhauses „Ikea“ nicht unverwandt. Sehr häufig treten in den Zeitschriften menschliche Figuren oder Teile von solchen in Werbeannoncen und atmosphärischen Fotos von Designausstellungen und -ausbildungsstätten auf. Selten aber sieht man hier Figuren Dinge tatsächlich (be-)nutzen oder (ver-)brauchen und allein darum ist es uns hier zu tun. 45 Nahezu menschenleer sind – und das ist wirklich erstaunlich – beispielsweise auch die vielen Innenraumaufnahmen von Zügen und Bahnen in dem immerhin fast 30 Seiten umfassenden Schwerpunktthema „175 Jahre Bahn“ des Design-Reports (5, 2010, S. 28–57) ausgefallen. Wenn man gewohnt ist, in sein Leben sprichwörtlich in vollen Zügen zu genießen, sind dies wirklich befremdliche Bilder. 46 Vgl. Breuer, Gerda: Etui. Das Ding und der kontextlose Raum. Ein ästhetisches Dispositiv von modernem Design, in: Bauhaus 2012, 3, S. 21–30. – Zwei von mir durchgesehene aktuelle deutschsprachige Lehrbücher zur Werbe- beziehungsweise Sachfotografie kommen nahezu gänzlich ohne (Mit-)Menschen, also ‚(Kon-)Figurationen‘ aus, siehe Wulf, Angela: Verkaufserfolg durch Superfotos. So machen Sie die besten Produktfotos, München 2006 und mit sehr wenigen ‚belebten‘ Ausnahmen Larg, Alex/Wood, Jane: Moderne Produktfotografie. Konzeption, Inszenierung, Beleuchtung (= Foto professionell), München 1999 (engl. Orig.-Ausg. Crans-Près-Céligny/Schweiz 1999).

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untadeligen Dienst einer rationalen Sachkommunikation sieht und sich solcherart als ein redlicher Versuch zur ‚Objektivierung‘ versteht.47

Fazit und Ausblick Schließen wir diese einführenden Überlegungen nun ab: Beide Narrationen, jene von der Gebrauchsgeste als einer für das Verstehen der Dingfunktion essenziellen Mensch-Ding-Konfiguration (wie an den Beispielen Aquamanile, Savonnette und Retikül erläutert und im Blick auf das „iPhone“ wenigstens angedeutet) und jene von der antiseptisch-auratischen ‚Objektivierung‘ der Dinge in der medialen, vor allem musealen Präsentation (siehe Ex-/Rekurs) – diese beiden Dispositive also scheinen wie zwei Seiten einer Medaille. Und mit dieser Diagnose kommen wir endlich zum Fazit: Die Bannung sowohl der Gebrauchsgeste als auch ihres erkenntnistheoretischen Poten­zials im blinden Fleck nicht nur der Akteure der akademischen Designwissenschaft, sondern auch der praktischen Ausbildung und der institutionellen Designvermittlung illustriert mit Nachdruck die Notwendigkeit eines breiteren und vertieften ‚Reenactment‘ der Dinge.48 Dinge sind nicht nur materielle Gegenstände, sondern zugleich nicht-materielle Verweisungen auf komplexe und – wie wir gesehen haben – gestisch-wirksame Handlungsgefüge. Deshalb sollten Museen nicht nur die Sachdominanz, sondern auch die Sozialund Kontextdominanz der Dinge thematisieren.49 In summa dürfte jedenfalls klar geworden sein, dass „Designgeschichte […] mit einer Geschichte der Gesten verschwistert [ist]“ und „man eine ganze Design-Gebrauchsgeschichte auf der Basis einer Studie einst vollzogener Gesten vergegenwärtigen“50 könnte – und, das setzten wir nun hinzu, auch müsste. Mit diesem letzten Selle’schen Diktum ist das bis hier Gesagte bilanziert. Zugleich sind damit die Aufgabe und das Programm des Folgenden skizziert.

Nachsatz ‚in eigener Sache‘ Ein anwendungsbezogener Appell als Konsequenz unserer ‚leçons de choses‘, formuliert an die Adresse angehender Gestalterinnen und Gestalter: Die Designforschung hat viele Felder und Spielarten,51 und es ist zu erwarten, dass bei zunehmender Komplexität der Dingproduktion auch die forschenden Designer immer komplizierter angelegte Vor­ 47 Keine Frage, natürlich gibt es unzählige Ausnahmen von dieser hier gar nicht als Regel ausgegebenen Beobachtung; am Befund des geschilderten, unzweifelhaft gängigen Präsentationsmodus von Dingen ändert dies aber nichts. – Andreas K. Vetter hat die genannten und andere Charakteristika exemplarisch für die Architektur- und Bauzeitschriftenfotografie insbesondere der 1920/30er-Jahre herausgearbeitet, siehe Vetter, Andreas K.: Stadt, Haus und Mensch. Die eigenwillige Welt der Architekturfotografie, in: Kunst und Kirche 75, 2012, 1, S. 47–52. 48 Vgl. Selle 2008, o. P. 49 Vgl. Köstlin/Bausinger 1983, S. 304f. (Schlussbemerkungen). 50 Selle 2008, o. P. 51 Siehe den Überblick bei Brandes/Erlhoff/Schemmann 2009.

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studien, Prototypentests und Gebrauchs-, Risiko-, Verträglichkeitsprüfungen und so weiter werden durchführen müssen. Auch das intentionale (Mit-)Designen der dingbezogenen Gestik sollte zukünftig ein Teil des typischen ‚workflow‘ werden. Versuchsweise könnte man von einer ‚angewandten Gestik‘52 sprechen und die Notwendigkeit proklamieren, ein pragmatisches und/oder handlungsästhetisches Gestendesign zu etablieren. Denn zweifellos ist die Gestik tat-sächlich eine Bedeutungsträgerin, ein Medium der Generierung vielfältigster Sinnsetzungen, die – wie die Dinge des Designs selbst auch – die Welt ein wenig besser machen können.

II. „Ich kann es nur unermüdlich wiederholen: Vielleicht bringe ich die Kraft auf, beim Reden mit Dir all das zu vergessen, was mir Wörter beigebracht haben – oder ich kann wenigstens versuchen, es vergessen zu wollen. Aber ich werde nie vergessen können, was mir die Dinge beigebracht haben.“ Pier Paolo Pasolini, Wir sind zwei Fremde: Die Teetassen sagen es53

Die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes haben die oben als doppel­ seitige Medaille beschriebene Programmatik einmal mehr, einmal weniger als bare Münze genommen. Ihre multiperspektivischen Annäherungen sind naturgemäß nach Gegenständen, Fragestellungen und Methoden sehr unterschiedlich fokussiert; darin liegt ihre Stärke.54 Zur Architektur des Bandes: Das Fundament bilden Einlassungen zu „Dinggesten in Alltags-, Theorie- und Kunstkontexten“. So plädiert Philipp Zitzlsperger (Berlin), der als Einziger nicht an der Schneeberger Designtagung (2011) teilnehmen konnte, in seinem für diesen Band verfassten Aufsatz für eine Aufhebung der für die Moderne typischen kategorialen Trennung von Subjekt (‚User‘) und Objekt (Ding). Vielmehr müsse – wie noch in der Vormoderne üblich – stets deren gegenseitige Bedingtheit mitgedacht werden. So sei dem Ding qua ästhetischen Mehrwerts eine wirkmächtige Kraft eingeschrieben, die von seinem Urheber (Designer/Künstler) bis zu seinem Nutzer oder Betrachter reiche. Den tiefwurzelnden ideengeschichtlichen Gründen dieser metaphysischen Kraftübertragung, genauer der Impetus- oder Dynamiktheorie und ihren vielfältigen Implikationen spürt Zitzlsperger souverän durch Spätantike, Mittelalter und Neuzeit bis auf Rudolf Steiners (1861–1925) anthroposophische Ästhetik nach. Er setzt somit 52 Der Begriff in anderem Zusammenhang und mit anderer Bedeutung bei Rehm 2002, S. 366. – Vgl. auch das Zwischenfazit, also „das, was dringend zu tun wäre“, in Michael Erlhoffs inspirierendem Buch Theorie des Design, siehe Erlhoff 2013, S. 113; ebd. S. 215-225 findet sich eine sehr nützliche Bibliographie. 53 Pasolini, Pier Paolo: Lutherbriefe. Aufsätze, Kritiken, Polemiken. Aus dem Italienischen von Agathe Haag, Wien u. a. 1996 (darin: „Gennariello/Wir sind zwei Fremde […]“), S. 41. 54 Der Beitrag von Jeanette Kohl, University of California, Riverside/USA zum Gebrauchskontext von Kopfreliquiaren vor allem in der italienischen Renaissance stand für die Drucklegung leider nicht zur Verfügung.

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am Ferment des gegenwärtigen Diskurses an, der – beispielsweise mit Latours Ding­ soziologie – die aufklärerische Subjektzentrierung zwar seit Längerem wieder aufgegeben, aber zugleich auch den Bezug zu den Quellen des neuen Ding-Animismus verloren hat. Christian Janeckes (Offenbach am Main) brillanter Essay liefert ein weiteres Wider­ lager des zeitgenössischen Nachdenkens über Dinge und Gesten. Er nimmt seinen argumentativen Ausgangspunkt bei eben jener – von ihm kritisch hinterfragten – Zuschreibung von dinglicher Eigenaktivität und untersucht die Relevanz des Gestischen in der (beziehungsweise als) Kunst, namentlich der Performance-Kunst. Im Ergebnis diagnostiziert Janecke, dass „der durch Betrachter erzielbare gestisch-bildliche Mehrwert eines Hantierens mit und an den Dingen […] doch insgesamt eher bescheiden“ ausfalle. Dessen ungeachtet attestiert er insbesondere der jüngeren Kunst, dass sie ihrem Publikum Möglichkeiten der Partizipation per „Bildteilnehmerschaft“ unterbreite, um solcherart eine nur mehr in der Kunst mögliche gestisch/bildliche Bedeutsamkeit von Dingnutzung herzustellen. Um Bedeutsamkeit weniger in der Kunst denn im Alltäglichen sowie ihre Begrifflichkeiten kreist der Aufsatz von Jasmin Mersmann (Berlin). Mittels Nachvollzugs des philo­sophischen Zugangs zu ‚Handhaben‘, sprich Henkeln bekommt sie die Dinge an einer wortwörtlich hervorragenden, neuralgischen Stelle in den Griff. In ihrer sensiblen Analyse der ‚Angriffs‘-Positionen von beispielsweise Georg Simmel (1858–1918), Ernst Bloch (1885–1977) und Theodor W. Adorno (1903–69) wird in besonderer Weise evident, wie innig Ding und Mensch sich einander in der Handhabung begegnen und sich solcherart gegenseitig ‚in der Hand haben‘. Von der Theorie zurück zur Praxis führt Anette Rose (Berlin). Sie ist Künstlerin, ihr filmischer Zugang ist ein die Komplexität nonverbaler Körpersprache beobachtender. In ihrem analytisch-sezierenden Blick wird die Aufeinanderbezogenheit von Mimik, Gestik und Tun in unterschiedlichsten, teilweise automatisierten Arbeitsprozessen offenbar. Die Enzyklopädie der Handhabungen (ein ‚work in progress‘, 2011 erstmals in Buchform erschienen) archiviert künstlerische Forschungen, die einzigartige Bilder eines gelingenden Tuns zeigen. Für den vorliegenden Band hat die Künstlerin nicht nur eine inspirierende Fotostrecke gestaltet, sondern auch einen instruktiven Text verfasst, der ihre Intentionen beschreibt und die Frage nach dem Ding nochmals entschieden weitet: Wie korrelieren Gestik und Mimik? Wie kann man über Gesten sprechen? Wie lassen sich Gesten und Handlungsprozesse dokumentieren? Was geschieht beim Handling unter der Haut? … Roses ästhetisches Konzept und ihre künstlerische, aber sachliche Frage- und Dokumentationsweise können – hoffentlich – der museologischen Praxis wichtige Impulse spenden. Eine andere Wendung vollzieht die Arbeit von Susanne König (Paderborn); sie nimmt den Störfall, das intentionale Scheitern des Dinggebrauchs in der Kunst und im Alltag ins Visier:

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„Durch Material-, Größen- und Kontextverschiebungen werden Objekte aus ihrem gewohnten Wahrnehmungszusammenhang genommen und in einen neuen Kontext gestellt, wodurch normative Gesten und Handlungsabläufe abgerufen und sichtbar gemacht werden. So zeigen diese Störfaktoren die mit den Objekten verbundenen gesellschaftlichen Konventionen auf und ermöglichen eine Reflexion der sonst unbewusst durchgeführten Gesten und Handlungen.“

Einmal den Finger an die Wunde der ‚Soll-Störstelle‘ gelegt, erhebt sich jene Frage, die der vorliegende Band nicht eigens erörtert, aber indirekt in vielen Ansätzen umstellt: Wo hört Design auf, wo fängt Kunst an? Und: Kann die Geste eine Kategorie der Unterscheidung sein? In diesem Sinne Zwitterhaftes kennzeichnet auch die im Kapitel „Hantieren mit Artefakten …“ zusammengefassten Aufsätze. Sie widmen sich Dingen, deren Funktio­ nen als Kamm, Scherz- und Trinkgefäß im Leben jeweils spezifische symbolische, rituelle und konkrete Gesten gezeitigt haben. Die Artefakte finden sich heute allerdings ausnahmslos entpragmatisiert, musealisiert und solcherart auratisiert, jedenfalls aber ‚objektiviert‘ (zum Problem der ‚Objektivierung‘ siehe auch weiter oben unseren Exund Rekurs). Es ist das Verdienst der Autorinnen, sie umfassend ‚reanimiert‘ zu haben: Julia Saviello (München) untersucht mittelalterliche doppelseitige und figürlich gestaltete Kämme als Toilettenutensilien, Embleme, Symbole und Gaben und somit als potenziell gestische Generatoren vielfältigster Dingbedeutsamkeiten in den Diskursen um Natur und Kultur (Kämme scheinen hierin übrigens ihrem eigentlichen Betätigungsfeld, dem Haar, nicht unähnlich, schwingt dieses doch ebenso zwischen Natur/Körper und Kultur/Frisur). Die Multi­valenz des Kamms an sich beziehungsweise des Haarkämmens als Geste oszilliert erstaunlicherweise zwischen so unterschiedlichen Polen wie Moral, (Ordnungs-)Politik, (geistiges, geistliches) Ausrichten, (kosmetische) Hygiene, (weibliche) Erotik, (männliche) Aneignung, Eitelkeit, Wollust und dergleichen mehr. Mit Saviellos konzisen Darlegungen erweist sich, dass, wenn Dichter, Bischöfe, Herrscher, schöne Frauen oder Liebhaber sich die Haare kämmen (oder kämmen lassen), ihre Geste jeweils völlig anders verfängt. Ein Musterbeispiel experimenteller Kunst- und Designwissenschaft liefert Antje Scherner (Kassel) mit ihrer Untersuchung von Scherzgefäßen der Frühen Neuzeit. Dank ihr wissen wir nun, wie subtil diese Gefäße im vor allem höfischen und zünftigen Trinkritus funktionierten – beziehungsweise nicht funktionierten. Jedenfalls sollte (durfte) das Zuprosten und Trinken nicht mit leichter Hand gelingen: Das falsche Angreifen des Gefäßes, das Verschütten des Getränks, das Sich-Verschlucken beim Trinken, das Innehalten und schließlich das Fehlen an dem Anspruch, auf einen „Zug und Atem“ das Glas zu leeren, all dies war – wie wir annehmen müssen – das dem Ding eingeschriebene Programm, gleichsam das Skript des Gefäßes und seiner durchaus theatralen Performance. Denn es sind gerade die Tücken der Trinkgefäße und das Scheitern des stets von vielen Augen beobachteten Trinkakts, die Sinn und Scherz und damit auch den kultivierten Spaß der Beobachter konstituieren. Scherner fragt schließlich, ob dies von den Schöpfern der Scherzgefäße „mit Bedacht oder eher unabsichtlich eingearbeitet“ wurde. In der Tat

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lässt sich das Skript, wie schon im Fall der mittelalterlichen Aquamanile (hierzu siehe oben), so auch für die frühneuzeitlichen Gefäße nur mit gutem Grund als intentional unterstellen, nicht aber beweisen. In den Appell, zukünftig Dinggesten wissenschaftlich systematisch zu erforschen (und somit gegebenenfalls entsprechende Beweise zutage zu fördern), stimmt auch Rachel E. King (Edinburgh) ein. Sie mustert Metallgefäße für Heißgetränke und ihre Hand­habung im 18. Jahrhundert. Das Beispiel ist klug gewählt. Weil unabweisbar ist, dass das edelmetallene, repräsentative Material (vor allem kostbares Silber) und seine spezifische Wärme­leitfähigkeit vorderhand ungeeignet sind für die Handhabung der „Dreifaltigkeit der Heißgetränke“ (also Tee, Kaffee und Schokolade), mussten sich ihre durstigen ‚User‘ ein veritables Repertoire an buchstäblich gestalterischen ‚Kunstgriffen‘, konkret an Henkelformen und an kontextbezogenen Gesten, aneignen, sollte das Hantieren mit den Gefäßen verbrennungsfrei glücken. Minutiös spürt King dem Motiv in Lexika, Traktaten, Poemen und grafischen Quellen nach und weist damit zugleich der nachfolgenden Forschung einen gangbaren Weg. In den folgenden, speziellen Dinggesten gewidmeten Aufsätzen wird zuerst die des Sitzens auf Stühlen und ähnlichen Möbeln behandelt. Wohl auch, weil der Stuhl seit je eine Designaufgabe par excellence darstellt, haben drei Autoren ausführliche Aufsätze zu diesem paradigmatischen Themenkomplex beigesteuert. Eingeleitet wird die Sektion von dem impulsreichen Statement des Ergonomie-Experten Rainer Hertting-Thomasius (Reichenbach/Berlin). Xenia Riemann (München) ‚besitzt‘ mit dem „Thonet Nr. 14“, dem Kaffeehausstuhl, einen ‚Klassiker‘, der in keinem Lehrbuch fehlt, gilt er doch als das erste indu­striell hergestellte (und noch dazu weltweit höchst erfolgreiche) Designprodukt. Riemann beleuchtet in ihrem materialreichen Aufsatz, inwiefern es gerechtfertigt scheint, von dem neuartigen Bugholzstuhl als einer Chiffre der Mobilität und damit der Moderne zu sprechen, genauer als einen Mobilitäts- und Modernitäts-Generator, der zu neuartiger individueller und kollektiver (Sozial-)Gestik zwingt. Wie sehr der Stuhl seinen Benutzer zeichnet, ja prägt, vermag Riemann mittels unvergesslicher Fotos von Gabriele Basilico (1944–2013) ikonisch zu verdichten (siehe Abb. 5 a, b in dem Aufsatz von Xenia ­R iemann). Karianne Fogelberg (München) mustert historische und aktuelle Bürostühle, also jene ‚Sitzmaschinen‘, auf denen wir zuweilen die meiste Zeit des Tages verbringen. Ein Korrelat der schieren Verweildauer und damit der Relevanz für den Menschen scheint jener schnelle Rhythmus zu sein, mit dem die Möbelbranche Innovationen, Evolu­tionen und Revolutionen des Arbeitsstuhlsegments aufeinander folgen lässt. Waschmittel werben bekanntlich mit immer weißerer, ‚tiefporigerer‘ Reinheit; Bürostühle mit immer größerem Komfort und dynamischerer Ergonomie. Damit sind endlich zwei zentrale, auf empirischen Durchschnittswerten (nämlich auf Verhalten und Maßen, sodann auf DIN- und anderen Normen) beruhende Kategorien des Mensch-Ding-Verhältnisses angesprochen, die ihrerseits soziale gestische Standards konstituieren und dabei die

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Maximierung von ‚Usability‘ (dt. Gebrauchstauglichkeit) und Effizienz zur Norm stilisieren. Anders ausgedrückt, mit besten Absichten wird der Stuhlnutzer ertüchtigt, aber zugleich auch zugerichtet (wohlgemerkt: der Mensch, das jeweils Besondere, wird qua Ergonomie zugerichtet auf das Ding).55 Fogelberg kann kenntnisreich zeigen, wie den Möbeln zu diesem Ende in immer größerem Maß eine aktive, den Sitzenden zwanghaft aktivierende Funktion eingeschrieben wird. Tobias Lander (Freiburg im Breisgau) traktiert und bemisst die aktuell so beliebten raumgreifenden sofaartigen Sitz-, ja Wohnlandschaften und Chill-out-Zonen und ihre ‚User‘ mit den luziden Parametern der Baudrillard’schen Soziologie und entfaltet mit großer Prägnanz, dass und wie der Mensch in „der Wohnlandschaft […] nun selbst zu einem Baustein eines sich ständig wandelnden Bedeutungsgefüges, zu einem im kommunikativen Spiel umzugruppierenden Objekt“ gerät. Lander demonstriert unter anderem, dass die „Kommunikation auf den bequemen Niedrigmöbeln […] nichts weiter leisten [soll], als die Verheißung der Entspannung vom Einzelnen auf die Gruppe auszuweiten […]. Die niedrige Form des Sitzmöbels bedingt eine Körperhaltung, die mit einer Geisteshaltung korreliert, die das Streitgespräch ablehnt.“

Damit ist die – in genau dieser doppelten Bedeutung – Haltung formende Funktion des Möbeldesigns trefflich an einem weiteren exemplarischen Gesten-Generator verifiziert. Wer schon einmal eine Wohnlandschaft ‚besaß‘, wird Landers Diagnose bestätigen (und womöglich zukünftig weniger ‚chillig‘ sitzen) wollen. Um Nachvollziehbarkeit und Allgemeingültigkeit ist es auch den Autorinnen des Kapitels „Kleidung tragen und Mode“ zu tun. Spätestens seit Heidi Klums „­Germany’s next Topmodel“-Sendungen im Castingshow- beziehungsweise Reality-TV-Format (ProSieben, seit 2006) hat man – vielleicht dazu von einem bequemen Polstermöbel aus – gelernt, die Posen und Bewegung fordernde, fördernde und formende Kraft der Mode (pseudo-)kennerschaftlich zu beckmessern. Doch geht es Petra Leutner (Hamburg) natürlich nicht um diese Art billigen Voyeurismus, sondern um die anregende Entfaltung der komplexen, zuweilen reziproken Ambivalenz des Kleidertragens. Leutner untersucht, wie sich die buchstäblich hautenge Symbiose, ja Einheit von Körper, Kleidung und Geste in den Praktiken des Mode-Business und im Alltag der Bekleideten artikuliert. Hierzu zählen einerseits der regelmäßige Gebrauch von „Ersatz-Körpern“ (Puppen) und ebenfalls standardisierten Modells sowie andererseits die schnitttechnische Analyse von Kleidung und ihrer gestischen Transformationskraft. Letztere wird zunehmend von den Modemachern suggestiv vorgeprägt, ja aufwändig vorinszeniert, nämlich in sogenannten Brand-Short-Filmen, also in zur Markteinführung einer neuen Kollektion gedrehten Werbespots. Diese zeigen gewissermaßen das comme il faut des ‚Users‘ und des Kleidungsstücks im Modus einer performativen Gebrauchs(gesten)anleitung.

55 Vgl. Erlhoff 2013 , S. 46.

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Yvonne Schütze (Chemnitz) nimmt Mode unter dem Aspekt der Kunst in Augenschein. Basierend auf einer überblickartigen kulturhistorischen Periodisierung der Professionalisierung von Kleiderproduzenten und -produktion auf der einen Seite und der Verselbständigung der Kunst auf der anderen, gelingt ihr eine Differenzierung von Mode (die von Modemachern entworfen wurde) und „Anti-Mode“ (die von Künstlern geschaffen wurde). Den Lackmustest – Mode und/oder Kunst? – vollzieht Schütze an Person und Werk Sonia Delaunays (1885–1979), bevor sie mit Cindy Sherman und Erwin Wurm (beide geb. 1954) zwei rein künstlerische Positionen aufruft. Dabei fällt auf, dass „bildende Künstler […] die Kleidermode im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper – oder ohne ihn [thematisieren]. In einigen der angeführten Kunstwerke ist gar kein Körper oder keine Person mehr sichtbar beziehungsweise anwesend. Vielmehr formt hier die (leere) Kleidung den (abwesenden) Körper.“

Man könnte also sagen, Schütze löst die die Richtigkeit bestätigende Umkehraufgabe unserer Problemstellung. In zwei abschließenden Kapiteln „Artefakte im Museum“ und „Komische Gesten“ werden sehr unterschiedliche Ein- und Ausblicke gewährt: Eva Maria Hoyer (Leipzig) bietet eine erläuternde Führung durch ‚ihr‘ Grassi Museum für Angewandte Kunst, das übrigens das zweitälteste Kunstgewerbemuseum Deutschlands und eines der bedeutendsten in Europa ist. Der Aufsatztitel ist Programm, nicht nur des Beitrags, sondern auch des Hauses; beide legen Zeugnis ab von der Faszination der Dinge. Hoyers Rundgang beantwortet mit nicht zu überbietender Verve und Dingkenntnis die selbstgestellte Frage: „Wie kann es einem Museum, das kreative Leistungen aus vielen Jahrhunderten bis heute sammelt und bewahrt, […] gelingen, sich der Sprache der Dinge zu nähern, damit wir sie verstehen und vielleicht davon profitieren können?“

Ganz im Sinne der Ausgangsthese unseres Bandes versteht sich offenbar das letzte, jüngste ‚Werk‘, das das Museum innerhalb seiner Dauerausstellung präsentiert: „In der interaktiven Rauminstallation „360° – Sinneslandschaften“ tauchen die Be­sucher vollständig in einen virtuellen Raum aus Bild- und Klangprojektionen ein […]. Das klassische Verhältnis zwischen Betrachter und Exponat kehrt sich um […]. Das Werkzeug ist der eigene Körper, dessen Bewegungen beständig neue Bilder und Klänge erzeugen […]. Im Spiel mit Formen, Farben und Strukturen richten sich die Sinne auf allgemeine, immer wiederkehrende Gestaltungsfragen.“

Wenn man so will, offeriert diese innovative Installation sinnfälligerweise das, was den vielen Tausend Dingen im Museum mit durchaus vernünftigen Gründen verwehrt bleibt, nämlich die erlebnisorientierte (insofern vielleicht auch im besten Sinne ­be­spaßen­de), gestische Aktivierung des ‚Users‘, wenn auch notwendigerweise im virtuell generativen Raum.56 56 Siehe hierzu auch die instruktive Internetseite des Schöpfers der Installation (29. 05. 2014).

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Um eine Bespaßung unmittelbarer Art geht es im abschließenden Aufsatz von Elke Schulze (Plauen/Berlin). Aber natürlich hat jeder intelligente Witz eine nicht immer nur humorvolle Kehrseite. Schulze präsentiert einige der bekannten und charmanten Zeichnungen Erich Ohsers (alias e. o.plauen; 1903–44) und stellt fest, dass sie außer damals belächelten und auch scherzhaft gemeinten Erfindungen wie dem „Katastrophenfern­ sehen“ (à la Reality-TV) oder dem „Taschentelefon“ (und da ist es schon, das „iPhone“!) auch mit einem ernst zu nehmenden, bislang für die Analyse noch gar nicht ausgeschöpften Verweischarakter aufwarten: „Mit […] groteskem Gebärdenspiel bringt Ohser in seinen Witzbildern das Verhältnis von Mensch und Ding auf einen Nenner – was als Witz zündet und zugleich eine Anregung zur Reflexion bereithält, die über alles Witzige hinausweist. Witzbilder, wiewohl sie notwendig vortheoretisch sind, ermöglichen doch einen Zugang nicht nur zu Bildpraxen vergangener Gesellschaften. Sie sind selbst auch eine interessante Quelle für das Selbstverständnis und die Paradoxien jener Lebenswelten.“

Und somit kulminieren – nolens volens und nicht frei von Ironie – Ansatz und Anspruch des vorliegenden Bandes in dem undatierten, sagen wir besser zeitlosen Ohser’schen Witzbildentwurf „Knopf“ (siehe die letzte Abb. 12 im Aufsatz von Elke Schulze): Der Mensch kann nicht anders, die Geste ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, weil sie schon dem Ding inhärent ist. Jedenfalls bedingt sie ihn – auch wenn im Ergebnis gar nichts passiert. Doch auch solche ‚leçons de choses‘ bleiben ‚der Sache nach‘ im Ponge’schen Sinne unerschöpflich und im Pasolini’schen unvergesslich.

Auswahlbibliografie / Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur  Vorbemerkung Diese Auswahl an Titeln ist vor allem als Leseempfehlung für eine vertiefte Beschäftigung mit den in den Vorlesungen berührten Denkmodellen und ‚Gegenständen‘ zu verstehen (Stand 2012; mit einigen nachträglich ergänzten neueren Titeln). Als kumulativer Apparat bietet sie zudem den Nachweis aller im Text direkt oder indirekt zitierter Autoren und Werke, sofern diese nicht in den Anmerkungen ausführlich nachgewiesen wurden. Für eine aktuelle, natürlich ebenfalls subjektive und die Themen Design und Designtheorie zudem in größerer Breite abdeckende Bibliografie siehe jetzt auch Erlhoff 2013, S. 215–225. Auch die Literaturangaben in Moebius/Prinz 2012 (dort jeweils am Ende der einzelnen Beiträge) bieten einen hervorragenden Einstieg in den Diskurs. Zu dessen aktuell viel debattierten Fragestellungen siehe Wenninger 2012 und die vierbändige Publikation des CIHA-Kongresses „The Challenge of the Object/Die Herausforderung des Objekts“ (Nürnberg 2012) von Großmann/Krutisch 2013; zu den weiteren Potenzia­ len der kunsthistorischen Objektwissenschaft siehe Cordez 2014.

Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen     |

Akrich, Madeleine: Beyond social construction of technology. The shaping of people and things in the innovation process, in: Dierkes, Meinolf/Hoffmann, Ute (Hg.): New Technology at the Outset. Social Forces in the Shaping of Technological Innovations, hg. vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Frankfurt am Main u. a. 1992, S. 173–192. Argyle, Michael: Körpersprache & [und] Kommunikation. Das Handbuch zur nonverbalen Kommunikation (= Innovative Psychologie und Humanwissenschaften, 5), 8. Aufl., Paderborn 2002 (dt. Erstaufl. 1979; Org.-Ausg. unter dem Titel Bodily Communication, London 1975). Baker, Nicholson: [Roman] Rolltreppe. Oder die Herkunft der Dinge. Deutsch von Eike Schönfeld (= Rororo, 13300), 2. Aufl., Reinbek 2000 (Erstaufl. 1993, Orig.-Ausg. unter dem Titel The Mezzanine, New York 1988). Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin 2010 (Orig.-Ausg. Paris 1957). Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Aus dem Französischen von Joseph Garzuly, mit einem aktuellen Nachwort von Florian Rötzer, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2007 (Orig.-Ausg. Le système des objets, Paris 1968). Bauhaus. Die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau, Ausg. 3, 2012 (= Themenheft „Dinge/Things“, mit Beitr. von Otl Aicher u. a.). Beck, Stefan: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte (= Zeithorizonte/Studien zu Theorien und Perspektiven Europäischer Ethnologie, 4), Berlin 1997. Berger, Wilhelm/Getzinger, Günter (Hg.): Das Tätigsein der Dinge. Beiträge zur Handlungsträgerschaft von Technik (= Technik- und Wissenschaftsforschung, 58), München u. a. 2009. Boehncke, Heiner/Bergmann, Klaus (Hg.) und Bernstein, F. W. (Illus.): Die Galerie der kleinen Dinge. Ein ABC mit 77 kurzen Kulturgeschichten alltäglicher Gegenstände vom Aschenbecher bis zum Zündholz, Zürich 1988. Boesch, Ernst E.: Das persönliche Objekt, in: Lantermann (Hg.) 1982, S. 29–41. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (= Edition Suhrkamp, 1927/N. F., 927), Frankfurt am Main 1995. _ Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. _ Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart 1998. Bolz, Norbert: Das Design der Sinngesellschaft, in: Sturm 1998, S. 50–57. Brandes, Uta/Erlhoff, Michael/Schemmann, Nadine: Designtheorie und Designforschung (= Design studieren; utb, 3152) Paderborn 2009. Brandes, Uta/Stich, Sonja/Wender, Miriam: Design durch Gebrauch. Die alltägliche Metamorphose der Dinge (Board of International Research in Design/BIRD), Basel u. a. 2009. Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. Bremer, Kai/Wirth, Uwe: [Artikel] Performanz, in: Enzyklopädie der Neuzeit, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) […] hg. von Friedrich Jaeger, Bd. 9, Stuttgart 2009, Sp. 956–959. Bringéus, Nils-Arvid: Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 29 (= N. F. 14), [Berlin/DDR] 1986, S. 159–174. Bruder, Ralph (Hg.): Ergonomie und Design. Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) und Institut für Ergonomie und Designforschung, Tagungsband […], unter Mitarbeit von Petra Gersch u. a., Stuttgart 2004. Bryson, Bill: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Ins Deutsche übertragen von Sigrid Ruschmeier, München 2011 (Orig.-Ausg. unter dem Titel At Home. A Short History of Private Life, London 2010). Burckhardt, Lucius: Design ist unsichtbar. Entwurf, Gesellschaft & [und] Politik, hg. von Silvan Blumen­ thal u. a., Berlin 2012. Bürdek, Bernhard E.: Design ist (doch) eine Disziplin, in: Eisele/Bürdek 2011, S. 10–21. _ Design – auf dem Weg zu einer Disziplin (= Schriftenreihe Schriften zur Kulturwissenschaft, 94; zugl. Wien, Univ. für Angewandte Kunst, Diss., 2012), Hamburg 2012. Candlin, Fiona/Guins, Raiford (Hg.): The Object Reader, London u. a. 2009. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988 (Teilausg.; Orig.-Ausg. unter dem Titel L’invention du quotidien, Paris 1980). Charms, Daniil: Gegenstände und Figuren […], in: Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avant­garde, hg. von Boris Groys u. a. […] (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1764), Frankfurt am Main 2005, S. 628– 630.

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DINGGESTEN IN ALLTAGS-, THEORIE- UND KUNSTKONTEXTEN

„Das Industriedesign legt Gesten fest – die Kunst befreit Gesten. Sollten wir also mehr von der Kunst lernen? Ich glaube ja!“ Hansjerg Maier-Aichen, Gesten beruhigen das Gewissen des Designers […], 19981 „Der Wert der Waren, wenn er nicht in der Nützlichkeit zu irgendwelchen lebensweltlichen­ Verrichtungen besteht, braucht keineswegs nur darin zu bestehen, daß sie einen ­Tauschwert ­repräsentieren. Vielmehr werden sie gebraucht gerade in ihrer szenischen Funktion, als B ­ estandteil des Stils, als Elemente zur Erzeugung von Atmosphären. Man könnte deshalb neben Gebrauchswert und Tauschwert oder als Unterform des Gebrauchswerts von einem szenischen Wert der ­Waren sprechen, positiv formuliert: von ihrem ästhetischen Wert, kritisch: von ihrem Scheinwert […] Charakteristisch für unsere Zeit ist, daß es faktisch keine Waren mehr gibt, die nicht auch einen szenischen Wert haben […] Design ist alles – dieser Slogan hätte hier seien Platz.“ Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 19952 „Designer: Handlungsästhetik bedeutet, einen Handlungsablauf vorausschauend so zu gestalten, dass ein Rahmensystem von Elementen vorgegeben wird, das der Kognition den Weg zum Erfolg ebnet. Das der Handlung zu einer gelungenen Aufführung verhilft. […] Designer: Da kommen wir der Sache näher. Eine Ästhetik der Handlungsperformance nenne ich eben eine intelligente Ästhetik. [...] Designer: Unsere drei Ausgangshaltungen: die ästhetische Haltung des Designs als Kunst, die technische Haltung des Designs als Funktion und die kognitive Haltung des Designs hinsichtlich seiner performativen Handlungsästhetik – zusammengebracht ermöglichen sie dem Nutzer das ganze Spektrum an Erfahrungen mit Artefakten.“ Felicidad Romero-Tejedor, Was verpasst? Gespräche über Gestaltung, 20113

1 Maier-Aichen, Hansjerg: Gesten beruhigen das Gewissen des Designers, des Konsumenten und des  Produzenten, in: Sturm, Hermann (Hg.): Geste & [und] Gewissen im Design, Köln 1998, S. 124–131, S. 126. 2 Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (= Edition Suhrkamp, 1927/N. F., 927), Frankfurt am Main 1995, S. 46. 3 Romero-Tejedor, Felicidad: Was verpasst? Gespräche über Gestaltung, Hildesheim 2011, S. 160– 166, S. 164f.

Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt     |

Philipp Zitzlsperger

Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt

Die Auflösung der Hierarchie von Mensch, Design und Ding Die Bindung des Designs an die Dinge, die es gestalterisch hervorbringt, ist eine Bindung an den Menschen, der die Dinge benutzt. Er benutzt sie nicht nur, weil sie nützlich sind, sondern auch, weil sie einen ästhetischen Reiz auf seine Wahrnehmung ausüben. Das Design gibt den Dingen eine Form, die einen ästhetischen Mehrwert erzeugt, einen Mehrwert, der sich bekanntlich letztendlich auch im Kaufpreis niederschlägt. Die Vase als funktionales Instrument beziehungsweise Behältnis allein stellt in der Regel keine hinreichende Motivation dar, sie zu benutzen, geschweige denn sie zu kaufen. Vielmehr ist es der ästhetische Mehrwert, der den Käufer veranlasst, die Vase zu seiner Vase zu machen. Das Subjekt entscheidet sich für den Erwerb des Artefakts. Das Objekt jedoch scheint als lebloses Ding Spielball menschlicher Entscheidung zu sein. Seit einiger Zeit jedoch ist die Kulturwissenschaft zu der Auffassung gelangt, dass Dinge den Menschen nicht unterstehen, sondern mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren. Gestaltete Dinge oder Artefakte sind Manifestationen von Gefühlen. Menschliche Gefühle zielen darauf ab, sich in Medien zu artikulieren. Sie sind auf Verkörperung angewiesen, eine Verkörperung, die sie in der Gestaltung von Dingen realisieren. Dinge sind folglich Projektionen von Gefühlen, die der Designer in und mittels ihrer Gestaltung verkörpert und sichtbar macht. Er designt eine Vase, verleiht ihr eine bestimmte ästhetische Form und Oberflächenstruktur. Auch bereits die Wahl des Materials und seiner Farbe sind selbstverständlich designrelevante, also auch ästhetische Entscheidungen. Seine Empfindungen überträgt der Gestalter solcherart auf sein Produkt, impft sie ihm regelrecht ein und verkörpert sie in der Vase. Doch hier endet die Verkettung von Ursache und Wirkung nicht, denn der ästhetische Mehrwert, der nun auf das Ding übertragen ist, überträgt sich in einem nächsten Schritt auf seinen Benutzer. Beim Gebrauch der Vase berührt der Benutzer das Gefäß, er spürt die Oberfläche und sieht seine Farbe und Form. Unweigerlich löst die ästhetische Wahrnehmung im Subjekt Gefühle und Emotionen aus und das Ding ergreift Besitz vom Benutzer; es überträgt – zumindest idealiter – die verdinglichten Gefühle des ­Designers.

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Die Beziehung von Subjekt und Objekt wird heute intuitiv als Einbahnstraße ge­sehen, das heißt, das Subjekt beherrscht das Objekt. Berücksichtigt man hingegen den ästhetischen Mehrwert, der die materialisierten Gefühle im Ding auf den Benutzer überträgt, ändert sich die Beziehung von Subjekt und Objekt – ja, das Objekt wird zum Subjekt. Es ergreift Besitz von den Gefühlen des Benutzers, steuert seine Empfindungen und löst Befindlichkeiten aus. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918) hat 1911 eben diese Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Ding geistreich thematisiert. In seinem kurzen Aufsatz „Der Henkel“ analysiert er das Verhältnis von Kunst und Funktion des Henkel einer Vase, der ein brauchbarer Griff für den Benutzer sein muss, zugleich aber über seine Nützlichkeit hinaus eine Kunstform annehmen soll.1 Simmel argumentiert gegen die Hierarchie, die in Louis Sullivans (1856–1924) Schlüssel­satz „Form follows function“ (1896) bis heute fortlebt. Die Doktrin von der Form, die der Funktion der Dinge untergeordnet ist, wandelt Simmel um in ein Gleichgewicht und Wechselverhältnis von Form und Funktion, vor allem bezieht er den Menschen als Benutzer in seine Betrachtungen mit ein. So gesehen ist der Henkel eine Verbindung zwischen Vase und Außenwelt. Als Schlange, Drache oder Eidechse gestaltet, sieht Simmel im Henkel die „schmiegsame Verbindung zu ihr [zur Vase], die wie mit anschaulicher Kontinuität den seelischen Impuls in sie, in die Handhabung mit ihr überleitet und sie nun in der Rückströmung dieser Kraft wieder in den Lebensumfang der Seele einbezieht.“ 2 Simmel erkennt im Henkel eine Relaisstation, die der Kraftübertragung dient – und zwar in beide Richtungen: vom Benutzer zum Ding und umgekehrt. Mit der Kraft meint Simmel nicht allein die physische Kraft des Hebens und Senkens, sondern vielmehr eine psychische oder metaphysische Kraft, die einen Eindruck in der Seele hinterlässt, Empfindungen auslöst und deren Faszinosum sich immer im Austausch zwischen Objekt und Subjekt verortet. In letzter Zeit hat Bruno Latour (geb. 1947) eben diese Subjekt-Objekt-Beziehung als Ganzheit und Einheit weiter gedacht und auf den provokativen Satz zugespitzt: „Die Menschen sind nicht mehr unter sich.“3 Damit widerspricht er herkömmlichen Handlungstheorien, die spätestens seit der Aufklärung allein den Menschen zum Souverän von Handlungen als Ausdruck der Intention und Zielgerichtetheit erklären. Latour lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die Menschen in einer Dingwelt leben, die sich auf vielfältige Weise in das Menschenleben einmischt. Dieses ausgeglichene Kräfteverhältnis zwischen Ding und Mensch prägt den Alltag westlicher Zivilisationen der Gegenwart mit großer Selbstverständlichkeit, etwa wenn ein technisches Gerät nicht funktioniert und die wachsende Ungeduld des Benutzers zu Zwiegesprächen Anlass gibt, oder

1 Simmel, Georg: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais (= Philosophisch-soziologische Bücherei, 27), Leipzig 1911; Ders.: Der Henkel (1911), Neu-Isenburg 2008. 2 Simmel 1911/2008 (wie Anm. 1), S. 119. 3 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000, S. 231.

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wenn man sich an der Tischkante stößt und für den zugefügten Schmerz (auf) den Tisch schlägt, ihn am Ende sogar beschimpft. In solchen Fällen wird das ‚dumme Ding‘ dann kurzerhand zum kommunikativen Gegenüber, dessen zurückhaltende Schweigsamkeit die Wut des anderen nur noch steigern kann. Ins Positive gewendet: Ist beispielsweise ein Luxusauto mit hohem ästhetischen und repräsentativen Anspruch dazu in der Lage, das Selbstbewusstsein des Fahrers – sagen wir: eines Hochschullehrers – zu steigern, seine Laune zu heben und damit eine günstige Voraussetzung zu schaffen für die anstehende Vorlesung, in der er nach der vergnüglichen Fahrt besonders entspannt und gewitzt den komplizierten Stoff aufbereitet, mit der Wirkung, dass die Studierenden von seinen Ausführungen gefesselt und also besonders aufmerksam sind, dann ist am Ende der Lernerfolg überwältigend. Das Beispiel ließe sich in nahezu endlosem Regress weiter zerlegen, bis man im Autodesign das Gesamtsystem der Gesellschaft gespiegelt ­f ände.4 Handlungen – das sollen die Beispiele verdeutlichen – schließen das Ding mit ein. Dinge prägen menschliche Handlungen, regulieren sie mit. Für die Analyse und Deutung von Dingen ist es deshalb erforderlich, die strikte Trennung von Subjekt und Objekt der Moderne aufzuheben, vielmehr ihre gegenseitige Bedingtheit mitzudenken. Für die historischen Bild- und Kulturwissenschaften ist es deshalb bereits seit etwa 1900 von zentralem Interesse, die Wahrnehmungsgeschichte zu verstehen, die Artefakte in den Jahrhunderten ihres Bestehens durchlaufen haben. Nur so können die Bedeutungen ermessen werden, die den Dingen zugesprochen wurden in der Einheit von Subjekt und Objekt; denn Artefakte sind nicht autonom und hermetisch. Bereits der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegel (1858–1905) erkannte, dass die Einheit mit der Entwicklung von Typus, Form und Stil immer das betrachtende/benutzende Subjekt voraussetzt.5 Und Aby Warburg (1866– 1929) – um ein zweites Beispiel aus der Frühzeit der bildgeprägten Kulturwissenschaft anzuführen – beschäftigte sich intensiv mit der Anthropologie der Subjekt-Objekt-Beziehung, der Belebung von Accessoires, die auf den Menschen wirken. Für Warburg ist dem Artefakt die Kraft der Wirkung durch den Künstler eingeprägt,6 eine Ansicht, mit der er sich von althergebrachten, subjektzentrierten Animismus- und Totemtheorien distanzierte. Wenn anfangs die Rede war vom ästhetischen Mehrwert, von Kraft und ihrer Übertragung vom Designer/Künstler auf das Ding und weiter vom Ding auf den Benutzer (wie am Beispiel der Vase und ihres Henkels dargestellt), dann ist es nun an der 4 Vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, S. 77. 5 Vgl. Kemp, Wolfgang: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: Ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild, Berlin 1992, S. 7–28, hier S. 18–20; Boehm, Gottfried: Repräsentation – Präsentation – Präsenz. Auf den Spuren des ‚homo pictor‘, in: Ders. (Hg.): Homo Pictor (Colloquium Rauricum, 7), München u. a. 2001, S. 3–13. 6 Vgl. Papapetros, Spyros: On the Animation of the Inorganic. Art, Architecture, and the Extension of Live. Chicago u. a. 2012, S. 31–153 (hier auch die Analyse von Wilhelm Worringers „Abstraktion und Einfühlung“, 1907); vgl. auch Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 302–305.

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Zeit, den Blick zurückzuwenden auf die Geschichte dieser Kraft. Denn die Theorie des Mehrwerts durch Kraftübertragung – der Einprägung von Kraft, wie sie der Gestalter in ­seinem Artefakt auslagert, um sie schließlich auf den Betrachter/Benutzer zu übertragen – besitzt eine Tradition, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Sie kann der Schlüssel sein zu einem Verständnis von der Subjekt-Objekt-Beziehung, die in der Vormoderne gepflegt wurde und heute wieder zunehmend ins Bewusstsein rückt, ohne dass ihr ideengeschichtlicher Ursprung (noch) gekannt würde. Vor der Aufklärung war das Verhältnis von Mensch und Ding noch ein anderes, und die Wurzeln dieses Verhältnisses reichen bis in die Spätantike zurück. Die Wertschätzung der Dinge, ihr Gebrauch und ihre bisweilen autonome Subjekthaftigkeit sind beispielsweise für Reliquien, Talismane oder auch Gnadenbilder in religiöser Praxis gut erforscht. Der Alltag einer materiellen Kultur, der von Artefakten sowohl im wirtschaftlichen Austausch als auch im schlichten Gebrauch geprägt ist, bleibt jedoch diffus, wenn es um die Frage geht, welche ‚Werte­welt, Güterwelt, praktische Welt‘ den Welthorizont (Edmund ­Husserl) oder schlicht die Lebenswelt prägten, welche Bedeutung also die Menschen in der Vormoderne den Dingen, die sie umgaben, beimaßen. Zu diesen Dingen zählten Kunstwerke ebenso wie Kleidung, Geschirr und andere Alltagsgegenstände. Ihnen wird eine Kraft attestiert, die auf den Betrachter/Benutzer wirkt oder sich auf ihn überträgt, die aber ebenso häufig bestritten wird (zeitgenössische Einlassungen, die hier nicht weiter ausgebreitet werden sollen, könnten den Diskurs dokumentieren). Bei der Lektüre der Quellen, die von physischen wie metaphysischen Kräften handeln, wird oft außer Acht gelassen, dass bereits seit der Spätantike und dann vor allem seit dem 14. Jahrhundert Dynamik als physikalische und Wert als ökonomische Größe ein neues Erklärungsmodell erhielten, ein Erklärungsmodell, das einer kopernikanischen Wende gleichkam. Mit der sogenannten Dynamiktheorie war ein Modell der Kraftübertragung bereitgestellt, das auch auf den Wert und die metaphysische Kraft der Dinge angewendet wurde.

Samenartige Kräfte durch Gestaltung Der Kraftbegriff wurde seit der Antike in der Naturphilosophie, der Medizin und der Astrologie synonym verwendet und tauchte später auch in der Kunsttheorie auf. Auf Lateinisch sind die Schlüsselwörter ‚vis‘ und ‚virtus‘, die beide gleichermaßen vor allem Kraft, Tatkraft, Macht und Stärke bedeuten; ‚virtus‘ bedeutet darüber hinaus unter anderem Tapferkeit und Tugend. Diese Schlüsselbegriffe standen seit der Antike für jene Kräfte, die allen Dingen der belebten und unbelebten Natur innewohnen. So schrieb etwa Paracelsus (auch Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, ca. 1493–1541), der umstrittene und charismatische Arzt und Naturwissenschaftler (Abb. 1), im Jahr 1530 in seinem „Buch über Bilder“ (Liber de imaginibus): „Es ist notwendig, die Kraft, Tugend und wundersame Wirkung von Bildern zu beschreiben. Dem Leser ist zu erklären, wie diese Kräfte entfaltet werden und was die Bilder durch ihre

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1  Historisches Porträt des Paracelsus

Kraft und Tugend auszurichten in der Lage sind.“7 Paracelsus versucht, die Ursache dieser Kräfte und Tugenden der Artefakte zu erklären. Wo kommen sie her und wie ist es möglich, dass die Kräfte in den Dingen gespeichert sind, gleichsam wie die Energie in einer Batterie, und auf den Menschen wirken? Diese Ursachenforschung hat mit Physik ebenso zu tun wie mit Metaphysik und sie konzentriert sich auf eine Theorie, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Oder besser gesagt, sie wirkt unbewusst bis heute weiter, etwa in den anthroposophischen Ansätzen Rudolf Steiners (1861–1925), dessen Alchemie des Alltags die Kräfte der Dinge ebenso thematisiert wie Joseph Beuys (1921–86) in seiner Performance „Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965).

Exkurs Um zu verstehen, um welche Kräfte es sich in der Vormoderne handelte, die man den Artefakten attestierte, ist es hilfreich, einen Exkurs zur christlichen Bildpraxis zu unternehmen. Das Bild als Artefakt, als Kultbild mit ästhetischem Überschuss beziehungsweise als Gnadenbild entfaltete in der Bildtheorie und -theologie seine ‚virtus‘, die bis zur wahrnehmbaren Verlebendigung des Heiligenporträts reichen konnte. Die Frühe Neuzeit hat die Kraft und den Lebendigkeitseffekt der Bilder zu einer ihrer wichtigsten ästhetischen Kategorien erhoben, aber zugleich die Paradoxie von Tod und Lebendigkeit in den Werken betont. Eine der frühesten und ausführlichsten Auseinandersetzungen 7 Möseneder, Karl: Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009, S. 73.

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2  Zeitgenössisches Stifterbildnis des Nikolaus von Kues

mit dem Oszillieren zwischen der toten Materie des Bildes und seiner lebendigen Wirkung ist von Nicolaus Cusanus (Nikolaus von Kues, 1401–64) überliefert (Abb. 2). Der Kardinal schrieb 1453 für die Mönche der Benediktinerabtei Tegernsee einen Meditationstext (De visione Dei), in dem er empfiehlt, eine Christusikone zu betrachten, um damit die Kraft der Allmacht Gottes sinnlich zu begreifen. Cusanus schreibt: „Zuerst werdet ihr euch darüber wundern, wie es geschehen kann, dass er alle und jeden einzeln zugleich ansieht. Denn derjenige, welcher im Osten steht, kann sich in keiner Weise vorstellen, dass der Blick des Bildes auch in eine andere Richtung, nach Westen oder Süden gerichtet ist. Nun mag der Bruder, der im Osten steht, sich nach Westen begeben und erfahren, dass der Blick hier ebenso auf ihn gerichtet ist wie vordem im Osten. Und da er weiß, dass das Bild fest hängt und unbeweglich ist, wird er sich über die Wandlung des unwandelbaren Blickes wundern. Auch wenn er seinen Blick fest auf das Bild heftet und von Osten nach Westen geht, wird er erfahren, dass der Blick des Bildes ununterbrochen mit ihm geht […].“8

Was der Theologe hier beschreibt, ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Bildes, das faktisch unbelebt bleibt. Er will damit sagen, dass Gottes Blick uneingeschränkt auf allen ruht, ohne Einschränkung jedes Geschöpf sieht und gütig begleitet. Wenige ­Zeilen später spricht Cusanus dann vom „lebendigen Abbild der Kraft“, die in Gottes Allmacht ruht.9 8 Kues, Nikolaus von: Philosophisch-theologische Schriften, hg. von Leo Gabriel, übersetzt und kommentiert von Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1982, S. 97. 9 Ebd., S. 104–106.

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Dies ist eine Schlüsselstelle insofern, als Cusanus feststellt, dass die Kraft Gottes (im lateinischen Original „vis“ oder „virtus“) im Menschen ebenso enthalten ist wie im Bild. Die Christusikone ist nicht darauf angewiesen, durch rituelle Handlungen und eine Art Voodoo-Zauber animiert zu werden. Vielmehr besitzt sie von sich aus bereits eine lebendige Kraft, die im konkreten Beispiel der aktive Blick des im Bild Dargestellten ist.10 Generell erhofften sich Gläubige von der Verehrung des Heiligenbildes heilsame Wirkung und Kraft. Dabei geht es nicht um Magie und um das beseelte Bild, sondern um die Wirkung des Bildes auf den Betrachter durch die ‚virtus‘. Die Grenzen zum Totemismus sind freilich fließend, wenn Heiligenfiguren bekleidet und wie gesalbte Herrscher verziert werden, oder wenn Gnadenbilder der Legende nach weinen, bluten oder schwitzen. Die Verehrung von Gnadenbildern ist heute in katholischen Pilgerzentren noch ausgiebig zu beobachten. Dabei wird den Bildern eine ‚virtus‘ zugesprochen, eine gnadenspendende Kraft; doch der Glaube an sie war mit dem Konzil von Trient eigentlich verboten worden. Das Trienter Konzil als innere Reform des Katholizismus endete 1563 mit einem Bilderdekret, das den Bildern jede ‚virtus‘ absprach. Mit dem ‚virtus‘Verbot reagierte die katholische Kirche auf die massive Bildkritik der Protestanten. Interessant ist jedoch, dass in der Folge von Trient und dem auch vom Papst approbierten ‚virtus‘-Verbot das Gegenteil passierte: Das Gnadenbild erfuhr im 17. Jahrhundert seine Hochkonjunktur und die Gläubigen pilgerten in Scharen zu den wundertätigen Bildern, um einen Abdruck der ‚virtus‘ durch Übertragung zu empfangen. Das Beispiel der Gnadenbilder verdeutlicht jene umgekehrte Subjekt-Objekt-Beziehung, die in der Moderne aus dem Blick geraten ist. Das Bild ist nicht Objekt, sondern wird selbst zum Subjekt, indem es auf den Gläubigen einwirkt, eine göttliche Kraft auf ihn überträgt. Ohne den kultischen Zusammenhang freilich kann sich die Wirkung schwerlich entfalten. Ein Ungläubiger wird von Gnadenbildern sicherlich weniger affiziert, wenngleich ihn die kultische Rahmenhandlung auch mitreißen kann. Gleichgültig, wie ausgeprägt das Einfühlungsvermögen des Teilnehmers des Bildkultes ist, wichtig bleibt in der Theorie der wirksamen Kraftübertragung, dass jeder davon betroffen sein kann. Die ‚virtus‘ der Gnadenbilder verdeutlicht den Sachverhalt und steht exemplarisch für die Kraft der Dinge, der Artefakte, mit denen sich Menschen umgeben und in alltäglicher Wechselbeziehung stehen. Kraftflüsse in beide Richtungen, vom Ding zum Menschen und umgekehrt, finden statt, die ‚virtus‘ prägt sich in die Seele des Menschen ein, sie wird ihm „aufgedrückt“. Die begriffliche Analogie von Kraftübertragung im Allgemeinen und Abdruck im Besonderen ist kein Zufall, denn bereits seit der Spätantike erklären Philosophen und Theologen die Übertragung von Kräften, indem sie von Prägung oder Abdruck sprechen. Kraftübertragung heißt deshalb im Lateinischen „vis impressa“, wörtlich also ein-

10 Zum ‚Bildblick‘ vgl. Bredekamp 2010 (wie Anm. 6), S. 233–249.

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oder aufgedrückte Kraft, Kraftabdruck. Insbesondere der Abdruck, die Prägung scheint in der Verbindung mit Kraft entscheidend. Im alltäglichen Sprachgebrauch sind die Wörter selbstverständlich; wir sagen etwa, dass eine Person von diesem oder jenem Ereignis geprägt wurde. Wie aber diese Prägung zustande kommt, worin sie ihre Ursache und Wirkung erfährt und wie sie eine vitale Kraft – jene besagte ‚vis‘ oder ‚virtus‘ – erhalten kann, darüber ist seit der Antike viel nachgedacht worden. Die Impetustheorie (von lateinisch „impetus“, das Vorwärtsdrängen) kann einige wichtige Anhaltpunkte liefern für die Rekonstruktion der Wertschätzung und Wahrnehmung von Artefakten im Verlauf der Geschichte. Die Impetustheorie ist eine Dynamiktheorie,11 welche die Bewegung der Dinge zu erklären sucht. Wie kommt es, dass ein geworfener Ball fliegt, eine angestoßene Kugel rollt oder die Planeten und Sterne am Firmament unverdrossen ihre Bahnen ziehen? Warum bewegt sich das gezogene Boot auf dem Wasser weiter, auch wenn der Schlepper längst abgekoppelt ist? Warum bewegen sich Dinge weiter, auch wenn die bewegende Hand sie längst nicht mehr berührt? Platonische und aristotelische Erklärungsmodelle der klassischen Mechanik hielten das Medium für den Beweger eines Dings, in welchem es sich bewegte. Das heißt, der geworfene Ball, der durch die Luft fliegt, bewegt sich, weil das Medium des Raums ihn antreibt, sobald er die Hände des Werfers verlassen hat. Denn es galt der ontologische Grundsatz, dass es ohne Beweger keine Bewegung geben kann. Der Raum galt als bewegendes Medium, in dem das Ding seine Bewegungsrichtung fortsetzte, gewissermaßen von einem Beweger zum nächsten übergeben wurde. Im 6. Jahrhundert n. Chr. kam Kritik auf an diesem Weltbild des bewegenden Me­­ diums. Die aristoteleskritische Impetustheorie des Philosophen Johannes Philoponos (ca. 490– ca. 575) versteht den Raum, in dem sich das Ding bewegt, nicht mehr als Medium und Ursache der Bewegung. Um beim Beispiel des Balls zu bleiben: Nicht der Raum bewegt den Ball, sondern der Ball bewegt sich selbst aus eigener Kraft beziehungsweise mit jener Kraft, die ihm der Beweger, der Ballwerfer, mit auf den Weg gegeben hat. Der Ball nimmt die Kraft („virtus“) des Werfenden in sich auf und diese Kraftübertragung („vis impressa“) ist die eigentliche Ursache der künstlichen oder unnatürlichen Bewegung aller Dinge. Mit der Impetustheorie als Bewegungslehre in Form der Kraftübertragung entstand ein neues Erklärungsmodell für die Bewegung der Planeten, Sterne und der Gegenstände auf der Welt. Für Philoponos ist die gesamte Genesis eine einzige Impetustheorie. Das macht die allumfassende Bedeutung dieser neuen Mechanik begreifbar. Danach zehrt die Erschaffung der Welt ebenso wie die Bewegung der Himmelskörper vom göttlichen Impetus. Doch besteht dieser nicht allein in der bewegenden physischen Kraft, sondern auch in ideellen Kräften, die über die reine Mechanik weit hinausgehen. Die Impetus­theorie gründete auf dem Fundament der Mechanik eine neue Ökonomie und 11 Vgl. hier und im Folgenden die grundlegende Arbeit von Wolff, Michael: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt am Main 1978.

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Werttheorie, die am Ende physische und metaphysische Kräfte bündelte und zu einer Synthese führte. Für die Impetustheorie als Werttheorie war die theologische Frage der „divina oeconomia“, der göttlichen Ökonomie oder Heilsökonomie, entscheidend.12 Philoponos verglich den Heilsplan Gottes mit dem Geldgebrauch. Für das frühe Christentum war es ein erhebliches Problem zu erklären, welcher Natur Christus sei. Denn einerseits war er als Gottes Sohn göttlicher Natur. Andererseits war er als Menschensohn doch nur ein Mensch, der in der Wertehierarchie lediglich ein matter Abglanz Gottes sein konnte. Philoponos aber versuchte nun, den Widerspruch der doppelten Natur Christi mit dem Beispiel einer Geldmünze aufzulösen, die eine Legierung aus Gold und Silber war. Im lydischen Elektron, das Philoponos als Beispiel diente, waren Gold und Silber miteinander verschmolzen. Das Gold ist bekanntlich höherwertig. Durch die Verschmelzung mit dem Silber scheint es aber an Wert zu verlieren. Pures Gold ist vornehmer, vollkommener als die Legierung, durch die es seinen physischen Zustand verändert und seine Reinheit verliert. Philoponos hebt jedoch darauf ab, dass die physische Realität der ökonomischen Realität widerspricht, dass der Wert des Goldes in der Legierung des Elektrons erhalten bleibt. Das reine Gold besitzt eine ökonomische Kraft, seinen Wert, und diese Kraft des Goldkörpers überträgt sich bei der Vereinigung mit einem anderen Körper – dem Silber – ungemindert. Die Kraft des Goldes teilt sich der Legierung mit und bleibt in ihr erhalten, obwohl das Gold seine Reinheit verliert. Und gleichermaßen ist für Philoponos der göttliche Heilsplan ebenfalls die Vereinigung unterschiedlicher Kräfte, die jedoch in der Fusion erhalten bleiben. Philoponos diskutiert die Idee der hervor­gebrachten Kräfte, die zwischen Körpern ausgetauscht werden können, ohne verloren zu gehen. Es gelingt Philoponos, ausgehend von dem Münz-Beispiel, dann auf die Heils­ökonomie überzugehen und die Doppelnatur Christi zu erklären: Denn Gott kommt in der Gestalt des Menschensohnes zur Sichtbarkeit, geht in diesem auf und prägt ihm s­ einen göttlichen Wert ein; Letzterer in der Fusion also nicht verloren geht. Die Impetustheorie war damit geeignet, Christus als Einheit von göttlicher und menschlicher Natur zu verstehen; im Gegensatz etwa zu den Dyophysiten und Orthodoxen, die in Christus das Menschliche und das Göttliche als zwei getrennte Einheiten in einem Körper sahen, eben die zwei Naturen Christi. Ohne diesen Streit der Monophysiten und Dyophysiten vertiefen zu können, ist vor allem wichtig, dass Philoponos als Monophysit in Christus die eine, göttliche und menschliche Natur verschmolzen sah, wie im Elektron die Legierung aus Gold und Silber. Für sich blieb der göttliche Wert ungetrübt. Wie gesagt, Philoponos versteht die Kraft des Impetus nicht nur als bewegende Kraft, sondern auch als Kraft der Werte. In seiner Philosophie wird also auch die Hervorbringung von Form an einem zuvor ungeformten Ding als Kraftübertragung vom Handwerker auf das Artefakt gesehen. So wie Gott als erster Handwerker das Univer-

12 Vgl. auch hierzu ebd., S. 124–138.

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sum und den Menschen schuf und allen Dingen der Welt den göttlichen Impetus einprägte, so gestaltet und formt auch der Künstler und Handwerker das Artefakt. Der krea­ tive Akt und das Handwerk bilden jenen Kraftaufwand, der sich als „vis impressa“ in das gestaltete Ding einprägt. Der Produzent entäußert seine Kraft, die er auf sein Produkt überträgt, weshalb dieses einen Wert annimmt, der zuvor nicht am Maßstab des Arbeitsaufwands bemessen wurde. Die Erfahrung des Verlustes von Kraft durch körperliche Tätigkeit machten in der Antike vor allem die Sklaven. Körperkraft war keine ökonomische Kategorie. Mit der Impetustheorie jedoch wurde der körperlichen wie der geistig-­schöpferischen Tätigkeit eine Wertekategorie zugemessen. Zum einen wertete sie aus christlicher Sicht die Sklavenarbeit auf – Gleichheit aller Menschen vor Gott –, zum anderen kann nicht stark genug betont werden, dass die spätantike Impetustheorie eine neue Ökonomie begründete, die zunehmend die Frage des gerechten Lohns und ­seiner objektiven Messbarkeit aufwarf. Die spätantike Impetustheorie des Johannes Philoponos war – wenn man so will – ein vitaler Impetus für die folgende europäische Geistes- und Ideengeschichte. Durchschlagenden Erfolg hatte sie dennoch erst um 1300. Denn die Schriften des Philoponos wurden nach seinem Tod verboten, weshalb sie fast in Vergessenheit geraten waren – bis Europa von einer katastrophalen Schuldenkrise heimgesucht wurde. Die Königs- und Fürstenhäuser fanden keine Leihgeber, da bekanntlich Zinsgeschäfte als Wucher galten und von der Kirche untersagt waren. Es kann als eine schicksalhafte Fügung bezeichnet werden, dass in dieser großen europäischen Finanzkrise um 1300 der wichtigste Ökonom seiner Zeit, der Franziskaner Petrus Johannis Olivi (ca. 1247/48– ca. 96/98) aus Florenz, für die Abschaffung des Zinsverbotes plädierte. Sein Hauptargument war die Impetustheorie. Mit ihr war es möglich, die bis dahin sündhafte Geldvermehrung zu legitimieren: „Wenn Geld in einem sicheren Geschäft angelegt wird, hat es nicht nur eine einfache Qualität von Geld [als Tauschwert], sondern darüber hinaus eine gewisse samenartige, Profit erzeugende Qualität, die wir allgemein Kapital nennen, und daher muss nicht nur der einfache Wert der Sache zurückgegeben werden, sondern auch ein zusätzlicher.“13

Interessant ist an der Begründung des Wertzuwachses, dass das Geld sich samenartig vermehrt. Olivi vergleicht das Geld mit der Zeugungskraft der Natur, die im Samen gespeichert ist und aufkeimt. So wie sich der Samen von seinem Muttergewächs entfernt hat und die formende Kraft der Zeugung in sich trägt, so kann sich auch das Geld von seinem Besitzer entfernen und dessen Fleiß und Sorgfalt als Kraftschub in sich tragen, um sich als Kapital zu vermehren. Und immer wieder ist hierbei von der „vis impressa“, der übertragenen und vor allem eingeprägten Kraft die Rede. Mit Olivis Einführung des Kapitalbegriffs war die Grundlage für die Blüte der großen italienischen und europä­

13 Ebd., S. 179.

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3  Zeitgenössisches Porträt des Thomas Hobbes

ischen Bankhäuser geschaffen. Die Ökonomen bis hin zu Karl Marx (1818–83) übrigens argumentierten in der gleichen Sprache, wenn das zinstragende Kapitel als Bewegungsablauf und Reproduktionsprozess beschrieben wird, die Profite generieren. Die Impetustheorie, die, wie gezeigt, eine Bewegungslehre und eine Wert­theorie in einem war, prägte seit dem 13. Jahrhundert die europäische Kultur maßgeblich. Johannes Kepler (1571–1630) und Galileo Galilei (1564–1641) arbeiteten mit ihr, um mechanische Gesetze zu erforschen und das heliozentrische Sonnensystem zu berechnen und zu erklären. Insbesondere Galilei konzentrierte einen wesentlichen Teil seiner Forschungen auf die Messbarkeit und Berechenbarkeit von Kraft und Bewegung. Grundlage war für ihn die „vis impressa“, die Kraftübertragung, die Körper in Bewegung hält, nachdem sie einen Impetus erhalten haben. Für die Berechnung des Planetensystems und die Begründung, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist, war die Impetustheorie entscheidend. Mit Isaac Newton (1642–1726) und der Entdeckung des Trägheitsgesetzes ist die Impetustheorie aus den Naturwissenschaften schließlich ausgeschieden. Die Frage, wie sich Bewegung weiter fortsetzt, sobald der Beweger nicht mehr die Ursache ist, wird heute anders beantwortet. Langlebiger war die Impetustheorie hingegen in der Ökonomie und Staatstheorie. In direkter Anlehnung an sie hat Mitte des 17. Jahrhunderts Thomas Hobbes (1588–1679) (Abb. 3) in seiner absolutistischen Staatstheorie des „Leviathan“ (Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil, 1651) die über­tragene Kraft des Gestalters definiert als natürliche Kraft („natural power“), die die „Fähigkeiten

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4 a  Matthäus Merian, ­Spiegel der gesamten Natur und Bild der Kunst

von Körper und Geist, wie außergewöhnliche Stärke, Gestalt, Klugheit etc.“14 ist. Und Hobbes geht in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Impetustheorie ein – allerdings ohne sie beim Namen zu nennen –, indem er die übertragbare Kraft des Handwerkers vergleicht mit „der Bewegung schwerer Körper, die umso größere Schnelligkeit erreichen, je weiter sie fallen“.15

Der Impetus der Kunst Die Impetustheorie war auch und vor allem unter Künstlern bekannt. Das Gnadenbild als katholische Version der Kraftübertragung ist bereits erwähnt worden. Außerhalb der Bildtheologie beschäftigten sich auch Künstler mit der Impetustheorie und der Frage, wie physische und metaphysische Kräfte auch im Artefakt zu erklären seien. Insbesondere Leonardo da Vinci (1452–1519) hatte sich nachweislich intensiv mit der Impetustheorie auseinandergesetzt. In seinen Manuskripten zu den mechanischen Studien bezog er sich indirekt auch auf Nicolaus Cusanus und definierte die „virtus“, die in seinen italienischen Manuskripten „forza“ heißt: 14 Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan […] (Chapter X: Of Power, Worth, Dignity, Honour and Worthiness); zit. in der Übers. von Wolff 1978 (wie Anm. 11), S. 145. 15 Ebd.

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4 b  Matthäus Merian, Spiegel der gesamten Natur und Bild der Kunst (Ausschnitt)

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„Die Kraft ist nichts anderes als die geistige Fähigkeit, ein unsichtbares Wirkungsvermögen, das durch einen Zwang geschaffen und von den lebendigen Körpern auf die leblosen über­ tragen wird und diesen Körpern einen Schein von Leben gibt. Dieses Leben ist von wunderbarer Wirkung.“16

Die Kunsttheorie greift den Begriff der ‚virtus‘ im Sinne der Impetustheorie Anfang des 16. Jahrhunderts auf (beispielsweise Pomponius Gauricus, auch Pomponio Gaurico, um 1481/82 bis um 1530, in seinem Traktat De sculptura, 1504) und wird variantenreich in den Künstlerviten Giorgio Vasaris (1511–74) verwendet (Le vite […]; 1550 beziehungsweise 1568) – Studien zur Begriffsgeschichte der ‚virtus‘ in Vasaris Texten fehlen jedoch bedauerlicherweise bis heute. Außerhalb der bildtheoretischen Disziplinen erfährt die Kunst als Disziplin eine enge Kausalverbindung mit der Natur, die nirgends klarer zum Ausdruck kommt als in Matthäus Merians (1593–1650) Illustrationsstich für Robert Fludds (1574–1637) Geschichte des Makro- und Mikrokosmos (Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, 1617), der die Impetustheorie zu Grunde gelegt wurde (Abb. 4 a, b). Der Kupferstich ist die Verbildlichung eines kräfteüber­tragen­ den Kosmos, der Bewegung und vor allem die Gestaltung der Dinge deutlich mit einbezieht und zum Leitthema seiner Weltdeutung macht: Gott (Wolke), Natur (nackte Venus) und Kunst (Affe) sind mit Ketten verbunden, welche die ‚virtutes‘ von Gott über die Natur zum Menschen beziehungsweise Künstler weiterleiten. Wenn der Künstler auch wenig schmeichelhaft als Affe dargestellt ist, der die Natur nachäfft, so lässt sich diese Form der Nachahmung als Prinzip der Kraftübertragung verstehen, die in Merians Darstellung anschaulich über die Kettenverbindung bewerkstelligt wird. In der Werttheorie, Ökonomie und insbesondere in der Kunst- und Designgeschichte ist die Impetustheorie auch heute noch immer lebendig. In seinem Kapital spricht Marx kontinuierlich von der samenartigen Kraft des Geldes, das sich vermehrt.17 Der Reproduktionsprozess des Kapitals, dessen Begriff, wie oben ausgeführt, auf die Impetustheorie des 14. Jahrhunderts zurückgeht, ist die Verkettung von Kraftübertragungen. Wenn also die Mechanik seit Newton die Impetustheorie aufgegeben hat, hat sie die Ökonomie beibehalten und auch auf den Wert und die Kraft der Artefakte übertragen. In Erinnerung zu rufen ist an dieser Stelle noch einmal, dass die ‚virtus‘ über die mechanische Kraft hinaus auch als metaphysische Kraft zu verstehen ist, deren Fluss vom Gestalter über das Artefakt bis zum Betrachter/Benutzer reicht. Oder anders gesagt: Die dramatischen Folgen der Industrialisierung, Technisierung und der Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs förderten die Rückbesinnung auf vorindustrielle Werte, auf theo­sophische und anthroposophische Ansätze, zu deren einflussreichen Vertretern

16 Leonardo da Vinci, Ms. ‚Codex Atlanticus’, Mailand, Biblioteca Ambrosiana, fol. 302vb, hier zit. in der Übersetzung nach Wolff 1978 (wie Anm. 11), S. 255. 17 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1972, Bd. 3, 5. Abschnitt: ‚Das zinstragende Kapital‘, 21. Kapitel, S. 367.

Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt     |

5  Porträtfotografie Rudolph Steiner

unter anderem der bereits erwähnte Rudolf Steiner zählt (Abb. 5). Steiner ist Kronzeuge einer von der Romantik herrührenden, erneut aufstrebenden vergeistigten Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist häufig darauf hingewiesen worden, dass Steiner einen großen Einfluss auf die Moderne hatte. Wassily Kandinsky (1866–1944), Frank Lloyd Wright (1867–1959), Le Corbusier (1887–1965), Joseph Beuys, Frank Gehry (geb. 1929), die Architekten Jacques Herzog (geb. 1950) und Pierre de Meuron (geb. 1950) oder Ólafur ­Eliasson (geb. 1967) haben sich nachweislich mit Steiners anthroposophischen Theorien beschäftigt, die sich zu einem erheblichen Teil mit der Frage der gestaltenden Kraft­ übertragung auseinandersetzen. Steiners Theorie des Organisch-Lebendigen in Architektur und Design fußt auf dem Impetus des Künstlers. Sein Credo „Geist ist niemals ohne Materie, Materie niemals ohne Geist“ fokussiert die künstlerische Gestaltung der Materie ebenso wie die Wirkung der Materie auf den Betrachter.18 Steiner spricht explizit davon, dass das seelische Klima der Produktion die Aura eines Gegenstandes „imprägniere“ (von spätlt. „impraegnare“, dt. schwängern) und spricht damit den Zeugungsakt im schöpferischen Tun des Künstlers/Designers an, der in seinem Produkt (seiner Reproduktion) enthalten ist. 1907 sagte Steiner auf einem Vortrag in Stuttgart wörtlich: 18 Fäth, Reinhold J.: Goetheanum-Stil und ästhetischer Individualismus, in: Rudolf Steiner. Die Alchemie des Alltags, Ausst.-Kat. Wolfsburg, hg. von Mateo Kries u. a., Weil am Rhein 2010, S. 132–142, hier S. 136.

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„Es war etwas anderes als heute, wenn man im Mittelalter durch die Straßen ging. Rechts und links an jeder Hausfassade trug alles das Gepräge dessen, der es verfertigt hatte. Jeder Gegenstand, alles, was die Menschen umgab, jedes Türschloss, jeder Schlüssel, war aufgebaut aus etwas, worin die Seele des Verfertigers ihre Gefühle verkörperte. Mit Liebe war alles gemacht. Machen Sie sich einmal klar, wie der einzelne Handwerker seine Freude an jedem Stück hatte, wie er seine Seele da hinein arbeitete. In jedem Ding war ein Stück seiner Seele. Und wo in der äußeren Form Seele ist, da strömen auch die Seelenkräfte über auf den, der es sieht und ansieht. Vergleichen Sie das mit einer Stadt von heute. Wo ist heute noch Seele in den Dingen?“19

Rudolf Steiner ist weniger Alchimist als vielmehr Anhänger einer ökonomischen Ästhetik, die auf dem Prinzip der Qualität beruht: An der Qualität als Ergebnis kreativer Arbeit ist die Beseelung des Artefakts messbar. Der Grad der körperlichen wie seelischen Entäußerung des Künstlers/Designers überträgt sich auf das Produkt, dessen Material dadurch einen Mehrwert annimmt, der die tote Materie mit einer vitalen Kraft erfüllt, der „vis impressa“. Die Beziehung Künstler/Designer – Artefakt – Betrachter/Benutzer ist in der Theorie seit dem Mittelalter ein Weg der Kraftübertragung. Die Impetustheorie – das sollten die Ausführungen verdeutlichen – beförderte die Einsicht, dass die Subjekt-ObjektRelation eine wechselseitige ist, die im gestalteten Artefakt eine die menschliche Lebenspraxis gestaltende ‚virtus‘ erkennt, welche die Gefühle und im weitesten Sinne auch die Handlungen des Menschen beeinflusst. Der diachrone Einblick von der Spätantike bis in die Moderne offenbart eine konstante Theorie, die sich von der Dynamik- und Werttheorie zu einer metaphysischen Krafttheorie entwickelte, die in Folge der Aufklärung nur noch wenig Aufmerksamkeit erntete, jedoch im beginnenden 20. Jahrhundert und in der (Re-)Spiritualisierung der Kunst wieder auflebte. Dabei ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass nicht allein das Subjekt handelt, indem es etwa seinem Objekt Kräfte zugesteht. Mit der Impetustheorie wird vielmehr deutlich, dass die Kraft der Objekte von den Objekten selbst ausgeht und nicht allein auf das Einfühlungsvermögen (Empathie) der Subjekte angewiesen ist. Der ästhetische Mehrwert der Artefakte ist in der Lage, als Kraftwerk zu wirken. Die Moderne hat den Impetus der Kunst seit dem beginnenden 20. Jahrhundert wiederbelebt und die aufgeklärte Subjektzentrierung wieder aufgegeben, ohne die ideengeschichtliche Quelle ins Bewusstsein zu rücken.20

19 Ebd. 20 Besonders anschaulich wird die sympathetische Subjekt-Objekt-Beziehung an Fernand Légers (1881–1955) Gemälde „Akte im Wald“ (1909/11; Otterlo/NL, Kröller-Müller-Museum) erklärt in Papapetros 2012 (wie Anm. 6), S. 195–202.

Wichtige Knöpfe drücken und Knöpfe wichtig drücken     |

Christian Janecke

Wichtige Knöpfe drücken und Knöpfe wichtig drücken Über gestisches oder bildliches Dingnutzungspotenzial in Alltag und Kunst

Auf der diesem Buch vorausgegangenen Tagung hatten etliche Beiträger gesprochen: über das gestische oder das bildliche Potenzial eines Nutzens der Dinge respektive eines Umgangs mit ihnen. Wie bei solchen Veranstaltungen üblich und wie es im Zuge einer derzeit unaufhaltbar an Dingen interessierten Wissenschaft auch kaum anders zu erwarten war, vollzog sich dieses Sprechen mit einer je anders abgemischten Melange aus Neugier, Kühnheit, Selbstverständlichkeit und Emsigkeit – wovon der Verfasser gar keine Ausnahme machte. Doch nun, hinterher, gilt es ernsthaft zu prüfen, welche Einsichten unser aller Enthusiasmus überdauern werden. Darum geht es im vorliegenden Text. Obwohl meine Argumentation bei ganz alltäglicher Dingnutzung, also bei Grundsätzlichem anhebt, um über größere Umwege erst zur Dingnutzung in Kunst (oder als Kunst) zu führen und es deshalb den Anschein haben könnte, als erlaubte ich mir einen eher nur dem Herausgeber zustehenden, viel zu wuchtigen Sockel allgemeiner Betrachtungen, auf den ich dann erst meinen eigentlichen und womöglich bescheidenen Beitrag hievte, so wird sich dieser Umweg doch als unumgänglich, mithin als kürzest gangbarer Weg erweisen. Denn erst in dem Maße, in dem klar wird, warum und inwiefern uns normalerweise das Gestische beziehungsweise Bildliche einer Dingnutzung versagt bleibt, gewinnt es als Ausnahmefall in den Künsten oder strukturähnlichen Kontexten Kontur. Und vor dem Hintergrund dieser Konstellation mag dann ausblickend auch ein besonderer Reiz partizipativer Situationen in der jüngeren Kunst deutlich werden: nämlich das Begehren, durch zeitweilig buchstäblichen Eintritt in die Kunst, sozusagen per ‚Bildteilnehmerschaft‘, teilzuhaben an einer eben nur mehr in der Kunst möglichen gestisch/ bildlichen Bedeutsamkeit von Dingnutzung.

Dinge und ihre Nutzer Nehmen wir an, uns böte sich das Spektakel eines kleinen Kindes, wie es, bei Wind und Regen partout nicht darauf verzichtend, einen für Erwachsene dimensionierten, also viel zu großen Regenschirm handhaben und seinen ‚Kampf mit dem Drachen ausfechten‘

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würde. Hier dürften wir wohl scherzhaft pointieren, es habe nicht das Kind mit dem Regenschirm, sondern dieser mit jenem hantiert. Und zur Zeit unserer Großeltern hätte man angesichts einer solchen Szenerie noch von einer ‚Tücke des Objekts‘ gesprochen. Im einen wie im andern Fall wäre aber stillschweigend vorausgesetzt worden, dass nur im uneigentlichen Sinne vom Tun, gar von einer Absicht oder Gesinnung des Regenschirms die Rede sein könne. Dass solch ein Regenschirm ‚Akteur‘ im eigentlichen Wortsinne hätte werden können, das würde man in das Reich der Märchen verbannen, wo beseelte und selbsttätige Dinge ja nichts Ungewöhnliches sind – oder in jene zur Kinderbelehrung gedachte, aber poetisch ausgeführte Struwwelpeter-Geschichte, in der einem kleinen Robert der Wind in den Regenschirm fährt, um ihn auf und davon zu tragen. Bewaffnet mit oder jedenfalls entfernt inspiriert von Bruno Latours (geb. 1947) Akteur-Netzwerk-Theorie würden manche Zeitgenossen indes eher von einem Komplott ausgehen, innerhalb dessen eben auch besagter Regenschirm sein Teil zum „Fliegenden Robert“ beigetragen habe. Und mit Blick auf die eingangs vorgestellte Situation des mit dem Regenschirm agierenden Kindes müsste sich heute den Vorwurf wenigstens mangelnder intellektueller Geschmeidigkeit gefallen lassen, wer ungerührt darauf pochte, handlungsverantwortend sei allein die kindliche Subjektivität und Intentionalität geworden, die erst im Rahmen einer objektiven Situation zu Phasen oder Konstellationen geführt habe, welche uns an ein Duell zwischen Schirm und Kind eben bloß erinnert hätten – nämlich so, dass wir dem Ereignis einen gut verinnerlichten, da anderwärts schon oft gesehenen Prototyp von Kampf einfach unterlegen konnten. In Bedrängnis würde also gebracht, wer hier nüchtern argumentierte, es seien doch letztlich nur wir selbst, die angefüllt mit (Vor-)Bildern zur wackeren Projektion von Bildlichkeit oder Gestischem auf etwas zugingen, das tatsächlich einfach nur in einer als funktional (oder hier eben als dysfunktional) rekonstruierbaren Sphäre des Malheurs sich abgespielt hatte. Unterdessen scheint es sich heute irgendwie eleganter zu machen und ist es auch längst wieder salonfähig geworden, lieber von einer gewissen Widerspenstigkeit, gar von einem Eigensinn der Dinge, und so auch unseres Regenschirmes, auszugehen. Woher diese neue Großzügigkeit in der begrifflichen Erfassung der Dinge rührt, woher die Bereitschaft, ihnen zwar nicht ungeniert ausdrücklich, aber doch sinngemäß die Rolle eines veritablen ‚Players‘ zu bescheinigen, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht sollte es einmal Gegenstand wissenssoziologischer Erörterung werden. Offenkundig können melancholisch anthropo-skeptische Momente eine entsprechende Haltung mindestens begünstigen. So als fände die überdrüssige Abwendung vom Wollen und Tun des Subjekts ihren neuerlichen Ausdruck in einer Zuwendung zum denkbaren Akteur-­ Status respektive zu einer nunmehr ominösen Bekundungswilligkeit der Dinge. Hinzuzurechnen wäre meines Erachtens auch eine Überbewertung von Bildern: Wer nämlich, um unsere Regenschirm-Beispiele nochmals aufzugreifen, dabei vor allem von jenen Bildern übertragenen Sinnes ausgeht, die sich uns als Gerinnung oder Verdichtung eines Geschehens beziehungsweise Handelns jeweils aufdrängen, der wird

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von diesen Vorstellungsbildern freilich eine nicht sehr verwunderliche Gleichwertigkeit von Dingen und Menschen empfangen. Denn in Bildern – einerlei, ob in den flächengebannten der Malerei und Fotografie oder solchen schierer Vorstellung oder auch nur übertragenen Sinnes – sind eben die kategorialen wie auch ontischen Verankerungen des Sujets gelöst: Während ein Fußball in der Wirklichkeit durch von Absichten und Kräften gelenkte Füße in die Lüfte geschossen wird, die er – der Erdanziehungskraft in ballistischer Kurve Tribut zollend – auf seiner Flugbahn durcheilt, ist er bei einem Bild (und sogar bei einem naturalistisch glaubwürdig gemalten Bild) zuallererst ein Farb-Form-Gefüge neben anderen. Viele der Eigenschaften, die ihm in der Wirklichkeit bereits materialiter oder dank des jeweiligen situativen Kontextes zukamen, erscheinen im Bilde zunächst suspendiert (wenngleich sie freilich von uns als Bildbetrachtern vergegenwärtigt, das heißt genauer: re-investiert und bei der Betrachtung des Bildes wiederum erlebt werden können). Wer mithin bei der Befragung von Ding-Nutzer-Konstellationen uneingestandenerweise von Bildern oder Vorstellungsbildern ausgeht, der neigt zur Überschätzung des Akteur-Status der Dinge.

Was meine Kritik nicht ausschließt So unzulässig es wäre, aus dem Entgegenstehen der Dinge (als einem immer auch charakteristischen Ensemble gewisser Eigenschaften und Dispositionen), aus dem in ihnen akkumulierten Potenzial sogleich auch auf ihren Akteur-Status, und aus dem Umstand, dass die Nutzung von Dingen uns gewisse Haltungen auferlegt, sogleich auf deren bildliches oder gestisches Potenzial zu schließen, genauso unzulässig wäre es doch im Gegenzug, einem bloß instrumentellen Verhältnis zwischen Nutzer und Ding das Wort zu reden. Der nachstehende Exkurs, genaugenommen eine Vertiefung, soll hier differenzierend wirken. Das Ergebnis wird sein, dass wir unseren im ersten Abschnitt bereits eingenommenen Standpunkt zwar nicht werden preisgeben müssen, ihn aber künftig auf anspruchsvollere, und mithin leider verzwicktere Weise verteidigen müssen. Lassen wir also einige Einwände und ergänzende Aspekte zum Zuge kommen, um ihre Tragweite für unser Thema zu prüfen. Friedrich Nietzsches (1844–1900) Bonmot, wer zu lange in den Abgrund schaue, aus dem schaue der Abgrund, könnte man problemlos ummünzen auf Dinge: Wer sie immerzu nutzt, der wird ihnen ähnlich, nimmt etwas von ihnen an. Oder denken wir an institutionentheoretische Ansätze der Soziologie oder Anthropologie, die uns längst lehrten, inwiefern vom Menschen geschaffene Institutionen auf den Menschen zurückwirken, ja umgekehrt nun ihn ein Stück weit ‚schaffen‘, was man sich ja leicht anhand der Schule oder etwa auch des Militärs klarmachen kann. Und mit Abstrichen gilt dies auch für die Dinge: Rennräder beispielsweise werden mit Bedacht so konstruiert, dass man in gekrümmter Rückenhaltung fährt, nämlich um dem Gegenwind die kleinstmögliche und zugleich strömungsförderlichste Angriffsfläche zu bieten. Dass nun das technisch seit ungefähr einem Jahrhundert gut eingeführte Rennrad seinerseits die Haltung eines

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jeden neu sich in den Sattel schwingenden Fahrers vorgibt, ja sie unter (medizinisch bedenklichen) Umständen sogar über das Radfahrtraining hinaus zu prägen vermag, das ist unbestreitbar (in der Berufspädagogik spricht man sogar vom ‚Berufskörper‘, den ein in bestimmter Weise Arbeitender, und das heißt wohl auch Dinge Benutzender, über Jahre hinweg erwirbt). Und dennoch ist es, wenn wir dieses Beispiel nüchtern resümieren, eher das Auge des Betrachters, das in eine gekrümmte Haltung des Rennradlers nicht allein das Sich-Wegducken unter dem Gegenwind, sondern auch verbissene Anstrengung als mustergültig verstetigte Form hineinliest. Das heißt aber, es ist nicht die Rennradnutzung als solche, die gestisch gerät: Der Fahrer will durch seine Haltung Anstrengung ja nicht etwa demonstrieren. Und genauso wenig kann sich die Rennradnutzung als solche zum Bild verdichten: Dem konkreten Rennfahrer ist seine Kongruenz mit einem kurrenten (Vor-) Bild wohl herzlich egal. Vielmehr sind allein wir es, die hier den Rennradfahrenden so erleben, als ob er zum Sinnbild seiner selbst oder meinethalben angestrengter Raserei würde. Szenenwechsel: Wenn man mit Hellmuth Plessner (1892–1985) oder in neuerer Zeit Judith Butler (geb. 1956) oder überhaupt den Theoretikern einer Performativität davon ausgeht, dass der Einzelne nicht nur dahinlebend jeweils sachbezogen sich verhält, sondern vor anderen wie vor und für sich selbst, gleichsam sich selbst voraus ist und darin sich selbst entwirft, dass er anderen gegenüber verkörpert (oder auch mehr oder minder bewusst darstellt), was er gerne wäre, als was er sich fühlt, und dass er es eben dadurch in gewisser Weise auch wird, darin nämlich seinen Selbstentwurf einholend – dann kommt man freilich nicht umhin, dabei auch den Dingen ihre gebührende Rolle einzuräumen: Man wird hier sofort an das Beispiel der Kleidung denken, wie sie auf den Körper zugeschnitten ist, ihm folgt und ihm doch auch Echo, Distanz, Schmuck oder Ausdehnung beschert. Beispielsweise verleiht ein Reifrock der tänzerischen Drehung Nachdruck, gibt ihr und damit auch der sich Drehenden wie auch etwaigen Außenstehenden ein starkes Bild von dem, was es überhaupt heißt, sich tänzerisch zu drehen. Vergleichbares gilt für die Frisur, deren Material zwar dem Körper entstammt, die indes zum Artefakt sich ­läuterte. Auch hier ist es möglich, dass sie Vorwegnahme, oder genauer: Bild der Vorwegnahme einer anderen Befindlichkeit ihrer Trägerin oder ihres Trägers werden kann. Wer nun dergestalt argumentiert, der hält es wohl weniger mit jener kulturprotestantischen Lesart der Dinge oder weitergefasst der verstetigten Formen, derzufolge sie legitimerweise immer nur Ausdruck einer bereits Bekenntnis gewordenen Haltung, eines bereits manifesten Glaubens werden sollten; vielmehr hält er es mit der jesuitischen Lesart, derzufolge auch die Einübung bloßer Formen nicht nur eitles Spiel ist, sondern Früchte trägt, indem in diese Formen ein späterer Inhalt sich unter Umständen erst einnistet – etwa in die zum Gebet gefalteten Hände der rechte Glaube. Doch so plausibel diese Denkungsart klingt (und gegen formenskeptischen Authentizismus mit Recht in Anschlag zu bringen wäre) – was wurde hier wirklich für unser Problem gewonnen? Ist es doch so, dass Dingnutzungen, wo sie im Falle des Tragens von ­Frisur

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und Kleidung einer gewissen Bedeutung zuspielen mögen, ja sie sogar zu entwerfen und mithin in gewissem Sinne zu inaugurieren in der Lage zu sein scheinen, genaugenommen doch nur quantitativ verstärkend wirken. So wird der oben erwähnte Reifrock doch immer nur eine vom Träger ohnehin vollzogene Bewegung unterstreichen können. Doch während man solch einem Reifrock immerhin noch bescheinigen könnte, kraft seiner Kegelschnittform gleichsam nach dem Prinzip des Strahlensatzes immerhin eine objektive Anlage respektive Ausgangsform zur Rotationsbewegung seines Trägers aufzuweisen, gibt es auch etliche Dinge, die bar solcher Affinität überhaupt erst in der und durch die Nutzung Index derselben werden. Ein triftiges Beispiel geben jene farbigen Textilbänder der Rhythmischen Sportgymnastik, mittels derer die Sportlerinnen ihre Be­wegungen in die Luft zeichnen, ihnen Ausdruck und vorübergehende Spur verleihen, ohne dass nun diesen Bändern als solchen in ihrer primitiven Fügung aus Stiel und länglichem Textilband auch nur irgendetwas von der Art der mit ihnen vollziehbaren Bewegungen inhärent, oder auch nur veranlagt wäre.

Gestische und bildliche Potenziale von Dingnutzung in der Kunst Während uns der Alltag immer wieder zu der Einsicht nötigt, die vermeintliche Aktivität der Dinge, ebenso das ihnen oder auch nur ihrer Nutzung vermeintlich entspringende gestische oder bildliche Potenzial, sei ihnen bestenfalls in einer Façon de parler konzedierbar, verhält es sich in der Kunst, in kunstähnlichen und performativen Situationen ganz anders. Erst für diese Sphären kann man ohne argumentative Verhebung zeigen, dass die Nutzung eines Dinges Bild oder Geste wird. Auf der Bühne oder in Bildern ist ein Fechthieb latent immer schon Fechtpose, ist das Zücken eines Taschentuches nicht Auftakt zum Naseputzen, sondern beredtes Zeichen gegenüber Dritten. Im modernen Tanz eines William Forsythe (geb. 1949) oder einer Pina Bausch (1940–2009) wird ein Tisch nicht einfach nur benutzt, sondern als all das, was er ist, ja sein könnte, tänzerisch verfahrender Exegese unterworfen. Marina Abramović (geb. 1946) hat in einer ihrer Performances ihr Haar mit einer Metallbürste und einem Metallkamm unaufhörlich malträtiert, so als sollte der ordnende Eingriff, also das ‚Dinghandeln‘, zur zwanghaften Bestätigung des im Werktitel – „Art must be beautiful, artist must be beautiful“ (1975) – formulierten ‚Imperativs‘ sich steigern (Abb. 1). In all diesen Fällen ist nun allerdings die bloße Behauptung, dass der Ding­gebrauch gestisch oder bildlich wurde, so gewiss zutreffend wie freilich auch trivial. Schon anspruchsvoller wäre die Sondierung entsprechender Typen. Ich will es aber, was dies betrifft, bei wenigen Andeutungen belassen: So könnte man beispielsweise in An­lehnung an Michael Fried (geb. 1939) unterscheiden zwischen einer den Figuren selbst bewussten Geste im Dinggebrauch – sie adressieren uns oder einander in und mit ihrem Tun ganz explizit – und einer solchen, von der eine Figur sozusagen bloß erfasst und in ‚Mitleidenschaft‘ gezogen wird: sei es, dass das ‚Flugzeug‘-Spielen eines Kindes auf der Bühne nicht diesem selbst, wohl aber dem Publikum Menetekel einer Kriegsthematik wird, oder dass

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1  Marina Abramović, „Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful“, 1975

die Protagonisten der fotografischen Tableaus eines Jeff Wall (geb. 1946) in ihrem vordergründig bedeutungslosen Gebaren doch Träger eines über das ganze Bild hin aufgebauten ‚disguised symbolism‘ werden, der sich folglich nur uns Bildbetrachtern, nicht hingegen den Bildgestalten vollends eröffnet. Und da wir uns nun schon in einem von Naturgesetzen unbeschwerten und vom Monopol menschlicher Intentionalität nicht eingeschränkten Reich der Kunst bewegen, ließe sich jetzt auch endlich sinnvoll unterscheiden zwischen einer gleichsam von den Dingen im Bild (oder den Requisiten auf der Bühne) ausgehenden Gestik einerseits, wie sie das Märchen kennt (etwa Knüppel aus dem Sack), wie sie aber beispielsweise auch der Leipziger Maler Neo Rauch (geb. 1960) nach der Seite ihrer Unheimlichkeit hin aus­ kostet, und andererseits der vertrauteren Option einer von der Eigenart der Dinge ihrem Gebrauche durch Nutzer vielmehr erst oktroyierten Gestik. Es bei diesen Andeutungen einer Typisierbarkeit belassend, will ich selbst abschließend einen nochmals anderen Weg einschlagen und insbesondere solche künstlerischen Strömungen kurz beleuchten, bei denen Komponenten von Alltäglichkeit und Künst-

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lerischem vermengt auftreten. Dies ist der Fall, wo entweder nicht entschieden ist, ob es überhaupt um Kunst (oder Theater) geht, oder wo die Zuschauer beziehungsweise Betrachter nun ihrerseits zum Mitmachen gebeten werden, wo sie als Betätiger oder Teil eines Werkes beziehungsweise Stückes firmieren, sie mithin ihre eigene, ihnen selbst anhaftende Alltäglichkeit in die Kunst oder auf die Bühne tragen dürfen. Was daran für uns interessant ist? Nun, wenn das im ersten und zweiten Abschnitt meines Textes Ausgeführte stimmt, wenn also alltägliche Dingnutzung gestisch/bildlich eher irrelevant oder indifferent bleibt, dann haben Rezipienten natürlich einen Grund mehr, sich heutigen Formen der Partizipation, oder, wie ich sagen würde, der Bildteilnehmerschaft in der Kunst oder auf den Bühnen postdramatischen Theaters zuzuwenden. Denn es könnte das Figurieren dieser Rezipienten in entsprechenden Werken sein, welches ihr Verhalten, ihr Gebaren zeitweise mit gestischer oder bildlicher Bedeutsamkeit aufzuladen in der Lage wäre. Es bietet sich an, diesbezüglich mit Franz Erhard Walthers (geb. 1939) frühen textilen Arbeiten zu beginnen, die gerne als Vorläufer partizipativer Kunst angeführt werden. Allerdings erscheinen sie unter dem Blickwinkel unserer Fragestellung in nochmals anderem Licht. Denn die Ende der 1960er-Jahre von der Frau des Künstlers zusammen­genähten ‚Instrumente‘, die ja nicht bestaunt, sondern mit denen gehandelt werden sollte, verleiteten die ernsten, aus heutiger Sicht fast zu ordentlich hantierenden ­Nutzer ja keines­wegs dazu, sich in personam bildlich transzendiert zu erleben. Vielmehr ­meinen wir, hier dienstbaren Geistern einer Art bundesrepublikanischen Kunstprüfdienstes zuzusehen, der sich gewissenhaft den Dimensionen und allfälligen Variations­ möglichkeiten vorgegebener Stoffbahnen widmet. Wie man heute den schönen Fotos Timm Rauterts (geb. 1941) von Stücken des ersten Werksatzes (1969), aufgenommen aus meist gebührender Entfernung und aus der Höhe, entnimmt, adressierten sich die dabei voll­zogenen Bewegungen, oder vielleicht sollte man sagen: Übungen mit den Stoffbahnen nur zaghaft an Außenstehende. Eher machten Menschen sich hier vorübergehend zu Aus- und Erfüllern elementarer, modellhafter Konstellationen. Die Mittelzum-Zweck-Relation setzte subjektivistische Begehrlichkeiten Einzelner außer Kraft, allemal den Wunsch, in gestischer oder bildlicher Bedeutsamkeit aufzugehen. Denn diese Einzelnen agierten, soweit es etwas den anderen überhaupt Zeigbares betraf, strikt Pars pro Toto, während, was sie selbst betreffen mochte, Sache ihrer inneren Erfahrung blieb. Dass folglich mit Walther eine zwar bedeutsame, aber eben doch keine gestisch/ bildlich bedeutsame Dingnutzung zu gewinnen ist, könnte Hinweis darauf sein, dass das uns Interessierende womöglich etwas Späteres ist, eine postmodern die ohnehin ambivalente Autonomie des Kunstwerks weiter aushöhlende Option. Der Erwähnung wert im Hinblick auf unsere Themenführung sind auch jene von Künstlern ersonnenen Auflagenobjekte, die von unzähligen Käufern zu verhältnismäßig moderaten Preisen erworben und oftmals genutzt werden können. Denn typischerweise treten solche meist kleiner bemessenen Kunstwerke im Modus zuhandener Gegenstände auf. In aller Regel reicht es aber völlig aus, sich bloß vorzustellen, wie es wäre oder was

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2  Ottmar Hörl, „Unschuld“, 1997

es bedeuten würde, sie wirklich zu benutzen. Man könnte sagen, dass dieses Nutzungsversprechen als eine Potenzialität selbst konsumiert werden kann. Wer sich dementsprechend ausmalt, wie er sich mit Ottmar Hörls (geb. 1950) Multiple „Unschuld“ (1997) die Hände waschen würde (Abb. 2), der denkt ja nun gerade nicht schnöde an Wasser und Seife, sondern an die einschlägige metaphorische Dimension des Objekts, dem steht der Sinn also nach gestisch bedeutsamer Dingnutzung – aber er antizipiert sie freilich nur! Endlich mitten im Thema bewegen wir uns, wo im öffentlichen Raum vielleicht ein von Künstlern provisorisch errichtetes Aussichtstürmchen an eher nicht aussichtsreicher Stelle – etwa an einer unwirtlichen, von Hochhäusern umzingelten Straßenkreuzung – Nutzer animieren soll, besagte Aussichtsplattform zu erklimmen. Wer solche Angebote jüngerer Kunst wahrnimmt, dem schwant wahrscheinlich, dass nicht seine dort oben machbare Überblickserfahrung zählt, sondern vielmehr die Erfahrung, die andere dann mit ihm werden machen können. Diese Umkehrung ist typisch, ja notorisch für jüngere Kunst und spricht nicht zwangsläufig gegen sie. Dass auf einer solchen, von mir so genannten „Eventualitätenplattform“ wirkliche Nutzung meist ausbleibt respektive gewandelt wird in die ästhetische Vergegenwärtigung bloßer Nutzbarkeit, unterscheidet solche Angebote ja von außerkünstlerischer Praxis, etwa naiver Stadtmöblierung. Indem nun wider die offizielle Intention eines solchen Werkes der vermeintlich eine Erfahrung Machende in Wirklichkeit eher Gegenstand der Erfahrung anderer wird (was er freilich selbst wieder realisieren und in entsprechend adressiertes Verhalten umsetzen kann!), gerät er kollateral in eine gerahmte, ihn exemplarisch zur Erscheinung bringende und darin unter Umständen als gestisch oder bildlich bedeutsam erlebbare Situation. Oftmals allerdings ist das Figurieren für Dritte gar kein ungewollter Nebeneffekt, sondern erklärtes Ziel einer künstlerischen Arbeit, so, wenn Miranda July (geb. 1974) zur Biennale Venedig (2009) die Besucher einlädt, sich unter Zuhilfenahme dafür errichteter Sockel, Beschriftungen und Requisiten vorübergehend auf eine Weise auszustatten, die ihrem Posieren für den Blick und freilich auch die Fotokameras der anderen nun fast buchstäblich ein bedeutsames Bild bereitet – ‚fast‘, weil es sich hier um dimensionale Verschmiegungen zwischen lebendigen Besuchern und flächig versatzstückhaft realisierten Beigaben der Künstlerin handelt, die erst im Auge des Betrachters oder

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im weiterversendbaren Schnappschuss buchstäblich Bild werden. Die Künstlerin übernimmt dabei die Hebammenfunktion für eine teils scherzhafte, teils bedeutungsgeladen zeitweilige Selbstverbildlichung der Betrachter alias Nutzer. Man könnte auch sagen, sie holte Prangerstellungen, wie sie nach Verlust ihrer einstmals ernsten Seite zur schalen Sache von Jahrmarktsbudenbetreibern geworden sind, endlich in das Feld der Kunst, wobei die Schaustellung der Einzelnen sich nun nicht mehr an die Spottlust eines Mobs und auch nicht mehr an die Belustigung der eigenen Freunde, sondern an den Narzissmus der Kunstszene richtete, darin, wie es auf der Künstlerinnen-Website heißt, das Ansinnen der vielen Einzelnen bedienend, „[to] reveal […] themselves through the work.“ Was bei July die den Einzelnen angebotenen Narrative zur Selbstverbildlichung ­leisten, das übernimmt bei Erwin Wurm (geb. 1954) ein Reglement. Wer die Vorgabe, gewisse Essbestecke oder andere Utensilien zu balancieren und mit seinem Körper irgendwo festzuklemmen, mit etwas Fortune erfüllt, gerinnt bereits unfreiwillig zum ‚Bild‘, oder er macht sich zum Affen. In Wurms „One Minute Sculptures“ aus den ­f rühen 1990er-Jahren erscheint die Beuys’sche Utopie eines potenziell in jedem Menschen angelegten Künstlertums auf die Animation von jedermann heruntergekommen zu sein, auf ein Posing der Einzelnen sub specie der künstlerischerseits gemachten Vorgaben. Auch hier hat die fotografische Konservierung des eigenen Bildes nicht allein nachträglich distribuierende, sondern ebenso sehr initiierende Wirkung. Von den vielen Fotos ent­ sprechend agierender Laien blicken uns ja stets Menschen an, die für solch ein Foto stillgehalten haben. Die dabei ins Spiel kommende Entlastung sowohl vom Ernst des Alltags als auch vom Ernst jenes Anspruchs auf Überzeitlichkeit, wie er hergebrachten Kunstbegriffen noch inhärent sein mochte, ist freilich Programm. Womöglich bekundet sich hier augenzwinkernder Pathosverzicht – für die meisten heute wohl die Bedingung, unter der sie überhaupt erst aus den Konturen ihrer Normalität herauszutreten gewillt sind. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang ein Rückblick auf die berüchtigten „Passstücke“ von Franz West (1947–2012) aus den 1970er-Jahren, an den Körper des Nutzers durch diesen anlegbare, ihn damit gleichsam plastisch und grotesk erweiternde beziehungsweise kommentierende Gebilde. Zwar hat diesbezüglich das Schlagwort von den „Tragbaren Neurosen“ die Runde gemacht, doch könnte nicht einmal ein mit der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts im Gepäck Deutender uns sagen, welche Symptome es denn genau sein sollten, die hier – ja was eigentlich? – ertragen, getragen oder vorgetragen werden. Wests Passstücke blieben insofern eher Mythos von Partizipationskunst als diese selbst. Die längst begehrten Sammlerstücke waren nur hier und da von Eingeweihten, Freunden des Künstlers benutzt oder in einer Mischung aus Künstlerkollegialität und gut österreichischer Selbstverballhornung vorgewiesen worden. Ungeachtet dessen gab es aber immer auch eine Irritation der Nutzer über das Ding, das sie sich da, wie auch immer, antaten – eine Unabsehbarkeit, auf die July, Wurm und Konsorten später zugunsten animationstauglicher Vereinfachung verzichten sollten. Das zugleich Komische und Rätselhafte von Wests Passstücken liegt ja nicht so sehr in ihrer brüchig barocken Ungestalt beschlossen. Vielmehr in dem Paradox, dass sie in just dem Maße zu

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3  Wolfgang Stehle, ­„Bildbetrachtungshilfen“, 2001

gestischer Belebung per Handhabung, zum bildlichen Einstand in arretierter Pose verlocken, in welchem sie doch zugleich ihre Unerreichbarkeit, genauer: ihr Fremdwerden durch (nur schon denkbare) Nutzung hervorkehren. Diese Fremdheit haben die Passstücke also nicht schon als solche, sie gesellt sich ihnen erst bei durch das Ansinnen einer Benutzung – darin erst wollen sie Theodor W. Adornos (1903–69) Denkfigur einlösen, Kunst sei, „was an ihr nicht der Fall ist“. Beschließen möchte ich das Spektrum mit zwei Beispielen für die Option, eine per Kunstwerk gestisch/bildliche Dingnutzung nicht in erster Linie zu offerieren, denn vielmehr deren Möglichkeit sogleich selbst bereits metareflexiv zu thematisieren. Seine sogenannten „Bildbetrachtungshilfen“ (2001), höhenflexibel einstellbare, ge­schwun­gene Gestänge aus pulverbeschichtetem Stahl, postiert der Künstler Wolfgang Stehle (geb. 1965) in Museen vor Exponaten, wo sie zwar wirklich benutzt werden dürfen, indem sie gewisse Körperhaltungen nahelegen respektive arretieren helfen ­ könnten (Abb. 3). Fraglich ist indes zum einen, ob sie, wie Wolfgang Ullrich meinte, auf eine immer noch strenge Disziplin im Umgang mit Kunstwerken hinweisen, oder ob sich das angesichts heutiger, auf ihre Niederschwelligkeit stolze Museen, die sich für keine Buhlerei um die Gunst eines verwöhnten Publikums mehr zu schade sind, nicht eher erledigt hat. Zum anderen kommt es mir darauf an, dass es sich jedenfalls bereits um Werke über (also im Sinne von ‚about‘) das denkbare Gestisch-Werden der Betrachter handelt – nämlich um ein je nach Kurvenverlauf des jeweiligen Gestänges anders lächer-

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4  Georg Winter, Positionieren und Halten, Anwendungsbeispiele, 1999

lich oder verdruckst vorstellbares Gestisch-Werden. Relativ zu diesen sozusagen in abstrakte Skulptur sublimierten Repräsentationen eines Sich-zu-den-Bildern-Verhaltens muten dann tatsächliche Benutzungen (im Internet findet man sie gelegentlich abgebildet) eher wie müßige Kaspereien an. Auch Georg Winters (geb. 1962) Versammlung von Selbstzweck gewordenen Posen des Fotografierens in seiner mit modellhaften Skizzen angereicherten Publikation Ukiyo Camera Systems 1999/2000 würde ich im Zuge solcher ‚Aboutness‘ sehen (Abb. 4). In der Manier eines Ratgebers aufgemacht, gilt das Interesse des Künstlers doch ganz der unheimlichen, da autopoietischen Kraft auch noch klischeehaft überzeichneter Bewegung beim Fotografieren. Winter rechnet also von vorneherein nicht mehr damit, dass irgendjemand das ernsthaft als Handbuch oder Anleitung missverstünde. Stattdessen meint man, in diesen Anleitungen eine technisch-zeichnerische Chronik erübrigten Mit­ machens, in diesem Fall konkret: erübrigten fotografisch-gestischen Getues, zu er­­blicken. Die Gestik an und mit den Dingen wäre in solchen Fällen also wieder dort angekommen, wo sie die Kunstgeschichte seit jeher untersucht: in den Bildern oder Bild­werken. Lässt man die im dritten Abschnitt aufgeführten Beispiele sämtlich Revue passieren, so wird man sich des Eindrucks kaum erwehren können, der durch Betrachter erzielbare gestisch-bildliche Mehrwert eines Hantierens mit und an den Dingen oder gleichsam beim Eintreten des Betrachters ins Bild falle doch insgesamt eher bescheiden, wenn nicht dürftig aus. Das ist so verwunderlich nicht, denn es handelt sich im Hinblick auf unsere Fragestellung ja auch sämtlich nur um Beispiele einer schmalen Grenzzone: zwischen den riesigen Feldern einer hier ausdrücklich nicht untersuchten ­bloßen ­Darstellung gestisch/ bildlich bedeutsamer Dingnutzung auf der Bühne oder in der Kunst, dort also insbesondere in gegenständlicher Malerei einerseits und einer außerkünstlerischen Sphäre des Alltags (über die sich die beiden ersten Abschnitte Gedanken machten) anderer­seits.

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So schmal nun diese Grenzzone ist, so veränderbar ist sie indessen auch: Schrumpfen würde sie, falls eine klassische Haltung der Menschen zur Kunst erstarken würde, wofür es allerdings kaum Anzeichen gibt. Viel wahrscheinlicher ist der umgekehrte, sich allerorten bereits abzeichnende Fall, dass besagte Grenzzone sich ausdehnen wird, indem dilettantische Ansprüche an die Kunst, also die Wünsche der Einzelnen, ihr Leben mit Kunst und diese mit jenem in erlebbare Deckung zu bringen, weiter um sich greifen. Dazu eine letzte Beobachtung: Zur Zeit der Abfassung dieses Beitrages besuchte der Verfasser mehrfach die von der Frankfurter Schirn Kunsthalle veranstaltete Yoko-Ono-­ Retrospektive. Wahre Massen von Menschen nahmen die von der Künstlerin (geb. 1933) seit den 1960er-Jahren initiierten Verzauberungen des Alltags durchaus interessiert zur Kenntnis, neben manchen Sätzen in konstativer Prosa immer wieder Handlungsanweisungen, Aufforderungen, dieses oder jenes zu tun. Dabei hielten sich nach meinem Eindruck die Begeisterung für die etwas in die Jahre gekommenen Ideen einerseits und die Einordnung des Gesehenen in ein je privates Portfolio der Normalität, des abschätzenden ‚Könnte-man-doch-auch-mal-machen‘ andererseits einigermaßen die Waage. Es war, um es anders zu sagen, nicht mehr so recht auszumachen, ob die vorzugsweise jüngeren Ausstellungsbesucher das alles cool fanden, weil es Kunst war, oder ob es ihnen, obwohl es Kunst war, als attraktive Auflockerung ihres je eigenen Alltags anmutete. Die Konsequenzen daraus mag jeder selbst ziehen.

Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen     |

Jasmin Mersmann

Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen

1. In Bernhard Blumes Fotomontage „Magischer Determinismus“ von 1976 schwebt eine Kaffeekanne scheinbar schwerelos durch den Raum (Abb. 1).1 Das erste Bild zeigt einen Mann, der von schräg oben auf die Kanne blickt; das zweite wirkt demgegenüber wie eine Art Gegenschuss – so als schaute nun die Kanne von unten auf den Herrn, der gerade seine Krawatte zurechtrückt. Doch sein Versuch, Ordnung zu schaffen, misslingt: Im nächsten Bild sehen wir die Kanne, die sich vom Boden erhoben hat und den

1  Bernhard Blume, Magischer Determinismus, Detail (Tafeln 1–10), 1976

1 Vgl. Weibel, Peter: Das Ich und die Dinge. Kommentare zu einem philosophischen Text von Anna und Bernhard Blume in Form inszenierter Fotografien, Frankfurt am Main 1991.

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Mann beinahe am Kinn trifft. Dabei entsteht eine merkwürdige Analogie seiner Nasenlöcher mit dem Henkel, während der Ausguss an ein Ohr erinnert. Die Analogie von Kopf und Kanne wird in der nächsten Fotografie noch deutlicher. Dabei scheint sich die Lage für einen Moment zu entspannen: Das Gefäß ist gelandet, der Mann liegt erschlagen oder niedergesunken daneben. Doch die Ruhe hält nicht an. Die Kanne hebt ein weite­res Mal ab, eine zweite Person kommt zu Hilfe und versucht das Gefäß zu f­ assen, dieses jedoch befreit sich aus dem Griff, schwebt durch die Luft und trifft den Mann erneut, weicht einem zweiten Fangversuch aus und wirbelt weiter durch den Raum. Wie auch in späteren Arbeiten des Künstlerpaars Anna und Bernhard Blume – beispielsweise in den „Vasen-Extasen“ von 1987 oder im „Küchenkoller“ von 1985 – hat sich hier ein Gebrauchsgegenstand verselbständigt. Ob seine Bewegung intentional, kontingent oder von einer fremden Kraft gesteuert ist, bleibt offen. Der vor allem im Mittelbild so prominent inszenierte Henkel, mit dessen Hilfe sich der Mensch normalerweise eines Dings bemächtigt und es gegen die Schwerkraft handhabt, ist funktionslos geworden; die Hand vermag die Kanne nicht zu bändigen, sie erhebt und neigt sich von selbst. Während die Formanalogien eine anthropomorphe Lesart nahelegen, dreht der zugehörige Text das Verhältnis von Mensch und Ding kurzerhand um: Nicht die Kanne wird anthropomorphisiert, sondern der Mensch gleichsam ‚amphorisiert‘. In einem Spiel mit dem antiken Topos vom ‚corpus quasi vas‘ (dem ‚Körper als Gefäß‘) postuliert der Künstler in der elften und letzten Tafel der Fotoserie (in Abb. 1 nicht reproduziert): „Magischer Determinismus ist die Bezeichnung für den Umstand, gelegentlich selbst eine ­Kanne zu sein. Allerdings ist das Bewusstsein in diesem Augenblick auf das bloße Sein der ­Kanne reduziert. Ich wäre also eine Kanne ohne mich als Kanne zu erkennen und verbliebe darüber hinaus in dem Wahne, im Unterschiede zu der Kanne weiterhin ich selbst zu sein. Dem ist aber nicht so!“ 2

2. In der für ihn typischen Mischung aus Bierglasphilosophie, Slapstick und Dada wählt Blume nicht von ungefähr die Kanne zum Gegenstand, denn neben Tisch und Stuhl gehört sie zu den „privilegierten Philosophen-Objekten“. 3 Lange bevor der Soziologe Bruno Latour die Dinge zu ‚Aktanten‘ erklärte, die mit menschlichen Wesen in netzwerkartigen Handlungszusammenhängen interagieren, bildeten vor allem Krüge und ihre Henkel Anlass zu Reflexionen über Mensch-Ding-Konstellationen. Krüge haben –

2 Bernhard Blume, Magischer Determinismus, 1976, 11. Teil (Texttafel); hier zit. nach der Abbildungsvorlage bei Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Sprung in die Zeit. Bewegung und Zeit als Gestaltungsprinzipien in der Photographie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ausstell.-Kat., Berlin 1992, S. 177. 3 Dazu Bernhard Blume im Gespräch mit Hans-Joachim Lenger: „Der Tisch, der Stuhl, die Vase, all diese privilegierten Philosophen-Objekte – du kennst sie ja, die Welt der platonischen Ideen …“, zit. nach Haenlein, Carl (Hg.): Transsubstanz und Küchenkoller. Großfoto-Serien 1985–1994, Hannover 1996, S. 15.

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2  Duccio di Buoninsegna, ­Hochzeit zu Kana, 1308–11

wie Menschen – ein Inneres und ein Äußeres; sie gehen zum Brunnen, bis sie brechen, aber sie tun dies selten allein; auf dem Tisch bilden sie ein sichtbares Gegenüber, aber dank ihres Henkels wird mit ihnen auch hantiert. Dabei fungieren sie meist als eine Art Zwischenstation – in Duccio di Buoninsegnas „Hochzeit zu Kana“ von 1308/11 (Siena, Museo dell’Opera del Duomo) beispielsweise wird eine regelrechte Schankkette vorgeführt: vom Fass zur henkellosen Vase, von der Vase zur Karaffe und von der Karaffe ins Glas. Auf dem Weg verwandelt sich nicht nur das Wasser in Wein, sondern auch die Handhabung der unterschiedlichen Gefäße (Abb. 2). 1949 wurde der Krug für den Philosophen Martin Heidegger bekanntlich zum Ding überhaupt: Auf die Frage „Was ist ein Ding?“ heißt es: „Das Ding ist der Krug. Der Krug ist ein Gefäß, solches, was anderes in sich fasst. Das Fassende am Krug sind Boden und Wand. Dieses Fassende ist selbst wieder fassbar am Henkel.“4

Die Betrachtung des Krugs führte Heidegger zu Reflexionen über das im Ding versammelte Geviert von Himmel und Erde, Sterblichem und Göttlichem sowie über das Ge-schenk, das im Ausschenken besteht. Der Henkel, der das Zuhanden-Sein des Dings verkörpert und es damit zum Zeug macht, spielt in Heideggers Text nur eine Nebenrolle. Dabei ist es der Henkel – im museologischen Fachjargon ‚Handhabe‘ genannt –, der die Dinge greifbar macht. Er bildet die Brücke zwischen Ding und Hand, in ihm konkreti4 Heidegger, Martin: Das Ding, in: ders: Bremer und Freiburger Vorträge, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994 (= Gesamtausgabe, 79), S. 5–23, hier S. 5.

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siert sich der Umgang mit den Dingen. Damit bildet er aber auch den Angriffspunkt für eine Geschichte der Dingtheorie, die weniger die Dinge als deren Handhabung (philosophischer und konkreter Art) in den Vordergrund stellt.

3. → Handhaben → Henkel → Bügel → Ösen → Stiel/Stielgriff → Rohr/Griffrohr → Griffe → Henkel: „Zumeist gebogene, aber auch geknickte Handhaben mit zwei Ansatzstellen, definitionsgemäß generell seitlich am Gefäß (-hals, an der Wandung); oft am Rand und/oder der Gefäßwandung aufgesetzt/aufgelegt; zahlreiche Formvarianten und Querschnittsprofile, oft im Verlauf des Henkels zusätzlich ungleichmäßig. Sie können einfach horizontal, einfach horizontal und aufgebogen (rheinische Steinzeugvorratstöpfe: ‚Eiertöpfe‘) oder vertikal orientiert sein.“ Werner Endres, Gefäße und Formen, 19965

In seinem 1930 publizierten Eintrag zum Lemma ‚Töpferware‘ im Kritischen Wörterbuch der surrealistischen Zeitschrift „Documents“ kritisiert der Ethnologe und spätere Gründer des Pariser Musée du Trocadéro, Marcel Griaule, positivistische wie ästhetizistische Beschreibungen von Dingen: „Die Archäologen und die Schöngeister interessieren sich für den Behälter und nicht für den Inhalt, für ländliche Szenen, für die Tiere im Umkreis, und nicht für die Milch, die direkt aus dem Euter kommt; für die Farbe der Terracotta, und nicht für den Geruch, den sie der Milch geben konnte […]. Man bewundert die Form eines Henkels, aber man hält sich schön zurück, die Stellung des trinkenden Menschen zu untersuchen.“6

Moderne Archäologen haben dieses Desiderat inzwischen einzulösen versucht. Zur Rekonstruktion historischer Gesten werden gelegentlich Bilder herangezogen, oftmals aber lässt sich die Handhabung auch am Gegenstand selbst ablesen: am fragilen Henkel der Porzellantasse etwa die graziös geführte Hand der Teetrinkerin, am Humpen die zupackende Pranke des Biertrinkers, an der Lerntasse die noch unkoordinierte Bewegung des Kleinkinds, an der Schnabeltasse das Zittern der Alten, an der französischen Trinkschale (dem ‚bol‘) die kalten Hände der Café-Besucherin (Abb. 3). Jeder Henkel ist für einen Körper gemacht und wirkt auf den Körper zurück, wobei sich – un­­nötig zu erwähnen – die Handhabungen und ihre Konnotationen regional und historisch wandeln. Aufschlussreich ist dabei vor allem die Entwicklung der Teetasse, die in ihren Ursprungsländern traditionell keinen Henkel besaß. In der Qing-Zeit, ab dem 17. Jahrhundert, wurden Deckelschalen mit Standringen verwendet, die in die Untertassen so

5 Endres, Werner: Gefäße und Formen. Eine Typologie für Museen und Sammlungen (= Museums-­ Bausteine, 3), München 1996, S. 165, siehe auch ebd., S. 163f., Taf. 14f. 6 Griaule, Marcel: Töpferware [1930], in: Kritisches Wörterbuch, hg. und übersetzt von Rainer Maria Kiesow, Berlin 2005, S. 59–60, hier S. 59.

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3  Henkeltypen: Teetasse, Humpen, „Doidy Cup“, Schnabeltasse und ‚bol‘

eingelassen waren, dass die Schale beim Trinken nicht verrutschte.7 Im 18. Jahrhundert gingen die Europäer daran, die importierten Tassen mit Henkeln zu versehen, und bald schon stellte sich auch der chinesische Exportmarkt auf die Wünsche der Käuferinnen und Käufer ein.8 Das Frontispiz der Drey Neuen Curieusen Tactätgen von dem Trancke Cafe, Sinesischen The, und der Chocolata von 1671 zeigt die Kaffee- und Tee­trinker noch mit Schalen; Jean-Étienne Liotard, konterfeit auf seinem kunstvoll derangierten Tee­ tablett um 1783 henkellose Koppchen (Los Angeles, J.-Paul-Getty-Museum); und auch die plastischen Figuren am „Chinesischen Haus“ im Park Sanssouci in Potsdam halten ihre henkellosen Tassen noch an den schalenförmigen Untertassen fest (Abb. 4). Eleganten Damen wie zum Beispiel Machteld Muilman, die Frans van Mijn 1743/47 porträtierte, gelingt es sogar, die Trinkschale mit nur drei Fingern an der Untertasse zu halten (Amsterdam, Rijksmuseum). Das Beibehalten der hochgezogenen Untertasse nach der Einführung der Henkel erklärt vielleicht das umstrittene Abspreizen des kleinen Fingers, das außerdem das Gleichgewicht beim Halten der Tasse fördert.9 Noch eine dritte, heute befremdliche Geste aber war im 18. Jahrhundert verbreitet: Eine der von Peter Jakob Horemans in den 1770er-Jahren gemalten Kaffeetrinkerinnen hat ihren Kaffee in die Untertasse geschenkt, um sich beim Trinken nicht die Zunge zu verbrennen.10

  7 Für hilfreiche Informationen danke ich Bruno Richtsfeld, Staatliches Museum für Völkerkunde, München.   8 Vgl. Menninger, Annerose: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), 2. Aufl., Stuttgart 2008, S. 220; Krieger, Martin: Tee. Eine Kultur­ geschichte, Köln u. a. 2009, S. 99.   9 Einer anderen Hypothese zufolge geht diese Haltung auf die römische Regel zurück, wonach eine kultivierte Person mit nur drei Fingern essen sollte. Andere glauben, der kleine Finger sei abgespreizt worden, weil man sich mit ihm auch unter der Perücke kratzte; vgl. hierzu Meyer, ­R ainer [alias Don Alphonso]: Der Gesellschaftsfinger. Lob eines aussterbenden Distinktionsmerkmals, in: Stützen der Gesellschaft [06. 08. 2009], (10.01.2014). 10 Peter Jacob Horemans, Kaffeetrinkerin, 1770. Öl auf Leinwand. München, Bayrische Staatsgemälde­ sammlungen, Abb. in Menninger 2008 (wie Anm. 8), S. 349.

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4  Teetrinker am „Chinesischen Haus“, Potsdam, 1754–57

4. Zum Protagonisten wird der Henkel in Georg Simmels Essay Der Henkel. Ein ästhetischer Versuch aus dem Jahr 1905, der 1911 zusammen mit anderen Betrachtungen zu Alltags-, Natur- und Kunstgegenständen (wie etwa der Ruine, der Mode oder den Alpen) unter dem Titel Philosophische Kultur veröffentlicht wurde.11 Das Detail wird Simmel zum Anlass, über das Wesen des Kunstwerks, die Veränderung der Dinge durch die Massenproduktion und die Stellung des Menschen in der Moderne zu reflektieren. Auch wenn der Henkel im Laufe des Textes zur Metapher mutiert, bilden konkrete Gefäße seinen Ausgangspunkt: Simmel war ein leidenschaftlicher Sammler vor allem ostasiatischer Keramik.12 Besucher haben seine intime körperliche Beziehung zu den ­Stücken beschrieben, die er „beinahe liebkosend zu streicheln schien“, „zärtlich in beiden Händen dreht[e]“ oder „in beide Hände nahm und die Formen liebevoll nachtastete“.13 Über die Zeiten hinweg schienen sich in den japanischen Schalen die Fingerkuppen des Sammlers und die „Hand des Töpfers“ zu berühren, die sich „mit allen Zufälligkeiten der Handgriffe 11 Simmel, Georg: Philosophische Kultur [1911], hg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1996 (= Gesamtausgabe, 14), S. 278–286 [im Folgenden abgekürzt: Simmel, PhK]. 12 Georg Simmels Sohn Hans berichtet von rund 50 japanischen und chinesischen Gefäßen, die einmal im Jahr feierlich im kleinen Kreis ausgestellt wurden; vgl. Simmel, Hans: Auszüge aus den Lebenserinnerungen, in: Böhringer, Hannes/Gründer, Karlfried (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende. Georg Simmel, Frankfurt am Main 1976, S. 247–271, hier: S. 261. – Zu Simmel als Sammler vgl. Mičko, Marian: Walter Benjamin und Georg Simmel, Wiesbaden 2010, S. 132–180. 13 Kroner, Richard: Handschriftliche Mitteilung [1956], in: Gassen, Kurt/Landmann, Michael (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, S. 228–230, hier S. 229; Susman, Margarete: Erinnerungen an Georg Simmel (Manuskript) [1957], in: ebd., S. 278–291, hier S. 287 und Jacobs, Fritz: Handschriftliche Mitteilung [1957], in: ebd., S. 268–270, hier S. 269.

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in der ohne Drehscheibe geschaffenen Form ausspricht“.14 Doch nicht nur die Einzel­ formen interessierten Simmel. Er liebte es, seine Gefäße mit Blumen und Stoffen zu Stillleben zu arrangieren; bei Vorträgen führte er ausgewählte Stücke vor.15 Auch wenn Simmels Argumentation in die Abstraktion führen wird: Zunächst ist der Henkel auch für ihn das „Glied, an dem [ein Gefäß] ergriffen, gehoben, gekippt wird“; Henkel, so schreibt er, seien „potentielle Bewegungen“.16 Griechische Vasen mit drei Henkeln (gemeint ist der Typus der Hydria-Calpis mit zwei Handhaben zum An­­ heben und einem Henkel zum Ausgießen) wecken Simmels Unwillen, weil hier gleich­ zeitig zu sehen sei, was doch nur nacheinander benutzt werden könne.17 Der Rekurs auf die Lessing’sche Unterscheidung zwischen der Simultaneität des Bildes und der Sukzessivität der Zeitkünste steht im Zusammenhang mit Simmels Auffassung von der Vase als hybridem Objekt, das als Kunstwerk ästhetische Autonomie beanspruche, als Nutz­ objekt aber in vielfältige Zweck- und Handlungszusammenhänge eingebunden sei. Diese „Doppelnatur“ von in sich geschlossenem Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand aber findet ihren manifesten Ausdruck im Henkel. Mit ihm wird die Vase nicht nur gehandhabt, „mit ihm ragt sie [auch] anschaulich in die Welt der Wirklichkeit“ hinein.18 Damit ist der Henkel gewissermaßen das Gegenteil vom Bilderrahmen, dem Simmel drei Jahre zuvor ebenfalls einen „ästhetischen Versuch“ gewidmet hatte. Denn während der Rahmen das Gemälde von seiner Umgebung und damit gleichsam die ästhetische Sphäre von der Realität trenne, gehöre der Henkel beiden Welten an.19 Dies werde insbesondere dann deutlich, wenn er aus einem anderen Material gefertigt sei, wie „angelötet“ wirke oder in Gestalt einer Schlange oder Eidechse gleichsam an die Vase „heran­k rieche“.20 Beispiele für solche zoomorphen Prägungen finden sich in der Kunst der Jahrhundertwende zahlreich – mit Vorbildern, die über die Frühe Neuzeit bis in die Antike reichen. Bei Hans Eduard von Berlepsch-Valendàs beispielsweise lugen lurch­artige Wesen über den Rand einer Vase und eine der irisierenden Keramikschalen Clément Massiers lässt sich an gezwirnten Schlangenkörpern greifen.21 Die erdnahen Reptilien arbeiten sich vom Boden in die zivilisierte Welt des gebrannten Tons hinauf. Als Handhabe eignen 14 Berger, Karl: Persönliche Erinnerungen an Georg Simmel (handschriftlich) [1957], in: Gassen/ Landmann 1958 (wie Anm. 13), S. 245f., hier S. 245. 15 Vgl. ebd., S. 246 und Marcus, Hugo: Handschriftliche Mitteilung [1957], in: Gassen/Landmann 1958 (wie Anm. 13), S. 273–276, hier S. 273. Die in ­Simmels Essay erwähnten Stücke lassen sich leider nicht identifizieren. 16 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 279, 282. 17 Ebd., S. 281f. 18 Ebd., S. 279. 19 Simmel, Georg: Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch [1902], in: ders: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995 (= Gesamtausgabe, 7), S. 101–108. 20 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 279, 280. 21 Vgl. Melk-Haen, Christina: Hans Eduard von Berlepsch-Valendas. Wegbereiter des Jugendstils in München und Zürich, Egg 1993, S. 88, Abb. 72. – Clément Massier: Schale mit Schlangengriffen, um 1900. Van Ham, Kunstauktion 14.05.2011, Lot 1717, Abb. in (13. 05. 2014).

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sich Echsen und Schlangen natürlich wegen ihrer Geschmeidigkeit. Zusätzlich aber bot es wohl einen nicht zu unterschätzenden Reiz, die gefährlichen Tiere in die Hand zu nehmen, ebenso wie es attraktiv gewesen sein mag, die schmalen Leiber von ­A ntilopen, Großkatzen oder Hunden in Form von Henkeln zu umfassen. Vor allem im Fall von Aquamanilien ist die Tiergestalt zusätzlich allegorisch aufgeladen, gefasst werden sie gerne am Schweif oder an einem zusätzlichen auf den Rücken gesetzten Wesen.22 Ungreifbare Henkel, die allein als Verzierung angesetzt werden, wecken bei Simmel dagegen „ein peinliches Gefühl von Sinnwidrigkeit und Gefangenheit“ und wirken auf ihn wie ein Mensch, dem „die Arme an den Leib gebunden“ sind.23 Ein positives Gegenmodell findet er in chinesischen Schalen, deren Henkel „von den Mächten, die ­d iesen Körper selbst bildeten, herausgetrieben wurden – wie die Arme des Menschen, die in demselben einheitlichen Organisierungsprozess wie sein Rumpf erwachsen sind und gleichfalls die Beziehung des ganzen Wesens zu der Welt außerhalb seiner vermitteln.“ 24 Die Gleichung von Henkeln und Armen, Vasen und Menschen hat schon früh anthropomorphe Urnen hervorgebracht, die den Körper, dessen Überreste sie enthalten, zugleich substituieren.25 Von der Gleichung von Mensch und Vase zeugen aber auch die institutionalisierten Begriffe für die Beschreibung von Gefäßformen, die vom ‚Hals‘ über die ‚Schulter‘ und den ‚Bauch‘ von Vasen oder Kannen bis zu deren ‚Fuß‘ oder ‚Schnauze‘ ­reichen.26 Eng ist die Beziehung von Körper und Vase aber auch in einer genealogischen Perspektive, die den Ursprung der Schale in den zusammengelegten Händen des Menschen erkennt: „Die flache Schale“, so Simmel, „ist nichts als die Verlängerung oder Steigerung der schöpfenden, tragenden Hand.“ 27 In einem Interview mit der Künstlerin Anette Rose beschreibt noch Barbara Schmidt, Designerin bei der Firma „Kahla Porzellan“, die Schale als „Urgefäß, das Gefäß schlechthin“, das keinen Griff brauche, sondern umfasst werde – gleichsam als wiederhole man die Geste, die an ihrem Ursprung stehe.28 Einen Form gewordenen Ausdruck der organischen Beziehung zwischen Mensch und Gefäß erkennt Simmel in blattförmigen Schalen, deren Stiel als Henkel fungiert. Die Beispiele 22 Vgl. Hütt, Michael: Aquamanilien. Gebrauch und Form, Mainz 1993, S. 21, 42 und 73; zum Zu­sam­ menhang der Tiergestalt mit der Funktion der Gefäße vgl. ebd., S. 108–137. 23 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 281. 24 Ebd., S. 280. 25 So z. B. die sogenannten Pommerellischen Gesichtsurnen aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. im Pommerschen Landesmuseum Greifswald. 26 Endres 1996 (wie Anm. 5), S. 16. 27 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 281. 28 Hier zitiert nach dem von Anette Rose freundlicherweise bereitgestellten Video-Interview aus ihrer „Enzyklopädie der Handhabungen“, Modul #24. Interview #4, Einkanalvideo, 6’57’’ (DVCAM, Farbe, mit Ton), Loop, 2006/13. In ihren Entwürfen thematisiert Barbara Schmidt immer ­w ieder das ­Greifen: Die Becher der Serie „Holdme“ von 1996 haben Griffmulden; in den Tassen der Serie ­„Elixyr“ von 2003/04 ist der obere Ansatz der Henkel leicht gedreht, um eine Ablage für den ­Daumen zu schaffen; vgl. Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung Berlin (Hg.): Poesie & ­Industrie. Barbara Schmidt, Porzellandesign, Berlin 2013, S. 66, 123 und 127.

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aus Mittel­amerika, die Simmel erwähnt, ließen sich bislang nicht ermitteln. Zu denken wäre aber etwa an die blattförmigen Holzschalen, mit denen auf den Fidschi-Inseln Öl serviert wurde, an die tatsächlich aus Palmblättern gefertigten Schalen der Asmat in Neuguinea – oder auch an die Blattschalen George W. Shieblers (1846–1920), der sich um 1880 wie viele seiner Kollegen von Naturformen inspirieren ließ.29 Bei seiner Herleitung der Schale aus den Händen und ihrem Vergleich mit einem gestielten Blatt rekurriert Simmel auf Theorien, die das Werkzeug als Verlängerung oder Prothese der Hand beschreiben, ergänzt sie jedoch durch einen emphatischen Begriff des Lebens, das über den Stil beziehungsweise Henkel in die Schale „hineinfließe“ wie das Wasser in ein Blatt: Der Henkel bilde „eine vermittelnde Brücke, eine schmiegsame Ver­ bindung [zur Hand], die wie mit anschaulicher Kontinuität den seelischen Impuls in sie, in die Handhabung mit ihr überleitet und sie nun in der Rückströmung dieser Kraft wieder in den Lebensumfang der Seele einbezieht.“30 In einer für die Zeit um 1900 charakteristischen Wortwahl spricht Simmel von der „Strömung“ menschlichen Willens, die das Gefäß am Henkel aufnehme und mit seiner Öffnung wieder abgebe: „Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäß heran, mit dem Ausguss reicht das Gefäß in die Welt hinaus.“31 In seiner medialen Funktion ähnelt der Henkel dem Geld, das für Simmel „die reinste Form des Werkzeugs“, „das Mittel schlechthin“ ist.32 Indem es sich verbindend oder distanzierend zwischen Menschen und Dinge schiebt, wird deren jeweiliger Wert vergleichbar – ein Prozess, der übrigens auch Simmels Japan-Sammlung einschließt, die der Philosoph bezeichnenderweise in dem Moment veräußerte, in dem sie stagnierte: Ohne Veränderung, so äußerte er sich seinem Sohn gegenüber, sei sie nicht mehr „lebendig“.33 Hatte Simmel die Vase bislang als Hybrid von Kunstwerk und Nutzobjekt beschrieben, macht er sie in einem weiteren Schritt zum anschaulichen Modell der Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft, die es in mehreren Kreisen (Beruf, Gesellschaft, Familie usw.) umgibt: „Wie der Henkel über seine Bereitheit zu der praktischen Aufgabe nicht die Formeinheit der Vase durchbrechen darf, so fordert die Lebenskunst vom Individuum, seine Rolle in der orga-

29 Vgl. z. B. London, British Museum, Inv.-Nr. Oc1980,Q.602 und Asmat 1978 412 1228. Für ihre freundliche Unterstützung bei der Suche nach Simmels Modellen danke ich Dr. Maria Gaida und Dr. Manuela Fischer vom Ethnologischen Museum Berlin. 30 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 281. 31 Ebd., S. 283. 32 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989 (= Gesamtausgabe, 6), S. 263 und 265. – Zum Vergleich von Geld und Henkel siehe auch Därmann, Iris: Kulturtheorien zur Einführung, Berlin 2011, S. 202–208. 33 Simmel, H. 1976 (wie Anm. 12), S. 261. – Hans Blumenberg hat das Geld als Metapher für das erkannt, was Simmel später als „Leben“ bezeichnete, also als „Ausdruck eines Prozesses von Erstarrung und Liquidität, Gestalt und Auflösung, Festhalten und Verschwinden“, siehe Blumenberg, Hans: Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels, in: Böhringer, Hannes/Gründer, Karlfried (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahr­ hundertwende. Georg Simmel, Frankfurt am Main 1976, S. 121–134, hier S. 123.

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nischen Geschlossenheit des einen Kreises zu bewahren, indem es zugleich den Zwecken jener weiteren Einheit dienstbar wird und durch solche Dienstbarkeit den engeren Kreis in den um­gebenden einordnen hilft.“34

Für Simmels Denken mit Dingen hat der Journalist Leo Matthias den Begriff der „Henkel-Literatur“ geprägt: Literatur, „in der Abstraktes so angefasst wird, dass man zuerst einmal etwas zu fassen versucht (also gleichsam von einer Kanne, von der nichts sichtbar ist als der Griff, erst einmal diesen Griff)“; dabei würden „die Funktion des Wortes und des Henkels identisch“.35 Die Wortfindung selbst aber vollzog sich bei Simmel, wie viele seiner Zuhörer berichten, ihrerseits in sichtbarer Gestalt: Der Philosoph pflegte die Begriffe mit dem Stift in der Luft zu suchen, aufzuspießen, eine Weile vorzuführen und dann laufen zu lassen.36 Noch aufschlussreicher aber ist sein regelrechtes Hantieren mit philosophischen ‚Gegenständen‘, die er seinem Auditorium gleichsam vor Augen stellte: „Wer ihn je vortragen gehört oder besser gesehen und gehört hat, die große hagere Gestalt mit den eigentümlich eckigen Gesten, wenn er ein Problem mit der Rechten gewissermaßen ergriff, ein unsichtbares Etwas mit geöffneter Hand vor den Hörern emporhob, es nach allen Seiten drehte und wendete, zuweilen mit dem ganzen Körper diese Wendungen unwillkürlich begleitend und dazu in seinen Worten die jeweilige Betrachtungsweise erörterte, bis der Gegenstand von allen Seiten klar und scharf in seine Bestandteile zerlegt war, der hat diese Leidenschaft der Analyse, die in ihm lebte, als stärksten Eindruck mit davongetragen.“37

Nicht die Begriffe allein erweisen sich also als ‚Henkel‘ philosophischer Probleme, angefasst werden sie mit einer von Greifgesten begleiteten Rede.

5. Simmels Methode hat nicht nur Freunde gefunden. Der Historiker Friedrich ­Meinecke zeigt sich befremdet von seiner Angewohnheit, Alltagsgegenstände als Sprungbrett für philosophische Reflexionen zu benutzen. Er erinnert sich, dem „übergescheiten Mann“ bei einem Besuch den Stuhl angeboten zu haben, er aber sei stehen geblieben und habe angefangen, „eine Philosophie des Stuhls und Stuhlanbietens sich aus dem Ärmel zu ­zupfen.“38 Theodor W. Adorno wird Simmels Überlegungen zum Henkel später als „Wald- und Wiesenmetaphysik“ abtun und Simmel vorwerfen, die dialektische Ver34 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 285. 35 Matthias, Leo: In memoriam Georg Simmel, Berliner Tageblatt, 4. 09. 1928, Wiederabdruck in: ­Gassen/Landmann (wie Anm. 13), 1958, S. 192–194, hier S. 194. 36 Ebd., S. 193: „Man hat unzählige Mal beschrieben, wie Simmel auf dem Podium hin und her ging, den Federhalter am obersten Ende zwischen drei Fingern, und, schreitend, zögernd, Begriffe suchend, ihn langsam in die Luft tauchte, so als ob er einen Käfer mit einer Nadel fangen wollte. Hatte er dann sein Wort gefunden, so hielt er es mit der Spitze der Feder einige Sekunden fest, hob es auch manchmal, hängend wie eine aufgespießte Beute, vor unserer allen Augen hoch oder ließ es, unbefriedigt, wieder laufen.“ 37 Fechter, Paul: Nachruf auf Georg Simmel, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 28. 09. 1918, in: ­Gassen/Landmann (wie Anm. 13), 1958, S. 157f. 38 Meinecke, Friedrich: Autobiographische Schriften, hg. von Eberhard Kessel, Stuttgart 1969 (= Werke, 8), S. 200.

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mittlung von Kunst und Welt, Formschönheit und Funktionalität verkannt zu haben.39 Tatsächlich bilden für Simmel – trotz seiner Nähe zum 1907 (also kurz nach der Erstpublikation des Aufsatzes) gegründeten Deutschen Werkbund – Zweckmäßigkeit und Schönheit zwei unterschiedliche, wenn auch nicht vollkommen inkompatible Forderungen, die im Henkel idealerweise in einer „Schönheit höherer Ordnung“ aufgingen.40 Trotzdem würdigt Adorno Simmel als den ersten Denker, der eine „Rückwendung der Philosophie auf konkrete Gegenstände“ vollzogen habe, „die kanonisch blieb für jeden, dem das Klappern von Erkenntniskritik oder Geistesgeschichte nicht behagte.“41 Letztlich aber habe er sich nie „so ungedeckt in die Sache“ verloren, „wie es verlangt ist, wenn Erkenntnis mehr sein soll als der selbstgenügsame Leerlauf ihrer prästabilierten Apparatur“.42 Simmel sei es nicht gelungen, „durch die Versenkung ins Inkommensurable des Objekts zu entdecken, was dem Menschen an ihm selber verborgen wäre und was er vom Objekt nicht ohnehin schon weiß.“43 Adornos Vorbild bleibt dagegen Simmels Schüler Ernst Bloch, dessen Geist der Utopie (1918) nach dem Motto „Incipit vita nova“ ausgerechnet mit einem kurzen Kapitel über einen alten Krug anhebt: „Ich sehe ihm gerne zu. Fremd führt er hinein. Die Wand ist grün, der Spiegel golden, das ­Fenster schwarz, die Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar so fraglos schön wie die anderen edlen alten Dinge.“44

Blochs von der Zeit und vielen Handhabungen gezeichneter Krug ist braun, schwer und grob, geziert mit dem Gesicht eines Wilden Mannes. Vermutlich handelt es sich um einen sogenannten Bartmannskrug, also ein im 17. Jahrhundert beliebtes Steingut­gefäß, das vornehmlich in Köln-Frechen produziert wurde und an dessen kurzem Hals sich das Relief eines bärtigen Mannes befand, das den Maler Georg Flegel 1635 zu einem Spiel mit der An- und Abwesenheit von Mensch und Leben im Stillleben animierte (Abb. 5). Die Herkunft des Porträtreliefs ist umstritten, traditionell wird es mit dem in England verhassten Kardinal Roberto F. R. Bellarmino identifiziert, von anderen Forschern aber als Apotropaion oder auch als Spiegelbild der Benutzer gedeutet, das bei jedem Heben des Krugs zur Selbstreflexion anregen sollte.45 Und tatsächlich steht die Reflexion über den alten Krug bei Bloch unter der Überschrift „Selbstbegegnung“: Heidegger versuchte durch die Betrachtung des Krugs die Frage zu lösen, wie in der Moderne, einer Zeit der 39 Adorno, Theodor W.: Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1974 (= Gesammelte Schriften, 11), S. 556–566, hier S. 564 [im Folgenden abgekürzt: Adorno, HKE]. 40 Simmel, PhK (wie Anm. 11), S. 284. – Zu Simmels Verhältnis zum Werkbund vgl. Gronert, Siegfried: Simmel’s Handle: A Historical and Theoretical Design Study, in: Design and Culture 4, 1 (März 2012), S. 55–72. 41 Adorno, HKE (wie Anm. 39), S. 555. 42 Ebd., S. 558. 43 Ebd., S. 561. 44 Bloch, Ernst: Geist der Utopie, München u. a. 1918, S. 13–15. 45 Vgl. hierzu van Hees, Christel: Baardmannen en puntneuzen. Vorm, gebruik en betekenis van gezichtskruiken, 1500–1700, Zwolle 2002.

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5  Georg Flegel, Stillleben, 1635

Eliminierung von Distanzen, die Nähe abhanden kommen konnte; Bloch suchte gerade in dem alten, handgefertigten Krug einen Neuanfang – nicht nur für sich selbst, sondern für eine ganze, scheinbar perspektivenlose Generation. Sein Krug, so Adorno, sei „ein Krug ohne Henkel“, also „ein Ding, das nicht so umgänglich mit der Gebrauchswelt kommunizier[e]“ wie Simmels Vase, sondern zunächst für sich stehe und dann zum Medium einer Introspektion werde.46 Mit dem Krug als quasi-menschlichem Gegenüber ergibt sich von Simmel zu Bloch gleichsam eine Verschiebung des Fokus vom Henkel zum Bauch des Gefäßes: Bloch zeigt sich fasziniert vom unergründlichen Dunkel des Inneren, dessen vergangener Inhalt (man erinnere sich an Marcel Griaule!) sich nur durch feinen Duft erahnen lasse. Doch „soll aus dem Bauch“, so noch einmal Adorno, „keine Ontologie […] zutage gefördert werden. Gezielt ist darauf: wüsste man nur recht, was der Krug, in seiner Dingsprache, sagt und wiederum verbirgt, so wüsste man, was zu wissen wäre und was die Disziplin zivilisatorischen Denkens, mit dem Gipfel von Kants Autorität, dem Bewusstsein zu fragen verboten hat. Dies Geheimnis wäre das Gegenteil dessen, was immer so war und immer so sein wird, der Invarianz: das, was einmal endlich anders wäre.“47

46 Adorno, HKE (wie Anm. 39), S. 558f. 47 Ebd., S. 566. – Anm. d. Hg.: Mit „Kants Autorität“ ist die Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) gemeint.

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Doch auch wenn das Innere des Krugs und der fremden Dinge überhaupt unergründlich bleibt, lässt eine „Versenkung“ ins Objekt eine Einheit aufscheinen, die, so poetisch-verschwommen sie sein mag, doch aussagekräftig ist für die Frage nach der wechselseitigen Abhängigkeit von Mensch und Ding. Denn, so noch einmal Bloch, „wer den alten Krug lange genug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum.“ Ja, mehr noch: Der Mensch ähnelt sich dem Gegenstand seiner Betrachtung an, er wird selbst zum Krug: „Ich werde nicht mit jeder Pfütze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen […] Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder einfach einfühlend, sondern so, dass ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde.“48

Dies ist ein ganz anderes ‚devenir-cruche‘49 als das von Bernhard Blume und es reicht, zumindest dem Anspruch nach, weiter: Es ist nostalgisch und utopisch zugleich, denn eine solche Anverwandlung scheint Bloch bei all jenen Dingen möglich, an denen menschliche Hände gearbeitet und ihre Spuren hinterlassen haben. Alles derart Geschaffene führe ein Eigenleben, rage in ein anderes Gebiet hinein und komme „mit uns [...] geformt“ zurück.50

48 Bloch 1918 (wie Anm. 44), S. 14. – Trotz des Beigeschmacks, den Begriffe wie ‚nordisch‘ oder ‚Volk‘ heute haben, sei Blochs Archaismus – wie Adorno betont – „äußerstes Gegenteil dessen, was aus derlei Archaismus in der Blut- und Bodenideologie wurde. Das Uralte, Urvergessene spricht dieser Intention vom noch nicht Gewesenen, erst Herzustellenden, das von der Ordnung der Kultur verstellt wird …“ (Adorno, HKE [wie Anm. 39], S. 564). 49 Anm. d. Hg.: ‚Devenir-cruche‘, dt. das ‚Krug-Werden‘, hier in Analogie zu dem von Gilles Deleuze (1925–1995) geprägten Konzept eines ‚devenir-animal‘/‚Tier-Werden‘ des Menschen. Als ‚cruche‘, dt. ‚Krug‘ bezeichnet man im Französischen aber auch einen einfältigen Menschen (beispielsweise in Wendungen wie ‚Que cet homme est cruche!‘, ‚Quelle cruche!‘ oder ‚C‘est une cruche!‘). 50 Bloch 1918 (wie Anm. 44), S. 14.

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Anette Rose

Zwischen, unter, entlang und ringsherum Zur „Enzyklopädie der Handhabungen“ *

Die Präposition ‚zwischen‘ markiert etwas im Raum „in der Mitte von beiden, innerhalb von Zweifachem“ (Duden). Sie spannt ein Feld auf und verortet Bewegungen und Zeiträume. ‚Zwischen‘, ‚unter‘, ‚entlang‘ und ‚ringsherum‘ deuten Verhältnisse und Bewegungen an und schaffen eine kontextuelle Wahrnehmung. Dinge können als Prozesse vergegenständlichter Handlungen verstanden werden und Materialien als zeitweilige Form. Bei der Beobachtung von Arbeitsabläufen stehen für mich die Verbindungslinien zwischen Körper, Werkzeug und Ding im Mittelpunkt. Mich interessiert das Zusammenspiel von haptischer Erfahrung und Denken, Greifen und Begreifen. Ich beschäftige mich im Rahmen meines künstlerischen Langzeitprojekts „Enzyklopädie der Hand­ habungen“ sowohl mit alten Kulturtechniken als auch mit Hightech-Verfahren. Ich recherchiere in Archiven und Museen und arbeite mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zusammen. Ich filme in Fabriken, Handwerksbetrieben und wissenschaftlichen Laboren. Ziel meiner Arbeit ist es, die komplexen Zusammenhänge filmisch zu verdichten und durch die Montage im Ausstellungsraum zur Darstellung zu bringen. Dabei geht es mir darum, ein reflektiertes Bild von Arbeits- und Produktionsprozessen im Kunst- und Ausstellungskontext sichtbar zu machen. Ich greife Formen des Minimalismus auf, verbinde sie aber mit einer gesellschaftlichen Realität, die ansonsten oft unsichtbar bleibt.

Zwischen den Sinnen Der Sehsinn bündelt die Aufmerksamkeit, leitet zielgerichtet durch den dreidimensionalen Raum und orientiert die Hände und Finger beim (Zu-)Greifen. Sie bewegen sich

* Anmerkung des Herausgebers: Vorliegende Fassung nimmt Bezug auf das Künstlerbuch Rose, Anette: Enzyklopädie der Handhabungen/Encyclopaedia of Manual Operations. 2006–2010, Bielefeld u. a. 2011; hierzu siehe auch Lindner, Ines: Synchronizations at Work, in: Inter­médialités. Histoire et Théorie des Arts, des Lettres et des Techniques, Nr. 19 (2012), S. 157–159 (mit Bildserie von Anette Rose) und .

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zum Gegenstand, sie erfassen und umschließen ihn. Die Fingerkuppen ertasten die Oberfläche, die Handflächen erkunden Plastizität, Volumen und Gewicht. Sie greifen ein, sie bewegen, verschieben und verändern die Lage und Form. Erst durch das Eingreifen der Hände präzisiert sich das Erkennen. Die Motivation und die Fragestellung, die das Zugreifen und Bewegen der Dinge lenken, beleuchten Zusammenhänge und bringen Handlungen in Fluss. Es sind zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände, Beine und Füße, die sich untereinander koordinieren und im Raum verorten. Rechte und linke Körperhälfte, rechte und linke Hand sind nicht identisch, sie sind spiegelsymmetrisch. Die Position der Augen zueinander, rechtes und linkes Ohr, ermöglichen uns, räumlich zu sehen und zu hören. Augen, Ohren, Nase und Mund sind im Gesichtsfeld lokalisiert. Die Hände können hingegen zu den Dingen geführt werden, ihre Materialität ertasten und sie erfassen. Es sind Wahrnehmungsprozesse, die in unterschiedlichem Maß in Bewegung sind und im Fluss der Bewegung und Erkundung vielfältige Positionen einnehmen. Die Koordination von Körperhaltung, Hand und Auge entscheidet über den Anblick. Der Standort, die Dauer und Perspektive auf, unter, entlang, ringsherum, mittendrin oder dazwischen formen den Blick. Das Gehör, der Gleichgewichts- und Tastsinn, der Geschmacks- und Geruchssinn sammeln Eindrücke, die über die sichtbaren Eindrücke hinausgehen. Sie sind multidimensional und verlaufen parallel. Sie synthetisieren den Erfahrungsprozess und vermitteln zwischen dem Greifen und Begreifen von Zusammenhängen, Dingen und Ereignissen.

Ordnungssystem und Methode der „Enzyklopädie“ Die sinnlichen Erfahrungen und das ‚leiblich gebundene Erfahrungswissen‘ (Sonja Peterson) sind Gegenstand der Beobachtungen meiner „Enzyklopädie der Handhabungen“. Als künstlerische Forschung ist die „Enzyklopädie“ ein ‚work in progress‘. Sie basiert auf einem erweiterbaren System von Modulen, das ich in unterschiedlichen Kontexten und Installationen re-konfiguriere. Die einzelnen (Video-)Module entwickle ich aus der beobachtenden Perspektive zwischen parallel stattfindenden Aktivitäten verschiedener ­Körper- und Arbeitsbereiche. Ich beobachte rechte und linke Hand, Hand und Auge, Mimik und Gestik, Hand und Maschine, Einzel- und Teamarbeit. Es sind Abstimmungsprozesse zwischen den Sinnen, zwischen Körper und Werkzeug, manuellen und automatisierten Verfahren. Aus den Fragestellungen, die meine Aufmerksamkeit leiten, entwickeln sich die einzelnen Module: Wie wirken Hand und Auge zusammen (Modul # 5, # 15–16)? Wie koordinieren sich rechte und linke Hand (Modul # 6)? Wie greifen die Hände bei der Arbeit im Team ineinander (Modul # 1)? Welche Kontrollauf­ gaben übernehmen die Sinne während des Produktionsprozesses (Modul # 7)? Und auf welche Weise ersetzen Maschinen die Handarbeit (Modul # 4, # 8–10, # 14, # 17–23)? Für meine künstlerische Arbeitsweise und Ausstellungspraxis sind die Synchronisierung, Kadrierung und Montage von zentraler Bedeutung. Um das komplexe Zusammenspiel von K ­ örper und Materialien sowie die Abstimmung und Verwendung von

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Werk­zeugen sichtbar zu machen, filme ich synchron Hand und Auge, das Ineinandergreifen der Hände und maschinelle Prozesse, die Handhabungen ersetzen. Ich zerlege die gleichzeitig gefilmten Abläufe und verknüpfe sie in der Montage als neu zusammengehörige Einheiten. Einzelne Module mit zwei synchronen Videospuren bilden Bewegungsdiptychen. Das Scharnier dazwischen ist der Raum. Auf getrennten Bildflächen re-synchronisiere ich die Videosequenzen der einzelnen Module im Ausstellungsraum. Durch die serielle – sukzessive und synchrone – Anordnung werden unterschiedliche Arbeits­abläufe, ­Sprechen und Handeln, Arbeits- und Ausdrucksgesten, manuelles und automatisiertes Prozessieren vergleichbar. Je nach Fragestellung und Ausstellungskontext ordne und kuratiere ich für den spezifischen Ort der Ausstellung die Module der „Enzyklopädie der Handhabungen“.

Welches körperliche und implizite Wissen zeigt sich in Gesten und ­Handhabungen? Und welche Erkenntnisse liefern Gesten und Handhabungen für die Mensch-Maschine-Interaktion? Die Methode der Synchronisierung und Montage ermöglicht es, die visuelle, akustische und zeitliche Abstimmung der Sinne wie beispielsweise die Beidhändigkeit oder die Koordination von Tastsinn und Sehsinn zu erfassen. Aus zwei Perspektiven filme ich, wie sich rechte und linke Hand bei verschiedenen Tätigkeiten untereinander abstimmen (Modul # 6), wie die Hände von mehreren Personen ineinandergreifen, wie sie sich portionierten Brotteig zuwerfen, ihn wirken und in Saaten wälzen (Modul # 1). Unwillkürliche Mitbewegungen der Augenbrauen, Lippen und Mundwinkel sind beim Verputzen, Schleifen, Stanzen, Stempeln, Ziehen, Pressen unterschiedlicher Materialien zu beobachten. Beim kräftigen Einziehen von Borsten spannen sich gleichzeitig die Gesichtsmuskeln an. Die Konzentration und Kraftanstrengung der Tätigkeiten lassen sich im Ausdruck des Gesichts ablesen (Modul # 5, # 7, # 15–16). Bei kontrollierenden Tätigkeiten und dem Prüfen von verschiedenartigen Dingen in der Fertigung verschiebt sich die Konzentration von den Händen auf die Augen (Modul # 7). Die Koordination der rechten und linken Hand, von Hand und Auge wird eingeübt. Wir greifen mit der Hand nach dem Gegenstand und im Umgang mit dem Material begreifen wir, wie es zu verändern ist. Ich zeige, wie Metall, Porzellan, Haare, Teig oder Zigarrenblätter gewickelt, gewirkt, gewälzt, gebunden, gestempelt, getaucht, gewalzt, gestanzt, verputzt, kontrolliert und sortiert werden. Im Gegensatz zur manuellen Geschicklichkeit, die eingeübt wird und flexibel auf Störungen reagieren kann, wiederholt sich die maschinell koordinierte Bewegungsabfolge immer wieder exakt – ohne Abweichung und wie geplant beziehungsweise zuvor einprogrammiert. Unregelmäßigkeiten von Materialien und ihrer Lage stören und stoppen gelegentlich den reibungslosen maschinellen Ablauf. Um manuelle Arbeitsbewegungen zu mechanisieren, werden sie (beispielsweise für eine Rasierpinsel­maschine) in einzelne Schritte zerlegt und nacheinander gereiht. Pinselhaare werden analog zur Handarbeit abgeteilt, mit Zangen gegriffen, gekämmt, in eine Form umgestülpt, geklopft

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und gebunden. In Modul # 10 greift der Knickarmroboter jeweils zwei Klosettbürstenrohlinge vom Band und führt sie in das Fertigungskarussell ein, wo sie gebohrt und mit Borsten gestopft werden. Dementsprechend montiere ich die Einstellungen der Rasierpinselmaschine nacheinander als Einkanalvideo (Modul # 8) und die des Klosettbürstenroboters synchron nebeneinander als Zweikanalvideo (Modul # 10).

Zwischen Hand und Wort Komplementär zu den Produktionsabläufen beschäftige ich mich mit Gestik und Mimik von Personen, die aus ihrem Fachwissen heraus Fertigungsprozesse erläutern und reflektieren, um disziplinübergreifende Fragestellungen zwischen dem Greifen und Begreifen, theoretischen Erkenntnissen und Erfahrungswissen miteinander in Beziehung zu setzen. Ich filme Gestik und Mimik von Designern und Forschern. Ich beleuchte das, was wir halb bewusst wahrnehmen, indem ich die Gesten mit mehreren Kameras beobachte und isoliere/fixiere. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken wird im Vorgang des Erzählens sichtbar. Die synchronen Kameraaufzeichnungen der Körpersprache, die das Erzählen begleitet, unterstreicht und interpretiert, ermöglichen es, im linearen Schnitt die Gestik und Mimik synchron zum Gesprochenen zu montieren und hervorzuheben.

Wie beeinflussen die Sinne und die Körperform die Handhabung und das Design der Dinge? Das Design formt und beeinflusst das Verhältnis zwischen Mensch und Ding. Das Zugreifen wird auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet. Der Griff und der Henkel bringen etwas in Verwendung, bieten an, etwas zu greifen, vermitteln den Zugang zum Ding, ermöglichen das Zugreifen und den Gebrauch. Beim Greifen eignen wir uns etwas an, ein Ding und eine Fähigkeit, die Geschick verleiht. Für die Designerin Barbara Schmidt (Modul # 24. Interview # 4) war das Greifen das zentrale Gestaltungsthema der Porzellanserie „Elixyr“ (Fa. „Kahla GmbH“): „Man sieht hier eine Unregelmäßigkeit: Da wächst etwas aus der Schale heraus, das lässt an Anfassen denken. Ich muss sofort daran denken, beziehungsweise fühle mich sofort aufge­ fordert, mit der Hand hier hinzugreifen. Man sieht, dass das die Stelle zum Anfassen ist, dass es ein Griff ist, wie ihn Werkzeuge haben, wie zum Beispiel jeder Löffel. Es gibt zwei charakteristische Merkmale an einem Löffel: Er hat diese sogenannte Laffe, dieses kleine Gefäß da vorne, und einen Griff an der anderen Seite. Und dann gibt es noch die Schale. Sie ist das Urgefäß, das Gefäß schlechthin. Eine Schale braucht den Griff eigentlich nicht, eine Schale umfasst man. So ist sie auch entstanden. Sie ist praktisch die Verkörperung der geöffneten Hände, die sicher als Erste dazu gedient haben, Flüssigkeit aufzufangen und zu trinken. Und der Löffel ist sicher eins unserer ersten vom Menschen geschaffenen Werkzeuge.“

Die Gestenforscherin Ellen Fricke verdeutlicht (Modul # 25. Interview # 5), wie rede­ begleitende Gesten das Greifen und Begreifen differenzieren:

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„Barbara Schmidt sagt, dass die Schale im Grunde genommen aus dem Urbild des Schöpfens von Flüssigkeit mit beiden Händen abgeleitet ist, um die Flüssigkeit mit beiden ­Händen zum Mund zu führen. Ihre Hände sind dabei viel enger zusammengeführt, sie repräsen­t ieren tatsächlich zwei Hände, die Wasser schöpfen und es zum Mund führen. Sie sind in einer Stellung, in der kein Wasser durchfließen könnte. Bei der Greif- oder Modellierungs­bewegung hingegen sind ihre Hände in einer Position, in der Wasserschöpfen unmöglich wäre. Die Hand repräsentiert hier die Laffe, modelliert den Stiel und agiert. Sie tut so, als würde sie den Löffel greifen.“

Beim Einüben einer Tätigkeit und beim Umgang mit Dingen schreibt sich die Be­­wegung in den Körper ein. Beim Sprechen zeichnen unsere Finger Umrisse in die Luft. Hände modellieren flüchtige Skulpturen oder repräsentieren stellvertretend Dinge, mit denen sie agieren. Ihre Bewegungen rhythmisieren und strukturieren die Rede, sie bilden zeitliche Abläufe ab und verorten sie im Raum. Kurze Unterbrechungen bilden Zäsuren. Wiederholungen, Bewegungsimpulse und ihre Dynamik akzentuieren das Ge­­sprochene. Sie vergegenwärtigen Prozesse, verkörpern Relationen und zeigen abstrakte Beziehungen an. Sie begleiten und motivieren den Fluss der Rede. Entlang und in­­mitten der akusti­ schen und inhaltlichen Rede verkörpern sie die Textur flüchtiger Bewegungsspuren (vgl. hierzu die Gestenkategorien bei Müller, Cornelia: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich, Berlin 1998 und den Beitrag von Jasmin Mersmann im vorliegenden Band).

Zwischen Verkörperung und Sichtbarmachung Beim Filmen und in der Montage wird zerlegt, reduziert und neu verknüpft. Wie bei jedem anderen Formgebungsprozess werden viele Entscheidungen getroffen. Während der Aufzeichnung bestimme ich die Perspektive und die Dauer bestimmter Bild- und Zeitausschnitte, die ich in der linearen Montage des Materials nacheinander reihe. Die bildnerischen Entscheidungen dienen der visuellen Erkenntnis. Nicht das, was zu sehen ist, wird dokumentiert, sondern wie ich es zu sehen gebe, beleuchte und in Szene setze wird sichtbar. In die Konzeption der „Enzyklopädie“ beziehe ich Setfotos ein. Sie zeigen den Arbeitsraum und unsere Dreharbeiten vor Ort. Sie reflektieren den filmischen Aufbau und das methodische Vorgehen. In der räumlichen Montage re-synchronisiere ich die Videomodule am Ausstellungsort. Ich projiziere sie nebeneinander, schichte und verflechte sie untereinander und mit Dingen und Materialien aus der Fertigung und aus wissenschaftlichen Laboren. Die Normierung der Einstellungen eigener Filmaufnahmen schafft eine serielle Struktur, die Differenzen hervortreten lässt. Aus dem Material und der Beobachtung entwickle ich die Form der Aufzeichnung und Präsentation. Die audiovisuellen Eingriffe und Entscheidungen sind explizit Teil meiner künstlerischen Forschung. Die mini­ malistische Formsprache, die Auswahl und Montage bieten Muster zum Vergleich an. Das unterscheidet meine Arbeit von wissenschaftlichen Untersuchungen, die den formalen Standards des Forschungskontexts entsprechen müssen. Ich beziehe sie als Mate-

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rial in meine Konzeption mit ein und binde historische Aufzeichnungen aus Wissenschaft und Industrie ein. Als Montage des Recherchematerials zeige ich in meinem Künstlerbuch „Enzyklo­ pädie der Handhabungen. 2006–2010“ meine künstlerische Forschung als Teil des Werkprozesses, in den ich unter anderem auch Abbildungen von Gegenständen und Diskurse aus Medizin, Anthropologie und Arbeitsphysiologie einbezogen habe. Ich montiere verschiedenartige wissenschaftliche Darstellungen auf 17 Doppelseiten nebeneinander: mikroskopische Zeichnungen, Langzeitbelichtungen, Filmstills, Gemälde, ­fotografierte Präparate, anatomische Modelle, Diagramme und schematische Skizzen. Im dazuge­ hörigen Bildindex sind Quellen, Zitate und Beschreibungen aufgeführt. Die 2013 gezeigte Ausstellung „Beautiful Minds“ konfrontierte auf dem ­Campus Nord der Humboldt-Universität zu Berlin Arbeiten künstlerischer Forschung mit ­Räumen und Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis. In der ort­spezifischen Installation im Mikroskopiersaal habe ich ein Videodiptychon und Doppelseiten der Bild­ montage mit Mikroskopie-Arbeitsplätzen und einer Unterrichtseinheit kombiniert, die den histologischen Längsschnitt einer Fingerspitze auf vier Monitore überträgt. Das konzeptionell verbindende Thema zwischen der Mikroskopie und meiner „Enzyklo­ pädie“ ist der Umgang mit Instrumenten des Sehens und die Form der Sichtbarmachung. Während die Mikroskopie das, was wir nicht mehr mit dem bloßen Auge erkennen können, vergrößert und sichtbar macht, verdichte ich anatomische, anthropologische und arbeitsphysiologische Zusammenhänge in der Bildmontage und fokussiere mit synchronen Videoaufzeichnungen die Koordination von Hand und Auge. Die serielle und synchrone Anordnung von wissenschaftlichen Abbildungen, Instrumenten des Sehens und projizierten Lichtbildern fordert zum vergleichenden Sehen auf. Die Mikroskopansicht der dünnen Gewebeschnitte, die auf bestimmte Weise geformt und farblich präpariert werden, unterscheidet sich von deren Zeichnungen. Anatomische Details werden beispielsweise hervorgehoben und perspektivisch dargestellt. Die Abbildung der wissenschaftlichen Zeichnung nach der rasterelektromikroskopischen Vorlage eines Gewebewürfels der Fingerspitze (von Radivoj V. Krstić) zeigt Fingerrillen, Schweißdrüsen und Vater-Pacini’sche Tastkörperchen in der Schichtenbildung der Haut. Die wissenschaftliche Zeichnung stützt sich auf die Arbeit mit Instrumenten des Sehens und greift mit dem geschulten Urteil in die Sichtbarmachung und Darstellung des Gesehenen ein, um Erkenntnis zu generieren. Jede Methode der Aufzeichnung und Wiedergabe zeigt und verschiebt auf besondere Art und Weise die Wahrnehmung. Sie visualisiert und isoliert zeitliche, räumliche, akustische und haptische Prozesse. Meine Arbeit besteht darin, aktuelle und historische Zusammenhänge unterschiedlicher Denk- und Handlungsräume konzeptionell und formal miteinander zu verschränken. Im Rahmen meines Langzeitprojekts lege ich so eine archivarische Sammlung an, um gegenwärtige und zukünftige Forschungsmethoden und Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen, die gesellschaftliche Praktiken bestimmen. Wie sich die Dinge zeitweilig in Ausstellungen vergegenständlichen, bestimme ich durch die Form ihrer Sicht-

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barmachung. Welche Beziehungen sie stiften, spiegelt die Erwartungshaltung, auf die sie treffen. Vorstellungen zirkulieren um die Form ihrer Verkörperung. Die Form stabilisiert die Dinge vorübergehend, in ihrer Handhabung geraten sie wieder in Bewegung. Die „Enzyklopädie der Handhabungen“ ist eine Sammlung von Bildsequenzen und Dingen; sie wandelt sich und formiert sich an jedem Ort neu. Die folgende Bildserie von Anette Rose wurde speziell für diesen Band geschaffen.

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Enzyklopädie der Handhabungen. Setfoto # 2 2009

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Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 4, # 15 und # 24 Industrie & Poesie, Bauhaus-Archiv, Berlin 2013 Installationsansicht

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Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 15 verputzen, beischleifen, stanzen, stempeln, ketteln, einziehen, tauchen, ringen, walzen, ­eindrehen, schleifen. Videostills

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Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 15 Beautiful Minds, Kunst – Parcours, Campus Nord, Humboldt-Universität zu Berlin 2013 Installationsansicht

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Mikroskopische Ansichten oben: Mensch, neugeboren, Fingerspitze, Sammlung Hesse 1899, H-Orange G Färbung, links 400-fach/rechts 16-fach unten: Fingerspitze, Vater-Pacini’sche Tastkörperchen, Hämatoxylin-Eosin Färbung, links 100-fach /rechts 40-fach

Enzyklopädie der Handhabungen     | 115

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Enzyklopädie der Handhabungen. 2006–2010. Bildmontage. S. 77–108, S. 92–93 Bielefeld (Kerber Verlag) 2011 Installationsansicht – Detail

Enzyklopädie der Handhabungen     | 117

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Susanne König

Design als Störfaktor

In der Designtheorie gehört neben der Analyse der äußeren Gestaltung der Dinge auch ihre ‚eingeschriebene Geste‘ zum theoretischen Untersuchungsfeld, worunter die „zielgerichtete Ausdrucksbewegung des Körpers, besonders der Hände und des Kopfes“,1 die bei der Benutzung der Dinge entsteht, verstanden wird. Diese Geste verbindet Mensch und Ding und ist somit ein zentraler und viel diskutierter Aspekt der Theorie der Dinge. Die doppelseitige Beeinflussung beziehungsweise Wechselbeziehung zwischen Entwurf (Design) und Wirkung (Benutzung) pointiert John M. Culkin (damit Marshall ­McLuhans Ansichten zusammenfassend) in der These: „We shape our tools and afterwards our tools shape us.“ 2 Wir benutzen Gegenstände also nicht nur – sie beeinflussen uns in unserer Wahrnehmung, in unserem Handeln und somit auch in unserer Haltung. Viele dieser eingeschriebenen Gesten bleiben jedoch unbewusst, werden also ausgeführt, ohne dass sich der Ding-Benutzer darüber Gedanken machte, wie diese Dinge sowohl Einfluss auf seine Handlung als auch auf seine Haltung und seine Positionierung im (sozialen) Raum nehmen. Ein Beispiel: Leicht nachvollziehbar ist es, dass unterschiedliche Sitzgelegenheiten, wie zum Beispiel Sessel, Stuhl oder Hocker, zu unterschiedlichen Gesten des Benutzers führen. Andererseits führen das gemütlich angelehnte Sitzen in einem Sessel, das aufrecht-steife Sitzen auf einem Stuhl und das etwas wackelige, körperkrümmende und tiefe Sitzen auf einem Hocker auch zu einer jeweils unterschiedlichen eigenen Wahrnehmung – die sich dann auch in der Kommunikation auf ein Gegenüber auswirken kann. Schon allein die unterschiedliche Sitzhöhe führt zu verschiedenen Haltungen und dadurch bedingt auch zu Handlungen zweier Gesprächspartner. Doch auch wenn solche Gesten nun als ganz offensichtliche erscheinen, werden sie oft nicht wahrgenommen. Dies erkannte bereits Lucius Burckhardt, als er in ­seinem 1980

1 Vgl. Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, 21., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 10, Leipzig 2006, S. 657 (s. v. „Geste“). 2 Culkin, John M.: A Schoolman’s Guide to Marshall McLuhan, in: Saturday Review (London), 18. 03. 1967, S. 70 (oft falsch zitiert als McLuhan, Marshall: Understanding Media, Cambridge, Mass.1964, S XXI).

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verfassten Text Design ist unsichtbar Gestaltung als „ein Design von morgen, das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Be­ziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist“3 definierte. Nicht bloß der designte Gegenstand, sondern der gesamte Kontext muss gedacht und entwickelt werden; Objekte sollen also nicht nur nach den Kriterien ihrer Schönheit, Funktion oder Tüchtigkeit entstehen, sondern unter Einbeziehung ihres kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Felds. In den letzten 20 Jahren entstanden vermehrt Objekte von Designerinnen und Designern, die durch verschiedene Störfaktoren auf ebendieses Phänomen aufmerksam machen. Durch Material-, Größen- und Kontextverschiebungen werden Objekte aus ihrem gewohnten Wahrnehmungszusammenhang genommen und in einen neuen Kontext gestellt, wodurch normative Gesten und Handlungsabläufe abgerufen und sichtbar gemacht werden. So zeigen diese Störfaktoren die mit den Objekten verbundenen gesellschaftlichen Konventionen auf und ermöglichen eine Reflexion der sonst unbewusst durchgeführten Gesten und Handlungen. Designer erweitern somit Begriffsdefinitionen, überführen das Objekt in die Handlung und entwickeln Plattformen für performative und kommunikative Situationen. Dies soll im Folgenden an konkreten Beispielen von „Studio Job“ (Antwerpen), „Ronan & Erwan Bouroullec“ (Paris), „Bless“ (Berlin/ Paris) und Martino Gamper (London) verdeutlicht werden. Die Alltagsgegenstände des Designerpaars „Studio Job“ haben einen Kunststatus inne und erinnern eher an Skulpturen denn an Produkte. In ihrer Arbeit „The Last Supper“ (2009) haben sie ein überdurchschnittlich großes Service (bestehend aus einem Tablett mit Tassen, Tellern und einer Kanne) aus verrostetem Stahl entworfen, dessen Benutzung, bedingt durch das Material, durch die Größe sowie durch das tonnenschwere Gewicht, unmöglich ist (Abb. 1).4 Durch die Bezeichnung „The Last Supper“ werden dem Objekt sowohl religiöse Assoziationen als auch christlich-ikonografische Interpreta­ tions­möglichkeiten hinzugefügt. Durch das ungewöhnliche Material, die Größen- oder Kontextverschiebungen und die integrierten Botschaften irritiert das Produkt von „Studio Job“ und lädt zur Reflexion ein: Niemand möchte rostigen Stahl an seine Lippen setzen oder etwas daraus zu sich nehmen, da Rostpartikel sich lösen und in die Nahrung gelangen könnten. Geschirr muss eine glatte und kompakte Oberfläche haben, sodass es gut und leicht zu reinigen ist. Durch die Größe und das Gewicht wird die eingeschriebene Geste der Benutzung bewusst verhindert: Plötzlich können wir die Kanne nicht mehr am Henkel greifen, ihren Inhalt in die Tasse gießen und uns so unbemerkt ein Bild über deren Benutzbarkeit machen. Wie die Kanne in der Hand liegt, wie sich das Gewicht ­ enkels ein angenehmer im Kippmoment verlagert, ob sich durch die Positionierung des H Bewegungsablauf ergibt oder ob man die Kanne nur mühevoll in eine Schräglage bringt – all dies bleibt allein unserer Imagination überlassen. Wir stellen uns einmal vor, wie es 3 Burckhardt, Lucius: Design ist unsichtbar, in: Edelmann, Klaus Thomas/Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel 2010, S. 211–217, S. 217. 4 Vgl. Studio Job, The Book of Job, New York u. a. 2010.

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1  Studio Job, „The Last Supper“, 2009

wohl wäre, wenn wir eine so große Tasse an unseren im Verhältnis dazu kleinen Mund setzen würden. Die Wahrnehmung der Dinge und das Verhältnis, das man zu ihnen aufbaut, ist maßgeblich davon abhängig, in welchem Größenverhältnis sie zu uns stehen. Dies beschreibt schon Jonathan Swift in seinem Roman Gullivers Reisen aus dem Jahr 1726.5 Gullivers erste Reise beginnt bekanntlich auf der Insel Liliput, auf der Winzlinge wohnen. Auf ­seiner zweiten Reise gelangt er auf die von Riesen bewohnte Insel Brobdingnag. Während der Held sich in diesem Roman immer mit den veränderten Kontexten arrangieren muss, kann sich in Lewis Carrolls fantastischem Roman Alice im Wunderland aus dem Jahr 1865 die Heldin durch die Einnahme eines Zaubertranks an ihre Umgebung an­­passen.6 Zurück zu unserem Beispiel: „Studio Job“ scheint den Benutzer (Betrachter) von „The Last Supper“ durch dessen überproportionale Größe und das große Gewicht in die Rolle von Gulliver versetzt zu haben – da auch er die Tasse der Riesen nicht benutzen konnte. Gleichzeitig ermöglicht das Service von „Studio Job“, allgemeiner über die Geste der Tassennutzung nachzudenken: Wie führen wir eine Teetasse aus dünnem Porzellan, durch deren Henkel wir unseren Zeigefinger nur mit Mühe stecken können und deren Kippmoment aufgrund des Verhältnisses der breiten Tasse zum dünnen Henkel recht labil ist, an unsere Lippen? Wie beeinflusst diese eingeschriebene Geste den Benutzer, der nun vorsichtig, schwankend an der Tasse nippt, deren Inhalt aber gleichzeitig so gering ist, dass nur – der Etikette entsprechend – maßvolles Konsumieren angemessen scheint? Und wie verhält sich im Gegensatz dazu die eingeschriebene Geste eines großen, dicken ­Kaffeepotts, den sein Benutzer aufgrund seiner Größe eher mit beiden Händen zum Mund führt, sodass er auch zu einem beliebten Handwärmer an kalten Tagen wird? 5 Siehe z. B. die Ausg.: Jonathan Swift, Gullivers Reisen, Frankfurt am Main 1974. 6 Siehe z. B. die Ausg.: Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Frankfurt am Main 1963.

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2  Ronan & Erwan Bouroullec, „Parasol Lumineux“, 2001

Die wohlig-warme Geste des Sich-an-die-Tasse-Schmiegens lässt einen ganz anderen Benutzer beziehungsweise ein ganz anderes Benutzer-Bild entstehen als bei der feinen Teetasse aus Porzellan. Assoziationsketten werden natürlich auch durch die ungewöhnliche Benennung „The Last Supper“ ausgelöst: Das letzte Abendmahl beging Jesus Christus am Vorabend seiner Kreuzigung, und es wird in der heiligen Kommunion beziehungsweise in der Eucharistie bedacht, wobei besonders die katholische Kirche an der Transsubstantiationslehre festhält. Abendmahl, Verwandlung und Vergänglichkeit sowie das bevorstehende Leid Jesu Christi scheinen sich somit in diesem verrosteten Service anzudeuten, ja zu materialisieren. Auch die Brüder Ronan und Erwan Bouroullec spielen mit den Größenverhältnissen von Objekt und Mensch, jedoch belassen sie den Objekten ihre Funktionalität beziehungsweise verleihen ihnen neue Funktionen und ermöglichen somit neue Gesten. In ihrer Arbeit „Parasol Lumineux“ (2001) wachsen Tische zu übergroßen Objekten heran, neben denen dazugesellte Stühle winzig wirken; ihre Benutzer können kaum noch die Tischplatte erreichen (Abb. 2).7 Somit hat der Tisch seine tisch-typische eingeschriebene Geste (beziehungsweise Funktion, nämlich dass man sich mit einem Stuhl an ihn setzen kann) verloren. Doch die Bouroullecs wollten auch gar keine Tische produzieren. Sie bedienten sich lediglich der bekannten Tisch-Chiffre, um Raumteiler beziehungsweise Lam7 Bouroullec, Ronan/Bouroullec, Erwan: Ronan and Erwan Bouroullec, New York u. a. 2003, ­­S. 170– 200.

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pen herzustellen. Ihre tischförmigen „Parasols“ nehmen somit die ganz andere Funktions- beziehungsweise Gebrauchsgeste eines Sonnenschirms an, unter den man sich setzen kann. Doch während Sonnenschirme für den Außenbereich konzipiert sind und dort ihre Benutzer vor zu hellem Licht schützen sollen, sind die „Parasols“ für den Innenraum konzipiert, dienen als Raumteiler für hohe Räume und spenden dabei auch noch Licht. Die Gebrüder Bouroullec haben erkannt, dass sich der Mensch in Räumen mit tief hängenden Decken wohler fühlt. Die Geste des Unterstellens, des Hineinkriechens, die an Höhlen- oder Zeltsituationen erinnert, stand hier ebenso Pate wie die Proportionierung der Raumhöhe im traditionellen Hausbau. Während eine einheitliche Deckenhöhe vor allem ein Kennzeichen unseres massentauglichen Bauens im 20. Jahrhundert ist, wurden über die Jahrhunderte hinweg im traditionellen Hausbau die Räume mit unterschiedlichen Räumhöhen versehen: Der repräsentative Raum, in der Beletage gelegen, wurde mit einer hohen Decke ausgestattet, während die Privaträume durch tiefe Decken gekennzeichnet waren. Durch die Arbeit „Parasol Lumineux“ entsteht nun ein immaterieller Raum, der zu einem Ort der Intimität wird. Indem sich die Designer jedoch des bekannten Tischdesigns für ihre Raumteiler bedienen und dieses verfremden, irritieren auch sie den Benutzer und fragen nach der gewöhnlich eingeschriebenen Geste der Tische beziehungsweise Raumteiler. Die Brüder beschreiben ihre Arbeit wie folgt: „The ‚Parasol Lumineux‘ lamp attracts people just as a hearth does when you walk into a home. The feeling of finding yourself below a roof, which is itself below a ceiling, attracts and brings people a great intimacy. The space is created by an immaterial context, connected with that ­sense of ‚being below‘.“8

Dass mit einem Gegenstand vor allem eine Handlung verbunden wird, hat schon der schwedische Ethnologe Sven B. Ek wie folgt formuliert: „Es ist […] wichtig, unmittelbar festzuhalten, daß ein Gegenstand kein Gegenstand ist. Ein Gegenstand ist eine Handlung.“9 Das bedeutet, dass man die Analyse von Sachen durch eine Analyse von Handlungsstrukturen ersetzen muss. Der Volkskundler und Kulturwissenschaftler Gottfried Korff setzt ergänzend hinzu, dass, wären Sachen nichts anderes als die Materialisierung von Ideen, Handlungen und mentalen Prozessen, die Sachkulturforschung überflüssig wäre. Demnach ist für die Sachforschung jedoch gerade der kollektive (und individuelle) Umgang mit den Dingen wichtig, und dies erklärt er wie folgt: „Die Frage, die gestellt werden muss, hat sich also nicht nur darauf zu richten, wie die Menschen sich den Produkten anpassen […], sondern auch […], wie die Menschen sich die Produkte anpassen – durch Einführung in ihre individuelle Lebenswelt, durch Verschönerung, Bekritzeln und Verschmutzung, in Form der Namensgebung und in Form der Vernutzung.“ 10   8 Ebd., S. 170.   9 Ek, Sven B.: Föremål och klasskampssymbolik […], hier zit. nach Bringéus, Nils-Arvid: Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 29, 1986, S. 159–174, S. 167. 10 Korff, Gottfried: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen, in: König, Gudrun M. (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., Tübingen 2005, S. 29–42, S. 40f.

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Gert Selle verweist ebenfalls darauf, dass wir den eingeschriebenen Gesten der Objekte nicht nur passiv ausgeliefert sind; er formuliert: „Ein Designobjekt ist immer etwa Gestaltetes und etwas Gestaltendes zugleich. Der Gebraucher ist ein vom Objekt bei der Hand genommener, aber auch ein teilautonomer Mit- oder Umgestalter dessen, was ihn leiten soll.“11 Auf diese aktive Benutzung beziehen sich nun viele junge Designerinnen und Designer, indem sie mittels ihrer Arbeiten fest eingeschriebene Gesten durch individuelle Handlungsmöglichkeiten revidieren. Das Designerinnenduo „Bless“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine neue Generation von Designschaffenden Objekte gestaltet, die nicht mehr nur mit einer eingeschriebenen Geste eine Handlungsweise vorschreiben, sondern stattdessen verschiedene anbieten – Objekte, die der Benutzer fast wie in einem Selbstversuch suchen und anwenden soll, um dabei eigene individuelle Handlungsmöglichkeiten zu finden. Hinter dem 1995 gegründeten Label „Bless“ stehen Desiree Heiss und Ines Kaag, deren Arbeitsform sich vor allem dadurch vom branchenüblichen Vorgehen unterscheidet, dass sie sich weder auf einen Bereich (wie Mode, Design oder Kunst) noch auf Stilrichtungen oder Materialien festlegen lassen. Sie produzieren lediglich eine geringe Anzahl von Objekten pro Jahr. Selbst wenn sie Kleidungsstücke herstellen, bleiben sie diesem Konzept treu (gleichwohl es in der Modebranche üblich ist, ganze Kollektionen herauszubringen).12 Das Wesen ihrer Produkte wird nicht durch deren Form, sondern durch deren Funktion bestimmt, wodurch oft Doppelfunktionen beziehungsweise weitere Nutzeffekte entstehen, die dann ihrerseits die Form bestimmen.13 Diese Fokussierung auf die Funktion beschreiben die beiden wie folgt: „Wir designen eigentlich kaum die Form, wir unterstützen hauptsächlich die Funktion […]. Die Funktion ist auf jeden Fall immer da und stellt für uns den einzigen Daseinsgrund für den Gegenstand dar.“14 Diese unterschiedlichen Funktionen ermöglichen eine Vielzahl von verschiedenen Gesten, mit denen sich der Benutzer die Dinge aneignen kann, und sie gestatten vielfältige Verwendungsmöglichkeiten, wodurch der kreative Gebrauch der Objekte ermöglicht wird.15 Der ‚Verbraucher‘, der sich auf diese Weise auf die Produkte einlässt, entscheidet nun selbst, wie er diese interpretiert und wie er sie tragen oder verwenden möchte.16 „Bless“ designt Alltagsgegenstände, die es auf dem Markt (noch) nicht gibt und die eine spezifische Interaktion mit ihrem Benutzer erforderlich machen: Oftmals 11 Selle, Gert: Design im Alltag, Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 12. 12 Siehe Lindner, Ines: Das Label Bless. Verwendungsstücke, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaften, 28, 2000, 4, S. 71–74, S. 72; Lissoni, Andrea: Horizonte launischen Designs. Flüchtige Eindrücke von einer Konversation mit Bless, rund um, über, gegen …, in: Heiss, Desiree/Kaag, Ines: Bless. Retroperspective Home N° 30– N° 41, Berlin 2010, S. 156– 164. 13 Vgl. Lissoni 2010 (wie Anm. 12), S. 161. 14 Ebd., S. 161f. 15 Vgl. Lindner 2000 (wie Anm. 12), S. 72. 16 Vgl. Zahm, Oliver: Bless Recent History, in: Heiss, Desiree/Kaag, Ines: Bless. Celebrating 10 years of Themelessness, N° 00– N° 29, New York 2006, S. 1–5, S. 4.

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3  Bless, „N° 17 Design Relativators“, 2002

steht der Benutzer den Objekten ratlos gegenüber, da auch deren eingeschriebene Geste nicht sofort ersichtlich wird, ja erst durch den tatsächlichen Gebrauch auf die Nutzungsweise geschlossen werden kann. Die Strategie von „Bless“ ist es dabei, zwei verschiedene Produkte zu kombinieren oder ein Produkt um eine neue Funktion oder um ein neues Detail zu ergänzen, sodass das Endprodukt zunächst merkwürdig oder seltsam erscheint; erst durch das experimentelle Ausprobieren können der Nutzen und die Funktion erkannt werden.17 So kombiniert „Bless“ in dem Projekt „N°  17 Design Relativators“ (2002) die beiden bekannten Haushaltsobjekte Staubsauger und Bürostuhl mit Rollen („Vaccum Cleaner 1“) beziehungsweise Rollhocker („Vaccum Cleaner 2“) miteinander (Abb. 3). Bei diesen Objekten befinden sich jeweils der Korpus, der Schlauch und das Stromkabel des Staubsauers unterhalb des Sitzes beziehungsweise in der Lehne und sind hier jederzeit zum Einsatz bereit. Während man sich im Haushalt gemeinhin Gedanken darüber machen muss, wo man den unhandlichen Staubsauger verstauen beziehungsweise wie man das Gerät zum Einsatz möglichst problemlos aus den Tiefen eines kleinen Stauraums kramen kann, bietet das Objekt „N° 17 Design Relativators“ von „Bless“ dem Benutzer die Gelegenheit, sozusagen im Vorbeifahren an einem Krümel diesen aufzusaugen. Auf diese Weise verbindet sich die Funktion eines Bürostuhls mit der Funktion eines Staubsaugers zu einer neuen, kombinierten. Doch auch die beiden Gesten des Sitzens und des Saugens werden zu einer neuen Geste amalgamiert, denn von nun an zwingt der Staubsauger seinen Benutzer nicht mehr, sich mit gekrümmtem Rücken durch die Flure zu bewegen, sondern er kann aufrecht sitzend dem Dreck ‚hinterher­ flitzen‘. Dies hat durchaus ironische Züge und zeigt, wie die Geste ein neues Menschen-

17 Vgl. Lissoni 2010 (wie Anm. 12), S. 161f.

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4 Bless, „N° 04 Bags“, 1998

bild kreiert: Denn von nun an wird die Hausarbeit nicht mehr als sklavischer Akt, der in bildhaft demütiger Haltung ausgeführt werden muss, angesehen. Der Benutzer hat sich gewissermaßen durch die neu eingeschriebene Geste davon emanzipiert und erledigt diese Arbeit nun selbstbewusst und quasi en passant, also elegant nebenbei. In seinem Projekt „N°  04 Bags“ („Bag C“, 1998) ergänzt „Bless“ eine gewöhnliche Tasche um weitere Funktionen (Abb. 4). Sie kann nicht nur am Arm oder über der Schulter getragen werden. Sie hat sich zu einem Objekt entwickelt, das wie ein Ärmel über den ganzen Arm gezogen oder wie ein Rucksack über beide Schultern (entweder vor der Brust oder auf dem Rücken) getragen werden kann. Doch noch weitere Benutzungsformen schließen sich an: Denn mittels eines Gürtels kann die Tasche auch wie eine Schürze (vorn, an der Seite oder auch rücklinks) getragen und zur Stabilisierung des Inhaltes am Bein befestigt werden. Aus der Taillenbefestigung befreit, kann die Tasche dann auch nur am Bein getragen werden und mutiert so zu einer Art übergroßen Hosentasche. Fast schon einen reinen Accessoire-Charakter erhält die Tasche, wenn man sie wie einen langen Schal oder ein Tuch um den Hals trägt. Somit übernimmt die Tasche von „Bless“ nicht nur unterschiedliche Funktionen (wie beispielsweise die von Hand- und Armtaschen, Brustbeuteln, Rucksäcken, Taillenbeuteln und Hosentaschen). Sie wandelt sich auch zu einem Accessoire (wie beispielsweise zu einem separaten Ärmel, einem Halstuch, Schal oder einer Schürze). Die unterschiedlichen Funktionsweisen der „BlessBags“ beinhalten gewissermaßen verschiedene Gesten – und genau in diesem Experimentieren können dann weitere, von „Bless“ nicht vorgesehene Gesten und Handlungsweisen entstehen – eben jene, die der Benutzer individuell entwickelt.

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„Bless“ präsentiert die Objekte auf internationalen Modeschauen, in Galerien sowie auf Kunstveranstaltungen und beschreibt sich als ein „[...] project that presents ideal and artistic values by products to the public.“18 Mit dieser Haltung entstehen Objekte, die sich der traditionellen Vorstellung von Design als Mittel zum Zweck widersetzen und stattdessen unterschiedliche Gesten, Haltungen, Handlungen, Funktionen und Bedeutungen sichtbar machen. Auf die oben zitierte, McLuhan zugeschriebene These aufbauend, begründet der Medientheoretiker Jean Baudrillard seine kritische Betrachtung der Massenmedien sowie der Haushaltsgeräte – und erkennt ein Verschwinden der Geste: „Bei der Betrachtung menschlicher Handlung wird man erst gewahr, wie sehr die Geste, die Mensch und Gerätschaft verbindet, zusehends verkümmert. Die Bedienung und Betreuung der Gegenstände […] beansprucht nur noch minimale Energie und wenig Kraftauffand. Zuweilen genügt ein leiser Druck oder ein flüchtiger Blick. Nirgends wird Spezielles verlangt, höchstens rascher Reflex. Fast wie in einer Werkstatt herrschen auch im Haushalt die gleichen eintönigen Bewegungen des Einschaltens, Aufdrehens, Abstellens und Ausschaltens vor.“ 19

Baudrillard analysiert hier, dass das Abstrakt-Werden der modernen Energieformen der Abstraktion der menschlichen Gebärden entspricht und, um die absolute Abstraktion des Energieflusses zu mildern, die Geste der Überwachung eingeschaltet wird.20 Seine Erkenntnis über die verkümmerte Geste der Dinge des technischen Fortschritts ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass zu dem Zeitpunkt, als er den Text im Jahr 1968 niederschrieb, der Alltag noch nicht von Computern dominiert wurde. Auch waren ihm die teilweise damit verbundenen heutigen Gesellschaftsprobleme (wie zum Beispiel Adipositas) nicht bekannt, als er äußerte: „Er [der Mensch] sucht und findet im Sport und in der körperlichen Betätigung der Freizeit zumindest die Möglichkeit eines kompen­ satorischen Ausgleichs.“ 21 Dieser verkümmerten Geste, von der Baudrillard schreibt, scheint sich das Label „Bless“ in seiner Arbeit „N° 41 Workout Computer“ (2012) anzunehmen (Abb. 5). Der Computer als Killer sämtlicher Gesten bei gleichzeitiger Multi-, wenn nicht OmniFunktionalität – einer Funktionalität, mit der wir unser ganzes Leben über eine Anzahl von Tasten oder auch nur über einen Touchscreen regeln – wird hier wieder zu einem Körper­einsatz fordernden Objekt: „Bless“ kombiniert den Computer mit einer Anzahl von Boxsäcken als Tastatur. Für jedes Zeichen gibt es einen Sandsack, der auf unterschiedlicher Höhe, einmal mit dem Bein oder Arm, ein andermal mit dem Fuß oder der Hand geschlagen, getreten, gestoßen oder gezogen werden kann. Die Anlage benötigt

18 Heiss, Desiree/Kaag, Ines: Bless-Service, 2013, (12.07.2013), S. 14. 19 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, Wien 1974, S. 64. 20 Vgl. ebd., S. 65. 21 Ebd.

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5 Bless, „N° 41 Workout ­Computer“, 2012

einen ganzen Raum – und der Benutzer muss sich die sportlichen Gesten des Kickboxens aneignen, um einen einfachen Text zu schreiben oder im Netz zu surfen. Abschließend soll dargestellt werden, wie Martino Gamper mit seinem erweiterten ­Designbegriff die oben referierte Beobachtung beziehungsweise Forderung von Lucius Burckhardt aufgreift und seine Objekte in ein unsichtbares Gesamtsystem stellt: Namentlich überführt er die Objekte in Gesten und Handlungen; sein Design dient performativen und kommunikativen Situationen. Mit seiner Arbeit „Total Trattoria“ (2008) entwickelte er eine Plattform für soziale Handlungen und Kommunikation in Form eines Abendessens, für das der Designer nicht nur die Objekte entwarf, sondern auch selbst kochte und sogar mitspeiste – und sich somit die Geste seiner Objekte aneignete (Abb.  6).22 Auf Einladung der „Aram Galerie“ (London) eröffnete er am 7. März 2008 die Ausstellung mit einem Essen, für das er den Koch- und Ablagebereich, die Tische und Stühle sowie die Teller, Gläser und Tischdekoration designt hatte: Die hufeisenförmig zusammengestellten 13 Tische unterschieden sich alle in Form, Größe und Material, lediglich die Tischbeine waren alle gleich gestaltet. Für die Oberfläche der Tische verwendete Gamper drei verschiedene Hölzer, die er miteinander ‚verflocht‘. Durch die polygonale Form konnten die Tische in den unterschiedlichsten Konstellationen zusammengesetzt werden, und auch die Gäste konnten sich in verschiedenen Abständen zu­einan­der setzen. Seine Stühle fügte Gamper dann aus zwölf Elementen in drei verschiedenen Holzarten zusammen, wobei er auf jede Vorzeichnung verzichtete und stattdessen den Entwurf in die Produktion verlagerte (dieses Vorgehen entspricht dem der mittelalterlichen Handwerksgilden, die in ihrer vorindustriellen Arbeitsweise noch

22 Vgl. Gamper, Martino: Total Trattoria Handbook, London 2008.

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6  Martino Gamper, „Total Trattoria“, 2008

keine Arbeitsteilung zwischen Entwurf und Ausführung kannten)23. Die Methode der Improvisation im Herstellungsprozess führte zu unterschiedlichen Variationen eines Stuhls – dies erscheint wie die Offenlegung des Designprozesses selbst, da normalerweise bei der Suche nach der richtigen Form die einzelnen Teile abwechselnd zusammengesetzt werden, bis das Ergebnis überzeugt – was vom Betrachter normalerweise jedoch nicht zurückverfolgt werden kann. Bei Gamper indes ist dies nun möglich, da aus jedem Versuch, aus einer Anzahl von Elementen einen Stuhl zu machen, auch tatsächlich ein Stuhl geworden ist. Die Wasserkannen und Vasen setzte Gamper aus altbekannten Formen z­ usammen, nämlich aus Plastikflaschen, die er mit einem Henkel versah; für die Blumenvasen schnitt er lediglich den Flaschenhals ab. Beide Formen ließ er dann jedoch aus mund­geblasenem Glas herstellen. Sein Besteck bündelte er – wie Schlüssel an einem Schlüssel­anhänger – an einem großen Stahlring, wofür er Löcher in die Besteckenden bohrte. Dies hatte den Vorteil, dass man das Besteck nicht auf den Tisch legen musste, sondern es am Ring weitergereicht werden konnte, sodass sich jeder sein Besteck selbst entnehmen konnte (solche Inszenierungen erinnern freilich an die Performances von Künstlern wie Rirkrit 23 Vgl. Kimpel, Dieter/Suckale, Robert: Wie entsteht die gotische Kathedrale, in: Busch, Werner (Hg.): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, München 1997, S. 75–79.

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Tiravanija, der mobile Küchen in den Ausstellungsinstitutionen errichtete und dann für sein Publikum kochte)24. Solcherart werden Situationen der gesellschaftlichen Kommunikation und Reflexion geschaffen. In der Kunst wurden die damit zusammenhängende Geste und die Handlung Bestanteil des Kunstbegriffs selbst; Künstler agieren performativ, beteiligen das Publikum und entwerfen Plattformen für Kommunikations- und Handlungsabläufe. Martino Gamper scheint sich dieses Verfahren vollends zu eigen gemacht zu haben, wenn er die eigeschriebenen Gesten und Handlungen seiner Objekte in der ganzen Komplexität von Entwurf, Produktion und Rezeption bearbeitet. Der vorliegende Aufsatz zeigt, dass das Design der Dinge nicht nur der Anschauung dient, sondern dass über die eingeschriebenen Gesten Handlungen und Haltungen verknüpft sind, die den Benutzer beeinflussen, jedoch oft von ihm nicht wahrgenommen werden. Diese Gesten sind durch Störfaktoren im Design erkennbar, vor allem, wenn das Design seine Funktionsfähigkeit oder seine eindeutige Funktionalität verliert. Dennoch ist der Benutzer den eingeschriebenen Gesten der Objekte nicht einfach nur ausgeliefert, sondern kann eigene individuelle Handlungen anknüpfen, womit vor allem jüngere Designerinnen und Designer spielen. Und selbst bei der heutzutage vielfach beobachteten Verkümmerung der Gesten findet Gestaltung Wege eines erneuten Körpereinsatzes. Vor allem kann jedoch erneut herausgestellt werden, dass die Designtheorie in den Dingen nicht nur Objekte der Anschauung, der Funktion oder der Handlung sieht, sondern die Dinge und ihre Gesten zunehmend in einem komplexen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Gesamtsystem wahrnimmt.

24 Vgl. Rirkrit Tiravanija, Supermarket, Ausst.-Kat. Zürich, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich 1998.

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HANTIEREN MIT ARTEFAKTEN IN MITTELALTER, FRÜHER NEUZEIT UND MODERNE

„In der Form der Dinge sind Vorschriften und Signale eingeschlossen, die denjenigen, der sie benutzt, zu richtigen motorischen Bewegungen und Arbeitsweisen zwingt […].“ Ragnar Pedersen1 „Die Hand weiß, wie sie ein edles Glas zu halten hat. Man hat das oft genug gesehen – auf alten Bildern oder im Film. Aber die Geste ist dem Ding auch als unsichtbares Bild aufgeprägt.“ Gert Selle, Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, 19972

„Welcher Zuckerpäckchenhersteller hätte schon ahnen können, daß man es sich zur Gewohnheit machen würde, das Päckchen hin und her zu schütteln, um den Inhalt nach unten zu zentrifugieren, damit man das obere Ende bequemer aufreißen konnte? Der Mangel ­einer ­simplen Neuheit auf dem Gebiet der portionierten Verpackung wurde (möglicherweise ­angeregt durch die Oszillation zum Löschen eines Streichholzes, nachdem man die Zigarette damit ­angezündet hatte) durch ­gestische Adaption bemäntelt und gemildert und bekam einen Sinn; ­Bequemlichkeit hatte ein ­Ballett gezeitigt; und auf das frühmorgendliche Geräusch der ­geschüttelten ­Zuckerpäckchen, das von den nahen Sitzecken herübergeflattert kommt, würde ich nur ungern verzichten wollen […] Eine schlichte technische Erfindung […] wurde von einer stummen Folklore von Verhaltens­neuerungen umrankt: unbemerkt, unpatentiert, kommentar- und ­gedankenlos übernommen und verfeinert.“ Nicholson Baker, Rolltreppe. Oder die Herkunft der Dinge3

1 Zit. nach Bringéus, Nils-Arvid: Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 29 (= N. F. 14), [Berlin/DDR] 1986, S. 159–174, S. 166f. 2 Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 77. 3 Baker, Nicholson: Rolltreppe. Oder die Herkunft der Dinge. Deutsch von Eike Schönfeld (= Rororo, 13300), 2. Aufl., Reinbek 2000 (Erstaufl. 1993, Orig.-Ausg. unter dem Titel The Mezzanine, New York 1988), S. 156.

„Purgat et ornat.“ Die zwei Seiten des Kamms     | 133

Julia Saviello

„Purgat et ornat.“ Die zwei Seiten des Kamms

„Purgat et ornat“, so lautet das Lemma zum neunten Emblem in Roemer Visschers ­Sammlung von Sinnepoppen (Sinnspiele), die 1614 in Amsterdam erschien (Abb. 1). In Verbindung mit dem Kamm, den der holländische Dichter zum Protagonisten des darunter liegenden Bildfeldes bestimmte, verweist der Wahlspruch auf den zweifachen Nutzen des Kämmens, nämlich das Haar zu frisieren und es zugleich von Parasiten wie Flöhen und Läusen zu befreien, kurz: den Schopf zu reinigen (lateinisch: purgare) und zu schmücken (ornare).1 Bei dem schlichten Exemplar in Visschers Emblembuch zeigt sich diese doppelte Funktion in den unterschiedlich starken Zinken an der Ober- und Unterseite, die von schmaleren Wangen eingefasst und durch ein lang gezogenes Mittelfeld miteinander verbunden werden – ein Aufbau, der bis in die Bronzezeit zurückverfolgt werden kann und der weltweit Verbreitung fand.2

1  Roemer Visscher, Sinnepoppen, Amsterdam 1614 1 Vgl. Schäfer, Michael: (All)tägliche Toilette. Vom Kamm zum Zahnstocher. Körperpflege im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Concilium medii aevi 12, 2009, S. 225–250, hier S. 228. 2 Winter, Ferdinand (Hg.): Die Kämme aller Zeiten von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Eine Sammlung von Abbildungen mit erläuterndem Text, Leipzig 1906, S. 3; Cruse, Jen: The Comb. Its History and Development, London 2007, S. 15, S. 18f. und S. 73–145.

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Gegenstand von Visschers Überlegungen ist jedoch weniger die tatsächliche Verwendung des Toilettenutensils beziehungsweise seine daraus ableitbare formale Gestaltung, als vielmehr der symbolische Wert des Kammgebrauchs. Dies zeigt sich in der ungewöhnlichen Darstellung des Instruments im Bild: Isoliert schwebt der Doppelkamm über einer hügeligen, baumreichen Landschaft und scheint weit entfernt von s­einem eigentlichen ‚Revier‘ – dem Schopf. Der Sinn dieser überraschenden Konstellation wird erst im Epigramm links der Abbildung aufgedeckt, wo es heißt: „Der hohe Beamte eines Landes ist einem Kamm nicht unähnlich, da er das Land mit rechter Justiz und scharfem Auge von schädlichen Schurken befreit, und seinen Untertanen gute Gesetze und Erlässe gibt.“3 Visscher imaginiert den „hohen Beamten“ als Kamm, weil auch auf ihn die doppelte Funktion des ‚purgare‘ und ‚ornare‘ zutrifft. Einerseits wird so der mit dem Haar verbundene Gegensatz von Natur und Kultur, von wild und frei fallenden Strähnen und deren Bändigung in der ‚kammbedingten‘ Ordnung der Frisur4 thematisiert und mit der gesellschaftlichen Funktion einer Amtsperson verglichen. Andererseits rückt der Kamm als ein Gegenstand in den Fokus, der erst im Gebrauch, das heißt als ein Instrument oder Werkzeug seine Aufgabe als ‚Ordnungshüter‘ erfüllen kann. Wie der „hohe Beamte“ den ihn lenkenden Herrscher braucht, so benötigt der Kamm ebenfalls eine äußere Kraft. In seiner Rolle als Bindeglied zwischen der impulsgebenden Hand und dem bis unter die Haut gehenden ‚Resonanzkörper‘ des Haares eröffnet er ein semantisches Feld, das über hygienische und kosmetische Belange weit hinausgeht. Sich zu kämmen bedeutet nicht nur, seinen Arm gleichmäßig auf- und abwärts zu bewegen und auf diese Weise das eigene Haar zu säubern und zu ordnen. Im Gegenteil, die Verwendung des Kamms kann mit Vilém Flusser als eine Geste verstanden werden, die sich nicht gänzlich aus kausalen Zusammenhängen heraus erklären lässt, der zugleich eine symbolische Bedeutung zukommt – vergleichbar der Geste des Rasierens, die nach Flusser durch die Frei­legung der Gesichtshaut die Differenz zwischen Mensch und Welt betont.5 Die künstlerische Rezeption und Reflexion des bedeutsamen Zusammenspiels von Kamm und Mensch steht im vorliegenden Versuch zur Diskussion. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, so die Ausgangsthese, war das Kämmen keinesfalls eine nur positiv konnotierte Geste. Gerade die Verwendung des Kamms aus kosmetischen Gründen – zum Herausputzen der eigenen Person – konnte als eine übertriebene Eitelkeit 3 Übersetzung der Verf. nach Visscher, Roemer: Sinnepoppen, hg. von Leendert Brummel, Den Haag 1949, S. 9: „Een hooch Officier van een landt is een kamme niet onghelijck, suyverende het landt van’t schadelijck gheboeste, met goede justitie en scharp toe sein; en versiende zijn ondersaten met goede wetten en willekeuren.“ – Vgl. Baart, Jan M.: Kammen/Combs, in: Van Dongen, Alexandra (Hg.): One Man’s Trash Is Another Man’s Treasure. The Metamorphosis of the European Utensil in the New World, Rotterdam 1995, S. 174–187, hier S. 180. 4 Vgl. Janecke, Christian: Einleitung – Haar tragen, in: Janecke, Christian (Hg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Köln 2004, S. 3–46, hier S. 15–24; Bromberger, Christian: Trichologiques. Une anthropologie des cheveux et des poils, Montrouge 2010, S. 182–194. 5 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1991, S. 7–21, S.183–192.

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(Vanitas) bewertet werden, und auch die Wollust (Luxuria) lauerte für viele Interpreten im Dickicht des Haares. Die äußerst vielfältige Ikonografie des Kammgebrauchs und die prachtvollen, vor allem aus Elfenbein gearbeiteten Kämme des 14. bis 16. Jahrhunderts vermitteln ein ambivalentes Bild von der Geste des Kämmens, und dies vor allem im Vergleich mit jenen Kämmen, die während des Mittelalters in der Liturgie Verwendung fanden beziehungsweise eine symbolische Aufwertung erfuhren. „Der Kamm [...]“, mit diesen Worten formulierte der französische Bischof Ivo von ­Chartres im Jahr 1091 seinen Dank an einen nicht näher bekannten Gérard für das Geschenk eines schneeweißen Elfenbeinkamms, „[…] gefällt mir vor allem aufgrund der ihm innewohnenden schönen Symbolik. Man kann nämlich die Unordnung des Haares mit den unordentlichen Sitten des Volkes vergleichen und ich glaube, dass Du mir mit weiser Voraussicht dieses kleine Geschenk gemacht hast, um meine Wachsamkeit zu wecken, auf dass ich die unordentlichen Sitten des Volkes reformieren und es mit Moderation und Diskretion an die Ordnung, die es befolgen soll, erinnern möge.“6

Ende des 11. Jahrhunderts, als Ivo von Chartres diese Zeilen niederschrieb, war das Verschenken von Kämmen unter Geistlichen durchaus nichts Ungewöhnliches. Ungefähr zur selben Zeit sandte der Bischof von Speyer, Johann I., sechs Kämme an die Benediktinerabtei in Sinsheim,7 und bereits um 840 hatte Loup de Ferrière, ein Vertrauter Karls des Kahlen, dem Bischof von Poitiers einen Elfenbeinkamm überlassen, damit dieser, wie der Abt in einem Begleitschreiben notierte, bei der Benutzung des Objekts an ihn denke.8 Wohl ebenfalls als Geschenk dürfte der Kamm Karls des Kahlen in den Domschatz von Pavia gelangt sein. Mit den Tierkreiszeichen Schütze und Steinbock memorisiert der mit Goldblech und Buntglas verzierte Doppelkamm die zwischen November 875 und Januar 876 erfolgte Italienreise Karls II. beziehungsweise seine Inthronisation zum Römischen Kaiser am 25. Dezember 875 (Abb. 2); ob und in welcher Weise der Kamm

6 Übersetzung der Verf. nach Yves de Chartres, Correspondance, hg. von Dom Jean Leclercq, Paris 1949, Nr. 6, S. 18–23, hier S. 18: „Instrumentum etiam nivei candoris ad ordinandos capillos in idipsum charitatis signum transmisisti. Quod cum mihi placeat in suo genere quantum hujusmodi placere debent propter exteriorem pulchritudinem, vehementius tamen placet propter pulchri sacramenti interiorem celsitudinem. Nam cum in capillis inordinati mores, vel inordinati populi quadam comparatione possint intelligi, credo prudentiam tuam munusculo hoc quasi quodam monitorio vigilantiam meam excitare, ut studeam inordinatos populorum mores diversis exhortationum modis componere atque habito discretionis moderamine ad debitum ordinem revocare.“ – Für den Hinweis auf diese Quelle und auf den Brief Loup de Ferrières‘ (siehe Anm. 8) danke ich Philippe Cordez herzlich. 7 Bischoff, Bernhard: Mittelalterliche Schatzverzeichnisse von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, München 1967, Nr. 135, S. 135f., hier S. 136. – Vgl. Siede, Irmgard: Die Ausstattung der Liturgie. Bücher, Geräte und Textilien, in: Reudenbach, Bruno (Hg.): Karolingische und ottonische Kunst, Darmstadt 2009, S. 435–495, hier S. 454. 8 Loup de Ferrières, Correspondence, hg. von Léon Levillain, 2 Bde., Paris 1927–35, Bd. 1, Nr. 23, S. 114f.

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2  Frankreich, Kamm Karls des Kahlen, um 875

bei der Krönung des (kahlköpfigen?) Karolingers zum Einsatz kam, ist nicht bekannt.9 Vier weitere kostbare, teils mit Halbedelsteinen verzierte Kämme aus Elfenbein sind außerdem für die Kaiser Karl den Großen, Heinrich I. und Heinrich II. sowie dessen Gattin Kaiserin Kunigunde überliefert; auch diese Exemplare gelangten später in die Schatzkammern von Kathedralen und Kirchen.10 Die zahlenmäßig größte Gruppe innerhalb der sogenannten liturgischen Kämme bilden jedoch Exemplare, die Bischöfen und Heiligen gewidmet sind, wie etwa der mit einer filigranen Kreuzigungsdarstellung verzierte Kamm des Hl. Heribert, des zwischen 999 und 1021 amtierenden Erzbischofs von   9 Vgl. Williamson, Paul: Medieval Ivory Carvings. Early Christian to Romanesque, London 2010, S. 176–179; Peroni, Adriano: Un pettine per il vescovo di Pavia, in: Bollettino della società pavese di storia patria 107, 2007, S. 15–40. Zum Wahrheitsgehalt von Karls Beinamen: Lebe, Reinhard: War Karl der Kahle wirklich kahl? Über historische Beinamen, Berlin 1969, S. 38–41. 10 Swoboda, Franz: Die liturgischen Kämme, Tübingen 1963, Nr. 21, S. 84–87, Nr. 10, S. 59–61, Nr. 23, S. 89f. und Nr. 40, S. 117–120.

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Köln, oder der Kamm des Hl. Alban, der erst mehrere Jahrhunderte nach dem Tod des frühchristlichen Märtyrers von einer englischen Werkstatt geschaffen wurde.11 Die aufwendige Gestaltung vieler liturgischer Kämme und ihr guter Erhaltungs­ zustand legen nahe, dass die Objekte Wertgegenstände waren, die (wenn überhaupt) nur bei besonderen Anlässen zum Einsatz kamen.12 Eine solche Gelegenheit ergab sich zum Beispiel bei der Weihe eines Bischofs. Aber auch vor und während der Messe ­g riffen Bischöfe und Priester zum Kamm oder ließen sich kämmen, wie in verschiedenen theo­ logischen Traktaten überliefert ist.13 Dabei kam dem Kämmen in der Liturgie neben dem realen hygienischen Nutzen insbesondere auch eine symbolische Bedeutung zu: Sowohl im Sakramentar des französischen Abts Ratoldus (10. Jahrhundert) als auch in den Gemma animae des Honorius von Autun (12. Jahrhundert) wird der Gebrauch von Kämmen als eine rituelle, den Körper ebenso wie den Geist umfassende Reinigung beschrieben.14 In seinem Rationale divinorum officiorum vom Ende des 13. Jahrhunderts begründete Durandus von Mende diese säubernde Funktion des Kamms mit dem Hinweis, dass der Kopf als Sitz von Verstand und Willenskraft das wichtigste Glied unter den Teilen des Körpers sei und die durch den Kamm erzielte Ordnung und Glättung des Haares daher mit der Verdrängung überflüssiger Gedanken verglichen, ja das eine durch das andere erzielt werden könne.15 Indem Ivo von Chartres seine Funktion als geistiges Oberhaupt am Beispiel eines Kamms erläuterte, bezog er den gesellschaftlichen Erziehungsanspruch der Kirche auf die ihm vertraute Praxis des Kämmens im Rahmen der Messe. Wie – unter eher weltlichen Prämissen – später auch in Visschers Embelm, avancierte der Kamm in seinem Dankesbrief vom realen Instrument der Hygiene zum sinnbildlichen ‚Ordnungsstifter‘. Demselben, in seiner Form konstant bleibenden, sich lediglich in seinem figürlichen Schmuck verändernden Doppelkamm wurde im profanen Bereich jedoch auch nachgesagt, dass er bei übermäßigem oder gar falschem Gebrauch zu einer moralischen ‚Unordnung‘ führen könne. Hier zeigt sich deutlich die grundsätzliche Ambivalenz des Kammgebrauchs, eine Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit, die zunehmend auch künstlerisch reflektiert wurde, wie zahlreiche Kämme und Darstellungen des Kämmens vom 14. bis 16. Jahrhundert belegen. In dem zwischen 1373 und 1382 für Ludwig I. von Anjou geschaffenen Wandteppich, der in 84 Bildfeldern die Apokalypse des Johannes festhält, erscheint die Hure Babylon als eine schöne Frau mit langen blonden Haaren. Am Wasser sitzend, frisiert sie ihren Schopf mit einem schlichten Doppelkamm und betrachtet sich dabei selbstverliebt in 11 12 13 14 15

Vgl. Siede 2009 (wie Anm. 7), S. 492; Williamson 2010 (wie Anm. 9), S. 388f. Siede 2009 (wie Anm. 7), S. 454. Vgl. Swoboda 1963 (wie Anm. 10), S. 17–20; Peroni 2007 (wie Anm. 9), S. 26f. Vgl. Swoboda 1963 (wie Anm. 10), S. 15–17. Duranti, Guillelmi: Rationale divinorum officiorum, hg. von Anselme Davril, 3 Bde., Turnhout 1995–2000, Bd. 1, Buch 4, Kap. 3, 1–3, S. 259f.

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3  Robert Poisson nach Entwürfen von Jan Bondol, Die Hure Babylon (Detail), 1373–82

einem ovalen Handspiegel (Abb. 3). Nicht zur meditativen Einstimmung und privaten Andachtsübung kommt das Toilettenutensil bei ihr zum Einsatz, sondern umgekehrt als ein Instrument, das Eitelkeit und Wollust zu schüren vermag – zwei Eigenschaften, die in der Offenbarung eng mit der „Mutter der Hurerei und aller Gräuel auf Erden“ (Off. 17, 5) verbunden sind.16 Auch in anderen Kammszenen leiten Vanitas und Luxuria die Hand der Kamm­ benutzer. Ein Holzschnitt für die deutsche Übersetzung von Geoffroi de La Tour Landrys Livre pour l’enseignement de ses filles (1371–73) etwa, der Albrecht Dürer zugeschrieben wird, zeigt mahnend jenen Moment, in dem eine sich ausgiebig kämmende Frau im ­Spiegel plötzlich das Gesäß des Teufels erblickt und, wie dem kurzen Text darunter zu entnehmen ist, darüber schwer erkrankt.17 In der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Kirche San Giorgio di Campochiesa in der ligurischen Kleinstadt Albenga (bei Savona) findet diese Geschichte gleichsam ihre Fortsetzung; hier malträtieren zwei teuflische Wesen als Vertreter der Wollust eine eitle, bereits der Hölle verfallene Frau mit einem Kamm und halten ihr dabei buchstäblich einen Spiegel vor.18 Auch die diesem 16 Amblard, Paule (Hg.): L’Apocalypse illustrée par la tapisserie d’A ngers, Paris 2010, S. 327. Zum Haar der Hure Babylon: Milliken, Roberta: Ambiguous Locks. An Iconology of Hair in Medieval Art and Literature, Jefferson, NC 2012, S. 116–118. 17 Vgl. Saviello, Julia: Instrumente der Ordnung – Objekte der Verführung. Elfenbeinkämme als Bildträger im 14. und 15. Jahrhundert, in: Cordez, Philippe/Krüger, Matthias (Hg.): Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012, S. 49–65, hier S. 52f. 18 Algeri, Giuliana/De Floriani, Anna: La pittura in Liguria. Il Quattrocento, Genua 1991, S. 197. Vgl. auch Wolfthal, Diane: The Sexuality of the Medieval Comb, in: Gertsman, Elina/Stevenson, Jill (Hg.): Thresholds of Medieval Visual Culture. Liminal Spaces, Woodbridge 2012, S. 176–194, hier S. 190f.

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Laster nahestehenden Sirenen – Mischwesen, die zunächst allein mit ihrem Gesang, später jedoch vermehrt mit ihrem wunderschönen Haar die Schiffe der Seefahrer zum Kentern brachten – zählten ab dem 12. Jahrhundert einen Kamm zu ihren gängigen Attributen.19 Noch Heinrich Heines Loreley, die auf einem Schieferfelsen oberhalb des Rheins sitzt und dort mit einem goldenen Kamm ihr ebenfalls goldenes Haar kämmt, führt die sie passierenden Bootsleute durch die betörende Wirkung ihrer Kammgeste ins Verderben.20 Die Konsequenzen, die aus dieser Laszivität des Kämmens gezogen wurden, sind in der frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur beschrieben, in der das Kämmen – teils mit explizitem Verweis auf seine verführerische Kraft – ausdrücklich auf den privaten Bereich beschränkt wird. Weder in aller Öffentlichkeit noch an einem von fremden Personen einsehbaren Fenster – so legte der schon zitierte La Tour Landry seinen drei Töchtern ans Herz – sollte man sich kämmen, denn eben dies ziehe begierdevolle Blicke auf sich. Als abschreckendes Beispiel führt der Autor diesbezüglich Bathseba an, die er nicht, wie in der Bibel dargestellt, als das passive Opfer der Begierde König Davids betrachtet, sondern zur vorsätzlichen Verführerin und Ehebrecherin umdeutet – eben weil sie sich vor seinen Augen gekämmt habe.21 Allgemeiner und ohne erzieherischen Unterton wird der Gebrauch des Kamms zudem in Olivier de La Marches Le Parement et triumphe des dames (um 1493) sowie im Erziehungsbuch des italienischen Geistlichen Giovanni della Casa Il Galateo ovvero de’ costumi (Venedig 1558) als ein Teil der täglichen Körperpflege charakterisiert, der allein im Privaten vollzogen werden dürfe.22 Wohl gerade wegen seiner erotischen Implikationen kam dem Kamm eine zentrale Bedeutung innerhalb des Liebeswerbens zu. Schon Andreas Capellanus hatte das Instrument um 1180 als ein Geschenk beschrieben, das eine Frau annehmen dürfe, ohne wegen seines übertriebenen materiellen Wertes zu einer ‚unkeuschen Gegengabe‘ gezwungen zu sein oder gar in die Rolle einer Kurtisane gedrängt zu werden.23 Edle Damen, so ist auch in Eustache Deschamps satirischem Miroir de mariage aus dem späten 14. Jahrhun19 Vgl. Leclercq-Marx, Jacqueline: La Sirène dans la pensée et dans l’art de l’A ntiquité et du Moyen Âge. Du mythe païen au symbole chrétien, Brüssel 1997, S. 41–68. Zum Haar der Sirenen außerdem: Milliken 2012 (wie Anm. 16), S. 123–133. 20 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, 16 Bde., Hamburg 1975–97, Bd. 1.1, S. 206–208. 21 Montaiglon, Anatole de (Hg.): Le Livre du chevalier de la Tour Landry pour l’enseignement de ses filles, Paris 1854, S. 154. – Vgl. Gontero, Valérie: Cointises et Atours. La chevelure dans ‚Le Livre du Chevalier de la Tour Landry pour l’enseignement de ses filles‘, in: Connochie-Bourgne, Chantal (Hg.): La chevelure dans la littérature et l’art du Moyen Âge, Aix-en-Provence 2004, S. 181–193. 22 Vgl. Blake, Hugo: Everyday Objects, in: Ajmar-Wollheim, Marta/Dennis, Flora (Hg.): At Home in Renaissance Italy, Ausst.-Kat. London, Victoria and Albert Museum, London 2006, S 332–341, hier S. 340. – Zu ‚Le triumphe des dames‘ siehe Wolfthal, Diane: In and Out of the Marital Bed. Seeing Sex in Renaissance Europe, New Haven u.a. 2010, S. 53. 23 Capellanus, Andreas: Über die Liebe. De amore. Ein Lehrbuch des Mittelalters über Sexualität, Erotik und die Beziehungen der Geschlechter, hg. von Fidel Rädle, Stuttgart 2006, S. 199f. – Vgl. Camille, Michael: The Medieval Art of Love. Objects and Subjects of Desire, London 1998, S. 54–61.

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4  Venedig (?), Fragmente eines Kamms mit Sturm auf die ­Liebesburg und Frau Minne als Teil eines Bucheinbands, Ende 14. Jahrhundert

dert nachzulesen, ließen sich gerne mit Kämmen sowie Spiegeln und entsprechenden Etuis aus Elfenbein beschenken.24 Aus dem 14. und 15. Jahrhundert haben sich zahlreiche Elfenbeinkämme erhalten, die in ihrer figürlichen Gestaltung den Einsatz als amouröse Geschenke reflektieren – in einem Fall sogar so unmittelbar, dass auf dem langrechteckigen Mittelfeld des Objekts, ähnlich einem Bild im Bild, die Übergabe eines Kamms dargestellt ist.25 Aber auch weniger ‚kammspezifische‘ Szenen und Figuren, die dem ­reichen Bildschatz der höfischen Minne entnommen sind, zieren die kostbaren Gegenstände. Das ikonografische Spektrum reicht dabei von der schrittweisen An­­ näherung des Paares, gemäß den Regeln der hohen Minne, bis hin zur turbulenten Jagd auf die Geliebte beziehungsweise auf eine für diese symbolisch einstehende Hirschkuh. Ein Minnekamm, der einer venezianischen Elfenbeinschnitzerei zugeschrieben und auf das späte 14. Jahrhundert datiert wird, stellt ein äußerst kurioses Exemplar dieser Objektgruppe dar. Seiner Zinken beraubt und vertikal in zwei Teile zersägt, schmückt er seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Frontispiz des bereits um 1190 nieder­ geschriebenen Roman d’Aspremont (Abb. 4).26 Auf der Vorderseite ist Frau Minne dargestellt – die besonders im deutschen Minnesang anzutreffende Personifikation der höfischen Liebe und gleichsam nordalpine Vertreterin Amors –,27 wie sie an zentraler Position auf einem Thron sitzt und zwei Rittern vor den Augen ihrer Begleiter, die mit

24 Eustache Deschamps, Œuvres complètes, hg. von Firmin Didot, 11 Bde., Paris 1878–1903, Bd. 1, S. 348. 25 Vgl. Saviello 2012 (wie Anm. 17), S. 54–58. – Auch ein Spiegelkästchen aus dem Walters Art Museum in Baltimore (ca. 1400, Elfenbein, 98 x 95 mm) veranschaulicht den Tausch eines Kamms zwischen Liebhaber und Geliebter. 26 Delcourt, Thierry (Hg.): La légende du roi Arthur, Ausst.-Kat. Paris, Bibliothèque nationale de France, Paris 2009, Kat.-Nr. 67, S. 168. 27 Camille 1998 (wie Anm. 23), S. 41.

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Pferden zwischen Bäumen warten, Helme mit großen Federn reicht. Die darunter angebrachte, ehemalige Rückseite des Mittelteils zeigt hingegen den mit unterschiedlichsten Gerätschaften und Waffen betriebenen Angriff auf die Liebesburg – als Sitz Frau Minnes oder Symbol der Geliebten und ihres Körpers gedacht –, dem die Verteidiger der Festung auf den Zinnen ebenfalls mit verschiedenen Mitteln trotzen.28 Der im Sturm auf die Liebesburg so plastisch (und drastisch) vor Augen geführte Wunsch, in die Privatsphäre der geliebten Dame vorzudringen, fand im Kamm gewisser­ maßen einen intimen Vermittler.29 Nicht nur bildlich wurde dabei auf den Kontext des Liebeswerbens angespielt, sondern teils auch durch explizite Botschaften, die etwa den Geschenkstatus des Objekts unterstrichen oder sich in Ich-Form an die Adressatin richteten – mit Versen wie „Aies de moy merci“ (Habe Mitleid mit mir) und „Aies de moy sovenance“ (Erinnere dich an mich), wovon zwei französische Holzkämme des 15. Jahrhunderts Aufschluss geben.30 Als Gegenstand der täglichen, jedoch im Privaten voll­ zogenen Toilette stand der Kamm für eine erste Form der Annäherung, denn schließlich durchfuhr er das schöne Haare der Geliebten, lange bevor dem Galan diese Gunst zuteil wurde. Dem edlen Verehrer blieb nur, wie zuweilen ebenfalls in bildlichen Kammdarstellungen vor Augen geführt wird, sich mehr oder weniger unerlaubt an einem kurzen Blick auf die Kammgeste zu ergötzen31 oder sich im Traum in die Gemächer der Ge­liebten zu begeben und dort der Ordnung des Haares mit dem Kamm beizuwohnen, wie beispielsweise der Protagonist der enigmatischen Bilderzählung Histoire d’amour sans paroles aus dem frühen 16. Jahrhundert.32 Eine weitere Art der ‚kammbedingten‘ Kontaktaufnahme veranschaulicht eine mit punziertem Leder überzogene Schatulle, an deren Schmalseite eine Dame mit Haube dargestellt ist, die ihrem Liebhaber mit einem großen Doppelkamm die langen Haare glättet.33 Diese ungewöhnliche Kammszene, in der sich der Akt des Kämmens auf zwei Figuren verteilt, könnte als eine Art Liebkosung verstanden werden. 34 Zugleich aber zeigt sich in ihr die dem Gebrauch des Kamms ebenfalls innewohnende Funktion der Bändigung, die neben dem Schopf auf metaphorischer Ebene auch die Leidenschaften 28 Zu dieser Ikonografie: Glanz, Katharina A.: De arte honeste amandi. Studien zur Ikonographie der höfischen Liebe, Frankfurt am Main 2005, S. 276–279 und S. 300–307. 29 Vgl. Wolfthal 2012 (wie Anm. 18), S. 179–181. 30 Frankreich, Klappbarer Kamm mit Inschrift „Aies de moy merci“, um 1500, Buchsbaumholz, Maße unbekannt. Paris, Musée de Cluny/Musée National du Moyen Âge, Inv.-Nr. CL21284B240. – Frank­reich, Kamm mit Inschrift „Aies de moy sovenance“, um 1500, Buchsbaumholz und Elfenbein, 14,3 × 18,8 cm. Paris, Musée de Cluny/Musée National du Moyen Âge, Inv.-Nr. Cl. 21278. 31 Lancelot du Lac, 14. Jahrhundert. Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. 122, Fol. 107. – Vgl. Wolfthal 2012 (wie Anm. 18), S. 183–185. 32 Stirnemann, Patricia/Zink, Michel (Hg.): Das Buch der Liebenden – Histoire d’amour sans paroles. Ms. 388 du Musée Condé à Chantilly, 2 Bde., Stuttgart 2005, Bd. 1, Fol. 3r, Bd. 2, S. 21f. 33 Frankreich, Kästchen mit Liebespaaren und Maria mit Kind, 14. Jahrhundert, Wallnussholz, punziertes Leder mit Farbresten und Vergoldungen, Kupfer- und Eisenbeschläge, 11 × 21,1 × 17,8 cm. New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 41.100.194. 34 Wolftahl 2012 (wie Anm. 18), S. 187.

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5  Pesaro, Teller mit ­A llegorie der Keuschheit (Detail), um 1476

erfassen kann. Dieser ‚zähmende‘ Einsatz des Instruments bildet gewissermaßen die Gegenseite zu der beschriebenen Deutung des Kämmens als Gestus von Vanitas und Luxuria, der verführt und eine mittelbare Berührung zwischen den Liebenden evoziert. Künstlerisch aufgegriffen ist sie – jedoch unter anderen Vorzeichen – etwa auch im Bild des von einer Jungfrau gekämmten Einhorns. Seit seiner Nennung in dem frühchristlichen Naturhandbuch Physiologus galt das Fabelwesen als Symboltier der Keuschheit, das sich nur von einer Jungfrau berühren und zähmen ließ. Eben diese Bändigung erfolgt in einem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Fresko aus Viterbo sowie auf einem Majolika-­Teller aus der Mitgift der Beatrix von Aragón (der Gattin des ungarischen Königs Matthias Corvinus) durch die grobe Seite eines Doppelkamms. Dieser fungiert hier als Substitut der Hand und Verlängerung des Arms der keuschen Dame im Akt der Zähmung des Einhorns beziehungsweise seiner Mähne (Abb. 5). 35 Im Gegensatz zur Vereinnahmung des Kamms durch so lasterhafte Figuren wie Sirenen wird hier sein Image als reinigendes und reines Objekt (wie es ihm im liturgischen Bereich zukam) gewissermaßen rehabilitiert. Eine Reihe von Kämmen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, deren Mittel­ felder biblische Szenen tragen, können vor dem Hintergrund der ‚zügelnden‘ Seite des Kämmens sowie mit Blick auf La Tour Landrys väterlichen Rat als Instrumente mit ermahnendem Charakter verstanden werden – gleichsam als Träger einer bildlichen Anweisung, wie der Kamm ‚richtig‘, oder besser: wir er gerade nicht zu gebrauchen sei. Mit Bathseba und Susanna sind sie zwei Figuren gewidmet, die eng mit dem funktionalen Kontext von Kämmen verbunden sind, wenn auch in eher abschreckender Weise. So führte Bathsebas unbedachter Umgang mit dem Kamm nicht nur zum Ehebruch, son-

35 Vadászi, Erzsébet: Peignes du gothique tardif dans notre collection, in: Ars decorativa 1, 1973, S.  61–70; Balla, Gabriella/Jékely, Zsombor (Hg.): The Dowry of Beatrice. Italian Maiolica Art and the Court of King Matthias, Ausst.-Kat. Budapest, Iparművészeti Múzeum, Budapest 2008, S. 34–37, Kat.-Nr. 3.1, S. 144–146 (Gabriella Balla).

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6  Nordfrankreich oder Flandern, Kamm mit ­Szenen aus der Susanna-Geschichte, um 1500

dern auch zum Tod ihres ersten Ehemanns Uria, den König David töten ließ, um sie zu heiraten.36 Susanna hingegen wurde das Bad – bei dem, wie etwa in Tintorettos Version, ein Kamm sicher nicht fehlte –37 beinahe selbst zum Verhängnis: Weil sie die beiden Ältesten Babylons zurückwies, die sie beim Baden beobachtet und bedrängt hatten, wurde sie von ihnen des Ehebruchs mit einem jüngeren Mann bezichtigt, ein Vorwurf, den sie nur mit Hilfe des Propheten Daniel von sich weisen konnte (Dan. 13, 1–64). Ein gut erhaltener, um 1500 entstandener Elfenbeinkamm aus dem Florentiner Museo del Bargello zeigt diese Erzählung in sechs Etappen und bringt dabei nicht nur die verhängnisvolle Badeszene ins Bild, sondern mit der Steinigung der beiden Männer auch den Ausgang der Geschichte (Abb. 6).38 Weder auf dem Susanna- noch auf dem Bathseba-Kamm erscheint ein Kamm als Badeutensil im Bereich des Brunnens und doch wird das Objekt im Gebrauch gleichsam selbst zum Teil der auf ihm dargestellten Ikonografie. Die Szenen der bebilderten Mittel­ felder treten in eine unmittelbare Verbindung zum reellen Gebrauchszusammenhang des Instruments, sodass die mit den beiden biblischen Frauenfiguren gegebenen, konträren Exempel von Keuschheit und Unkeuschheit als eine Mahnung verstanden werden können und so die erzieherische Funktion des Kamms unterstützen. „Es wäre gut, daß ein jeder Mensch, wann er des Morgens sein Haar kämmt, bey ­solchem leiblichen Kämmen eingedenck wäre, wie er sich inwendig zusäubern und auszu­ schmücken und sein Herze zu reinigen hätte von allen verkehrten Einfällen, deren er in seinem Gemühte gewahr werden möchte […],“ diese Moral zog der niederländische

36 Zu den Kämmen, die diesem Thema gewidmet sind: Saviello 2012 (wie Anm. 17), S. 58–60. 37 Tintoretto, Susanna im Bade, um 1555, Öl auf Leinwand, 146 x 193,6 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. GG 1530. 38 Vgl. Sebregondi, Ludovica/Parks, Tim (Hg.): Denaro e bellezza. I banchieri, Botticelli e il rogo delle vanità, Ausst.-Kat. Florenz, Palazzo Strozzi, Florenz 2011, Kat.-Nr. 7.7, S. 214 (Benedetta Chiesi).

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Sprichwortdichter und Emblembuchautor Jacob Cats in seinem Spiegel van den ouden ende nieuwen tijdt (’s-Gravenhage 1632) aus den kosmetischen Qualen einer schlecht gekämmten Frau.39 Die von Visscher auf den politischen Bereich übertragene doppelte Funktion des Kamms, sowohl zu reinigen als auch zu schmücken, fand demnach auch im Privaten ihre Berechtigung – und zwar in Bezug auf die Haare ebenso wie auf die mit diesen analogisierten Gedanken. Auch in der alltäglichen Toilette diente der Kamm als ein Instrument, das am Übergang von Innen und Außen den Unterschied zwischen Triebhaftigkeit und Reflexion hervorkehrte und, im Gebrauch der engen Zahnreihe, die mitunter schmerzhafte Ordnung des Haares – das Ziepen und Ziehen – mit erzieherischen Ansprüchen verband. In dieser Hinsicht entsprechen sich die liturgischen und profanen Kämme. Jedoch sind der Griff zum Kamm und die Geste des Kämmens im Bereich des Profanen auch mit gänzlich anderen Konnotationen behaftet: Gleich den Fingern des Geliebten können die groben, weit gestellten Zinken des Kamms das Haar liebkosen, wie ein Fangseil vermögen die gleichmäßig gekämmten Strähnen die Augen ihrer Betrachter zu fesseln. Wie der historische Rückblick auf Darstellungen des Kammgebrauchs und die figürlich gestalteten Objekte selbst gezeigt hat, ist das Kämmen eine Geste am Übergang von Natur und Kultur, die durch eine grundsätzliche Multivalenz besticht. Die historischen Kämme haben eben nicht nur eine, sondern zwei Seiten – und dies nicht nur in Bezug auf ihre unterschiedlichen Zahnreihen sowie ihre verschieden gestaltbaren Vorder- und Rückseiten, sondern auch und vor allem hinsichtlich ihrer Gebrauchszusammenhänge sowie der sich daraus ergebenden Konnotationen.

39 Übersetzung nach Cats, Jacob: Sinn-reicher Wercke und Gedichte Dritter Theil, Oder: Spiegel Der alten und neuen Zeit, Hamburg 1711, Kap. 126, S. 384. – Vgl. Cats, Jacob: Spiegel van den ouden ende nieuwen tijdt, ’s-Gravenhage 1632, Teil 3, S. 149: „Het waere goet dat een yder mensche (als hy des morgens sijn hooft kemt) even door het lichamelijck kemmen indachtich werde mede alsdan sich inwendelick te suyveren, ende sijn herte als te kemmen van alle verdraeyde en verwrongen invallen, die hy in sijn gemoet mochte gewaer geworden zijn […].“

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Antje Scherner

ScherzgefäSSe Zur Wechselwirkung von Gestaltung, Handhabung und ­Trinkregeln in der Frühen Neuzeit

„Die Welt-Kinder und Sauff-Helden heutiges Tags sauffen auß Schiffen, Windmühlen, Laternen, Sackpfeiffen, Schreibzeugen, Büchsen, Krombhörnern, Knebelspiessen, Weinwägen, auß Weintrauben, Aepffeln und Birnen; auß Cockelhanen, Affen, Pfaffen, München, Nonnen, Bauren, Bären, Löwen, Hirschen, Rossen, Straussen, Kautzen, Schweinen, Elendsfüssen, und andern ungewöhnlichen bißweilen ungeheuren Trinckgeschirren, die der Teuffel erdacht hat mit grossem Mißfallen Gottes im Himmel; gerad, als wann sich die Narren sonst nicht könten vollsauffen auß gebräuchlichen Gefässen.“ Michael Freud, Antimonomaxia oder Gewissensfragen…, 16821

Mit diesen Worten geißelte der Wismarer Pastor Michael Freud im Jahre 1682 die Trinksitten und vor allem die ungewöhnlichen Trinkgefäße seiner Zeitgenossen. Freuds Tirade ist für die Fragestellung dieses Beitrags von außerordentlicher Bedeutung. Zum einen zeigt sie, wie vielfältig figürliche Trinkgefäße und Scherzbecher in der ­Frühen Neuzeit gestaltet sein konnten. Nicht nur unbelebte Gegenstände wie Schiffe oder Windmühlen, sondern auch Früchte, Tiere und sogar Menschen dienten als Vorlage für ihre Formgebung.2 Zum andern belegt das Zitat, dass derart kurios geformte Gefäße zum „Vollsauffen“ tatsächlich auch verwendet wurden, es sich also nicht um reine Schau­ stücke handelte. Die folgenden Fallstudien zur Beeinflussung des Trinkvorgangs durch die Gestaltung des Gefäßes erscheinen somit legitim. Freud liefert an gleicher Stelle zudem den Beleg, dass solche Trinkbecher nicht allein aus schlichten Materialien ge­ fertigt waren. Vielmehr wurde „mit grossen Pocaln, silbern oder vergüldeten Scheuren,

1 Michael Freud: Antimonomaxia oder Gewissensfragen, was von Duellen, Außforderungen, Kugel-­ Wechseln, Balgen, Rauffen, Schlagen und dergleichen nach Gottes [...] Wort zu halten, Die ander Ed. gemehret und verbessert. Sampt Bedencken von Gesundheit-Trincken, Frankfurt am Main 1682, S. 460. 2 Zu figürlichen Trinkgefäßen und Scherzbechern siehe: Lehne, Barbara: Süddeutsche Tafelaufsätze vom Ende des 15. bis Anfang des 17. Jahrhunderts, München 1985, v. a. S. 24–29; Scherner, Antje: „Gestern bin ich voll gewest“. Alkohol und Trinkspiele in der Frühen Neuzeit, in: Die Faszination des Sammelns. Meisterwerke der Goldschmiedekunst aus der Sammlung Rudolf-August Oetker, hg. von Monika Bachtler, Dirk Syndram und Ulrike Weinhold, München 2011, S. 91–99.

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1 a, b  Christoph Friedel d. Ä., ­ Festbankett im Alten Schloss zu Stuttgart, 1579 und ­Ausschnitt mit Gefäßen in ­Tier-­ gestalt auf dem Buffet

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und allerhand wunderbaren seltzamen Instrumenten“3 gezecht. Gefäße aus Silber und vergoldetem Silber waren somit ebenso selbstverständlich in Gebrauch wie Becher aus weniger edlem Material. Die Absicherung der folgenden Überlegungen durch diese Quellenbelege ist wichtig, da kaum Berichte über die konkrete Verwendung von figürlichen Trink- und Scherzgefäßen überliefert sind. Zwar wissen wir aus Bildquellen, wie der Darstellung eines Festes im Stuttgarter Schloss von 1579, dass Gefäße in Tiergestalt ebenso auf repräsentativen Schaubuffets ausgestellt werden konnten wie Prunkpokale oder Becher (Abb.  1 a,  b). Wenig ist jedoch darüber bekannt, in welchem Zusammenhang tatsächlich aus ihnen getrunken wurde. Freud belegt mit seiner Kritik zwar, dass sie Verwendung fanden, nennt aber weder den gesellschaftlichen Rahmen noch das Trinkritual, in dem sie eine Rolle spielten. So soll im Folgenden unter der Vielzahl möglicher Zu-, Um- und Rund­ trünke bei geselligen Runden oder Festlichkeiten die am besten dokumentierte Trinksitte der Frühen Neuzeit, nämlich der Willkommenstrunk, in den Mittelpunkt rücken.4 Diese Eingrenzung scheint sinnvoll, da mindestens eines der untersuchten Gefäße, das Trinkgefäß in Gestalt eines Ochsen (Abb. 7), zeitweise als Zunftwillkomm diente.5 Ein solcher Willkomm wurde eintreffenden Gästen als Begrüßungstrunk gereicht. Der Neuling sah sich dabei zum ersten Mal mit dem Trinkgefäß konfrontiert. Er konnte dessen Besonderheiten und Tücken also nicht erproben, sondern war bei der Handhabung auf seinen Erfahrungsschatz angewiesen. Die These dieses Beitrags lautet, dass die Gestaltung frühneuzeitlicher Scherzgefäße unter anderem mit dem Erfahrungsschatz der Nutzer spielte, ja diesen gezielt außer Kraft setzte. Der Trinker konnte die von den gebräuchlichen Gefäßen wie Humpen, Römern, Krautstrünken oder Bechern herrührenden Handgriffe und Gebrauchs­ gesten zwar anwenden, war bisweilen aber gerade dann zum Scheitern verurteilt, wenn er dies tat. Im Prozess der Handhabung stellten figürliche Trinkgefäße und Scherzbecher unerwartete Hindernisse bereit und forderten somit das kreative Potential des Trinkers heraus, beziehungsweise provozierten ihn zu unkonventionellen Gebrauchsgesten oder Haltungen, wollte er am dargereichten Gefäß nicht scheitern. ‚Scheitern‘ hieß in ­d iesem Falle nicht, dass es unmöglich gewesen wäre, ein kurios gestaltetes Gefäß irgendwie 3 Freud 1682 (wie Anm. 1), S. 460. 4 Dokumentiert ist der Trinkritus bei Willkommenstrünken unter anderem durch Trinkbücher wie dem Ochsenfurter Kauzenbuch (Freeden, Max H. von: Das Ochsenfurter Kauzenbuch, Würzburg 1967) oder den Ambraser Trinkbüchern Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (Igálffy von Igály, Ludwig: Die Ambraser Trinkbücher Erzherzog Ferdinands II. von Tirol, Erster Band (1567–1577), Transkription und Dokumentation, Wien 2010). 5 Schütte, Rudolf-Alexander: Die Silberkammer der Landgrafen von Hessen-Kassel. Bestandskatalog der Goldschmiedearbeiten des 15. bis 18. Jahrhunderts in den Staatlichen Museen Kassel, mit Beiträgen von Thomas Richter, Wolfratshausen 2003, S. 178; Schommers, Annette: Ein Willkomm dem Meister. Der Zunftpokal als repräsentatives Zeugnis von Handwerkstradition und -gemeinschaft, in: Die Faszination des Sammelns. Meisterwerke der Goldschmiedekunst aus der Sammlung Rudolf-August Oetker, hg. von Monika Bachtler, Dirk Syndram und Ulrike Weinhold, München 2011, S. 43–49, hier S. 48.

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auszutrinken. ‚Scheitern‘ bedeutet in unserem Kontext vielmehr, dass der Trinker durch die Tücken des Bechers gezwungen wurde, frühneuzeitliche Trinkregeln zu verletzen. Um genau dieses Zusammenspiel von Gefäßform, Trinkhandlung und Trinkregel soll es im Folgenden gehen.

Alkoholkonsum und Trinkregeln in der Frühen Neuzeit Frühneuzeitlicher Alkoholkonsum unterschied sich in Quantität und Trinkritualen deutlich von den Trinksitten der heutigen Zeit, wie zahlreiche zeitgenössische Quellen be­­ legen.6 So zeichnen obrigkeitliche Verordnungen oder Predigten meist protestantischer Geistlicher aus dem 16. und 17. Jahrhundert das düstere Bild von übermäßigem Alkohol­ konsum breiter Bevölkerungsschichten. Martin Luther stellte im Jahr 1541 nüchtern fest: „Es ist leider [...] gantz Deutsch  land mit dem Sauffen  laster geplagt, Wir predigen, schreien und predigen da wider, Es hilfft leider wenig.“7 Exzessiver Alkoholkonsum war dabei nicht so sehr das Problem zurückgezogen trinkender, alkoholkranker Individuen, sondern kam vor allem bei Zusammenkünften, Festen und geselligen Runden aller Art zum Tragen. In solchen Runden entstand vielfach ein gemeinschaftsstiftender und agonaler Trinkzwang, der letztlich den Gesetzen eines archaischen Gelages folgte.8 Aus Reise­berichten, Trinkbüchern und Trinktraktaten, wie dem 1616 erschienenen satirischen Traktat Jus potandi oder Zechrecht, haben wir ein ungefähres Bild von Bräuchen und Regeln, nach denen in solchen Trinkrunden gezecht wurde. Nahezu alle Quellen stimmen hierbei in drei Punkten überein: 1) Es herrschte Trinkzwang, 2) Gefäße mussten auf ex ausgetrunken werden, und 3) Ziel gemeinschaftlichen Alkohol­trinkens war es, möglichst schnell einen Rausch zu bekommen. Beginnen wir mit dem Trinkzwang, der für den Willkommenstrunk auf fürstlichen Schlössern oder bei Zünften ebenso galt wie für die gesellige Runde von Studenten. Im Prinzip bestand er in der Verpflichtung des Gastes, den ihm dargereichten Trunk anzunehmen und das Gefäß auszutrinken. Erhob der Gastgeber oder der Teilnehmer einer Trinkrunde das Glas und trank einem Anwesenden zu, indem er den Trank der Gesundheit einer dritten Person widmete, so war der Angesprochene verpflichtet, sein Glas mit ihm zu leeren. Weigerte sich dieser aber „Bescheid zu tun“, wie es in zeitgenössischen 6 Zum frühneuzeitlichen Alkoholkonsum siehe vor allem: Bassermann-Jordan, Friedrich von: Geschichte des Weinbaus, 2., wesentlich erw. Aufl., Berlin 1923, Bd. 3, S. 1137–1186; Stolleis, Michael: „Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit“. Trinkverbote im 16. und 17. Jahrhundert, in: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich, hg. von Gisela Völger und Karin von Welck, mit einem Vorwort von René König, Reinbek bei Hamburg 1982, Bd. 1, S. 177–191; Stolleis, Michael: Nachwort zu Blasius Multibibus (Richard Brathwaite) ‚Jus Potandi oder Zechrecht‘, Nachdruck der deutschen Bearbeitung des ‚Jus Potandi‘ von Richard Brathwaite aus dem Jahre 1616, Frankfurt am Main 1985; Spode, Hasso: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993, S. 62–82. 7 Martin Luther, Wider Hans Worst. Abdruck der ersten Ausgabe (1541), Halle 1880, S. 57. 8 Spode 1993 (wie Anm. 6), S. 75.

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Quellen heißt, so galt dies als nicht nur als Beleidigung des Zutrinkers, sondern auch derjenigen Person, auf die getrunken wurde. Der eingangs zitierte Michael Freud bemerkte dazu: „Schlag einen Gesundheit-Trunck auß, du wirst für einen Beleydiger deiner Obrigkeit, und deines Freundes gehalten werden.“9 Durch das Zutrinken und den ausgegeben Trinkspruch auf das Wohl eines Abwesenden entstand somit ein moralischer Druck, der bei Weigerung oder Versagen des Mittrinkers zu dessen Ächtung, ja bisweilen sogar zu offenem Streit und Feindschaft führte.10 Frühneuzeitliche Quellen nennen dieses Prozedere – wie gesagt – das „Zutrinken“ und „Bescheid tun“, und es überrascht kaum, dass Verordnungen gerade das Zutrinken immer wieder unter Strafe stellten.11 Der springende Punkt bei dieser Trinksitte war nicht allein die Pflicht mitzutrinken, sondern vor allem, dies auf ex und in einem Zug zu tun. Die Folgen dieser Trinkregel fasste Freud in drastischen Worten zusammen: „Mit seltzamen Ceremonien, als stehend oder kniend, und in einem Soff [...] auff einen Trunck und Athem, ohn Schnauben und Bartwischen, wie eine Kuh; und solte der Bauch bersten, und, wie Judä dem Verräther Christi unsers Erlösers, geschehen, das Eingeweide außgeschüttet werden. [...] Wer solches nicht exactissime, ohne Mängel verrichtet, dem wird fürgeworffen, er meyne es nicht von Herzen mit der Person, auff welcher Gesundheit getruncken wird.“12

Interessant sind daher die Strafen, die verhängt wurden, wenn jemand scheiterte, also absetzen oder das Trinken unterbrechen musste. Das Trinkbuch von Schloss Ambras beispielsweise schrieb 1567 in der Präambel vor, dass „ain yeder so In gemelt schloß Ambraß kombt ain glaß wie ain vässlein gestalt mit vier geschmeltzten raiflen mit wein In ainem trunkh aus trinckhen soll und seinen namen zuer gedechtnus In dises buech schreiben, welcher aber solches in ainem trunkh nit endet sonder absetzet, dem soll es widerumb voll eingeschenkt werden auch [soll er] aus dem schloß nit weichen bis er solchen trunkh wie obgemelt vollendet hat.“13

Das Scheitern beim Austrinken des Willkomms wurde in Schloss Ambras demnach mit Nachschenken bestraft (Abb. 2). Der Gast sollte das Schloss erst dann verlassen, wenn   9 Freud 1682 (wie Anm. 1), S. 505. 10 Harsdörffer, Philipp: Vollständig vermehrtes Trincir-Buch von Tafeldecken, Trinciren, Zeitigung der Mundkoste, Schauessen und Schaugerichten, benebens XXIV Gast- oder Tischfragen, Nürnberg 1652, S. 278: „Wann nun der andre aus unbescheidenheit/ solches nicht austrincken und die Freundschafft/ so ihm angebotten/ nicht erkennen will/ so wird es übel aufgenommen/ und entstehet daraus Zanck und Hader.“ – In diesem Sinne auch Johannes Böhme in seinem Sittenbuch von 1536: „Für einen Feind wird gehalten, wer, öfter eingeladen, ohne Entschuldigung sich weigert, mitzutrinken; diese Beleidigung kann bisweilen nur durch Totschlag und viel Blut gesühnt werden“, zit. nach Spode 1993 (wie Anm. 6), S. 71f. 11 Spode 1993 (wie Anm. 6), S. 65–67. 12 Freud 1682 (wie Anm. 1), S. 460f. 13 Igálffy von Igály 2010 (wie Anm. 4), S. 22f. – Zum Ambraser Trinkritus siehe auch Igálffy von Igály, Ludwig / Zeleny, Karin: Die Trinkbücher Erzherzog Ferdinands II. von Tirol und Vorder­ österreich in der Ambraser Sammlung, in: ebd., S. 11–19 sowie Zeleny, Karin: Der Ambraser Trinkritus, in: Trinkfest! Bacchus lädt ein, Ausst.-Kat., hg. von Sabine Haag, Wien 2011, S. 13–23. – Das ­Fässchen für Herren fasste ca. 0,6 l, das Schiffchen für Damen ca. 0,2 l. Der Willkommenstrunk war in Ambras in einen größeren Bacchus-Ritus eingebettet.

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2  Willkommgefäße für Herren (Fässchen) und Damen (Schiffchen) von Schloss Ambras, 1567 (?)

er das Glas wenigstens einmal auf ex geleert hatte, was nach jedem gescheiterten Versuch schwieriger geworden sein dürfte. Derartige Trinkstrafen waren gängig und lassen sich in zeitgenössischen Quellen immer wieder nachweisen. Glaubt man dem bereits erwähnten Traktat Jus potandi oder Zechrecht von 1616, das vor allem studentische Trinkbräuche wiedergibt, so musste das unglückliche Opfer austrinken „biß ihme die Augen glitzen, und das klare Wasser von dannen tröpffelt.“14 Dass die geschilderten Trinkbräuche je nach Gesellschaft strenger oder – wie auf Schloss Ambras – spielerischer begriffen werden konnten und nicht alle Zusammenkünfte zwangsläufig in Gelage ausarteten, sei an dieser Stelle ebenso betont wie der Umstand, dass der Willkommenstrunk als einmaliger Ex-Trunk einen anderen Charakter besaß als die auf Wiederholung abgestellten Trinkrituale in geselligen Runden. Dennoch kann festgehalten werden, dass der Zwang zum Ex-Trinken auf einem Atemzug und die Trinkstrafen beim Unterbrechen des Trinkens oder Absetzen des Gefäßes auch für die nun zu untersuchenden Gefäße galten und den Hintergrund bilden, vor dem wir ihre Handhabung betrachten müssen.

Windmühlenbecher Beginnen wir die Fallstudien mit einem relativ weit verbreiteten Gefäßtyp, dem Windmühlenbecher, hier in einer Ausführung von Georg Christoph I. Erhart aus der Zeit um 1595 bis 1600 (Abb. 3).15 Bei Windmühlenbechern handelt es sich um sogenannte Sturzbecher, die zwar einen Schaft in Gestalt einer kleinen Windmühle, aber keinen Standfuß 14 Multibibus, Blasius: Jus Potandi oder Zechrecht. Nachdruck der deutschen Bearbeitung des ‚Jus Potandi‘ von Richard Brathwaite aus dem Jahre 1616. Mit einem Nachwort von Professor Michael Stolleis, Frankfurt am Main 1985, unpaginiert, hier Kap. 11. 15 Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. KP B II.22, siehe Schütte 2003 (wie Anm. 5), S. 175–177, Kat.-Nr. 36. – Die Auswahl der im Folgenden untersuchten Trinkgefäße erfolgte nach konservatorischen Gesichtspunkten. Maßgeblich war, dass sie dem

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3  Georg Christoph I. Erhart, Windmühlenbecher, Augsburg, um 1595/1600, circa 420 ml

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4 a, b  Gebrauch des Windmühlenbechers

besitzen. In gefülltem Zustand konnten sie nicht abgestellt werden, da sie kopf­über auf den Lippenrand gesetzt wurden und daher leer sein mussten. In dieser Weise positio­niert, bietet das Gefäß den Anblick eines stilisierten Hügels, auf dem eine kleine Mühle mit Windrad und Mühlenschwanz steht. Solche Windmühlenbecher sind der einzige Gefäßtyp, für den eine zeitgenössische Gebrauchsbeschreibung überliefert ist. So schreibt der sächsische Pfarrer Johannes Mathesius im Jahr 1562: „[...] ein Palestinischer Bischoff in diesen landen ein silbern trinckgeschirr soll haben, das seine pfeiff und rädlein hat, welches man eine Windmühl nennet, und da einer nicht den wein herauß t­ rinckt, weil das rädlein umblaufft, muß ers noch einmahl trincken.“16 Die Trinkregel sah demnach vor, in das als Mühlenschwanz ausgebildete ­Röhrchen zu blasen, das Windrad in Drehung zu versetzen und den Becher zu leeren, ehe das Wind­rad zum Stillstand kam. Vom Trinker wurden dabei eine gute Lungenleistung und ein kräftiger Zug gefordert, wollte er die rund 420 ml alkoholischer Flüssigkeit, die der ­Kasseler Windmühlenbecher fasst, in einem Zug austrinken. Im Experiment drehten sich die Windmühlenflügel nach einem kräftigen Luftstoß knapp fünf Sekunden lang. Da das Gefäß beim Trinkprozess geneigt wird, das Windrad also in die Waagrechte gerät und mit seinem Eigengewicht auf die Drehachse drückt, dürfte die Drehzeit faktisch kürzer und die Trinkzeit kaum länger als drei bis vier Sekunden gewesen sein (Abb. 4 a, b).

Befüllen mit Ethanolwasser und der angedeuteten Handhabung durch eine Probandin stand­halten würden. 16 Mathesius, Johannes: Berg-Postilla oder Sarepta. Darinnen von allerley Bergwerck und Metallen, was ihre Eigenschafft und Natur, und wie sie zu Nutz und gut gemacht, guter Bericht ge­­geben [...], Anno 1562, Anietzo auffs neue gedruckt und verlegt zu Freyberg von Zacharias Beckern, ­[Freiberg] 1679 (benutztes Exemplar: Digitalisat der genannten Ausgabe in der Sächsischen Landes­bibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden ), S. 775.

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5  Sturzbecher, Deutschland, 16./17. Jahrhundert, circa 200 ml

Der damalige Nutzer war demnach gezwungen, den alkoholischen Trunk in kürzester Zeit mit großen Zügen zu trinken. Für die Frage nach gestalterisch bedingten Gebrauchsgesten ist der Windmühlenbecher allerdings nur bedingt aussagekräftig, denn seine Tücke lag nicht in der spezifischen Gestaltung und einer dadurch bedingten Handhabung, sondern in der Spiel­regel, nach der er benutzt werden sollte. Die Zeitspanne für das Austrinken und das Spiel mit der Atemluft des Trinkers sind allerdings charakteristische Tücken, die auch andere Gefäße über die Formgebung bereithielten. Bevor solche Gefäße in den Blick genommen werden, sei die Wechselwirkung von Gefäßform und Trinkhaltung bei einem modernen Trinkglas in Erinnerung gerufen: Zum Leeren eines zylindrischen Bechers muss dieser nur so weit geneigt werden, bis die Gefäßwand in die Waagrechte kommt. Das Getränk fließt in dieser Neigung problemlos auf den Mund des Trinkenden zu. Ein Weinglas mit kugelförmiger oder gebauchter

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6 a, b  Sturzbecher, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten

Kuppa muss dagegen so weit angehoben werden, bis der tiefste Punkt der Bauchung auf einer Höhe mit dem Lippenrand ist. Bei einem solchen Fall kann es nötig sein, das Gefäß steiler zu neigen und den Kopf ein wenig in den Nacken zu nehmen. Entscheidend für das Leeren eines Trinkgefäßes ist jeweils sein tiefster Punkt, der beim Trinkvorgang auf oder über Mundhöhe gebracht werden muss.

Sturzbecher aus Glas Mit diesen Besonderheiten kugelförmiger Gefäße arbeitet ein Sturzbecher aus Glas, der im 16. oder frühen 17. Jahrhundert entstanden sein dürfte, dessen Entwerfer und Hersteller aber nicht überliefert sind (Abb. 5).17 An die Stelle eines Standfußes ist hier eine Kugel getreten, deren Unterseite leicht abgeflacht wurde, sodass der Becher labil stehen kann. Die Kugel ist hohl und mit der Kuppa durch eine kleine Öffnung verbunden. Beide Gefäßteile bilden somit zusammen ein Trinkgefäß.

17 Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. St.C.Gl.343.

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Untersucht man das Fließverhalten von Flüssigkeiten in diesem Gefäß, so wird deutlich, worin die Schwierigkeit für den Trinker liegt: Die glockenförmige Kuppa lässt sich anstandslos leeren. Danach tritt nach kurzer Unterbrechung ein sehr viel schwächerer Flüssigkeitsstrom aus der unteren Kugel aus, wobei sich diese nur langsam leert. Aufgrund der bauchigen Form ist es notwendig, den Sturzbecher bis fast in die Senkrechte zu drehen, um ihn wirklich bis auf den letzten Tropfen zu leeren (Abb. 6 b). Eine Probandin hat die vom Gefäß vorgegebene Trinkhaltung nachgestellt. Sie war gezwungen, den Kopf weit in den Nacken zu legen (Abb. 6 a). Selbst in dieser unbequemen Pose hätte der Sturzbecher noch Flüssigkeit enthalten, wäre also noch nicht zur Gänze geleert gewesen. Wir können daher festhalten: Der Sturzbecher zwingt den Benutzer in eine un­bequeme Trinkhaltung. Da das Getränk aus der unteren Kugel nur sehr langsam austritt, wird genau diese unbequeme Phase des Trinkens in die Länge gezogen. Das spärliche Ausfließen des alkoholischen Getränks erschwert es zudem, das Gefäß in einem Atemzug zu leeren, also während des Trinkens keine Luft zu holen. So dürfte der Sturzbecher nicht nur bezüglich der Haltung, sondern vor allem hinsichtlich der Atemführung eine Herausforderung für einen frühneuzeitlichen Trinker bedeutet haben. Gerade weil es mit rund 200 ml Fassungsvermögen eher klein ist, war die gestalterisch diktierte, vergleichsweise lange Trinkzeit vermutlich die eigentliche Überraschung des Gefäßes.

Trinkgefäß in Gestalt eines Ochsen Eine andere Tücke hält das Trinkgefäß in Gestalt eines Ochsen des Augsburger Goldschmieds Elias Zorer von 1590 bereit, das zeitweilig als Willkomm der Fleischhauerzunft diente (Abb. 7).18 Wie viele Willkommgefäße hat auch dieses nicht allein die Funktion eines Trinkbechers, sondern verweist als figürliche Darstellung eines Schlachttiers auch auf die Tätigkeit der Zunft. Der Goldschmied gibt das Rind anatomisch präzise wieder. Die charakteristischen Details wie etwa die Hautfalten im Brustbereich oder die aufgeworfenen Haarbüschel zwischen den Hörnern sind so genau beobachtet, dass das Trinkgefäß seine Nutzer auch als plastisches Bildwerk fasziniert haben dürfte. Als Kleinplastik betrachtet, erhält das sich aufrichtende Tier eine Vorder- und Rücken- sowie eine Profilansicht. Nimmt der Nutzer das Gefäß von der Vorderseite in die Hand, sodass der Ochse ihn anblickt, so liegt es bequem in der Hand, zumal der Schwanz eine Fingerstütze bietet. Die Überprüfung des Fließverhaltens zeigt, dass der Gefäßinhalt in dieser Position regelmäßig und ohne Unterbrechungen oder Störungen zwischen den Vorderhufen des Ochsen austritt (Abb. 8 b). Der Versuch der Probandin, das Gefäß von der 18 Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. B II.30, siehe Schütte 2003 (wie Anm. 5), S. 178f., Kat.-Nr. 37. – Auf die Verwendung als Willkomm der Fleischhauer­ zunft weist das Zunftzeichen, ein Hackmesser (Prachse) hin, das bei abgenommenem Kopf am Halsring des Ochsen zu sehen ist. Ein weiterer Ochse von Elias Zorer, heute im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, hat eine vergleichbare Herkunft; er stammte aus dem Besitz der Metzgerzunft in Breslau.

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7  Elias Zorer, Trinkgefäß in Form eines Ochsen, 1590, circa 400 ml

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8 a, b  Trinkgefäß in Form eines ­Ochsen, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten beim Gebrauch von der ­Vorderseite

Vorderseite her zu leeren, scheiterte allerdings an den Vorderhufen des Tieres (Abb. 8 a). Diese bilden eine Art Abstandhalter und verhindern, dass der Trinker überhaupt die Lippen an das Gefäß setzen kann. Dreht man das Gefäß und leert den Ochsen von der Rückseite her, so ist das Fließverhalten des Getränks etwas schwerer zu berechnen. Die Studie zeigte, dass die Rückenkrümmung des Tieres Unwägbarkeiten birgt und die Flüssigkeit erst relativ spät austritt (Abb. 9 b). Allerdings lässt sich das Gefäß ohne Tücken ausleeren, sobald der kritische Punkt überwunden und das Gefäß in waagrechte Position gedreht wurde. Das Aus­trinken des Ochsen von der Rückseite her stellt den Nutzer allerdings erneut vor Schwierig­keiten. Sobald das Gefäß stärker geneigt wird, kommen wieder die Vorderläufe ins Spiel. Sie nähern sich den Wangen und Augen des Trinkers beziehungsweise drücken sich tatsächlich in dessen Gesicht (Abb. 9 a). Lediglich von der Seite lässt sich der Ochse wirklich austrinken. Das Ochsengefäß hält somit vor allem körperliche Trinksperren bereit. Als Abstandhalter einerseits und als Störer andererseits zielen die Vorderläufe darauf, den Trinker abzuhalten oder zu irritieren. Der entwerfende Goldschmied scheint dabei mit einer Alltagserfahrung des Nutzers zu spielen: Nähert er sich dem Trinkgefäß wie einem plasti­ schen Bildwerk, indem er die vermeintliche Vorderseite als Trinkseite wählt, so ist sein Scheitern vorprogrammiert. Das Wissen um Vorder- und Rückseite eines Gegenstands und dessen intuitiver Gebrauch von der ‚richtigen‘ Seite her werden hier also gezielt ausgehebelt.

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9 a, b  Trinkgefäß in Form eines Ochsen, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten beim Gebrauch von der Rückseite

Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes Dass Vorderhufe tierförmiger Gefäße das Trinken behindern oder unmöglich machen können, kommt auch bei diesem Gefäß in Betracht. Die qualitätsvolle silbervergoldete Plastik eines springenden Pferdes stammt von Christoph Erhard, einem auf Trinkgefäße in Tierform spezialisierten Goldschmied, der sie in Augsburg zwischen 1600 und 1604 schuf (Abb. 10).19 Das Pferd hat zum Sprung angesetzt. Seine Vorderläufe greifen weit nach vorne aus, während die Hinterläufe durchgestreckt auf einem Terrain­ sockel ­stehen. Der Kopf ist leicht zurückgeworfen, wodurch die Trinköffnung am Hals des Pferdes nicht waagrecht verläuft, sondern leicht nach hinten abfällt. Untersucht man das Fließverhalten, so zeigt sich, dass schon bei leichter Neigung des Pferdkörpers Flüssig­keit austritt. Um aus dem Tier zu trinken, muss es demnach zunächst nur leicht angekippt werden. Soll das Pferd aber bis zum letzten Tropfen ausgetrunken werden, so muss es steil geneigt werden. Der gewölbte Leib zwischen den Vorderläufen verhält sich dabei wie eine kugelförmige Kuppa und hält selbst in senkrechter Position noch Flüssigkeit zurück. Um es ganz auszutrinken, muss das Tier über die Senkrechte hinaus geneigt werden (Abb. 11 b). Von allen untersuchten Trinkgefäßen erfordert das Pferd die größte Kipp­bewegung und somit die größte Drehung der das Gefäß führenden Hand. Die Praxis­studie brachte die Probandin genau in diesem Punkt in Schwierigkeiten. Zunächst lässt sich das Pferd bequem an die Lippen legen. Die Vorderläufe befinden sich unter19 Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. B II.31, siehe Schütte 2003 (wie Anm. 5), S. 180f., Kat.-Nr. 38.

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10  Christoph Erhard, Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes, 1600/1604, circa 410 ml

halb des Kinns und beeinträchtigen wider Erwarten das Trinken in keiner Weise. Um das Pferd bis auf den letzten Tropfen auszutrinken, muss der Trinker den Kopf aber weit in den Nacken legen (Abb. 11 a), wird also in eine unbequeme Trinkhaltung gezwungen. Anders als beim Sturzbecher aus Glas, der das Trinken in dieser Haltung in die Länge zieht, ist es nun die vom Gefäß aufgezwungene Handhaltung, die das Austrinken erschwert. Das Pferd nötigt den Trinker, das Handgelenk zu überdehnen, indem der

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11 a, b  Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes, ­Handhabung mit Handgriff von oben und Fließ­ verhalten von Flüssigkeiten

Handrücken bis fast zum Gesicht gedreht werden muss, um das Gefäß gänzlich zu leeren. Die Gegenprobe mit veränderter Handhaltung, also einer unter den Pferdebauch greifenden Hand, erwies sich als die sehr viel bequemere Trinkhaltung. Das Pferd ließ sich problemlos bis auf den letzten Tropfen leeren (Abb. 12). Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass Gefäße mit ähnlicher Gestaltung nicht dieselben Tücken besitzen müssen. So stellen Vorderläufe bei einem Gefäß ein Trinkhindernis dar, erweisen sich bei anderen ähnlichen Gefäßen dagegen als unproblematisch. Ein Dazulernen von Gefäß zu Gefäß ist somit kaum möglich. Vermeintliche Störfaktoren bei Trinkgefäßen können vielmehr dazu führen, dass die eigentlichen Tücken verkannt werden. So unterschätzte die Probandin beim Pferd das eigentliche Problem, nämlich die richtige Handhaltung. Indem sie das Pferd mit der naheliegenden Greifbewegung von oben nach unten in die Hand nahm, wählte sie die falsche Handhaltung und scheiterte an ihr.

Fazit Die vier Fallstudien, die die Wechselwirkung zwischen Gestaltung und Handhabung allenfalls punktuell erhellen konnten, zeigen, dass Scherzgefäße mindestens drei Faktoren gestalterisch ausspielen, um einem Trinker das Austrinken zu erschweren: 1) das Aufnötigen einer unbequemen Trinkhaltungen durch Überstreckung des Nackens oder der das Gefäß führenden Hand, 2) das Einführen von körperlichen Trinksperren, die

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12  Trinkgefäß in Form eines ­springenden Pferdes, Handhabung mit Handgriff von unten

den direkten Kontakt von Lippen und Gefäß verhindern oder sich im Verlauf des Trink­ prozesses ins Gesicht des Trinkenden drücken und 3) das Hinauszögern des Trinkprozesses durch unregelmäßigen Flüssigkeitsaustritt, bei dem das Haushalten mit der Atemluft auf die Probe gestellt wird. Die kleine Studie belegt zudem, dass Alltagserfahrungen beziehungsweise typische Rezeptionsverhalten oder intuitive Gebrauchsgesten des Nutzers vorausgesetzt und dann ausgehebelt werden. Erst im Verlauf des Trinkprozesses stellen sich diese als ungenügend oder unzutreffend heraus und bringen den Trinker in Schwierigkeiten. Solche nicht weiter reflektierten, unterbewusst ablaufenden Handlungen und Vorerfahrungen sind 1) der intuitive Greifvorgang von oben nach unten (und nicht etwa von unten nach oben), 2) das Unterscheiden von Haupt- und Nebenansichten beziehungsweise Vorderund Rückseite einer Figur oder eines Gegenstands und 3) das ungefähre Abschätzen der für eine Handlung benötigten Zeitspanne. Diese Faktoren erweisen sich als Hauptangriffspunkte von Scherzgefäßen, wobei der Faktor Zeit zur entscheidenden Kategorie wird. Da das Ex-Trinken auf einen „Zug und Atem“ zu geschehen hatte, der Atemrhythmus also die natürliche Zeitspanne für das Austrinken vorgab, konnte das gestaltungsbedingte Verlängern und Hinauszögern des Trinkprozesses am wirksamsten das Scheitern des Trinkers am Gefäß provozieren. Ob die geschilderten Tücken der Trinkgefäße von ihren Schöpfern mit Bedacht oder eher unabsichtlich eingearbeitet wurden, ist heute kaum mehr zu beantworten. Festzuhalten bleibt aber, dass die Möglichkeiten, einen Trinker herauszufordern und zu irri-

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tieren ebenso vielfältig gewesen sein dürften wie die Formen der Trinkgefäße selbst. So trug die von Michael Freud im Eingangszitat verteufelte Vielfalt an Gefäßen dazu bei, beim Willkommenstrunk oder im Trinkgelage immer neue, ungeahnte Hindernisse zu errichten. Der frühneuzeitliche Trinker war gefordert, seinen Trinkwitz immer neu unter Beweis stellen, um mit Fantasie, Humor und Mut selbst die absurdesten Gefäße zu bezwingen.

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Rachel King

‚Asbestos Fingers‘ und ‚Flaming Lips‘ Metallgefäße für Heißgetränke und ihre Handhabung im 18. Jahrhundert

Ein Blatt des niederländischen Kupferstechers Cornelis Dusart zeigt eine üppige Figur (Abb. 1): Die Frau hält eine enorme Teebüchse in der linken Hand; in der rechten wird eine Kanne mit solchem Schwung hochgeworfen, dass man beinahe vor der Szene zurückschreckt. Trijn ist fröhlich – zumindest dem Titel nach. Ihren Mann hat sie übrigens belogen. Er finanziert ihr kostspieliges Teetrinken, weil sie ihm glaubhaft gemacht hat, dass man Tee auch rauchen könne. Tabak mit Teeblättern zu vertauschen ist ein Streich, mit dem man Raucher früher häufiger in den April schickte. Anders als der Scherz ist die Kannenform bis in die Gegenwart gebräuchlich geblieben.

Kannenform Mit diesem Bild vor Augen könnte man glauben, dass sich im Prinzip nichts an der Form der Teekanne geändert hat. Und tatsächlich scheinen zwei Zitate aus früherer und neue­ rer Zeit diese Vermutung zu bestätigen. Im Nutzbaren, galanten und curiösen Frauen­ zimmer-Lexicon (1715) wird das Gefäß mit folgenden Worten beschrieben: „Thée-Kanne, Ist ein klein von Meßing, Blech, Porcellain, Terra Sigilata, Serpentin, oder Zinn rund verfertigtes Geschirr mit einer Handhabe und Schnautze, worinnen der Thee aufge­gossen wird, ist insgemein nur auf eine oder 2. Personen eingerichtet, denn wenn es auf Personen gerichtet, und mit etlichen Hänlein verseyen ist, heisset es ein Thee-Pot.“1

Die Beschreibung ist im Prinzip nahezu identisch mit derjenigen unseres heutigen Dudens („[...] bauchige Kanne […], in der Tee zubereitet und serviert wird“ und „[…] für Flüssigkeiten bestimmtes Gefäß mit Henkel, Schnabel und meist auch Deckel“).2 Dass sich nichts Wesentliches an der Form geändert hat, legt auch Thomas Dexel in seinem Braunschweiger Katalog Gerät für Tee und Kaffee (1973) dar;3 sein Buch ist zugleich der

1 Amaranthes: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon [...], Leipzig 1715, S. 2007. 2 Siehe z.B. (2. 09. 2014). 3 Dexel, Thomas: Gerät für Tee und Kaffee aus der Formsammlung der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1973 (= Arbeitsberichte aus dem Städtischen Museum Braunschweig, 24).

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1  Cornelis Dusart, Vrolyke Tryn, 1676–1700

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eigentliche Ausgangspunkt für diesen Aufsatz. Für Dexel besteht die einzige Möglichkeit, die Form der Kanne zu variieren, in der künstlerischen Auseinandersetzung mit additiven Details wie Henkeln, Deckeln, Deckelknäufen und Kannentüllen. Bei Dexel sind diese vor allem Ausdruck des Geschmacks einer Epoche und somit Datierungs­ hilfen. Abweichend von Dexel soll im Folgenden ausgeführt werden, dass Form und Material – beispielsweise der Henkel – oft Versuche widerspiegeln, Lösungen für praktische gestalterische Probleme zu finden, die mit der Umsetzung der Kannenform in Edelmetall aufgekommen sind. Dieser Aufsatz setzt sich also explizit mit dem Thema der Handhabung des metallenen Gefäßes für Heißgetränke auseinander.

Heiße Dreifaltigkeit Von der ‚Dreifaltigkeit der Heißgetränke‘ – nämlich Tee, Kaffee und Schokolade – wird Tee am frühesten in Europa erwähnt. Erste Sendungen trafen circa 1610 in Holland ein, ab 1630 wurde Tee regelmäßiger konsumiert. Nicht nur die Pflanze hatte den langen Weg von Ostasien nach Europa hinter sich gebracht, sondern auch die Gefäße, in denen das Getränk zubereitet und aus denen es getrunken wurde. Ob Teeschälchen oder Teekannen, anfänglich wurden alle Utensilien zur Zubereitung und zum Genuss des Getränkes importiert. Ein Teil des Reizes des Teetrinkens bestand sicherlich gerade im Gebrauch dieser außergewöhnlichen exotischen Geschirre. Es dauerte nicht lange, bis die entsprechenden Gefäßtypen von europäischen Produzenten nachgeahmt wurden. Es waren vor allem Steinzeugkannen aus Yixing, die schnell ihre Kopisten fanden – eine übersteigerte Version einer solchen Kanne sehen wir auf Dusarts Bild. Daran, wie die Frau die Kanne hält, ist überdies zu erkennen, dass sie noch keinen heißen Inhalt birgt. Ihre dicklichen Finger sind durch den Henkel gequetscht und berühren dabei den Gefäßkörper. Bei Steinzeug übrigens würde sich Trijn die Hand in keinem Fall verbrennen, da das Material ein schlechter Wärmeleiter ist.

Form und Funktion Die früheste noch erhaltene Teekanne aus Metall ist eine silberne Kanne aus England (Abb. 2). Das Objekt wurde von George Berkeley um 1670/71 in London in Auftrag gegeben und der „East India Company“ geschenkt. Ohne die Inschrift würde man nicht erraten, dass diese Kanne für Tee bestimmt war.4 Sie erinnert stark an die übliche Form

4 Die Inschrift lautet: „This Siluer tea Pott was presented to ye Com(mi)tte(e)/ of ye East India Cumpany [sic] by ye Right Honou(rabl)e/ George Lord Berkeley of Berkeley Castle/ A member of that Honourable  & worthy Society and A True Hearty Louer of them 1670“ (Dieser silberne Teepott wurde dem Vorstand der Ostindien-Kompanie von dem durchlautigen George Berkeley von Berkeley Castle geschenkt, Mitglied dieser von ihm hochgeschätzen Gesellschaft 1670; Übers. d. Verf.).

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2  T.L., Teekanne, 1670/71

des Deckelhumpens und besitzt – wie in der Literatur mehrfach bemerkt wurde – eher eine Form, die man von einer Kaffeekanne erwarten darf. In seinem Le bon usage du thé, du caffé et du chocolat aus dem Jahr 1687 behauptet der Autor Nicolas de Blégny, die Form einer Kanne sei zweitrangig, da das Gefäß nur die zwei Hauptanforderungen zu erfüllen habe, der Hitze widerstehen zu können und einen dichten Deckel zu haben: „Die Form der Gefäße für die Tee-Zubereitung ist so unterschiedlich wie sie unterschiedslos ist, weil es ausreicht, dass sie geeignet sind, dem Feuer zu widerstehen, und dass ihre Öffnungen durch einen Deckel gut verschlossen sind, was auch der Grund ist, weshalb andere wie alle Arten Kaffeekannen und Schokoladenkannen für diesen Zweck gebraucht werden können, man sieht in Indien und in Europa Kannen, die hauptsächlich für Tee bestimmt sind, in deren Material und Form sich ein bemerkenswerter Unterschied zeigt, was man besser an der Illustration erkennt, die ich hier abbilde [Abb. 3], bei der man die Formen wiedererkennen wird, die man den Silber- und Zinnkannen oder der Erde Chinas gibt.“5

5 De Blégny, Nicolas: Le bon usage du thé, du caffé et du chocolat pour la préservation & [et] pour la guérison des maladies, Bd. 1, Paris 1687, S. 34: „La forme des vaisseaux à faire le Thé, est aussi diverse qu’elle est indifferent, car il suffit qu’ils soient propres à resister au feu, & que leurs embouchures soient fermées par un couvercle bien juste, c’est pourquoy outré que toutes les sortes de caffetieres & de chocolatieres peuvent etre employees à cét usage, on voit aux Indes & en Europe des pots particulierement destinés au Thé, dans la matiere & dans la forme desquels il se trouve une notable difference, c’est ce qu’on connoitra mieux par la figure que j’ay representer icy, où l’on trouvera les formes qu’on donne aux pots d’A rgent, d’Etain ou de terre de la Chine.“ – Übers. von Sabrina Lind.

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3  Nicolas de Blégny, Pots à préparer le Thé, 1687

Die also vorgeblich für alle Getränke gleichermaßen geeignete Form der Tee-, Kaffeeoder Schokoladekanne scheint dem Historiker Charles Oman nahegelegt zu haben, nichts Positiveres über die Gestaltung der frühesten uns bekannten silbernen Teekanne zu bemerken, als dass sie den wichtigsten Nutzwert einer Kanne erfülle, nämlich gut auszuschenken.6 In der Tat ist die Tülle einer Kanne von keiner geringen Bedeutung. In unserem Fall ist sie bemerkenswert hoch angesetzt, eine Tatsache, die oft dafür spricht, dass es sich um eine Kaffeekanne handelt, da Kaffeesätze zum Gefäßboden absinken und deshalb einen hohen Ausguss nötig machen. Bei Tee hingegen schweben die Blätter eher im Wasser oder schwimmen auf der Wasseroberfläche, weshalb ein tiefer angesetzter Ausguss von Vorteil ist.

6 Siehe Oman, Charles: The English Silver Teapot, 1670–1800, in: Apollo, 13, 1931, S. 348–353.

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Silber Außergewöhnlich sind auch die enorme Größe der Kanne und damit ihr Fassungsver­ mögen – beides erregt seit mehr als 100 Jahren Aufmerksamkeit. Bis heute hat sich jedoch allein Ulrike Weinhold zu der Unangemessenheit des Silbers für ein solches Gefäß geäußert. Nach Weinhold entstand in Europa das Bedürfnis, eigene, dem europäischen Geschmack entsprechende Formen des Trinkgeschirrs zu entwickeln.7 Vor allem dieser Aspekt dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass man sich nicht mit importierter Keramik zufriedengab. Man hat sich wohl auch um die Herstellung von Teeutensilien aus Metall bemüht, da Versuche, hinter das Geheimnis der Porzellanherstellung zu kommen, vorerst gescheitert waren. Ist die außergewöhnliche Form der Londoner Kanne auch auf dieses Scheitern zurückzuführen? Es ist gut vorstellbar, dass die übliche bauchige Körperform der Keramikkanne, trotz ihrer guten Nachahmbarkeit in Silber, sich nicht wirklich für Metallgefäße für heiße Getränke eignete, da der runde Körper der Kanne weit in den leeren Raum zwischen Henkel und Kanne drängt. Die Gefahr, dass die greifenden Finger das heiße Behältnis berühren, ist dabei relativ hoch. Schon bei der Übernahme und Aneignung der Form der ersten asiatischen Teekannen merkt man, dass europäische Töpfer die Form und Position der Henkel leicht abänderten. Die obere Rundung des Bogens wird auf die Höhe des Deckels gebracht und der Henkel dabei in die Länge gezogen, damit der Kannenbauch nicht mehr auf gleicher Höhe, sondern leicht unterhalb der greifenden Hand ist. Bei der Londoner Kanne ist der Raum zwischen Gefäßwand und Henkel ein unbedenklicher Halbkreis und es besteht weniger Gefahr, sich beim Angreifen zu verbrennen. Der Henkel ist jedoch direkt von der Humpenform übernommen, und jeder, der je eine Maß Bier getrunken hat, weiß, dass man den Krug nicht am Henkel, sondern am zylindrischen Körper anfasst. Man hängt sozusagen dabei die Hand ein und kann somit das Gewicht des vollen Krugs besser hand­haben. Diese Möglichkeit besteht bei einem Gefäß für heiße Flüssigkeiten natürlich nicht. Es lässt sich aus praktischer Sicht kaum erklären, warum silberne Kannen für Tee hergestellt wurden. Schon Johann Friedrich Böttger, der Erfinder des europäischen Porzellans, konstatierte, dass Porzellangefäße „nunmehr fast unentbehrlich , besonders da, wozu Gold und Silber nicht so tauglich sind, also zum Tee-, Kaffee- und Schocko­ ladentrinken, zu eingemachten Früchten und allerhand Konfituren.“8 Weinhold betont die Tatsache, dass Silber als Material natürlich einen privilegierten Status widerspiegelt; das Aufkommen der silbernen Kanne wird fast immer mit den Repräsentationsbedürfnissen der reichen Konsumenten erklärt. In einem Aufsatz über neue Materialien und 7 Weinhold, Ulrike: Emailmalerei an Augsburger Goldschmiedearbeiten von 1650 bis 1750, ­München u. a. 2000, S. 67f. 8 Zit. nach: Unvorgreifliche Gedancken über meine Johann Friedrich Böttgers Theils denen Ausländern nachgeahmte, theils durch mich selbst neü-erfundene Manufacturen, Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Finanzarchiv, Inv.-Nr. 10036, Rep. IX  b, Loc. 41910, Nr. 205c, fol. 20b.– Ich bedanke mich bei Julia Weber (Bayerisches Nationalmuseum, München) für diesen Hinweis.

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Techniken in der Goldschmiedekunst kommt Lorenz Seelig zu dem Schluss, dass man im Bereich der Luxusgüter auf Edelmetallgefäße offenbar nicht verzichten konnte oder wollte.9 Die Verkopplung von Silber und Tee ist dann nicht besonders erstaunlich, wenn man beider Kostspieligkeit bedenkt. Objekte aus Edelmetallen unterstrichen in jedem Fall den exklusiven Charakter der neuen Getränke.10

Das Motiv des Sich-Verbrennens in der Literatur der Zeit Hat man die Londoner Teekanne für den alltäglichen Gebrauch oder nur zu repräsentativen Zwecken – oder zu beidem – fertigen lassen? Trotz ihrer Größe spricht der praktische Henkel aus Leder für einen Gebrauchszweck. Die lederne Ummantelung stellt eine Designlösung dar, die vor der Gefahr des Sich-Verbrennens schützt. Dies ist ein Problem, das explizit in der Literatur der Zeit thematisiert wird. In einem Gedicht mit dem Titel The Art of Making Tea warnt ein anonymer Autor vor dem heißen Kesselhenkel. Die letzten Sätze sind dem Lob des Dichters für denjenigen gewidmet, der zum ersten Mal daran dachte, den Henkel eines heißen Teekessels mit Papier zu umwickeln: „Passt auf Ihr Studierenden, lernt Angst vor dem wütenden Kessel zu haben / lernt die Beine ferne davon zu halten. Der Henkel verlangt achtsame Behandlung / er wird oft Ihre sauberen Händen mit Ruß verunstalten / Sei gesegnet der Bauernbusche, der zum ersten Mal den Henkel mit festem braunem Papier umwickelte / Er war der erste, mehr hätten wir uns nicht wünschen können, der unsere Hände nicht nur vor dem Dreck sondern auch der Hitze schützte.“ 11

In einem anderen ‚Canto‘ des Gedichts erfahren wir von einem jungen Mann namens Hylas (benannt nach dem mythologischen Helden und Freund des Herkules, der sich leider von Nymphen ablenken ließ). Unser Hylas hat sich in eine Susan verliebt, die Tee auf eine sehr charmante Art und Weise zubereitet. Er träumt davon, eines Tages um ­Susans Hand anzuhalten. Susan weist ihn jedoch zurück. Vor Wut tobend, bittet er einen bösartigen Gnom, ihm zu helfen. Er wünscht, dass Susans Papagei sie vom Schlafen abhält, dass ihr Affe ihren Hut zerreißt und dass sie Tee in ihren Schoß gießt. Der Gnom freut sich auf seine Aufgaben und fliegt zu ihr – und Susan verbrennt sich daraufhin ihre zarte Hand. Von seinem schlechten Gewissen geplagt, nimmt Hylas es auf sich, sie zurückzugewinnen. Er schreibt Sonette und beschenkt sie mit Seidenbändern. Zu

  9 Seelig, Lorenz: Rara et Pretiosa. Neue Materialien für neue Aufgaben der Goldschmiedekunst, in: Baumstark, Reinhold/Seling, Helmut (Hg.): Silber und Gold. Augsburger Goldschmiedekunst für die Höfe Europas, Ausst.-Kat. München, Bayerisches Nationalmuseum, München 1994, S. 403– 407, hier S. 403–405. 10 Weber, Julia: ‚… zu ihrer Ergötzung und Erquickung‘. Geschirre für Tee, Kaffee und Schokolade im 18. Jahrhundert, in: Buberl, Brigitte (Hg.): Kirchengold & [und] Tafelsilber. Die Sammlung von Silberarbeiten im Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, Ausst.-Kat., München 2008, S. 82–95. 11 The Art of Making Tea, A Poem in Two Cantos, Cambridge 1747. – Übers. d. Verf.

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s­ einem größten Glück wird vom Gott Vulkan (Vulcanus) die Teeurne erfunden. Mit diesem Gefäß kann er sie besänftigen – „and Susan’s hand was never scorch’d again.“12 Wir finden das Motiv der an einem Metallgefäß verbrannten Hand auch in wissenschaftlichen Texten der Zeit. Deutlich wird dabei, dass die Erhitzung des Henkels zu den Problemen gehörte, von denen jeder betroffen war. Nur so ist zu erklären, warum der bekannte amerikanische Experimentalphysiker Benjamin Thompson, Graf Rumford, die Handhabung des heißen Griffs als ein universell bekanntes Beispiel für Wärmeleitung anführt: In der Einleitung zum dritten Kapitel seiner Essays (1798), überschrieben „On the Management of Fire and the Economy of Fuel“, ist genau dieser Fall geschildert: „The utility of giving a wooden handle to a tea-pot or coffee-pot of metal, or of covering its metallic handle with leather, or with wood, is well known.“13

Lösungen Rumford nennt zwei mögliche Lösungen für das Problem des Wärmetransfers: die Verwendung eines Wickelmaterials zur Isolierung und das Ersetzen des metallenen Henkels durch einen hölzernen. Für Ersteres wurde Leder, Stoff, Schilf oder Binsen verwendet; dies stellt eine einfache, aber keineswegs schlichte Lösung dar. Viele Henkel weisen ein Material auf, das man auf Englisch „basketware“ nennt, weil es wie Körbchen geflochten wird und dementsprechende, teils komplizierte Webmuster aufweist. Diese Umwicke­lungen waren keineswegs eine improvisierte Lösung. Die Henkel mussten schon im Voraus rutschfest gestaltet werden, um das Geflochtene daran befestigen zu können. Es ist gut möglich, dass die Perlenbänder auf Augsburger Teekannen des frühen 18. Jahrhunderts hierbei eine vorbildhafte Rolle spielten. Auch die Lederhüllen, die über die Henkel gestülpt wurden, waren sicherlich mehr als Interimslösungen. Dennoch, Rumford räumt einer Kanne mit einem Henkel aus einem vollkommen anderen Material den ersten Platz ein. Wie das Umwickeln, benötigt auch diese Lösung neue Gestaltungs­elemente. Um den materiell andersartigen Henkel an der Kanne zu be­festigen, braucht man Anschluss- und Übergangsstellen, die manschettenartig den Henkel verklammern. Der Henkel muss in Winkel und Größe diesen Fassungsteilen genau angepasst sein, damit er fest sitzt. Aus den Berichten des Zentralen Strafgerichtshofs in London (The Old Bailey) ist zu schließen, dass die Kanne zu spezialisierten Henkel­ machern gebracht und erst dort mit dem Henkel versehen wurde.14 Eine letzte, von Rumford nicht erwähnte Isolierungsmöglichkeit besteht darin, in den metallenen Henkel zwei Elfenbeinplättchen, auf Englisch „filets“ genannt, einzu­arbeiten, 12 Ebd. 13 Thompson, Benjamin (Graf Rumford): Essays, Political, Economical and Philosophical, 4 Bde., Bd. 2, London 1798, S. 50–52. 14 Zum Begriff ‚Henkelmacher‘: Old Bailey Proceedings Online, , June 1780, Trial of George Staples, Rev. Nr. 17800628-37; zum Prozedere (Lieferung): ebd., July 1811, Trial of Joseph Long, Rev. Nr. 18110710-29, vgl. auch ebd., Rev. Nr. 18110710-102.

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um die Hitzeleitung wie ein Puffer zu unterbrechen. Dank dieser Lösung konnte man den Henkel aus demselben Material wie die Kanne fertigen – also aus Metall – und ihn dementsprechend fein gestalten und dabei eine dekorative Verbindung zur Kanne schaffen. Diese delikaten Henkel haben einen ganz anderen Reiz als die massiven Henkel aus Holz, deren Attraktivität vor allem darin besteht, einen farblichen Kontrast zum Metall zu bilden.

‚Asbestos Fingers‘ Doch noch ist die Frage unbeantwortet, wie die Kannen für Heißgetränke wirklich von den Zeitgenossen gehandhabt wurden. Die Werke der bildenden Künste vermitteln uns eine Vorstellung, sind jedoch keine verlässlichen Quellen. Auf Kupferstichen ist beispielsweise das Material der Kannen nicht sicher zu erkennen. Die Form ist allerdings ein Anhaltspunkt: Bei der Radierung „Dessus de Table“ (Auf dem Tisch) aus der Serie „Nouveau Livre d’Ornements propres pour faire en Broderie et petit point“ ist die Kanne der Form nach vermutlich eine Augsburger Arbeit. Am Körper sind ovale Medaillons zu sehen, die die Emaille-Täfelchen oder Achatstücke andeuten könnten, die bei solchen Kannen aus dieser Zeit nicht selten vorkommen. In diesem Fall wird jedoch nicht aus der Kanne, sondern aus einem flaschenartigen Gefäß eingeschenkt. Auf anderen Bildern lässt der Gebrauch erkennen, dass es sich wahrscheinlich um Metall handelt: Das Titel­blatt der vierblättrigen Serie von Johannes Esaias Nilsons „Caffe The und Tobac ­Zierathen“ zeigt einen Kessel auf dem Feuer, der also aus Metall sein muss. Kannen aus Edelmetall kommen auch in gemalten Genreszenen und sogenannten Konversationsstücken vor. Ein berühmtes Bild ist Januarius Zicks Porträt der ­rheinischen, in der Eisenproduktion zu Reichtum gekommenen, Familie Remy aus dem Jahr 1776, das die Pracht einer großbürgerlichen Kaffeerunde vor Auge führt (Abb. 4). Im Zentrum des geselligen Beisammenseins steht die Kaffeetafel. Die Dame des Hauses schenkt den ­Kaffee aus. In den birnenförmigen Körper auf glattem Fuß sind ge­w undene Züge getrieben, die sich in dem von einem Kugelknauf bekrönten Deckel fort­setzen. Der geschwungene Griff ist aus Holz und steht ein Stück ab. Die Frau hält den Griff fest umklammert. Ihren Daumen streckt sie zur Stabilisierung nach oben. Bei Holzund Elfenbeinhenkeln ist es nicht ungewöhnlich, eine Art Daumenrast zu finden: Auf ­d ieser flachen Scheibe, die oft die Form breiter Akanthusblätter hat, konnte der Daumen auf dem sonst abgerundeten Griff aufliegen. Es lohnt sich an dieser Stelle zu erfragen, inwiefern diese Art des Anfassens mit der sozialen Gestik der vornehmen Gesellschaft zu tun hat? Und inwiefern ist die Handhabung durch die Form oder die Wärme bedingt? Bei vielen Bildern fällt auf, dass die ‚Hand­haberin‘ nicht auf die Kanne und den Akt des ­Gießens achtet. Die Geste des Haltens fungierte zweifellos als eine Art ikonografischer Formel, um die Gastgeberin kompositionell beziehungsweise motivisch zu kennzeichnen. Man muss den Eindruck gewinnen, dass es nicht darum ging, das Teetrinken als

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4  Januarius Zick, Familie Remy in Bendorf bei Koblenz, 1776

solches, sondern das Teetrinken als Symbol für eine Reihe von gesellschaftlichen Werten, ja vielleicht sogar Tugenden zu zeigen. Viel öfter stehen Kannen als stille Begleiter auf dem Tisch. In vielen Fällen sieht man improvisierte, hitzeschützende Untersetzer, vor allem Tücher, die unter der Kanne auf dem Tisch liegen. Und in der Tat werden im bereits zitierten Frauenzimmer-Lexicon Untersetzter aus Stroh empfohlen. Auf dem berühmten Gemälde „Le déjeuner“ von François Boucher aus dem Jahre 1739 (Paris, Musée du Louvre)15 sieht man, wie eine silberne Schokoladenkanne auf einem weißen Serviertuch steht, um auf einem empfindlichen Gesims hinter der trinkenden Gesellschaft abgestellt werden zu können. Tücher wurden vermutlich auch genutzt, um Gefäße anzufassen, ja das Umwickeln mit einem Tuch als ‚Handschoner‘ ist eine sehr alte Lösung: Tücher sind auch auf einer Radierung von Nikolaus Solis, die ein Bankett am 22. Februar 1568 im Georgsaal der Münchener Neuveste anlässlich der Hochzeit des Erbprinzen Wilhelm mit Renata von Lothringen zeigt, im Einsatz.16 Und dieselbe Lösung sieht man beispielsweise auch im Hintergrund eines Kupferstichs, auf dem ein Bankett gezeigt wird, das in Prag anlässlich einer Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies stattfand.17 Ja, so universell ist die Lösung, dass man Stofflappen zum Schutz der Hände sogar in der chinesischen Malerei des 19. Jahrhunderts sehen kann (Abb. 5).

15 François Boucher, Le déjeuner, 1739, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm. Paris, Musée du Louvre, Legs du Dr Achille Malécot, 1895, Inv.-Nr. R. F. 926. 16 Nikolaus Solis, Die fürstliche Brauttafel im Georgsaal der Neuveste, 1568, kolorierte Radierung (aus dem Festbuch von Hanns Wagner). Benutztes Exemplar: Universitätsbibliothek Salzburg, Inv.Nr. II.240 III. 17 Benutztes Exemplar: Kunsthistorisches Museum Wien, Inv.-Nr. S 348.

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5  Anonym, Mandarin mit Dame, um 1820

‚Flaming Lips‘ Wie für Kannen – das wird oft in der Literatur angemerkt –, ist Metall auch kaum für Koppchen geeignet, da mit heißer Flüssigkeit gefüllte Metallkoppchen die Gefahr bargen, sich beim Trinken die Lippen und Finger zu verbrennen. Eine zeitgenössische Passage spricht das Problem direkt an. Sie stammt von dem oben bereits erwähnten französischen Historiker und Arzt Nicolas de Blégny: „Das Material und die Form der Trinktassen für Tee ist ähnlich unterschiedlich und unterschiedslos; nichtsdestotrotz ist es in Indien und in Europa ziemlich normal, den Silbertassen oder -bechern oder aus welchem anderen Metall sie auch sein mögen, die henkellosen Tassen aus Porzellan oder Fayence vorzuziehen, aus dem Grund, dass ihre Kanten niemals die Finger verbrennen und, dass die Art, diese Tassen zu halten aus einer Art Anstand resultiert.“ 18

Gekannt hat man Heißgetränke in Europa freilich schon, bevor Tee, Kaffee und Schokolade eingeführt wurden. Bier und Punsch zum Beispiel wurden warm getrunken, Letzterer auch aus Silbergefäßen. Man hat natürlich die Verbrennungsgefahr bei Metall­ gefäßen erkannt und Wege gefunden, damit umzugehen. Diese Lösungen sind uns heute so selbstverständlich, dass sie uns nicht mehr auffallen – sie werden auch für so selbstverständlich gehalten, dass sie in der kunst- beziehungsweise designwissenschaftlichen Literatur keine Erwähnung finden. Doch lohnt eine Auseinandersetzung

18 De Blégny (wie Anm. 5), S. 32: „La matière & la forme des tasses à boire le Thé est pareillement diverse & indifférente; néanmoins aux Indes & en Europe, il est assés ordinaire de préférer aux tasses ou gobelets d’A rgent ou de quelque autre métal que ce soit, les chiques de porcelaines ou de fayance, par cette raison que leur bords ne brulent jamais les doigts, & que la façon de tenir ces chiques passe pour une espèce de bienséance.“ – Übers. von Sabrina Lind.

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mit dem Thema, da Gießgefäße für Heißgetränke aus Edelmetallen seinerzeit ein absolutes Novum waren, das zwangsläufig neue Designlösungen erforderte, damit derartig aufwändige Gefäße überhaupt das Bedürfnis nach Funktion und Repräsentation erfüllen konnten. Die Verwendung des – eigentlich – ungeeigneten Metalls erforderte vor allem neue Lösungen im Blick auf die Henkel, sei es durch die Umgestaltung des Übergangs vom Kannenkörper zum Henkel, sei es durch die Verwendung eines anderen Materials oder sei es durch das Versehen des metallenen Griffs mit kleinen Perlen zur Befestigung von Wickelgriffen aus Stroh oder Stoff – die Metallkanne forderte jedenfalls den Erfindungsreichtum von Silberschmieden und Konsumenten. Weitere Recherchen werden hoffentlich noch mehr Material zu Tage bringen – wie beispielsweise Anweisungen für Kammerzofen, Salben zu mischen, um damit die von einer Kanne verursachten Brandblasen zu behandeln oder Tipps zum Verhalten bei einem Unfall. Dieser Aufsatz ist eine erste Annäherung an das Thema. Sein Ziel war es vor allem, andere dazu zu inspirieren, das ‚heiße‘ Thema mit mir gemeinsam anzugreifen. Zu schade wäre es, gerade in diesem Fall nach dem Motto ‚Hands off!‘ (Finger weg!) zu verfahren.

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WOHNEN MIT UND SITZEN AUF MÖBELN

„Wenn ich sitze, will ich nicht sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte, sondern wie mein Sitz-Geist sich, säße er, den Stuhl sich flöchte […].“ Christian Morgenstern, Der Aesthet1

1 Morgenstern, Christian: Alle Galgenlieder. Galgenlieder, Palmström, Palma Kunkel, Der Gingganz […], 4., rev. und korr. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 190.

Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘     | 177

Rainer Hertting-Thomasius

Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘ versus ‚Was kann man für einen SpaSS haben …‘ 1

Wir verbringen einen großen Teil unserer wachen Zeit mit Sitzen: Wir erledigen viele Dinge – aber meistens im Sitzen. Wir erholen uns – aber bitte im Sitzen. „Bitte setzen Sie sich …!“ – Auch wenn man gerade lange im Auto gesessen hat. Man könnte diese Reihe unendlich fortsetzen … Kurz, wir beschäftigen uns zu viel mit dem Sitzen. „Ich kann nicht mehr sitzen …“ „Mir tut schon alles weh vom vielen Sitzen!“ „Kann ich mich in den bequemeren Sessel setzen?“ „Oh, diese harten Stühle!“ „Hier versinkt man doch, hier sitzt man doch viel zu weich!“ „Jetzt muss ich aber doch mal aufstehen, Beine vertreten …“ Kurz, wir sollten uns mehr mit dem Sitzen beschäftigen (Abb. 1, 2).

1 Dieses Statement gibt den Text der frei gehaltenen Einführung zu den Tagungsbeiträgen von ­Karianne Fogelberg und Tobias Lander wieder.

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1  Muss Sitzen bequem sein?

Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘     | 179

2  Auf jeden Fall muss Sitzen Spaß machen …

Auch wenn das Sitzen in unserer Gesellschaft offenbar eine sehr dominante Rolle spielt – eine positive, aber auch eine negative –, zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es vielleicht nicht immer so war: Wir kennen Bilder aus der römischen Antike und sehen dort, dass die Speisenden sich zum Mahl bequem niedergelegt haben. Wir sehen die berühmten Bilder vom Abendmahl, bei dem die Jünger um Jesus herum sitzen (die Darstellungen, bekannt aus der Kunstgeschichte, zeigen das Abendmahl allerdings fast immer so, dass alle Jünger in einer Reihe sitzen – eher unwahrscheinlich, denke ich). Oder haben sie vielleicht doch gelegen, so wie es in jener Zeit nicht unüblich war? Das können wir uns dann doch nicht so recht vorstellen … – Das heilige Abendmahl war ja schließlich kein Festmahl (Abb. 3, 4). Denken wir auch daran, dass es bis vor wenigen Jahrhunderten ein Privileg der Herrschenden war, zu sitzen – die Untergebenen mussten stehen. Sie überragten allerdings dann den Herrschenden, also musste ein erhöhter Thron her. Auch im Büro- oder Kaufmannsalltag beugen sich die Kontoristen und Schreiber über Stehpulte … Auch die Mönche des Mittelalters mussten bei ihrer unendlichen Fleißarbeit des Kopierens stehen. Allein die besondere Anforderung an Genauigkeit rechtfertigte ge­­ legent­lich das Sitzen. Manches ist in Vergessenheit geraten, anderes wird gern wieder aufgenommen, zum Beispiel das Arbeiten am Stehpult (Abb. 5, 6).

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3  Das Heilige Abendmahl – so wie wir denken, es zu kennen

4  Jesus liegt mit seinen Jüngern beim Heiligen Abendmahl

Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘     | 181

5  Sitzen als Herrschafts­ instrument

6  Stillsitzen – auch nach langen Jahren des Übens kaum möglich …

Wir bewegen uns heute mit dem Sitzen zwischen dem Anspruch, es besonders ermüdungsfrei gestalten zu sollen und dem Wunsch nach totaler Entspannung. Zum ersten Punkt wurden unzählige ergonomische Studien angefertigt, und wir haben es heute geschafft, den vermeintlich perfekten Bürostuhl zu bauen. Der Weg dahin war nicht frei von Annahmen, an die wir uns heute nicht mehr gern erinnern … (Abb. 7, 8). Die andere Welt des Sitzens ist die totale Entspannung, das Sich-Gehenlassen, das Lümmeln, das Private – die Welt, in der man sich erholen möchte, in der man untätig sein möchte (und vorzugsweise fernsehen, weniger lesen möchte) … Auch hier finden sich mannigfaltige Versuche, dies so angenehm wie möglich zu gestalten. Gern vergisst man dann, dass ein Sitzmöbel auch Freiheit bieten sollte, dass man auch hier angenehme ­Proportionen zwischen Sitzfläche und Lehne haben möchte und nicht nur einfach ­weiche

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Polster. So entpuppt sich das Entspannen in einer ‚Wohlfühloase‘ nicht selten als ­Tortur für den diese Haltungen nicht gewöhnten Körper.

7  Sitzmaschine zum Ermitteln eines idealen Rückenprofils

8  Der körperangepasste Büroarbeitsplatz – ein Irrweg der 1970er-Jahre

Sit and think: Zu Gast auf einem „Thonet Nr. 14“     | 183

Xenia Riemann

Sit and think: Zu Gast auf einem „Thonet Nr. 14“ Überlegungen zum Mensch-Ding-Verhältnis

Der „Thonet Nr. 14“ ist berühmt Über dieses Möbel sind unzählige Texte geschrieben worden, also warum ein weiterer? Es ist doch bereits alles gesagt: Dieser Stuhl, der aus dem vorletzten Jahrhundert stammt – genauer wohl um 1856 das sprichwörtliche Licht der Welt erblickte –, wird selbst am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch als der erfolgreichste Bugholzstuhl bezeichnet; er wurde allein bis 1920 schätzungsweise über 30 Millionen Mal verkauft (Abb. 1).1 Die Rezeption dieses Bugholzstuhls, der gerne einfach auch als Kaffeehausstuhl bezeichnet wird (wie viele andere Modelle des Herstellers „Thonet“ auch), stellt vor allem folgende Charakteristika heraus: 1) die für die Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionäre Herstellungsweise aus massiv gebogenem Buchenholz, einhergehend mit einer neuen, ungewohnten Ästhetik; 2) den Übergang zur industriellen Massenproduktion, die sich in Fabriken an den Holzquellen mit preiswertem Personal und eigener Energieproduktion sowie autarker Zuliefererindustrie abspielte; 3) den erfolgreichen internationalen Vertrieb durch den genialen Trick, die Sitzmöbel zerlegt zu verschicken und vor Ort auf Nachfrage zusammenzusetzen; und 4) das vorbildliche Marketing, das beispielsweise über mehrsprachige Firmenkataloge warb. Das alles wurde zusätzlich untermauert durch eine vorläufige Monopolstellung der Firma als alleinige Patentinhaberin zur Biegung von Vollholz und politisch unterstützt durch eine einflussreiche Aristokratie.2

1 Vgl. Heller, Hermann: Michael Thonet. Der Erfinder und Begründer der Bugholzindustrie, Brünn [1926]; Michael Thonet. Ein Gedenkblatt aus Anlass der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. 2. Juli 1896. Von seinen Söhnen und Enkeln, Wien 1896, S. 30 (dort: „40 Millionen“). – Zu den unterschiedlichen Verkaufszahlen siehe Renzi, Giovanni: Thonet 14. The History, Development and Imitations of the Bestselling Chair in the World, Mailand 2003, S. 11, Fn. 1. 2 Siehe Vegesack, Alexander von: Das Thonet Buch, München 1987; Ottillinger, Eva B.: Gebrüder Thonet. Möbel aus gebogenem Holz, Wien u.a. 2003. – Zur Zusammensetzung der austauschbaren Möbelteile siehe Thillmann, Wolfgang: Thonet. Die frühen Jahre in Wien, in: Willscheid, Bernd/ Thillmann, Wolfgang (Hg.): Möbeldesign. Roentgen, Thonet und die Moderne, Ausst.-Kat. Roentgen-Museum Neuwied, Neuwied 2011, S.166–168.

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1  Gebr. Thonet, „Thonet Nr. 14“, Entwurf circa 1956, Produktion ab circa 1862

Im Folgenden soll es aber um die Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und einem Stuhl am Beispiel des „Thonet Nr. 14“ gehen. Und dazu bedarf es zunächst eines Rückgriffs auf einen seiner Vorläufer: Nachdem Michael Thonet (1796–1871) hoch­ verschuldet, aber unterstützt von keinem Geringeren als dem österreichischen Staatskanzler und gebürtigen Koblenzer Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773– 1859), das rheinland-pfälzische Boppard verlassen und sich 1842 in Wien angesiedelt hatte, stellte er kurz darauf in Kooperation mit Carl Leistler (1805–57) die neue Bestuhlung des Wiener Palais Liechtenstein her. Unter anderem entstand ein graziler Laufsessel mit der Funktion, bei gesellschaftlichen Ereignissen (wie Konzerten, Banketts, literarischen oder politischen Salons) die geladene Aristokratie sitztechnisch zu versorgen (Abb. 2). Die Polsterung der Sitzfläche war der einzige Luxus; die Konstruktion des

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2  Michael Thonet, Laufsessel für das Palais Liechtenstein, Wien, 1843–47

Stuhls wurde sichtbar belassen. Angesetzt am Sitzrahmen erscheinen die zur Seite geschwungenen Vorderbeine. Die Hinterbeine gehen in die Rückenlehne über, deren beide Enden zur Versteifung ein Oval bilden. Thonet entwickelte diesen stabverleimten Stuhl schrittweise weiter beziehungsweise reduzierte ihn zu einem noch viel einfacheren, schlichteren Stuhl, der keine dekorativen Profilrillen, keine ornamentalen Details an Knotenpunkten und auch keine Polsterung mehr hatte: Der „Thonet Nr. 14“ besteht nunmehr aus sechs gebogenen Vollholzstücken, die nur noch miteinander verschraubt werden. Ein eingespanntes Sitzgeflecht aus Rotang ersetzt die Polsterung. Die Funktion ist aber dieselbe geblieben: Wie der Laufsessel aus dem Palais Liechtenstein ist auch dieser Stuhl leicht, einfach zu bewegen und auffällig zurückhaltend in seiner Gestaltung. Allerdings wird er en masse produziert und auch en masse eingesetzt. Er ist

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3  Besucher des Kaffeehauses „Zum braunen Türken“, Zeitungsillustration, 1879

kein repräsentativer Funktionsstuhl im höfischen Milieu mehr, er möbliert nun die ­breiten Gesellschaftsschichten: die Wohnungen von Angehörigen aller ‚Klassen‘, die aufkommende Groß­gastronomie von Cafés oder Ausflugslokalen, die Speisesäle der neuen Eisenbahnen, die Gesellschaftsräume von Ozeankreuzern und Theatern sowie später sogar von Zeppe­linen und Kinos (Abb. 3).3 Der „Thonet Nr. 14“ dient hier einer anonymen Benutzerschar und ist keiner gesellschaftlichen Schicht mehr zuzuordnen. Historisch steht er daher für einen Paradigmenwechsel: Im europäischen Kulturraum geht man davon aus, dass der erste profane Stuhl – reserviert für die Oberschicht – im 14. Jahrhundert entstanden ist. Jahrhundertelang war der Stuhl für den ‚gemeinen‘ Men-

3 Peters, Ursula: Die Demokratisierung der Sitzgelegenheiten. Zum Sitzen in der modernen Massen­ gesellschaft, in: Bott, Gerhard (Hg.): Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von ­T honet, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 163. – Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich besitzt einen der ersten „Thonet-Stühle Nr. 14“, der im Schloss Marienburg des Königshauses von Hannover Verwendung fand.

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schen ein Statussymbol.4 Aber: „Mit der Massenproduktion der Thonet-Stühle aus ge­­ bogenen Holzstangen verlor das Sitzmöbel Ende des 19. Jahrhunderts seine Bedeutung als Symbol eines gesellschaftlichen Ranges.“5 Folgerichtig ließen sich die erfolgreichen Unternehmer Michael Thonet und seine Söhne nicht auf den gebogenen Stühlen ab­­ lichten, sondern auf herrschaftlichen neobarocken ‚Schwergewichten‘.6 Aufgrund der weiten Verbreitung des Stuhles ist die Wahrscheinlichkeit für einen heutigen Europäer, mit dem historischen Massenprodukt in Kontakt zu kommen oder ihn gar zu besitzen, immer noch ziemlich groß. Alternativ bot das schwedische Ein­ richtungshaus „Ikea“ bis vor Kurzem einen leicht veränderten „Thonet Nr. 18“ an, den es seit den 1960er-Jahren unter Verwendung verschiedener neuer Materialien im osteuropäischen Raum produzieren ließ.7

Der „Thonet Nr. 14“ ist unbequem Die Bugholzmöbel an sich galten nicht als besonders sitzfreundlich. Auf die Ergonomie des menschlichen Körpers geht der „Thonet Nr. 14“ nicht ein, sondern der Mensch muss auf den „Thonet Nr. 14“ eingehen, muss sich ihm unterordnen. Der Designwissenschaftler Gert Selle bezeichnet ihn daher als „Er­ziehungs­instrument körperlicher Haltungen und kollektiven Verhaltens.“8 Zeit­ge­nossen klagten über den Bugholzstuhl, dass man nicht lange auf ihm sitzen könne: „Die in den gewöhnlichen Möbelmagazinen vorhandenen Stühle sind oftmals und namentlich, wenn es geschweifte sind, häßlich und auch recht unbequem.“9 Der preiswerte „Thonet Nr. 14“ galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als gewöhnliches Gebrauchsmöbel, so wie die Bugholzmöbel insgesamt als ‚wohlfeile‘ Möbel kategorisiert wurden, unter denen sie jedoch in der Regel aufgrund ihrer Qualität hervorstachen.10 Da sie nicht unter die Kategorie Kunstgewerbe fielen, waren sie den Redakteuren von kunstgewerblichen Zeitschriften wohl keine Zeile wert.

  4 Eickhoff, Hajo: Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Deutsches ­Hygiene-Museum, Dresden, Frankfurt am Main 1997, S. 19f. – Zu Sitzhierarchien siehe Holm, Edith: Stühle. Von der Antike bis zur Moderne. Eine Stilgeschichte des Möbels, München 1978, S. 19.   5 Willscheid, Bernd: Von Roentgen bis Thonet. Sitzmöbel aus drei Jahrhunderten, Ausst.-Kat. Neuwied, Kreismuseum, Neuwied 1998, S. 3.   6 Siehe z.B. das Foto von Michael Thonet und seinen Söhnen, um 1860, in: Ottillinger 2003 (wie Anm. 2), Frontispiz.   7 Ikea (Hg.): Democratic Design, Örebro 1995, S. 88–91, mit Abb. (1964); Democratic Design IKEA. Die Zeitung zur Ausstellung, Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich, München 2009 (mit Abb.).   8 Selle, Gert: Design im Alltag. Vom Thonetstuhl zum Mikrochip, Frankfurt am Main 2007, S. 32.   9 P. H.: Der Stuhl, in: Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration, 1892, 3, S. 51. 10 Vgl. Amtlicher Bericht über die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873, 3. Bd., 2. Teil, Braunschweig 1874, S. 483; Kunstgewerbe, das Gegenstände des täglichen Gebrauchs in künstlerisch veredelter Gestalt vorführt, in: Berichte über die Weltausstellung in Paris 1900, 1. Bd., Wien 1902, S. 69.

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4  Franz Alt, Wiener Interieur mit „Thonet Nr. 14“, um 1872

Das Sitzen an sich war im vorletzten Jahrhundert bereits von allen gesellschaftlichen Schichten einstudiert. Die Disziplinierung begann in Europa schon in mittelalterlichen Klöstern und weitete sich im 19. Jahrhundert mit der Pflicht, in der Schule zu sitzen, noch aus. Der Mensch, der sich beispielsweise 1870 auf den „Thonet“-Stuhl niederließ, war also bereits ein gezähmter ‚Homo sedens‘ und ruhte sich dort in der Regel nicht aus – denn der Stuhl zwingt in eine aufrechte Sitzhaltung, in der man Unterschiedliches ­leisten kann: einem Konzert lauschen, ein Theaterstück sehen, einen Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen und sich unterhalten, gar heftig diskutieren, etwas essen, eine Zeitung lesen oder eine andere Arbeit verrichten. Der auf den leichten Bugholzstuhl Gesetzte kann jedoch eines dort nicht – nämlich sich stundenlang dem geistigen Müßiggang hingeben.11 Dafür gab (und gibt) es das schwere, quasi unverrückbare Polster­ möbel: Der Einblick in einen Wiener Salon um 1870 zeigt, dass der „Thonet Nr. 14“ im bürgerlichen Milieu integriert worden ist und zwar als Pendant (und Komplementär) zum gepolsterten Plüschsessel (Abb. 4). Beide bestehen nebeneinander und dienen dem

11 Über Möbel, auf denen man denken kann, machte sich der kanadische Philosoph Mark Kingwell seine Gedanken: Kingwell, Mark: Tisch, Stühle und andere Maschinen zum Denken, in: Hackenschmidt, Sebastian/Engelhorn, Klaus (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 161–176 (Erstveröffentlichung 2001/02).

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Menschen im selben Raum, aber eben in unterschiedlicher Weise. Selle unterscheidet die beiden Sitztypen als weibliches und männliches Möbel – und spielt damit nicht nur auf das Möbel als Chiffre des Menschen an, sondern auch auf die zeitgenössische Gender-­ Betrachtungsweise: Der bequeme Sessel als weiblicher Part, der empfängt, in den man sich hineinschmiegt, in dem man sich aufgenommen fühlt. Der harte Stuhl als männliches Gegenüber, steif, aufrecht, alert.12 55 Jahre später sind diese unterschiedlichen Sitzarten selbst bei Le Corbusier (1887– 1965) noch ganz selbstverständlich. Für die Möblierung seines Pavillons „L’Esprit ­Nouveau“ auf der „Exposition Internationale des Arts Décoratifs“ 1925 in Paris stellte er einem tiefen Clubsessel einen hohen „Thonet“-Bugholzstuhl gegenüber und erklärte in seinem zeitgleich erschienenen Buch L’ Art Décoratif d’Aujourd’hui, dass beide Typen aufgrund ihres langen Bestehens und ihrer über diesen Zeitraum zugefügten Verbesserungen die ideale Bestuhlung seien. Le Corbusier weist beiden Sitzmöbeln unterschiedliche Funktionen zu: zur Entspannung der Sessel, der Stuhl für die Arbeit. „Man sitzt ‚aktiv‘, wenn man arbeitet. Der Stuhl ist ein Marterinstrument, das einen wunderbar wach hält. Ich brauche einen Stuhl, wenn ich arbeite.“13 Die Möblierung im Kontext des Neuen Bauens zielte in erster Linie jedoch auf eine Typisierung des Sitzmöbels ab, das neben dem Tisch die einzig bewegliche Inneneinrichtung in einem ansonsten lichten, offenen Raum sein sollte. Die Standardisierung in der Architektur wurde also ins Innere fortgesetzt. Der „Thonet“-Stuhl war für Le Corbusier daher in erster Linie der ideologisierte, auf seine Funktion des Sitzens und seine Mobilität reduzierte Sitztypus, dessen rationalisierte Herstellungsweise verherrlicht und dessen industrielle Ästhetik als vorbildlich erachtet wurde: Der Bugholzstuhl wurde zum Archetyp des industriellen Standards stilisiert.14 Aber es interessierte ihn offenbar nicht, dass diese Typisierung sich nicht an den menschlichen Bedürfnissen ausrichtete, wie er es eigentlich propagierte: „Rechercher l’échelle humaine, la fonction humaine, c’est définir des besoins humains.“15 – Le Corbusier gab sich hier selbst mit einem „Marterinstrument“ zufrieden … Die Erkenntnis, dass ein Stuhl ergonomisch entworfen werden sollte, war Ende des 19. Jahrhunderts bereits bekannt. Es wurde an die Entwurfskünstler der Jahrhundertwende appelliert: „Der Künstler soll nicht nach Effekt haschen, er soll nicht schmücken,

12 Vgl. Selle, Gert: Die eigenen vier Wände, Berlin 2011, S. 154–159. 13 Le Corbusier: Das Abenteuer der Wohnungseinrichtung, 10. Vortrag, Samstag, 19. Oktober 1929, „Amigos des Arte“, in: Le Corbusier 1929, Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Berlin 1964, S. 116. 14 Lamarova, Milena: Thonet und das moderne Interieur, in: Bott 1989 (wie Anm. 3), S. 75–88, hier S. 80. – Ein Zeitgenosse der Thonet-Brüder, Gottfried Semper, hatte hingegen eine negative ­Haltung gegenüber dem Bugholzverfahren von Thonet, siehe Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 2, München 1879, S. 244. 15 Le Corbusier: L’A rt Décoratif d’Aujourd’hui, Collection de ‚L’Esprit Nouveau‘, Paris 1925, S. III. – Siehe auch Marcus, George H.: Le Corbusier. Im Inneren der Wohnmaschine. Möbel und Interieurs, München 2000, S. 44–49.

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er soll konstruieren! Dazu muss er sich aber zunächst völlig klar sein, dass der Stuhl zum menschlichen Körper, den er unterstützen soll, ebenso in Beziehung steht, wie der Schuh, [wie] der Rock, den er trägt.“16 Wie ein Kleidungsstück hatte sich der moderne Stuhl dem menschlichen Körper anzupassen. Dazu ein anderer Zeitgenosse: „Der Stuhl, wenn er dem Ruhebedürfnis und nicht der Etiquette, dem zum ‚Scheinsitzen‘ dient, muss in erster Linie der Form und Bewegung des menschlichen Körpers dienen.“17 Thonet war weder ein Künstler noch ein Designer, er war Unternehmer. Er hatte mit dem Stuhl „Nr. 14“ zwar ein elegantes Stuhlskelett entwickelt, aber den Nutzer nicht berücksichtigt. Dies wird vor allem in der Entwicklung zur kreisrunden Sitzfläche offensichtlich, die sich aus der Herstellungsmethode ableiten lässt und zur Ökonomie des Verkaufspreises beiträgt. Der runde Sitz wird zur Konkurrenz des bis dahin üblichen viereckigen beziehungsweise trapezförmigen Sitzes. Mit Verbreitung des ‚Billigstuhls‘ „Nr. 14“ geht also auch der Siegeszug einer neuen Form einher: „Noch bedeutender aber erscheint die damit erfolgte Einführung des zirkelrund gebogenen Sitzrahmens, der seither die Welt erobert […].“18 Nicht die Ergonomie war das Ziel, sondern der wirtschaftliche Erfolg – und für ihre wirtschaftliche Leistung wurden Michael Thonet und seine Söhne, die ab 1853 das Unternehmen unter dem Namen „Gebrüder Thonet“ führten, auch bewundert.19 Der Architekt Alessandro Alverà analysierte anhand der technologischen Entwicklung des „Thonet Nr. 14“ vom laminierten und geschreinerten zum vollholzgebogenen Stuhl, dass sich die Form durch die Ökonomie des Herstellungsprozesses ergab und nicht aufgrund einer gestalterischen Idee.20 Denn die runde Sitzfläche ist auf Dauer für die abgewinkelten Beine beziehungsweise Kniekehlen nicht sonderlich bequem. Daneben drücken sich auch die drahtigen Rückenlehnen bei konsequent aufrechtem Sitzen ins Rückenfleisch. Und das Geflecht der Sitzfläche prägt sich ebenso ins Gesäß: Der Fotograf ­Gabriele Basilico (1944–2013) dokumentierte Letzteres in seiner Fotoserie „Contact“ von 1985, indem er eine junge Nackte auf einem alten „Thonet Nr. 14“ sitzen ließ und anschließend das ephemere Muster auf ihrem Hinterteil ablichtete. Nicht nur das beeindruckende Relief des Sitzgeflechts aus Rotangpalme zeichnet sich deutlich auf dem Gesäß der Frau ab, sondern auch der Sitzrahmen auf der Unterseite des Oberschenkels (Abb. 5 a, b). Erst mit dem Relaunch des „Thonet Nr. 14“ unter der Bezeichnung „Nr. 214“

16 Der Moderne Stuhl, in: Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration, 1899, 4, S. 54f. 17 Eine Möbel-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien, in: Kunst und Handwerk, 1897, S. 166–167. 18 Gedenkblatt Thonet 1896 (wie Anm. 1), S. 30. – Zur Entwicklung vom gerundeten Viereck zum Kreis siehe die Abbildung in: Alverà, Alessando: Michael Thonet and the development of bentwood furniture. From workshop to factory production, in: Ostergard, Derek E. (Hg.): Bent wood and Metal Furniture. 1850–1946, New York 1987, S. 42; vgl. auch Thillmann 2011 (wie Anm. 2), S. 168. 19 Vgl. Illustrirtes Oesterreichisches Journal, 1.03.1887, Titelbild. 20 Alverà 1987 (wie Anm. 18), S. 44.

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5 a, b  Gabriele Basilico, Fotografien aus der Serie „Contact“, 1985

im Jahre 1960 wurde die runde Sitzfläche in eine trapezförmige verändert, um ein bequemeres Sitzen zu ermöglichen.21 Dennoch hat man seinerzeit Fragen der Bequemlichkeit durchaus zur Kenntnis genommen. Franz Thonet (1820–98), der in London 1862 die erste Dependance der Firma aufbaute und neben anderen Modellen in der Mehrheit die Stühle „Nr. 14“ aus Böhmen orderte, schrieb im September 1862: „Sessel Nr 14 licht gehen hier am meisten ab. Und werden wir damit ein tüchtiges Geschäft machen, die letzten 24 geschickten sind zum küssen und waren gleich weg. Die Höhe der Lehnen und Sitze ist ganz recht so und schickt so einen Sessel nach Bistritz, damit alle Nr. 14 auch für Östereich [sic] so gemacht werden im Rücken, dieselben sind so viel bequemer zum sitzen.“ 22

Offenbar unterschieden sich die Produkte der verschiedenen „Thonet“-Fabriken in ihrer Qualität. Die damalige Produktionsform ermöglichte aber auch graduelle Verände21 Zitat aus einer „Thonet“-Broschüre von 1960: „140-jährige Tradition und die große Nachfrage nach dampfgebogenen Stühlen und Sesseln verpflichten uns, an alte Formen wieder anzuknüpfen. Die sprichwörtliche Dauerhaftigkeit, das geringe Gewicht und die zeitlose Eleganz dieser Bugholz­ möbel sind überzeugend“; Archiv Thonet GmbH, Frankenberg (Eder). – Für Hinweise danke ich Susanne Korn, Thonet GmbH, Frankenberg (Eder). 22 Franz Thonet an seinen Bruder Josef in Wien, London, 8/9 1862, transkribiert von Peter Ellenberg, Freiburg, 24. 04. 1999; Archiv Thonet GmbH, Frankenberg (Eder). – In weiteren Briefen schlägt Franz Thonet Veränderungen bei anderen Modellen vor und geht damit auf die Bedürfnisse des ­Sitzenden und auf deren wohnliche Verhältnisse ein. Die Briefe dokumentieren auch die Einführung des Ringes zur Versteifung des Stuhls.

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rungen, die vielleicht zuerst gar nicht intendiert waren und erst durch den aufmerksamen Kaufmann einheitlich durchgesetzt wurden. Der Stuhl „Nr. 14“ war also mehr eine ökonomisch orientierte Konstruktion denn eine designmäßige oder gar philanthropische. Der Mensch konnte nur reagieren und den Stuhl durch aktives Besitzen ‚bezwingen‘. Er musste mit ihm zurechtkommen: Der Dinggestus des Menschen veränderte sich aufgrund des Dings. Der neue Geist des Maschinenzeitalters, die technologische wie industrielle Leistung veränderten hier die menschliche Gestik und nicht umgekehrt.

Der „Thonet Nr. 14“ ist gesellschaftsfähig Das Sitzen war sicherlich nur eine von vielen Gesten, zu denen der „Thonet Nr. 14“ einlud. Auch das gemeinschaftsstiftende Moment im Gebrauch muss berücksichtigt werden: Das kollektive Verhalten, auf das Selle anspielt, ist dabei in der Umgebung des „Thonet Nr. 14“ zu suchen, der durch Großaufträge und weniger durch individuelle Einkäufer seine weite Verbreitung fand. Die bereits oben genannten Orte waren zunächst der öffentliche Raum oder weitläufige Arbeitsräume für Akkordarbeit und eben nicht der Erker eines großbürgerlichen Hauses.23 Dazu ein weiterer Aspekt: Durch sein geringes Gewicht konnte der Stuhl einfach fortge­tragen werden. Das Rundholz ist haptisch ansprechend, lässt sich also gut greifen. Seine Zierlichkeit stieß aber zunächst auf Misstrauen. So berichtet Franz Thonet: „Es kostet hier [London] viel Mühe die Leute zu überzeugen, daß unsere Sessel stark genug sind.“ 24 Ihre robuste und langlebige Eigenschaft sollte aber schnell erkannt werden. Die Art und Weise, wie der Stuhl benutzt wird, innerhalb eines Raumes von Ort zu Ort bewegt und zu seinesgleichen gesellt oder gänzlich aus Räumen verschleppt wird, zeugt von hoher Anpassungsfähigkeit an verschiedene gesellschaftliche beziehungsweise menschliche Situationen. Diese Beweglichkeit, die dem „Thonet-Stuhl“ in seiner ganzen Ausformung anhaftet (die Rundungen der Rückenlehne suggerieren Halt und Dynamik gleichermaßen), ist auch die Signatur der Zeit. Neue Transportmittel werden in einem Atemzug mit den „Thonet“-­Möbeln genannt: „Die Eisenbahnen verbinden die Hauptstädte, die Maschine greift in jedes Erzeugungsgebiet immer einflussreicher ein (Erfindung des gebogenen Möbels und Einführung in Wien durch Thonet).“ 25 Die Mobilität des Stuhls führte unweigerlich zu einer gesteigerten Mobilität des Benutzers. War der Laufsessel des Palais Liechtenstein für eine bestimmte Schicht bestimmt, so gastieren jetzt unterschiedliche Gesellschaftsschichten auf dem Bugholz23 Keil, Robert: The social and cultural context of bent wood and metal furniture, in: Ostergard, Derek E. (Hg.): Bent wood and Metal Furniture. 1850–1946, New York 1987, S. 175–195, hier S. 181. 24 Franz Thonet an einen seiner Brüder (Josef in Wien?), London, 21. 04. 1862, transkribiert von Peter Ellenberg, Freiburg, 24. 04. 1999; Archiv Thonet GmbH, Frankenberg (Eder). 25 Fischel, Hartwig: Möbelentwürfe der Empire- und Biedermeierzeit, in: Kunst und Kunsthandwerk, 1920, 4, S. 128.

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stuhl. Da der „Thonet Nr. 14“ als einfacher Stuhl selten für elegante Etablissements ausgewählt wurde, wird er eher in einem anonymen öffentlichen Raum dazu beigetragen haben, die Menschen aller Couleur miteinander zu ‚vernetzen‘. In den großen Gesellschaftsromanen von Theodor Fontane, Thomas Mann oder Robert Musil – soweit sie in diesem Rahmen durchgesehen werden konnten – sucht man ihn allerdings vergeblich. Entweder waren Bugholzmöbel so selbstverständlich, dass sie keine weitere Beachtung fanden, oder sie gehörten nicht in das Milieu der Akteure. Dennoch, die Rezeption des „Thonet Nr. 14“ in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wäre sicher eine Untersuchung wert.

„Der Thonet Nr. 14“ ist schön Der leere Stuhl ist ein Bild vollendeter Konstruktion. Der Architekt Álvaro Siza Vieira sagte über dieses Bild: „Es ist immer noch ein Stuhl, der aussieht wie ein Stuhl. Es ist der Stuhl“.26 Er bildet aber in dieser Form auch die Absenz des Menschen ab, also den Sitzenden, ohne den der Stuhl seine Funktion nicht erfüllt. Und ohne die Einheit mit einem Tisch steht der Stuhl allein für sich. Er wird dadurch zum abstrahierten Gegenstand, nach Jean Baudrillard gar zum ‚Objekt‘.27 Der für sich stehende „Thonet Nr. 14“ prägte lange Zeit das Bild des Stuhls. Selbst heute, nachdem der Bugholzstuhl nicht mehr diese Präsenz hat – unter anderem, weil er sich vom preiswerten Massenprodukt zur teuren Re-Edition gewandelt hat –,28 gilt er als Design-Ikone wegen seiner vorbildlichen Verbindung von Form und Funktion und ­seiner Reduktion auf das Wesentliche. Vorwegnehmend spiegelte er ein Ideal der Moderne: ‚Weniger ist mehr‘ und eine ornamentlose Sachlichkeit, die über Jahrzehnte hinweg Stilmoden problemlos überlebt hat und auch den diversen Fingerübungen der heutigen Stardesigner standhalten kann.29 Könnte der „Thonet Nr. 14“ nun neben seiner ästhetischen und historischen Bedeutung auch eine Ikone des Sitzens sein? Der ungenutzte „Thonet“-Stuhl wäre dann nicht nur das Abbild des Stuhls an sich, sondern schlechthin auch ein Abbild des Sitzens? Für den österreichischen Architekten und Architekturkritiker Adolf Loos (1870–1933) schien diese Frage entschieden: 26 Hofmeister, Sandra (Hg.): Mein liebster Stuhl. Von Architekten, Designern und ihren liebsten Stühlen, München 2008, S. 168. 27 Siehe Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2007, S. 27, S. 111 und S. 175. 28 Zum „Thonet“-Stuhl als sogenannten „3-Gulden-Stuhl“ siehe Lauboeck, Georg: Das Biegen des Holzes, Weimar 1893, S. 27–28 (zwei bis zwölf Gulden pro Woche verdiente ein Arbeiter; drei Gulden hatten die Kaufkraft für 36 Eier). – Heute kostet das Nachfolgemodell „Nr. 214“ laut Preisliste 571,- Euro (Stand 01. 07. 2013). 29 Praschl, Peter: Wieso müssen Stühle interessanter aussehen als ich? Sitzungsbericht für einen Design-Berater, in: Der Stuhl. Ein Rundgang durch das Germanische Nationalmuseum, Nürnberg 1998, S. 28–31.

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„Siehe den thonetsessel! Ist er nicht aus demselben geiste herausgeboren, aus dem der griechische stuhl mit den gebogenen füßen und der rückenlehne entstanden ist, schmucklos das ­sitzen einer zeit verkörpernd?“30

Vor der Jahrhundertwende also sieht Loos im „Thonet“-Stuhl (und d. Verf. will hoffen, dass Loos hier den „Thonet Nr. 14“ gemeint hat) die ideale Verkörperung des Sitzens. In diesem Sinne liefert der „Thonet“-Stuhl eine bildgebende Konstellation zwischen Mensch und Ding, zwischen ‚Besitzer‘ und Sitzen. Das Abbild vom Stuhl fällt mit der Vorstellung des Sitzens in einem Bild zusammen. Die Funktion des Stuhles wird abgelesen und mitgedacht. Ob das an diesem hölzernen Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert geschieht oder an einem zeitgenössischen Monoblockstuhl aus weißem Kunststoff, ist heute leider unerheblich. Übrigens: Das Experiment, diesen Aufsatz durchgehend auf einem „Thonet Nr. 14“ zu schreiben, scheiterte letztlich auch am Mensch-Ding-Verhältnis – gedacht wurde auf einem anderen Sitzmöbel.

30 Loos, Adolf: Kunstgewerbliche Rundschau I, Aus der ‚Wage‘, 1898, in: Loos, Adolf: Ins Leere ge­­ sprochen, 1897–1900. Unveränderter Neudruck der Erstausgabe 1921, hg. von Adolf Opel, Wien 1981, S. 35.

Sitzmaschinen. Vom autoritären Bürostuhl zum offenen Sitzprogramm     | 195

Karianne Fogelberg

Sitzmaschinen. Vom autoritären Bürostuhl zum ­o ffenen Sitzprogramm

Nichts scheint so selbstverständlich wie das Sitzen. Trotzdem – oder deshalb – ist diese alltägliche Handlung Gegenstand vielfältigster wissenschaftlicher Studien, und die Sitzmöbel selbst unterliegen einer fortwährenden Optimierung.1 Kein anderes Möbel erfährt zudem so viel Aufmerksamkeit im Design wie der Stuhl. In der Designgeschichte wird dem Stuhl geradezu die Rolle des Protagonisten, ja, des Leitprodukts zugewiesen; er ist zentrales Anschauungs- und Erklärungsmedium in so prominenten Designsammlungen wie dem Museum of Modern Art, New York, der Neuen Sammlung, München, oder dem Vitra Design-Museum, Weil am Rhein.2 Am Stuhl – darauf können sich Kuratoren, Sammler und Wissenschaftler gleichermaßen einigen – lässt sich wie an keinem anderen Gegenstand die Entwicklung von Verfahrenstechniken, Materialien und ästhetischen Strömungen ablesen. Nicht zuletzt hatten Stuhlentwürfe immer wieder programmatischen Charakter, wie etwa die ersten Stahlrohrmöbel der 1920er-Jahre oder der Sitzsack von Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro („Sacco“, 1968).3 Wurde der Stuhl in der Vergangenheit als passives Objekt betrachtet, dem Designer und Benutzer seine Gestalt verordnen und der in erster Linie über seine Funktionalität definiert wird, so mehren sich in jüngster Zeit Untersuchungen, die Objekten eine aktive Rolle zugestehen.4 Demnach ist die Rolle des Stuhls als Protagonist weitreichender als bisher angenommen – er ist mit eigenem Handlungspotenzial ausgestattet.5 Diesem Verständ1 Vgl. Eickhoff, Hajo (Hg.): Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Dresden, Deutsches Hygiene-Museum, Frankfurt am Main 1997. 2 Vgl. Vegesack, Alexander von (Hg.): 100 [Einhundert] Masterpieces aus der Sammlung des Vitra Design Museums, Ausst.-Kat. Weil am Rhein, Vitra Design Museum, Weil am Rhein 1996; Fiell, Charlotte/Fiell, Peter: 1000 [One thousand] Chairs, Köln 1997; Hofmeister, Sandra (Hg.): Mein liebster Stuhl. Von Architekten, Designern und ihren Lieblingsstühlen, München 2008. 3 Vgl. Noever, Peter (Hg.): Frei schwingen. Stühle zwischen Architekturmanifest und Materialexperiment, Ausst.-Kat. Wien, MAK Wien, Wien 2006. 4 Vgl. Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 2012; Hackenschmidt, Sebastian/Engelhorn, Klaus (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kultur­geschichte der Dinge, Bielefeld 2011. 5 Vgl. Latour, Bruno: Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005.

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nis zufolge formen nicht nur wir den Stuhl mittels Gestaltung und Handhabung, der Stuhl formt auch uns: Wenn wir uns auf ihn setzen, nimmt er unseren Körper gleichsam in Besitz. Er umfängt, programmiert und diszipliniert ihn. Ob ein amorpher Sitzsack oder ein Bürostuhl mit ausgetüftelter Mechanik – Sitzmöbel können Konventionen hinterfragen, neue schaffen oder alte zementieren. Hinzu kommt, dass der Gestaltung von Stühlen oft eine erzieherische Intention zugrunde liegt. Bereits die ersten Stühle der Moderne waren, wie Konrad Wünsche in seinem Buch Bauhaus. Versuche, das Leben zu ordnen (1989) schreibt, als „Anleitung zum richtigen Sitzen“ gedacht.6 Dieser didaktische Impetus ist bei der Gestaltung von Bürostühlen bis heute offensichtlich. Der Bürostuhl im beginnenden 21. Jahrhundert ist ein hochkomplexes Gebilde, das sich mit eingebauter Synchronmechanik, Hebeln und Drehknöpfen als regelrechte ‚Sitzmaschine‘ versteht.7 Das Bild vom Menschen, der mit seinem Stuhl zu einer formalen Einheit verschmilzt, prägt in unserer westlichen Gesellschaft unverändert die Vorstellung einer leistungsfähigen Arbeitshaltung. Daran schließt sich die Frage an, in welcher Weise der Bürostuhl unsere Haltung bedingt: Welche Formen des Sitzens begünstigt er? Führen die fortwährend optimierten Modelle gemäß dem Anspruch von Gestaltern und Herstellern zu einer verbesserten Sitzhaltung? Oder bleibt die Geste des Sitzens den sozialen und kulturellen Gewohnheiten verpflichtet? Was braucht es, damit ein Stuhl vertraute Haltungsmuster aufbrechen kann, und welche Rolle spielt dabei die Gestaltung? Diese Fragen sollen im Folgenden am Beispiel ausgewählter Arbeitsstühle und unter besonderer Berücksichtigung des Stuhls „360°“ (2009) von Konstantin Grcic (geb. 1965) untersucht werden.

Sitzmaschinen – zwischen Disziplin und Dynamik Die Debatte um die korrekte Sitzhaltung, die sich heute in der Suche nach dem ergonomisch optimierten Bürostuhl fortsetzt, reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück. Damals wurde die Definition der Sitzfunktion noch vom Ideal einer disziplinierenden Arbeitshaltung abgeleitet, die den Körper ruhigstellt. Prominente Verfechter der korrekten Sitzhaltung waren der Orthopäde und Pädagoge Daniel Gottlob (auch: Gottlieb) Moritz Schreber (1808–61), der Sitzkorsette mit Geradehaltern entwickelte (1891), und der Arzt und Naturkundler Franz Staffel (1852–1936), auf den der „Kreuzlehnstuhl“ (auch „Staffel­ stuhl“, 1875 oder 1883/84) zurückgeht, der – entsprechend der damaligen Ideologie des 6 Wünsche, Konrad: Bauhaus. Versuche, das Leben zu ordnen, Berlin 1989, hg. von Ulrich Raulff, Berlin 1989 (= Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 17), S. 47. 7 Erst in jüngster Zeit zeichnet sich ab, dass der langjährige Fokus auf technische Innovationen in der Bürostuhlbranche nachlässt und die Maschinenästhetik zugunsten einer sich auf einen Blick erschließenden Gestaltung reduziert wird. Beispielhaft hierfür ist der „Physix“ von Alberto Meda (2013). Dies ist aber wohl eher der an Bedeutung verlierenden Trennung zwischen Büro und Zuhause beziehungsweise zwischen Arbeit und Freizeit zuzuschreiben, die unter anderem zur Nachfrage nach ‚wohnlicheren‘ Arbeitsstühlen führt denn nach einem revidierten Verständnis des ergonomisch korrekten Sitzens.

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1  Franz Staffel, Kreuzlehnstuhl (Staffelstuhl), 1875 oder 1883/84 (?)

Aufrechtsitzens – mit Hilfe einer verstellbaren Rückenlehne den Körper an Rumpf und Beinen je um 90° abwinkelt (Abb. 1).8 Damit fungiert der Stuhl als stützender Apparat und übernimmt ähnlich einer Maschine körpereigene Funktionen. Im Gegensatz dazu soll der moderne Bürostuhl ‚aktives‘ Sitzen ermöglichen und dem Sitzenden möglichst viele Anreize bieten, seine Sitzposition häufig zu variieren. Dies entspricht den heutigen ergonomischen Kenntnissen, wie sich gesundheitsschädliche Haltungen beim Arbeiten mindern oder vermeiden lassen. Hintergrund dazu ist die allgegenwärtige Nutzung des Computers und die damit verbundenen monotonen mechanischen Beanspruchungen, mit deren nachteiligen Folgen sich Mediziner unter dem Begriff ‚Repetitive Strain Injury‘ (kurz RSI-Syndrom) befassen.9 So haben sich Bürostühle seit den 1990er-Jahren zu technisch hochgerüsteten Sitzmaschinen ent­w ickelt, die sich in Ausstattung und Einstellungsoptionen zu übertreffen suchen. Wie einst bei

8 Vgl. Eickhoff, Hajo: Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München u. a. 1993, S. 134–136. 9 Vgl. Scheppe, Wolfgang: Growing a Chair. Das Büro und sein Stuhl. Überlegungen und Entwicklungen zum Bürostuhl bei Vitra, Weil am Rhein 2004, S. 42.

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2  William ‚Bill‘ Stumpf und Donald T. Chadwick, „Aeron“, 1992

Josef Hoffmanns (1870–1956) Armlehnsessel „Nr. 670“, den der Mitbegründer der ­Wiener Werkstätten um 1905 für das Sanatorium Purkersdorf entwarf und der ­später unter dem Namen „Sitzmaschine“ bekannt wurde, liegt auch bei ihnen die Maschinen­ ästhetik in einer zur Schau gestellten Konstruktion mit sichtbaren Mechanismen und erkennbaren Gelenkpunkten. Hinzu kommen technische Materialien wie neuartige Kunststoffe oder Hightech-Gewebe sowie die schwarze Farbgebung, die weiter­hin im Büro dominiert, ungeachtet zuletzt eingeführter farbiger Varianten wie dem „Worknest“ (2007) von Ronan und Erwan Bouroullec (geb. 1971 beziehungsweise 1976) oder dem „Embody“ (2009) von William ‚Bill‘ Stumpf (1936–2006) und Jeff Weber (geb. 1963). Als ergonomisch und formal vorbildlich gilt seit seiner Einführung im Jahr 1992 der „Aeron“, ebenfalls ein Entwurf von William ‚Bill‘ Stumpf und Donald T. Chadwick (geb. 1936) für die Firma „Herman Miller“, ein Stuhl, der seitdem vielfach variiert und kopiert wurde (Abb. 2). Er war damals neuartig in seiner Unterstützung des Lendenwirbel­ bereichs. Seine Rückenlehne folgte bereits der Bewegung des Sitzenden und ließ eine weit nach hinten zurückgelehnte Arbeitshaltung zu, etwa beim Telefonieren, ebenso wie eine nach vorne gelehnte Haltung, etwa bei konzentrierter Schreibarbeit – beide Haltungen stellen erwiesenermaßen eine geringere Belastung für die Band­scheiben dar als

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3  Mario Bellini und Claudio Bellini, ­­„Ypsilon”, 1998

das Aufrechtsitzen.10 Zudem war er als erster Bürostuhl in drei Größen erhältlich und berücksichtigte damit schon früh die Bedürfnisse unterschiedlich großer, aber auch unterschiedlich schwerer Benutzer. Einen Entwicklungsschub zeitigte der „Ypsilon“, den Mario (geb. 1935) und Claudio (geb. 1963) Bellini 1998 für „Vitra“ entwarfen und der mit seinem Exoskelett dem menschlichen Körper nachempfunden war (Stichwort: Bionik) und ein extrem weit nach hinten gelehntes Sitzen zuließ (Abb. 3). „Headline“, ebenfalls ein Entwurf von Vater und Sohn Bellini für „Vitra“, führte 2005 die grundlegende Idee des „Ypsilon“ fort, stützt dabei aber zusätzlich den Kopf und entlastet Nacken und Schultern. Zuletzt (2009) präsentierte der Hersteller „Wilkhahn“ mit „ON“ ein sogenanntes drei­ dimensionales Bewegungskonzept, das gemeinsam mit dem Designbüro „Wiege“ umgesetzt wurde. Der Stuhl ist insofern neuartig, als dass er die bei allen anderen Büro­ stühlen – einmal abgesehen von der Drehbewegung – vorherrschende Lineardynamik

10 Ebd., S. 48.

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4  Wiege, „ON“, 2009

durch eine seitliche Bewegungsmöglichkeit ergänzt. Die Gewichtsverlagerung des Sitzenden lässt den Stuhl also nicht nur nach vorne kippen oder nach hinten wippen, sondern auch zur Seite beugen (Abb. 4). Alle diese unter hohem Aufwand entwickelten Stühle beinhalten zweifellos ein großes Potenzial: Aktives Sitzen, so scheint es, müsste mit diesen raffinierten Sitz­ maschinen ein Kinderspiel sein. Aber wie lässt sich dann erklären, dass wir trotz kontinuierlich verbesserter Funktionen unserer Stühle vorwiegend in der gleichen Haltung verharren? Die Antwort liegt wohl zum einen in der unrealistischen Erwartung, dass wir unsere konzentrierte Tätigkeit alle zehn bis 15 Minuten unterbrechen, um eine neue Position einzunehmen. Zum anderen ist denkbar, dass die zahlreichen Einstellungsfunktionen in vielen Fällen nicht selbsterklärend sind und aufgrund ihrer Komplexität kaum oder gar nicht genutzt werden. Diese Einsicht scheint auch die Hersteller zu beschäftigen. So bezeichnet der Philosoph und Kulturwissenschaftler Wolfgang Scheppe in einer Firmen­ publikation von „Vitra“ die Stühle aus dem Programm des Herstellers als „[…] intelligente selbstorganisierende Systeme, die auf die motorische Spontaneität des Sitzens lebendig reagieren“; „[dynamisches] Sitzen ist hier nicht ein Pflichtprogramm, sondern ein selbst­organisierendes Element der Benutzung [...]. All das sind feinsinnige mechanische Vorrichtungen, mit Hilfe derer sich die Wohltaten eines abwechslungsreichen Sitzens von selbst ergeben, ohne dass es einer Reflexion darauf, einer komplizierten Einstellung oder eines Auftrags der ‚Rücken-Schule‘ bedürfte.“11

Hier wird suggeriert, dass der Sitzende ohne eigenes Zutun die Forderung nach dem aktiven Sitzen erfüllen kann – also gleichsam passiv aktiv sitzen könne. Darin liegt unverkennbar ein Widerspruch. Besteht das Dilemma des ergonomisch optimierten

11 Ebd., S. 60.

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Bürostuhls vielleicht darin, dass er seinen Benutzer in eine passive Bequemlichkeit versetzt, anstatt wechselnde Sitzpositionen einzufordern? Fixiert der moderne Bürostuhl den Sitzenden mehr in seinen Sitzpolstern, als dass er ihn aktiviert? In seiner Analyse des Stuhltyps Freischwinger als Ausdruck einer unruhigen und angespannten Epoche beschreibt der Kunsthistoriker Sebastian Hackenschmidt, wie Paul Virilio (geb. 1932) in seinem 1990 erschienenen Buch Rasender Stillstand das Paradox ansprach, dass Apparate, die unserer Mobilität dienen, dazu führen, unsere Sess­ haftigkeit noch zu steigern: „Der französische Dromologe vertritt die Ansicht, dass die Entwicklung immer schnellerer Gefährte und Geschosse einerseits, in denen der menschliche Körper nahezu reglos vor einem Steuer sitzt, und andererseits die Entstehung einer über Bildschirme vermittelten elektronischen Optik, die die Wahrnehmung von Geschwindigkeit nicht länger an eine tatsächliche, physische Ortsveränderung bindet, zu einem rasenden Stillstand geführt habe.“ 12

Analog dazu scheinen die zunehmenden aktiven Einstellungsoptionen der Bürostühle, die dynamisches Sitzen fördern sollen, unsere passive Sesshaftigkeit eher zu verstärken. In der Tat erinnert das Bild eines Sitzenden, der mit seinem Stuhl zu einer formalen Einheit verschmilzt, an einen Rennfahrer in seinem Boliden – mit dem einen Unterschied, dass der eine sich mit Höchstgeschwindigkeit im wirklichen Raum bewegt, während der andere seine Tätigkeit im digitalen Raum mit größtmöglicher Effizienz zu erledigen versucht und dabei droht, in angespannter Haltung vor dem Monitor gleichsam zu ge­­ frieren. Entgegen den Bemühungen der Büromöbelbranche wird das Nutzungsversprechen der vielgestaltigen Sitzpositionen nicht eingelöst. Vielmehr begünstigen die Bürostühle ungeachtet ihrer aufwendigen Mechanismen die vertrauten Sitzmuster.13 Die Kluft ­zwischen gestalterischer Intention und tatsächlicher Nutzung, die sich beim Arbeitsstuhl auftut, wirft die Frage auf, welche Rolle die Ergonomie hierbei spielt, deren Ziel es ist, optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen, um gesundheitlichen Schäden vorzu­ beugen: Geht es darum, die Körperhaltung beim Sitzen zu ‚verbessern‘ und dabei den Stuhl an den menschlichen Körper anzupassen – oder vielmehr den Körper an den Stuhl? Denn mit zunehmendem Funktionsangebot formulieren diese Sitzmaschinen einen gewichtigen Anspruch: Wenn der Bürostuhl in allen Aspekten optimiert ist, dann liegt es letzten Endes am Benutzer, gesundheitliche Beschwerden durch eine angemessene Nutzung auszuschließen. Hier wird, wissentlich oder unwissentlich, die erzieherische Intention von einst mit anderen Mitteln fortgesetzt. Der Anspruch auf Zweckmäßigkeit, gestützt auf die Ergonomie, wird auf den Sitzenden ausgeweitet: Dieser solle sich ebenso zweckmäßig verhalten wie der Stuhl – und ihn also gefälligst korrekt nut-

12 Hackenschmidt, Sebastian: Form Follows Motion – Stühle in Bewegung, in: Hackenschmidt/ Engelhorn 2011 (wie Anm. 4), S. 233–255, S. 253. 13 Damit ist der Bürostuhl nicht allein, dies gilt auch für Wohnlandschaften; vgl. dazu den Beitrag von Tobias Lander im vorliegenden Band.

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zen. Zugespitzt formuliert dient die Maschine nicht dem Menschen, der Mensch dient – auch hier – vielmehr der Maschine. Hier tritt also ein autoritärer Charakter zu Tage: Die Sitzmaschine ist Angebot und Anweisung zugleich. Gleichzeitig ist der Bürostuhl mehr als eine Sitzgelegenheit. Er dient ebenso der Repräsentation wie der räumlichen und hierarchischen Organisation des Arbeitsumfeldes. Ein mit den neuesten Features ausgestattetes Modell bringt, analog zum Thron als Herrschersymbol, den Einfluss und die Autorität seines Benutzers zum Ausdruck sowie die Wertschätzung des Arbeitgebers gegenüber seinen Angestellten.14 So sind die Stühle in einem Callcenter-Großraumbüro anders beschaffen als die auf der Vorstands­ ebene. Aus dieser Perspektive betrachtet verbessern zahlreiche Einstellungsfunktionen zwar nicht unbedingt die Funktionalität im Gebrauch. Den ideellen und repräsentativen (sowie ökonomischen) Wert des Bürostuhls steigern sie aber allemal.

Ein Werkzeug zum Sitzen – Grcics „360°“ Im Vergleich dazu wirkt der „360°“-Drehstuhl von Konstantin Grcic für den ­italienischen Hersteller „Magis“ (2009) wie eine Absage an das Ergonomie-Credo der Büromöbelin­ dus­trie (Abb. 5). Die auf ein Minimum reduzierte Sitzfläche und Rückenlehne, die kaum als solche zu erkennen sind, zwingen den Benutzer geradezu, verschiedene Sitzpositionen auszuprobieren, und hindern ihn daran, es sich allzu bequem zu machen. Man kann auf dem Stuhl rittlings Platz nehmen, seitlich oder frontal. Wie der Name besagt, kann man sich auf ihm um die eigene Achse drehen – nicht nur durch den integrierten Drehmechanismus am Fußkreuz, sondern in der eigenen Sitzposition. Der britische Architekt und Kritiker Sam Jacob gibt das Sitzgefühl wie folgt wieder: „Sitting on it in a traditional way is the least successful approach – you feel a vertiginous ­sensation that everything that should be there isn’t. Instead, flipping the thing around and ­hopping on it in various positions – side saddle, backwards like an immodest Christine Keeler15, propping your front up on its back, leaning into it, hanging off it – you begin to make sense of it. […] ­Sitting here is conceived as an active state – a constant psychological state of agitation. It’s a curious condition: uncomfortable in a comfortable way.“16

Auf diesem sperrig anmutenden, mit allen Konventionen brechenden Sitzgerät wird das Sitzen zur fortwährenden Improvisation. Die formale Einheit zwischen Mensch und Maschine wird aufgelöst zugunsten einer ständigen Neuverhandlung der Sitzsituation. Ein ähnlich rastloses Sitzgefühl, wie es der „360°“ provoziert, hat Albert Sigrist 1930 den ersten Freischwingern der Moderne attestiert: 14 Vgl. dazu Eickhoff 1993 (wie Anm. 8). 15 Anm. d. Verf.: Christine Keeler (geb. 1942) ist jenes britische Callgirl und Model, das sich 1963 von Lewis Morley (1925–2013) unbekleidet rittlings auf einem Arne-Jacobsen-Stuhl sitzend fotografieren ließ. 16 Jacob, Sam: Review 360° chair, in: Icon Eye. Icon Magazine Online, 2009 [21. 08. 2009], (13.09.2013).

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5  Konstantin Grcic, „360°“, 2009

„[Man] kann vielleicht sagen, dass auf diesem Stuhl nur ein Mensch sich wohl fühlen wird, dem die ständige leichte Anspannung modernen Lebens, das Gefühl des Federns und der Schnellkraft noch im Ruhezustand zur Existenzbedingung, zum unentbehrlichen Bestandteil seines Lebensgefühls geworden ist.“17

Der „360°“ bietet zwar kein Wippen und Federn. Doch die ständige leichte Anspannung, die im Kontrast zum Versinken in den Polstern des herkömmlichen Bürostuhls steht, teilt er mit dem Freischwinger durchaus. Nun ist der „360°“ freilich kein Stuhl, der einen herkömmlichen Bürostuhl ersetzen soll. Er wurde nicht für die 40-Stunden-Woche im Büro mit Bildschirmtätigkeit konzipiert. So sagt der Designer selbst von seinem Entwurf: „[Er] ist weder ein Hocker noch ein Stuhl, sondern etwas dazwischen. Sein Name lässt darauf schließen, dass er sich dreht und dass man auf ihm in allen Richtungen sitzen kann. Er ist für sitzende Tätigkeiten gedacht, die eine ständig wechselnde Sitzposition verlangen. Der 360° ist

17 Sigrist, Albert: Das Buch vom Bauen, Berlin 1930, hier zit. nach Hackenschmidt 2011 (wie Anm. 12), S. 233.

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6  Peter Opsvik, „HÅG Capisco“, 1984

nicht für lange Arbeitsphasen in einer statischen Haltung intendiert. Stattdessen ermutigt er eine Form des dynamischen Sitzens, befristet, ad hoc, improvisiert – immer in Bewegung.“ 18

Insofern ist die hier unternommene Gegenüberstellung des archetypischen Bürostuhls mit dem „360°“ etwas konstruiert. Es geht auch keinesfalls darum, die Errungenschaften von Ergonomen, Herstellern und Gestaltern zu schmälern. Interessant ist aber dennoch, inwieweit es hier durch die radikale Neuinterpretation des Arbeitsstuhls gelingt, ver­ innerlichte Sitzhaltungen zu sprengen und neue zu fördern. Bisher schien in der Büromöbelbranche die Annahme zu dominieren, dass viele Funktionen auch viel Funktionalität bedeuteten. Grcic verkehrt diese Annahme in ihr Gegenteil, sein Entwurf ist programmatisch: Je einfacher der Stuhl, desto variantenreicher die Sitzmöglichkeiten; je weniger Funktionen, desto zweckmäßiger der Stuhl. Oder, in Jacobs Worten: „What’s happening here is a strange trick – where by undoing the direct functional performance of the chair, Grcic makes the 360° somehow more functional [...]. Perhaps Grcic is suggesting – in a confusion of modernist tenets – that less functionalism might strangely be more useful.“ 19

18 Grcic, Konstantin: 360° Chair & Stool/Work Chair/Magis/2009, in: Projects, KGID (17. 09. 2013). 19 Jacob 2009 (wie Anm. 16).

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Aus der Einfachheit des „360°“ resultiert seine Mehrdeutigkeit. Die Ästhetik der komplexen Sitzmaschine mit eng gefasstem Funktionsrahmen wird hier ersetzt durch die Gestaltung eines Werkzeugs mit offenem Programm, das selbsterklärend ist und sich im Gebrauch intuitiv aneignen lässt – und dies auch einfordert. Während sich der Be­ nutzer den Stuhl aneignet, aktiviert der Stuhl seinen Besitzer. Die Gestaltung ist gleichsam Gebrauchsanweisung: Der Stuhl ist eine dingliche Aufforderung zu neuen Sitz­ haltungen und hinterfragt nachhaltig die Konventionen des Sitzens. In seinem aktivierenden Potential ist der „360°“ durchaus beispielhaft, er hat aber formale Vorläufer. Der Drehstuhl „Perch“ von George Nelson (1908–1986) sah bereits 1964 eine halb stehende, halb sitzende Position vor, die neben der frontalen Sitzposition das seitliche Sitzen zuließ, ohne allerdings so weit zu gehen, das Rittlingssitzen miteinzubeziehen. Dies ermöglichte 1984 Peter Opsvik (geb. 1939) mit seinem Entwurf für den Sattelstuhl „HÅG Capisco“, der seitliches und Rittlingssitzen unterstützt (Abb. 6). Paola Antonelli, Designkuratorin des Museum of Modern Art, New York, vertritt allerdings die These, dass auf diesem Stuhl weiterhin und trotz allem vorwiegend die herkömmliche frontale Sitzposition eingenommen wird; zu sehr erinnere der „HÅG Capisco“ an einen konventionellen Stuhl, als dass er die Sitzgewohnheiten grundlegend neu gestalten könne. Anders offenbar der Entwurf von Konstantin Grcic: „The 360° [...] is disruptive. It is irritating. It isn’t pretty [...]. An object like the 360° forces us to try and to find the right position, to try to use it in a different way.“ 20

Mit seinem vergleichsweise offenen, nichtlinearen Sitzprogramm bietet der „360°“ einerseits eine neue Bewegungsfreiheit. Andererseits wecken die radikal reduzierte Form und die knapp bemessenen Proportionen jedoch zunächst einmal wenig Vertrauen. Sie lassen uns gar keine andere Wahl, als angestammte Sitzpositionen aufzugeben. Insofern ist die wechselseitige Beziehung zwischen Stuhl und Sitzendem nicht frei von Ambivalenz. Ist hier etwa auch eine gewisse Bevormundung im Spiel? – Ja, vielleicht. Die Unmittelbarkeit des Sitzens, die der „360°“ begünstigt, mag fordernd sein, in erster Linie ist sie aber eine willkommene Abwechslung zu den etablierten Alternativen. Die Stärke des Entwurfs liegt in der radikalen Kompromisslosigkeit und der Erkenntnis, dass die Gestaltung mit unseren Gewohnheiten brechen muss, um die sozial und kulturell erlernte Geste des Sitzens, um die Sitz- und Arbeitshaltung zu verändern.21

20 Hier zitiert nach: Koivu, Anniina (Hg.): Design on Trial, in: Abitare 493, 2009, S. 93–99, S. 95. 21 Als hilfreiche, weiterführende Literatur zum Thema sei abschließend noch auf folgende Titel verwiesen: Noever, Peter (Hg.): Formlose Möbel, Ausst.-Kat. Wien, Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien, Ostfildern 2008; ­Eickhoff, Hajo: Thronen als Denken und Meditieren. Die Medialität von Thron und Stuhl, in: Hackenschmidt/Engelhorn 2011 (wie Anm. 4), S. 33–45; ­Olivares, Jonathan: A Taxonomy of Office Chairs, London 2011; Remmele, Mathias: Ein Stuhl für vierzig Stunden, in: Stylepark Online, 2011 [5. 12. 2011], (30. 09. 2013) und Ingram, Tracey: Sitting in Style, in: Frame 93, 2013, S. 152–155.

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Tobias Lander

Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone

Baudrillard als Kommentator des Wandels In seiner ersten großen Publikation, Das System der Dinge von 1968, erkundet der französische Soziologe Jean Baudrillard die Dinge des Alltags, die er zum Ausgangspunkt einer umfassenden Theorie und Kritik der Gesellschaft macht. Seitdem ist über ein halbes Jahrhundert vergangen und in der Rückschau mögen manche Prognosen Baudrillards überzogen anmuten; doch zentrale Beobachtungen wie jene, dass in der modernen Konsumgesellschaft weniger Gebrauchswerte, sondern vielmehr Waren, die als Zeichen fungieren, geschaffen würden, haben ihre Gültigkeit behalten und begründen Baudrillards Ruf als führender Theoretiker der Postmoderne.1 Nicht zuletzt geht es ihm – und dies ist hinsichtlich des Themas des vorliegenden Bandes von Interesse – „um jene Vorgänge, die zwischen Menschen und Gegenständen Beziehungen stiften, und um jene dadurch sich ergebende Systematik der menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnisse“.2 So ist es nur folgerichtig, dass er sich auch jenen Dingen zuwendet, die unser unmittelbares persönliches Umfeld gestalten: den Möbeln. Doch warum sollte man sich noch Jahrzehnte später mit dem Text Baudrillards befassen, vor allem, wenn man auf Erkenntnisse über unser heutiges Verhältnis zu unserer Einrichtung zielt? Zum einen natürlich, weil die Bemerkungen des Medientheoretikers von einer genauen Beobachtungsgabe zeugen und – soweit auf das heutige Milieu übertragbar – nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben. Zum anderen, weil sich Baudrillard den Möbeln in einer Zeit des Umbruchs zuwendet, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Neben den traditionellen Stilzitaten und den auf Gestaltungsprinzipien der in Deutschland so genannten ‚Guten Form‘ beruhenden, reduzierten Möbeln etablierten sich, als der Text verfasst wurde, die gegen die Formprinzipien der Moderne gerichteten

1 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen [deutsche Fassung von: Le système des objets, Paris 1968], 2. Aufl., Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 9. 2 Ebd., S. 11.

Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone     | 207

1  Jonathan De Pas, Donato D’Urbino, Paolo Lomazzi und Carla Scolari, „Blow“, 1967

Möbelentwürfe der Pop-Ära, die mit knalligen Farben den jugendlichen Zeitgeschmack bedienten. Die Pop-Möbel berücksichtigten neueste Techniken und Materialien und rückten diese auch ins Zentrum der Gestaltung, wie beispielsweise der aufblasbare ­Sessel „Blow“ (1967) des italienischen Gestalterkollektivs Jonathan De Pas, Donato D’Urbino, Paolo Lomazzi und Carla Scolari, für den ein spezielles Verfahren der Kunststoffverschweißung entwickelt werden musste (Abb. 1). „Blow“ spiegelt „die veränderte Haltung gegenüber Einrichtungsgegenständen zum Ende der 1960er Jahre wider“, wie Peter Dunas analysiert: „Traditionelle bürgerliche Werte, das Bleibende, das materiell Wertvolle, das Massive, werden hinterfragt und gestürzt. Inspiriert durch Popkultur und Freizeitvergnügen entwerfen die vier Architekten, in Anlehnung an den Aufbau eines Schlauchbootes, eines ihrer ersten Möbel: leicht, transparent, mobil, platzsparend zu verstauen und billig! Das Vergängliche […] ist gleichzeitig Ausdruck für den Wunsch nach Veränderung, sobald man eines Artikels überdrüssig geworden ist.“3

3 Dunas, Peter: Blow, in: Dunas, Peter/Vegesack, Alexander von/Schwartz-Clauss, Mathias (Hg.): 100 [Einhundert] Masterpieces aus der Sammlung des Vitra Design Museums, Ausst.-Kat. Weil am Rhein, Vitra Design Museum, Weil am Rhein 1996, S. 48f.

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2  Gaetano Pesce, „Up“, 1969

Den praktischen Nutzen eines leichten, mobilen Designs schätzen auch andere Gestalter, doch verweigern sie sich dem Wegwerfgedanken der Konsumgesellschaft: ­Gaetano Pesces „Up“-Serie von 1969 besteht aus formgeschäumten Monoblöcken ohne jede ­weitere tragende Struktur (Abb. 2). Dieses der traditionellen Polstermöbelherstellung entgegenstehende Design war durch die neu entwickelte Technologie des Schäumens großdimensionierter Teile möglich geworden. Der Clou war aber die Anlieferung der Möbel in einem flachen Karton, da der Polyurethanschaum in einer Vakuumkammer auf ein Zehntel seines Volumens gebracht und dann in eine luftdichte Folie verschweißt wurde. Mit dem Öffnen dieser Kunststofffolie füllten sich die Kapillaren des Schaums wieder mit Luft und die Möbel richteten sich zu ihrer vollen Größe auf. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass dieser Prozess – anders als beim genannten Aufblasmöbel – nicht wiederholt werden kann, weshalb der auch „Donna“ genannte „Up5“-Sessel nach dem Auspacken ein raumgreifendes und durchaus bleibendes Möbel ist. Nun ist unwahrscheinlich, dass Baudrillard sich bei seinen aufs Prinzipielle gerichteten Ausführungen explizit solchen Beispielen avantgardistischen Möbeldesigns zuwenden wollte, zumal Pesces „Up“-Serie erst ein Jahr nach Fertigstellung von Baudrillards Schrift erhältlich war. Was er jedoch kommentiert, ist der – nicht zuletzt auch durch die frei­tragende Struktur der Möbelentwürfe bedingte – Drang zum ‚tiefergelegten‘ ­Sitzen, der die beiden prototypisch angeführten Sessel ebenso auszeichnet wie beinahe alle ‚Bequemmöbel‘ der 1960er- und 1970er-Jahre: „For some time furniture had been proclaiming its modernity by being made lower“, resümiert Barry Curtis rückblickend die Entwicklung in England: „For most consumers this lowering of the centre of gravity and the free fall of the body […] resulted in the purchase of studio cushions, bean bags and sculpted foam.“4 Für Frankreich konstatiert der Zeitzeuge Baudrillard „Millio­nen 4 Curtis, Barry: A New Domestic Landscape. British Interior Design 1960–73, in: Mellor, David/ Gervereau, Laurent (Hg.): The Sixties. Britain and France 1962–1973. The Utopic Years, London 1997, S. 186–193, S. 192.

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Leder- und Schaumgummisitze, einer tiefer und molliger als der andere.“5 Man muss annehmen, dass er bei dieser Schilderung eher an die weichen Kissen der neuesten Krea­ tionen aus Italien oder Dänemark dachte und weniger an die zwar auch niedrigen, aber eher straff gepolsterten ­Lounge-Chairs der Prä-Pop-Ära. Baudrillard argumentiert als ein Partizipant dieser Entwicklung, dessen Blick das Bestehende einbezieht, sich aber ­voller Neugier – und manchmal durchaus irritiert – dem Neuen zuwendet. Dabei zeigt er besonderes Interesse für die veränderte Art der Kommunikation, die sich aus der Neugestaltung des Wohnraums ergibt. Doch beschränkt er sich nicht auf die Möbelnutzer: Auch die Gegenstände selbst werden zu Parametern dieser Kommunikation, sei es als bewusst eingesetzte Zeichen oder sei es als den Menschen in seinem Verhalten ver­ ändernde Objekte. Gleich zu Anfang seiner Schrift Das System der Dinge thematisiert Baudrillard die Ausgestaltung des Wohnraums. Nachdem er das überlieferte Milieu einer auf patriarchalischen Familienstrukturen aufgebauten Möblierung beschrieben und auf dessen Weiterleben als „Merkzeichen der offiziellen Anerkennung der Gruppe und der Billigung der Bourgeoisie“ in breiten Bevölkerungsschichten verwiesen hat – im ‚Stilmöbel‘ drückt sich dieses Statusbedürfnis bis heute aus –, wendet er sich dem modernen Wohnen zu:6 „Gleichzeitig mit der veränderten Stellung des Individuums in der Familie und in der Gesellschaft findet auch ein Stilwandel der Einrichtungsgegenstände statt. Couchen, Schlafecken, niedrige Tische, Regale und Anbauelemente verdrängen die alten Garnituren […]. Die Funk­ tion […] ist nun nicht mehr durch die moralische Theatralik der alten Möbel verdüstert; sie trennt sich vom Brauchtum, von der Etikette und von einer ganzen Ideologie, welche aus der Umgebung den undurchsichtigen Spiegel einer reifizierten menschlichen Struktur gemacht hat. Heute lassen die Gegenstände endlich klar er­kennen, wozu sie wirklich dienen […]. Ein Bett ist ein Bett, ein Stuhl ein Stuhl“.7

Doch in diese Feier des Funktionalen mischen sich erste Zweifel, stellt Baudrillard doch an anderer Stelle fest, die Bauweise der Möbel selbst werde in Mitleidenschaft gezogen: „Das Bett verwandelt sich zur Kippcouch, die Anrichte und der Kasten über­siedeln in den Wandschrank, der verschiebbare Türen erhält. Die Dinge lassen sich nun zusammenklappen, ausziehen und schwenken, verschwinden auf Wunsch und sind im nächsten Augenblick wieder da.“8 Offensichtlich ist ein Bett eben doch kein Bett und ein Stuhl kein Stuhl: Vielmehr beschreibt Baudrillard hier die Wandelbarkeit modernen Wohndesigns, weshalb er im Weiteren auch von einer grundlegenden Gegenüberstellung von ­„Elementen und Sitzen“ spricht, deren praktische Anordnung „Ausgestaltung“ heiße und der das allgemeine Konzept der „Atmosphäre“ gegenübergestellt sei. Auch hinsichtlich der die Elemente ergänzenden Sitze verweist Baudrillard auf deren Veränderung: „Die Stühle ‚bedienen‘ nicht mehr den Tisch: Heute haben die Sitze ihre eigene Bedeutung

5 6 7 8

Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 60. Ebd., S. 23–25. Ebd., S. 25, S. 27. Ebd., S. 25.

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3  Wohnzimmer; Frankreich, 1958 (links) und Vereinigte Staaten, 1960 (rechts)

erlangt, und der Tisch ‚erniedrigt‘ sich.“9 So tendenziös Baudrillards Personifizierung der Möbel durch die menschlichen Haltungen entsprechenden Begriffe des ‚Bedienens‘ und des ‚Erniedrigens‘ auch wirkt, kommentiert er doch scharfsichtig eine bis heute gültige Konstante: Nicht die Tische bilden mehr die Zentren unseres Wohnens, sondern die tiefer­gelegte Polstermöbelgarnitur, vor der sich der Couchtisch tatsächlich zur Fußablage ‚erniedrigt‘ hat (Abb. 3). Baudrillard beobachtet hier eine Entwicklung, die aus den Vereinigten Staaten exportiert wurde und mit ‚le living-room‘ auch sprachlich ins Französische Eingang fand. Mit der Tendenz zur Wandelbarkeit und zum möglichst ­tiefen Sitzen hat Baudrillard zwei grundlegende Eigenschaften des modernen Sitzmöbels beschrieben; seine Beschreibung kann trotz aller modischen Anpassungen auch über 50 Jahre später noch Gültigkeit beanspruchen.

Die moderne Wohnlandschaft Betrachtet man die aktuellen Werbeprospekte der Möbelhäuser, die in schönster Regelmäßigkeit die Briefkästen verstopfen, so fällt insbesondere ein bestimmtes Polstermöbel ins Auge: Zumeist prominent auf der ersten Seite präsentiert, erscheint die sogenannte ‚Wohnlandschaft‘ als unverzichtbarer Bestandteil moderner Raumgestaltung (Abb. 4). Wohnlandschaften bestehen aus mindestens einer Polsterecke, erweitert um diverse Liege­flächen, die typologisch von der Chaiselongue bis zur Hightech-Liege mit Lehnenund Kopfstützenverstellung reichen können. Angesichts der ihre Umgebung dominierenden Möbelungetüme scheint die Bezeichnung Wohnlandschaft recht treffend, bilden die großen Sitz- und Liegemodule doch eine Insel mit weich gepolsterten Höhenzügen, umgeben von einem wahlweise mit Teppich oder Laminat bedeckten Ozean. Als Paradiese der Entspannung und Erholung bilden diese Wohnlandschaften den Gegenpol zur als kalt und funktional empfundenen Arbeitswelt, sind Rückzugsort, an dem man Ruhe

9 Ebd., S. 58.

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4  Werbeprospekte für ‚Wohnlandschaften‘, 2012/13

finden und in Ruhe gelassen werden soll: Sie gehören zum „Lebensraum in Gegensatz zur Arbeitsstätte“, um eine Formulierung Walter Benjamins zu gebrauchen.10 Tatsächlich sieht man in den Prospekten der Einrichtungshäuser nur höchst selten mehr als eine – zumeist weibliche – Person auf den riesigen Möbeln, und wenn doch, dann handelt es sich um ein junges Paar in vertraulicher Nähe, einen mit seinem Kind spielenden Vater oder um eine ähnlich private Konstellation. Zusätzlich verweisen die Werbetexter darauf, dass die Wohnlandschaften „jede Menge Platz zum Kuscheln und Relaxen“ oder „für individuelle Entspannung erster Klasse“ böten.11 Nun ist die Betonung der Erholung und Entspannung nichts Neues, erkennt Baudrillard doch bereits 1968, dass „in der Werbung für Wohnungseinrichtungen das Schwergewicht nicht auf der aktiven Ausgestaltung, sondern auf der passiven Beanspruchung der Entspannungsmöglichkeiten“ liege.12 10 Walter Benjamin kommentiert hier das Interieur des Privatmanns, der erstmals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trete; Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk [1927–1940], in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Thiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 5,1, Frankfurt am Main 1991, S. 52. 11 Werbebeilagen der Firmen „Möbel Hugelmann“, Lahr und „Wohnwelt Emmendingen“ vom 11. 10. 2012. 12 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 60.

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5  Verner Panton, „Phantasy Landscape“, 1970 (links) und Joe Colombo, „Living-Center“, 1969 (rechts)

Der postulierte Trend zur Intimität ist dennoch erstaunlich, da die modernen Wohnlandschaften offensichtlich entworfen wurden, um einer größeren Anzahl Personen Platz zu bieten. Ihr – je nach Zeitgeschmack – halbrunder oder mehrfach rechtwinklig abknickender Grundriss impliziert ein kommunikatives Miteinander, das im Widerspruch zum verbreiteten Werbeklischee steht. Es ist offensichtlich, dass den Möbeln etwas Zwitterhaftes innewohnt, da sie einerseits den unter dem Stichwort des ‚Cocooning‘ bekannt gewordenen Eskapismus in eine private Wohlfühlwelt fördern, sich andererseits aber auch zum geselligen Gespräch eignen sollen. In den heutigen Wohnlandschaften hat sich noch die klassische Sitzgarnitur erhalten, die sich um einen niedrigen Couchtisch gruppiert; sie stehen aber genauso in der Tradition der seit Ende der 1960er-Jahre entwickelten modularen und wandelbaren Möbelentwürfe: Möbel aus geformtem Schaumstoff, riesige Kissen und Sitzsäcke bildeten höchst variable Passformen für den auf – oder besser: in – ihnen Sitzenden und sollten als Bausteine eines bewusst gestalteten ‚Environments‘ dienen. Obwohl ein tatsächlicher variabler Aufbau bei den meisten modernen Wohnlandschaften – sieht man einmal von verschiebbaren hockerartigen Modulen ab – nicht mehr gegeben ist, hat sich der Anspruch einer größtmöglichen Bandbreite der menschlichen Positionierung er­­ halten: Wenn man so will, kann man bei den heutigen Wohnlandschaften von ‚Environments‘ von der Stange reden. Inkunabeln dieser von Konventionen befreiten Wohnform stellen die Möbelentwürfe Verner Pantons oder Joe Colombos dar (Abb. 5): Sie laden den Benutzer zur spielerischen Verbindung von Sitzen, Liegen und Kommunizieren ein und bilden dadurch eine Keimzelle der heutigen Wohnlandschaften. Weitere wegweisende Entwürfe wurden 1972 in der vom New Yorker Museum of Modern Art veranstalteten Ausstellung „Italy: The New Domestic Landscape“ präsentiert, und in deren Folge etablierte sich der Begriff der ‚Landschaft‘ in der Inneneinrichtung. Während Panton dem

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6  Sitzsäcke, 1973

Benutzer mit seinen Polsterwellen und -zungen eine Vielfalt verschieden geschwungener Sitz- und Liegemöglichkeiten bietet, die sich auch in ihrer horizontalen Ausrichtung unterscheiden, präferieren die meisten zeitgenössischen Möbelentwürfe eine ­gleiche, niedrige Sitzhöhe: Schließlich könnte die räumliche Erhöhung auch als eine symbolische verstanden werden, als eine – bei aller gestalterischen Reduktion – im Kern thronartige Hervorhebung eines Einzelnen. Als Ausdruck einer sich in den 1960er-­ Jahren manifestierenden demokratischen und egalitären politischen Grundstimmung erschien den Gestaltern eine solche Betonung unerwünscht. Stattdessen vermitteln niedrige Sitzangebote eine dem ursprünglichen möbellosen, bodennahen Kauern oder Lagern verwandte zeitgeistige Zwanglosigkeit, die einer hierarchielosen Kommunikation Vorschub leistet. Das Sitzen als Demokratisierungsprozess erhält hier in der Nachfolge des nach der Abschaffung des Sitzprivilegs in der Französischen Revolution ­re­­üssierenden Bürgerstuhls seine zeitgemäße Fortführung.13 Als typisches Beispiel eines solchen zwanglosen Möbels kann der von Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco ­Teodoro 1968 designte „Sacco“ gelten, der sich zumindest als preiswerter Nachbau in beinahe jeder Wohngemeinschaft der 1960/70er-Jahre fand (Abb. 6). Dieser ausdrücklich als „non-poltrona“, also als ‚Nicht-Sessel‘ bezeichnete Entwurf passt sich durch die bewegliche Füllung aus Polystyrolkugeln der Körperform an, kann Sessel, Hocker oder Liege sein:14

13 Eickhoff, Hajo: Thronen als Denken und Meditieren. Die Medialität von Thron und Stuhl in: Hackenschmidt, Sebastian/Engelhorn, Klaus (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 33–45, hier S. 41. 14 Dunas, Peter: Sacco, in: Dunas, Peter/Vegesack, Alexander von/Schwartz-Clauss, Mathias (Hg.): 100 [Einhundert] Masterpieces aus der Sammlung des Vitra Design Museums, Ausst.-Kat. Weil am Rhein, Vitra Design Museum, Weil am Rhein 1996, S. 126f., S. 126.

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„[Dieses] Zwischenreich zwischen Sitzen und Liegen wurde Anfang der siebziger Jahre auch von konventionellen Möbelherstellern entdeckt. Anleihen aus studentischen Wohnformen und den Weltraumutopien, die zur gleichen Zeit über Science-fiction-Filme auch die Möbel­messen inspirierten, führten zu offenen, demokratischen Wohnlandschaften, zu Kuschelecken und Liege­ wiesen für ‚bodennahen‘ Zeitvertreib, die den neuentdeckten emotionalen und sinnlichen Bedürfnissen der Zeitgenossen Rechnung tragen sollten.“ 15

Wenngleich der Sitzsack den Gedanken eines freien, ungezwungenen Miteinanders wie kaum ein anderes Möbelstück transportiert, hält Baudrillard die Kommunikation für eine grundsätzliche Eigenschaft zeitgenössischen Möbeldesigns: „Die modernen Sitze – vom Hocker bis zum Sofa, von der Sitzbank bis zum Fauteuil – legen Gewicht auf die Geselligkeit und den Gedankenaustausch“, bemerkt Baudrillard, wobei ihm insbesondere der nonverbale Aspekt der Kommunikation in den modernen Bequemmöbeln auffällt, der durch die erwähnte ‚Erniedrigung‘ des Tisches bei gleichzeitigem Bedeutungsgewinn der Sitze möglich geworden ist: „Der Sinn dieser Verwandlung liegt aber nicht in der körperlichen Haltung der Personen, sondern in der aufeinander ausgerichteten Position der Gesprächspartner. Die generelle Anordnung der Sitzplätze und die feine Auswahl des Gegenübers im Verlaufe eines Abends ist allein schon unterhaltend.“ 16 Baudrillard kommentiert hier die Veränderung des Nutzerverhaltens angesichts der modernen Möblierung: Traditionell fand das gesellschaftliche Zusammentreffen, das Miteinanderreden und -speisen, an einem Esstisch oder einer langen Tafel statt, wo der Einzelne ­seinen Platz auf dem Stuhl in der Regel den ganzen Abend behielt, was einer intensiven Unterhaltung mit dem Gegenüber oder dem näheren Umfeld Vorschub leistete. Die neue Variabilität der Sitzmöbel, die sich wie Sitzkissen oder Hockermodule einfach umstellen ließen, förderte hingegen den Ortswechsel, der mit einem Beziehungswechsel zwischen den Anwesenden einherging. Und auch auf den ‚ortstreuen‘ Großmöbeln ermöglichte die tolerierte Lässigkeit der Benutzung den Platz- und Positionswechsel: Kommunikation bedeutet hier auch eine Kommunikation des sich frei positionierenden Körpers. Doch solle diese „in der sitzenden Positur zum Ausdruck kommende Haltung“ laut Baudrillard „keineswegs ein spezifisches Verhältnis den anderen gegenüber“ ausdrücken, sondern „bloß als eine allgemeine Grundeinstellung den sozialen Kontakt fördern“. Demzufolge gebe es „keine Betten mehr zum Liegen, keine Stühle zum Sitzen, sondern nur noch ‚funktionelle‘ Sitzgelegenheiten, die aus jeder (auch menschlichen) Stellung eine freie Synthese bilden.“17 Obwohl er mit den ‚funktionellen‘ Sitzgelegenheiten sehr treffend einen Fakt konstatiert, der sich bis heute in den Wohnlandschaften erhalten hat, erscheinen diese Passagen Baudrillards hinsichtlich des Kommunikationsverhaltens

15 Hauffe, Thomas: Sitzen und Design. Der Stuhl als Manifest, in: Eickhoff, Hajo (Hg.): Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Dresden, Deutsches Hygiene-Museum, Frankfurt am Main 1997, S. 152–170, S. 163. 16 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 59. 17 Ebd.

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einigermaßen widersprüchlich: So verneint er einerseits, dass der Sinn der niedrigen Möbel in der körperlichen Haltung des Sitzenden liege, vielmehr liege er in seiner Positionierung zum Gesprächspartner. An anderer Stelle betont er indes, die Positur gelte weniger dem Gegenüber, sondern vermittle zuallererst eine allgemeine Grundeinstellung. Hier scheint eine gewisse Unsicherheit des Autors angesichts der neuen Einrichtungsformen auf, die möglicherweise seiner eigenen Sozialisation geschuldet ist. Man muss daran erinnern, dass gerade Frankreich seit Mitte der 1950er-Jahre eine regelrechte Revolution des Wohnens erlebte. Der als rückständig wahrgenommenen Wohn­ situation wurde mit einem staatlich gelenkten Bauboom begegnet, und bald signalisierte der genormte Wohnblock an der Peripherie der Städte für breite Schichten der französischen Bevölkerung den „Sprung in die Moderne […] – der Demokratisierungsprozess bekam ein architektonisches Gesicht.“18 In einer Zeit, in der sich der Lebensstil schneller zu ändern schien als der Wohnstil, in der politische Forderungen nach Gleichberechtigung, Freizügigkeit und politischer Teilhabe von den harten Böden der Hörsäle oder im aufrechten Gang durch die Straßen erhoben wurden, wirkt Baudrillards Beschäftigung mit dem am Interieur ablesbaren soziologischen Wandel in der Rückschau seltsam kleinmütig: Die Revolution des neuen Wohnens verblasst angesichts der aufregenden Zeitläufte, deren Leuchtzeichen die Revolte vom Mai 1968 war. Und sicherlich ist auch der plötzliche Bruch mit der Wohntradition zu einem gewissen Teil ein Konstrukt: Aus der Perspektive vieler Zeitgenossen dürfte der Wandel eher evolutionär als revolutionär verlaufen sein, da die Modernisierung des Wohnumfelds – auch ohne ein gesteigertes Beharrungsvermögen der Möbelnutzer vorauszusetzen – wohl eher nach und nach stattfand. Dennoch darf man den Wandel der Wohnumstände nicht geringschätzen, im Gegenteil: Die Kuratoren einer französischen Designausstellung zur Entwicklung neuer Wohnformen in den drei Nachkriegsjahrzehnten betitelten ihre Schau gar „Mobi Boom: L’ Explosion du Design en France“ und für den Historiker Antoine Prost war das 20. Jahrhundert nicht nur „das Jahrhundert der Eroberung des häuslichen Raums, der für die Herausbildung privaten Lebens unabdingbar ist“; vielmehr sieht er in der Entwicklung individueller Lebens­weisen das zentrale soziologische Moment: „Wenn es eine Idee gibt, die in Frankreich neu ist, dann die Idee, dass der Einzelne das Recht hat, sein privates Leben so zu gestalten, wie es ihm gefällt“:19 Es ist naheliegend, dass sich diese neue Idee auch im privaten Umfeld spiegelte, standen mit den neuen Dingen – den „Gegenständen, Apparate[n] und Gadgets“,20 um mit Baudrillard zu sprechen – doch die Bausteine 18 Prost, Antoine: Grenzen und Zonen des Privaten, in: Prost, Antoine/Vincent, Gérard (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 5. Band: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart [deutsche Fassung von: Histoire de la vie privée, tome 5: De la Première Guerre mondiale à nos jours, Paris 1987], Augs­burg 2000 (= Geschichte des privaten Lebens, hg. von Philippe Ariès und George Duby), S. 15–152, S. 66f., 69 und 71. 19 Paris, Musée des Arts décoratifs, „Mobi Boom, L’Explosion du Design en France de 1945 à 1975“, (28. 07. 2013); Prost 2000 (wie Anm. 18), S. 64, S. 78. 20 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 9.

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individueller Entfaltung zur Verfügung. Die neue urbane Wohnkultur verschmolz mit einer befreiten, traditionsfeindlichen Lebensweise, die ihren unmittelbaren materiellen Ausdruck in einem dem klassischen Mobiliar abgeneigten jugendlichen oder gar experimentellen Einrichtungsstil fand, und nicht nur in Frankreich fragten sich renommierte Einrichtungszeitschriften, ob das „traute Heim noch Zukunft“ habe.21 Vielleicht rührt Baudrillards Unsicherheit angesichts der Einschätzung der Kommunikation im lässigen, modernen Wohnumfeld aus seiner eigenen Erfahrung, wechselte er doch, nachdem er an der traditionsreichen Pariser Sorbonne studiert und einige Jahre als Lehrer an einer Oberschule gearbeitet hatte, an die 1964 gegründete Universität Paris-Nanterre, deren Architektur als Inbegriff des neuen Bauens im Konglomerat der Vorzeigemoderne von La Défense aufging. Hier schrieb er seine Dissertation über das System der Dinge in unmittelbarer Erfahrung des in der Hochhausarchitektur manifestierten gesellschaftlichen Wandels: Baudrillard ist zwar Teil dieses gesamtgesellschaftlichen Sprungs in die Moderne, doch scheint sein Blick noch der des nach bürgerlicher Reputation strebenden Arbeitersohns zu sein, dem der repräsentative bürgerliche Lehnstuhl näher ist als der Sitzsack. Die Situation im Frankreich der späten 1960er-Jahre und Baudrillards Scharnier­ stellung zwischen den Welten des Traditionellen und des Progressiven mag eine Erklärung für die Uneindeutigkeit seiner Aussagen sein, ist es doch schwer, mitten in einer Umwälzung die Umwälzung zu beschreiben. Doch scheint sein ‚Entweder-oder‘ un­nötig, weil beide Aussagen zutreffen: Selbstverständlich findet Kommunikation durch die Selbstpositionierung im Raum statt, und die modernen Möbel unterstützen dies durch ihre Gestaltung. Das Gleiche gilt für die Haltung des Sitzenden, der durch sie ein Statement an die Anwesenden abgibt. Die Positionierung des Körpers wird bei der Kommunikation mit dem Mitnutzer zum gleichberechtigten Element neben der Sprache und der Geste. Die Idee des ‚Environments‘ beinhaltet bereits die Kommunikation mittels ‚Wohnmodulen‘ oder einzelner Möbelstücke, die flexibel neu strukturiert werden konnten, um eine aussagekräftige Wohnsituation und neue Denkanstöße zu liefern. Laut Baudrillard spiegele das Interieur die gelöste Haltung des „Raumgestalters“, der gleichzeitig ein „Beziehungsgestalter“ sei, wobei er explizit die Beziehungen der Personen und Möbel jeweils untereinander als auch jene von Personen mit ihren Möbeln benennt. Baudrillard spricht hier analog zum funktionellen Möbel vom „funktionellen“ Menschen, „da zwischen den Personen die gleiche abwechselnde Beziehung von Wärme und Kühle, von Intimität und Abstand [besteht] wie zwischen den Gegenständen“; unter ‚funktionell‘ versteht Baudrillard hier übrigens nicht den Bauhaus-Funktionalismus mit seiner kühlen Effizienz, er rekurriert eher auf den Terminus der Werbestrategen für die Möglichkeit einer variablen Mehrfachnutzung der Objekte: „Freund und Verwandter, Familie und Partner, irgendeine Art der Beziehung ist stets gegeben, aber sie soll locker und

21 Vgl. Schöner Wohnen [Zeitschrift], 1968, 3 (März), Titelblatt.

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funktionell sein, das heißt, sie soll jederzeit hergestellt werden können, ohne dass ihr eine subjektive Note anhaftet; die verschiedenen Arten von Beziehungen müssen leicht auswechselbar sein.“ 22 In der Wohnlandschaft wird der Mensch nun selbst zu einem Baustein eines sich ständig wandelnden Bedeutungsgefüges, zu einem im kommunikativen Spiel umzugruppierenden Objekt. Basierte der Stuhl als klassisches Sitzmöbel auf der Vorstellung des Menschen als eine in zwei rechten Winkeln abknickende Gliederpuppe, so bieten die amorphen ­Sessel nun eine Vielzahl möglicher Positionen. Das Gleiche gilt für die großen Ebenen der heuti­gen Wohnlandschaften, die sich aufgrund der Sitztiefe kaum für ein normales ­Sitzen eignen: Mit angelehntem Rücken verlieren die Füße den Kontakt zum Boden, w ­ eshalb entweder ein Hocken auf der vorderen Kante zur Auswahl steht oder die Aufgabe der gewohnten Sitzhaltung, sei es durch den ‚Schneidersitz‘ oder durch eine wie auch immer geartete Liege­position (Abb. 4). Ohne die festgelegte Ausrichtung des Körpers, die einem tradi­ tionellen Sitzmöbel eingeschrieben ist, eröffnen die modernen bequemen Möbel eine beinahe unbegrenzte Freiheit der Selbstpositionierung, die alle Körperteile einschließt. Ruhen auf dem Sessel oder dem Stuhl die Arme und Hände im Schoß oder – wenn vorhanden – auf Lehnen, so stützt man sich nun auf Kissen oder Rückenpolstern ab und verschränkt die Hände hinter dem Kopf oder vor dem angewinkelten Knie: Die stützende Funktion der Rückenlehne und die aufrechte Sitzhaltung machen solche Gesten auf einem Stuhl unnötig, vielmehr werden sie erst von der spezifischen Form der modernen Möbel erzwungen. Durch die Vielzahl möglicher Handlungsmodi forcieren diese Möbel auch das Unstete, ist der Nutzer doch stets bemüht, den ihm gebotenen Freiraum auszufüllen. Letztendlich ist diese Vielzahl der Posituren jedoch nur scheinbar, da qua Gestaltung der Sitze stets das Lässige, Entspannte transportiert wird: Als Kommunikationsmaschine bedingt das Niedrigmöbel beinahe ausschließlich Gebärden der Bequemlichkeit. Diese Posituren sind so vorhersagbar, dass Aby Warburgs Begriff der Pathosformel hier treffend erscheint, findet sich doch beispielsweise die halbliegende Haltung als Geste der Entspannung auf Bildzeugnissen aus allen Epochen der Kunstgeschichte, angefangen bei antiken Gastmahl-Darstellungen, bis hin zu Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins lässig entspanntem „Goethe in der Campagna“ (Städel Museum, Frankfurt am Main). Doch ist diese Symbolform der Gelöstheit weniger eine gelungene Darstellung einer Gefühlsregung, sondern schlicht durch die Konstruktion des jeweils benutzten Möbels bedingt. Man muss sich angesichts der begrenzten, da grosso modo lässige Entspannung suggerierenden Positurmöglichkeiten fragen, ob ein gewöhnlicher Stuhl – benutzt in einer Zeit nur noch rudimentär vorhandener Etikette – hinsichtlich einer körperlichen Kommunikation nicht das geeignetere Möbel ist: Schließlich lässt er eine Vielzahl von Bewegungen und Haltungen zu, die sich aus seiner einfachen und praktischen Form ergeben, erst recht, weil er auch bequem rittlings benutzt werden kann. Insbesondere die sich der

22 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 58, S. 60.

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7 Bruno Munari, „Ricerca della comodità in una poltrona scomoda“, 1944

menschlichen Körperform anpassenden Möbel ermöglichen kaum eine Veränderung der Position: Man versuche sich einmal in einem Sitzsack umzudrehen! Auch in der Werbeaufnahme eines Gruppengesprächs auf Sitzsäcken meint man noch die gut kaschierte Anstrengung zu erkennen, die das Halten der Position erfordert (Abb. 6). Da der „Sacco“ eine exakte Passform des menschlichen Körpers bildet, wird er vom Hersteller bis heute als „anatomischer Sessel“ beworben. Doch nach dem Detmolder Kulturwissenschaftler Andreas K. Vetter werden „[…] Designkonzepte, die versuchen, mit dem Sitzobjekt die exakte Vorformung einer entspannten Sitzposition abzubilden, von der Mehrzahl der Sitzenden nur für einen kurzen Zeitraum als angenehm empfunden […]. Indem sie den Nutzer dazu bringen wollen, sich in entsprechender Körperhaltung auf, beziehungsweise in die Höhlung zu schmiegen, missachten sie folgendes: Ein wacher Mensch tendiert zur motorischen Unruhe, reflexhaften Bewegungen und ist primär aus physiologischen Gründen dazu genötigt, sein Gewicht leicht zu verlagern, um Verspannungen oder Druckeffekte zu vermeiden. Die vom Möbel vorge-

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8  Gruppo Strum, „Pratone“, 1966

gebene Fixierung verhindert dies aber. Besonders intensiv läßt sich die negative Konsequenz jener eigentlich gut gemeinten Strategie am Beispiel der Sitzsäcke […] nachvoll­ ziehen, deren Nutzung zwar den Reiz des sich individuell einschmiegenden Loungens bietet, mit der Bewegungsfreiheit eines festeren Sessels […] indessen nicht konkurrieren kann.“ 23

Obwohl diese amorphen Möbel für die zwanglose Kommunikation stehen, für Bequemlichkeit und Variabilität, schränkt ihre Gestaltung das freie Spiel mit der eigenen Posi­ tionierung de facto stark ein. Es ist anzunehmen, dass die in Bruno Munaris humorvoller Bilderserie „Ricerca della comodità in una poltrona scomoda“ geschilderte Suche nach einer bequemen Haltung auf einem die Beweglichkeit einschränkenden Sitzsack weniger lässig vonstattenginge (Abb. 7). Einige Entwürfe aus der Pop-Ära wie „Pratone“ der „Gruppo Strum“ von 1966 lassen die Funktion als Möbel zugunsten einer Symbolform des Zwanglosen fast zur Gänze verschwinden (Abb. 8):24 „Pratone“ (von ital. ‚prato‘, Wiese, Grasfläche) bildet ein stark vergrößertes Rasenstück aus grün gefärbtem Polyurethan nach und kann sowohl in Einzelstellung benutzt als auch zu größeren Einheiten zusammengestellt werden – eine vernünftige Verwendung jenseits des Skulpturalen ist jedoch weder im einen noch im anderen Fall möglich. Der Mensch fügt sich nur unzureichend in das Möbel ein, da er sich ohne Hilfe einer den Körper hinlänglich stützenden Struktur im ständigen Kampf – oder positiv ausgedrückt: im Spiel – mit den riesigen Grashalmen befindet. Munaris Suche nach einer bequemen Haltung auf einem unbequemen Sessel ist hier zum Prinzip

23 Dunas 1996 (wie Anm. 14), S. 126; Vetter, Andreas K.: Sitzen. Über eine reizvolle Beziehung zwischen Mensch und Design, Baunach 2010, S. 9. 24 Vgl. z.B. die Abbildung des „Pratone“-Möbels in: Kries, Mateo/Schwartz-Clauss, Mathias (Hg.): Pop Art Design, Ausst.-Kat. Weil am Rhein, Vitra Design Museum; Humlebæk/Dänemark, Louisiana Museum of Modern Art; Stockholm, Moderna Museet u. a., Weil am Rhein 2012, S. 154.

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erhoben: Die Möglichkeit zur Entspannung oder libertinären Entfaltung, welche die gigantische Kunststoffwiese analog zu ihrem Vorbild in der freien Natur verspricht, wird nicht eingelöst. So ist „Pratone“ ein Beispiel dafür, dass ein Möbel unter Aufgabe seines eigentlichen Bestimmungszwecks zu einem bloßen Element der Kommunikation werden kann. Wie jedes gestaltete Objekt – von der Küchenmaschine bis zum Auto – vermittelt es bestimmte Aussagen über den Nutzer, Besitzer, Bewunderer (usw.), die sich nicht zwingend aus der Funktion ableiten.

Je tiefer der Sitz, desto flacher das Gespräch? Kommen wir auf die moderne Wohnlandschaft zurück: In ihr scheinen Baudrillards Beobachtungen zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Kommunikation im modernen Wohnumfeld ihre strukturelle Basis erhalten zu haben, ist in ihrer Gestaltung doch die Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten durch die freie Positionierung des Möbelnutzers von vornherein festgelegt. Dass diese Erweiterung jedoch gleich­zeitig eine kommunikative Einschränkung auf Signale der Entspanntheit ist, erkennt auch Baudrillard: Er konstatiert, dass selbst wenn die modernen Sitze „Gewicht auf die Gesellig­keit und den Gedankenaustausch“ legten, sie dem Sprechenden kein Gegenüber böten: „Unmöglich, sich in Zorn zu reden, recht haben zu wollen und aufdringlich zu überzeugen. Denn diese Sitze begünstigen den reibungslosen Ablauf des Zusammentreffens, sind Prätentionen gegenüber taub, stehen aber für das Spiel zur Verfügung. Vom Grunde dieser Sitze aus brauchen Sie weder eines fremden Blickes gewärtig sein noch den eigenen auf anderen haften lassen: Die Sitze sind nämlich so gebaut, dass alle Blicke nur aneinander vorbeiwandeln. Von dieser Tiefe aus und aus diesem Winkel gleiten die Augen nur entlang einer mittleren Höhe, über eine diffuse Ebene, auf der sie von den Worten sogleich eingeholt werden. Diese Sitze kommen vielleicht der tiefen Erwartung entgegen, niemals allein zu sein und nie ein Gegenüber zu haben. Entspannung des Körpers, vor allem aber Schweifenlassen der Augen – ein nicht ungefährlicher Zustand! […] So verdeckt man vor der Gesellschaft alles, was in diesem aggressiven und begehrlichen Spiel der Blicke Abstoßendes, Widerspruchsvolles und im Grunde Obszönes sein könnte.“ 25

Fasst man Baudrillards These zusammen, so glaubt er an einen von der niedrigen Sitzposition im neuen Wohnumfeld herrührenden gefährlichen Zustand des „Schweifen­ lassens“ des Blicks. Ohne das Korsett der förmlichen Kommunikation verliere der Blick sein Gegenüber, was überspitzt als eine Entpersönlichung des anderen aufgefasst werden kann. Der frei schweifende Blick werde durch gesellschaftliche Normen kompensiert, die dann zu jener jeden Widerspruch vermeidenden emotionalen Selbstbeschränkung führten, die eine ernsthaft geführte Diskussion oder gar einen Disput verunmöglichten. Doch ist die Libertinage der Blicke für den französischen Medientheoretiker nur ein Aspekt einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz: „Wir sind im modernen Interieur viel ungebundener. Ein subtilerer Formalismus und eine neuartige Moral bestimmen das

25 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 59f.

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Verhalten: Alles deutet auf einen obligatorischen Übergang beim Essen, Schlafen, Zeugen, Rauchen, Trinken, Empfangen, Unterhalten, Meditieren und Lesen.“ 26 Als Inbegriff dieser neuartigen Moral kann der „Playboy“-Gründer Hugh ­Hefner ­gelten: Von ihm ist überliefert, dass er alle seine Aktivitäten – von geschäftlichen Be­­sprechungen und Telefonaten über das Essen bis hin zum Sex – in seinem selbst­ entworfenen drehbaren Bett stattfanden, von dem er sich nur selten erhob. Im Gegensatz zu Baudrillard begriff Hefner die Horizontalität nicht als kommunikative Einschränkung; stattdessen erweiterte er den „obligatorischen Übergang“ zu einer Hybridisierung von Privatem und Beruflichem. Ausgestattet mit allerlei technischem Gerät war das „Playboy“-Bett eine Maschine, die nach der spanischen Philosophin und Queer-Theo­ re­tikerin Beatriz Preciado „die fordistische Hierarchie, in der die horizontale Position der Muße und Erholung zugeordnet, die vertikale hingegen als Bedingung der Kapital­ produktion begriffen wird“, ins Gegenteil verkehrte.27 Als eine Art entökonomisierte (und weitgehend entsexualisierte) Variante des „Playboy“-Bettes bestätigen auch die heutigen multifunktionalen Wohnlandschaften die Prognose Baudrillards. Die bloße Absenkung der Sitzposition zeitigt laut Baudrillard dramatische Aus­ wirkungen, geht er doch – plakativ formuliert – davon aus, dass das Gespräch umso flacher verlaufen müsse, je tiefer die Sitze seien. Warum aber wurden dann gerade die unter dem Bodenniveau platzierten sogenannten ‚sunken conversation pits‘ – beispielsweise in Eero Saarinens „Miller House“ (Columbus, Indiana) von 1957 – als Orte der Kommunikation konzipiert? Angesichts der in die Möbelgestaltung explizit eingeschriebenen kommunikativen Möglichkeiten muss man sich fragen, ob Baudrillards pessimistische Analyse nicht zu weit geht. Sicherlich hat der unverbindliche Small Talk das Gespräch in vielen Situationen ersetzt, und man nimmt mittlerweile auch hin, dass die Augen des Gegenübers den Raum auf der Suche nach einem interessanten Anlass ständig schweifend sondieren: Unaufmerksamkeit scheint zu einem Merkmal moderner Gruppen­ kommunikation geworden zu sein. Doch ist diese Tendenz nicht an niedrige Sitz­möbel gebunden. Allerdings will ein aus gepolsterten Tiefen geführtes Streitgespräch tatsächlich unangemessen scheinen, da die entwaffnende Tendenz zur Liegeposition einer forcierten Debatte im Wege steht: Durch die jedweder konzentrierten Handlung abträgliche Konstruktion der Sitze generieren moderne Wohnlandschaften eine emotio­nale Null­ linie, in der ein Gespräch nie zum Disput erwachsen kann und soll. Die kommunikativen Veränderungen, die damit einhergehen, sind genau dieselben, die Baudrillard bereits fünf Jahrzehnte zuvor beobachtet, allerdings widersprüchlich interpretiert hat: Positionierung und Positur werden zu entscheidenden Elementen der Kommunikation und vermitteln sowohl die von Baudrillard konstatierte, zum Austausch einladende Grundstimmung als auch die gezielt an das Gegenüber gerichteten Signale. Die körperlichen Ausdrucksmög26 Ebd., S. 61. 27 Preciado, Beatriz: Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im ‚Playboy‘, Berlin 2010, S. 105.

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lichkeiten werden in beiden Fällen durch die Grundgestaltung der Wohnlandschaften verstärkt oder gar erst geschaffen: Eine eher an die Kante der Sitzfläche gerückte Person vermittelt beispielsweise eine erwartungsvolle Haltung, eine Bereitschaft zum aktiven Austausch, während die an das Rückenpolster gelehnte allein durch die trennende Fläche des Sitzes eine eher passive Gesprächsannahme suggeriert. Daraus folgt, dass ein Wechsel der Körpersignale eine größere, raumgreifendere Handlung bedingt: Genügt auf einem Stuhl eine geringe Körperdrehung oder -neigung, um dem Gesprächspartner gegenüber Aufmerksamkeit zu signalisieren, müssen die Gebärden auf dem Bequem­ möbel ausladender werden. Auf den Wohnlandschaften als Spiel­flächen der Selbstinszenierung werden Posituren der Lässigkeit präferiert; dies bedeutet in diesem körperbetonten kommunikativen Spiel ex negativo auch die ständige Gefahr der ‚Fehlpositur‘: Anders als auf dem niedrigen Bequemmöbel kann dem Gelenkwesen Mensch auf einem Stuhl kaum eine als seltsam empfundene Körperhaltung ge­­lingen. Es ist diese Anpassungsleistung, diese „Selbstmodellierung am Gegenstand“ wie Gert Selle sie nennt, die mit dem Nutzungsversprechen dieser Art von Möbeldesign verbunden ist.28 Baudrillard analysiert nicht nur die modische Veränderung des Interieurs, sondern muss vor allem die Aufwertung der Körpersprache gegenüber dem Primat des Wortes erkennen, und vielleicht gründet hierin auch sein Unbehagen: Der Homme de Lettres hadert mit der durch die Gestaltung des Wohnmilieus veränderten Form der Kommunikation. Andere ‚Wortmenschen‘ nutzten diese neue körperbetonte Kommunikation hingegen ganz bewusst und offensichtlich mit Genuss: In der von dem populären Literatur­k ritiker Marcel ReichRanicki moderierten Talkshow „Das Literarische Q ­ uartett“ (ZDF, 1988–2001/2005–06) entwickelte dieser die Fähigkeit, in Sekundenschnelle aus der Tiefe ­seines Le-CorbusierSofas hervorzuschnellen, um seinen Gesprächspartner mit vorgestrecktem Zeigefinger polemisch anzugehen. Hellmuth Karasek als sein Gegenüber erwartete diese Verbalattacken zumeist aus einer lässigen Liegeposition heraus, aus der er dann ebenso gebärdenreich konterte. Hier erkennt man sehr deutlich die Ver­änderung der Gesten hin zum Ausladenden, ebenso die ‚Grundhaltung‘ der Akteure: Man darf aber nicht vergessen, dass diese Auseinandersetzungen nicht im Privaten geführt wurden, sondern vor einem Millionenpublikum. Der Dualismus von Heiß­blütig­keit und Coolness gehörte zur Dramaturgie der Fernsehsendung, und die ein Wort­gefecht einleitenden großen Gebärden lassen sich dem Zuschauer nicht nur besser vermitteln, sie bilden auch den Kern der Rolle, die die Kontrahenten spielen. Anders sieht dies in der geschützten Sphäre des privaten Raums aus, wo die durch das Möbel erzwungene exaltierte Gestik zumindest taktlos erscheinen muss. So bleibt die Wohnlandschaft ein Kompromiss: Obwohl auch zum geselligen Gespräch geeignet, bleibt sie in Gruppennutzung vor allem ein kollektives Entspannungsmöbel. Die moderne Wohnlandschaft unterbindet qua Gestaltung das Kontroverse und 28 Selle, Gert: Das Prinzip Design. Moderne als Konstrukt ästhetischer Erfahrung, in: Buchholz, Kai/ Wolbert, Klaus (Hg.): Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten, Ausst.-Kat. Darmstadt, Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 2004, S. 28–35, S. 30.

Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone     | 223

animiert das lockere Gespräch sowie die fließende, w ­ eiche Gebärde und schafft somit eine Aura der ungefährdeten, gleich­berechtigten Begegnung. Damit steht sie in Gegenposition zum Stuhl als Sitz- und Denkmaschine: Im Gespräch fokussiert der Stuhl auf den Gesprächspartner und verspricht durch die aufrechte, eher unentspannte Haltung größtmögliche Konzentration und Effizienz. Die Orien­tierungsleistung des Stuhles wurde in früherer Zeit sogar durch quälende Apparaturen verstärkt, um den Körper zu disziplinieren und zu immobilisieren. Obwohl hier wohl „das visuelle Signal, dass Disziplin herrscht und Aufmerksamkeit, […] letztlich wichtiger [war] als die tatsächliche ergonomische Voraussetzung für produktives Zu­­hören“,29 scheint Baudrillard diesem Konzept bis zu einem gewissen Grad nachzutrauern. Schließlich waren es wohl eher die harten Bänke der Sorbonne, die den 1929 Ge­borenen geprägt hatten. Vetter stellt fest, dass der „formellere Europäer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die US-amerikanische Mode des ‚Loungen‘“ prinzipiell eher abwartend reagierte: „Noch heute vermeidet man die negativ gefärbte Übersetzung dieses doch so angenehm entspannenden Begriffes, denn das ‚Herumlungern‘ impliziert gemeinhin eine sinnlose Vergeudung von Zeit und Tatkraft.“30 Und der modernere neudeutsche Ausdruck ‚chillen‘ (von engl. ‚to chill‘, kühlen, abkühlen; amer. ‚to chill out‘, sich entspannen, sich abregen) beinhaltet ja gerade das Herunterfahren der Funktionen in einen Ruhemodus.

Der müde Mensch Die Attitüde der Entspannung, die das bequeme Sitzmöbel vermittelt, steht im Widerspruch zu jener, die sich laut Gert Selle erstmals im sogenannten Kaffeehausstuhl ­„Thonet Nr. 14“ (1859) manifestierte: „Das Ding […] ist im Handumdrehen, einer flüchtigen Geste, gewendet und damit auch einer global sich zur Mobilität hin verändernden Sozialform des Sitzens dienlich, ein Werkzeug zur Dynamisierung des Körpers selbst beim Ausruhen. Übertroffen wird dieser Entwurf erst, als Marcel Breuer seinen Beitrag zur fortgeschrittenen Rationalisierungsgeschichte […] vorstellt: Aus dem Breuer-Sessel […] kann man nur noch elastisch hervorschnellen, als sei bequemes Sitzen verboten.“31

Sebastian Hackenschmidt, Kustos am Österreichischen Museum für angewandte Kunst in Wien, erkennt im freischwingenden Stahlrohrstuhl den dinggewordenen Handlungsmodus der Zeit: Analog zu den Ansprüchen einer modernen industrialisierten Umwelt, hält dieser den Benutzer noch in Ruheposition in ständiger Bewegung und erscheint als

29 Vetter 2010 (wie Anm. 23), S. 9. 30 Ebd., S 32. 31 Selle 2004 (wie Anm. 28), S. 30. Für Abbildungen des „Thonet Nr. 14“ siehe den Beitrag von Xenia Riemann im vorliegenden Band, für Abbildungen der Freischwinger B32 und B33 von Marcel Breuer siehe z. B. Fiell, Charlotte/Fiell, Peter: 1000 [One thousand] Chairs, Köln 2012, S. 108f.

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„Triebfeder und Anhaltspunkt einer inneren Anspannung, die sich aus einer erhöhten Verkehrsgeschwindigkeit ergab und diese zugleich ‚forcierte‘.“32 Akzeptiert man Dinge als Aktanten im sozialen Austausch mit menschlichen Individuen, so muss man sich ­f ragen, ob die moderne Wohnlandschaft gewissermaßen das Gegenteil des Freischwingers bewirkt: Ist sie nicht nur Ausdruck der lässigen Entspanntheit als Grundhaltung unserer Zeit, sondern befördert diese sogar? Ist „der funktionelle Mensch […] von vornherein ein müder Mensch“, wie Baudrillard mutmaßt, und die erwähnten „Millionen Leder- und Schaumgummisitze, einer tiefer und molliger als der andere, sind wie eine gigantische Verheißung einer zukünftigen Zivilisation der Erlösung und der sanften Euphorie des Siebenten Tages“?33 „Die ganze Ideologie dieser Zivilisation […] ist in diesem idyllischen Gemälde der Modernität – wie auf alten Schäferbildern – enthalten und zeigt diesen Bewohner, wie er vom ­weichen Grund seines Sitzes aus die ihn umgebende Atmosphäre nachdenklich betrachtet. Indem er ­seine Leiden­schaften, Funktionen und Widersprüche geordnet hat und sich nur noch in Be­ ziehung aufgelöst empfindet, inmitten eines Systems, dessen Struktur er in der Ausgestaltung des Interieurs wiedererfasst und in dem er einen Raum um sich herum zur Verfügung hält, der vielfache Möglichkeiten der Integration, sowohl der Gegenstände der Umgebung als auch der Personen, in sich birgt, indem er schließlich auf diese Weise eine von Pulsionen und primären Verrichtungen befreite, aber mit sozialen Konnotationen des Kalküls und des Prestiges überlastete Welt wiederhergestellt hat, kann er, am Ende dieser Anstrengungen ermüdet, seine Langeweile im Schoße eines Fauteuils, der sich den ­Formen ­seines Körpers anschmiegt, vertreiben.“34

Was die modernen Wohnlandschaften nun mit den wegweisenden Bequemmöbeln der 1960er-Jahre verbindet, ist zweierlei: Sie adaptieren – vermittelt durch marktkompatible Variationen der Möbelindustrie – Colombos Idee der blockhaften Geschlossenheit, und, obwohl sie sich doch sehr von Möbelentwürfen wie „Sacco“ unterscheiden, verdanken sie den auf den spielerischen Nutzer setzenden Möbeln die Idee größtmöglicher Variabilität der Körperpositionen. Doch eine Geisteshaltung auch mittels ­seiner Positur auszu­drücken, fällt angesichts eines etablierten Laissez-faire der Körperhaltungen heute ungleich schwerer: Fläzen scheint heute nur noch die Haltung einer mit gesundheitlichen Gründen argumentierenden Wohlfühlgeneration zu sein: „Lümmeln Sie rum!“ fordert eine aktuelle medizinische Kolumne in einem großen deutschen Magazin.35 Der Impetus eines egalitären, zwanglosen Miteinanders nährt sich heute nicht mehr aus einem im weitesten Sinne links zu nennenden politischen Umfeld. Das ‚Environment‘ als Aushängeschild einer libertinären Grundhaltung und als unverzichtbare Diskussions­maschine

32 Hackenschmidt, Sebastian: ‚Form Follows Motion‘. Stühle in Bewegung, in: Hackenschmidt, Sebastian/Engelhorn, Klaus (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 233–255, S. 255. 33 Baudrillard 2001 (wie Anm. 1), S. 60. 34 Ebd., S. 60f. 35 Schnurr, Eva-Maria: Gesund Sitzen. Lümmeln Sie rum!, in: Stern.de, Ratgeber Rücken,

(28. 07. 2013).

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in einer Zeit, in der das Private als politisch erkannt wurde, scheint in der Privatheit ­heutiger Wohnzimmer überflüssig geworden zu sein: Die – nicht nur gestalterische, sondern auch gesellschaftspolitische – Radikalität der vorbildhaften Möbelentwürfe endet in der modernen Wohnlandschaft als Manifest eines bürgerlichen Mainstreams, dem der private Rückzugsort wichtiger scheint als die Bühne des Gesprächs, und dessen politisches Desinteresse es dem Möbelhandel ermöglicht, seine Produkte – offenbar ­völlig ironiefrei – mit einem „Oktober-Revolutions-Preis“ zu bewerben (Abb. 4, Mitte).36 Vielleicht hat Baudrillard tatsächlich recht mit seinem „müden Menschen“, insofern man ihn als des Disputs müde begreift. Denn eine forcierte Diskussion ist – wie oben ausgeführt – aus einer entspannten Liegeposition in der Tat erschwert. Doch das ist letztlich genau das Ziel des privaten Raums: Einen Kokon gegen jeden Konflikt zu bilden, freilich auch gegen die Kontroverse, aus der eine konstruktive und produktive Idee zu erwachsen vermag. Die Kommunikation auf den bequemen Niedrigmöbeln soll nichts weiter leisten, als die Verheißung der Entspannung vom Einzelnen auf die Gruppe auszuweiten. Und durch die Gestaltung der Möbel wird dieses Ziel garantiert, erzwingt diese – wie gezeigt werden konnte – doch Gesten der Bequemlichkeit. Die niedrige Form des Sitzmöbels bedingt eine Körperhaltung, die mit einer Geisteshaltung korreliert, die das Streitgespräch ablehnt: Es scheint folgerichtig, dass ein den Diskurs liebender Denker wie Jean Baudrillard dies bedauert. Doch wer sollte sich deshalb aus den weichen Polstern seiner Wohnlandschaft erheben wollen und sich darüber aufregen …?

36 Werbebeilage der Firma „Möbel Hugelmann“, Lahr, 11. 10. 2012.

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KLEIDUNG TRAGEN UND MODE

„Die Dinge aber müssen willig halten, was einer ihnen in die Hände legte; da sagt ein Glas, was meinen Ahn bewegte, ein Buch verrät mir, was er heimlich hegte, und dieser Atlas, der um die Gestalten vergangner Frauen rauschend sich erregte, fällt immer wieder in die alten Falten. Was in uns schläft, bleibt in den Dingen wach, aus ihnen schaun uns dunkel Augen nach, die unsere Gebärden weit begleiten: Die Ersten dauern, und wir sind die Zweiten …“ Rainer Maria Rilke, Wer sind wir denn, daß wir so Weises dürfen …1

1 Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke [...], Bd. 3: Jugendgedichte (= insel taschenbuch, 1103), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1995 (Erstaufl. 1987), S. 673f. - Anmerkung: Mit Altas ist hier das Gewebe, ein Seidenstoff in spezieller Bindung gemeint.

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Petra Leutner

Lebende Dinge. Über Kleider und ihre Gesten

Im westlichen Kulturkreis werden Kleider als Dinge betrachtet, die eng mit einer Person und ihrer Gestalt verbunden sind. Kleid und individueller Körper scheinen in einer einzigen Silhouette untrennbar verwachsen zu sein. Die Ärmel eines Mantels oder ­Pullovers folgen gewöhnlich dem Verlauf der Arme, die Hosen umschließen das Bein. In der japanischen Kleidertradition beispielsweise sind die Schnitte dagegen weitaus weniger figurbetont.1 Aus der Sicht unserer heutigen westlichen Mode erweisen sich Kleider als Objekte, die eine symbiotische oder gestalthafte Verbindung mit dem Körper ihrer Trägerin eingehen. Körper, Kleid und Gestik werden als Einheit wahrgenommen, auch wenn es gewollte Ausnahmen geben mag, und entsprechende Gesten können den Schnitt eines Kleides zur Vollendung bringen. Wenn man das Zusammenspiel von Kleid und Geste analysieren möchte, lassen sich drei verschiedene Ebenen voneinander unterscheiden. Zunächst muss die besondere Einheit von Körper und Kleid unter dem Aspekt der individuellen Gestalt berücksichtigt werden. Auf diesem ‚Schauplatz‘ lassen sich dann einerseits Körperpraktiken und kulturell festgelegte Gesten untersuchen, andererseits können spezielle Gesten, zum Beispiel die Gesten der Mode, erörtert werden.

Gestalt und Kleid Im Begriff der körperlichen Gestalt manifestiert sich die Vorstellung einer Einheit, die von Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Ideen über Morphologie bis hin zur ­Formulierung der Gestalttheorie Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Gestaltbegriff verbunden war. Figürliche Einheit und Geschlossenheit waren wesentliche Charakteristika der Gestalt. Gerade die Kleidung soll heute noch dazu verhelfen, dem Körper als Schauplatz eine stimmige, fraglose Oberfläche zu verleihen, auch wenn das meta­physische Konzept einer ‚Einheit‘ der Gestalt sich erübrigt hat. Eine solche Oberfläche stellt somit 1 Vgl. Akiko Fukai: Future Beauty. 30 Jahre Mode aus Japan, in: Ince, Catherine/Nii, Rie (Hg.): Future Beauty. 30 Jahre Mode aus Japan, München u. a. 2011, S. 13–25, hier S. 16.

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die Grundlage und den Bezugspunkt von Gesten mit Kleidern dar. Dies bedeutet, dass sich der individuelle Körper als ‚Schauplatz‘ darbietet, auf dem Individuum, Tradition, Kultur und Erziehung mithilfe von Dingen zusammenwirken, um geistig und leiblich eine Person, ein Ich hervorzubringen und zu verwirklichen. Die so entstehende sinnlich erfahrbare Gestalt des Individuums lässt sich nicht mehr beliebig von diesem ablösen, auch wenn die Kleider variieren mögen. Die Kleidung bildet eine Einheit mit der Gestalt und ihrem Habitus und kann sogar stellvertretend für die jeweilige Person einstehen. In diesem Sinne gewinnen die Kleider als Hüllen – und somit als komplexe Medien der Inszenierung des Körpers – in vielerlei Hinsicht zeichen- und symbolhafte Bedeutung innerhalb unserer Kultur. Man muss jedoch konzedieren, dass sich auf symbolischer Ebene auch eine ambivalente Haltung gegenüber Kleidern offenbaren mag: Vor dem Hintergrund der abendländischen Präferenz für das Innere vor dem Äußeren wird die vestimentäre Darbietung zuweilen doch nur als Schein, als variable ‚Fassade‘ missverstanden. Spezifisch für Kleider im Gegensatz zu vielen anderen Design-Gegenständen ist ihr unmittelbar körperlich-taktiles Verhältnis zur Trägerin oder zum Träger, ein Verhältnis, das sich beispielsweise in der Notwendigkeit äußert, Kleidergrößen festzu­ legen. Die Kleider sind dem Körper nach genormten Maßen angepasst, sofern sie nicht von Schneidern handgefertigt werden. Je nach Größe fällt nicht nur der Schnitt, sondern auch die Optik eines Kleidungsstücks unterschiedlich aus. Die räumliche Ausdehnung eines Kleidungsstücks kann sich nur an einem menschlichen oder an einem künstlichen Körper (etwa an einer Puppe) vollenden; diese Inszenierung bringt in der westlichen Mode Schnitt und Form erst zur Darstellung. Selbst Kleider in Museen oder Aus­stellungen werden an Puppen oder ähnlich stilisierten Ersatz-Körpern gezeigt, die ihrerseits Gesten aufweisen können, die noch in ihrer Stillstellung Bewegung im Raum andeuten. Kleider werden erst durch das Getragenwerden zu Design-‚Objekten‘. Während sie zunächst unvollständig sind, entfalten sie durch das Volumen des Körpers Aura, Expressivität und Macht und sind durch Körperbewegungen immer mit Gesten verbunden, zumal dann, wenn sie vorgeführt werden. Dass Kleider in besonderer Weise auch für die individuelle Person stehen können, weil sie den Abdruck des individuellen Körpers und dessen Gebärden in sich aufgenommen haben, soll an einem Beispiel erläutert werden. Die Londoner Kuratorin und Kostümforscherin Amy de la Haye beschrieb die außergewöhnlichen Begebenheiten um ein Vermächtnis der Adelsfamilie Messel.2 Die Schenkung an das Brighton Museum (East Sussex, England) enthielt vor allem Kleider, von denen die ältesten aus dem Jahre 1870 stammten. Gerade die älteren Stücke waren von den Damen der Familie größtenteils selbst genäht oder nach Anweisungen ihrer Trägerinnern von Schneidern gefertigt worden. Die Kleider repräsentierten „Bestandteile eines höchst persönlichen Familien­ 2 Amy de la Haye: Objekte einer Leidenschaft. Kleidung und der Raum des Museums, in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Räume der Mode, München 2012, S. 171–182.

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gedächtnisses“3 und erinnerten an einzelne Familienmitglieder. Auch im Museum sollten die Kleider nicht restauriert, konserviert oder anderweitig verändert werden, s­ ondern irgendwann, so der Wunsch der Spenderin, wie ihre ehe­maligen ­Trägerinnen ‚ver­ wesen‘. Die bereits vorhandenen Gebrauchsspuren bezeichnet De la Haye als „wunder­ schön und ergreifend“.4 Bei einem zerschlissenen Kleid wurde das Innere nach Außen gekehrt, um die Gebrauchsspuren noch deutlicher sichtbar zu machen. Die Silhouette der Trägerin, ihr Gang sowie persönliche Gesten hatten sich dem Stoff eingeprägt. Ein anderes, flaschen­g rünes Wollkrepp-Kleid wiederum lag in einem Pappkarton mit der Notiz: „Hatte eine wundervolle Zeit in diesem Kleid, wie peinlich, das zu sagen. 1941!“.5 ­Dieses Kleid wurde dann über ein unsichtbares Mannequin drapiert und mitsamt dem Zettel ausgestellt. Die Kuratorin plädiert dafür, getragene Kleider mit einer „persönlichen Biographie“ (De la Haye), die sich deren Material eingeschrieben hat, anders auszustellen als die neuen, oft direkt vom Laufsteg ins Museum gebrachten Kleider der zeitgenössischen Modedesigner. Kleider können folglich sehr genau Zeugnis ablegen vom Leben der Nutzerinnen und Nutzer, indem sie deren Figur und Gestik als Spur und Abdruck in sich aufnehmen und so unter Beweis stellen, dass sie mit diesen zu einer Gestalt verschmolzen waren. Sie konstituieren überdies familiäre Traditionen und spezifische Ordnungssysteme, wie dies auch andere Dinge (zum Beispiel Einrichtungsgegenstände oder Bilder) tun können.6 Doch Kleider bleiben immer besonders eng mit einem individuellen Körper verbunden.

Geste und Körpertechnik Im Kontext von Körperpraktiken mit Kleidern lässt sich schwer unterscheiden zwischen individueller Geste und kulturhistorisch herausgebildeter Körpertechnik. Körpertechniken sind nach Aussage des Kulturanthropologen Marcel Mauss „die Weisen, in denen sich die Menschen in der einen oder anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen“.7 Eine ganze Reihe von Bewegungen und Verrichtungen werden von Mauss als Körpertechniken bezeichnet, dazu gehören Klettern, Schwimmen oder Körperpflege, die alle auf eingeübten und normierten Bewegungen basieren.8 Typische Praktiken mit ­K leidern wie Anziehen und Ausziehen könnten nun auf die gleiche Weise verstanden werden: Wenn man bedenkt, wie Kindern beigebracht wird, sich Kleider anzuziehen oder Schuhe zu schnüren, so zeigt sich, dass dabei nicht nur praktische, individuelle oder zufällige, sondern vor allem kulturspezifische Regeln und Techniken zur Geltung 3 4 5 6 7

De la Haye 2012 (wie Anm. 2), S. 173. Ebd. Ebd., S. 175. Vgl. Miller, Daniel: Der Trost der Dinge, Frankfurt am Main 2010, S. 218f. Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers, in: Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, hg. von Wolf Lepenies und Henning Ritter, Frankfurt am Main u. a. 1978, S. 199–222, hier S. 199. 8 Vgl. Mauss 1978 (wie Anm. 7), S. 215f.

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kommen. Die Passform der Kleider schreibt zudem bestimmte Bewegungen vor. Man muss sitzen oder auf einem Bein stehen, um eine Hose anzuziehen; man muss eine optimale Technik finden, die Arme auf den Rücken zu drehen, um einen langen Reißverschluss am Kleid zu schließen. Die Schuhe sind die Bekleidung der Füße, folglich muss man sich beim Anziehen bücken. Die traditionelle japanische Kleidung erfordert völlig andere Gesten, denn Reißverschlüsse werden beim Kimono nicht eingesetzt. Allein Bindung und Drapage erzeugen die Anpassung an den Körper. Jede Kultur mag charakteristische Techniken für den Umgang mit ihrer spezifischen Bekleidung ausprägen, um die dazugehörigen funktionalen Gesten optimal ausführen zu können. Das Geschlecht wird allgemein als ein wichtiger Faktor für die spezielle Hervorbringung von Körperpraktiken und einschlägigen Gesten betrachtet.9 Im Kontext von ­K leidern, gerade beim An- und Ausziehen, gibt es dafür viele Beispiele. Ein häufig genanntes Alltagsbeispiel besagt, dass Frauen zuerst die Ärmel überstülpen und dann den Pullover über den Kopf ziehen, während Männer in umgekehrter Reihenfolge verfahren. Die Praxis des Ankleidens von Frauen hat zahlreiche Maler und Karikaturisten zu Werken inspiriert, insbesondere in den Hochzeiten des Korsetts.10 Denn mit dem Korsett entstand die Schwierigkeit, den Leib der Frau in das Kleidungsstück hinein­ pressen zu müssen. Da die Betroffenen dies oft nicht alleine bewerkstelligen konnten, brachte die Praxis des Anziehens eines Korsetts typische Gesten von Ehemännern, Begleitern oder Bediensteten hervor, die beim Verschließen und Schnüren halfen. Noch heute ist der berühmte Korsettschneider Mr. Pearl dafür zuständig, Modedesigner mit Korsagen zu versorgen, wobei er zuweilen selbst als Anziehhilfe bei Shows für das typische Schnüren bereitsteht (Abb. 1). Anders als Körperpraktiken beim An- und Ausziehen funktionieren mitteilende Gesten. Um eine solche handelt es sich beim Ziehen des Huts. Diese Geste wird etwa von John Carl Flügel als wichtige soziale Praktik im Zusammenhang mit Kleidern analysiert: Flügel konstatiert, das Ziehen des Huts zum Gruß bei Männern sei ein Relikt des archaischen Ablegens von Kleidern im Moment der Ehrerbietung.11 Ein Ding – der Hut als Kleidungsstück – wird hier von der Gemeinschaft zum sozial relevanten Gegenstand gemacht. Das Soziale okkupiert das individuell verwendbare Ding, um es sich zusammen mit einer Geste als Zeichen einzuverleiben. Die Dinge prägen dabei ihrerseits die Gestalt der jeweiligen Gebärde. Die Festigkeit des Stoffs und der Schnitt bestimmen, ob ein Hut an der Krempe oder über dem Kopf angefasst wird; persönliche Vorlieben mögen zudem eine Rolle spielen. Schließlich kann sogar die Andeutung der Bewegung aus­ reichen, um durch dieses verkürzte ‚Zitat‘ der Höflichkeitsgeste Genüge zu leisten.

  9 Vgl. ebd., S. 207. 10 Vgl. die ausführliche Dokumentierung in Steele, Valerie: The Corset. A Cultural History, New Haven u. a. 2001. 11 Flügel, John Carl: Psychologie der Kleidung, in: Bovenschen, Silvia (Hg.): Die Listen der Mode, Frankfurt am Main 1986, S. 208–263, hier S. 220.

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1  Mr. Pearl für John Galliano, Oktober 1996, Foto: Roxanne Lowit

Die Möglichkeit der Zirkulation der Dinge als Zeichen im Rahmen gesellschaftlicher Codes wird auch in religiösen Praktiken aufgegriffen. Als Beispiele wären das Aus­ziehen der Schuhe in muslimischen Heiligtümern und Moscheen oder das Tragen einer Kopfbedeckung an jüdischen Gebetsorten und Synagogen zu nennen. Eine andere Praktik ist das aus biblischer Überlieferung bekannte Zerreißen von Kleidern im Falle der Trauer. Durch die Gesten des Zerreißens wird die oben beschriebene Aura der unversehrten Gestalt zerstört. Diese Praktik wird von Thomas Mann in seiner Roman-­Tetralogie Joseph und seine Brüder im Rekurs auf die biblische Josephsgeschichte genau beschrieben.12 Kleider werden dabei als Gründungszeugnisse von Kultur inszeniert.13 Ihr ­Zer­reißen deutet Mann

12 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Bd. 1, Buch II: Der junge Joseph, Siebentes Hauptstück: Der Zerrissene, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1983, S. 471–495, hier S. 472f.; vgl. dazu Gen. 37,3–33. 13 Vgl. Leutner, Petra: Versehrte Hüllen. Die Risse der Mode, in: Heinsohn, Nina/Alsen, Katharina Kim (Hg.): Bruch-Schnitt-Riss. Deutungspotentiale von Trennungsmetaphorik, Hamburg (erscheint 2015).

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als das Darbieten eines bewussten zeitweiligen Bruchs mit eben d ­ ieser gemeinschaftlich geteilten Kultur. Die Anfänge der Josephsgeschichte inter­pretiert er als eine Geschichte des Neids, die ihren Höhepunkt in der Auseinandersetzung um ein Kleidungs­stück findet. Weil die Brüder ihren jüngsten Bruder Joseph beneiden um die Bevorzugung durch den Vater, der diesem unter anderem ein selbst gefertigtes Kleidungsstück schenkte, überfallen sie Joseph und geben vor, er sei von einem ­w ilden Tier zerrissen worden. Als Beweis bringen sie dem Vater das zerrissene, in Tierblut getränkte Gewand anstelle einer Leiche. Mit seiner Person assoziiert, beglaubigt das Kleidungsstück metonymisch Josephs Tod und führt Jakob in die Irre, da sein Sohn ja in Wirklichkeit noch lebt. Als Jakob nun vom nur vorgeblichen Tod Josephs hört, zerreißt er seinerseits seine Kleider, bis er nur noch nackt dasteht. Er übersteigert darin sogar den ursprünglichen Brauch, der bis dahin nur im Zerreißen des Obergewands bestand. Das textile Gewebe lässt sich leicht zerreißen; aufgrund dieser materialen Voraussetzung kann es als Zeichen genutzt werden, um symbolisch den Schmerz und den Riss zwischen dem Einzelnen und der alltäglichen Gemeinschaft wahrnehmbar zu machen. Die Geste des Zerreißens wird insofern sowohl vom faktischen Gegenstand, nämlich dem dafür geeigneten Material der Kleider nahegelegt als auch von der symbolischen Be­­deutung der Hülle. Diese besteht ja in der Darbietung der gelungenen Teilhabe des Einzelnen an der gemeinsamen Kultur, sodass deren Zerstörung weit reichende Folgen hat.

Kleider als Akteure Wenden wir uns weiteren Gesten zu, deren Impuls von getragener Kleidung ausgeht und deren Macht verdeutlicht. In Brazzaville (Kongo) ist eine aktuelle Variante des Dandytums entstanden, denn dort haben sich in Elendsvierteln Männer zu eleganten Gemeinschaften zusammengeschlossen, die sich selbst Sapeurs (franz., dt. Pioniere) nennen. Sie wurden von dem Fotografen Daniele Tamagni festgehalten und in einem Buch dokumentiert.14 Die Sapeurs geben das Geld, das sie verdienen, für Kleider aus, hungern dafür, leben in ärmlichen Behausungen, ziehen sich aber zugleich teure Designerkleider an. Ihr Stolz und ihre Freiheit bestehen darin, auf der Straße herumzulaufen und sich in ihren Clubs zu treffen wie reiche Menschen oder zumindest wie Angehörige höherer Gesellschaftsschichten – Kreise, zu denen sie selbst jedoch nicht zählen. Sie tauschen nicht nur ihre Kleidung aus, sondern verändern mit den Kleidern ihre Gestalt und ahmen fiktive Kolonialherren in moderner und entstellter Form nach. Es sind in erster Linie die Kleider, die diese Verwandlung zustande bringen, wobei sie die zugehörigen Gesten wie selbstverständlich evozieren. Die Zeitschrift Geo schrieb:

14 Tamagni, Daniele: Gentlemen of Bacongo, Preface by Paul Smith, 2. Aufl., London 2011.

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2 Lalhande, Gentleman of Bacongo, 2007 (Ausschnitt), Foto: Daniele Tamagni

„Wer sich in Bacongo [Stadtteil von Brazzaville] exklusiv kleidet, beweist allen, dass er, trotz aller Widrigkeiten, Herr seines Schicksals geblieben ist. Erst die griffes, die Designermarken aus Frankreich oder Italien, sind die Trophäen, die das Wunder der Verwandlung schaffen. Sie katapultieren ihren Träger in die Welt des Luxus und der Macht, spenden ihm eine fiktive, aber real gefühlte neue Identität.“15

Auf einem Foto Tamagnis sieht man einen sehr gut angezogenen jungen Mann, der aus dem Flur eines einfachen Hauses heraustritt – im hervorragend sitzenden, gelb-schwarz karierten Jackett mit blauem Einstecktuch und gelbem Hemd, gelber Hose und schwarzer Fliege. In der einen Hand hält er eine Zigarre. Mit der anderen Hand vollführt er eine Geste, die auf vielen Fotos von Sapeurs zu sehen ist (Abb. 2): Die Hand wird an den Hosenbund geführt, um so das Jackett leicht zu öffnen, damit auch die Hose deutlich

15 Butta, Carmen: Fotogalerie. Die Sapeurs von Brazzaville, in: Geo.de 7, 2009, S. 1 (22. 07. 2013).

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sichtbar wird. Alle Bewegungen sind locker, tänzelnd und leicht, beflügelt von dem umwerfenden Look, zugleich sind sie aber auch als Mitteilung an den Betrachter gedacht. Auf einem Bild des Fotografen Hector Mediavilla aus der Internet-Fotogalerie der Zeitschrift Geo zu den Sapeurs erkennt man einen alten Mann, der im Auto sitzt, eine Augenklappe trägt und mit würdiger Miene zum Fenster hinausschaut.16 Die eine Hand ruht gelassen auf dem silbernen Griff eines Spazierstocks, in der anderen Hand hält er eine Pfeife. Er trägt ein weißes Hemd mit Jackett und Weste. Die Szene wirkt wie ein Filmstill. Ursprünglich hatte die Bewegung politische Gründe. Sie entstand in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), um sich gegen die dort verordnete ‚Reafrikanisierung‘ zu wenden, die beispielsweise verbot, westliche Kleider, Büstenhalter oder Socken zu tragen.17 Inzwischen werden die Sapeurs auch von europäischen Modedesignern wahrgenommen. Paul Smith besuchte die Sapeurs und bewunderte deren Erfindungsreichtum und Eleganz, die in strengen ästhetischen Regeln gründen, zum Beispiel darin, nie mehr als drei Farben miteinander zu kombinieren.18 Es sind die Kleider, die einen würdigen Gang, herausfordernde Blicke und entsprechende Gebärden hervorbringen. Mimik und Gestik mögen abgeschaut sein aus Filmen oder Magazinen, in denen visuell erfahrbar das westliche Leben vorgeführt wird. Allerdings stellen die Gesten fantasievolle Anverwandlungen dar, denn sie werden nicht nur nachgeahmt, sondern durch die Anreicherung mit Hip-Hop-Bewegungen und durch Überzeichnung transformiert in etwas Neues.19 Die oben beschriebene Ambivalenz der Kleider wird hier produktiv gewendet, denn als flexible und übertragbare Hüllen lassen sie Wandlungsmöglichkeiten zu und fordern die Neuerfindung von Gebärden und mithin der eigenen Gestalt heraus. In diesem Zusammenhang ist nochmals zu unterstreichen, wie bedeutsam die Kategorie des Geschlechts für die Entstehung und Darbietung von Gesten ist. Die Sapeurs sind eigentlich reine Männergemeinschaften, nur in Ausnahmefällen findet sich ein weibliches Mitglied, das dann allerdings ebenso den männlichen Dresscode übernimmt. Passend zu den Designeranzügen führen die Sapeurs Gesten männlicher Dominanz auf der Straße vor. Dass auch die weibliche Haltung beim Tragen von High Heels oder der männliche Gang der Cowboys mit Revolvergürtel und Stiefeln weniger individuell als genderspezifisch-habituell geprägt sind, zeigt sich besonders deutlich im Falle des Crossdressing, das ebenso wie die Anverwandlungen der Sapeurs mit Überzeichnungen arbeitet. Beim Crossdressing werden die typischen Posen des anderen Geschlechts performativ zur Schau gestellt, insbesondere dann, wenn sie durch entsprechende Kleider

16 17 18 19

Vgl. Butta 2009 (wie Anm. 15), Foto 11 (Hector Mediavilla). Vgl. ebd., S. 1. Smith, Paul: Preface, in: Tamagni 2011 (wie Anm. 14), S. 11. Vgl. Kaiser, Alfons: Oscar Wilde in den Tropen, in: faz.net, 3. 09. 2009 (20. 07. 2013).

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evoziert werden, etwa wenn Männer High Heels tragen und die weibliche Körper­haltung nachahmen. Hohe Absätze bewirken physisch die Anspannung der Wadenmuskulatur, das Schwingen der Hüften und einen aufrechten Oberkörper. Der auch durch das Fern­ sehen bekannte Modeltrainer Jorge Gonzales mag seinen Schülerinnen einen über­ trieben femininen Gang vorführen. Doch wirkt er nicht lächerlich, weil die Verschiebung der Geschlechtszugehörigkeit eine Verfremdung und Anverwandlung zustande bringt, die eine Überzeichnung zulässt und doch ernsthaft wirkt. Man erkennt durch die Performance sofort, wie die optimale Körperbewegung und Gestik ausgeführt werden ­müssen, um den technischen und ästhetischen Anforderungen von High Heels gerecht zu ­werden.

Gesten der Modekörper Wenden wir nun den Blick auf das Modesystem und betrachten anhand einiger Beispiele das Hervorbringen von Gesten durch spezifische Moden. Zwei Fotos des berühmten Modefotografen F. C. Gundlach zeigen deutlich, dass verschiedene Rockmodelle bei den Trägerinnen ganz unterschiedliche Gebärden hervorbringen. Dabei steht nicht die Anwendung eines Vokabulars zur modefotografischen Inszenierung im Vordergrund, sondern die tatsächlich vom Kleidungsstück inspirierte Bewegung. Das erste Bild zeigt einen Petticoat aus den 1950er-Jahren (Abb. 3). Ein Petticoat lässt seine Dichte und die übereinander geschichteten Stoffbahnen tatsächlich erst sichtbar werden, wenn man die Beine bewegt oder der Rock leicht angehoben wird, wenn lustige, ja kindliche Gebärden vollführt werden, um den Unterrock zu zeigen – Gebärden, die zum stilisierten Kindchen­schema der braven jungen Frau in den 1950er-Jahren nur zu gut passen. Ganz anders das Leinenkleid aus den 1980er-Jahren (Abb. 4). Der lange Schlitz er­fordert lediglich eine leichte Biegung der Hüfte und einen einzigen Schritt, um die Beine und damit die Verführungskraft des Kleids zur Geltung zu bringen. Eine den Unterleib betonende Körperhaltung wird eingenommen, und die Gestik bleibt sparsam. An der Abbildung lässt sich erkennen, dass die Frau sich auch im Alltag selbstbewusster ge­­staltete und die modische Inszenierung in den 1980er-Jahren gestenärmer und ­cooler geworden war.20 Aus De la Hayes zu Anfang zitiertem Plädoyer wurde bereits deutlich, dass sich im Fall von Designerkleidern oder High Fashion das oben beschriebene symbolische Verhältnis gewandelt hat, das besagt, dass ein Kleid für seine Trägerin stehe. Das modische Kleidungsstück soll vielmehr wie ein autonomes Kunstwerk für sich alleine stehen ­können. Es benutzt seine Trägerin als ‚Ort‘ einer Inszenierung. Nicht die Trägerin ist Hauptperson und Signifikat in dieser symbolischen Ordnung, sondern das Kleid ist dasjenige Element, dem die Bedeutung zukommt und das somit selbst zum Signifikat 20 Vgl. Gundlach, F. C.: Die Pose als Körpersprache, mit einem Essay von Klaus Honnef, Köln 2001, S. 67.

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3  Polly Pröhl im Petticoat, Hamburg 1959, Foto: F. C. Gundlach

wird. Das Kleidungsstück wird zur dominierenden Größe eines Geschehens, in dem die einzelnen, individuellen Körper als Signifikanten funktionieren und immer abstrakter ­werden. Dies lässt sich anhand einiger Argumente erläutern. Der ideale Modekörper hat festgelegte Modelmaße, die sich aus der Arbeit mit Modezeichnungen ableiten lassen. Es geht dabei weniger um ein Schönheitsideal als um die Abstraktion vom realen ­Körper. Der Körper der Trägerin sollte dieser Vorgabe dennoch möglichst entsprechen, um die bestmögliche Wirkung zu erzielen. Die Trägerin sollte überdies am Designerkleid wenig Spuren hinterlassen, um die Passform zu wahren. Folglich muss das textile Objekt wie ein kostbarer Fetisch behandelt werden. Da die modebewusste Kundin das Kleid nach einer Saison ersetzen wird, kann das Kleidungsstück weiterverkauft werden. Die ­Trägerin als Signifikant wird vom Kleid, dem Signifikat, inszeniert und nicht umge-

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4  Colette O’Connell im ­Leinen­k leid, Madrid 1984, Foto: F. C. Gundlach

kehrt. Sie erfährt aber mittelbar durch die Bestätigung ihres ‚In‘-Seins für kurze Zeit größtmöglichen ideellen Halt und Anerkennung durch das Modesystem, denn die Mode ist eine „Ultrakurzzeitreligion“ mit starker Bindungskraft, wie der Medientheoretiker Norbert Bolz überzeugend darlegte.21 Diese Entwicklung hängt zusammen mit der Autonomisierung der Mode, die sich im 20. Jahrhundert analog zur Kunst als ein gesellschaftliches Subsystem herausbildete.22 Die Mode-Kleider funktionieren nicht mehr mimetisch, sondern weitgehend autonom

21 Bolz, Norbert: Mode oder Trend? Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, in: Kunstforum International 141, 1998, S. 197–201, hier S. 197. 22 Vgl. Leutner, Petra: Anerkennungspraktiken in Mode und Kunst, in: kunsttexte.de, Kunst-Design-­ Themenheft 2: Kunst und Mode, hg. von Gora Jain, 2011 (23. 08. 2013).

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5  Rei Kawakubo, Damenkleid, „Comme des Garçons“, Tokio, Frühling/Sommer 2012, Foto: Maria Thrun

und haben ihre dienende Funktion abgelegt. Seitdem sich der Schneider zum Couturier und dann zum Designer weiterentwickelt hat, werden Kleider, abgesehen von den Einzelteilen der Haute Couture, nicht mehr individuell nach den Vorgaben der Trägerin angepasst, um deren Figur möglichst vorteilhaft zur Geltung zu bringen, sondern mit gestalte­r ischer Freiheit in Kollektionen entworfen. Eine Kollektion trägt einen ­eigenen Namen und besitzt damit ein leitmotivisches Thema, unter dem sie firmiert. Dabei hängt jedes Stück mit dem anderen zusammen, damit der Kollektionsgedanke umgesetzt werden kann. Schließlich kann das Kleid sogar funktionieren wie ein Kunstwerk, es kann als Objekt ins Museum kommen. Wie ein Kunstwerk den Künstler, so kann das Designer-­K leid den Designer überleben. Die japanische Designerin Rei Kawakubo entwarf für „Comme des Garçons“ mit ihrem weißen Kleid aus der Kollektion Frühjahr/Sommer 2012 ein Kleidungsstück, das jener künstlerischen Tendenz folgt und dem weiblichen Körper eine neuartige Gestalt verleiht. Das weiße Kleid hat keinen Kragen und keine Ärmel, sondern auf Höhe des Halses und der Hüften kleine Öffnungen, durch die man den Kopf und die Hände ­strecken kann (Abb. 5). Das Kleid wölbt sich über den Körper wie ein Kokon; die neu ent-

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stehende Gestalt wirkt wie die mimikryartige Angleichung an eine sich verpuppende Seidenraupe. Zugleich erinnert der Schnitt an Frauengewänder der islamischen Tradition. Die Gliedmaßen der Trägerin liegen eng am Körper an; Gesten mit den Armen sind für den Betrachter nicht mehr sichtbar und werden auf ein Minimum reduziert. Ein anderes beispielhaftes Modell, das ebenfalls die Gestik transformiert, stammt von der Modedesignerin Iris van Herpen. Sie arbeitet mit neuartigen Materialien und Kunststoffen, deren Elemente häufig mit digitalen Fertigungstechniken hergestellt ­werden. Ihr „Snake Dress“ aus der Kollektion „Capriole Haute Couture“ von 2011 ist zu­­ sammengesetzt aus Einzelteilen aus schwarz glänzendem Acryl, die wie verfestigte Locken des Medusenhaupts den gesamten Körper bis über die Oberschenkel umfangen (Abb. 6). Die Vorderseite ist weit ausladend, die Rückseite wurde dagegen etwas flacher gefertigt, sodass die Trägerin sich anlehnen kann. Die Sängerin Björk trug dieses Kleid 2012 bei ihrem Auftritt auf dem Roskilde-Musikfestival (Dänemark). Auf Fotos lässt sich er­­kennen, dass Ihre Gestik stark eingeschränkt ist, denn der Hals wird von dem festen Material eng umschlungen, sodass Kopfbewegungen kaum möglich sind. Im Gegensatz zu dem Kleid von Rei Kawakubo müssen die Arme eher abgespreizt werden.23 Mit welchen Gebärden man sich in anspruchsvollen Fashion-Outfits bewegen sollte, zeigen die neuerdings von angesagten Designermarken mit großem Aufwand her­ gestellten Brand-Short-Filme, die im Internet abrufbar sind. Sie werden bei bekannten Regisseuren und Künstlern in Auftrag gegeben. So produzierte beispielsweise der Popkünstler Takashi Murakami einen animierten Zeichentrickfilm für „Louis Vuitton“. Im Medium Film lässt sich die Gestalt nun in Bewegung zeigen, und die Kleider können auf einfache Weise ihr Volumen entfalten. Im Gegensatz dazu steht die statische Modefotografie, die Kleider nur in Gesten vorführen kann, die Bewegung auf stereotype Art simulieren – wie zum Beispiel durch den immer wiederkehrenden ‚Modesprung‘.24 Die Gesten, die man mit Designerkleidern verbindet, sind cool und elegant. Man kauft nicht nur das Kleidungsstück, sondern übernimmt mit der Marke die gesamte Gestalt. In einer narrativen Sequenz mit ironischer Überspitzung zeigt dies der dreieinhalb Minuten dauernde „Prada“-Brand-Film „A therapy“ von dem Regisseur Roman Polanski aus dem Jahre 2012, für den Helena Bonham Carter und Ben Kingsley als Schauspieler verpflichtet wurden.25 Der Film zeigt Kingsley als Psychoanalytiker in einem Raum, der wie ein Nachbau des Arbeitszimmers von Sigmund Freud aussieht. Eine mondäne Patien­ tin betritt das Zimmer. Nachdem sie Platz genommen hat, streift sie mit typischer, verführerischer Fußbewegung ihre „Prada“-High-Heels ab, um sich auf das Sofa zu legen. 23 Vgl. die Abbildungen auf der Homepage der Modedesignerin (21. 07. 2013). 24 Vgl. Schmidt, Gunnar: Modesprünge. Über ein Motiv in der Fashion-Fotografie, in: König, Gudrun/ Mentges, Gabriele (Hg.): Medien der Mode, Berlin 2010 (= Textil-Körper-Mode. Dortmunder Reihe zur Kulturanthropologie des Textilen, 6), S. 45–62. 25 Polanski, Roman: A Therapy, Brand-Short-Film für „Prada” (30. 07. 2013).

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6  Iris van Herpen, „Snake Dress“, „Capriole Haute Couture“, Amsterdam, 2011, Foto: Maria Thrun

Während sie von ihren Träumen berichtet, beginnt der Analytiker, den an der Garderobe aufgehängten auffälligen lila-blauen Mantel mit grauem Kragen aus Kunstpelz zu betrachten. Nach und nach wird seine Aufmerksamkeit von dem Kleidungsstück ­völlig eingenommen. Die Patientin spricht weiter über ihre Träume, doch ohne dass sie es bemerkt, steht der Analytiker auf und geht zur Garderobe. Nachdem er das Fell des Mantels liebkost hat, zieht er ihn an und betrachtet sich im Spiegel. Die Ärmel sind zu kurz, doch in einer verwegenen Geste schlägt er den Pelzkragen hoch. Es ist die typische

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Gebärde, die man vollführt, um sich mit einem Pelzkragen im verschwörerischen Einverständnis mit einem möglichen voyeuristischen Betrachter herausfordernd in Szene zu setzen. Diese Geste ist der Höhepunkt des Films. In ihr zeigt sich, dass sogar der Arzt dem Bann des „Prada“-Mantels willenlos ausgeliefert ist. Ausgerechnet an der Person des Psychoanalytikers wird raffinierterweise demonstriert, wie sich im Bewusstsein eines möglichen Konsumenten die Verwandlung des ersehnten Objekts in einen un­­wider­ stehlichen Fetisch vollzieht. Auch der Psychoanalytiker weiß offensichtlich ­keinen Rat gegen solche Verführungen durch Dinge, deren Anziehungskraft stärker ist als die der Frau. Den Dingen wird eine eigene, überaus bedeutende Wirkungsmacht zuge­sprochen, sodass sie zu Akteuren werden in einem Kosmos von Menschen, die ihnen hoffnungslos verfallen sind. Die Stärke des Films besteht darin, sich über diese Transformation auf sehr gelungene Weise lustig zu machen, wobei zugleich an ihrer Wirksamkeit keine Zweifel gelassen werden. Zum Schluss sei noch ein weiteres Internetmedium genannt, das die modischen Dinge gestenreich inszeniert. Streetstyle-Blogs galten bei ihrer Entstehung als Medien, die das Leben auf der Straße ungeschönt festhalten und ‚lebendige‘, persönliche Gesten zur Geltung bringen, denn Personen in höchst individuell gestylten Outfits werden von den Bloggern auf der Straße fotografiert und dokumentiert. Die Menschen sollen sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie ihren eigenen Stil gefunden haben, um so ihre Persönlichkeit zu unterstreichen. In der Tat lassen sich kreative Stylings beobachten, doch erstaunlicherweise wird die Normierung von Gesten nirgends deutlicher als auf den Bildern dieser Blogs. Wie bereits bemerkt wurde, kehren die Kulissen der atmosphärisch für das ‚Up-to-date‘-Sein stehenden Großstadtszenerien immer wieder.26 Doch auch die Gesten der dargestellten Personen wiederholen sich. Beliebte Motive wie Frauen im Sommerkleid, die ein Fahrrad schieben, Personen mit Handy, die den Blick auf die ­Tastatur richten und deshalb zum Stehenbleiben genötigt sind, das Öffnen einer Hand­ tasche oder das Auf- und Absetzen der Sonnenbrille dokumentieren ein begrenztes Inventar eingespielter Gesten des Alltags, die von den Dingen unserer Zeit hervor­ gerufen werden. Trotz unterschiedlicher Outfits vermitteln die Bilder weniger die allseits propagierte Individualität des modernen Subjekts, als vielmehr das getreue Abbild einer zeitgenössischen Dingkultur, die die Anordnung des Alltagslebens rund um dominierende Gegenstände zum Ausdruck bringt.

26 Vgl. Titton, Monica: Mode in der Stadt. Über Street-Style-Blogs und die Grenzen der Demokratisierung von Mode, in: Texte zur Kunst 78, 2010, S. 88–99, hier S. 88f.

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Yvonne Schütze

Kunst blickt auf Mode

Die Kleidung des Menschen ist zu jeder Zeit ein Ausdruck seiner sozialen Verortung beziehungsweise Gesinnung gewesen. Sie kann ebenso Zugehörigkeit oder Abgrenzung wie Individualität widerspiegeln. Die Kleidung beeinflusst das Verhalten, die Haltung und die Gesten des Menschen, der sie trägt. Diese soziale Einflussnahme ist stets von den Kleider-Kreateuren, seien es vormals die Schneider oder seien es heute die Mode­ designer, berücksichtigt und bewusst eingesetzt worden. Im 20. und 21. Jahrhundert haben sich auch bildende Künstler an der Kleidergestaltung mit mehr oder weniger Erfolg beteiligt. Diesen Künstlern ging es vor allem um die gesellschaftliche Einflussnahme. Die von ihnen entworfene Kleidung sollte den Menschen ganz bewusst in seiner Einstellung, Haltung oder gar Ideologie auszeichnen. Im Folgenden erläutert eine kurze Darstellung die kulturgeschichtliche Entwicklung vom Schneiderhandwerk zum Modemacher beziehungsweise Künstler und hält fest, mit welchen Vorstellungen und Zielen die Kleidung jeweils entworfen wurde. Im zweiten Abschnitt wird anhand von Werken der amerikanischen Künstlerin Cindy Sherman (geb. 1954) und des Österreichers Erwin Wurm (geb. 1954), die sich innerhalb ihrer Kunst mit Kleidung und gleichzeitig mit dem Phänomen Mode beschäftigt haben, exemplarisch dargestellt, wie Künstler außerhalb des Modesystems auf die ‚fashion world‘ reagieren. Kunst und Mode stehen in ihrer kulturellen Entwicklungsgeschichte eng beieinander. Mit der Trennung von Kunsthandwerk in Kunst auf der einen und das hier zu betrach­ tende Schneiderhandwerk beziehungsweise das heutige Modedesign auf der anderen Seite veränderte sich die Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme. Beschäftigt man sich mit der Fragestellung, wann sich bildende Künstler jeweils am Mode­geschehen beteiligt haben, so fällt auf, dass es sich dabei in der Regel um Zeiten des gesellschaftlichen Umbruches und der Erneuerung handelte.1 Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–98), einer der Hauptvertreter der Systemtheorie, sieht die Kunst als ein selbst­referentielles, 1 Zum Thema siehe grundlegend die Dissertation d. Verf.: Schütze, Yvonne: Kleidung im und als Kunstwerk des 21. Jahrhunderts unter sozialtheoretischer Perspektive, Berlin 2001.

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operativ geschlossenes System an, das sich seit dem Mittelalter zunehmend verselbständigt habe. Die Kunst nehme an der Gesellschaft – und das heißt zugleich am Sozialen – teil und zwar schon dadurch, dass sie „als System ausdifferenziert wird und damit einer Logik eigener operativer Geschlossenheit unterworfen wird – wie andere Funktions­ systeme auch“.2 Also ist die Kunst ein soziales System, das in der Geschichte zunehmend eigenständig wurde. Luhmann bemerkt, dass es zu bestimmten Umbruchzeiten (wie zum Beispiel der Renaissance, der Französischen Revolution oder zur Zeit der Auf­ klärung) durch die Zunahme von Komplexität Evolutionssprünge ge­­geben habe, an denen sich die Verselbständigung der Kunst gegenüber anderen Bereichen besonders zeigte. Es lasse sich unter anderem feststellen, dass die Einflussnahme der Künstler auf die Mode mit zunehmender Ausdifferenzierung der Modewirtschaft abgenommen habe. In dem Maße, in dem sich die Modebranche etabliert habe, in dem Maße blieben auch die Künstler mit ihren Entwürfen und Kleiderkreationen dem Bereich der Kunst verhaftet, ohne direkt in das Modegeschehen eingreifen zu können. Ihre Kleidung entsprach (und entspricht) daher eher einer Art ‚Anti-Mode‘; die Intentionen der Künstler waren andere als die der Modebranche.

I. Die Renaissance gilt mit ihren kulturellen und sozialen Umbrüchen als Übergangszeit zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit. Zu ihren wichtigsten historischen Errungen­ schaften zählen die einsetzende Trennung der Kunst vom Kunsthandwerk und die Ab­­ lösung des Künstlers von seinen bisherigen (ausschließlichen) Auftraggebern: Adel, Staat und Kirche.3 Die Künstler suchten sich mit ihrer humanistischen Bildung und geistig schöpferischen Leistung von den Handwerkern abzugrenzen.4 Die Erhebung in den Dienst eines Fürsten, der am herausragenden Können eines Meisters interessiert war, verhalf den nun auch finanziell abgesicherten (Hof-)Künstlern dazu, sich den sozia­len Zuordnungen und handwerklichen Bestimmungen der Zünfte zu entziehen. So sollte der Künstlerberuf nicht mehr allein dem ‚mechanischen‘ Broterwerb dienen („artes mechanicae“), sondern in seiner intellektuellen Leistung zu den ‚freien‘ Künsten ge­­ hören („artes liberales“).5 Mit der Reformation begann die Kirche ihre uneingeschränkte Macht zu verlieren, und mehr und mehr lag die weltliche Herrschaft bei den Fürsten und dem Adel. Diese Entwicklung begünstigte die zunehmende Bedeutung des Kunsthandwerks. Die von den Künstlern im Auftrag der Höfe geschaffenen Gebrauchsgüter

2 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 217. 3 Vgl. Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst, neubearb. und erw. Ausg., Stuttgart u. a. 1986, S. 228f. 4 Vgl. Jäger, Michael: Die Theorie des Schönen in der Italienischen Renaissance, Köln 1990, S. 16. 5 Vgl. Kultermann, Udo: Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, Wien u. a. 1966, S. 16f.

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dienten ihren Auftraggebern zur Anhebung von Ansehen und Repräsentation.6 Der nun ‚frei‘ arbeitende Künstler trat zunehmend mit signierten Werken und damit namentlich in Erscheinung, während in den Zünften des Mittelalters Handwerker vorwiegend anonym blieben.7 Namhafte Künstler der Renaissance wie zum Beispiel Leonardo da Vinci, Michelangelo, Albrecht Dürer oder Lucas Cranach der Ältere wurden vielfältig mit der Gestaltung von Gebrauchsgütern beauftragt. Aufgrund des im 16. Jahrhundert zu­nehmenden Interesses an Kleidung und Tracht zogen die Fürsten die Künstler nun auch als ‚Modeberater‘ – avant la lettre – hinzu, um der verstärkten gesellschaftlichen Relevanz von Kleidung gerecht zu werden. Das humanistisch gebildete Bürgertum definierte sich über sein mit der Erwerbstätigkeit geschaffenes Vermögen und Ansehen. Vor allem auch deshalb war die Kleidung anschaulicher Ausdruck des tätigen Menschen, des Wissenschaftlers oder eben auch des Künstlers. Künstler wie zum Beispiel der bereits erwähnte Albrecht Dürer (1471–1528) porträtierten sich in einer dem gehobenen Bürgertum entsprechenden Kleidung (vgl. die bekannten Selbstporträts in Paris, 1493; Madrid, 1498; und München, 1500). So entfernte sich in der Renaissance die Mode allmählich vom antiken Trachtenideal, orientierte sich am berufstätigen Bürger und wurde als Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit verstanden. Die Künstler sahen sich seitdem auch dazu berufen, ihre Kenntnisse von Formen, Farben und Körperproportionen für das Entwerfen von Kleidung einzusetzen. Vor dieser geistesgeschichtlichen Folie entwickelte sich aus dem handwerklichen Schneider der Modeschöpfer im heutigen Sinne. Das Schneiderhandwerk, das sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts durch die Schnittverfeinerung aus dem familiären und klösterlichen Tun gelöst und zu Zünften zusammengeschlossen hatte, gehörte zum einfachen Handwerk und war gesellschaftlich nicht sehr geschätzt. Die Schneider selbst übten keinen großen Einfluss auf die Modegestaltung aus und traten, mit wenigen Ausnahmen, kaum je namentlich in Erscheinung. Im Regelfall erfuhr der Auftraggeber die Anerkennung für die getragene Kleidung, nicht der Schneider.8 Erst um 1760 entwickelte sich aus dem Berufszweig der Kurzwaren- die neue Zunft der Modehändler. Diese beschränkten sich zwar auf Mäntel, Umhänge und den Aufputz eines Kleides sowie bestimmte Accessoires, aber genau in diesen Kleidungsstücken und -elementen manifestierten sich fortan die stilistischen Veränderungen, sprich der modische Wandel, den sie sich wirtschaftlich zunutze machten. Die Modehändler be­­ saßen einen so großen Einfluss auf das Modegeschehen, dass sie sogar einen namentlichen Bekanntheitsgrad über die Landesgrenzen hinweg erlangten. Mit der Heraus­ bildung unter eigenem Namen geführter Modehäuser und der Ausprägung eines eigenen 6 Vgl. Brunner, Herbert: Kunsthandwerk, in: Kauffmann, Georg (u. a.): Die Kunst des 16. Jahrhunderts (= Propyläen Kunstgeschichte), Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 291–296, hier S. 291. 7 Vgl. Luhmann 1995 (wie Anm. 2), S. 259. 8 Rose (auch Marie-Jeanne) Bertin (1747–1813), die Putzmacherin der Königin Marie Antoinette (reg. 1774–1793), zählte zu den weni­gen bis heute bekannten Schneiderinnen; vgl. Brost, Harald: Kunst und Mode. Eine Kulturgeschichte vom Altertum bis heute, Stuttgart 1984, S. 133.

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Modestils im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts vollendete sich die Entwicklung vom Schneiderhandwerk zum Modeschöpfer, dem ‚créateur‘.9

Französische Revolution Noch bis zum 18. Jahrhundert spiegelte die Mode das Ständesystem in Europa wider. Die Beschäftigung mit Kleidung und Mode blieb dem Adel vorbehalten. Um sich von den unteren Gesellschaftsschichten abzugrenzen, erließ man Kleiderordnungen und Luxusgesetze. Die Französische Revolution (1789–99) brachte wesentliche Veränderungen wie beispielsweise die Abschaffung der Zünfte, des Absolutismus und der Aristo­k ratie. Insbesondere durch die Zunftbefreiung wurden Handel und die Entstehung vielfältiger Gewerbe möglich – auch die Mode war durch die bürgerliche Machtübernahme ‚frei‘ geworden. Das bekam auch der Maler Jacques-Louis David (1748–1825) zu spüren, der vor der Revolution eine allgemeine Wertschätzung erfahren hatte. Ihm übertrug man nun die künstlerische Leitung von Volksfesten und Theaterspielen. Deren hohe Breiten­ wirkung nutze er, um Einfluss auf das Kleidungsverhalten zu nehmen; eine Wiederkehr des Altertums spiegelte sich in Davids antikisierten Roben. Die Volksvertreter aber suchten nach einer Neugestaltung der Kleidung, nach einer Nationaltracht, in der die ‚moderne‘ soziale und gesellschaftliche Gesinnung zum Ausdruck kommen sollte. David erhielt den Auftrag, eine solche Tracht zu entwerfen. Er scheiterte jedoch; das Volk lehnte seine Entwürfe ab – ein Zeichen dafür, dass nun auch die Mode nicht mehr wie zu absolutistischen Zeiten verordnet werden konnte.10 War mit der Französischen Revolution die Ausdifferenzierung vollzogen, wurde das Bürgertum mit Beginn der Auf­k lärung, mit dem Glauben an die menschliche Vernunft sowie an die Freiheit und Gleichheit des Menschen zur gesellschaftlich stärksten Kraft. Kleidung war ein selbstständiger Bereich geworden, der sich am Geschmack der Bürger und zunehmend an wirtschaftlichen Aspekten orientierte. Kleidung erfüllte nun Funktionen, die nicht mehr von der Kunst übernommen werden konnten.

Reformbewegungen in Europa In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es zur Ausbildung einer Groß-Bourgeoisie gekommen. Die Frau präsentierte in Form eines aufwendigen Lebensstils das An­­

  9 Zu Charles Frederick Worth (1826–1895) als den ersten männlichen Putzmacher, Begründer der Haute Couture und seine Nachfolger siehe Hollander, Anne: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, München 1997. 10 Vgl. Thiel, Erika: Künstler und Mode, Berlin 1979, S. 14. und Dies.: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, 6., verb. und erw. Aufl., Berlin 1997, S. 281–283.

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1 Henry (und Maria) van de Velde, Teekleid, um 1899

sehen und den Erfolg ihres Mannes.11 Vor allem die Kleidung zeigte sich kost­spielig und verspielt. Sie orientierte sich an Trachten französischer Höfe. Dagegen war die Männer­ kleidung auf den uniformen Anzug festgelegt. Die Wechsel der Moden entstanden nun durch Abgrenzung des reichen Bürgertums von den ärmeren Klassen, die ihrerseits durch dessen Nachahmung wieder neue Veränderungen hervorriefen. Gegen das um 1900 die Frauenmode beherrschende Korsett setzten sich engagierte Frauen(rechtlerinnen) und Ärzte aus gesundheitlichen Gründen erfolglos ein.12 (Das Korsett ist überdies ein gutes Beispiel für ein Kleidungsstück, das die Haltung und die Silhouette der Frau maß11 Wenn sich auch um die Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert für Frauen erste Erfolge für eine – modern gesprochen – Gleichstellung ergeben haben, so blieb die Frau im Allgemeinen doch vor­ wiegend die Repräsentantin der gesellschaftlichen Position ihres Mannes, vgl. hierzu Brost 1984 (wie Anm. 8), S. 151. 12 Vgl. Waidenschlager, Christine: Schrittmacher des sozialen Wandels, in: Böhm, Thomas u. a. (Hg.): Die zweite Haut, Berlin 1987, S. 8–17, hier S. 12.

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geblich bestimmte und formte: Das Verhalten der Frau unterlag eben jener begrenzten Bewegungsfreiheit, die die Schnürung und das Korsett ihr vorgaben.) In Europa setzten sich auch Künstler der Reformbewegungen (vor allem in England, Österreich und Deutschland) gegen die Verflachung des Handwerks durch die beginnende Industrie­ produktion und vor allem gegen die vom Bürgertum bestimmte Mode des Korsetts und der Krinoline (einer Art überdimensionierten Reifrocks) ein. Ihr erklärtes Ziel war es ferner, dem im Schneiderhandwerk verbreiteten Surrogatwesen und einer zunehmenden ‚Geschmacklosigkeit‘ in der Kleidung entgegenzutreten. Im Kampf gegen das von Paris vertretene Modediktat suchten die Künstler nach einer zeitlosen Kleidung, die nicht dem Modewandel – den man für schlecht hielt – unterlag. So forderten die Künstler um ­William Morris (1834–96) und der Kreis um Henry van de Velde (1863–1957), dass, im Sinne eines Gesamtkunstwerks und neben einer Aufwertung des Kunsthandwerks, alle Lebensbereiche und alle Gebrauchsgegenstände unter ein künstlerisches Konzept gestellt werden sollten. Eine harmonisch und schön gestaltete Umgebung im Kleinen sollte sich dabei auch positiv auf die Gesellschaftsstruktur im Großen auswirken. Der hohe Anspruch, Kunst und Leben zu einer Einheit zu führen, scheiterte jedoch, da die Reformkünstler einfache Modekriterien unberücksichtigt ließen und die Einzelanfertigungen ihrer Hemdkleider zu hohe Kosten verursachten, sodass sich am Ende wieder nur Frauen des gehobenen Bürgertums diese leisten konnten. Das pädagogische und lebensreformerische Anliegen des „Eigenkleids“ war nicht mit den Verkaufsinteressen der aufstrebenden Fabrikanten zu vereinbaren. So wurden die am Körper locker herabfallenden Kleider wohl allein von den Frauen oder den Bekannten der Reformkünstler getragen (Abb. 1).13

Futuristen Ebenso wenig, wie sich das reformerische Anliegen eines Gesamtkunstwerks durch­ setzen ließ, konnten auch die italienischen Futuristen ihren Anspruch auf eine „Totalkunst“ verwirklichen. Es handelte sich dabei um ein gesamtkünstlerisches Konzept, mit dem sie ihre Vorstellungen von einer modernen Welt in alle Lebensbereiche übertragen wollten. Um ihren politischen Utopien und philosophischen Systemkonstruktionen Ausdruck zu verleihen, sahen sie in der Kunst und in der Kleidung Gestaltungsmittel zur Verbesserung der Gesellschaft (Abb. 2):14 „Die futuristische Kleidung soll das persönliche Verhalten beeinflussen und sich gleichzeitig für die gesellschaftliche Kommunikation eignen.“15 Dabei übertrugen die Futuristen ihre Vorstellungen aus der Malerei auf 13 Vgl. Lehnert, Gertrud: Geschichte der Mode des 20. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 12–14. 14 Vgl. Framke, Gisela: Künstler ziehen an. Eine Einführung, in: Künstler ziehen an. ­Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, hg. von Gisela Framke, Ausstell.-Kat. Dortmund, Dortmund 1998, S. 9–15, hier S. 12. 15 Lista, Giovanni: Die futuristische Mode, in: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, hg. von Gisela Framke, Ausstell.-Kat. Dortmund, Dortmund 1998, S. 28–47, hier S. 32.

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2  Giacomo Balla, Futuristischer Anzug, um 1930

die Kleidung, hauptsächlich die Männerkleidung. Sie huldigten der modernen Welt mit ihrer Technik, Dynamik und Bewegung und wählten (deshalb) gestalterisch vornehmlich Dreiecksformen, Asymmetrien und vor allem eine schrille Farbigkeit. Aber auch die Futuristen schafften es nicht, ihrem Ziel, die Mode abzuschaffen, näherzukommen. Sie trugen die Einzelstücke meist selbst, nun aber im Sinne einer ‚Anti-Mode‘.

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Anders als die Künstler der Reformbewegungen und die Futuristen arbeiteten die russischen Künstler nach der Oktoberrevolution (November 1917) an einer Kunst für die Produktion. Dies hatte seinen Grund in dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsstruktur. Die Künstler wollten sich an der sozialistischen Umformung der Gesellschaft durch die Gestaltung der Gebrauchsgüter beteiligen. Der Künstler verstand sich als Krea­teur, der die gesellschaftliche Veränderung gestaltet. Kleidung war ein wesentliches Mittel, die neuen Werte in die Öffentlichkeit zu tragen.16 Die Kleidung sollte keine sozia­len Unterschiede erkennen lassen und keinen saisonalen Modewechseln unterworfen sein. Das von der bürgerlichen Ästhetik vertretene bourgeoise Phänomen Mode sah man als unmoralisch und unästhetisch an. Die Künstler verfolgten die Idee eines industriel­ len Entwurfs funktionaler Kleidung für den arbeitenden Menschen. Für jeden Beruf und jede Tätigkeit (auch Sport) sollte es die passende praktische Form und Materialität geben. Alexander (Michailowitsch) Rodtschenko (1891–1956) entwarf in diesem Sinn einen Anzug, und Wladimir (Jewgrafowitsch) Tatlin (1885–1953), einer der wichtigsten Vertreter der Produktionskleidung, kreierte ein Outfit, das die Typen Festtagsund Arbeitsbekleidung vereinte. Das Material bestimmte hierbei die Gesetzmäßigkeit der funk­tionsbedingten und ökonomischen Form.

Sonia Delaunay Als eine Künstlerin, die Erfolg mit ihrer Kleidung erzielen konnte, ist vor allem Sonia Delaunay (auch Delaunay-Terk, 1885–1979) zu nennen. Die gemeinsam mit ihrem Mann Robert Delaunay (1885–1941) angestrengte Erforschung von Farbkraft und Bewegung verleitete beide dazu, die in der Malerei erprobte Simultaneität sowie spezielle Farbkontraste auf Alltagsgegenstände zu übertragen. Sonia Delaunay verschaffte sich damit vor allem in Paris Aufmerksamkeit, führte aber auch erfolgreich eine Boutique für Mode und Kunsthandwerk in Madrid (1929 in Folge der Wirtschaftskrise geschlossen). Delaunay widmete sich vor allem der Kunst beziehungsweise der Malerei, ihr Ziel galt jedoch ebenso einer zeitlosen Mode;17 ihre simultanfarbige Kleidung entstand somit im Kunstkontext. Sie stellte die Kleider aber auch auf Ausstellungen für angewandte Kunst aus – wie zum Beispiel auf der Pariser „Exposition Internationale des Arts Décoratifs“ von 1925 –;18 Delaunay machte also praktisch keinen Unterschied zwischen bildender und angewandter Kunst. Ferner präsentierte sie ihre Kleiderentwürfe, wie bereits angedeutet, in der eigenen Boutique „Ateliers simultanés“ zum Verkauf. Indem sie ihre Kleidung in Modegeschäften verkaufte, trat sie in den Mode- bzw. Wirtschaftskontext und damit

16 Gaßner, Herbert/Nungesser, Michael: Entwürfe einer neuen Gesellschaft. Sowjetische Revolutions­ kunst. Revolutionäre Kunst in Mexiko, in: Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst, Bd. 2, Hamburg 1991, S. 378–400, hier S. 376. 17 Vgl. Düchting, Hajo: Robert und Sonia Delaunay. Triumph der Farbe, Köln 1993, S. 90f. 18 Loschek, Ingrid: Mode- und Kostümlexikon, rev. und erw. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 488f.

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in Konkurrenz zu den anerkannten Modefirmen. Heute aber werden die noch erhaltenen Kleidungsstücke vor allem zusammen mit ihrem Gesamtwerk im Kunstkontext rezipiert. Die Käuferklientel, die sich für Delaunays Kleiderentwürfe interessierte und sich diese meist unikalen und aufwendigen Stücke leisten konnte, entstammte sicherlich einer privilegierten Bevölkerungsschicht. Demnach blieb Delaunays Anliegen, mit ihrer Gestaltung von Kleidung und Alltagsgegenständen eine positive Wirkung auf die Menschen ‚an sich‘ auszuüben, letztlich auf eine kleine wohlhabende Gruppe beschränkt.

„Readymades“ und die Kunst nach Duchamp Mit dem Erscheinen der von Marcel Duchamp (1887–1968) in die Kunst eingeführten „Readymades“ war der Rückzug der Künstler aus der Mode- und Kleidungsbranche neu definiert. Es ging den Künstlern nicht mehr um die Reformierung oder um eine künstlerische Aufwertung der Alltagskleidung. Vielmehr wurde in den nachfolgenden Kunstrichtungen (wie dem Surrealismus und der Pop-Art) die Kleidung selbst zum Kunstmittel oder -medium, das heißt zum autonomen Kunstwerk. Duchamp hatte mit der Absicht, alles Künstlerische im Sinne von Ästhetik, Stil und Geschmack zu verneinen, eine industriell produzierte Massenware zum Kunstwerk erklärt. Das fertige Produkt war einzig und allein durch seine Auswahl und Präsentation in den Kunstkontext integriert.19 Seine bisherige Funktionalität und Bedeutung wurden aufgehoben. Getrennt vom Träger, verliert das Kleidungsstück seine potenzielle Einflussnahme auf das Verhalten des Menschen. Die Kleidung wird als Objekt selbständig und kann mit diversen Inhalten aufgeladen werden, jedoch hat sie keinen direkten Einfluss auf die Haltung eines Menschen. Die seit Ende der 1950er-Jahre aufkommende Aktionskunst, das Happening und die Fluxus-Bewegung verfolgten wiederum den Anspruch einer Einheit von Kunst und Leben, in der jede Form von Realität Kunst sein konnte. Für ihr Zusammenspiel von Musik, Theater und Dichtung nutzten die Künstler vorzugsweise auch den sinnlichen Reiz der Kleidung als Verkleidung, Requisite oder Kostüm. Vor allem aber wurde nun der Körper selbst zum Gestaltungsmittel. Eine spektakuläre Aktion initiierte beispielsweise Yoko Ono (geb. 1933), indem sie sich für die Performance „Cut Pieces“ 1964 in Kyoto auf der Bühne vom Publikum die Kleidung mit einer Schere zerschneiden ließ, bis sie am Ende nahezu nackt war (Abb. 3). Durch die Zurschaustellung eines zerstörerischen und aggressiven Aktes richtet Ono den Blick des Betrachters auf Themen wie Selbsterniedrigung, Intimität und Sexualität sowie Diskriminierung.20 Die Kleidung ist in der Aktionskunst ein wesentliches Ausdrucksmittel, das die Haltung eines Men-

19 Vgl. Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungs­ geschichte in der Moderne, Köln 1992, S. 167 u. 169. 20 Vgl. Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation, Luzern u. a. 1978, S. 95–97.

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3  Yoko Ono, Cut Piece, Performance, 1964

schen, sei es in der Bewegung, sei es in der inneren Haltung, beeinflusst. Der Künstler nutzt, im Gegensatz zum Modedesigner, die Freiheit innerhalb des Kunstsystems, jede Materialität, jede Gestaltungsform zu (s)einer Kunst zu machen, ohne sich um die Tragbarkeit oder gar den Nutzen für einen Käufer Gedanken machen zu müssen. Bewegungen und Haltungen, die Kleidung beim Träger hervorrufen, können von der Kunst adaptiert und mit anderen Medien, wie etwa der Fotografie oder dem Video, nachempfunden werden. Gudrun Teich (geb. 1961), Meisterschülerin von Nam June Paik (1932–2006), dem Pionier der Videokunst, präsentiert in ihrer Videoarbeit „In Schale geworfen“ (1997) Filmmaterial von Prêt-à-porter-Schauen aus dem Jahre 1995, in denen damalige Topmodels wie Claudia Schiffer und Naomi Campbell Kleider vorführten (Abb.  4). Mit einer speziellen Software maskiert und retuschiert sie die sichtbaren Körper­teile (wie Arme, Beine und Kopf) und lässt sie im Weiß des Hintergrunds verschwinden, sodass sich nur noch die leeren Kleiderhüllen auf einem imaginären Laufsteg drehen und wenden. Somit werden hier der abwesende Körper, die Kleidung als leere Hülle, die Identität und die Persönlichkeit thematisiert. Der Titel weist auch darauf hin, wie man umgangssprachlich von jemandem spricht, der sich ‚chic‘ kleidet. Hier spielt Teich auch auf die der Mode innewohnende Idee an, dass der Träger hinter der Kleidung unsichtbar werden kann, wie zum Beispiel in einer Tracht oder Uniform, die alle gleich

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4  Gudrun Teich, „In Schale geworfen“, Videoprojektion, 1997

erscheinen lässt, und andererseits auf den Willen zur Individualität, den wir ebenfalls durch unsere Kleiderwahl ausdrücken wollen.21

II. So weit der historische Überblick. Im Folgenden werden zwei zeitgenössische Künstler exemplarisch vorgestellt, die Topoi aus der Modewelt aufgreifen und in ihrer Kunst entlarven, demontieren oder konterkarieren. Sie spielen mit den Verhaltensmustern und Erwartungen, die Kleidung und/oder Mode auslösen. Die amerikanische Künstlerin Cindy Sherman begann Mitte der 1970er-Jahre mit Fotografien, in denen sie sich selbst in verschiedenen Rollen darstellt. Ihre Inszenierungen nehmen Bezug auf Bilder und Motive aus Werbung, Filmen oder der Kunstgeschichte. Sherman behandelt in ihren Serien „Fashion“ und „History Portraits“ Rollenbilder der Frau, Körperlichkeit und Sexualität und deren Rezeptionen vor allem in den Medien und in der Mode.22 Die Fotografie „Untitled #122“ aus der „Fashion“-Serie aus dem Jahr 1983 zeigt Cindy Sherman mit geballten Fäusten und leicht zusammengesunkenem Oberkörper zentral im Bild stehend (Abb. 5). Ihre gesamte Haltung drückt Aggressivität aus. Sie trägt eine blonde Perücke, deren Haare ihr Gesicht beinahe vollständig verdecken und nur ein rot unterlaufenes Auge freigeben. Aufgrund ihrer verkrampften Körperhaltung wirft das lange, eng geschnittene schwarze Kleid unterhalb des obersten Knopfes Falten, die dem eleganten Schnitt des Kleides entgegenwirken. Die Perücke und das Kleid, einst modische Attribute, wirken durch die Art der Körperhaltung und des Tragens geradezu absurd. Die 1983 entstandenen „Costume Dramas“ bilden die erste von vier Fotoserien, die Sherman im Zusammenhang mit der professionellen Modefotografie inszeniert hat. Für eine Magazin-Veröffentlichung zeigt sie sich als ‚Model‘ für ausgewählte Designerkleidung der Labels „Jean-Paul Gaultier“ und „Comme des Garçons“. Mit ihren Fotografien stellt 21 Hierzu siehe Schütze 2001 (wie Anm. 1), S. 280–282. 22 Vgl. ebd., S. 173f.

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5  Cindy Sherman, „Untitled #122“, Farbfoto­g rafie, 1983

sie jedoch eine Antithese zu den üblichen glamourösen Modefotografien her: Der Gesichtsausdruck ihrer ‚Models‘ variiert von dümmlich über verklärt bis hin zu böse und aggressiv;23 in kühler Umgebung präsentiert sie sie in einem völlig desolaten Zustand. Sie blicken apathisch oder niedergeschlagen vor sich hin und erwecken den Eindruck von kranken und Hilfe suchenden Menschen – Essstörungen, Drogensucht und Depres­ sionen sind Themen, die nicht nur im Zusammenhang mit Mannequins diskutiert ­w urden, sondern auch eine Kehrseite der Schönheits- und Glückversprechungen der

23 Ulf Erdmann-Ziegler sieht die Sherman’schen Fotografien mit Designermode als „recht deutlich aggressive[n] Akt […] gegen die Macht von Trends und Stilen […]“ an, siehe Erdmann-Ziegler, Ulf: Frau mit Werk. Regie und Modell bei Cindy Sherman, in: Zdenek, Felix/Schwander, Martin (Hg.): Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975–1995, München 1995, S. 27–37, hier S. 35.

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6  Cindy Sherman, „Untitled #168“, Farbfoto­g rafie, 1987

Werbung im Allgemeinen verdeutlichen. Das Verwirrspiel zwischen Malerei und Fotografie, das sich im gesamten Werk von Sherman feststellen lässt, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeiten. Cindy Sherman überträgt die Ästhetik der Malerei auf die Fotografie. Sie ‚malt‘ mit Licht, Scheinwerfern und Filtern sowie mit Masken, Schminke und Kleidung. In ihren Fotografien legt sie es darauf an, die Designermode als solche durch ihre Art der Darstellung beinahe unkenntlich zu machen. In ihren Inszenierungen versucht Sherman also, die Mittel, mit denen die Modefotografie unerfüllte Wünsche bei den Kunden weckt und eine Scheinwelt aufbaut, mit deren eigenen Sujets zu entlarven. Seit 1985 reduziert Cindy Sherman ihre Anwesenheit in den Bildern immer mehr. Zurück bleiben die verlassenen Schauplätze oder die leeren Hüllen, wie in dem Bild „Untitled #168“ (1987) (Abb. 6). Hier lassen Abdrücke im Sand Körperteile wie Hände und Beine erahnen. Das auf dem Boden mit weiß gerüschter Bluse drapierte Kostüm ergänzt sich mit den Gliedmaßen im Sand zu einer imaginären Figur. Beunruhigend ist, dass das leere Kostüm nicht daliegt, als ob es von einer Person abgelegt worden wäre, sondern als ob es angezogen die Körperhaltung eines imaginären Menschen, von dem

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7  Erwin Wurm, o. T., 1994

nur noch Abdrücke im Sand erkennbar sind, eingenommen hätte. Sherman benutzt das Kleid als Stellvertreter für den Menschen. So viel zu Cindy Sherman. Das künstlerische Thema von Erwin Wurm ist ein vollkommen anderes; er zielt eher auf die Skulptur, genauer den Skulpturbegriff. Wurm präsentiert zwischen 1990 und 1994 eine Reihe von Arbeiten mit schlichten, indu­striell gefertigten Pullovern, die er zusammengefaltet auf Sockel legt oder an zwei Nägeln an eine Wand hängt (Abb. 7). Hier wird also ein Massenprodukt ausgewählt, das als Stellvertreter die Art des Kleidungsstücks vom Typ Pullover ‚verkörpert‘. Anders als Duchamp, der mit seinen ausgewählten Gebrauchsgegenständen die Kunst und die Aufgabe des Künstlers in Frage stellen wollte, bezieht sich Wurm mit seinen Pullover-Arbeiten auf formale, plastisch orientierte Problemstellungen, um zu einem neuen Verständnis des Skulpturbegriffs zu gelangen, den er mittels der Aktion und des Videos erweitert. Dabei bedient er sich bewusst des Banalen und Alltäglichen, das er zur Unterwanderung von als stabil geltenden Gewissheiten einsetzt; und es sind vor allem die Grenzen ­zwischen Material und Aktion, die er für seine skulpturalen Darstellungen erforscht.24 Wurm beteiligt wesentlich den Betrachter an der Entstehung seiner Skulpturen, indem er zum Beispiel Gebrauchs- beziehungsweise Handlungsanweisungen zeichnet 24 Vgl. hierzu Fuchs, Rainer: Skulpturale Behauptungen, in: Ausstell.-Kat. Erwin Wurm, Museum moderner Kunst/Stiftung Ludwig, Wien 1994, S. 21–27, hier S. 21–24.

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und damit den Hänge- und Faltungsvorgang eines Pullovers oder eines anderen Kleidungsstücks transparent und nachvollziehbar macht. 1996 wurde etwa im Rahmen einer Installation der Besucher angewiesen, einen Pullover auszuwählen und diesen, wie die Zeichnung zeigte, anzuziehen (nämlich mit den Beinen in den Armen des Pullovers, um diesen dann über den Kopf zu stülpen). In dieser Pose sollte der Pullover-Träger so lange verharren, bis der Aufseher ein Polaroid-Foto gemacht hat. „Der Mensch ist in meinen Pulloverobjekten gewissermaßen ideell da, er wird mitgelesen, obwohl er in Wirklichkeit nicht vorhanden ist“, sagte Wurm dazu in einem Interview.25 Ähnlich gestaltete der Künstler die Fotografien für die österreichische Wäschefirma ­„Palmers Textil AG“. In Wurms Arbeiten werden textile Objekte entfunktionalisiert. Ihn interessiert allein die Materialität, dafür reduziert er den Körper des Models für seine kurzlebige Skulptur auf seine Trägerfunktion. Die Kleidung wird zwar in ihrer eigentlichen Bestimmung – als Bedeckung eines Körpers – eingesetzt, allerdings entgegen der vom Kleidungsstück beziehungsweise der vom menschlichen Körper vorgegebenen Form: So stecken Beine plötzlich in den für die Arme vorgesehenen Öffnungen. Wurm macht solcherart mittels der (minimalen) Veränderung eines banalen alltäglichen Handlungsablaufs – dem Anziehen – einen plastischen Prozess der (maximalen) Inszenatorik. So auch in der Fotoserie „Shopping“ (1995/96); hier geht ein Paar in ein Geschäft und zieht so viele Kleidungsstücke übereinander, wie es nur kann. Auch in Videosequenzen zeigt Wurm dieses Übereinanderziehen von vielen Pullovern und anderen Kleidungsstücken, sodass die Person sich anschaulich um ein Vielfaches in ihrem Volumen ausdehnt. Wichtig ist für ihn offenkundig, dass die Form oder die Skulptur keine feste und endgültige Größe hat, beziehungsweise dass diese stets in Frage gestellt bleibt.

Fazit und Schluss So zahlreich die sich in regelmäßigen Abständen mit dem Wechselspiel von Kunst und Mode auseinandersetzenden Ausstellungen und Publikationen sind,26 so unter­schiedlich und facettenreich sind die Betrachtungen, die man im Hinblick auf Kunst und Mode anstellen kann. Der hier nur sehr verkürzt zu leistende kulturhistorische Überblick zeigt, welchen Part bildende Künstler für die Mode im Wirtschaftssystem übernahmen und bis heute übernehmen – und vor allem, wann und wie sie Kleidung in ihrer Kunst ein­setzen oder thematisieren. Im Gegensatz zur Mode, die nie zweckfrei und niemals aus dem sozialen oder privaten Kontext zu lösen ist, ist die bildende Kunst in der Lage, die Strategien der Mode zu unterlaufen und aufzudecken. In Bezug auf die Kleidung als Designobjekt, das dem Träger sowohl ein äußeres Verhalten als auch eine innere

25 Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist, März 1996, in: Ausstell.-Kat. Erwin Wurm, Galerie Krinzinger, Wien 1996, S. 3–12, hier S. 3. 26 Siehe aktuell: Smith, Mitchell Oakley/Kubler, Alison: ‚Mode ist Kunst‘. Eine kreative Liaison, München u. a. 2013.

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Haltung abverlangt, haben diverse Künstler des 20. Jahrhunderts – beispielsweise die Reformkünstler oder die Futuristen – diese Gestaltungsform als Einflussmöglichkeit nutzen wollen, um ihre Botschaft von einer Reform oder Ideologie zu verbreiten. Aber erst mit der Isolierung eines vorgefertigten Kleidungsstücks war es den Künstlern in Anlehnung an die ideellen Errungenschaften der „Readymades“ möglich, die Kleidung als Kunstobjekt in die Kunst zu integrieren und sämtliche dem Kleidungsstück als solchem innewohnenden ‚natürlichen‘ Eigenschaften zu negieren. Einige bildende Künstler thematisieren, wie gesehen, die Kleidermode im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper – oder ohne ihn. In einigen der angeführten Kunstwerke ist gar kein Körper oder keine Person mehr sichtbar beziehungsweise anwesend. Vielmehr formt hier die (leere) Kleidung den (abwesenden) Körper. Ob ein Kleidungsstück seine im Mode- und Designkontext zugedachte Funktionalität und Verhaltensvorgabe für den Träger ausspielen kann, liegt vornehmlich an der Rezeption des jeweiligen Systems beziehungsweise durch das jeweilige System (Mode-/ Design- und Wirtschaftssystem versus Kunstsystem).27 Kleidung ist unsere zweite Haut; und als solche beeinflusst sie die Haltung des Trägers und interagiert mit dem Akteur sowie mit der Umwelt. Beide – Kunst und Kleidermode – konstruieren somit ein Bild des Körpers.

27 Vgl. hierzu auch Leutner, Petra: Anerkennungspraktiken von Mode und Kunst, in: kunsttexte.de, Kunst/Design-Themenheft 2: Kunst und Mode, hg. von Gora Jain, 2011, (14. 02. 2014).

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ARTEFAKTE IM MUSEUM

„Es ist […] wichtig, unmittelbar festzustellen, daß ein Gegenstand kein Gegenstand ist. Ein Gegenstand ist eine Handlung.“ Sven B. Ek, Föremål och klasskampssymbolik1

MUDE Akronym, Kurzname des Museu do Design e da Moda, Lissabon, zugleich mehrdeutige Form des portugiesischen Verbs ‚mudar‘2

1 Zit. nach Bringéus, Nils-Arvid: Perspektiven des Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 29 (= N.F. 14), [Berlin/DDR] 1986, S. 159-174, S. 167. 2 Eine mögliche Übersetzung wäre „Es ändert / ändere (sich)“ (Conjuntivo/Subjuntivo Presente), näherliegend aber wären Übersetzungen wie „Verändern Sie!“ oder „Ändern Sie Ihre Gewohnheiten!“ (­Imperativo ­A firmativo), möglich sind aber auch freiere Übertragungen wie „Mach was Neues!“ oder (im Jugendjargon) „Komm in die Hufe!“. – Für Hilfe bei der Übersetzung möchte ich Samuel Werner (Zwickau) herzlich danken.

Von der Faszination der Dinge     | 263

Eva Maria Hoyer

Von der Faszination der Dinge Ein Rundgang durch das GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig

Wir leben in einer Welt, in der wir tagtäglich massenhaft mit Dingen, sprich Produkten überschwemmt werden, ganz gleich, ob wir sie tatsächlich zum Leben brauchen oder nicht. Dabei ist der Anspruch an eine hohe Designqualität ebenso gewachsen wie die Lust auf individuell gestaltete Dinge in unserer unmittelbaren Lebensumwelt. Wie kann es einem Museum, das kreative Leistungen aus vielen Jahrhunderten bis heute sammelt und bewahrt, also gelingen, sich der Sprache der Dinge zu nähern, damit wir sie ver­ stehen und vielleicht davon profitieren können? Diese Frage muss sich wohl jede Generation neu stellen, denn unser Fühlen und Denken wandelt sich beständig und verlangt von uns immer wieder neue Herangehensweisen. Mit der Wiedereröffnung unseres Hauses, des „GRASSI Museums für Angewandte Kunst“ in Leipzig, standen wir 2007 vor der großen Herausforderung, unsere Sammlungen völlig neu zu präsentieren. Wir entschieden uns für drei von der vorhandenen Architektur vorgegebene eigenständige Ausstellungsrundgänge, die, inhaltlich aufeinander abgestimmt, untereinander kommunizieren. Auch die chronologische Grundordnung war eine bewusste Entscheidung, die zumindest zum Teil ebenfalls von der Architektur des Hauses bestimmt, aber auch vom Profil der Sammlungen und einer sich daraus ergebenden inneren Logik geleitet war. So beginnt der erste Rundgang um das große Geviert des Ehrenhofs mit der Antike und führt durch 30 Säle und Kabinette bis zum Historismus mit seinen Reminiszenzen an alle bis dahin ausgeprägten Stilrichtungen und seiner erneuten Antikenbegeisterung. Die Antike bildet also zugleich Anfang und Ende dieses ersten Rundgangs. Der aufmerksame Besucher kann auf seinem Weg wahrnehmen, wie sich hier ein Kreis schließt und zugleich weiterführt bis in die Gegenwart. Im Zentrum des ersten Raumes stehen drei fast lebensgroße Terrakotta-Skulpturen (Abb. 1, 2): keine antiken Statuen, sondern Werke des Berliner Bildhauers Robert Metzkes (geb. 1954), entstanden zwischen 1998 und 2007. In ihrer archaischen Ausstrahlung wirken sie ganz und gar heutig und bauen eine Brücke in die nächsten Ausstellungsbereiche bis in die Gegenwart. Wir haben in diesem ersten Ausstellungsteil einen mäandrierenden Weg gewählt, auf dem kleinere, farbig gefasste Kabinette mit großen, hell gehaltenen Sälen abwechseln. Die Kabinette

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1  Orientierungsplan des GRASSI Museums für Angewandte Kunst Leipzig (Ausschnitt)

sind speziellen Themen gewidmet, wie zum Beispiel der Minne, der sakralen Schatzkunst oder dem Leipziger Ratsschatz. Auf diese Weise gelang es, unter Ausnutzung konservatorisch günstiger Bedingungen die ‚reine‘ Chronologie zu durchbrechen und thematische und optische Abwechslung zu bieten. Auch in den großen Sälen stehen nicht nur schöne Dinge aus rein ästhetischen Er­­ wägungen oder ihrer historischen Bedeutung wegen wohl geordnet nebeneinander. Wir haben vielmehr versucht, den Dingen ihre eigenen Geschichten zu entlocken. So er­­zählen sie beispielsweise vom Wandel der Trinksitten im 17. Jahrhundert, als Tee, Schoko­lade und Kaffee den damals enormen Alkoholkonsum verdrängten, als chinesisches Porzellan und Lackarbeiten in Europa einen gewaltigen Asien-Rausch aus­ lösten und wiederum in Europa ganz neue Entwicklungen hervorbrachten. Dabei zieht sich die Reflexion der sächsischen Errungenschaften in ihrem europäischen Kontext

2  Zeitgenössische Skulpturen im Antikenraum als Auftakt und symbolisches Bindeglied ­z wischen den Rundgängen der Ständigen Ausstellung; Robert Metzkes, 1998–2007

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3  Galerie mit Blättern aus den Radierwerken von G ­ iovanni ­Battista Piranesi. Ein Blatt ist als ­Vorlage für die im Raum ­stehende Kalksteinvase aus dem ­Herfurth’schen Park in Prödel (bei Leipzig) zu identifizieren

wie ein roter Faden durch den gesamten Rundgang. Durch die besondere Verbindung der Dinge mit dem Ort, an dem sie der Besucher erlebt oder in dessen Umfeld sie entstanden sind, erlangen sie eine besondere, unverwechselbare Identität. Als ein zweites Grundthema kann der aufmerksame Besucher hier wie auch bei den weiteren Rundgängen der Ausstellung erleben, wie die immer wieder aufblühende Antikenbegeisterung unsere Lebenswelt und -auffassung bis in die Gegenwart hinein geprägt hat. Wir haben dabei den Dingen selbst Raum gelassen, damit sie ihre eigene Aura entfalten können (Abb. 3). Aber wir haben auch für Ballungen und Fülle gesorgt, um den Eindruck zu verstärken und die Vielfalt bestimmter Formen zu zeigen. Eine Reihe von Rauminszenierungen bindet die Objekte in einen ihrer Zeit entsprechenden erlebbaren Zusammenhang ein, der an einigen Punkten der Ausstellung durch Musik verdichtet wird. Wir haben ­ferner die Objekte nicht mit Beschriftungen und Texten unmittelbar bedrängt oder gar ‚zu­­ geschüttet‘, sondern versucht, zunächst Emotionen zu wecken, um dann wiederum zu

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4  Barockes Vanitas-­­Still­leben am Scheitelpunkt des ersten Rundgangs der Ständigen ­Ausstellung

Fragen hinter den Dingen anzuregen. Am Scheitelpunkt, also genau in der Mitte des Rundgangs, bevor den Besuchern die barocken Kunstkammerstücke entgegenfunkeln, gibt es ein dreidimensionales Vanitas-Stillleben mit allen Insignien barocker Pracht und ihrer Vergänglichkeit; ein flüchtiger Augenblick wie in einer Momentaufnahme in der Vitrine festgehalten (Abb. 4): im Zentrum ein üppiges Blumenarrangement, umschwirrt von Insekten, mit Früchten, Goldpokalen und blinkenden Gläsern, mit einem Hummer auf blau-weißer Fayence-Schale, mit Austern, die von einer Fliege besucht werden, und sogar einem kleinen Mäuschen unter dem Tisch, gerade auf dem Sprung, wieder in das Dunkel der Vergänglichkeit zu huschen. Unsere Besucher fragen oft schon am Eingang, wo denn der ‚große Blumenstrauß‘ zu finden sei. Barocke Pracht und die Denkweise der Zeit vermitteln sich hier nahezu von selbst, werden ohne erhobenen Zeigefinger erlebbar und schaffen unverwechselbare Eindrücke. Das Berühren mit den Händen ist in einem

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5  Vorschulkinder mit Hörspielführer im dritten Rundgang der Ständigen Ausstellung

Museum leider nur sehr eingeschränkt möglich, das Berühren mit allen übrigen Sinnen (und das Berührt-Werden) ist indes sehr erwünscht. Mit kurzen, prägnanten Wandtexten, mit Audioführungen für Erwachsene und Hörspielen für Kinder (Abb. 5), mit Führungen, Veranstaltungen und natürlich mit den klassischen gedruckten Ausstellungsführern, aber auch über die modernen digitalen (und sozialen) Medien versuchen wir, uns den Antworten auf die Fragen hinter den Dingen zu nähern. Oft können aber Fragen nach dem Woher, Wofür oder Warum bereits durch die Präsentation selbst beantwortet oder zumindest aufgenommen und weiterverfolgt werden. Einer dieser Wege führt in unsere beiden Kreativwerkstätten: Kinder wie Erwachsene haben hier die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit den verschiedensten Materia­ lien und Techniken zu machen oder nachzuvollziehen, wie ein uns heute fremd gewordener Gegenstand früher benutzt wurde, warum manche Formen bis heute nahezu gleich geblieben sind oder welche gewaltigen Veränderungen in Form, Material und Technologie oft auch in kurzer Zeit stattgefunden haben. Zu erleben, wie lange es früher gedauert hat, einen Brief mit Tinte und Feder zu schreiben und zugleich das individuelle Ergebnis mit dem schnell gemachten Serienbrief aus dem Computer zu vergleichen, schafft Einsichten und vermittelt ein Gefühl von Zeit. Auch sinnliche Eindrücke spielen eine Rolle bei der Annäherung an eine bestimmte Epoche oder beim Verständnis, wie das eine oder andere Gefäß früher benutzt wurde. So kann man zum Beispiel nach dem Ausstellungsbesuch im Museums-Café heiße Schoko­

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6  Galerie der Pfeilerhalle mit Durchblick zur Figur eines ­meditierenden Bodhisattva

lade nach alten Rezepten probieren und zugleich verstehen, warum die barocke Schoko­ ladenkanne im Deckel ein Loch hat (für den Quirl, denn man trank sie schaumig), oder warum die Schokoladentasse für die ‚Milch des Alters‘ zwei Henkel hat und auf der Untertasse durch einen hohen Rand vor allzu leichtem Abrutschen bewahrt wird. Nach der Betrachtung dieser Details möchte ich noch einmal zur Abfolge der drei Rundgänge unserer Ständigen Ausstellung zurückkehren. Thematisch miteinander verknüpft, beschreiben die drei großen Ausstellungsbereiche einen weiten Spannungs­ bogen von den ältesten Sammlungsstücken bis in die Gegenwart. Damit vollendet sich ein Kreis, der rund 3000 Jahre Designgeschichte einschließt. Auch die Konzeption selbst vermittelt bereits Zusammenhänge zwischen den Dingen, bringt sie zum Sprechen, lässt Abgrenzungen, wechselseitige Beeinflussungen und eigenständige Neuanfänge er­­ kennen. In allen Rundgängen entfalten die Dinge ihre persönliche Ausstrahlung.

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7  Teile eines Speisezimmers aus dem Maschinenmöbelprogramm; Richard Riemerschmid, 1905

Die vom Zackenstil des Art déco geprägte Pfeilerhalle bietet mit ihrer Farbenpracht und ihren Zitaten aus der Baukunst Ostasiens einen idealen Rahmen für die Präsen­tation von Objekten zum Thema „Asiatische Kunst. Impulse für Europa“ (Abb. 6). Dieser Ausstellungs­teil bildet konzeptionell wie auch von seiner räumlichen Lage her das unmittelbare Bindeglied zwischen dem vorangegangenen und dem folgenden Aus­ stellungsrundgang. Bereits im ersten Rundgang „Antike bis Historismus“ stößt der Besucher in der europäischen Kunst immer wieder auf Einflüsse aus der Kultur Ost­ asiens und der islamischen Welt. Im anschließenden dritten Ausstellungsteil wird sichtbar, wie prägend die von Asien ausgehenden Impulse für die neue Kunstbewegung des Jugendstils waren und wie stark diese unsere westliche Kultur bis heute beeinflussen. Hier entwickelt sich ein großer Themenbogen vom Jugendstil bis zur Gegenwart. Sechs Medienstationen binden die ausgestellten Objekte in ihren historischen Kontext ein, bieten Hintergrundinformationen und eröffnen die Möglichkeit, auch verlorene Stücke oder konservatorisch besonders sensible Objektgruppen, wie lichtempfindliche Textilien oder Gebrauchsgrafik, in die Themen der Ausstellung einzubeziehen. Spitzenstücke des internationalen Jugendstils, zu einem beträchtlichen Teil im Jahr 1900 direkt auf der ganz im Zeichen des Japonismus stehenden Weltausstellung in Paris erworben, entfalten ihre sinnliche Schönheit und vermitteln dem Besucher zugleich eine Vorstellung von der seinerzeit fortschrittlichen Politik des Museums, das Modernste für seine Sammlungen zu erwerben, was der internationale Markt zu bieten hatte (Abb. 7). Ähnlich verhält es sich mit dem darauf folgenden Ausstellungsabschnitt zum expressiven Zackenstil des Art déco. Viele der hier ausgestellten Objekte erlebten im Grassimuseum ihre Weltpremiere und wurden anschließend direkt von den 1927 und 1928 im

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8  Raumansicht, Art déco

9  Nachempfindung des Messestandes der „VLG“ auf den Grassi­ messen; Lilly Reich, 1936

Grassimuseum ausgerichteten programmatischen Überblicksausstellungen „Europäisches Kunstgewerbe“ oder auf den zu jener Zeit als „Treffpunkt der Moderne“ gefeierten museumseigenen Grassimessen für die Sammlungen erworben (Abb. 8). Diese Werke repräsentieren ganz unmittelbar ein Stück der unverwechselbaren Geschichte unseres Museums und belegen sein Selbstverständnis als Triebfeder und Förderer der Avantgarde. Auch hier sprechen die Dinge durch ihre Einbindung in die Zusammenhänge ihre ganz persönliche Sprache. Die vom Funktionalismus bestimmte Moderne wird insbesondere durch das Bauhaus und sein Umfeld vertreten. Das Museum pflegte mit dem Bauhaus ebenso wie mit der Burg Giebichenstein (Halle/Saale) bereits frühzeitig intensive Kontakte, die sich selbstverständlich auch in den Sammlungsbeständen niederschlugen. Einen Eindruck von Anspruch und Erscheinungsbild der Grassimessen jener Jahre bietet eine Nachempfindung des leider kriegszerstörten Messestands der „Vereinigten

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10  Endpunkt mit modernen Medien: Rauminstallation „360° – Sinneslandschaften“

Lausitzer Glaswerke Weißwasser“ („VLG“) (Abb. 9). Der historischen Situation folgend, sind die ursprünglich 1936 von Lilly Reich (1885–1947) entworfenen Präsentations­ möbel mit Gläsern aus den von Wilhelm Wagenfeld (1900–90) entwickelten „VLG“-­ Serien besetzt. Skandinavischem und deutschem Produktdesign der 1930er- und ­1940er-Jahre folgt der Neuaufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland. Deutsches Systemdesign der 1960er- und 1970er-Jahre, die bunte Formenwelt der Pop-Ära und das Neue Design der 80er-Jahre sind weitere Themenschwerpunkte. Mit Ankäufen von den jüngsten Grassimessen mündet der Rundgang schließlich in die Gegenwart. Aber es gibt keine flüchtigere Zeitspanne als die Gegenwart! Wir haben uns immer wieder gefragt, wie es in einer von der Natur der Sache her eher statisch angelegten Dauer­ausstellung gelingen kann, am Puls der Zeit zu bleiben und über das hinauszu­ denken, was heute ist. Wie geht es weiter, was kommt danach? So haben wir es gewagt, an das Ende unserer Ausstellung ein künstlerisches Experiment zu setzen, das die Sicht auf die Dinge verändert und den Blick weitet (Abb. 10). In der interaktiven Rauminstallation „360° – Sinneslandschaften“ tauchen die Besucher vollständig in einen virtuellen Raum aus Bild- und Klangprojektionen ein, dessen Farben, Lichter, Formen und Texturen sich aus dem gerade in der Ausstellung Erlebten speisen. Das klassische Verhältnis zwischen Betrachter und Exponat kehrt sich um, da sich jeder Besucher plötzlich im Mittelpunkt eines kreativen Schaffensprozesses befindet. Das Werkzeug ist der eigene Körper, dessen Bewegungen beständig neue Bilder und Klänge erzeugen. Die Verände-

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11  Vom Anfang an Bekenntnis zur Moderne: rekonstruierte Treppenhausfenster; Josef Albers, 1926

rungen führen aus der gewohnten Sicherheit heraus und stimulieren die Akteure zu neuer Balance. Im Spiel mit Formen, Farben und Strukturen richten sich die Sinne auf allgemeine, immer wiederkehrende Gestaltungsfragen. Und damit schließt sich letztlich auch wieder der Kreis zur Antike am Beginn unseres ersten Ausstellungsrundgangs. Das Gebäude bildet eine große künstlerische Klammer für die darin verwahrten Sammlungsbestände und wird schließlich selbst zum bedeutendsten Exponat (Abb. 11). Wie kaum ein anderer Museumsbau der Zeit steht das Grassimuseum für die wesentlichen künstlerischen Positionen der Moderne. In seiner herausragenden architektonischen Qualität offenbart er sich als schützende und sprechende Hülle zugleich.

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KOMISCHE GESTEN

„Die fünfte wesentliche Bedeutung hat der Gegenstand nur außerhalb und jenseits des Menschen, d.h., wenn er Vater, Haus und den Boden unter den Füßen verliert. Ein solcher Gegenstand ‚SCHWEBT‘ […] Schwebend sind nicht nur die Gegenstände, sondern auch: Gesten und Handlungen.“ Daniil Charms, Gegenstände und Figuren, 20051

1 Charms, Daniil: Gegenstände und Figuren [...], in: Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. von Boris Groys u. a. […] (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1764), Frankfurt am Main 2005, S. 628–630, S. 628f.

Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen     | 275

Elke Schulze

Dingkollision. Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen von Erich Ohser / e. o. plauen

Die Bildgeschichten von Vater und Sohn machten ihren Schöpfer unter dem Künstler­ namen e. o. plauen ungemein populär und bis heute international bekannt. Vater und Sohn sind ‚Anti-Helden‘ in Vollendung, in ihren Abenteuern kollidieren sie stets mit dem Ordnungsgefüge der Dinge und mit den Strukturen der Gesellschaft. Indes sind sie keine Rebellen aus Passion. Sie folgen vielmehr heiter und unbeirrt ihrem inneren Kompass, der auf das Humane, die Solidarität mit dem Schwachen, eine unverstellte Neugier und freundliche Naivität gerichtet ist. Unentwegt machen sie etwas auf hinreißende Weise ‚falsch‘, um am Ende doch zu triumphieren; ein zeitgenössischer Kritiker nannte sie treffend „Parterreakrobaten des Lebens“ (Paul Rilla). Bedenkt man zumal die Zeit, in der die Geschichten wöchentlich in der Berliner ­Illustrirten Zeitung erschienen – nämlich zwischen 1934 und 1937 –, erstaunt ihre utopische Botschaft einmal mehr, gemahnen die beiden doch weder an soldatische Männlichkeitsideale noch an hierarchischen Vätergehorsam. Mit ihnen obsiegt immer von Neuem das Ungebärdige, das die Ordnung der Welt kreativ als Einladung zum Spiel interpretiert. Nicht selten führt das zur Bestrafung beider Figuren, aber immer öffnet sich aus einem Missverständnis, einem Fehlgebrauch ein neuer Möglichkeitsraum für Vater und Sohn. So auch im ersten Beispiel (Abb. 1): In „Ausgesetzt“ führt ein stolzer U-Boot-Kapitän die Technik und damit Beherrschbarkeit seines Gefährts vor, die der Sohn sofort tatkräftig testet – was dazu führt, dass Boot und Bildpersonal Salti schlagen und konsequenterweise Vater und Sohn von Bord gewiesen werden. Es ist dies der Beginn einer Reihe von Abenteuern, die die beiden „Auf einsamer Insel“ bestehen werden. e. o. plauen hat seinen bürgerlichen Namen Erich Ohser kunstvoll in seinem Pseudonym ‚aufgehoben‘, mit dem er zugleich seiner Heimatstadt Referenz erwies. 1903 im Vogtland geboren, wuchs er in Plauen auf, studierte in Leipzig, wo er seine ersten Aufträge erhielt. Ende der 1920er-Jahre ging er nach Berlin und damit an jenen Ort, der für ihn zur künstlerischen Heimat werden sollte – aber auch an den Ort seines tragischen Endes. 1944 nahm er sich nach einer Denunziation wegen sogenannter defätistischer

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1  Erich Ohser, Vater und Sohn, Ausgesetzt, 1937

Äußerungen das Leben. Neben den populären Bildgeschichten stehen in Ohsers reichem Oeuvre Zeichnungen, Karikaturen, Illustrationen und Gebrauchsgrafik. Im vorliegenden Zusammenhang sind es in erster Linie die zahlreichen Witzzeichnungen, die Ohser in Leipziger und Berliner Zeitungen publizierte, die von Interesse sind. Ohser, der selbst ein großer Witzeerzähler war, thematisierte in ihnen besonders gern die ulkigen Effekte der Moderne, der Technik, der Medien und der Kommunikation. Im Folgenden wird eine Reihe dieser Witzblätter vorgestellt. In diesem Kontext sei aber zugleich auf den größeren Bereich europäischer Bildproduktion verwiesen: Vermehrt wird seit der Zeit der Industrialisierung das Thema Mensch-Maschine in Witzbildern kommentiert, werden Beschleunigung und Mechanisierung zum Anlass von Unfällen und Begegnungen im Zeichen der Katastrophe, kippt Nützlichkeit in Bedrohung, verliert der Mensch in der Handhabung der Dinge die Souveränität und wird zum Gefangenen der Ding-Kollision. Als prominentes Beispiel sei an dieser Stelle auf die vielen Witzbilder Lyonel Feiningers verwiesen, die den Straßenverkehr verspotten. Witzbilder bieten übrigens ein Material dar, das noch zu erschließen ist: Sie sind Spiegel, Effekt und ästhetische Reflexionsebene der technisch-medialen Entwicklung. Und sie sind ge­­legentlich auch Ort formaler und inhaltlicher Utopien, insofern sie das Terrain für Science-­FictionFantasien und Ding-Utopien bieten; darauf sei abschließend eingegangen.

Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen     | 277

2  Erich Ohser, Fahrschule, 1938

Mit dem gesicherten Einkommen als Pressezeichner konnte sich Ohser Auto und Fahrschule leisten, und er thematisiert seine Erfahrungen beim Einüben der neuen Kultur­ technik, die unter den Bedingungen der Geschwindigkeit eine Anpassung der Wahrnehmungsgewohnheiten verlangt. Es geht prompt schief (Abb. 2): Unter dem missbilligenden Blick des Fahrlehrers lassen die drei Anfänger sich von der Erscheinung einer attraktiven Frau ablenken und Ohser knallt das Auto gegen einen Hydranten. Der Textkommentar mahnt folgerichtig adäquate Selbststeuerung an und unterscheidet rigoros zwischen einem Leben als Fußgänger und dem neuen Habitus des Autofahrers: „Nach den Mädchen zu gucken, sind Überbleibsel aus der Fußgängerzeit, die man während der ersten Fahrstunden möglichst unterdrückt.“ Wie weit die habituelle Identifikation als Autofahrer gehen kann, zeigt eine Witz­ zeichnung aus demselben Jahr (Abb. 3): Zu sehen ist ein wild gestikulierender Fahrgast in einem Autobus, neugierig und erheitert bestaunt von den anderen Mitfahrenden. Der Text klärt über die Beweggründe des grotesk wirkenden Gebarens auf: „Wenn im Autobus, oben auf der ersten Bank ihr Nachbar plötzlich mit irren Bewegungen in die Luft

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3  Erich Ohser, Fahrschule, 1938

greift, so ist das kein Wahnsinniger, sondern der Bedauernswerte hat zur Zeit Fahr­ unterricht und er fährt im Geiste den Autobus.“ War im ersten Witz die Pointe motiviert durch die mangelnde Selbstkontrolle, so ist es nunmehr die übereifrige Übernahme der erlernten Techniken, die durch Ver­schiebung des Anwendungskontextes deplatziert wirken, wenngleich sie eigentlich als situationskonform verstanden werden können – fährt doch der Fahrschüler zwar nicht am Steuer, aber durchaus im Bus mit. Beide Witze beziehen sich aber auf denselben Sachverhalt, nämlich das Training bestimmter Gesten und Verhaltensregulative, die aus einem Fußgänger einen Autofahrer machen. Mögen diese Techniken auch Voraus­setzung für die gelungene Mensch-Maschine-Interaktion sein, so beobachtet Ohser doch lieber Ver­ haltens­ weisen, die keineswegs notwendig für die Mensch-Ding-Relation sind, sich ­häufig genug aber als Begleiterscheinung etablieren. Zum Autoverkehr gehört der Unfall und zu diesem der Streit um den Verursacher und den entstandenen Schaden – und zu diesem wiederum das gaffende Publikum. Enttäuschte Sensationsgier und Schadenfreude sind Thema des nächsten Beispiels (Abb. 4), das im Hintergrund die versammelten Unfallzeugen zeigt, die frustriert den beiden Prota­gonisten zuschauen, die so ganz und gar ihre Erwartungen täuschen: „Es ist eine schlechte Gewohnheit, bei einem Autozusammenstoß auszusteigen, sich gegenseitig freundlich die Anschriften zu überreichen und friedlich auseinanderzugehen. Das Publikum erwartet etwas ganz anderes von den beiden!“ Mit dem Gebrauch des Automobils gehen also bestimmte Techniken und Verhaltensweisen einher und das Gefährt eignet sich zugleich hervorragend als Objekt sozialer Distinktion. Die Auswüchse und Absurditäten, die damit einhergehen, erläutert die nächste Zeichnung (Abb. 5): Sie entstand, nachdem die Bildgeschichten von Vater und Sohn beendet worden waren. Sporadisch lieferte Ohser unter dem Titel „Was sich Vater und Sohn erzählen“ witzige Bildgeschichten nach. Unser Beispiel zeigt das Miss­

Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen     | 279

4  Erich Ohser, Unfall, 1939

5  Erich Ohser, Was sich Vater und Sohn erzählen, nach 1937

verständnis, das sich aus einer Identifikation von Autogröße und Fahrer ergeben kann. Im Streit um die Vorfahrt wähnt sich der Lkw-Fahrer überlegen, ergreift aber energisch die Flucht, als dem kleinen Auto ein wahrhafter Riesenmann entsteigt. Mit den Sphären des Verkehrs korrespondieren jene der Medien und der Kommunikation in Bild und Wort – und mit ihnen die sie umgebenden Soziotope wie beispielsweise die Welt des Films (Abb. 6). Die Filmdiva, deren Image und Status ja wesentlich von ihrer medialen Präsenz erzeugt werden, seufzt dem Bildtitel gemäß: „Endlich allein.“ Aber mitnichten! Exakt sieben Kameras sind aus allen möglichen Verstecken auf sie gerichtet; und es bleibt fraglich, ob sie diese tatsächlich nicht bemerkt oder ein durchaus ambivalentes Posieren einsetzt. Wähnt sie sich tatsächlich unbeobachtet oder bedient sie strategisch ein Spiel? Speist sie den Kreislauf der Bilderindustrie gezielt mit Bildern des (vermeintlich) Authentischen, indem sie die Unbeobachtete mimt? Klar wird, bei aller

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6  Erich Ohser, Weltberühmte Filmdiva, vor 1934

7  Erich Ohser, Ehrliche Reportage, 1941

Zweideutigkeit, dass es sich hier um eine symbiotische Beziehung zwischen Kamera und Gesicht handelt, eine Beziehung, die auf der Vermarktung von Bildern basiert. Die Kamera als neue Instanz des Blickes und die Industrialisierung der Bilder in Illustrierten und im Kino führten zu einer neuerlichen Bewertung dessen, was als ‚künstlich‘ respektive als ‚echt‘ gewertet wurde. Erzeugt die Kamera nicht automatisch das kalkulierte Handeln derjenigen, die um ihre Anwesenheit wissen? Das Paradox von der ‚Natürlichkeit vor der Kamera‘ thematisiert auch das folgende Witzblatt (Abb. 7): Unter der Überschrift „Fotoleidenschaftliche Menschen beobachtet von e. o. plauen“ wird die gezeigte Szene durch die Bildunterschrift erhellt: „Sie verstehen das nicht? Ich mache eine Reportage aus meinem Leben – aber ganz ehrlich!“ Die ehrliche, also unverstellte Reportage stellt Ohser als unauflösbares Paradox dar – wohlgemerkt: Ohser, der selbst in der Zeitungs- und Filmwelt ein und aus ging und wie viele Pressezeichner vom Starrummel profitierte und selbst auch zu einer bekannten Persönlichkeit geworden war.

Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen     | 281

8  Erich Ohser, Die Sensationsaufnahme, o. J.

Und als hätte er sämtliches Katastrophenfernsehen vorausgeahnt, so schildert er die Gier der Medienmeute nach der – wie es im Titel heißt – „Sensationsaufnahme“ (Abb. 8): Dem Schiffbrüchigen, dem Tod geweiht, wird die Anweisung erteilt: „Hallo, sind Sie bitte so freundlich und sprechen ein paar letzte passende Worte für die Wochenschau!“ Was Ohser hier als zynischen Witz imaginiert, prägt seit Langem unsere mediale Wirklichkeit – und hier entpuppt sich der nachgerade visionäre Einschlag in manchen dieser Blätter. Ohser hatte eine hoch entwickelte Sensibilität für die Komik von Situationen und Konstellationen; er radikalisierte die Zusammenhänge, bis sie sich zur Farce oder auch zur Tragikomödie verdichteten. Die Möglichkeiten medialer Präsenz erkannte er in ihren Ansätzen, und sie formte sich ihm zum Witz (Abb. 9): „Furtwängler dirigiert zugleich zwei Orchester. Das eine in Mailand persönlich, das andere in Berlin durch Fernsehsender.“ Und auch das Telefon, die permanente Erreichbarkeit, das exzessive Kommunizieren werden zum Gegenstand seines analytischen Humors. Telefoniert wird in jeder Situation, auch und gerade, wenn

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9  Erich Ohser, Witzbild­entwurf „Furtwängler“, o. J.

10  Erich Ohser, Witzbild­ entwurf „Taschentelefon“, o. J.

Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen     | 283

11  Erich Ohser, Witzbildentwurf „Patentmöbel“, 1938

der Austausch der Informationen dabei marginal ist – auch hier wird Ohsers Witz zur Vision (Abb. 10): Die Idylle – Sonnenuntergang am See, das Liebespaar auf der Bank – wird empfindlich gestört von einem Ding, das in der Manteltasche des Herrn ersichtlich rumort. Der Bildkommentar klärt auf: „Das Schlimmste wird die Erfindung des Taschentelefons sein.“ Erich Ohser und Erich Kästner, die miteinander befreundet waren und vielfach kooperierten, haben nach eigenem Bekunden oft gemeinsam in den Künstlercafés am Kurfürstendamm in Berlin-Charlottenburg Witze erfunden. Und so nimmt es nicht wunder, wenn dieselbe Vision eines „Taschentelefons“ auch bei Kästner zu finden ist, nämlich in seinem Kinderroman Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee, der 1932 erstmals erschienen war. Das Buch steckt voller Zukunftsparodien, und auch Ohser muss fasziniert gewesen sein von Kästners Science-Fiction-Ideen, immerhin fanden sie Eingang in das Universum seiner Witzbilder. Die Fantasie einer technischen Wunderwelt, in der alles jederzeit praktisch und mühelos zur Verfügung gestellt werden kann, die Zugänglichkeit von jeglichem Luxus zumal, imaginiert Ohser mit hemmungsloser Lust. Aber er ergibt sich nicht jener Naivität und verspottet nämliche Fantasie sogleich selbst (Abb. 11): In sechs Paneelen wird einem Kunden ein wundersames Wohn-Klavier vorgeführt, in dem ein Bett, eine Kaffee­ maschine und ein Staubsauger sowie ein Bücherschrank und eine Badewanne integriert sind. Aber leider kein WC – was den Verkauf platzen lässt. Mit den grollenden Worten: „Sie muten mir zu, so ein unvollkommenes Klavier zu kaufen …?“ verlässt der Kunde den Laden. In der grotesken Kombination spiegelt sich der Widersinn einer mechanischen Allmachtsfantasie wider, die alles auf den wortwörtlichen ‚Knopfdruck‘ will. Und eben jenem Knopfdruck, als dem Inbegriff aller Automaten-Erlösungsszenarien ist das letzte Beispiel gewidmet (Abb. 12). In einer Serie zu Technologien der Zukunft denkt Ohser im Modus des Witzes über diese nach. In einer durch und durch mechanisierten Welt wäre auf Knopfdruck alles zu haben, und prompt erträumt er sich das Gegenteil. Der ein Buch

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12  Erich Ohser, Witzbild­entwurf „Knopf“, o. J.

lesende, rauchende Held langt mit einem Finger auf den zentral auf dem Nachttisch ­platzierten Knopf und drückt. Die Bildunterschrift unterrichtet: „Außerdem wünsche ich mir einen Knopf, auf den man drücken kann, einfach nur so, und dann passiert nichts, gar nichts.“ – Technologien der Zukunft, ins Absurde gekippt! Die Omnipräsenz von Technik einerseits und ihre Funktionslosigkeit andererseits sind hier mit nachgerade nihilistischem Humor verdichtet dargeboten. Es gibt die allgegenwärtige Apparatur, die bedient werden muss, und hinter ihr das große Nichts – eine Anti-Utopie sonder­gleichen. Mit solch groteskem Gebärdenspiel bringt Ohser in seinen Witzbildern das Verhältnis von Mensch und Ding auf einen Nenner – was als Witz zündet und zugleich eine Anregung zur Reflexion bereithält, die über alles Witzige hinausweist. Witzbilder, wiewohl sie notwendig vortheoretisch sind, ermöglichen doch einen Zugang nicht nur zu Bildpraxen vergangener Gesellschaften. Sie sind selbst auch eine interessante Quelle für das Selbstverständnis und die Paradoxien jener Lebenswelten. Es zeigt sich hierbei eine Hellsichtigkeit, die mitunter die intellektuellen Intentionen ihrer Schöpfer überstiegen haben mag. Des Weiteren zeigt sich, dass sie selbst eine Geschichte haben. Im Witzbild tritt uns eine überzogene und radikalisierte Lebensrealität entgegen, und es findet das mittelalterliche Narrenspiel seine moderne Entsprechung – und in Erich Ohser einen seiner begabtesten Protagonisten.

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ANHANG

„Reziprozität der materiellen Kultur (Menschen formen Dinge – Dinge formen Menschen) […].“ Hermann Heidrich, Von der Ästhetik zur Kontextualisierung: Sachkulturforschung, 20071 „Jemand kann die Rolle des Hotelportiers ‚spielen‘, ein Geschäftsführer kann den ‚idealen Geschäftsführer‘ spielen. Man kann aber den ‚idealen Dreher‘ nicht ‚spielen‘, denn an der Drehbank gilt es zu arbeiten, und zwar mit den möglichst einfachsten und ökonomischsten ­Bewegungen. Alle diese Bewegungen sind bedingt durch das Werkstück und das Arbeitsgerät, nicht aber unmittelbar durch soziale Beziehung.“ Ágnes Heller, Über die Rolle, 19702

1

Heidrich, Hermann: Von der Ästhetik zur Kontextualität: Sachkulturforschung, in: Göttsch, Silke/ Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie (= Ethnologische Paperbacks), 2., überarb. und erw. Aufl., Berlin 2007 (Erstaufl. 2001), S. 33-56, S. 34. 2 Heller, Ágnes: Alltag und Geschichte. Zur sozialistischen Gesellschaftslehre, Neuwied u. a. 1970, S. 86–109 („Über die Rolle“), S. 108.

Autorenverzeichnis     | 287

Autorenverzeichnis

Karianne Fogelberg, MA (RCA) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Design- und Architekturtheorie am „cx centrum für interdisziplinäre studien“ der Akademie der Bildenden Künste, München. Dr. Rainer Hertting-Thomasius ist Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Westsächsischen Hochschule Zwickau/Fakultät Architektur, deren Dekan er momentan ist. Ferner lehrt er Ergonomie an verschiedenen Kunsthochschulen. Dr. Eva Maria Hoyer ist Direktorin des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, ­Leipzig. Dr. Christian Janecke ist Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main. Dr. Rachel King ist Kuratorin der Kunst- und Designabteilung des National Museum of Scotland, Edinburgh. Dr. Susanne König ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig und arbeitet an dem Forschungsprojekt „Westkunst/Ostkunst. Kunstsystem und ‚Geltungskünste‘ im geteilten und wiedervereinigten Deutschland zwischen 1945 und 2000“ mit. Dr. Tobias Lander ist Lehrbeauftragter am Kunstgeschichtlichen Institut der Albert-­ Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau. Dr. Petra Leutner ist Professorin für Modetheorie und Ästhetik an der Akademie Mode & Design Hamburg/Fachbereich Design der Hochschule Fresenius.

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Dr. des. Jasmin Mersmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kultur­ wissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Thomas Pöpper ist Professor für Kunst- und Designgeschichte an der Westsächsischen Hochschule Zwickau/Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg, deren Dekan er momentan ist. Dr. Xenia Riemann ist Konservatorin an der Neuen Sammlung – The International Design Museum Munich. Anette Rose ist freie Künstlerin in Berlin. Ihre Videoarbeiten befassen sich mit Gesten des Narrativen, mit Schnittstellen von Handarbeit und maschineller Fertigung und mit dem Verhältnis von Handbewegung und Intelligenz. Julia Saviello, MA ist Post-Doc in der Nachwuchsforschergruppe „Vormoderne Objekte“ am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Dr. Antje Scherner ist Leiterin der Sammlung Angewandte Kunst bei der Museumslandschaft Hessen Kassel. Dr. Elke Schulze ist Vorständin der Erich Ohser - e.o.plauen Stiftung, Plauen. Dr. Yvonne Schütze ist Leiterin des Fachbereichs Kultur an der Volkshochschule Chemnitz. Dr. Philipp Zitzlsperger ist Professor für Bildwissenschaft und Forschungsdekan des Fachbereichs Design der Hochschule Fresenius (AMD) am Standort Berlin.

Abbildungsnachweis     | 289

Abbildungsnachweis

Gebrauchsgesten als ikonische Mensch-Ding-Konfigurationen (Thomas Pöpper) 1 a, b  Aquamanile in Gestalt eines Drachen, um 1220. Bronze, rote Glasaugen. Herkunft: Umkreis Hildes­heim. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Inv.-Nr. 1959.907/St. 147 (Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen), Foto: Museum; Löwenaquamanile (Nachbildung), um 1880. Messing, 20,5 × 21,4 × 8,8 cm (Original: norddeutsch?, Anfang 13. Jahrhundert; München, Bayerisches Nationalmuseum; Inv.-Nr. 705). Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Inv.-Nr. 1974.067, Foto: Museum. 2  Umkreis von Hans Klocker (?), Flügelaltar, Detail: Händewaschung (Rückseite: Kreuzigung), 1503. Öl auf Holz, circa 127 × 82,5  cm. Herkunft: Hirschegg, Pfarrkirche. Graz, Diözesanmuseum, Inv.-Nr. 6830-0002-02-02, Foto: Museum. 3 a, b  Die Hände als gestische Artikulatoren, a) Das Gießen aus einem Krug, b) Das Schneiden mit einer Schere. Zeichnung von Mathias Roloff, Foto aus: Müller, Cornelia: Mimesis und Gestik, in: Koch, Gertrud u. a. (Hg.): Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, S. 149–187, S. 155, Abb. 1 (Ausschnitt). 4  Glasvitrine „VG155“ des Herstellers „Ondori“, aus dem aktuellen Online-Katalog (2014). 120 × 55 × 180 cm. Foto: (15. 05. 2014). 5  Savonnette, Foto: Arne Nordmann (norro), (19. 05. 2014). 6 a, b  Älterer Mann mit Hut in Marburg, um 1900. Fotographie von Hermann Bauer/Nachlass im Presse- und Informationsamt der Stadt Marburg (Rainer Kieselbach), Foto aus: Historische Bilddokumente (19. 05. 2014); Holmes und Dr.  Watson. Grafik, Foto aus: „Planet Wissen“ (/kultur_medien/literatur/sherlock_holmes/arthur_ conan_doyle.jsp) (19. 05. 2014). 7  Retikül (Ridicule), Süddeutschland, um 1800/15. Seidengewebe, Atlas, Leinwandbindung, Metallstickerei, Malerei, Metallklöppelspitze, Seidenbänder, 11 × 9,5  cm. München, Bayerisches National­ museum, Inv.-Nr. T 5670, Foto: Museum (Foto-Nr. D76804, Walter Haberland), vgl. Pietsch 2013 (wie Anm. 38), S. 210, Kat.-Nr. 128. 8  „Costumes Parisiens“, Zwei Damen mit modernen Taschen, die an einer Kette gehalten werden. Modekupfer, Beilage zum „Journal des Dames et des Modes“, 1819, Taf. 44. München, Bayerisches Na­t io­nalmuseum, Inv.-Nr. KB 613, Foto: Museum (Foto-Nr. D75841, Walter Haberland), vgl. Pietsch 2013 (wie Anm. 38), S. 205, Abb. 46.

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Das Kraftwerk der Dinge. Vom Verhältnis zwischen Mensch und Artefakt (Philipp Zitzlsperger) 1  Porträt des Paracelsus, historischer Stich, Foto: Universität Erlangen, Institut für Kunstgeschichte,

(14. 03. 2014). 2  Bernkastel-Kues, Cusanusstift, Kapelle, Passionsaltar, Detail des Stifters Nikolaus von Kues, um 1460, Foto: (14. 03. 2014). 3  Michael Wright, Porträt des Thomas Hobbes, 1669/70, Öl auf Leinwand, 66 x 54,6 cm. London, National Portrait Gallery, Inv.-Nr. 225 (Schenkung Sir Walter Trevelyan, 1866), Foto: (14. 03. 2014). 4 a, b  Matthäus Merian, Spiegel der gesamten Natur und Bild der Kunst, Frontispiz in: Robert Fludd: Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, Oppenheim 1617, Fotos: Archiv d. Verf. 5  Porträtfotografie Rudolph Steiner, um 1905, (14. 03. 2014).

Wichtige Knöpfe drücken und Knöpfe wichtig drücken (Christian Janecke) 1  Marina Abramović, Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful, 1975, Video auf DVD, S/W, Ton, 13‘  52, Videostill, Foto aus: (07. 07. 2013), © Marina Abramović. 2  Ottmar Hörl, Unschuld, 1997, weiße Tafelseife (170  g) in schwarzer Dose, 4,1 × 10,3 × 6,8  cm, Foto  aus: (07. 07. 2013), © Ottmar Hörl. 3  Wolfgang Stehle, Bildbetrachtungshilfen, 2001, pulverbeschichteter Stahl, Eiche, Zink, je 170 × 100 × 80  cm, Foto aus: (07. 07. 2013), mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, © Wolfgang Stehle. 4  Georg Winter, Positionieren und Halten, Anwendungsbeispiele, 1999, Zeichnung, Foto aus: Georg Winter, Handbuch der Kameratechnik. Ukiyo Camera Systems, Ausst.-Kat., hg. von Renate Wiehager und Knut Nievers, Köln, 1999, S. 98, © Georg Winter.

Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen (Jasmin Mersmann) 1  Bernhard Blume, Magischer Determinismus, 1976, Detail der Tafeln 1–10 (von 11). Silberge­latine, 11 Teile, 180 × 250 cm. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Hamburger Bahnhof, Inv.- Nr. NG 59/85, Foto aus: Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Sprung in die Zeit. Be­we­ gung und Zeit als Gestaltungsprinzipien in der Photographie von den Anfängen bis zur Gegenwart, ­Ausst.-Kat., Berlin 1992, S. 177. 2  Duccio di Buoninsegna, Hochzeit zu Kana (Detail der Predella von der Rückseite der sogenannten Maestà-Tafel), 1308–11. Tempera auf Holz. Siena, Museo dell’Opera del Duomo, Foto aus: Bellosi, ­Luciano: Duccio. La Maestà, Mailand 1998, S. 286. 3  Henkeltypen: Teetasse, Humpen, „Doidy Cup®“, Schnabeltasse und ‚bol‘. Fotos: Archiv d. Verf.

Abbildungsnachweis     | 291

4  Johann Gottlieb Heymüller/Johann Peter Benkert, Teetrinker am „Chinesischen Haus“, 1754–57. Sandstein, vergoldet. Potsdam, Park Sanssouci. Foto d. Verf. 5  Georg Flegel, Stillleben, 1635. Öl auf Holz, 24 × 36,5 cm. Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Inv.-Nr. WRM 2824, Foto aus: Wettengl, Kurt (Hg.): Georg Flegel, 1566–1638. Stillleben, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 1993/94, Stuttgart 1993, S. 144, Nr. 53.

Bildserie „Enzyklopädie der Handhabungen“ (Anette Rose) 1  Setfoto #2, Pigment Piezo Print, variables Format, 2009. Foto: Jörg Wagner © VG Bild-Kunst, Bonn. 2  Modul #15, Zweikanalvideoprojektion, 13'14'', 2008/13; Modul #4, Einkanalvideo, 1'15'', 2006/13; Modul #24. Interview #4, Einkanalvideo, 6'57'', 2013. Foto: Thomas Bruns. 3  Modul #15, Videostills: Anette Rose © VG Bild-Kunst, Bonn. 4  Modul #15, 6 Lichtmikroskope mit histologischen Schnitten, 4 Flatscreens, Bildmontage, 5 Doppelseiten, 33,6 × 24,0 cm; Mikroskopiersaal der Vergleichenden Zoologie. Foto: Alexander Bunk. 5 oben: Zoologische Lehrsammlung, Humboldt-Universität zu Berlin unten: Anatomische Präparatesammlung, Charité Universitätsmedizin Berlin 6  links: Lichtmikroskop; rechts: Bildmontage, 33,6 × 24,0 cm. Foto: Anette Rose © VG Bild-Kunst, Bonn.

Design als Störfaktor (Susanne König) 1  Studio Job, The Last Supper, 2009, Eisen, Kerze, Durchmesser bis zu 2,50 m, Foto aus: Studio Job: The Book of Job, New York u. a. 2010, S. 246f. 2  Ronan & Erwan Bouroullec, Parasol Lumineux, 2001, Foto aus: Bouroullec, Ronan/Bouroullec, Erwan: Ronan and Erwan Bouroullec, New York u. a. 2003, S. 177 (Foto: Morgane Le Gall). 3  Bless, N° 17 Design Relativators, 2002, Foto aus: Heiss, Desiree/Kaag, Ines: Bless. Celebrating 10 years of Themelessness, N° 00– N° 29, New York 2006, o. P. 4  Bless, N° 04 Bags, 1998, Foto aus: Heiss, Desiree/Kaag, Ines: Bless. Celebrating 10 years of Theme­ lessness, N° 00– N° 29, New York 2006, o. P. 5  Bless, N°  41 Workout Computer, 2012, Foto aus: (17. 07. 2013). 6  Martino Gamper, Total Trattoria, 2008, Foto aus: (27. 09. 2013), Courtesy: Nilufar Gallery.

„Purgat et ornat.“ Die zwei Seiten des Kamms (Julia Saviello) 1  Roemer Visscher, Sinnepoppen, Amsterdam 1614, S. 9, Foto: Archiv d. Verf. 2  Frankreich, Kamm Karls des Kahlen, um 875, Elfenbein mit Gold und Glaseinlagen, 21,2 × 10,6 cm. London, Victoria and Albert Museum, Inv.-Nr. A.544-1910, Foto: Museum. 3  Robert Poisson nach Entwürfen von Jan Bondol, Die Hure Babylon (Detail), 1373–82, Tapisserie. Angers, Schloss, Inv.-Nr. V 64, Foto aus: Amblard, Paule (Hg.): L’ Apocalypse illustrée par la tapisserie d’A ngers, Paris 2010, S. 325.

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4  Venedig (?), Fragmente eines Kamms mit Sturm auf die Liebesburg und Frau Minne als Teil eines Bucheinbands, Ende 14. Jahrhundert, Elfenbein, je 4,6 × 14,8  cm. Paris, Bibliothèque nationale de France, Cabinet des Manuscrits, Inv.-Nr. NAF 10039, Foto: Bibliothek. 5  Pesaro, Teller mit Allegorie der Keuschheit (Detail), um 1476, Majolika, Durchmesser 47,9 cm. New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 46.85.30, Foto aus: Balla, Gabriella/Jékely, Zsombor (Hg.): The Dowry of Beatrice. Italian Maiolica Art and the Court of King Matthias, Ausst.-Kat. Budapest, Iparművészeti Múzeum, Budapest 2008, Abb. 20, S. 35. 6  Nordfrankreich oder Flandern, Kamm mit Szenen aus der Susanna-Geschichte, um 1500, Elfenbein, 12 × 14,8 cm. Florenz, Museo Nazionale del Bargello, Inv.-Nr. 12A, Foto: Museum.

Scherzgefäße (Antje Scherner) 1 a, b  Christoph Friedel d. Ä., Gefäße in Tiergestalt auf dem Silberbuffet bei einem Festbankett im Alten Schloss zu Stuttgart, 1579, Handzeichnung, Feder, Pinsel, 31,9 × 48,6 cm, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv-Nr. Z.0259, Foto: Museum. 2  Willkommgefäße für Herren (Fässchen) und Damen (Schiffchen) von Schloss Ambras, Murano, 1567  (?), Glas, H. 14,1  cm und H. 7,5  cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv.Nrn. KK 3307, KK 3273, Foto aus: Igálffy von Igály, Ludwig: Die Ambraser Trinkbücher Erzherzog Ferdinands II. von Tirol, Erster Band (1567–1577), Transkription und Dokumentation, Wien 2010, S. 16. 3  Georg Christoph I. Erhart, Windmühlenbecher, Augsburg, um 1595/1600, Silber, vergoldet, H.  19,8  cm, Fassungsvermögen circa 420  ml. Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. KP B II.22, Foto: Museum (Arno Hensmanns). 4 a, b  Gebrauch des Windmühlenbechers (vgl. Abb. 3), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker). 5  Sturzbecher, Deutschland, 16./17. Jahrhundert, Glas, H. 13 cm, Fassungsvermögen circa 200 ml. Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. KP St.C.Gl. 343, Foto: Archiv d. Verf. 6 a, b  Sturzbecher, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten (vgl. Abb. 5), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker). 7  Elias Zorer, Trinkgefäß in Form eines Ochsen, Augsburg, 1590, Silber, vergoldet, H. 28 cm, Fassungsvermögen circa 400  ml. Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. B II.30, Foto: Museum (Arno Hensmanns). 8 a, b  Trinkgefäß in Form eines Ochsen, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten beim Gebrauch von der Vorderseite (vgl. Abb. 7), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker). 9 a, b  Trinkgefäß in Form eines Ochsen, Handhabung und Fließverhalten von Flüssigkeiten beim Gebrauch von der Rückseite (vgl. Abb. 7), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker). 10  Christoph Erhard, Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes, Augsburg, 1600/1604, Silber, vergoldet, H. 28,3 cm, Fassungsvermögen circa 410 ml. Museumslandschaft Hessen Kassel, Sammlung Angewandte Kunst, Inv.-Nr. B II.31, Foto: Museum (Arno Hensmanns). 11 a, b  Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes, Handhabung mit Handgriff von oben und Fließverhalten von Flüssigkeiten (vgl. Abb. 10), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker). 12  Trinkgefäß in Form eines springenden Pferdes, Handhabung mit Handgriff von unten (vgl. Abb. 10), Foto: Archiv d. Verf. (Anne Becker).

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‚Asbestos Fingers‘ und ‚Flaming Lips‘ (Rachel King) 1  Cornelis Dusart, Vrolycke Tryn, 1676–1700, Schabkunst, 341 × 219  mm. Wolfenbüttel, Herzog-­ August-Bibliothek, Inv.-Nr. Graph. A1.650c, Foto: Archiv d. Verf. (Museumsfoto). 2  T.  L., Teekanne, 1670/71, Silber, Leder, 337,5 × 211 × 179  mm. London, Victoria and Albert Museum, Inv.-Nr. M.399-1921, Foto: Archiv d. Verf. (Museumsfoto). 3  Nicolas de Blégny, Pots à préparer le Thé (aus: Le bon usage du thé, du caffé et du chocolat […], Bd. 1, Paris, 1687, S. 34). Paris, Bibliothèque nationale de France, Département sciences et techniques, Inv.-Nr. S-14830, Foto: Archiv d. Verf. (Museumsfoto). 4  Januarius Zick, Familie Remy in Bendorf bei Koblenz, 1776, Öl auf Leinwand, 2,00 × 2,76 m. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Gm 1380, Foto: Archiv d. Verf. (Museumsfoto). 5  Anonym, Mandarin mit Dame, Kanton, um 1820, Öl auf Leinwand, 586 × 720  mm. München, Staatliches Museum für Völkerkunde, Inv.-Nr. Hg. 793 (Königliches Hausgut, Sammlung Onoratio ­Martucci), Foto: Archiv d. Verf. (Museumsfoto).

Statement: ‚Oh, dieses ewige Sitzen‘ versus ‚ Was kann man für einen Spaß haben …‘ (Rainer Hertting-Thomasius) 1  Muss Sitzen bequem sein? (Orig.-Titel: Squatting Girl from Java), Foto: Peter van der Sluijs, commonds.wikimedia.org . 2  Auf jeden Fall muss Sitzen Spaß machen …, Foto aus: Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Dresden, Deutsches Hygiene-Museum, hg. von Hajo Eickhoff, Frankfurt am Main 1997, o. P. 3  Das heilige Abendmahl – so wie wir denken, es zu kennen, Quelle/Foto: Passionsspiele Thiersee, (2005). 4  Jesus liegt mit seinen Jüngern beim Heiligen Abendmahl, Foto aus: Sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Dresden, Deutsches Hygiene-Museum, hg. von Hajo Eickhoff, Frankfurt am Main 1997, o. P. 5  Sitzen als Herrschaftsinstrument, Foto aus: ebd. 6  Stillsitzen – auch nach langen Jahren des Übens kaum möglich …, Foto aus: ebd. 7  Sitzmaschine zum Ermitteln eines idealen Rückenprofils, Foto: Archiv d. Verf. 8  Der körperangepasste Büroarbeitsplatz – Ein Irrweg der 1970er-Jahre, Foto aus: Z. B. [Zum Beispiel] Stühle. Ein Streifzug durch die Kulturgeschichte des Sitzens […], 75 Jahre Werkbund, Ausst.-Kat. u. a. Düsseldorf, Kunstmuseum, hg. vom Deutschen Werkbund e.V., Darmstadt, Radaktion: Michael Andritzky u. a., Giessen 1982, o.P.

Sit and think: Zu Gast auf einem „Thonet Nr. 14“ (Xenia Riemann) 1  Gebr. Thonet, „Thonet Nr. 14“, Entwurf ca. 1956, Produktion ca. 1862. Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich, Foto: Die Neue Sammlung (A. Laurenzo). 2  Michael Thonet, Laufsessel für das Palais Liechtenstein, Wien, 1843–47. Sammlung des Fürsten von Liechtenstein, Wien (als Dauerleihgabe in: Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich), Foto aus: Bott, Gerhard (Hg.): Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von Thonet, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 190.

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3  Zeitungsillustration nach einer Zeichnung von Adolf Emil Ludwig Bechstein: Besucher des Kaffeehauses „Zum braunen Türken“, 1879, Foto aus: Bott, Gerhard (Hg.): Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von Thonet, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 155. 4  Franz Alt, Wiener Interieur mit „Thonet Nr. 14“, um 1872, Aquarell. Vitra Design Museum, Weil am Rhein, Foto aus: Bott, Gerhard (Hg.): Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von Thonet, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 57. 5 a, b  Gabriele Basilico, Fotografien aus der Serie „Contact“, 1985. Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich, Foto: Die Neue Sammlung (A. Laurenzo).

Sitzmaschinen. Vom autoritären Bürostuhl zum ­offenen Sitzprogramm (Karianne Fogelberg) 1  Franz Staffel, Kreuzlehnstuhl (Staffelstuhl), 1875, Foto aus: Eickhoff, Hajo: Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München u. a. 1993, S. 135. 2  William Stumpf und Donald T. Chadwick, Aeron, 1992, Foto: © Herman Miller Inc. 3  Mario Bellini und Claudio Bellini, Ypsilon, 1998, Foto: © Vitra (Hans Hansen). 4  Wiege, ON, 2009, Foto: (13. 02. 2014). 5  Konstantin Grcic, 360 °, 2009, Foto: © Magis spa/Konstantin Grcic Industrial Design. 6  Peter Opsvik, HÅG Capisco, 1984, Foto: © HÅG/Peter Opsvik.

Baudrillards Wohlfühlwelten. Kommunizieren in der Chill-out-Zone (Tobias Lander) 1  Jonathan De Pas, Donato D’Urbino, Paolo Lomazzi und Carla Scolari, „Blow“, 1967, Foto: Zanotta s.p.a./courtesy Paolo Lomazzi, Studio D’Urbino Lomazzi, Mailand. 2  Gaetano Pesce, „Up“, 1969, Foto: © B&B Italia s.p.a. 3  Wohnzimmer Frankreich, 1958 (links) und Vereinigte Staaten, 1960 (rechts), Foto links: L. Ionesco, aus: Prost, Antoine/Vincent, Gérard (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 5. Band: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart [deutsche Fassung von: Histoire de la vie privée, tome 5: De la Première Guerre mondiale à nos jours, Paris 1987], Augsburg 2000 (= Geschichte des privaten Lebens, hg. von Philippe Ariès und George Duby), S. 64; Foto rechts: Archiv d. Verf. 4  Werbeprospekte für ‚Wohnlandschaften‘, 2012/13, Foto d. Verf. 5  Verner Panton, „Phantasy Landscape“, Raumdesign auf der Visiona II-Ausstellung der Bayer AG, Kölner Möbelmesse 1970 (links) und Joe Colombo, „Living-Center“, Raumdesign auf der Visiona I-Ausstellung der Bayer AG, Kölner Möbelmesse 1969 (rechts), Foto links: © Verner Panton Design, Basel; Foto rechts: Bayer AG/Corporate History & Archives/mit freundlicher Genehmigung. 6  Sitzsäcke, Katalog der Habitat UK Ltd., 1973, Foto aus: Conran, Terence: Design, 2. Aufl., Köln 1999, S. 57. 7  Bruno Munari, „Ricerca della comodità in una poltrona scomoda“, Fotoserie, 1944, Corraini Edi­ zioni, Foto: © Bruno Munari, 1944; Maurizio Corraini s.r.l./all rights reserved. 8  Gruppo Strum, „Pratone“, 1966, Foto: Gufram s.r.l, 1972, © Gufram, Barolo (CN/Italien).

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Lebende Dinge. Über Kleider und ihre Gesten (Petra Leutner) 1  Mr. Pearl for John Galliano, Oktober 1996, Foto: Roxanne Lowit, © Courtesy: Roxanne Lowit. 2  Lalhande, Gentleman of Bacongo (Ausschnitt), Foto: Daniele Tamagni, © Courtesy: Daniele ­Tamagni (aus: Tamagni, Daniele: Gentlemen of Bacongo, 2. Aufl., London 2011, S. 2). 3  Petticoat, Polly Pröhl, Hamburg 1959, Foto: F. C. Gundlach, © Courtesy: Stiftung F. C. Gundlach (aus: F. C. Gundlach: Die Pose als Körpersprache, mit einem Essay von Klaus Honnef, Köln 2001, S. 62). 4  Leinenkleid, Colette O’Connell, Madrid 1984, Foto: F. C. Gundlach, © Courtesy: Stiftung F. C. Gundlach (aus: F. C. Gundlach: Die Pose als Körpersprache, mit einem Essay von Klaus Honnef, Köln 2001, S. 58). 5  Rei Kawakubo, Damenkleid, „Comme des Garçons“, Tokio, Frühling/Sommer 2012, Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen, Foto: Maria Thrun, © Courtesy: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. 6  Iris van Herpen, „Snake Dress“, „Capriole Haute Couture“, Amsterdam, 2011, Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen, Foto: Maria Thrun, © Courtesy: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.

Kunst blickt auf Mode (Yvonne Schütze) 1  Henry (und Maria) van de Velde, Teekleid, um 1899, Foto aus: Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms. Die Europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, 6. erw. u. verbesserte Aufl., Berlin 1997, S. 376, Abb. 676. 2  Giacomo Balla, Futuristischer Anzug, um 1930. Sammlung Missoni, Varese, Foto aus: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, hg. von Gisela Framke, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1998, Abb. S. 29. 3  Yoko Ono, „Cut Piece“, Performance, Kyoto, 1964, Fotograf unbekannt, © Courtesy: Lenono Photo Archives. 4  Gudrun Teich, „In Schale geworfen“, Still der Videoprojektion, 1997, © Courtesy: Gudrun Teich, Düsseldorf. 5  Cindy Sherman, „Untitled #122“, 1983, Farbfotografie, 89,5 × 54 cm, Aufl. 18 Exemplare. Eli and Edythe L. Broad Art Museum, Los Angeles, Foto aus: Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975–1995, hg. von Felix Zdenek und Martin Schwandner, München 1995, Abb. 53. 6  Cindy Sherman, „Untitled #168“, 1987, Farbfotografie, 215,9 × 152,4 cm, Aufl. 6 Exemplare. Eli and Edythe L. Broad Art Museum, Los Angeles, Foto aus: Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975–1995, hg. von Felix Zdenek und Martin Schwandner, München 1995, Abb. 99. 7  Erwin Wurm, o. T., 1994, gelber Pullover, Nägel, 53 × 38,8 cm, Foto aus: Erwin Wurm, Ausst.-Kat. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien 1994, Abb. S. 37.

Von der Faszination der Dinge (Eva Maria Hoyer) 1  Grassi-Museum für Angewandte Kunst Leipzig, Schematischer Orientierungsplan/Obergeschoss, Lage der drei Rundgänge, Ausschnitt. 2  Robert Metzkes, Drei Skulpturen, 1998/2004, ausgeformt 2006/07, Terrakotta, polychrome Engoben (Foto: Christoph Sandig).

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3  Raumansicht der Piranesi-Galerie (Foto: Christoph Sandig). 4  Barockes Vanitas-Stillleben (Foto: Christoph Sandig). 5  Vorschulkinder in der Ausstellung (im Vordergrund: Schaukelwagen von Hans Brockhage und Erwin Andrä, Ausführung: Siegfried Lenz, Berggießhübel, 1950er-Jahre) (Foto: Carola Bauer). 6  Galerie der Pfeilerhalle (im Hintergrund: Durchblick zur Figur eines meditierenden Bodhisattva, China, Ming-Dynastie, 15./16. Jahrhundert) (Foto: Gunter Binsack). 7  Teile eines Speisezimmers aus dem Maschinenmöbelprogramm von Richard Riemerschmid, Entwurf 1905, Ausführung: Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, Karl Schmidt, Dresden 1906/07 (Foto: Christoph Sandig). 8  Raumansicht, Europäisches Kunstgewerbe, 1927/28 (Foto: Christoph Sandig). 9  Nachempfindung des Messestandes der „Vereinigten Lausitzer Glaswerke Weißwasser“ („VLG“) auf den Grassimessen, die Präsentationsmöbel entworfen von Lilly Reich, Berlin 1936, besetzt mit „VLG“-Rautengläsern nach Entwürfen von Wilhelm Wagenfeld (Foto: Christoph Sandig). 10  Kinder in der Rauminstallation „360 °  – Sinneslandschaften“, Axel Buether & Team, 2011/12, geschaffen im Auftrag des Museums (Foto: Margret Hoppe). 11  Glasfenster von Josef Albers, entworfen 1926, eingebaut 1927, zerstört 1943/45, rekonstruiert 2011 (Foto: Helga Schulze-Brinkop). 1–11  © GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig.

Dingkollision. Interaktionen zwischen Menschen und Dingen als Witz gesehen von Erich Ohser / e. o. plauen (Elke Schulze) 1  Vater und Sohn, Ausgesetzt, 1937, Tusche, 36,5 × 27 cm. 2  Fahrschule, 1938, Tusche, 32 × 25 cm. 3  Fahrschule, 1938, Tusche, 25,5 × 36,5 cm. 4  Unfall, 1939, Tusche, 25 × 36 cm. 5  Was sich Vater und Sohn erzählen, nach 1937, Tusche, 26 × 31,5 cm. 6  Weltberühmte Filmdiva, vor 1934, Tusche, 25,5 × 36,5 cm. 7  Ehrliche Reportage, 1941, Tusche, 21 × 30 cm. 8  Die Sensationsaufnahme, o. J., Tusche, 50 × 36 cm. 9  Witzbildentwurf „Furtwängler“, o. J., Blei, 29 × 21 cm. 10  Witzbildentwurf „Taschentelefon“, o. J., Blei, 21 × 29 cm. 11  Witzbildentwurf „Patentmöbel“, 1938, Blei, 21 × 29 cm. 12  Witzbildentwurf „Knopf“, o. J., Blei, 21 × 29 cm. 1–12  Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Erich Ohser – e. o. plauen Stiftung, Plauen.

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Personenregister

Abramović, Marina  77f. Adorno, Theodor W.  45, 82, 94, 96 Alban, Hl.  137 Albers, Josef  272 Alt, Franz  188 Alverà, Alessandro  190 Anders, Günther  13, 24 Anjou, Ludwig I. von  137 Antonelli, Paola  205 Aragón, Beatrix von  142 Austin, John L.  27 Autun, Honorius von  137 Baker, Nicholson  131 Balla, Giacomo  250 Basilico, Gabriele  47, 190f. Baudrillard, Jean  48, 126, 206 Bausch, Pina  77 Bellarmino, Kardinal Roberto F. R.  95 Bellini, Claudio  199 Bellini, Mario  199 Benjamin, Walter  211 Berkeley, George  165 Berlepsch-Valendàs, Hans Eduard von  91 Beuys, Joseph  61, 71, 81 Björk  241 Blégny, Nicolas de  166f., 173 Bless (Designerduo)  119, 123–127 Bloch, Ernst  45, 95f. Blume, Anna  86 Blume, Bernhard  85f., 97 Bolz, Norbert  239 Bondol, Jan  138 Boucher, François  172 Bouroullec, Erwan  119, 121f., 198 Bouroullec, Ronan  119, 121f., 198 Buoninsegna, Duccio di  87

Burckhardt, Lucius  118, 127 Butler, Judith  76 Callon, Michel  27 Campbell, Naomi  253 Capellanus, Andreas  139 Carroll, Lewis  120 Carter, Helena Bonham  241 Casa, Giovanni della  139 Cats, Jacob  144 Chadwick, Donald T.  198 Chartres, Ivo von  135, 137 Colombo, Joe  212, 224 Corvinus, Matthias  142 Cranach d. Ä., Lucas  246 Culkin, John M.  28, 118 Curtis, Barry  208 Cusanus, Nicolaus  62f., 68 David, Jacques-Louis  247 De la Haye, Amy  230f., 237 Delaunay (auch Delaunay-Terk), Sonia  49, 251f. Delaunay, Robert  251 De Pas, Jonathan  207 Deschamps, Eustache  139 Dexel, Thomas  163, 165 Duchamp, Marcel  252 Dunas, Peter  207 D’Urbino, Donato  207 Dürer, Albrecht  138, 246 Dusart, Cornelis  163f. Ek, Sven B.  122, 261 Eliasson, Ólafur  71 Erhard, Christoph  158f. Erhart, Georg Christoph I.  150f.

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Feininger, Lyonel  276 Ferrière, Loup de  135 Flegel, Georg  95f. Fludd, Robert  70 Flügel, John Carl  232 Flusser, Vilém  134 Fontane, Theodor  193 Forsythe, William  77 Freud, Michael  145, 149, 162 Freud, Sigmund  241 Fricke, Ellen  101 Friedel d. Ä, Christoph  146 Fried, Michael  77 Fürst von Metternich, Klemens Wenzel Lothar 184 Galilei, Galileo  67 Galliano, John  233 Gamper, Martino  119, 127–129 Gatti, Piero  195, 213 Gauricus, Pomponius  70 Gehry, Frank  71 Goethe, Johann Wolfgang von  229 Gonzales, Jorge  237 Grcic, Konstantin  196, 202–204 Griaule, Marcel  88, 96 Gruppo Strum  219 Gundlach, F. C.  237–239 Hackenschmidt, Sebastian  201, 223 Hefner, Hugh  221 Heidegger, Martin  , 13, 87 Heine, Heinrich  139 Heinrich I.  136 Heinrich II.  136 Heiss, Desiree  123 Heribert, Hl.  136 Herpen, Iris van  241f. Herzog, Jacques  71 Hobbes, Thomas  67 Hoffmann, Josef  198 Hörl, Ottmar  80 Husserl, Edmund  60 Jacob, Sam  202, 204 Johann I (Bischof von Speyer)  135 July, Miranda  80f. Kaag, Ines  123 Kafka, Franz  13 Kandinsky, Wassily  71 Karasek, Hellmuth  222 Karl der Große  136 Karl (II.) der Kahle  135

Kästner, Erich  283 Kawakubo, Rei  240f. Kepler, Johannes  67 Kingsley, Ben  241 Klocker, Hans  23 Kolsrud, Knut  33 Korff, Gottfried  122 Kues, Nikolaus von  siehe Cusanus, Nikolaus Lalhande  235 La Marche, Olivier de  139 Latour, Bruno  27, 45, 58, 74, 86 La Tour Landry, Geoffroi de  138f., 142 Le Corbusier  71, 189, 222 Léger, Fernand  72 Leistler, Carl  184 Liotard, Jean-Étienne  89 Lomazzi, Paolo  207 Loos, Adolf  193 Luhmann, Niklas  244f. Luther, Martin  148 Mann, Thomas  193, 233 Marx, Karl  67, 70 Massier, Clément  91 Mathesius, Johannes  152 Matthias, Leo  94 Mauss, Marcel  231 McLuhan, Herbert Marshall  28, 118, 126 Mediavilla, Hector  236 Meinecke, Friedrich  94 Mende, Durandus von  137 Merian, Matthäus  68–70 Metzkes, Robert  263f. Meuron, Pierre de  71 Michelangelo  246 Mijn, Frans van  89 Morris, William  249 Mr. Pearl (Korsettschneider)  232f. Müller, Cornelia  31, 102 Munari, Bruno  218f. Murakami, Takashi  241 Musil, Robert  193 Nelson, George  205 Newton, Isaac  67, 70 Nietzsche, Friedrich  75 Nilson, Johannes Esaias  171 O’Connell, Colette  239 Ohser, Erich (e. o.plauen)  50, 275 Olivi, Petrus Johannis  66 Oman, Charles  167

Personenregister     | 299

Ono, Yoko  84, 252f. Opsvik, Peter  204, 205 Oxenius, Katharina  41 Paik, Nam June  253 Panton, Verner  212 Paolini, Cesare  195, 213 Paracelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim)  60f. Pasolini, Pier Paolo  44, 50 Pedersen, Ragnar  131 Pesce, Gaetano  208 Philoponos, Johannes  64–66 Piranesi, Giovanni Battista  265 Plessner, Hellmuth  76 Poisson, Robert  138 Polanski, Roman  241 Ponge, Francis  15, 50 Preciado, Beatriz  221 Pröhl, Polly  238 Prost, Antoine  215 Ratoldus, Abt  137 Rauch, Neo  78 Rautert, Timm  79 Reich, Lilly  270, 271 Reich-Ranicki, Marcel  222 Riegel, Alois  59 Riemerschmid, Richard  269 Rilke, Rainer Maria  227 Rilla, Paul  275 Rodtschenko, Alexander (Michailowitsch)  251 Rumford, Graf  170 Saarinen, Eero  221 Scheppe, Wolfgang  200 Schiffer, Claudia  253 Schmidt, Barbara  92, 101f. Schnütgen, Alexander  20 Schreber, Daniel Gottlob (auch: Gottlieb) Moritz 196 Scolari, Carla  207 Searle, John R.  27 Seelig, Lorenz  169 Selle, Gert  13, 24, 37f., 42f., 123, 131, 187, 189, 192, 222f. Sherman, Cindy  49, 244, 254–256 Shiebler, George W.  93

Sigrist, Albert  202 Simmel, Georg  45, 58, 90–92, 94, 96 Smith, Paul  236 Staffel, Franz  196f. Stehle, Wolfgang  82 Steiner, Rudolf  44, 61, 71f. Studio Job (Designerduo)  119f. Stumpf, William ‚Bill‘  198 Sullivan, Louis  58 Swift, Jonathan  120 Tamagni, Daniele  234f. Tatlin, Wladimir (Jewgrafowitsch)  251 Teich, Gudrun  253f. Teodoro, Franco  195, 213 Thompson, Benjamin  170 Thonet, Franz  191, 192 Thonet, Michael  184f., 187, 190 Tiravanija, Rirkrit  129 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm  217 T. L. (Monogramm)  166 Ullrich, Wolfgang  82 Vasari, Giorgio  70 Velde, Henry van de  248f. Velde, Maria van de  248 Vetter, Andreas K.  218, 223 Vieira, Álvaro Siza  193 Vinci, Leonardo da  68, 246 Virilio, Paul  201 Visscher, Roemer  133f., 137, 144 Vuitton, Louis  241 Wagenfeld, Wilhelm  271 Wall, Jeff  78 Walther, Franz Erhard  79 Warburg, Aby  59, 217 Weber, Jeff  198 Weinhold, Ulrike  168 West, Franz  81 Winter, Georg  83 Wright, Frank Lloyd  71 Wünsche, Konrad  196 Wurm, Erwin  49, 81, 244, 257f. Zick, Januarius  171f. Zorer, Elias  155f.