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German Pages 236 [230] Year 2009
Frank Grunert, Dorothee Kimmich (Hrsg.) Denken durch die Dinge
Frank Grunert, Dorothee Kimmich (Hrsg.)
Denken durch die Dinge Siegfried Kracauer im Kontext
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Universitätsbundes. Vereinigung der Freunde der Eberhard Karls Universität Tübingen e. V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2009 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4621-3
Inhaltsverzeichnis
Dorothee Kimmich, Frank Grunert: Einleitung……………………………………………………………………….....
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I. Methodische Optionen: Oberfläche, Konkretion, Wahrnehmung Dagmar Barnouw: Vielschichtige Oberflächen. Kracauer und die Modernität von Weimar ...............
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Dirk Oschmann: Kracauers Ideal der Konkretion ..............................................................................
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Helmut Stalder: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit ...........................
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Dorothee Kimmich: „Begrenzen ohne zu definieren“. Kracauers Ästhetik der Aufmerksamkeit als „praktische Phänomenologie“ ...........................................................................
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II. Die Objektivität der Dinge: Undurchdringlichkeit, Verfallenheit, Realismus Joachim Jacob: Undurchdringlichkeit. Oder: Über Kracauer und die „Fruchtbarkeit des gegenständlichen Widerstandes“ in der deutschen Kulturphilosophie der 1920er Jahre............................................................................................................
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Gérard Raulet: Verfallenheit ans Objekt. Zur Auseinandersetzung über eine Grundfigur dialektischen Denkens bei Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer ......................
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Stephanie Waldow: „Realistisch sein, ohne zu verdinglichen“. Siegfried Kracauers Dingwahrnehmung im Kontext von Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg ........................................
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INHALTSVERZEICHNIS
III. Der Vorrang des Optischen: Bilder und Medien Günter Butzer: MedienRevolution. Zum utopischen Diskurs in den Medientheorien Kracauers und Benjamins .......................................................................................
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Markus Schroer: Unsichtbares sichtbar machen. Visualisierungsstrategien bei Siegfried Kracauer ...................................................
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Claus Volkenandt: Gruppenporträt und Ornament der Masse. Zum Verhältnis von Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Soziologie bei Alois Riegl und Siegfried Kracauer ..................................................................
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Detlev Schöttker: Bild, Kultur und Theorie. Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis ...................
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Namenverzeichnis........................................................................................................
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Einleitung
Siegfried Kracauers Vorstellung einer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ oder seine Philosophie der „vorletzten Dinge“ ist erst in jüngster Zeit auf zunehmendes Interesse gestoßen. Dabei ist deutlich geworden, dass er in philosophischer wie in ästhetischer Hinsicht eine ernstzunehmende Position entwickelte, die sich mit Konzepten von Adorno, Benjamin, Bloch, Cassirer u.a. berührt. Sein spezifischer Realismus ist keineswegs ‚wunderlich’, wie Adorno mit kritischem Akzent noch in den 60er Jahren bemerkte. Vielmehr ist er Teil eines komplexen Diskurses, der Ästhetik, Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Erkenntnistheorie mit Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie verbindet. Weil Kracauer nicht von der Rezeption der „Frankfurter Schule“ profitiert hat – fraglich ist sogar ob und inwieweit er ihr überhaupt zugehört – ist dieser hybride Diskurs bis heute eine besondere Herausforderung für die Forschung geblieben.1 Denn um ihn angemessen aufschlüsseln zu können, wird eine Auseinandersetzung verlangt, die nur in einer multidisziplinären Perspektive fruchtbar geführt werden kann. Die Herausforderung eines Denkens, das die begriffliche Abstraktion zunächst aussetzt und sich vielmehr auf das „Konkrete“, das je „Einzelne“, eben das „Ding“ konzentriert, ist in Kracauers Werk an allen Stellen präsent. Das Dilemma zwischen „erlebter Vielfalt und Bedürfnis nach Zusammenhang“2 zieht sich durch Kracauers gesamtes Werk. Während in den frühen 20er Jahren bei ihm das Bedürfnis nach einer Lösung für die allgemein wahrgenommene Zersplitterung und Auflösung dominierte, nimmt im Laufe der Zeit die Skepsis gegenüber den immer unzulänglich bleibenden Systematisierungsversuchen unterschiedlichster ideologischer Provenienz zu. „Was bleibt, ist der Einspruch [...] gegen prätendierte Deutungen – und als letztes die vorläufige 1
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Vgl. dazu Dagmar Barnouw: Critical Realism. History, Photography and the Work of Siegfried Kracauer. Baltimore, London 1994. Michael Schröter: Weltzerfall und Rekonstruktion. Zur Physiognomik Siegfried Kracauers. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Siegfried Kracauer (Text und Kritik 68). München 1980, S. 18–40, S. 24; Klaus Koziol: 28 Tiefgründiger Gedanke NR 8 Die Wirklichkeit als Konstruktion. Zur Methodologie Kracauers. In: Michael Kessler, Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen, Tübingen 1990. S. 147–158.
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EINLEITUNG
Hinwendung zum Einzelnen, Alltäglichen, Individuellen, das aus den herrschenden Interpretationen herausfällt und doch der Prüfstein jeder Interpretation wäre.“3 Kracauers unphilosophische Philosophie einer im Vorraum des Letzten auf die „vorletzten Dinge“ konzentrierten Erkenntnis vermeidet alle Fixierungen. Sie ist eher im Gegenteil darum bemüht – wie Kracauer gegen Ende seines Lebens mit Blick auf Erasmus festhält – ihre „Ideen in sozusagen flüssigem Zustand zu halten“4. Jenseits abstrakter Verfügung und unter Verzicht jeglicher Letztbegründung geht es darum, die Wirklichkeit in ihrer „Eigenbeschaffenheit“5 in den Blick zu bekommen, was nur dann gelingen kann, wenn Erkenntnis als „Denken durch die Dinge, anstatt über ihnen“6 vollzogen wird. Ein solches Denken lässt sich auf die Dinge in ihrer Konkretheit ein, ohne sich freilich ihnen zu überlassen. „Denken durch die Dinge“ kann als ein mimetisches Denken beschrieben werden, das sich von der sinnlichen Qualität der Erscheinungen affizieren lässt, doch weder konkretistisch in den Dingen aufgeht noch sich abstrakt über sie erhebt. Es geht ihm dabei gerade nicht darum, die beiden Seiten, das Konkrete und das Abstrakte, zu versöhnen oder sich für jeweils eine zu entscheiden, sondern den „Habitus des Denkens“ so zu korrigieren,7 dass diese Zwischenbereiche mit „ihrer besonderen Natur“ als solche mit „eigenem Anspruch“ zu erkennen und zu begründen sind.8 Es geht um „Zwischenbereiche“ des Denkens und Repräsentierens,9 d.h. um solche, die in einem speziellen Raum zwischen Wissenschaft und Kunst bzw. zwischen Imagination und Dokumentation zu finden sind. Die Rede ist von einer „Diskursform“, die sich sowohl gegenüber der philosophischen Abstraktion als auch gegenüber der empirischen Wahrnehmung und Aufzeichnung abgrenzt. Als Denken in Denkbildern vermittelt es unaufhörlich Abstraktion und Konkretion, und zwar im Bewusstsein unhintergehbarer Vorläufigkeit. „VorraumDenken“ nennt Kracauer diese Form von antinomischem Diskurs, der nicht ambivalent, sondern eher „doppelt“ sein will: Abstraktion und Konkretion müssen koexistieren, ohne dass eine Form der Aufhebung des einen in das andere je gelingen könnte.10
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Michael Schröter: Weltzerfall. S. 25. Siegfried Kracauer: Aufsätze 1932–1965. In: Ders.: Schriften 5.3. Frankfurt a. M. 1990. S. 357. Siegfried Kracauer: Aufsätze 1915–1926. In: Ders. Schriften 5.1. Frankfurt a. M. 1990. S. 201. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Ders.: Schriften 4. Frankfurt a. M. 1971. S. 180. Ebd., S. 26. Ebd. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Ders.: Schriften 4, vgl. dort die „Einführung“ S. 15–62. Vgl. Ebd. Die Idee eines Denkens im „Vorraum“ wird im letzten Kapitel von Geschichte – vor den letzten Dingen verhandelt.
EINLEITUNG
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Die theoretische Rekonstruktion dieses Konzepts ist alles andere als trivial. Es steht quer zur Erkenntnistheorie der traditionellen Philosophie und berührt sich doch mit einer Reihe von ähnlich gelagerten Ansätzen, die in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Konjunktur hatten. Die Mehrzahl der Beiträge des vorliegenden Bandes setzen in ihren Analysen hier an: es geht um die möglichst genaue Positionierung von Kracauers Denken im Konzert der zeitgenössischen Diskussionen, es geht um die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und um die Beschreibung von Differenzen. Dabei werden neben Weggefährten wie Adorno, Benjamin und Bloch auch Autoren in den Blick genommen, die bisher noch nicht oder nur in unzureichendem Maße in die theoretischen Bemühungen um das Werk von Siegfried Kracauer einbezogen wurden, zu nennen wären etwa Robert Musil, Aby Warburg, Alois Riegl oder auch, und zwar jenseits der Zeitgenossenschaft in den Zwanziger Jahren, Hans Blumenberg. Die Beiträge sind drei verschiedenen Abschnitten zugeordnet: während die Arbeiten von Barnouw, Oschmann, Stalder und Kimmich einen Zugang über methodische Optionen zu Kracauers Œuvre schaffen, ist der zweite Abschnitt mit den Studien von Jacob, Raulet und Waldow näher mit den Dingen, d.h. mit ihrer Phänomenologie sowie ihrer theoretischen Wahrnehmung und Verarbeitung befasst. Der letzte der drei Abschnitte ist dem Vorrang des Optischen gewidmet. Die Aufsätze von Butzer, Schroer, Volkenandt und Schöttker wenden sich unter medientheoretischen, soziologischen und kunsthistorischen Perspektiven dem entscheidenden Ansatzpunkt der Kracauerschen Analyse zu: das Ding, durch das hindurch gedacht werden muss, ist zunächst und in erster Linie das visuell wahrgenommene Ding. Bei allen Unterschieden des Zugriffs und der Fokussierung ist den hier versammelten Beiträgen die Einsicht gemeinsam, dass Kracauers Bemühen um die „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ nichts mit der Naivität vortheoretischer Evidenz zu tun hat, sondern nur über ein hohes Maß von Fremd- und Selbstreflexion erreicht werden kann. Dass in diesem Zusammenhang die hier vorgelegte kleine Sammlung nichts Abschließendes, sondern nur etwas Vorläufiges bieten kann, realisiert eine bedeutende Einsicht ihres Gegenstandes. Der vorliegende Sammelband geht in seinem Kern auf ein Arbeitsgespräch zurück, das mit der freundlichen Unterstützung der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen der Justus-Liebig-Universität Gießen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar stattgefunden hat. Nicht alle Tagungsbeiträge konnten für den Druck zur Verfügung gestellt werden. Die Arbeiten von Dirk Oschmann (Jena), Markus Schroer (Darmstadt), Helmut Stalder (Zürich) und Claus Volkenandt (Basel) haben die dadurch entstandenen Lücken nicht nur geschlossen, sondern erfreulicherweise um neue Themenfelder erweitert. Die Erstellung der Druckvorlage hat freundlicherweise Andreas Gehrlach (Tübingen) übernommen, letzte korrigierende Hand an diese Vorlage hat Wolfgang Thoeben (Münster) gelegt. Jutta Frank (München) und Carolin Hahn (Halle / Saale) haben sich um das Namenverzeichnis gekümmert. Die Universität Tübingen
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EINLEITUNG
und der Universitätsbund Tübingen. Vereinigung der Freunde der Eberhard Karls Universität e.V. haben durch großzügige Zuwendungen den Druck des vorliegenden Sammelbandes ermöglicht. Allen Personen und Institutionen, die durch ihr Engagement am Entstehen dieses Buch mitgewirkt haben, sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gebührt den beteiligten Autoren, sie haben nicht nur die gedankliche Hauptarbeit geleistet, sondern auch mit großer Geduld die am Ende doch langwierige Arbeit an der Drucklegung des Bandes unterstützt. Tübingen und Halle (Saale) im Herbst 2009 Dorothee Kimmich und Frank Grunert
I. Methodische Optionen: Oberfläche, Konkretion, Wahrnehmung
DAGMAR BARNOUW
Vielschichtige Oberflächen Kracauer und die Modernität von Weimar Das anhaltende Interesse an der Kultur der Weimarer Republik ist zu einem hohen Grad bedingt durch ihren zentralen, ungelösten politischen und intellektuellen Konflikt: einerseits rapide Modernisierung durch die zu einem großen Teil kriegsbedingten naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen; andererseits eine zunehmende Problematisierung der modernen Erfahrung von Mechanisierung, Inauthentizität, Fragmentierung und Selbstentfremdung. Je anachronistischer die Sehnsucht nach einem „wahren“ Selbst war, nämlich dessen Verankerung in seinen „wahren“, im Gedenken zurück zu gewinnenden Ursprüngen, desto dringlicher schien die intellektuelle Aufgabe dieser Rückgewinnung. Der moderne Wahrheitsbegriff dagegen, wie er sich zunehmend seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet hat, bedeutet einen mit anderen, also auch anders Denkenden, geteilten Prozess des Vertrauens in Evidenz. Dieser Prozess verläuft in der Zeit und zwar oft erratisch; und er ist nicht angewiesen auf bedeutsame Momente plötzlicher Offenbarung, deren Zugänglichkeit und Mitteilbarkeit auf distinkte und dann solidarische Gruppen beschränkt und damit privilegiert ist. Vielmehr setzt er die Präsenz anderer Perspektiven voraus, also unterschiedlicher Ansichten, die keine ‚volle’ Wahrheit zulassen, sondern sich mit Plausibilität und relativer Mitteilbarkeit begnügen. Gerade die spezifische Modernität dieser Vielstimmigkeit und Plausibilität war es, die den Kracauer der Weimarer Periode zunehmend beschäftigte und sein Interesse an einem möglichst zugänglichen dokumentarischen oder zeitgeschichtlichen Diskurs bestimmte, ob dieser sich nun verbaler oder fotografischer Repräsentation bediente. Aber es war auch gerade in Hinsicht auf diesen Wahrheitsbegriff, dass viele Intellektuelle deutliche Schwierigkeiten mit der Modernität der Weimarer Republik hatten, sobald diese die Bedeutungen ihrer eigenen Zeitgenossenschaft betraf. In ihrer veränderten, noch verunsicherten Position nach dem ersten Weltkrieg schien die im wörtlichen Sinne re-aktionäre Marginalität einer marxianisch-hegelianischen kulturellen „Spitzen-“ oder „Vorstoß“-Stellung einen attraktiven Ausweg zu bieten, gerade weil sie keine politische Verantwortung und kein historisches Bewusstsein forderte.
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DAGMAR BARNOUW
Von dieser ideologischen Position aus war es leichter, über die „postmodernistische“ Dimension der Moderne von Weimar hinweg zu sehen. Es handelte sich dabei um nichts Geringeres als die veränderten Einstellungen zu den Herausforderungen der Modernität des 18. Jahrhunderts, die nun sowohl für den Ausbruch des ersten Weltkriegs verantwortlich gemacht wurde als auch für die Schwierigkeiten, einer immer pluralistischeren Gesellschaft die kulturelle und politische Katastrophe überzeugend zu erklären und damit eine Wiederholung zu verhindern. Seit der Problematisierung des Projekts der Aufklärung durch Rousseau und in seiner Folge der ersten Generation der deutschen Romantiker ist das Konzept der Moderne ein historischer Prozess von sich gegenseitig beeinflussenden und dadurch miteinander verändernden, aufklärerischen und neoromantischen Tendenzen gewesen. Es ging immer um Variationen eines Zusammentreffens der aufklärerischen Identität als Neugier auf das, was anders und deshalb fragwürdig ist, und der romantischen Identität als Wiedergeburt in das unfragbar, unsagbar wahre, darin sich immer gleiche Ich. Aber in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen waren es besonders hegelianischeschatologische Impulse, die den auf merkwürdige Weise kombinierten utopistisch-pessimistischen Messianismus der Zeit verstärkten – aus der Rückblicksperspekive um die Jahrtausendwende für viele Intellektuelle immer noch der charakteristischste und verführerischste Aspekt der Weimarer Republik. Im Kontext der sich in der Zeit verändernden komplexen und widersprüchlichen Aktualität der Weimarer Jahre erscheinen die fragwürdigen Aspekte dieses Messianismus transparenter. Die Erfahrungen und Folgen des ersten modernen technologischen Weltkrieges, die sich rapide entwickelnden Abhängigkeiten technologischer und sozialer Entwicklungen auf der einen Seite und politischer Polarisierung auf der anderen, schienen einer kritischen, intellektuellen Intervention in hohem Grad unzugänglich. Die von immer mehr Gruppen geteilte Wahrnehmung der Nachkriegsmoderne als sowohl erstaunlich erfolgreicher als auch nicht geheurer Technokratie eliminierte auch vertraute kulturelle Demarkationen, nach der sich solche Intervention vorher ausgerichtet hatte, daher die häufigen Anrufungen von „Sinn“, „Weg“, „Ziel“, „Richtung“, „Entscheidung“ über das ganze politische Spektrum. Gleichzeitig regten diese Entwicklungen eine enorme Ausdehnung des Kulturbetriebs an, nämlich eine neue Sicht- und Hörbarkeit und damit viel größere soziale Zugänglichkeit der Hochkultur (Kunst, Musik, Literatur), damit aber auch deren größere Ausnutzbarkeit für politische Zwecke. Besonders in diesem Zusammenhang ist Kracauers Position instruktiv: als erfolgreicher „high-brow“-Journalist und Feuilletonredakteur bei der einflussreichen liberalen Frankfurter Zeitung zeigte er sowohl Verständnis für als auch Skepsis gegenüber dem Projekt einer intellektuellen Vorhut, in dem sich Ernst Bloch, Lukács, Benjamin und Adorno zusammengefunden hatten. Bei allen Unterschieden in ideologischen Details waren sie prinzipiell verführbar von supra-empirischen und supra-historischen Argumenten, die Kracauer
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während der Weimarer Jahre zunehmend kritisch sehen sollte. Sein Versuch einer Vermittlung zwischen Begriff und Sinneswahrnehmung teilte mit der Kulturkritik Musils, Plessners, Benjamins und Blochs die ausdrücklich moderne Faszination von den „gewöhnlichen“ Phänomenen der zeitgenössischen Lebenswelt. Dabei unterschied er sich aber stark von Benjamin und Bloch durch sein spezifisches Interesse an der Verbindung zwischen Wissen (Erkenntnis) und Repräsentation. Es war gerade sein wachsender Skeptizismus gegenüber posthistorischen oder postmodernistischen Glaubenssystemen, vor allem deren neu-hegelianische begrifflich-verbale Akrobatik, der ihm den Hermetizismus Blochs und Benjamins verdächtig machte. In Kracauers Sicht war es die Aufgabe der Intellektuellen, ihre Kulturkritik innerhalb einer mit anderen geteilten Lebenswelt zu entwickeln, denn sie bezogen ihre Autorität ja gerade aus deren neuer und in vielem problematischer Mitteilbarkeit in den Massenmedien (Zeitungen, Fotografie, Film). Als Redakteur, also im täglichen Umgang mit den unterschiedlichsten Texten und Lesern, schlug er Bloch vor, seine Essays aus Gründen begrifflicher Klarheit und Ökonomie umzuschreiben, wobei er ihn daran erinnerte, dass seine Ideen, wie auch die Adornos und Benjamins, nur gewinnen könnten von der Herausforderung der Zugänglichkeit für eine größere Leserschaft. Trotz gewisser intellektueller Sympathien und Affinitäten mit Benjamins Arbeiten1 schien Kracauer dessen neo-romantisch aufbrechender, „magischer“ Blick wenig nützlich für die Kritik einer modernen Kultur, in der sich Benjamin von Anfang an und unumstößlich als Exilant gefühlt hatte. Aber für diese intellektuelle, selbst-deklarierte Vorhut war gerade die Annahme ihrer unwiderruflichen und schon deshalb bedeutsamen Marginalität wichtig, denn auf diese stützte sich ihre (aus dem Rückblick) problematische „Unschuld“ angesichts der komplexen und zunehmend gefährlichen sozialen und politischen Realitäten der Weimarer Republik. Zur Weimarer Zeit, ehe sich eine „Frankfurter Schule“ herauskristallisiert hatte, waren sie vor allem daran interessiert, möglichst individualistische Variationen einer kulturpolitisch marxianischen Position (eher denn Philosophie) für sich zu entwickeln. Die Folge war dann, dass der jeweils höchst bewusst eingesetzte „poetische“ Sprachgebrauch die begrifflichen Strategien in einem Grade beschränkte, der wenig (rational zugänglichen) kritischen Gedankenaustausch zuließ, dafür aber möglichst weitgehenden Verlass auf kulturpolitische Solidarität der Gleichgesinnten forderte. Auch Kracauer experimentierte für eine Weile mit marxianischen Argumenten, was dann auch in seinem Fall häufig zu begrifflicher und sprachlicher Verschwommenheit führte. Aber im Ganzen zeigen seine kulturkritischen Essays der Weimarer Periode eine gewisse Verwandtschaft mit Musils gleich1
Siehe Kracauers verständnisvolle, wenn auch teilweise ambivalente Besprechungen von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und Einbahnstraße: Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins. In: Siegfried Krcauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M. 1963. S. 251–255.
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zeitigen Texten gerade in ihrer Betonung der bewusst sozialen und kommunikativen eher denn suggestiv hermetischen Aspekte der Sprache. Kracauers Entwicklung während der Weimarer Zeit brachte ihn Musils kritischer Affirmation der Moderne als kommonalem Versuch der Welt-Orientierung näher. Eine der wichtigsten Folgen des ersten Weltkriegs war die nun unübersehbare kulturelle Dominanz von Naturwissenschaften und Technologie mit enormen, aber weitgehend unverstandenen sozialen und politischen Implikationen. Dieser wohl schwierigsten Herausforderung der Weimarer Moderne war mit der Gegenüberstellung von „instrumenteller“ und „kritischer“ Vernunft, dem vulgär-schopenhauerischen Kernstück der Frankfurter „Theorie“, kaum beizukommen. Kracauer dagegen teilte mit einer relativ kleinen Gruppe von Weimarer Intellektuellen wie Robert Musil und Helmuth Plessner das Realitätsprinzip einer Pluralität von unabhängigen, kritischen Stimmen, die weniger an ihrer intellektuellen Identität und deren jeweiliger „Wahrheit“ interessiert waren als an einem besseren Verständnis schwieriger zeitgenössischer Realitäten, vor allem auch Fragen politischer Macht in einer technokratischen Massendemokratie. Für ihn wie für sie war der Wahrheitsbegriff der Moderne ein mit anderen geteiltes Projekt: prozessual, offen für widersprüchliche Positionen, fragmentarisch, provisorisch – und gerade auch deshalb nicht im Sinne der Frankfurter Schule auf ideologische Weise wissensskeptisch. In seiner Rezension von Plessners Grenzen der Gemeinschaft (1924) betonte Kracauer denn auch die nützlichen Warnungen dieses viel beachteten Textes „gegen alle radikalen Utopien, die eine gewaltlose Einigung der Menschen und eine distanzlose Lebensgemeinschaft der Menschen proklamieren. Erträgt die Seele überhaupt solche Direktheit? So fragt er [Plessner, D.B.], und seine Antwort lautet: das Gesellschaftswesen mit seiner Kühle und seinem System der Vermittlungen ist als Sicherheitsfaktor menschlicher Würde unerlässlich“.2 Vorher hatte Kracauer schon die zeitgenössische Fixierung auf Gemeinschaft, „ob als eine des Glaubens, des Blutes, der Sache“, charakterisiert als „das genaue Widerspiel“ einer dann zu eindeutig und einfach negativ gesehenen Gesellschaft: „Hier das amorphe Gemenge der zu Atomen reduzierten Individuen, dort die Hierarchie sinnvoller Beziehungen zwischen voll entfalteten Menschen; hier die Ausschaltung der Innerlichkeit, der Mitteilung nicht gewährt ist, dort ein Gefüge, das auf Innerlichkeit beruht und ihre Kundgabe ermöglicht; hier im Mittelpunkt wirtschaftliche und technische Interessen, die eine lediglich äußere Verbindung zwischen den Gesellschaftsatomen herstellen, dort eine lebendige Mitte, aus der die gesamte Existenz der zu ihr sich verhaltenden Gemeinschafts-Glieder Kraft und Bedeutung zieht.“
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Siegfried Kracauer: Philosophie der Gemeinschaft. In: FZ, 30. Okt. 1924. In: Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Hg. v. Joachim Fischer u.a. Frankfurt a. M. 2002. S. 357–362, hier S. 358–359.
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An Plessners Argumenten gegen das zu intensive Verlangen nach einer „Gemeinsamkeit der Menschen, die sie ihrer Totalität nach einbegreift“, unterstreicht Kracauer besonders die Rolle der Distanz, der Maske, des Takts im „zivilisatorischen Hygienesystem der Seele“.3 Mit dem Begriff „Takt“ verweist Kracauer hier bereits auf ein Verhalten, das er vier Jahrzehnte später in seinem letzten Buch History dem (idealen) Historiker als dem essenziell „Fremden“ zuschreibt: Takt als die Fähigkeit, gesellschaftlich beweglich und verbindlich zu sein, das Provisorische und Zeitweilige menschlicher Beziehungen zu akzeptieren und nicht nach dem Eigentlichen und Dauernden zu trachten. Takt ist die Fähigkeit, sich in die Situation des Anderen zu versetzen, und voraussehen zu können, was den Anderen verletzen, d.h. ihn in seiner Anwesenheit fragwürdig machen könnte; oder was dem Anderen angenehm sein, d.h. ihn in seiner Anwesenheit bestätigen könnte. Takt ist die Annahme, dass man den Anderen nicht ‚ganz’ oder ‚wahrhaft’ kennen und ihn dann auch nicht auf eine bestimmte Identität festlegen kann, sondern dass man diesen Anderen anwesend sein lässt in seinen Beziehungen zu Anderen, also ihn nicht für sich selbst oder seine eigenen Zwecke vereinnahmt. Die „zivilisatorischen Fakten“, die mit dem Wort Takt angesprochen werden, unter ihnen die Fähigkeit zur Verwandlung, sind unter den Beispielen, die zu dem Gedankenbild ‚anteroom’ der Geschichte und Historiografie gehören.4 Die Plessner-Besprechung endet mit einer für den Kracauer der Weimarer Periode charakteristischen Einschränkung: „zu wünschen“, schreibt er hier, „wäre eine stärkere Betonung der Aussage gewesen, daß die Sphäre der Gesellschaft nur dann zu Recht besteht, wenn eine wirkliche Gemeinschaft sie aus sich hervor treibt, daß sie aber die Gemeinschaftskräfte erstickt, wenn sie Selbstständigkeit sich anmaßt und keine Grenzen mehr findet“.5 Wo der junge Skeptiker Plessner schon die potenzielle Gefährlichkeit der sich allzu sehr vordrängenden Gemeinschaftssehnsüchte sieht und kritisch analysiert, hofft Kracauer, obwohl älter und erfahrener, noch eine „wirkliche Gemeinschaft“ zu finden. Er schließt darin auch Gemeinschaftsideologien wie Marxismus ein, als Balance gegen die für ihn Mitte der zwanziger Jahre im großen und ganzen doch noch zu dünnen „Sphäre der Gesellschaft“. Dabei hielt der Journalist als besonders aufmerksamer Zeitgenosse der sich rapide verändernden, in vielem chaotischen politischen und intellektuellen Kultur von Weimar aber auch das Phänomen der Verwandlung für zentral wichtig – für sich und für andere. Aus ihm nährte sich sein Bewusstsein einer offenen, fluiden Identität, ein Selbstverständnis, das ihn schließlich doch die gesellschaftlichen Energien und Möglichkeiten über die gemeinschaftlichen 3 4
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Ebd., S. 359. Siehe meine Fortführung von Kracauers Umschreibungen. In: Critical Realism History, Photography, and the Work of Siegfried Kracauer. Baltimore 1994. S. 160f. Siegfried Kracauer: Philosophie der Gemeinschaft. S. 359f.
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setzen ließ. Dazu kam auch sein schon früh vorhandenes Interesse an der modernen Historiografie als wichtigem Ergebnis des aus der europäischen Aufklärung hervorgegangenen, sich selbst transformierenden Diskurses der Moderne. Denn hier, wie er richtig sah, hat sich die Einsicht in die Historizität des Verstehens entwickelt, der wiederum die zivilisierte Fähigkeit zu verdanken ist, sich in die Position des anderen zu versetzen. In Kracauers Erfahrung ist das eine für den Journalisten und Dokumentaristen (und später den Historiker) so unumgängliche wie prekäre Fähigkeit, und er war auch deshalb so beeindruckt von Plessners Argumenten in Grenzen der Gemeinschaft. Das große kulturelle Interesse an der Fotografie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Debatten um die Bedeutungen der fotografischen Repräsentation, galten vor allem der Frage der Perspektive im Verhältnis zwischen dem Bild und dem Abgebildeten. Kracauers hermeneutische Umsichtigkeit in Sachen dokumentarischer Perspektive, ob in der Zeitgeschichte der Weimarer Periode oder später in der Geschichte, war sicherlich gestärkt von seiner frühen Faszination von den kulturellen Bedeutungen des modernen nichtverbalen Mediums der Fotografie. Visuelles Talent und Architekturstudium hatten seine Aufmerksamkeit besonders auf rapide technologische Fortschritte, auch in der Fototechnologie, gelenkt und auf ein neues Verständnis urbaner Räume, das besonders von Filmen „aufgenommen“ und verzeichnet werden konnte. Fotografien und Filme konnten so zu einer neuen, zeitgenössischen urbanen Erfahrung beitragen, die sich als die kulturelle Erfahrung der Weimarer Periode herausstellen sollte. Um die Mitte der 20er Jahre begann Kracauer, sich zunehmend von einer (teilweise) von Simmel beeinflussten metakulturellen Kritik des modernen Verlusts einer sinnvoll verankerten Welt zu distanzieren6 – der notorische „Verlust der Mitte“ – und entwickelte allmählich einen nuancierteren, komplexeren kulturellen Empirismus.7 Diese Entwicklung war ebenso sehr verbunden mit dem Beginn seiner Tätigkeit als Filmkritiker für die Frankfurter Zeitung (1924) wie mit seiner Erfahrung der immer stärkeren und schnelleren sozialen Veränderungen in Reaktion auf neue Produktionsmethoden in der Arbeitswelt (1925–28). Er beobachtete und analysierte wichtige Einzelheiten dieser Veränderungen in seiner dokumentarischen Studie der neuen und politisch einflussreichen Klasse der Angestellten (1929), deren Ängste und Sehnsüchte in den Unterhaltungsfilmen der Zeit so verführerisch glatt dargestellt 6
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Das soll nicht heißen, dass diese Klage einen zentralen Stellenwert in Simmels Kulturphilosophie hat: vor allem in der Philosophie des Geldes ist Simmels Argumentation provozierend vieldeutig: siehe Critical Realism, Kapitel 2, Anm. 8. Über die Rolle des Marxismus zu dieser Zeit siehe Eckhardt Köhn: Die Konkretionen des Intellekts. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Erfahrung und literarischer Darstellung in Kracauers Romanen. In: Text + Kritik 68. München 1980. S. 41–54, hier S. 48f. Im Gegensatz zu den Behauptungen Köhns und anderer hat sich Kracauers Interesse nicht erst 1925 unter dem Einfluss Blochs entwickelt: Zu dieser Zeit bestand kein Kontakt zwischen den beiden, und Blochs Konstrukt ‚Marxismus’ unterschied sich stark von dem Kracauers.
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wurden.8 Sie waren denn auch das eifrigste und loyalste Kinopublikum – nicht die kritischen Zuschauer, die Kracauer sich für die von ihm bevorzugten realistischeren Filmen wünschte.9 Die Bedeutung dieses Textes, eines der besten Beispiele des neuen dokumentarischen Genres, liegt in Kracauers kritischem und verständnisvollem Verzeichnen einer Vielfalt von Stimmen der petite bourgeoisie – das bête noir der Intellektuellen, die sich gern über die Unterstützung des status quo der Machtpolitik durch diese „schweigende Majorität“ beklagten, ohne sich selbst mit der Realität und Verantwortlichkeit der Macht zu befassen.10 Im Nacherzählen ihrer Geschichten als Fallgeschichten sozial-psychologischer Verzweiflung über die katastrophalen Wirtschaftsverhältnisse wusste der Dokumentarist Kracauer sehr wohl von den Gefahren einer voreiligen Aneignung der konkreten, bedrückenden Erfahrungen anderer für seine eigenen Zwecke; und er hat sie auch nicht immer vermeiden können. Aber in seiner journalistischen Tätigkeit hatte er eine spezifische Empfänglichkeit für die Präsenz und Individualität anderer Stimmen entwickelt, aus der auch seine Einwände gegen Blochs mystizistische Dunkelheiten und Adornos und Benjamins hermetizistische, selbst-illuminierende Brillanz schöpften. Gerade in ihrer höchst bewussten, inszenierten „Originalität“ waren ihre kulturkritischen Äußerungen auf eine Weise normativ, die zu weiterer kultureller Polarisierung beitrug. Zur Autorisierung ihrer relevanten Marginalität verwiesen sie zwar auf die Demaskierung der Macht durch eine „emphatische“ (Adorno) kritische Theorie. Aber in ihrem esoterischen Spiel mit den Distanzen und Dunkelheiten zeitgenössischer sozialer und politischer Phänomene – Benjamins „magischer Blick“ auf Berlin illuminierte seine eigenen Sensibilitäten, nicht die Erfahrungen anderer – versagte diese Art von Kulturkritik vor der Aufgabe, sich der neuen Vielfalt kultureller Aktivitäten und Produktionen zu stellen. Sie nahmen weder den kulturellen und politischen Status der Angestellten zur Kenntnis, noch das wachsende Interesse an der technologischen Weiterentwicklung und den Anwendungsmöglichkeiten der Fotografie in der Arbeitswelt, der Familie, der Freizeit.11 Für Kracauers kon8
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Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neusten Deutschland. In: Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 205–304. Siehe dazu die Diskussion dieses Dokumentar-Textes in Critical Realism, Kapitel 3. Im ersten Kapitel schreibt Kracauer über seine Erforschung der Welt der Angestellten, sie sei vielleicht abenteuerlicher als eine Filmexpedition nach Afrika, womit er nicht etwa die Exotik Afrikas betonen will, sondern die Tatsache, dass für ein zeitgenössisches Lesepublikum Informationen über Afrika leichter zu erhalten sind als über ihre eigene kulturell-politische Umgebung, die moderne Metropolis: Ebd., S. 215f. Siehe dazu Kracauers Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino und zu Alfred Schütz‘ lobende Bewertung dieses Textes in: Critical Realism. S. 306, Anm. 68. Siehe mein: Weimar Intellectuals and the Threat of Modernity. Bloomington 1988. Teil I. Tempted by Distance. Siehe Albert Renger-Patzsch und sein Werk Die Welt ist schön (Die Welt ist schön. Einhundert Photographische Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch, hg. u. eingeleitet von Carl Georg Heise, München 1928, dazu: Critical Realism, S. 62–65, 75), das die große Popularität
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zentrierte Aufmerksamkeit auf seine zeitgenössische Welt, die sein intimes Verständnis der neuen, unerwarteten Aspekte des Prozesses der Moderne ermöglicht hatte, ließ der selbst-reflexive Diskurs der intellektuellen „Vorhut“ keinen Raum. Die formalen und semantischen Strukturen dieses Diskurses waren ein eklektisch verzerrtes, reduziertes Echo zeitgenössischer Komplexität, entstellende Spiegelungen einer objektiv mit anderen geteilten, aber subjektiv schwer verständlichen modernen Welt. Diskurse der Selbstreflexivität sind weitgehend uninteressiert an der für die Moderne zentral wichtigen Historizität der Beobachtungsposition und deshalb notorisch unfähig zu intelligiblen Erklärungen einer größeren Lebenswelt. Mit zunehmender Einsicht in die Bedeutungen dieser Historizität wurden Kracauer auch die unreflektierten Selbsttäuschungen einer hegelianisch-marxistischen intellektuellen Vorhut deutlicher: ihre Neigung zu umgreifenden Verallgemeinerungen über besondere, und dann immer unterschiedliche Erfahrungen der Zeitlichkeit und Historizität, in die sowohl der Beobachter als auch das Beobachtete verstrickt sind. Darum ging es auch in der Korrespondenz mit Bloch im Sommer 1926 aus Anlass von Kracauers kritischer Besprechung des ersten Bandes der neuen Bibelübersetzung von Rosenzweig und Buber. Bloch hatte nach mehrjähriger Unterbrechung – Kracauers frühere scharfe Kritik an der charakteristischen Mischung von Marxianismus und chiliastischem Mystizismus seines Buches Thomas Münzer hatte ihn schwer gekränkt12 – spontan den Kontakt mit Kracauer wieder aufgenommen. Dieser, inzwischen ein bekannter und respektierter Kritiker, hatte zwar in seiner Besprechung der Bibelübersetzung auf die religiöse Lebenspraxis der Übersetzer als Basis ihrer linguistischen Entscheidungen hingewiesen.13 Aber in seiner Untersuchung der kulturellen Konnotationen ihrer künstlich archaischen Sprache argumentierte Kracauer mit der zeitgenössischen „Aktualität“ einer modernen, von ökonomischen und technologischen Entwicklungen kontrollierten Massengesellschaft, also eines technokratischen Kollektivs eher denn einer im Religiösen verankerten Gemeinschaft.14 Die Bibelübersetzung war in seiner Sicht sowohl „privat“ als auch „reaktionär“: Mit dem modernen profanen Sprachgebrauch hatte sie zugleich den Bereich der Notwendigkeit verlassen, nämlich die modernen sozialen und ökonomischen Bedingungen ihrer intendierten Leserschaft. Die neue anachronistisch archaisierende Übersetzung hatte also die historisch moderne Zeitgenossenschaft von Luthers Bibelübersetzung zurückgenommen. Die zu Luthers
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von Photo-Ausstellungen allgemein und den beträchtlichen Einfluss der rapiden technologischen Entwicklung der Industrie- und Werbephotographie auf die Dokumentar- und Kunstphotographie im Besonderen verdeutlicht. Siegfried Kracauer: Prophetentum. FZ, 27. August 1922. Ders.: Die Bibel auf Deutsch. In: FZ, 27–28, April 1926. Jetzt in: Das Ornament der Masse, S. 173f. Siehe dazu mein: Marginale Intellektuelle. Postmodernismus, Messianismus und Weimar. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 6 (2001). S. 9–33, hier S. 20–29.
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Zeit neue, politisch und kulturell moderne Zugänglichkeit der Bibel wurde nicht als die spezifische Historizität der Lutherischen Bibelübersetzung angesehen und konnte deshalb auch nicht als Denkanstoß für die Übersetzer wirken. So erkannten sie auch nicht die Historizität ihrer eigenen zeitgenössischen Problematik des modisch-unzeitgenössischen Archaisierens: die postmodernistischen, anti-rationalen, fundamentalistischen, messianischen Tendenzen der Weimarer Periode. Für Kracauer war die ganze Frage religiöser Revitalisierung oder „Verjüngung“ höchst problematisch. Bubers „Du-Welt“ einer menschlichen Unmittelbarkeit, die das „wirklich Wirkliche“ gegen das „Unwirkliche“ ausspielte und das Konkrete gegen ein vermeintlich Unkonkretes, schien ihm ein allzu leichtes Opfer reaktionärer politischer Strategien, die sich auf die Autorität von tieferen oder höheren, auf jeden Fall supra-rationalen Wahrheiten beriefen. Rationalität dagegen war die intellektuell zeitgenössische Position, gerade weil sie Raum ließ für die moderne Bedeutung abstrakten Denkens, also die kulturell wichtigen Prozesse kritischer Forschung und Diskussion. Instruktiverweise war Kracauers Argument für Rationalität hier deutlicher als in anderen, ungefähr gleichzeitigen Aufsätzen – vor allem in Das Ornament der Masse und Besprechungen von Benjamins Arbeiten. Je offensichtlicher die semantischen und konzeptuellen Dunkelheiten, desto dringlicher war sein Plädoyer für die Notwendigkeit logischer Klarheit – obgleich er im Allgemeinen generöser war, wo es sich um die Texte seiner Freunde handelte. Bloch, schon immer ein ausgesprochen eklektischer Leser, fand Verwandtes in Kracauers Argumenten: beide, so meinte er, betonten als Marxisten die äußerlichen, praktischen, unscheinbaren Aspekte des Lebens. Auch Kracauers Wahrheitsbegriff messe sich an der bedürftigen zeitgenössischen Aktualität und sei deshalb dem Begriff einer Totalität der Wahrheit in Lukács‘ Sinn nahe. Kracauer distanzierte sich sofort aufs Entschiedenste von Lukács, vor allem dem in seiner Sicht defensiven, reaktionären Konzept „Totalität“, das wegführte vom marxistischen „Materialismus“, also der Konzentration auf die sozio-ökonomischen Bedingungen, die natürlichen und kulturellen Oberflächen des alltäglichen Lebens. Blochs Fixierung auf die Totalität der Wahrheit bedeutete für Kracauer den Versuch, marxistische Positionen zu theologisieren. Die wichtigste zeitgenössische Frage war in diesem Zusammenhang, wie revolutionäre Theorie aus mit Anderen geteilten kollektiven „materiellen und äußerlichen“ Bedingungen heraus zu entwickeln wäre, und nicht aus privaten, innerlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten.15 Wie viele andere Intellektuelle der Nachkriegszeit war Bloch aber viel weniger an den realen Details der „materiellen und äußerlichen“ Welt interessiert als an der größeren, „welthistorischen“ Bedeutung seiner eigenen Rolle in dieser Welt. Er antwortete auf Kra15
Kracauer an Bloch. 27. Mai 1926. Briefwechsel Siegfried Kracauer – Ernst Bloch 1921– 1966. Hg. v. Inka Mülder. In: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Hg. v. Uwe Opalka u.a. Frankfurt a. M. 1985. Zwei Bände, Bd. I. S. 257–406, hier S. 272–74 (zit. Briefe).
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cauers Vorschläge mit derselben religiös überhöhten hegelianischen Beschreibung von Lukács‘ Position in Geschichte und Klassenbewusstsein, mit der er Benjamin von dem Erlösungspotenzial dieses Textes zu überzeugen versucht hatte.16 Die politische Wirkungskraft ideologischer Machtstrategien, die die Mehrzahl der Intellektuellen der Nachkriegszeit nie wirklich zur Kenntnis, geschweige denn ernst genommen hatten, waren im Frühling 1931 auch von Bloch nicht mehr so einfach zu übersehen. Er wandte sich heftig gegen Kracauers intellektuelle Kritik ideologischer Argumente, die für ihn einen politisch destruktiven Mangel an fragloser Solidarität mit ‚der Linken’ zeigten. Kracauer sei nicht willens, schrieb er, die gegenwärtige Situation auf „innermarxistische“ Weise zu sehen, nämlich vorherbestimmt durch den notwendig so und nicht anders verlaufenden „historischen Fortschritt selbst“. Damit habe er sich bewusst und willkürlich selbst aus der heilsgeschichtlich vorherbestimmten intellektuellen Vorhut exiliert – also, „innermarxistisch“ gesehen, der historisch präautorisierten Führungsgruppe. Diese Distanzierung vor allem schien Bloch unbegreiflich, denn die Annahme einer solchen Vorhut in Weiterführung von Lenins „Theorie“ der Vorhutrolle der Partei war ein besonders wichtiger Aspekt der Anziehungskraft von Lukács’ Argumenten in Geschichte und Klassenbewusstsein: schließlich hatte Lukács mit viel Ingenuität die intellektuelle Linke nicht nur von den bloßen Massen abgetrennt, dem Kanonenfutter der Geschichte, sondern auch von der Partei, und damit für sich und alle anderen gleichgesinnten Intellektuellen reserviert.17 Wie sich in der Summe seiner Kulturkritik der Weimarer Periode, der Essaysammlung Erbschaft dieser Zeit (1934) zeigen sollte, ging es Bloch keinesfalls um rationale, d.h. für eine pluralistische Leserschaft mitteilbare, zeit- und umstandsbedingte, also partielle und temporäre Analysen. Er forderte vielmehr ein totales, „teuflisches“ Engagement in ideologischen Bewegungen; und hier waren ihm Adornos und vor allem Kracauers kulturkritische Arbeiten nicht genügend „dämonisch“, „rot“ (wie in Blut), „warm“, geheimnisvoll, dynamisch.18 Aber Blochs „brillant“ chiliastische Illuminierung der werdenden, zukünftigen Welt zeigte viel zu wenig Kenntnis von der Welt, wie sie sich in den zeitlichen Prozessen von Zufällen, Kontingenzen und verworrenen menschlichen Handlungen herausgebildet hatte. Vor allem hatte er, wie viele andere Intellektuelle, nicht auf die besonders dichten, obskuren und immer schnelleren Veränderungen geachtet, die von den neuen Technologien angestoßene zeitliche Beweglichkeit der Weimarer Periode. „Die Zeit fährt Auto“, schrieb Kästner, und das zeigte sich vor allem auch in den Filmen der Zeit,
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Siehe: Weimar Intellectuals and the Threat of Modernity, S. 167–68 und: Marginale Intellektuelle, S. 2–23. Bloch an Kracauer. Briefe, Bd. 1. S. 355–56; Dazu: Marginale Intellektuelle, S. 23–26. Bloch an Adorno. Dezember 1934. Briefe, Bd. 2. S. 423–34, hier S. 423 und 429–31.
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deren kulturelle Bedeutung Kracauer in seiner Rolle als Filmkritiker früher und in vielem klarer sah als andere. Blochs emphatisch deklarierte „dämonische“ Spontaneität und Erdverbundenheit waren nicht, wie er behauptete, ein potentes Mittel gegen moderne Abstraktion und Reifizierung, die Tyrannei des „Systems“. Das wurde bedeutend wirkungsvoller von der Blut-und-Boden-Mythologie der Nazis geliefert, einschließlich Goebbels Verdammungen der vom Dritten Reich überwundenen „Systemzeit“ der Weimarer Republik. Es war auch Goebbels, der früh das enorme kulturelle und politische Propagandapotenzial des Films erkannte. Blochs Texte waren vielmehr ein Ausdruck derselben nostalgischen „Ungleichzeitigkeit“, auf die er kollektiv alle deutschen „Kleinbürger“ verklagte. Kracauer dagegen hatte auf die wirklichen Ängste und Hoffnungen einer, wie er richtig sah, höchst zeitgenössischen, neuen Gruppe (Klasse) von Arbeitnehmern gehört, den Angestellten. Sie wollten sich aus den ökonomischen und politischen Wirren von Weimar in einen nun utopischen Vorkriegsmittelstand zurückretten und waren deshalb besonders anfällig für die utopistischen Verheißungen des Nationalsozialismus. Im Gegensatz zu Bloch verstand Kracauer, dass es nicht um den Rückzug auf die Wurzeln, die vertraute Wärme von Blut und Boden ging, sondern um die Weiterentwicklung der Moderne auf eine Weise, die den unvermeidlichen, aber trotzdem für große Bevölkerungsschichten traumatischen Verlust der Wurzeln in gewisser Hinsicht mildern könnte.19 Das Kernproblem des intellektuellen Messianismus der Nachkriegszeit war eine mangelnde Bereitschaft, sich mit der Historizität aller Aspekte der Moderne auseinanderzusetzen, vor allem die Erfahrungen ständig zunehmender Komplexität, Mobilität und Unsicherheit für immer größere Bevölkerungsgruppen. Für Kracauer – und das würde eines seiner Hauptthemen im Exil sein – lag die kulturelle Wichtigkeit nicht nur der Zeitgeschichte (Dokumentarismus) sondern der Geschichte überhaupt in ihrer säkularen Offenheit, ihrer Nicht-Vollendung. Diese schließt auch die zeitlichen Veränderungen – die verschiedenen Lebensstadien – des Historikers (und Dokumentaristen) ein, der sich idealerweise seiner fluiden, offenen Identität bewusst ist und damit auch seiner veränderlichen Beobachtungsposition. Daraus folgt die Einsicht in den vielschichtigen, labilen, ungewissen Modus und Diskurs der Geschichtsschreibung: Unvermeidlich positional, perspektivisch interpretierend untergräbt dieser Diskurs das historiografische Ideal einer strikten Objektivität ebenso gut wie das Bedürfnis nach religiös oder ideologisch (marxistisch) heilsgeschichtlicher Gewissheit. Diese Fragen, mit denen er sich im Exil eingehend beschäftigen sollte,20 interessierten schon den Kracauer der Weimarer Periode. Als Kritiker und Kommentator der modernen, komplexen, zeitlichen 19 20
Siehe hier: Critical Realism. S. 89–91. Siehe hier besonders History – Last Things before the Last und die in diesen Umkreis gehörigen Entwürfe und Briefe.
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Aktualität von Weimar sah er die Bedeutung der Fotografie vor allem in der Rolle, die sie für die moderne Erfahrung der sozialen und politischen Wirklichkeit spielte. In seinen Filmbesprechungen für die Frankfurter Zeitung in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren betonte er die filmischen Möglichkeiten, dem Zuschauer eine sich rapide verändernde, immer größer werdende Welt immer näher zu bringen. Der mediumsspezifische kulturelle Wert von Fotografie und Film war für ihn die besonders dichte und präzise Artikulierung einer mit anderen geteilten Lebenswelt. Es war der dokumentarische Kern, den Kracauer in allen Filmen suchte und nach dessen Wirkungskraft er sie beurteilte – nicht immer gerecht, wo es sich um ästhetische Entscheidungen des Regisseurs oder auch des Kameramanns handelte. Die Einsichten des Filmkritikers in die kulturellen Bedeutungen und Verantwortlichkeiten des fotografischen Mediums in den 20er und 30er Jahren sollten die Grundlage bilden für die in Theory of Film (1960) vorgetragenen Argumente über den mediumsspezifischen Status dieser neuen Informationsund Erinnerungstechnologie. Auf den von ihr ermöglichten Aufzeichnungen und Speicherungen beruht die moderne kulturelle Funktion der Fotografie, die Aufmerksamkeit auf neue Phänomene zu richten. Es ging darum, zu zeigen, was jetzt, in diesem Moment, sichtbar ist und diese Sichtbarkeit – bei zeitweiliger Rücknahme der konventionellen Vertrautheit mit der Welt – so weit wie möglich auszudehnen und zu erhalten. Für Kracauer sind dem Medium getreue Fotobilder der Intention nach dokumentarisch und das heißt so weit wie möglich unverändert. Sie zeigen das Abgebildete, aber nicht „wie es ist/war“, sondern in jeweiligen Metamorphosen des visuellen „Rohmaterials“. Fotografie unterscheidet sich grundlegend von Malerei, weil ihre Metamorphosen das Abgebildete nicht vollständig subsumieren. Kracauer war schon in der Weimarer Zeit von diesen Fragen fasziniert, auch wenn er sie nicht klar artikulierte.21 Im Unterschied zu Gemälden sind fotografische Bilder nicht selbst-autorisiert, denn sie enthalten Spuren einer mit anderen geteilten Lebenswelt, die der Fotograf im Moment der Aufnahme nicht gesehen hat, aber mediumsspezifisch nicht unterdrücken konnte: Beim fotografischen Abbilden (eines Teils) der Wirklichkeit sieht der Abbildende mehr oder weniger, oder etwas anderes als die Abbildung zeigen wird. Diese sowohl zähe wie auch prekäre Selbstbehauptung des im Moment des Aufnehmens Noch-nicht-Gesehenen unterstützt die Offenheit von Fotobildern für mehrfache und unterschiedliche Akte des Sehens, und zwar simultan und auch sequenziell. Die Komplexität dieser dokumentierten visuellen Offenheit und Interpretierbarkeit erhöht sich noch mit der Frage der Historizität des fotografischen Dokumentarismus: Im Moment des Abgebildet-Werdens ist das Abgebildete 21
Siehe hier Kracauers Aufsatz Die Photographie (1927), dessen fragmentarische und widersprüchliche Argumentation Benjamin so stark beeinflussen wird.
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bereits vergangen, es erscheint in seiner Vergangenheit. Das trifft auch auf den verbalen Dokumentarismus zu, allerdings mit dem Unterschied, dass dieser die mediumspezifische Offenheit des fotografischen Diskurses nicht teilt: Die unvermeidliche Selektivität der Beobachtungsperspektive kann nur im fotografischen Diskurs durch das Medium selbst unterwandert werden. Dagegen teilen beide Diskurse eine weitere, vielleicht noch wichtigere Dimension ihrer Historizität. Es handelt sich um die Tatsache, dass im Moment des Aufzeichnens das Geschriebene wie auch das Abgebildete, also verbale wie auch fotografische Repräsentation, selbst ein historisches Dokument wird, das zur Dokumentation anderer historischer Akte, Akteure, Ereignisse, Dokumente herangezogen werden kann. Fotografische und verbale dokumentarische Repräsentationen haben zu jedem Zeitpunkt unmittelbar nach den vollendeten Akten des Abbildens oder der verbalen Komposition eine auf jeweils unterschiedliche Weise vergangene Gegenwart festgehalten und sind in diesem Moment auch bereits selbst Dokumente ihrer eigenen vergangenen Gegenwart. In seiner komplexen Zeitlichkeit ist fotografischer wie auch verbaler Dokumentarismus in der Tat Zeitgeschichte – eine Dokumentation des Zeitgenössischen, die gerade in ihrer Gleichzeitigkeit, wie das Dokumentierte auch, den Veränderungen in der Zeit unterworfen ist. Kracauer sah diese Abhängigkeiten in Umrissen schon in der Weimarer Zeit, und sie stärkten sein wachsendes Interesse an den kulturellen Bedeutungen der Geschichtsschreibung. Gerade seine Empfindlichkeit für den in der Moderne immer schnelleren Fluss der Zeit hatte seine Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit fotografischer Bilder gelenkt, die oft unscheinbaren, vergänglichen aber wichtigen Phänomene der zeitgenössischen Lebenswelt zu verzeichnen und im Zeigen dem Betrachter zeitweilig zurückzugeben. Solche Reklamierung leugnet nicht die Spannung zwischen dem Abbild und dem Abgebildeten, die jedem künstlichen Bild innewohnt. Wie die zeitlich vielschichtige Perspektive des Historikers ist auch die visuell vielschichtige Perspektive des Fotografen interpretativ und damit verantwortlich für die vielen unterschiedlichen Formen der Objektivität. Aber in beiden Fällen handelt es sich um eine besondere Art von Künstlichkeit, denn wir erwarten sowohl von der Fotografie wie auch der Geschichtsschreibung die zumindest vorläufige Authentifizierung einer mit Anderen geteilten Lebenswelt und damit auch geteilte und mitteilbare Akte des Sehens und Lesens. Das war das Anliegen des Dokumentaristen Kracauer in der Weimarer Zeit und es macht ihn, im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Intellektuellen dieser Periode, auf eigentümlich unmittelbare Weise zu unserem Zeitgenossen im frühen 21. Jahrhundert. Benjamins geschichtsphilosophische Reflexionen in den dunklen Zeiten der Verfolgung und Verlassenheit von aller menschlichen Anstrengung der Geschichte kreisten dagegen um Erlösung als Vollendung der Geschichte: Erst wenn die Erlösung der Menschheit vollendet sein wird, wird die Geschichte sich erfüllt haben. Aber der Moment der Bedeutungsfülle der Vergangenheit
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ist der Moment der Transzendenz menschlicher Zeit und so hat alle Historiografie eine wesentlich poetisch-theologische Dimension. Vom Temperament her angezogen von Gedankenbildern der Transzendenz und Übergeschichtlichkeit, hatte Benjamin schon immer epistemologische Fragen als ästhetische oder religiöse gestellt, außerhalb der mit Anderen geteilten Bedingungen der Lebenswelt. Seine verzweifelt schwierige Situation 1940 verstärkte diese Tendenz, vor allem wo es um das Verständnis der Geschichte ging. Jetzt war „Erlösung“ im wörtlichen Sinne „Vollendung“ in der Auflösung: das alchemistische Loslassen potenter Substanzen; das Überschreiten existenzieller Grenzen, die Magie der Freisetzung. Wo Kracauer seine Aufmerksamkeit auf deutliche Markierungen in der menschlichen Zeit richtete, das Dort und Dann anderer Leben, ging es Benjamin darum, die Vergangenheit nachzuzeichnen als ein verführerisch suggestives, geheimnisvolles Gewebe persönlicher Korrespondenzen und Signifikanzen. Michael Löwy findet in diesem Nachzeichnen einen „neuen“ Geschichtsbegriff, der, obwohl mit anderen „messianischen“ deutsch-jüdischen Schriftstellern geteilt, hier in seiner vollendetsten und fortgeschrittensten philosophischen Form erscheine.22 Das scheint mir eine fragwürdige Interpretation, denn Benjamins Reflexionen haben wenig mit Geschichte und ebenso wenig mit Philosophie zu tun. Es geht ihm vielmehr um poetische Akte des Benennens der persönlichen Tiefe seiner Verzweiflung, jenseits von, bzw. über die mit anderen geteilten kulturellen Bemühungen der Geschichte und Philosophie hinaus. In seinen verschiedenartig modifizierten Formen ist der für die Periode nach dem ersten Weltkrieg charakteristische intellektuelle Messianismus zentral wichtig für die jeweiligen Erinnerungsdiskurse und die Gedenkpolitik der nachfolgenden Postkulturen. Das Verführungspotenzial dieser Position ist leicht zu verstehen, aber nicht ohne Gefahren – darunter die Neigung, Abwesenheiten zu behaupten, wo es sich um (meist noch nicht genügend verstandene) Anwesenheiten handelt. Es geht um die Anerkennung der widersprüchlichen, die Interpretationsfreiheit beschränkenden Wirklichkeit anderer Leben und anderer Erinnerungen, die, wenn überhaupt, dann nach einer anderen, jeweils unterschiedlichen und zeitweiligen, überraschenden Art der „Erlösung“ verlangen. Und dieses Verlangen führt zu sowohl inklusiveren, als auch unentschiedeneren Geschichten, die versuchen, die Vergangenheit soweit wie möglich unter dem Gesichtspunkt sozialer und politischer Abhängigkeitsverhältnisse und Kontingenzen zu verstehen. Nach dem zweiten Weltkrieg – in sehr anderen Zeiten, in einer sehr anderen Situation – begann Kracauer die Bedeutungen des historischen Universums explizit als die kulturelle Aufgabe der Verantwortlichkeit des Historikers für die Vergangenheit zu sehen. Seine klugen, für sein Konzept der Historiografie 22
Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Berlin 1997. S. 132.
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wichtigen Selbstbeschränkungen kamen aus seiner Einsicht, dass die Vergangenheit als plurale vergangene Lebenszeit offen gehalten werden muss, die in ihre Zukunft – also die (jeweilige) Gegenwart des (jeweiligen) Historikers – noch nicht gelöste Probleme, ungelöste Rätsel, unbeantwortete Fragen einbringt. Für Kracauer ist gerade diese „ist gewesen“-Dimension vergangener Ereignisse, Handlungen und Akteure wesentlich für die moderne Geschichtsschreibung, denn ihr kultureller Beitrag ist die Erkenntnis der historischen Zeit – Zeit, die nicht leerer Zeitfluss und nicht der poetischen Erlösung bedürftig ist. Historische Zeit ist bestimmt von den Gestalten vergangenen Lebens, wie sie der Historiker als Dokumentarist in Akten einer soweit wie möglich „richtigen“, d.h. jeweils angemessenen Re-Konstruktion nachvollzieht. Historische Zeit ist verantwortlich für die moderne Vielfältigkeit der Oberflächen, von deren Substanz Kracauer gelebt hat und wir noch immer leben.
DIRK OSCHMANN
Kracauers Ideal der Konkretion
1. Konkretion in der Sache Im Jahr 1931 nimmt Siegfried Kracauer mit zwei Aufsätzen zur öffentlichen Diskussion zwischen Gustav René Hocke und Alfred Döblin Stellung. Der erste Text hat die Lage der deutschen Intelligenz zum Gegenstand, der zweite formuliert die daraus resultierenden Aufgaben für die Intellektuellen. Während der erste Text mehr ein Referat der Thesen Döblins1 bietet, unterbreitet der zweite direkte Vorschläge, die sich aus der diagnostizierten „Zwischenstellung“2 der Intellektuellen ableiten lassen. Diesen Vorschlägen stellt Kracauer einen – zunächst etwas kurios anmutenden – „Rat“ voran: „Intellektuelle, wendet eure Intelligenz an!“3 In einer für ihn typischen, nämlich das vermeintlich „Natürliche“ verfremdenden Wendung klagt der Autor hier etwas ein, das sich zunächst von selbst zu verstehen scheint. Doch wie der weitere Argumentationsgang bezeugt, sollen sich die Intellektuellen nicht einfach ihrer Intelligenz bedienen, vielmehr will Kracauer mit Blick auf die Adressaten den Satz regelrecht als Handlungsanweisung verstanden wissen. Deshalb konzediert er anfangs die scheinbare Unverbindlichkeit seines Rates, gibt aber dann sogleich Hinweise darauf, welche unmittelbaren Schlussfolgerungen aus ihm zu ziehen sind. Zentrale Aufgabe des Intellektes sei es, „die Natur zum mindesten versuchsweise außer Kraft zu setzen, soweit es nur irgend geht. Nichts anderes ist der Intellekt als das Instrument der Zerstörung aller mythischen Bestände um und in uns. […] Abbau der naturalen Mächte ist seine Mission.“4 Diese 1
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Vgl. Alfred Döblin: Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen. Berlin 1931. Siegfried Kracauer: Was soll Herr Hocke tun? In: Ders.: Schriften. Hg. v. Karsten Witte und Inka Mülder-Bach. Bd. 5.2: Aufsätze 1927–1931. Frankfurt a. M. 1990. S. 301–308, hier S. 307. Siegfried Kracauer: Minimalforderung an die Intellektuellen. In: Schriften 5.2, S. 352–356, hier S. 352. Nicht zufällig spricht auch Benjamin von der „Krisis der Intelligenz“. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.1: Aufsätze. Essays. Vorträge. Frankfurt a. M. 1991. S. 295–310, hier S. 295. Siegfried Kracauer: Minimalforderung. S. 353f.
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naturalen Mächte können freilich in unterschiedlichen Formen auftreten, beispielsweise als Mythen, als Ideologien oder als Ideale. Nur indem die Intellektuellen diese Erscheinungsweisen der „Naturbefangenheit“ einer permanenten Kritik aussetzen, indem sie folglich ein gezielt „destruktives Verhalten“ pflegen,5 werden sie sich selber als Intellektuelle gerecht. Wie solches Verhalten im Einzelnen aussehen kann, spezifiziert Kracauer in einer Reihe von Projektvorschlägen, mit denen er sich an die Generation Hockes wendet: „Ich könnte mir etwa vorstellen, daß manche Hockes sich Klarheit über den materiellen Unterbau und das soziale Milieu verschafften, dem zweifellos die nationalsozialistische Gesinnung zahlreicher Kommilitonen entwächst, statt immer nur Menschlichkeit, friedliche Gesinnung, Toleranz usw. im Busen zu hegen; daß andere Hockes der Beziehung zwischen Wissenschaftsbetrieb und reaktionärer Gesinnung nachspürten und daraus ihre Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Wissenschaftsbetriebs zögen; daß einige besonders talentierte Hockes die ideologische Komponente der in ihrer Disziplin verbreiteten Lehrmeinungen herausschälten – eine hochnotpeinliche Prüfung, die zum Beispiel in der Universitätsphilosophie dicken Staub aufwirbeln würde. Der Intellekt als Vakuumreiniger – das Haus, das die Hockes bewohnen, enthält eine Unmenge verwahrloster Räume.“6
In Studien dieser Art, so Kracauer am Ende seiner Ausführungen, wären jene „Konkretionen des Intellekts“ zu erblicken,7 die der Autor aus strategischen ebenso wie geschichtsphilosophischen Überlegungen für angezeigt hält. Bevor aber diese Idee der Konkretion näher in Augenschein genommen wird, soll die Aufmerksamkeit vorerst Kracauers eigener Position als Intellektuellem gelten, weil das „destruktive Verhalten der Intellektuellen […] wie jedes Verhalten die Situation seiner Träger zum Ausgangspunkt“ hat.8 Denn der dezisionistische Grundzug, den sein Plädoyer erkennen lässt, versteht sich keineswegs von selbst bei einem Autor, der sich einst als „Wartenden“ charakterisierte. In dem einschlägigen Aufsatz Die Wartenden aus dem Jahr 1922 begreift Kracauer die eigene Gegenwart, ja die Moderne schlechthin als „Chaos“, das von Einsamkeit, Relativismus, Atomisierung, horror vacui und Kontingenz geprägt sei.9 Dieser im Wesentlichen durch die Aufklärung erzeugte Prozess der Säkularisierung erscheint ihm als dramatische, die Fundamente einer subjektiv sinnvollen Lebensführung untergrabende Verfallsgeschichte. Die daraus resultierende Frage, wie man unter den Bedingungen der Moderne dem Leben wieder eine Form geben könne, dient Kracauer als Leitfaden, um die Angebo-
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Ebd., S. 354. Ebd., S. 355f. Ebd., S. 356. Ebd., S. 355. Siegfried Kracauer: Die Wartenden. In: Schriften 5.1, S. 160–170, hier S. 160f. Vgl. hierzu auch Inka Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933. Stuttgart 1985. S. 19ff.
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te zur „Erlösung“10 aus diesem Zustand näher zu untersuchen. Die von diversen Gemeinschaften inszenierten Rettungsversuche verwirft er allesamt. Weder die Anthroposophen um Rudolf Steiner noch der Messianismus kommunistischer Couleur halten Alternativen parat, aber auch die „Formgläubigen“ des George-Kreises sowie die katholischen und protestantischen Heilslehren wissen keine adäquaten Antworten zu geben,11 da sie letztlich als Gemeinschaften durchgängig daran kranken, am Ende das „sacrificium intellectus“ einzufordern.12 Unter dieser Voraussetzung kann nur der exemplarisch Einzelne eine Haltung vorgeben, die zur Orientierung dient. Kracauer entwirft deshalb gleichsam eine Typologie der Lebensführung, die sich in drei „Vertreter“ unterteilt. Als ersten Typus präsentiert er jenen des „prinzipiellen Skeptikers“, für den Max Weber das Modell darstellt. Diese Position ist durch „Heroismus“, „Verzicht“ und „Entsagung“ gekennzeichnet.13 Den zweiten Typus erblickt Kracauer im „Kurzschluß-Menschen“, der sich, weil er die „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Lukács) nicht aushält, entscheidet, „in ein bergendes Gehäuse hineinzuschlüpfen“; dies aber sei nichts als eine Form „metaphysischer Feigheit“.14 Der dritte, von Kracauer favorisierte Typus schließlich ist der „Wartende“: „Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne.“15 Der Wartende entscheidet sich, sich vorerst nicht zu entscheiden. Doch bereits die esoterische Diktion der auf das Zitat folgenden Erläuterungen deutet darauf hin, dass hier ein Wille zum Glauben am Werk ist, der das Warten im Wesentlichen als Vorbereitung auf den Glaubenssprung begreift. Denn zwar teilt der Wartende mit dem „intellektuellen Desperado“, also Max Weber, die „Tapferkeit“, nicht aber die „prinzipielle Skepsis“.16 Sollte sich folglich das Absolute einmal in angemessener Weise zeigen, darf der Sprung gewagt, darf das Warten beendet werden. Da jedoch dieser Zeitpunkt Kracauer zufolge noch nicht gekommen zu sein scheint, bleibe nur ein „tätiges Sichbereiten“.17 Die von Kracauer zur Konturierung dieser dritten Position herangezogenen Leitbegriffe wie Glaube, Sprung oder Sphäre entstammen unverkennbar Kier10 11 12
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Siegfried Kracauer: Die Wartenden. S. 162. Ebd., S. 163ff. In seinem zweiten Roman, Georg, rückt Kracauer mit dem gleichnamigen Protagonisten eine Figur in den Mittelpunkt, die sich zunächst auf die Sinnstiftungsangebote von Gemeinschaften – linksbürgerlichen Radikalisten, Katholiken und Kommunisten – einlässt, um ihnen jedoch am Schluss desillusioniert zu entsagen, weil er nicht bereit ist, jenes „sacrificium intellectus“ zu erbringen. Vgl. Siegfried Kracauer: Georg (1934). In: Ders.: Werke: Hg. v. Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Bd. 7: Romane und Erzählungen. Frankfurt a. M. 2004. S. 257–516. Vgl. dazu Dirk Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers. Heidelberg 1999. S. 239ff. Siegfried Kracauer: Die Wartenden. S. 165f. Ebd., S. 166f. Ebd., S. 168. Ebd. Ebd., S. 169.
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kegaards Sphärentheorie, wie er sie in den Stadien auf dem Lebensweg entwickelt hat. Dazu gehören aber ebenso die Begriffe des Einzelnen, des Konkreten und der Wirklichkeit: „Infolge der Überspannung des theoretischen Denkens sind wir dieser Wirklichkeit, die von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt, in einem entsetzenerregenden Maße ferngerückt.“18 Auf dieses Problem der Wirklichkeit kommt Kracauer im Laufe der Jahre immer wieder zurück. Die verschiedenen Perspektiven, die er dabei erprobt, seien sie nun von Kant, Kierkegaard, Marx oder Max Weber bestimmt, lassen bei aller Differenz in Einzelfragen doch zwei zentrale Konstanten erkennen, nämlich einerseits die an Kant geschulte Einsicht, dass die „Wirklichkeit“ als unhintergehbare Bewusstseinskonstruktion aufzufassen ist,19 aber andererseits trotz dieses Konstruktionscharakters die von Kierkegaard inspirierte Überzeugung, dass sich diese Wirklichkeit zugleich nur am Einzelnen und nur konkret vollzieht. Anders gesagt: Selbst als Konstruktion ist die Wirklichkeit allein in der Konkretion gegeben. Der systematische Gegenbegriff zur Konkretion ist bei Kracauer ganz schulmäßig derjenige der Abstraktion. Doch so wie es einen positiv und einen negativ besetzten Begriff der Konkretion gibt, so ist auch die Abstraktion in sich begrifflich dissoziiert. Denn Kracauer möchte in seinem wiederholten Plädoyer fürs Konkrete keineswegs die Leistungen des neuzeitlichen Rationalismus in Abrede stellen und die mühsam erworbene „Fähigkeit zur Abstraktion“20 wieder preisgeben. Im Sinne einer Dialektik der Aufklärung avant la lettre21 sieht er allerdings die Gefahr eines Rückfalls der Abstraktion in Mythologie dort, wo sie als leerer Formalismus sich verselbstständigt, wo sie unversehens zur Erscheinungsform jener Naturbefangenheit verkommt, die sie zu destruieren hätte. An diesem Punkt spielt er nicht die Konkretion gegen die Abstraktion aus, sondern – gut aufklärerisch – gegen die Vernunft als übergeordnete Instanz, und aus deren Perspektive „erscheint das gleiche Abstraktionsverfahren als naturbedingt“.22 Allein von der Ausrichtung der Abstraktion 18 19
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Ebd. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“ – dieser vielzitierte Satz aus den Angestellten bildet nur die kürzeste Version einer kontinuierlichen Wiederholung und Variation derselben erkenntnistheoretischen Idee. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. In: Schriften 1, S. 205–304, hier S. 216. Denn bereits in der aus dem Jahre 1918 stammenden Schrift Über den Expressionismus setzt sich Kracauer in dem Kapitel „Verhältnis zur Wirklichkeit“ ausführlich mit den unterschiedlichen Wirklichkeitsbegriffen von Kunst und Philosophie auseinander. Dort heißt es: „Die objektive, dauernde Durchschnittswirklichkeit ist eine Konstruktion unseres Verstandes und eine Folge unserer physiologischen Beschaffenheit.“ Siegfried Kracauer: Über den Expressionismus. Wesen und Sinn einer Zeitbewegung. Abhandlung. In: Werke 9.2: Frühe Schriften aus dem Nachlaß. S. 7–78, hier S. 25. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. In: Schriften 5.2, S. 57–67, hier S. 63. Vgl. Mülder: Grenzgänger. S. 60ff. sowie Gertrud Koch: Die monströse Figur – Das Ornament der Masse. Zu Kracauers Konzeption der Selbstrepräsentanz. In: Stimme, Figur. Kritik und Restitution in der Literaturwissenschaft. Hg. v. Aleida Assmann und Anselm Haverkamp. Stuttgart und Weimar 1994. S. 61–70, hier S. 68. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 63.
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auf die Empirie und den konkret Einzelnen in seiner geschichtlichen Situation könne die „Vollendung der Vernunft“ erreicht werden, „die aus dem Grunde des Menschen redet“.23 Freilich erscheint die Idee der Konkretion zu Beginn der zwanziger Jahre noch als bloßes Postulat, mit dem sich ein grundsätzliches, wiewohl vorerst vages, Unbehagen an systemphilosophischen Entwürfen verbindet. Weder in der Sache noch in den Modi der Darstellung vermag Kracauer hier dem eigenen Anspruch bereits Rechnung zu tragen. Zwar klagt er in seinen Texten wiederholt die Intention aufs Konkrete ein, doch schon die Titel seiner Aufsätze und Rezensionen zeigen, dass Kracauer selbst noch im Banne der „großen Erzählungen“ schreibt. Seine Wende zur Dingwelt steht noch aus, eine Wende, die er in der Auseinandersetzung sowohl mit den lebensphilosophischen als auch mit den phänomenologischen Konzepten Simmels, Schelers und Husserls allmählich vollzieht, deren Bestrebungen selbst von einer Wende zum Objekt bzw. einer „Wende zur Lebenswelt“ gekennzeichnet sind;24 der phänomenologische Schlachtruf „Zu den Sachen!“ ist dafür deutlichstes Indiz.25 Die Überschriften von Kracauers Texten aus den Jahren 1920 bis 1924 lauten etwa Unechtes Pflichthandeln, Schicksalswende der Kunst, Autorität und Individualismus, Anthroposophie und Wissenschaft, Katholizismus und Relativismus oder Deutscher Geist und deutsche Wirklichkeit.26 Unverkennbar dienen die großen Begriffe nicht nur als Themenstellung, sondern auch als Beschreibungskategorien im Rahmen der einzelnen Analysen, in denen Kracauer zugleich stets deduktiv verfährt. Diesen großen Begriffen, mit denen ein Ausgreifen in die Totale einhergeht, steht Kracauer jedoch zunehmend skeptisch gegenüber, weil ihm ihr deskriptiver gleicherweise wie epistemologischer Wert fraglich wird, denn weder kommt man mit ihrer Hilfe beim Einzelnen noch bei der Wirklichkeit an. Kaum zehn Jahre später hat das Warten offenbar ein Ende – und die Konkretion ein Ziel. Aus dem „freischwebenden Subjekt“, dem „freischwebenden, sinnentbundenen Ich“27 ist in Kracauers nun wesentlich bestimmter formulierten Überlegungen entweder ein freier Intellektueller geworden oder aber ein Intellektueller als „Angestellter“. Denn der Autor handelt nicht länger nur allgemein vom metaphysischen Ort des Subjekts in der Moderne, sondern konzentriert sich auf die soziologische Ortsbestimmung des Intellektuellen als
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Ebd., S. 62. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 22002. S. 125. Vgl. dazu Michael Großheim: Zu den Sachen selbst! − Die neue Sachlichkeit der Phänomenologen. In: Die (k)alte Sachlichkeit – Herkunft und Wirkungen eines Konzepts. Hg. v. Moritz Baßler und Ewout van der Knaap. Würzburg 2004. S. 145–159. Vgl. Schriften 5.1: Aufsätze 1915–1926. Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. In: Schriften 1, S. 7–101, hier S. 14 und 30.
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repräsentativen Typus.28 Und dabei kritisiert er nicht mehr die Entzauberung der Welt als geschichtsphilosophischen Verfallsprozess, sondern entwickelt im Gegenteil konkrete, aus der Moderne-Diagnose erwachsende Aufgaben, von denen einige im Streit um Hocke explizit formuliert werden. Der zunehmend in den Vordergrund tretende Wille zur Konkretion und die parallele Ausrichtung auf die Partikularität sind als erkenntnistheoretische Voraussetzungen seiner weithin materialen Phänomenologie zu verstehen, die sich in einem Denken durch die Dinge realisiert; denn ohne den Willen zur Konkretion kein Denken durch die Dinge. Die Intention aufs Konkrete erscheint also vornehmlich als Moment einer bestimmten Haltung, die sich erst in zweiter Instanz in der Sache realisiert. So wie sich der Typus des Wartenden durch einen spezifisch zögerlichen Habitus auszeichnete, so teilt Kracauer am Ende der Weimarer Republik eher die Vorliebe für gleichermaßen dezisionistische wie politische Modelle.29 Das belegt vor allem sein mehrfacher Rekurs auf die Idee des „operativen Schriftstellers“, die durch Sergej Tretjakow in die deutsche Diskussion Anfang der dreißiger Jahre eingeführt worden ist.30 Der herkömmliche Schriftsteller „weicht ins Ästhetische aus“, während der operative Autor sein „Verhältnis zur Praxis“ ändert31 und stärker auf die Gesellschaft 28
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Dass sich hierbei Berührungspunkte mit den Erwägungen Karl Mannheims zum „freischwebenden Intellektuellen“ ergeben, lässt sich leicht sehen, nicht zuletzt in Kracauers Rezension von Mannheims 1929 veröffentlichtem Buch Ideologie und Utopie. Vgl. Siegfried Kracauer: Ideologie und Utopie. In: Schriften 5.2, S. 148–151, hier S. 150f. Bereits in einer 1926 publizierten Sammelrezension hebt Kracauer einen Text Mannheims hervor, weil er „[m]ehr an die Sachen führt“. Siegfried Kracauer: Soziologische Literatur. In: Schriften 5.1, S. 371–374, hier S. 373. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1991. Sowie Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994. Vgl. die entsprechenden Rezensionen Kracauers: Instruktionsstunde in Literatur (1931). In: Schriften 5.2, S. 308–311; Der ‚operierende’ Schriftsteller (1932). In: Schriften 5.3, S. 26–29; Ein Bio-Interview (1932). In: Schriften 5.3, S. 52–55. Siehe außerdem Benjamins Aufsatz Der Autor als Produzent. In: Gesammelte Schriften 2.2, S. 683–701, hier S. 686ff. Während Kracauer und Benjamin die neuen, durch Tretjakows Modell eröffneten Perspektiven würdigen, richtet Gottfried Benn sein Augenmerk eher auf die negative Kehrseite dieser „operativen“ Literatur: „Tretjakow, auch bei uns als Dramatiker bekannt, nach seinem Äußern und der Art seiner Schilderung ein literarischer Tschekatyp, der alle Andersgläubigen in Rußland verhört, vernimmt, verurteilt und bestraft. […] Das also ist die neue russische Literatur, die neue Kollektivliteratur, die Literatur des Fünfjahresplans. Die deutsche Literatur saß zu Tretjakows Füßen und klatschte begeistert und enthusiasmiert. Tretjakow wird sich über diesen Beifall sehr gefreut, wahrscheinlich aber auch amüsiert haben, dieser kluge Russe wußte natürlich ganz genau, daß er hier nur einen propagandistischen Abschnitt aus dem neuen russischen Imperialismus entwickelte, während die biedern deutschen Kollegen es als absolute Wahrheit nahmen.“ Gottfried Benn: Die neue literarische Saison. In: Ders.: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Bd. 3: Essays und Reden. Frankfurt a. M. 1997. S. 439–448, hier S. 442f. Eine mittlere Position nimmt in dieser Frage Lukács ein. Vgl. Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich eines Romans von Ottwalt. In: Ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hg. v. Peter Ludz. Neuwied und Berlin 41970. S. 122–142. Siegfried Kracauer: Der ‚operierende’ Schriftsteller. S. 28.
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einzuwirken versucht. Was Tretjakow für das Bild des Dichters formuliert, wird in Kracauers Sicht zur Forderung an sämtliche Intellektuelle schlechthin, nämlich über die konkret praktischen Folgen ihrer eigenen Arbeit nachzudenken und sich, ausgehend von ihrem gesellschaftlichen Ort, die Aufgaben gleichsam von dieser Praxis stellen zu lassen. Daher der Rat, die Intellektuellen sollten ihre Intelligenz anwenden, daher auch die an Hocke gerichteten Themenstellungen. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich die umfassende Politisierung von Kracauer, der sich zu Beginn seines Schaffens ganz auf metaphysische Belange konzentriert hatte. Ein wesentlicher Schritt auf dem Wege dieser Politisierung ist die Bekanntschaft mit den Frühschriften von Marx, die in die Mitte der zwanziger Jahre fällt32 und die in der Engführung mit Positionen Kierkegaards33 das Wirklichkeitsverständnis Kracauers nachhaltig verändert – etwas salopp formuliert, könnte man von einer „Erdung“ seiner Anschauungen sprechen. Denn der phänomenologischen Emphase einer Hinwendung zu den Sachen korreliert die materialistische Fokussierung auf den lebendigen Einzelnen in seiner konkreten Wirklichkeit. Marx hatte mit Nachdruck die „Wirklichkeit des individuellen, konkreten Menschen“34 in den Vordergrund gerückt und behauptet, dass „[a]lle Emanzipation […] Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst“35 sei. Außerdem aber, und dies ist für Kracauer besonders von Bedeutung, stellt er fest, dass der Mensch „in seiner nächsten Wirklichkeit […] ein profanes Wesen“ sei.36 Dieser Aspekt der Profanierung erweist sich für Kracauer als derart signifikant, dass er mit ihm auf beinah apodiktische Weise seine programmatische Rezension zur Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig beschließt: „Denn der Zugang zur Wahrheit ist jetzt im Profanen.“37 Wenn Mensch und Welt aber profan sind, dann stellt sich die Frage, was der Wille zur Konkretion zu leisten vermag. Denn der positiv bewertete Prozess der Aufklärung, den Kracauer als notwendigen „Auszug des Bewußtseins aus seiner Naturbefangenheit“ auffasst,38 führt in der Konsequenz zum „Aus32 33
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Siehe Mülder: Grenzgänger. S. 56–60. Die Konstellation von Kierkegaard und Marx war Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland keine Besonderheit. Georg Lukács spricht im Rückblick von einer verbreiteten „Kierkegaardisierung des jungen Marx“. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik. Frankfurt a. M. 121989. S. 13 (aus dem Vorwort von 1962). Vgl. dazu ausführlich Oschmann: Auszug. S. 273–287. Karl Marx und Friedrich Engels: Die heilige Familie. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 2. Berlin 1976. S. 204. Marx: Zur Judenfrage. In: Werke, Bd. 1. Berlin 1976. S. 347–377, hier S. 370 (Hervorhebungen von Marx). Marx: Zur Judenfrage. S. 355. Siegfried Kracauer: Die Bibel auf Deutsch. In: Schriften 5.1, S. 355–368, hier S. 365. Ders.: Die Photographie. In: Schriften 5.2, S. 83–98, hier S. 95. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Burkhardt Lindner: Augenblick des Profanen. Kracauer und die Photographie. In: Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein in der Moderne. Hg. von Annette Simonis und Linda Simonis. Bielefeld 2000. S. 287–307.
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zug der Bedeutung aus den Gegenständen“.39 Werden jedoch die Gegenstände „bedeutungslos“, muss ein an der Konkretion orientiertes Denken eine klare Vorstellung davon ausbilden, an welchem Ort die Bedeutungskonstitution wieder einsetzen und welche Form sie annehmen kann.
2. Konkretion in der Darstellung Kracauers 1931 als Buch veröffentlichte Studie Die Angestellten ist nicht nur selbst ein Zeugnis der postulierten Konkretionen des Intellekts, sondern exponiert auch gleichzeitig die dreifache Perspektive, die sich damit verbindet. Denn erstens steht der Intellektuelle in einer konkreten Situation; zweitens soll er seine Aufmerksamkeit auf die konkrete Lebenswirklichkeit richten, wiewohl Kracauer meint, „[h]inter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht“;40 drittens schließlich, und hier begegnet man dem eigentlichen Problem, muss er sich nicht nur mit der Frage befassen, was eigentlich in der Sache konkret sei, sondern auch mit der weiteren Frage, was diese Intention aufs Konkrete für die Darstellung bedeutet. Denn die Blickwendung vom Subjekt zum Objekt, vom Ich zum Ding, vom Allgemeinen zum Konkreten ist ohne eine Transformation der Darstellungsformen nicht zu erreichen, wobei noch die einzelnen sprachlichen Mittel selbst Ausweis jener Konkretion sein müssen. Folgerichtig treten an die Stelle der großen Abhandlungen und Traktate, die Kracauers frühe Schriften bestimmen, im Laufe der zwanziger Jahre, auch bedingt durch die Mitarbeit Kracauers bei der Frankfurter Zeitung, verstärkt kleine Formen, die einerseits zweifellos als Resultat eines medialen Zwangs erscheinen, andererseits aber auch neue Perspektiven und Fragestellungen freizusetzen vermögen. Kleine Formen und Konkretion der Sache stehen somit in einem produktiven Entsprechungsverhältnis, während umgekehrt die überlieferten ‚großen’ Darstellungsformen im Rahmen von Philosophie und Wissenschaft zu einem offenbar suspekten Abstraktionsideal geführt haben. So scheue zum Beispiel „die Mehrzahl der Wissenschaftler davor zurück, sich mit der Sache einzulassen, um die es zuletzt zu gehen hätte. Man bleibt vor ihr stehen, wie vor einer Wand; sei es nun, daß man um einer fragwürdigen Objektivität willen abgelösten erkenntnistheoretischen Interessen huldige, sei es, daß man irgendwelche allgemeinen Prinzipien entwickle […]“.41 Natürlich schreibt Kracauer nicht nur über solche konkreten Gegenstände, aber doch meist über etwas, das dem Subjekt entgegensteht. Neben Film- und Buchrezensionen und Berichten über Kongresse oder Ausstellungen machen diese philosophischen und literarischen Miniaturen fortan einen wesentlichen Be39 40 41
Siegfried Kracauer: Photographie. S. 88. Ders.: Die Angestellten. S. 212. Ders.: Soziologische Literatur. S. 372.
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standteil seine Œuvres aus. Denn es sind die vermeintlichen Nichtigkeiten, die den Einzelnen permanent umgeben, die seine Stimmungen prägen und die ihm, im Widerspiel von Subjekt- und Objektintentionen, seinen lebensweltlichen Ort anweisen und ihm letztlich die Wirklichkeit als Konkretion zu erkennen geben. Kracauers im Jahr 1928 anonym publizierter Roman, Ginster. Von ihm selbst geschrieben, repräsentiert jenseits der Kriegsthematik ein einziges Panoptikum solchen Verstricktseins in die Trivialitäten des Alltags und veranschaulicht damit die Überzeugung des Autors, „das der Romanform zugekehrte konkrete Dasein“42 sei ohnehin der eigentliche Gegenstand der Darstellung. Weil an diesen Dingen des täglichen Umgangs die Dialektik einer gleicherweise fraglosen Gegebenheit wie grundsätzlichen Undurchschaubarkeit der Lebenswelt erkennbar wird,43 rücken sie notwendig ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Statt sich also auf eine „Flucht in die Metaphysik“ zu begeben,44 bedarf es der „Hingabe an die Sachen“, und zwar so, dass man „in die Sachen hineinlausche“.45 Was aber ist das Konkrete in der Darstellung? Keineswegs das scheinbar unvermittelt gegebene, sondern das durch die Abstraktion hindurchgegangene, gezielt konstruierte Bild von den Dingen und Beständen. „Hinter diesen absperrenden Abstraktionen erst liegen die einzelnen Vernunfterkenntnisse, die der Besonderheit der jeweils gemeinten Situation entsprechen. Trotz der Inhaltlichkeit, die von ihnen zu fordern ist, sind sie nur in einer abgeleiteten Bedeutung konkret; nicht konkret jedenfalls im vulgären Sinne, der mit dem Ausdruck konkret die in dem natürlichen Leben befangenen Anschauungen belegt.“46
Konkretion heißt nicht, Mimesis an den Gegenstand zu betreiben, sondern ein Bild von ihm zu entwerfen, indem man die präsupponierte „Ähnlichkeit“ der Darstellung mit dem Dargestellten unterläuft und den „bloße[n] Oberflächenzusammenhang zerstört“.47 So wie die Wirklichkeit als Konstruktion nur in der Konkretion gegeben ist, so erweist sich umgekehrt, dass die Konkretion nur durch Konstruktion zu haben ist, andernfalls entsteht lediglich „Scheinkonkretheit“,48 wie sie den von vornherein bestimmten Darstellungsmodi inne42
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Ders.: Zu einem Roman aus der Konfektion. Nebst einem Exkurs über die soziale Romanreportage. In: Schriften 5.3, S. 75–79, hier S. 77. Vgl. dazu Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003. S. 201. Siegfried Kracauer: Philosophische Brocken. Vom internationalen Hegel-Kongreß. In: Ders.: Berliner Nebeneinander. Ausgewählte Feuilletons 1930–1933. Hg. v. Andreas Volk. Zürich 1996. S. 202–206, hier S. 204. Ebd., S. 205. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 63. Ders.: Photographie. S. 88. Vgl. hierzu auch Rudolf Helmstetter: Unanschaulichkeit mit Zuschauer. Kracauer und die Lesbarkeit der modernen Welt. In: Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. Hg. v. Almut Todorow u.a. Tübingen 2004. S. 125–144, hier S. 136f. Siegfried Kracauer: Zu einem Roman aus der Konfektion. In: Schriften 5.3, S. 75–79, hier S. 77.
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wohne. Kracauer kritisiert in diesem Zusammenhang insbesondere die Romanreportage, die sich als Mischform zwischen „Wissenschaft und gestalteter Epik, Erfindung und Dokument“49 bewege. Von dieser Scheinkonkretheit in der Darstellung, die auf einer „falschen, mythologischen Konkretheit“50 in der Konzeptualisierung gründe, müssen sich die „echten Konkretionen“51 als Konstruktionen abheben. Die Wirklichkeit ist selbst in ihrer Konkretion eine Konstruktion, aber deren Darstellung notwendigerweise auch, da es keine „Selbstanzeige konkreten Daseins“52 gibt. Die ursprüngliche Konkretheit der Anschauung muss selbst erst erzeugt werden. Daraus erwächst nicht nur Kracauers Entscheidung für die „profanen“ Sprachformen, sondern auch die gezielte Arbeit an der Formensprache. Bekanntlich widmet Kracauer den „unscheinbaren Oberflächenäußerungen“53 große Aufmerksamkeit, insofern haftet er förmlich an der Außenseite der Dinge. Gleichzeitig aber arbeitet er in der Darstellung stets darauf hin, die vermeintlich ursprüngliche Evidenz der Oberflächen zu zerschlagen, die entstehenden Fragmente neu zu ordnen und Tiefenstrukturen in die Gegenstände einzuziehen. Von besonderer Bedeutung ist hier wie im Falle Benjamins sein durchaus emphatisches Bild-Verständnis,54 weil es den Konstruktionscharakter der Darstellungen deutlicher thematisiert als die Überlegungen zu sprachlicher Konstruktion narrativer oder diskursiver Art. Gerade am Beispiel des Bildes wird auch die Angemessenheit einer bestimmten Formensprache erörtert. Während im Ornament der Masse lediglich noch unspezifisch von den „vergangenen Formen“55 gehandelt wird, die zur Repräsentation moderner Gegenwart nicht länger taugen, offeriert Kracauer mit dem Aufsatz über die Photografie eine grundsätzliche Stellungnahme zur Wandlung der Darstellungsmodi. So wie einst Lessing in Laokoon die Poesie von der Malerei aufgrund ihrer 49 50 51 52
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Ebd., S. 78. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 63. Ders.: Edmund Husserl. In: Schriften 5.2, S. 146–148, hier S. 147. Ders.: Die Angestellten. S. 216. Vgl. dazu auch Eckhardt Köhn: Konstruktion und Reportage. Anmerkungen zum literaturtheoretischen Hintergrund von Kracauers Untersuchung Die Angestellten. (1930). In: Text und Kontext 5/1977, Heft 2, S. 107–123, hier S. 111f. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 57. Vgl. dazu beispielsweise Koch: Die monströse Figur. S. 63 sowie Joachim Jacob: Ornament und Raum. Worringer, Jünger, Kracauer. In: Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Hg. v. Sigrid Lange. Bielefeld 2001. S. 135–158, hier S. 150f. Die Nähe des Bilddenkens von Benjamin, Kracauer und Bloch hat zuerst Heinz Schlaffer angedeutet. Vgl. Heinz Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. Hg. v. Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart u.a. 1973. S. 137–154. Vgl. außerdem Mülder: Grenzgänger. S. 103f. „Wie gering immer der Wert des Massenornaments angesetzt werde, es steht seinem Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen, die abgelegte höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten; mag es auch nichts weiter bedeuten.“ Siegfried Kracauer: Ornament. S. 60.
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medialen Spezifik unterschieden hat, so versucht Kracauer in diesem Aufsatz, die Fotografie in ihrer Eigenart gegenüber der Malerei und dem Film abzugrenzen und ihren systematischen Ort im Feld der Künste zu bestimmen. Drei Aspekte rückt Kracauer in dem von ihm beschriebenen „Wandel der Darstellungen“56 in den Vordergrund, die sich auf alle Künste beziehen lassen. Zum Ersten die Ablösung des Symbols durch die Allegorie, zum Zweiten die Ersetzung der Ähnlichkeit einer Sache durch ihre Geschichte und zum Dritten schließlich den Übergang von kontinuierlichen zu diskontinuierlichen Formen der Repräsentation. Diese Transformationen sind nach Kracauer aber nicht bereits historisch vollzogene Prozesse, sondern bezeichnen in normativer Ausrichtung die von den einzelnen Künsten zu leistende Arbeit. Wenn das Symbol Ausdruck der „naturwüchsigen Gemeinschaft“ ist, „in der das Bewußtsein des Menschen von der Natur noch ganz umgriffen wird“,57 dann muss im Horizont des angestrebten „Abbaus der naturalen Mächte“ das Symbol seinen repräsentationalen Wert einbüßen. An seine Stelle soll die Allegorie treten, wie sie Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels konzipiert hat, weil sie in der dialektischen Spannung von Form und Stofflichkeit einerseits den Dingen „die volle Konkretheit wahrt“,58 andererseits jedoch zugleich den Konstruktionscharakter als Form exponiert und damit jeglichen Anschein organischer Natürlichkeit von vornherein zersetzt. Erst diese Entsymbolisierung in der Darstellung lässt die Dinge in ihrem Dasein und Sosein zur Erscheinung kommen, indem sie sie aus ihrem gewohnten Zusammenhang reißt und in neue Konstellationen stellt.59 Einer analogen Denkfigur verdankt sich Kracauers Kritik der „Ähnlichkeit“. Die Porträtfotografie erscheint ihm als Beispiel, wie durch die Suggestion einer Ähnlichkeit von Darstellung und Dargestelltem eine Person oder ein Gegenstand unkenntlich wird. Im Unterschied zur Fotografie seien das Kunstwerk, ebenso jedoch das Gedächtnisbild als Konstruktionen aufzufassen, in denen die Geschichte einer Sache oder Person anwesend sind. Auch hier beharrt Kracauer auf der Zerstörung der Oberfläche, der er sich ursprünglich zugewandt hat, auch hier erweist sich die Vernunft als zugleich „gestaltsprengende“ und konstruierende Vernunft.60 Das Wesen einer Person oder Sache zeigt sich demnach nicht in der Imitation, sondern allein in der Konstruktion, die sich aus der „Erkenntnis im Material“61 ergibt.
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Ders.: Photographie. S. 95. Ebd., S. 94. Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins. In: Schriften 5.2, S. 119–124, hier S. 120. Mit Recht hat deshalb schon Gerwin Zohlen die Allegorie als „Organon von Kracauers Erkenntnis“ bezeichnet. Gerwin Zohlen: Text-Straßen. Zur Theorie der Stadtlektüre bei Siegfried Kracauer. In: Text + Kritik 68. München 1980. S. 62–72, hier S. 67. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 64. Ders.: Photographie. S. 87.
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„Damit die Geschichte sich darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Fotografie bietet. Denn in dem Kunstwerk wird die Bedeutung des Gegenstandes zur Raumerscheinung, während in der Fotografie die Raumerscheinung eines Gegenstandes seine Bedeutung ist. Beide Raumerscheinungen, die ‚natürliche‚ und die des erkannten Gegenstandes, decken sich nicht. Indem das Kunstwerk jene um dieser willen aufhebt, verneint es zugleich die von der Fotografie erzielte Ähnlichkeit. […] Auch das Kunstwerk zerfällt in der Zeit; doch aus seinen zerbröckelten Elementen steigt das mit ihm Gemeinte auf, während die Fotografie die Elemente verstaut.“62
Ab Mitte der zwanziger Jahre erweist sich das Plädoyer für diskontinuierliche Darstellungsformen, überhaupt für die „Aufhebung jeder gewohnten Beziehung“63, als Grundzug von Kracauers Reflexionen zur Ästhetik. Während er zunächst im Horizont eines geschichtsphilosophischen Verlustes von Totalität argumentiert, wird dieses Problem nun darstellungstechnisch gewendet, indem fortan jeder Anschein ästhetischer Totalität als obsolet kritisiert wird, als Teil einer der Natur verhafteten Organismusvorstellung, die den Zerfallsprozessen der Moderne nicht gerecht werden kann. Sofern z. B. Fotografie und Historismus die Illusion einer kontinuierlichen Darstellung pflegen, entweder im Raum oder in der Zeit,64 gelten sie Kracauer als anachronistisch. Statt schweigender Kontinuität fordert Kracauer eine beredte Diskontinuität, welche die Dinge zum Sprechen bringt, anstatt sie zu verdecken. Dieselbe Argumentationsfigur findet sich auch in Kracauers Überlegungen zur Reportage in den Angestellten. Die Reportage vermag zwar den „Hunger nach Unmittelbarkeit“65 zu stillen, nicht jedoch die Wirklichkeit aufzuzeigen, weil sie im Stand bloßer Imitation verharrt: „Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat.“66 Nicht Imitation der Sache, sondern Imitation der erkenntnistheoretischen Bedingung ist das Ziel: Ist die Wirklichkeit eine Bewusstseinskonstruktion, muss die Darstellung ebenfalls Konstruktion sein. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“67
Reportage und Fotografie reproduzieren den Inhalt als bloßen Stoffzusammenhang, während narratives Mosaik und emphatisch verstandenes Bild den Gehalt als Sinnzusammenhang zu konturieren vermögen. Wenn es die Aufga62 63 64 65 66 67
Ebd., S. 88. Ebd., S. 97. Ebd., S. 85. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. S. 216. Ebd. Ebd.
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be der Vernunft als übergeordneter Instanz ist, dass sie „den organischen Zusammenhang zerfällt und die wie immer kultivierte natürliche Oberfläche aufreißt“,68 dann muss sich dies unmittelbar in der Darstellung Geltung verschaffen, um die „Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen“69 zu erweisen. In dieser Hinsicht hält er Kafkas Werk für beispielhaft, denn bei Kafka „zerschlägt [das Bewusstsein, D.O.] die natürliche Realität und verstellt die Bruchstücke gegeneinander“70, so dass die Dinge „zu fremden Gebilden assoziiert“71 werden können. Natur, Organismus, Gestalt, Mimesis und Symbol sind nach Kracauer die ästhetischen Leitbegriffe und zugleich abstrakten Beschreibungskategorien einer undurchschauten Mythologie der Moderne. In Analogie zu Goethes Idee von den drei Naturformen der Dichtung unterstellt Kracauer gleichsam Naturformen der Darstellung überhaupt, nämlich immer dann, wenn die Darstellung eine vermeintlich unmittelbare Selbstgegebenheit des Gegenstandes suggeriert wie im Falle des Symbols, der Fotografie oder der einsinnigen Narration. Dagegen setzt er Geschichte, Konstruktion, Funktion, Faktizität und Allegorie als begriffliches und darstellungstechnisches Handwerkszeug, mit der die „gestaltsprengende Vernunft“72 der Natur zu Leibe rücken soll. Allein auf diese Weise soll sich „Erkenntnis im Material“ ergeben.73 Der gemeinsame Fluchtpunkt von Kracauers medialen Reflexionen besteht folglich nicht nur in dem Versuch, die gewandelte Systematik der Künste darzulegen, sondern auch die ästhetischen Eigenarten der neu entstandenen Kunstformen ins Bewusstsein zu heben und deren konstruktives Potenzial freizulegen. Zu Kracauers Ausführungen über die Formensprache gehören auch die Überlegungen zur Sprache selbst, die in seinem Falle allmählich profaner, konkreter, gegenständlicher wird. Ihre Spezifik ist bereits Ernst Bloch aufgefallen: „Sie sehen Worte wie Dinge, zum ersten Mal weder grammatisch noch gar ästhetisch.“74 Worte wie Dinge zu sehen, heißt nicht nur, die Worte den Dingen selbst zuzuordnen, sie zu vergegenständlichen und damit den traditionellen Hiatus zwischen res und verba aufzuheben, es heißt auch, die Worte in ihrer Vereinzelung in den Blick zu nehmen, sofern offenbar die Grammatik als Verknüpfungs- und Organisationsmodus der Sprache suspendiert wird. Hierbei zugleich die ästhetische Dimension außer Kraft zu setzen, heißt wiederum der Sprache ihren Verführungscharakter zu nehmen und damit der schon von Lichtenberg erwähnten Gefahr zu entrinnen, „zum Nachteil der Wahrheit eine
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Siegfried Kracauer: Ornament. S. 65. Ders.: Photographie. S. 97. Ebd. Ebd. Siegfried Kracauer: Ornament. S. 64. Ders.: Photographie. S. 87. Bloch an Kracauer, 09. Juli 1930. In: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Hg. v. Karola Bloch u.a. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1985. S. 340.
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runde Periode zu machen“.75 So wie die Dinge als Gegenstände dasjenige repräsentieren, was dem Subjekt entgegensteht, so ist Kracauer bestrebt, die Wörter selbst in ihrer ursprünglichen Widerständigkeit zu exponieren. Daher rührt die Eigentümlichkeit seiner sperrigen Diktion, die an keinem Punkt der Versuchung eines „flüssigen Stils“ zu erliegen droht. Erneut signalisieren bereits die Titel von Kracauers Texten aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre diese Umorientierung: Felsenwahn in Positano, Hamlet wird Detektiv, Falscher Untergang der Regenschirme, Das Monokel oder Analyse eines Stadtplans. Mit diesen Texten gibt Kracauer nicht nur anschauliche Beispiele für jene materiale Phänomenologie, die er im Unterschied zu Husserls reiner Phänomenologie für das relevantere Erkenntnismodell hält,76 sondern er liefert auch einen frühen Beleg dafür, dass die Phänomenologie, gleich welcher Spielart, als „Wissenschaft der Trivialitäten“77 aufgefasst werden kann. Als Pendant zur Verdinglichung der Wörter lässt sich Kracauers Versuch begreifen, die Dinge zum Sprechen zu bringen, indem sie gleichsam von innen heraus betrachtet werden. Im Kontrast zu Benjamin aber, der sich ebenfalls den Randerscheinungen und Epiphänomenen des technischen Zeitalters zuwendet, kann hier nicht von einer „Andacht zum Unbedeutenden“78 gesprochen werden. Zwar verdient das Kleine aus Kracauers Sicht eine große Aufmerksamkeit, allerdings entbehrt es bei ihm der theologischen, ja messianischen Aufladung, die Benjamin den Sachen zuweilen angedeihen lässt, etwa in der Einbahnstraße oder der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Der für Benjamins Arbeit charakteristischen Verschränkung von theologischen und materialistischen Motiven steht bei Kracauer eine gänzliche Profanierung der Sachen gegenüber, die er in einer Kombination von sachlicher und sprachlicher Rationalisierung und Reduktion zum Vorschein zu bringen versucht; die Profanierung der Sachen bedarf auch einer Profanierung des Redens darüber. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Sprache in performativer Wendung zum Ausweis der Konkretion in der Darstellung zu machen, teilt Kracauer mit Benjamin, aber auch mit Edmund Husserl, dessen reine Phänomenologie Kracauer über Jahre hinweg umfassend beschäftigt hat.79 Zwar ist der Sprachwan75
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Georg Christoph Lichtenberg: Von den Charakteren in der Geschichte. In: Schriften und Briefe. Hg. v. Franz H. Mautner. Bd. 2: Aufsätze. Satirische Schriften. Frankfurt a. M. und Leipzig 1992. S. 9–13, hier S. 13. Vgl. hierzu Dirk Oschmann: Kracauers Herausforderung der Phänomenologie. Vom Essay zur ‚Arbeit im Material’. In: Essayismus um 1900. Hg. v. Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg 2006. S.193–211. Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß hg. v. Manfred Sommer. Frankfurt a. M. 2002. S. 168. Vgl. Roland Kany: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen 1987. Vgl. Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. S. 39ff. Siehe weiterhin: In steter Freundschaft. Leo Löwenthal – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1921–1966. Hg. v. Peter Erwin Jansen und Christian Schmidt. Springe 2003. S. 21ff.
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del bei Benjamin, der im Gegensatz zu Kracauer sprachlich weniger durch Lebensphilosophie und Idealismus, als vielmehr durch Mystik und Romantik geprägt ist, anders fundiert, nicht zuletzt weil er bekanntlich stärker sprachphilosophisch gearbeitet hat. Doch hängt die auch bei ihm ab Mitte der zwanziger Jahre zu beobachtende Transformation im Duktus, gewissermaßen von der Esoterik zur Transparenz, ebenfalls mit einer Hinwendung zum Objekt zusammen. Wo Kracauer eine „enthaltsam[e] und negativ[e]“ Sprache für notwendig hält,80 da formuliert Benjamin fast analog das Postulat einer „prompte[n] Sprache“.81 Für Husserl wiederum stellt sich, wie Blumenberg gezeigt hat, ein verwandtes Problem ganz im Rahmen phänomenologischer Beschreibungen, sofern „die Mittel der Beschreibung ihre eigenen – wenn es erlaubt wäre das zu sagen – Intentionalitäten haben“.82 Denn diese Mittel laufen womöglich dem Bemühen zuwider, die in der Anschauung gegebene Evidenz der Phänomene in der Darstellung zu reproduzieren. In allen drei Fällen scheint trotz der Unterschiede in der Realisierung die Hinwendung zur gegenständlichen ebenso wie zur gegenwärtigen Welt eine Art Spracherziehung durch die Dinge zur Folge zu haben. Wie aber sieht nun die erkenntnistheoretisch und darstellungstechnisch postulierte Konkretion im Einzelnen aus? Zum einen können die Dinge, verstanden im weitesten Sinne, der Ort sein, von dem das Denken seinen Ausgang nimmt. Hier sind sie gleichsam nur Anlass, weiterreichende Fragestellungen zu erörtern. Zum anderen können sie aber auch als Medium des Denkens selbst aufgefasst werden, in dem sich das Denken realisiert. Drittens schließlich können sie zugleich eine Durchgangsstation bilden, durch die das Denken hindurch muss, sofern es den Anspruch auf Konkretion wahren möchte. All diese Möglichkeiten werden von Kracauer bewusst in Betracht gezogen. Mit Blick auf die redaktionelle Praxis der Frankfurter Zeitung schreibt Kracauer an Friedrich Theodor Gubler im Jahr 1931: 80 81
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Siegfried Kracauer: Die Bibel auf Deutsch. S. 359. Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften 1.1, S. 83–148, hier S. 85: „Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast nie noch und nirgend geworden sind. Unter diesen Umständen kann wahre literarische Aktivität nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich abzuspielen – vielmehr ist das der übliche Ausdruck ihrer Unfruchtbarkeit. Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die universale Geste des Buches in Flugblätter, Broschüren, Zeitschriftartikeln und Plakaten ausbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen.“ Für den größeren Zusammenhang bei Benjamin vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt a. M. 1997. Siehe außerdem Dorothee Kimmich: ‚Nur was uns anschaut sehen wir’. Benjamin und die Welt der Dinge. In: Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Hg. v. Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2004. S. 156–167; sowie Heike Gfrereis: Double bind. Anmerkungen zu Benjamins Schreibweise. Ebd., S. 186–193. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. S. 87.
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„Reifenberg und ich haben genau gewußt, warum wir gerade das Genre der generellen Aufsätze nicht nur nicht gepflegt, sondern sogar mit Absicht etwas ausgeschaltet haben. Aus dem einfachen Grunde, weil es uns zur Konkretisierung des verblasenen deutschen Denkens als unerläßlich erschien, die allgemeinen Dinge entweder innerhalb einer bestimmten Konkretion […] oder bei Gelegenheit eines aktuellen Falles zu sagen.“83
Ein ironisches Exempel für die induktiv ausgerichtete Methode, im Durchgang durch den konkreten, beinahe albernen Gegenstand zu allgemeinen Aussagen von zeitdiagnostischem Wert zu gelangen, stellt etwa der Text Die Hosenträger. Eine historische Studie aus dem Jahr 1926 dar, in dem das Verschwinden der Hosenträger durch das Aufkommen des „Sportgürtels“ näher untersucht wird. „Die Entwicklung der Persönlichkeit im Sinne unserer Klassiker war von jeher an das Dasein von Hosenträgern geknüpft. Sie allein erzeugten jene Harmonie von Geist und Körper, Ideal und Leben, die das Zeichen der höchsten Vollkommenheit ist. Waren sie angeknöpft, so erhielt das Natürliche sein Recht, ohne daß die Seele das ihre verlor. Die Hosen wurden nach oben getrieben, die Ideen wahrten den Zusammenhang mit dem Fußboden.“84
Das Missverhältnis zwischen banalem Gegenstand und elaborierter Begrifflichkeit produziert augenscheinlich einen witzigen und ironischen Effekt. Dabei lässt der Text mehrere Deutungsperspektiven zu. Einerseits scheint er ein typisches wissenschaftliches Vorgehen zu parodieren, bei dem etwas unmittelbar Evidentes in einen inadäquaten terminologischen Horizont eingeordnet und mit einer völlig überzogenen Interpretation aufgewertet wird. Andererseits zeichnet sich mit dem Verschwinden der Hosenträger offenbar ein durchaus ernstzunehmender Wandel der Lebenswelt ab. Insofern sind die Hosenträger legitimer Anlass, die Konturen dieses Wandels genauer zu untersuchen. Denn mit den Hosenträgern verschwindet offensichtlich auch eine Mentalität, ein spezifischer geistiger Raum, der hier mit dem Vokabular von Idealismus und Lebensphilosophie erfasst ist, ohne dass nun jenseits von Kracauers pointierter Zuspitzung tatsächlich ein kausaler Zusammenhang bestünde. Dennoch scheint es mehr als nur Zufall zu sein, dass beides einer dem Untergang geweihten Welt angehört: „Die große Vergangenheit ist längst dahin. An die Stelle der Hosenträger ist heute der Sportgürtel getreten – die Wortverbindung besagt schon genug. Wo immer man hinblickt, überall Gürtel. Sie haben eine blanke Schnalle vorne, die sie unbedenklich entblößen. Wenn die Gegenwart mit gutem Grund den Untergang der
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Siegfried Kracauer an F.T. Gubler, 28. Januar 1931. Zitiert nach Kracauer: Berliner Nebeneinander. S. 10 (Aus dem Vorwort des Herausgebers). Siegfried Kracauer: Die Hosenträger. Eine historische Studie. In: Schriften 5.1, S. 385–388, hier S. 385.
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Persönlichkeit beklagt: die waagrechte Lage der Gürtel hat ihn verschuldet, ihr ist der Zerfall zuzuschreiben, in dem die Welt sich befindet.“85
Was hier noch als witzig-ironisches Spiel für ein breites Publikum daherkommt, das neben dem Erkenntniswert auch einen Unterhaltungswert beansprucht, wird Kracauer unter Beibehaltung des induktiven Verfahrens in den folgenden Jahren radikalisieren, wobei er in den Texten einen immer schärferen Ton anschlägt. Das in der Lebenswelt scheinbar unmittelbar Evidente wird zunehmend nicht nur auf seine sozialen und mentalitätsgeschichtlichen, sondern auch politischen Implikationen hin befragt. Je konkreter Kracauer in seinen Fragen wird, umso politischer wird er zugleich. Umgekehrt wird durch die indirekte Darstellung am Beispiel der Hosenträger ex negativo deutlich, dass ein konkreter Gegenstand im Grunde eine konkrete, profane Sprache erfordert, wenn er angemessen zum Vorschein kommen soll; Konkretion und Profanierung sind folglich aufs Engste miteinander verknüpft.86 Dass Kracauers Verfahren, ausgehend von Nebensächlichkeiten und Oberflächenerscheinungen die Verfasstheit einer Epoche zu diagnostizieren, ein Vorbild in Simmels Philosophieren gefunden hat, bedarf abschließend nur eines knappen Hinweises.87 Bekanntlich vertrat Simmel die Position, „daß sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt, daß alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über Sinn und Stil des Lebens verbunden sind“.88 Kracauer aber wird dieses Verfahren nicht nur übernehmen, sondern auf allen Ebenen radikalisieren: mit Blick auf die Gegenstände, mit Blick auf die Darstellungsformen und schließlich mit Blick auf die Wertungen. Zwar rückt auch Simmel konkrete Gegenstände ins Zentrum der Aufmerksamkeit, beispielsweise die Tür, die Brücke, den Henkel oder den Bildrahmen,89 doch mit Recht weist Adorno darauf hin, dass es sich hierbei stets um „piekfeine Objekte“ gehandelt hat.90 Bei aller Eindringlichkeit der Darstellung sind es doch vielfach impressionistische Betrachtungen im Horizont des Ästhetizismus der Jahrhundertwende, da bei Simmel weder von einer Banalität der Sache, noch von einer Profanierung der Sprache gesprochen werden kann. Und sofern
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Ebd., S. 387. Siehe in diesem Zusammenhang Kracauers wichtige Rezension zu Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Bibel-Übersetzung. Siegfried Kracauer: Die Bibel auf Deutsch. In: Schriften 5.1, S. 355–368. Vgl. in anderer Konturierung ausführlich David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 7.1: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Hg. v. Rüdiger Kramme u.a. Frankfurt a. M. 1995. S. 116–131, hier S. 120. Vgl. die entsprechenden titelgebenden Aufsätze im Rahmen von Simmels Gesamtausgabe. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 4 1989. S. 556–566, hier S. 558.
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Simmel triviale Gegenstände einer Untersuchung würdigt, macht er sie letztlich zum Schauplatz gediegener metaphysischer Überlegungen. Kracauer hingegen widmet sich nicht nur tatsächlich gänzlich profanen Dingen, er sucht auch gleichsam die Dinglichkeit des Dings in den Vordergrund zu rücken und seinen soziologischen Ort zu eruieren. An die Stelle von Brücke, Tür oder Henkel treten Hosenträger, Monokel oder der Tanzanzug. Es sind vielfach Gegenstände, die in einem unmittelbar leiblichen Bezug zum Subjekt stehen, Dinge, zu denen es sich leiblich ins Verhältnis setzen muss. Was die Darstellung anbetrifft, treten an die Stelle von Studien, Aufsätzen und Abhandlungen, auch durch den medialen Ort der Zeitung als Publikationsort bedingt, jene kurzen Texte, die weitgehend als Formexperimente zu begreifen sind.91 Schließlich unterscheidet sich Kracauer auch in den Wertungsperspektiven. In schematischer Zuspitzung könnte man sagen: statt Metaphysik und Ästhetik bevorzugt er materiale Soziologie und Politik, insbesondere ab Ende der zwanziger Jahre, da er gewissermaßen Entmystifikation auf ganzer Linie betreibt. Die Dinge erscheinen hier nicht länger in ihrem Symbolcharakter relevant, sondern in ihrem existenziellen Wert. Die Gegenstände, die bei Simmel noch in distanzierender Ästhetisierung vors Auge treten, sollen bei Kracauer auch in der Darstellung ihren konkreten Wirklichkeitscharakter behalten. Dass diese Gegenstände dem Individuum in der Wirklichkeit zu Leibe rücken, muss in der Darstellung gegenwärtig bleiben. Allein auf diese Weise wird der Intellektuelle den Anforderungen an die Konkretionen des Intellekts gerecht.
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Vgl. dazu die von Bloch, Benjamin und Kracauer geführte Gattungsdiskussion dieser Texte, die mal als „Erzählungen“ oder „experimentelle Essays“, mal als „Grotesken“, mal als „neue Form, die keine mehr ist“, bezeichnet werden. Vgl. Bloch an Kracauer, März/April 1928. In: Bloch: Briefe, S. 303; Benjamin an Kracauer, 20.04.1926. In: Walter Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer. Mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Marbach 1987. S. 17; Bloch an Kracauer, 06.06.1926. In: Bloch: Briefe, S. 278. Vgl. auch Inka Mülder-Bach: Soziologie als Ethnographie. Kracauers Studie Die Angestellten. In: Schriftgedächtnis – Schriftkulturen. Hg. v. Vittoria Borsò u.a. Stuttgart und Weimar 2002. S. 279–298, hier S. 285f.
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Das anschmiegende Denken Kracauers Erotik der Wirklichkeit 1. Einleitung Etwas kühn wäre es schon, Siegfried Kracauer unter die erotischen Autoren einreihen zu wollen. Neben einem Henry Miller, einem D.H. Lawrence, einem Mallarmé, Verlaine oder Schnitzler nähme sich Kracauer in der Tat etwas blutleer aus. Einer jener Lebemänner, wie man sie im Feld der erotischen Literatur findet, war der schmächtige, kleine Mann aus Frankfurt bestimmt nicht. Und Texte, die man landläufig als erotisch bezeichnen würde, hat er im Grunde auch gar nicht geschrieben. Und dennoch: Kracauer hat eine eigene Art literarischer Erotik entwickelt, eine versteckte, die nicht von der deftigen Schilderung lebt, sondern die einer besonderen psychischen Disposition und einem besonderen Denken entspringt. Es ist eine kracauersche Erotik zur Wirklichkeit, zum vollen, bittersüßen, gegenwärtigen Leben in all seinen Facetten. Kracauer ist in seinen besten Jahren als Mann der Zeitung und journalistischer Autor mit der Wirklichkeit ein Verhältnis eingegangen, das man mit Fug erotisch nennen darf. Sein Begriff der Wirklichkeit ist so emphatisch, so sehnsüchtig und leidenschaftlich, dass man ahnt: Es ist mehr als eine bloße Lust am Leben. „Wirklichkeit“ hat bei Kracauer eine existenzielle Bedeutung. Sein Werk ist eine große Liebeserklärung an die konkrete, lebendige Wirklichkeit, ein Suchen und Sehnen nach der verlorenen Liebsten. Als Flaneur in den Straßen von Frankfurt, Berlin, Paris und anderswo stellt er der Wirklichkeit nach, diesem fremden, faszinierenden, unfassbaren Wesen, wirft ihr verbotene Blicke zu, lässt sich von ihr verführen in glitzernden Gassen und nächtlichen Bars, tuschelt mit ihr in den Passagen, tändelt mit ihr auf den Jahrmärkten, rückt ihr in den Revuen zu Leibe. Er wirbt um sie und macht ihr den Hof, verehrt sie, träumt von ihr, erlebt tiefste Verlassenheit und Leere und dann wieder rauschhafte Erfüllung und Höhepunkte des Glücks − und so sehr er sich bemüht und sich nach ihr verzehrt, er kann sie doch nie ganz erfassen.
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Kracauer ist nach einigen Jahren im ungeliebten Brotberuf als Architekt bewusst und einem Drang folgend in den Journalismus gegangen und letztlich gegen seinen Willen aus ihm verstoßen worden. Er hat in dieser Zeit von 1921 bis 1933 die gesellschaftliche Rolle des Journalisten sehr selbstbewusst neu interpretiert und in der Rolle des Feuilleton-Redakteurs der Frankfurter Zeitung erheblichen Einfluss auf seine Zeit entfaltet. In diesen zwölf Jahren war er äußerst produktiv. Die gegen 2000 Aufsätze im FZ-Feuilleton bezeichnen zusammengenommen, was man als Klammer um Kracauers vielgestaltiges Werk bezeichnen könnte. Wie kaum einer seiner Zunft stellte er sich dem Grundproblem allen journalistischen Tuns − der Frage nämlich, was Wirklichkeit sei und wie sie darstellbar wäre. Dieses erkenntnistheoretische wie zeitungspraktische Bemühen überdachte Kracauer selbst, als ihn im Alter das Bedürfnis nach einer übergreifenden Sichtung seines Denkens ereilte. 1962, kurz vor seinem Tod, schrieb er zur Einführung in seine Geschichtsphilosophie Geschichte − Vor den letzten Dingen, dieses Buch sei zu sehen „als ein weiterer Versuch von mir, die Bedeutung von Bereichen herauszuschälen, deren Anspruch, um ihretwillen anerkannt zu werden, noch nicht Genüge geschah. Ich sage ‚ein weiterer Versuch‘, weil ich genau das mein Leben lang versucht habe − in den Angestellten, vielleicht in Ginster und bestimmt in Offenbach. So schließen alle meine Hauptbemühungen, so unzusammenhängend an der Oberfläche sie erscheinen, sich auf lange Sicht zusammen: sie alle dienten und dienen noch einzig der Absicht, jene Ziele und Verhaltensweisen zu rehabilitieren, die eines Namens noch ermangeln und folglich übersehen oder falsch beurteilt werden“.1
Man hört aus dieser Selbstbeschreibung heraus, dass Kracauer eine Mission hatte. Es ging ihm darum, die Fülle der Phänomene des Lebens zu erfassen und ihnen um ihres Eigenwertes willen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mit Kracauer rücken in den 1920er und frühen 30er Jahren die Randzonen der Hochkultur in den Blick. Er macht die profanen, unscheinbaren Dinge des großstädtischen Alltags, Kinos und Revuen, Lunaparks und Vergnügungslokale, Ansichtspostkarten und Schaufensterauslagen feuilletonfähig. So dokumentieren seine Feuilleton-Texte nicht nur eine intensive Suche nach der Wirklichkeit, sondern auch eine Suche nach einer tauglichen journalistischen Methode für deren Analyse und Darstellung. Die nach und nach erfolgte Entfaltung des Kracauerschen Denkens lässt sich anhand der Zeitungstexte gut nachvollziehen: Zu Beginn im Vorgehen noch recht impressionistisch und im Stil ziemlich schwülstig und schwärmerisch, werden die Texte mit fortschreitender Praxis methodisch zunehmend disziplinierter, in der Beobachtung präziser und im Ton schärfer. Bis schließlich ein eigenständiger Typus eines journalistischen Zugriffs auf die Wirklichkeit und eine eigenständige Darstellungsform zu Tage tritt, die bis heute nichts von ihrer Faszination und Aktuali1
Siegfried Kracauer: Geschichte − Vor den letzten Dingen. Schriften 4. Frankfurt a. M. 1971. S. 16.
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tät eingebüßt hat. Sie basiert auf einem anschmiegenden Denken, das nicht von einer theoretischen Warte auf die Dinge hinabsieht, sondern das umgekehrt seine Einsichten in engster Tuchfühlung mit dem Material gewinnt und sie durch die Dinge hindurch zur Darstellung bringt. Doch woher kommt bei Kracauer überhaupt diese Hinwendung zur Wirklichkeit, diese Sehnsucht nach dem vollen, ungestellten Leben?
2. „Die kalte Unendlichkeit des leeren Raumes und der leeren Zeit“ Sucht man nach einem Ausgangspunkt für Kracauers philosophische Überlegungen, stößt man auf ein zentrales Motiv, das er in vielen seiner Aufsätze der frühen 1920er Jahre umkreist: Es ist das Gefühl der Sinnentleerung und ein tief erlebter Wirklichkeitsverlust, den er mit vielen Zeitgenossen teilt. Kracauer erklärt dieses Gefühl als Folge der Säkularisierung des neuzeitlichen Denkens und dessen Emanzipation von umfassenden Ordnungssystemen.2 Die Freisetzung des Geistes in der Aufklärung habe Mythen und Dogmen entthront und dem neuzeitlichen Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit geöffnet. Aber zugleich sehe sich der Mensch nun hinausgestoßen in eine Welt, die von keiner übergeordneten Instanz mehr zusammengehalten werde. Diesen Zustand veranschaulicht Kracauer, indem er das christliche Mittelalter in einer Art rückwärts projizierten Utopie als eine „sinnerfüllte Epoche“ charakterisiert: „Die katholische Welt des reifen Mittelalters, aus der sich der deutsche Geist einst losgelöst hat, ist ein sinnerfüllter Kosmos gewesen, dessen Einheit nicht auf dem Willen der Iche zur Gemeinschaft, sondern auf dem Durchdrungensein einer gläubigen, natürlich gegliederten Menschheit von der geoffenbarten göttlichen Heilslehre beruhte. […] Alles bezieht sich in ihr auf ein gegebenes, absolutes Dogma, das den Menschen Wertmaßstäbe schenkt und ihrem Denken einen Abschluß gewährt. Jedes Wesen in ihr wirkt sich nach dem göttlichen Heilsplan, der dem ganzen Kosmos zugrunde liegt, der den Kosmos erst zum Kosmos macht, an seinem bestimmten Orte aus.“3
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Ein guter Überblick über diesen Komplex findet sich in: Inka Mülder: Siegfried Kracauer, Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933. Stuttgart 1985. S. 19–24, sowie in: Michael Schröter: Weltzerfall und Rekonstruktion. In: Text + Kritik 68. München 1980. S. 18–40. Siegfried Kracauer: Deutscher Geist und deutsche Wirklichkeit. In: Die Rheinlande. Jg. 22 (1922). Band 32. H. 1 (Januar). S. 44–47. Wieder in: Schriften 5.1. Frankfurt a. M. 1990. S. 151–159, hier S. 152f. Er verwendet den Begriff der „sinnerfüllten Epoche“, den er aus Georg Lukács’ Theorie des Romans übernimmt, nicht als Beschreibung eines historischen Zustands, sondern als „erkenntniskritischen Grenzbegriff” (Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 13.) Die „sinnerfüllte Epoche“ des christlichen Mittelalters dient als gedankliche Folie, vor welcher der gegenteilige Zustand sich abheben soll. „Sinnerfüllte Epoche“ bezeichnet einen vorstellbaren Zustand, der gekennzeichnet ist durch die Anwesenheit eines alles durchdringenden, göttlichen Sinnes.
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Die Idee eines Kosmos, in der jedes Wesen aufgehoben und jedes Ding von Sinn durchdrungen ist, steht auch am Anfang von Kracauers Grundlegung der Soziologie als Wissenschaft, die um 1920 entstand und 1922 erschien: „In einer ‚sinnerfüllten Epoche’ sind alle Dinge auf den göttlichen Sinn bezogen. Es gibt in ihr weder einen leeren Raum noch eine leere Zeit, wie sie beide von der Wissenschaft vorausgesetzt werden; Raum und Zeit bilden vielmehr die unentbehrliche Hülle von Gehalten, die in irgendeiner bestimmten Beziehung zum Sinn stehen. Die ganze Welt wird durch den Sinn überdeckt; das Ich, das Du, sämtliche Gegenstände und Ereignisse empfangen von ihm ihre Bedeutung und ordnen sich zu einem Kosmos von Gestalten. Dem Leben fehlt die schlechte Unendlichkeit und die ganze Fragwürdigkeit einer des Sinnes ermangelnden Epoche; soweit es sich dehnt, es ist überall Gottes voll, selbst der Stein noch zeugt vom göttlichen Wesen.“4
In einer gottdurchwirkten, sinndurchglühten Welt ist der Mensch transzendent geborgen. Sein Dasein ist wie das aller Dinge und Erscheinungen um ihn herum auf eine übergeordnete Instanz bezogen und erhält vom göttlichen Plan seine Bestimmung. So lange die Welt in Gott den Urgrund hat, ist der Mensch Geschöpf. Als solches bleibt er in die Ordnung eingefügt und tritt der Wirklichkeit nicht als objektivierender und abstrahierender Intellekt gegenüber. Was bedeutet es, wenn sich das Denken von göttlichen Bindungen emanzipiert, wenn der neuzeitliche Geist „nach und nach den Glauben an die unbedingte Wahrheit und Absolutheit der kirchlichen Heilslehre einbüßt” und das göttliche Weltgebäude verlässt? Wenn der Glaube als beengendes Dogma und als lästige Fessel der Vernunft empfunden werde, breche der durch den Sinn zusammengehaltene Kosmos auseinander, und die Welt spalte sich in die Mannigfaltigkeit des Seienden und das ihr gegenübertretende Subjekt. „Dieses Subjekt […] entsteigt nun vereinsamt dem Chaos als alleiniger Träger des Geistes, und vor seinem Blick öffnen sich die unermeßlichen Reiche der Realität. Hinausgeschleudert in die kalte Unendlichkeit des leeren Raumes und der leeren Zeit, befindet es sich angesichts eines jeglicher Bedeutung entblößten Stoffes, den es gemäß der ihm, dem Subjekt, innewohnenden […] Ideen verarbeiten und formen muß.“5
Der Weltzusammenhang wird gesprengt. Es öffnet sich der Abgrund zwischen „Seele und Gebilde, Ich und Welt, Innen und Außen“.6 Statt im Glaubensgebäude die Wärme zu fühlen, die sich aus der Nähe zu Gott ergibt, erfährt der Mensch die Kälte des gottentleerten Universums. Er leidet „an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt“, „an dem Vertriebensein aus der religiösen
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Ebd., S. 13. Ebd. Siegfried Kracauer: Georg von Lukács’ Romantheorie. In: Neue Blätter für Kunst und Literatur. Jg. 4 (1921/22). Nr. 1 (4. Oktober 1921). S. 1–5. Wieder in: Schriften 5.1, S. 117–123, hier S. 118.
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Sphäre“7 und bleibt der „Einsamkeit und Heimatlosigkeit“8 überlassen. Die Befreiung des Geistes vom Dogma, den Austritt aus dem göttlichen Gebäude, bezahlt er mit „transzendentaler Obdachlosigkeit“, wie Lukács sagt. Zerfällt die Welt in ein isoliertes Subjekt und eine chaotische Vielfalt der Objekte, hat das Folgen für die Wahrnehmung der Wirklichkeit, die, ihres Sinnes entleert, „plötzlich wie trockener Lehm zerfällt und ihre Substanzlosigkeit offenbart“.9 Die Erfahrungswelt sinkt zu bloßer Materie ab, die keine Bestimmung mehr in sich trägt. Die Erscheinungen verdanken ihren Sinn nicht mehr einem überpersonalen Prinzip, sondern sind dem normierenden Ich anheim gegeben. An die Stelle göttlicher Satzung tritt die Satzungsmacht des kantischen Vernunftsubjekts, das zum alleinigen Stifter eines Zusammenhangs wird. „Wenn das Weltgewölbe zusammenstürzt, weil sein Schlußstein: der Glaube an den absoluten Sinn, herausbricht, hat natürlich auch die Bindung des Denkens an die den Kosmos erfüllende konkrete Wirklichkeit ein Ende. Statt zur Aufnahme der in ihrer Ganzheit erschauten Gestaltenvielheit angehalten zu sein, kann der Geist, sich zum reinen Intellekt verengend, von diesen konkreten Gestalten jetzt nach Gefallen abstrakte Momente abspalten und sie einer gesonderten Betrachtung unterwerfen. Die reinen Wissenschaften entstehen, das Denken wird formalistisch. […] Der gebundene Mensch des Mittelalters gehört einer geschlossenen Welt an, in der die idealen Forderungen die reale Wirklichkeit völlig durchdringen, der ungebundene Mensch der späteren Jahrhunderte löst seine idealen Forderungen von dem offenen Chaos der ihm verbliebenen Wirklichkeit ganz ab und verdünnt sie, um ihre Absolutheit zu retten, zu äußerster Allgemeinheit, so daß sie keine Realität mehr in sich enthalten.“10
Die Freisetzung des Geistes vom Glauben führte laut Kracauer zum Zusammenbruch des Weltgefüges, zur Etablierung der Normierungsmacht des autonomen Ichs gegenüber der Welt und zu einer abstrahierenden, kategorisierenden und formalisierenden Betrachtung der Wirklichkeit. Wenn das Denken des Menschen sich von den konkreten Gestalten loslöst und sie nur noch hinsichtlich ihrer Eigenschaften zur Einordnung in kategoriale und formale Begriffe wahrnimmt, geht der Mensch der Wirklichkeit verlustig. Die Welt erscheint ihm bloß noch als bedeutungsloses Vorhandenes, das bestimmten Kräften, Gesetzmäßigkeiten und kausalen Verknüpfungen gehorcht. Seine formalen Begriffe treffen keine Realität mehr, die konkrete Wirklichkeit wird schwindsüchtig und verflüchtigt sich. Wirklichkeitsverlust, Weltzerfall, Sinnverlust, transzendentale Obdachlosigkeit − das sind die Begriffe, die den Ausgangspunkt von Kracauers philoso7
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Ders.: Die Wartenden. In: FZ, 12. März 1922. Wieder in: Schriften 5.1, S. 160–170, hier S. 161. Ders.: Georg von Lukács’ Romantheorie. In: Schriften 5.1, S. 117. Ebd., S. 119. Ders.: Deutscher Geist und deutsche Wirklichkeit. In: Schriften 5.1, S. 154f.
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phischen Gedanken markieren. An diesem Ausgangspunkt stehen die fundamentale Erfahrung der Geschiedenheit des Individuums von der Welt, das Erleiden des Verlusts des Konkreten im Formalen und die Sehnsucht nach einem sinnvollen Zusammenhang. Um das Verständnis dieses Zustands, um seine Beschreibung und um seine Bewältigung ging es Kracauer. Was ihn umtrieb, war „ein unnennbares Heimweh nach dem entschwundenen Sinn“ ein Gefühl, das laut Kracauer jeden Menschen beseelt, „der sich seines Aufenthaltes in unserer gottverlassenen Welt als eine Verbannung bewußt geworden ist“.11 Der tief empfundene Wirklichkeitsverlust ist zentral für Kracauer. Er ist philosophisch der Grund für seine Entwicklung über Simmels Phänomenologie zu Marx und zu einem spezifischen kracauerschen Materialismus. Er ist praktisch der Grund dafür, dass er sich unter die Journalisten begibt, die von Berufs wegen der Wirklichkeit zugehörig sind. Journalismus verstand er als eine Gegenmaßnahme gegen das idealistische Denken, das sich seiner Abstraktheit wegen der konkreten Realität nicht zu nähern weiß. Journalismus war ihm eine Passion, weil er sich erhoffte, auf seinen Gängen durch die realen Straßen und Städte der Wirklichkeit habhaft zu werden und etwas zurückzugewinnen von dem, was das abstrakte Denken den neuzeitlichen Menschen ausgetrieben hatte. Im Wirklichkeitsverlust gründen schließlich auch seine methodische Aufwertung der sichtbaren Oberfläche und seine Hinwendung zu den unscheinbaren, profanen Phänomenen des Alltags. Das Verlustgefühl ist somit der Ursprung von Kracauers eigentümlicher Leidenschaft für die Wirklichkeit. Er wollte sich ihr ganz hingeben und mit ihr verschmelzen, weil er Erlösung von ihr erhoffte und es nicht aushalten konnte, dass sie bloße Materie sei und nichts weiter bedeute.
3. Die Oberfläche als Zeichensystem und Traumbild Wie kann man die entschwundene Wirklichkeit zurückgewinnen und die Zusammenhänge rekonstruieren? Durch naives Schauen? Oder durch Theorie? Kracauer sieht sich im Dilemma: Weder mag er sich auf den bloßen Augenschein verlassen, noch will er sich durch abstrakte Theorien nehmen lassen, was sich ihm als Erfahrung einprägt. Ihn treibt eine Leidenschaft fürs Konkrete und zugleich ein Wille, diese konkrete Realität transparent zu machen, ohne dass sie im abstrakten Begriff verdampft oder nur zur Bestätigung einer These missbraucht wird. Wie er dabei vorgeht, erhellt ein Paragraf, den er an den Anfang seines Aufsatzes Das Ornament der Masse von 1927 stellt und der als methodisches Kernprinzip über seiner journalistischen Produktion stehen könnte. In ihm werden die wesentlichen Elemente seiner philosophischen 11
Ders.: Georg von Lukács’ Romantheorie. In: Schriften 5.1, S. 122f.
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Entwicklung zusammengezogen und er enthält die zentralen Prämissen, an denen sich seine journalistische Arbeit seit 1924/25 orientiert. „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grund einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“12
Eröffnet wird das Theorem mit dem Ziel, das seine journalistischen Untersuchungen verfolgen. Es geht darum, den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft zu erheben und den Status der Gegenwart im Geschichtsprozess zu bestimmen. Dann folgt die von der Simmelschen Phänomenologie inspirierte Aufwertung der Oberfläche. Die Struktur der Gesellschaft ist nicht direkt sichtbar, sondern formt sich an der beobachtbaren Oberfläche aus. An der Oberfläche muss eine Analyse ansetzen, die zur Grundstruktur der gesellschaftlichen Verhältnisse vorstoßen will. Nun bestimmt Kracauer näher, welche Phänomene den Zugang zum Grundgehalt gewähren. Es sind nicht die Aussagen der Zeit über sich selbst, nicht die Urteile der Parteipolitiker, Professoren, Kirchenleute und auch nicht jene der journalistischen Kommentatoren. Solche Versuche intellektueller Selbstvergewisserung sind für Kracauer zwangsläufig interessegeleitet, tendenziös und als Produkte des Überbaus immer ideologieverdächtig. Es sind vielmehr die unscheinbaren, vernachlässigten Erscheinungen des Lebens, die den Zugang zur Wahrheit gewähren. Sie sind nicht von parteilichen Interessen begrifflich erfasst, in eine Weltsicht eingepasst und auf ein ideologisches Ziel hin zugerüstet. Sie sind nicht von einem Willen gestiftete Interpretationen des Zustands. Sie treten unbedacht und unbewusst hervor und sind damit unmittelbare Äußerungen des Zustandes selbst. Die Aussagen mogeln sich an den ideologischen Kontrolleuren des gesellschaftlichen Selbstbildes vorbei und sind so verlässliche Zeugen der Verhältnisse. Der methodische Lehrsatz gipfelt im Hinweis auf einen Materialismus, der aus der Dialektik zwischen der Grundstruktur und Oberflächenäußerung seine Deutung der Epoche gewinnt. Um Kracauers Methode der Oberflächenanalyse zu illustrieren, könnte man fast jeden Text beiziehen, der sich nach seiner materialistischen Wende um 1924/25 mit den Erscheinungen urbanen Lebens befasst. Ich wähle den kurzen Aufsatz Aus dem Fenster gesehen von 1931, weil er ausdrücklich Kracauers methodischen Zugang zur Stadt und ihren Phänomenen thematisiert und insbesondere weil er deutlicher als andere Stadttexte das methodisch zentrale Prinzip der Unbewusstheit des untersuchten Phänomens ins Bild setzt, das im 12
Ders.: Das Ornament der Masse. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt a. M. 1977. S. 50.
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Ornament der Masse betont wird. Wie oft in seinen Zeitungsarbeiten beginnt Kracauer mit einer kurzen, theoretisch gehaltenen Erläuterung, die als Leseanweisung dienen soll. „Man kann zwischen zwei Arten von Stadtbildern unterscheiden: den einen, die bewußt geformt sind, und den andern, die sich absichtslos ergeben. Jene entspringen dem künstlerischen Willen, der sich in Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen Effekten verwirklicht, die der Baedeker gemeinhin mit einem Sternchen beleuchtet. Diese dagegen entstehen, ohne vorher geplant worden zu sein. Sie sind keine Kompositionen, die […] ihr Dasein einer einheitlichen Baugesinnung zu verdanken hätten, sondern Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen. Wo immer sich Steinmassen und Straßenzüge zusammenfinden, deren Elemente aus ganz verschieden gerichteten Interessen hervorgehen, kommt ein solches Stadtbild zustande, das selber niemals Gegenstand irgendeines Interesses gewesen ist. Es ist so wenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet. Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit.“13
Nun nimmt der Erzähler mit dem Leser den Beobachtungsstandpunkt ein. Er befindet sich an einem Fenster hoch über einer unregelmäßigen Anlage. Es handelt sich höchst wahrscheinlich um den Holtzendorffplatz in BerlinCharlottenburg, an dem Lili und Siegfried Kracauer kurz vor Erscheinen des Textes eine neue Wohnung bezogen hatten.14 Der Name hat im Text allerdings keine Bedeutung, Bedeutung hat seine Weglassung. Es geht um den Platz nicht als Punkt auf dem Stadtplan, sondern um ihn als Sinnbild. Statt einen Lageplan mit Markierungen und Index auszubreiten und den Platz dem analytischen Blick auszusetzen, weiht der Erzähler den Leser in eine geheimnisvolle Eigenart der Anlage ein. Ihr ist nämlich „eine wunderbare Fähigkeit“ eigen: Sie hat eine Tarnkappe auf. „Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. […] So genießt er das unvergleichliche Glück, gewissermaßen inkognito im Trubel leben zu dürfen, und obwohl er sich nach allen Seiten hin auftut, ist es doch, als sei er von dichten Nebeln umlagert.“
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Der Originaltitel lautete: Berliner Landschaften. In: FZ, 8. November 1931. Kracauer publizierte den Aufsatz unter dem Titel Aus dem Fenster gesehen. Erneut in: Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo. Berlin 1987. S. 40–41. Wieder in: Schriften 5.2. Frankfurt a. M. 1990. S. 399–401. Mitte September 1931 zogen Lili und Siegfried Kracauer von der Lietzenburger Straße 7/3 in Berlin W.15 an die Sybelstraße 35/4. Stock in Berlin-Charlottenburg um. Nach einer Zeichnung von Kracauer (DLA 72.3608) ging der Blick vom Arbeitszimmer auf den Holtzendorffplatz. Im Text heißt es: „Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturschauspiel ist.“ (Aus dem Fenster gesehen. In: Schriften 5.2, S. 399). Zu den Wohnorten in Berlin vgl.: Ingrid Belke und Irina Renz: Siegfried Kracauer 1889– 1966. Hg. v. Ulrich Ott, 2. durchgesehene Auflage 1989, Marbacher Magazin 47/1988. S. 58, 63, 64 und 68.
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Der namenlose Platz ist also eine jener unscheinbaren, unbewussten Oberflächenäußerungen und kann, da kein strukturierendes Interesse sich seiner je bemächtigt hat, einen unmittelbaren Zugang zum Gehalt der Stadt eröffnen. Seine Bedeutung liegt in der Sinnbildqualität. Deshalb wird er nicht als realer Bezirk geschildert, sondern als Vision aus Kindertagen. Geleise, Häuser, Funkturm, alles verniedlicht sich zum Inventar eines Spielzimmers. Was abläuft nach Regeln von Funktionalität und Kausalität, wird absichtsloses Spiel. „Mit ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, zum Experimentieren benutzt. Er läßt im Spiel die entzückenden bunten Stadtbahnzüge rasend schnell auf- und abgleiten, jagt einzelne Lokomotiven hin und her und entsendet schwere D-Züge nach berühmten Städten wie Warschau und Paris, die gleich hinter der nächsten Ecke aufgebaut sind. […] Glücklich neigt sich der Knabe über sein Werk.“
Bricht die Nacht herein, wird der Platz illuminiert, die Schilderung entrückt ihn zum Traumbild. Bis zum Schluss bleibt er namenlos, und nur der späte Hinweis auf Berlin bringt ihn in die Realität zurück. Was lehrt er, wenn er so erfahren wird? Dass sich das Wesen der Stadt nicht dem Analytiker offenbart, dessen Blick an der Oberfläche haften bleibt, sondern nur jenem, der sich ins Feinstoffliche einsenkt. „Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selbst gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.“
Hier gelangt Kracauer noch nicht zur gesellschaftskritischen Analyse der Epoche. Aber man erfährt in einer poetischen Umsetzung, was er im OrnamentAufsatz als seinen methodischen Zugriff skizziert hat. Die ohne steuerndes Bewusstsein zustande gekommene Oberfläche der Stadt ist ein Traumbild voller Zeichen und Botschaften, die der Deutung harren. Die Idee des Traumbildes taucht in Kracauers journalistischen Texten immer wieder auf. Auch im Aufsatz Über Arbeitsnachweise von 1930 thematisiert er sein Verfahren unter diesem Stichwort. Wieder eröffnet er den Text mit einem methodischen Hinweis; der Absatz ist parallel konstruiert zur Einleitung im Ornament, so dass klar wird: Oberfläche und Traumbild werden als identisch gesehen, Oberflächenanalyse und Traumdeutung beschreiben denselben Vorgang. Kracauer hebt an mit dem Hinweis, jede soziale Schicht habe den ihr zugeordneten Raum. Der für die Erwerbslosen typische Raum sei der Arbeitsnachweis. „Ich habe mehrere Berliner Arbeitsnachweise besucht. Nicht um der Lust des Reporters zu frönen, der gemeinhin mit durchlöchertem Eimer aus dem Leben schöpft, sondern um zu ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System unserer Gesellschaft einnehmen. Weder die verschiedenen Kommentare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlamentsdebatten geben darüber Auskunft. Sie sind ideologisch gefärbt und rücken die Wirklich-
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keit in dem einen oder anderen Sinne zurecht; während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit selber gestellt ist.“15
Man erkennt die Konstruktion wieder: Ziel ist es, den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft zu ergründen, der das Schicksal der Arbeitslosen bestimmt. Statistische und politische Kommentare sind keine verlässlichen Zeugen. Der absichtslos entstandene Raum jedoch gibt unmittelbar Auskunft. „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“
Der Raum setzt sich zusammen aus unbedachten Oberflächenäußerungen, die über die Tiefenstruktur Auskunft geben können. Nun wird die Verbindung zum Traum geschlagen. Die Oberfläche ist als Traumbild aufzufassen, als unbewusste Manifestation tief liegender Dispositionen. Nach Erscheinen des Textes schrieb Theodor W. Adorno an Kracauer. „Dein Aufsatz […] hat mir ausgezeichnet gefallen. Mit Staunen und allerdings mit Zustimmung habe ich bemerkt, daß Du die Benjaminsche Formel von den Häusern als Träumen des Kollektivs – nur ohne das Wort Kollektiv, das ich auch nicht leiden kann – akzeptiert hast. Die Sache ist wirklich sehr aggressiv und schlagend. Eines Deiner besten Dinge; verfolgt gewisse Intentionen von Ornament der Masse weiter, aber radikaler. Ich bin völlig einverstanden.“16
Adorno erklärte sich einverstanden, aber seine Zustimmung beruhte auf einem Missverständnis. Er erkannte zwar, dass der methodische Ansatz das Theorem aus dem Ornament am konkreten Fall umsetzt. Aber den springenden Punkt, weshalb Kracauer das Raumbild als Traum der Gesellschaft versteht, erfasste Adorno nicht. Kracauer sah sich veranlasst, das Missverständnis zu korrigieren. „Ich möchte eine Bemerkung zu meinen Arbeitsnachweisen berichtigen. Du meinst, daß sich die Benjaminsche Formel von den Häusern als den Träumen des Kollektivs akzeptiert habe. Das ist doch nicht der Fall. Gewisse Raumbilder sprach ich als Träume der Gesellschaft an, weil sie das Sein dieser Gesellschaft darstellen, das durch deren Bewußtsein verhüllt wird. Ich begegne mich also mit Benjamin […] nur im Wort Traum. Das ist, als ob man sich an einer Straßenkreuzung träfe und nach verschiedenen Richtungen weiterginge. Die Auffassung der Stadt als eines Traums vom Kollektiv erscheint mir immer noch als romantisch.“17 15
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Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise. In: FZ, 17. Juni 1930. Kracauer hat den Text wieder publiziert in: Straßen in Berlin und anderswo publiziert. S. 52–59. Wieder in: Schriften 5.2, S. 185–192, hier: S. 185f. Brief von Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer vom 25. Juli 1930, DLA 72.1965/10. Brief von Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno vom 1. August 1930, DLA 72.1119/6.
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Das Kollektiv war für Kracauer eine Fehlkonstruktion von Gewerkschaften und Angestelltenverbänden, die bloß den Willen zu einer Gemeinschaft ausdrücke, aber eher eine Sekte als eine Gemeinschaft begründe. Das Kollektiv sei, so führt er in den Angestellten aus, eine Worthülse, die zum Dogma tendiere.18 Raumbilder sind laut Kracauer Träume nicht eines von oben statuierten Kollektivs, sondern der Gesellschaft, weil sich in ihnen das Sein unbewusst darstellt. Die Unbewusstheit der sichtbaren Oberfläche, das ist der springende Punkt, den Adorno nicht sah. Die Unbewusstheit war bereits im Ornament der Grund, weshalb Kracauer die Oberflächenphänomene als Zugang zur Wirklichkeit verstand. Und sie ist auch der Grund, weshalb er die Oberfläche als Traumbild auffassen kann. Die Aufwertung der sichtbaren Oberfläche, die Oberfläche als Zeichensystem, als Hieroglyphe und Traumbild − das hat weitreichende Konsequenzen. Die beobachtbare Wirklichkeit ist nicht mehr bloß nichtssagende Materie. Sie trägt Bedeutungen in sich. Sie wird zum Sinnbild, dem man zutraut, Auskunft zu geben über verborgene Zustände und in der Tiefe wirkende Kräfte. Die Aufgabe des Journalisten entspricht nun jener des Traumdeuters. Was dieser im Bereich der Psyche tut, vollzieht jener methodisch im Gesellschaftlichen nach. Der Traumdeuter will die seelischen Gebrechen des Individuums aufdecken, der journalistische Deuter soll die sozialen Gebrechen der Gesellschaft entlarven.19
4. Dialektik des Erwachens Als Traumdeuter entdeckt Kracauer nun auf seinen Gängen durch die Wirklichkeit überall bildliche Mitteilungen. So wird unter seinem Blick eine belanglose Figur zur allegorischen „Personifizierung“, ein stummes Ding zur symbolischen „Verkörperung“, eine banale Lokalität zum „Sinnbild“ und eine zufällige Straßenszene zum „lebenden Bild“. Alle Beobachtungen werden 18 19
Vgl.: Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 303ff. Mülder und Bienert haben die Möglichkeit nicht weiterverfolgt, Kracauers Texte mit Freuds Traumdeutung anzugehen. Sie fassten die Raumbilder als „Träume ohne Traumarbeit“ auf (Mülder: Grenzgänger. S. 87f.), so dass es nicht darum gehen könne, „einen durch Traumarbeit entstellten Text zurückzuübersetzen“ (Bienert: Die eingebildete Metropole. S. 156f.). Genia Schulz setzte zwar „Traum und Aufklärung“ als Titel über ihre Untersuchung der Städtebilder. Aber eine Analyse, worin der Traum bei Kracauer besteht und wie es zur Aufklärung im Sinne einer Traumdeutung kommt, sucht man vergeblich. Vgl.: Genia Schulz: Traum und Aufklärung, Die Stadtbilder Siegfried Kracauers. In: Merkur. Heft 9, Jg. 36, Sept. 1982, S. 878–888. Vergegenwärtigt man sich jedoch, wie nach Freud in der Traumarbeit unter verminderter Bewusstseinskontrolle durch Verschiebung, Verdichtung und Umsetzung in Bilder das Traumbild entsteht, zeigt sich eine große Parallelität zur Idee der Raumbilder als Träume der Gesellschaft. Entsprechend bezeichnen Traumdeutung und Deutung der Raumbilder den umgekehrten Weg der Traumarbeit, wie man aus dem manifesten Traum den latenten Inhalt dechiffriert. Vgl. Helmut Stalder: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der FZ 1921–1933. Würzburg 2003. S. 167–180.
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einem Metaphorisierungsprozess unterworfen, die ganze Stadt wird zum Bilderraum. Vor allem dort, wo wie im Schlaf die Kontrolle des Bewusstseins herabgesetzt ist, treten die Bilder hervor, als unzensierte Manifestationen der Gesellschaft. Die Erscheinungen werden von der Wirklichkeit hervorgebracht, ohne dass sie einer bewussten Steuerung oder Zensur unterliegen. Alles, was das interessegeleitete Bewusstsein sonst übersieht, verleugnet und umdefiniert, dringt im Raumbild unkontrolliert zum Vorschein. Der Journalist macht es sich zur Aufgabe, das Raum gewordene Traumbild zu entdecken, zu beschreiben und zu deuten. Er will eine Dialektik des Erwachens herbeiführen. Wie das vonstatten gehen soll, hat Walter Benjamin untersucht. Er setzte sich wie Kracauer intensiv mit dem Traum und mit dem verwandten Zustand des Rausches auseinander. Auch wenn ihre Auffassungen nicht vollständig deckungsgleich sind, so stimmen sie darin überein, dass sie dem Traum und dem Rausch große Erkenntnispotenziale zubilligen. Zunächst wandte sich Benjamin gegen die „undialektische Anschauung vom Wesen des Rausches“20 bzw. des Traumes, wie er sie im Surrealismus fand. Man dürfe nicht im Traumbereich verharren, vielmehr müsse, um das Erkenntnispotenzial zu erschließen, „die Konstellation des Erwachens gefunden werden”21, heißt es im Passagenwerk. Es gehe um die Erweckung eines noch nicht bewussten Wissens vom Gewesenen: „Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen.“22
Erinnern ist der Versuch, den Umschlag von traumhafter Ahnung in ein waches Wissen herbeizuführen. Nach Benjamin stellt sich die Dialektik des Erwachens an der Schwelle der Bewusstheit ein, in der Sekunde, „in der die Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt. In diesem Augenblick ist es, dass der Historiker an ihm die Aufgabe der Traumdeutung übernimmt“.23 So hält Benjamin mit Bezug auf die Arbeit des Historikers fest: „Die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik. Sie ist vorbildlich für den Denker und verbindlich für den Historiker.“
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Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Ders.: Gesammelte Schriften 2.1. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977. S. 295–310, hier S. 307. Vgl. auch: Ders.: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 111991. S. 8f. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg. v. Rolf Tiedemann. In zwei Bänden. Frankfurt a. M. 1982. Bd. 2. S. 1014. Ebd., Bd. 2. S. 1058. Ebd., Bd. 1. S. 580. Benjamin hat die Idee des Historikers als Traumdeuter der Gesellschaft im Rahmen der Theorie des „dialektischen Bildes“ geäußert.
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Wie bei Benjamin der Historiker ist bei Kracauer der Journalist Traumdeuter einer unbewussten Gesellschaft, der die Bilder der materiellen Sphäre in der sprachlichen rekonstruiert und aufschlüsselt. Wie nah sich Benjamin und Kracauer im Verständnis des Traumes sind, zeigt sich in einer Rezension der Angestellten. Benjamin bezeichnet Kracauer darin als „politischen Traumdeuter“, der auf „jene surrealistischen Überblendungen ausgeht, die nicht nur, wie wir von Freud erfahren haben, den Traum, nicht nur, wie wir von Klee und von Max Ernst es wissen, die sinnliche Welt, sondern eben auch die soziale Wirklichkeit kennzeichnen.“24 Die surrealistische Überblendung ist der erste methodische Schritt, der zweite ist, sie in eine Dialektik des Erwachens hineinzutreiben. Im Text Aus dem Fenster gesehen hatte Kracauer die Wahrnehmung der Stadt als Traum postuliert, diesen Traum wiedergegeben und seine Entzifferung verlangt. Im Text Der verbotene Blick führt er nun die Dialektik des Erwachens vor, die sich einstellt im Moment des Übergangs vom traumhaften Erleben zum wachen Entziffern. Der Journalist betritt eine Großstadtkneipe mit zweifelhaften Gästen, die im Alkoholrausch vor sich hin dösen, und man erfährt im ersten Satz: Abend für Abend erscheint hier ein Phantom. Der Erzähler lässt das Phantom aber nicht ohne Umstände auftreten. Mit einem dreifachen, retardierenden „Das ist es nicht“ wird die Spannung gesteigert, dass der Leser das Phantom so sehr herbeiwünscht, wie er es fürchtet. Es ist nicht der Kellner, dessen halbwegs weiße Hemdbrust einen Glanz verbreitet, „der die Illusion einer höheren Welt erweckt und die Armseligkeit der vorhandenen ohne Schonung entlarvt.“ Es ist nicht das Monstrum von Musikbox, das zu brüllen anhebt, sobald der Kellner den Schalter anknipst. Es ist nicht der Reigen der Tanzpaare in traditionellen Trachten, die sich darauf im erleuchteten Spiegelkasten zur Musik zu drehen beginnen und Helle und Wärme verbreiten. Es ist etwas anderes. „Eben noch zauberisch verstrickt in das unachtsame Gewoge, erwachst Du urplötzlich aus dem Traum; aber Du erwachst nicht zur Wirklichkeit, sondern eine Hülle reißt, und jetzt erst, genau jetzt erscheint das Phantom. Wie angewurzelt steht es vor dir für Augenblicke, die eine Ewigkeit währen. Nur zu dieser Stunde überhaupt kann es erscheinen, zu der Stunde, da Du auf der Scheide von Traum und Wirklichkeit nachtwandlerisch dich verzögerst. Es ist die Stunde, in der das Nichts die Gestalt sich erschwindelt, die Stunde der unerlaubten Blicke, die an das schlüpfrig Bodenlose sich heften. Die Paare, mit denen du tanztest, leben nicht mehr, noch auch sind sie abgeschieden bereits zu verstaubten Mechanismen – sie sind Phantome, festgebannt vor dem Verschwinden. Wie du selber jenseits des Gaukelbereichs der Träume umherirrst, ohne dem wirklichen Dasein schon anzugehören, so befinden auch sie sich unerlöst an einem Zwischenorte, gestorben zweifellos, aber nicht durchaus tot […]. Magie zwingt sie, die für gewöhnlich unsichtbar sind, in diesen Augenblicken herauf; in diesen Augenblik24
Walter Benjamin: Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem Neuesten Deutschland. Rezension in: Ders.: Gesammelte Schriften 3. Frankfurt a. M. 1972. S. 226f.
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ken gerade, in denen das Nirgendwo dich bei sich hält, trifft die flüchtigen Passagiere der verbotene Blick. Das aber ist es: daß eine Begegnung hier statt hat zwischen Wesen, die nicht eigentlich existieren, daß du, der du auch nur Phantom bist in der nichtigen Leere, heimgesucht wirst von verwunschenen Figuren, die den Durchgang verwehren und dich hineinziehen in ihre Verlorenheit.“25
Im Moment des Umschlags, in dem das Phantom auftaucht, erkennt der Betrachter, wessen er sich mit dem Alkohol erwehren wollte, weil er ihm nicht gewachsen ist: seine eigene Puppenhaftigkeit. Dass er sich als Träger abgelegter Werte früherer Epochen nur im Kreise dreht, umgetrieben von unbekannten Kräften, zusammengemischt mit Fremden in einer scheinhaften Gemeinschaft, die bloß eine von Selbstbespiegelungen erzeugte Illusion ist. „Verlassen fährst du hin über die verlassene Welt […]. In jener gläsernen Phantasmagorie erkennst du ihr Sinnbild, und vergangen in der Uferlosigkeit des Hohlraums verwirfst du alle Seligkeiten, die du besessen hast, die du nie mehr besitzen wirst. Die gefräßige, nichtsnutzige Zeit entblößt sich dir, und du schauderst vor ihrem Ergebnis: dem Gebrauch der erborgten Moden und Embleme, dem Larventanz durch die Jahrtausende.“
Im Bruchteil jener Sekunde, in dem der Traum der heiteren Tanzpaare zerreißt, offenbart sich dem Betrachter die ganze Schrecklichkeit seines sinnentleerten Daseins in einer sinnleeren Zeit. In diesem Umschlag, in dem Traum und bewusstes Erkennen für einen Augenblick in der Schwebe sind, liegt das Erkenntnispotenzial des Traumes wie des Rausches.
5. Straßenrausch und Melancholie Es gibt einen berühmten Text von Kracauer, der wie kaum ein anderer die Merkmale seiner psychischen Disposition und seines Denkens zusammenzieht. Es ist der Text Erinnerung an eine Pariser Straße von 1930. Kracauer setzte ihn in der Sammlung seiner Städtebilder Straßen in Berlin und anderswo von 1964 an den Anfang, und so liegt es nahe, ihn programmatisch zu lesen. Er handelt vom „Straßenrausch, der mich in Paris immer ergreift“.26 Er setzt nicht nur das Rauschmotiv um, er zeugt nicht nur von der metaphori25
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Siegfried Kracauer: Der verbotene Blick. In: FZ, 9. April 1925. Wieder in: Schriften 5.1, S. 296–300. Ders.: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: FZ, 9. November 1930. Wieder in: Schriften 5.2, S. 143. Von der Berauschung, die der Flaneur in den Straßen erfährt, berichtet Siegfried Kracauer auch in der Theorie des Films. „Die Straße im erweiterten Sinn des Wortes ist nicht nur der Schauplatz flüchtiger Eindrücke und zufälliger Begegnungen, sondern auch ein Ort, an dem der Fluß des Lebens sich geltend machen muß […].“ Es entfalte sich „ein unaufhörlicher Strom von Möglichkeiten und nahezu ungreifbaren Bedeutungen. Dieser Strom ist es auch, der den ‚Flaneur’ so verzaubert oder ihn gar erst ins Leben ruft. Der Flaneur ist berauscht vom Leben der Straße − einem Leben, das immer wieder die Formen auflöst, die es zu bilden im Begriff ist.“ Siegfried Kracauer: Theorie des Films, Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 21993. S. 110.
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schen Sicht der Oberfläche und von der Stadt als Traumgebilde. Er ist nicht nur die Präsentation einer Hieroglyphen-Entzifferung und einer Dialektik des Erwachens. Er ist insgesamt auch eine der intensivsten Darlegungen jener Erotik zur Wirklichkeit, die Kracauers Schaffen durchzieht. Der Protagonist ist der Flaneur auf einem Streifzug im Dickicht der Stadt. Die psychische Disposition des Flaneurs, seinen Hang zur Erotik des Sehens und seine Empfänglichkeit für den Rausch, hat Benjamin in seiner Theorie der Flanerie beschrieben. „Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritt wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der Bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Maße Laubes, eines Straßennamens.“27
In diesen psychischen Zustand gerät auch der kracauersche Flaneur. Der Erzähler schildert das Erlebnis, das drei Jahre zurückliegt, im Rückblick und mit reflexiver Distanz. Damals wurde er in Paris in eine Straße verschlagen, in der er eine Begegnung von existenzieller Tragweite macht, die er jetzt überdenkt. In die Straße geriet er durch Zufall oder vielmehr im Rausch, wie er im Nachhinein räsoniert. Welcher Art ist der Rausch? „Es war eine Besessenheit, der ich nicht zu widerstehen vermochte. Von ihrer Macht legt am besten die Tatsache Zeugnis ab, daß ich es als Verrat empfand, wenn ich einmal über die Schlafenszeit hinaus in meinem Hotelzimmer blieb oder einen Abend dem Theaterbesuch opferte. Sogar die gelegentlichen Zusammenkünfte mit Frauen erschienen mir wie eine Pflichtvergessenheit, wie eine törichte Ablenkung von den Straßen, die mich ungleich stärker beanspruchten als irgendein einzelnes Mädchen. Ich genoß sie blindlings und ließ mich von ihnen verbrauchen, und kehrte ich auch stets matt von den Ausschweifungen heim, so hielt mich doch nichts davon zurück, meiner Leidenschaft am andern Tag wieder nachzugeben. Im Gegenteil: hinter dem Nebel, den die zunehmende Müdigkeit um mich verbreitete, winkten mir die Straßen nur noch verführerischer.“28
Es ist ein erotischer Rausch, dem der Flaneur verfällt. Die Straßen sind ihm eine stärkere Verführung als die Pariser Frauen, die Begegnung mit ihnen ist eine Leidenschaft, die er erlebt als Ausschweifung, die ihn ermattet und verbraucht. Sie machen ihn begierig, pflichtvergessen, leichtsinnig. Sogar grammatisch laufen dem Erzähler in seiner Schilderung die Mädchen und die Straßen in eins, so im Satz, „Ich genoß sie blindlings und ließ mich von ihnen verbrauchen”, mit dem doppeldeutigen Bezug des „sie“ und des „ihnen“.29 27 28 29
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1. S. 525. Siegfried Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: Schriften 5.2, S. 243–248. Dass Frauen einerseits ein beliebtes Objekt der Schaulust der männlichen Flaneure waren, andererseits bei Siegfried Kracauer das Verführerische der Straßen jenes der Frauen substituiert, hat Sigrid Weigel hervorgehoben. Vgl.: Dies.: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990. S. 212f. und Fußnote 6, S. 212f.
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Dass die Parallelisierung von Mädchen und Straßen und die Kennzeichnung der Flanerie als erotisch-ekstatischer Traum auf der Redaktion der Frankfurter Zeitung Anstoß erregte, muss man aufgrund einiger Briefquellen annehmen. Offenbar hatte Feuilletonleiter Friedrich T. Gubler vor der Publikation etwas in dieser Richtung verlauten lassen. Kracauer fühlte sich jedenfalls bemüßigt, den erotischen Einstieg Gubler gegenüber zu verteidigen. „Was die von Ihnen angedeutete Notwendigkeit gewisser Änderungen auf der ersten Seite betrifft, so kann ich mir mit dem besten Willen nicht denken, worum es nun eigentlich geht. Doch nicht um die Stelle, an der von ‚Zusammenkünften mit Frauen’ und ‚Ausschweifungen’ die Rede ist? Aber, mein lieber Freund: an diesem poetisch geforderten und gewiß zarten Passus Anstoß zu nehmen, dürfte doch niemandem auch nur im Traum einfallen!“30
Kracauer teilte mit, dass er durchaus nicht auf der Publikation des Textes in der FZ bestehe, er habe nur geglaubt, „aus Freundlichkeit und Loyalität der Zeitung gegenüber, Ihnen ein wertvolles Prosastück zuerst anbieten zu sollen“. Aber bestanden hätte er im Konfliktfall, dies kann man aus der Bemerkung herauslesen, sehr wohl auf den inkriminierten Formulierungen, notfalls sogar zum Preis, dass der Text nicht in der FZ erscheinen würde. So wichtig waren ihm offenbar die Anspielungen. Tatsächlich ist jener der Anstößigkeit verdächtigte Passus mehr als poetisch gefordert. Er ist dramaturgisch zwingend, geht es doch darum, die ins Existenzielle gesteigerte Intensität des erotischen Straßenrausches erfahrbar zu machen, die dem dialektischen Umschlag vorausgeht. Der Flaneur schlendert scheinbar ziellos, aber streng genommen ist er es nicht, wie sich das räsonierende Ich im Nachhinein bewusst macht. „Ich glaubte ein Ziel zu haben, aber ich hatte das Ziel zu meinem Unglück vergessen. Es war mir zumute wie einem Menschen, der in seinem Gedächtnis nach dem Wort sucht, das ihm auf den Lippen brennt, und er kann es nicht finden. Von der Begierde erfüllt, endlich an den Ort zu gelangen, an dem mir das Vergessene wieder einfiele, konnte ich nicht die kleinste Nebengasse streifen, ohne sie zu betreten und hinter ihr um die Ecke zu biegen. Wenn ich so nach allen Seiten spähte, aus der Sonne in die Schatten und wieder zurück nach dem Tag, hatte ich die deutliche Empfindung, daß ich mich, auf der Suche nach dem gewünschten Ziel, nicht nur im Raum bewegte, sondern oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang.“31
Die Stadt wird dem Flaneur zum Labyrinth, in dem das Ziel verborgen liegt. Irgendwann findet sich der Suchende in einer kleinen Straße wieder. Ihre Lage wird nur angedeutet mit dem Hinweis auf das Quartier Grenelle. Aber schon diese Andeutung und einige weitere versteckten Angaben würden genügen, um sie zu finden und den Weg des Flaneurs nachzugehen, wenn man es darauf anlegte. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Sträßchen mit dem Namen Rue 30 31
Brief von Siegfried Kracauer an Friedrich T. Gubler am 1. November 1930, DLA 95.44.3/29. Siegfried Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: Schriften 5.2, S. 243f.
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Gramme im 15. Arrondissement südlich des Eiffelturms. Man erreicht es, wenn man von der Rue du Théâtre in ein Gässchen namens Cité Thure einbiegt, an dem noch das Gebäude des Vorstadttheaters auszumachen ist, von dem der Erzähler berichtet. Dass der Name des Sträßchens im Text ausgespart wird, wie es bei vielen Örtlichkeiten in Kracauers Städtebildern geschieht, hat seine Richtigkeit. In einer Faktenreportage wäre die konkrete Verortung des Vorfalls wesentlich, in Kracauers Text ist es die Loslösung vom Ort, damit im dort und damals Vorgefallenen ein Allgemeines sichtbar wird. Der Straßenrausch hat bei Kracauer etwas Manisches, besinnungslos bis zur Selbstaufgabe gibt sein Flaneur stets der nächsten Verlockung nach, besessen jagt er von einer zur andern und verzehrt sich schon vor Sehnsucht nach der nächsten. Da stößt er am Ende der vermeintlichen Sackgasse auf die Straße hinter einem Theater. Kaum hat er sie betreten, ist er ihr Gefangener. Unsichtbare Netze halten ihn auf, Fangarme strecken sich nach ihm aus. Verzweifelt kämpft er gegen den Sog. Dann wird ihm unvermittelt Halt geboten „durch ein lebendes Bild“.32 Es ist überscharf und von unausweichlicher Gegenwärtigkeit. Der abrupte Wechsel vom erzählenden Imperfekt zum Präsens und die harte Sprachrhythmus zeigen: Das ‚Lebende Bild’ trifft den Flaneur als ‚Chock’. „Wie zur Strafe für meinen Leichtsinn stellte es sich mir in den Weg. Ich sah: ein junger Mann sitzt auf einem Stuhl mitten in einem Zimmer. Das Zimmer ist ein Hotelzimmer, dessen Fenster geöffnet sind. Es enthält ein Bett, das benutzt worden ist, einen Waschtisch und einen Schrank. Die Gegenstände harren wie angewurzelt und starren mich so aufdringlich an, als seien sie überdeutlich gemalt. Das schmutzige Waschwasser ist ein Teich ohne Abfluß, der Schrank trägt seine Kratzer und Risse schamlos zur Schau. Zu Füßen des jungen Mannes kauert ein offener halbgepackter Koffer, in den eilig Wäsche hineingestopft worden sein muß. Umringt von Mobiliar, hat der Sitzende seinen Kopf in die Hände gestützt. Der Fußboden des Zimmers kann nicht höher als das Straßenpflaster liegen. Ich stehe vor dem Fenster, das sich längst verflüchtigt hat, aber der junge Mann mit dem ungekämmten Haar beachtet mich so wenig wie seinen Koffer. Nichts ist für ihn vorhanden, ganz allein sitzt er auf seinem Stühlchen im Leeren. Er hat Angst, die Angst ist es, die ihn so lähmt […]“
Das ‚Lebende Bild’ des jungen Mannes im Hotelzimmer ist die allegorische Darstellung der Melancholie, wie sie in Albrecht Dürers Melancholia I tradiert ist: die Haltung des Mannes, der in die Hände gestützte Kopf, sein zum Boden gerichteter Blick, sein wirres Haar, seine Einsamkeit, seine Lähmung und seine Interesselosigkeit, die Verbindung von Schmerz, Müdigkeit und Grübelei. Und auch was ihn umgibt, entstammt in verschobener Form dem Bildinventar der Melancholie-Allegorie. Möbel und Dinge im Hotelzimmer erscheinen verlebendigt, kauern wie Tiere am Boden und gemahnen an den 32
Dass Siegfried Kracauer den Begriff des ‚Lebenden Bildes’ einbaut, ist ein Hinweis darauf, das Bild gemäß der Tradition des ‚Lebenden Bildes’ als Allegorie zu lesen. Hinweise auf ‚Lebende Bilder’ finden sich auch in: Empfang in den Dolomiten. In: Frankfurter Turmhäuser. S. 233. Und in: Baskische Küste. Ebd., S. 267.
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schlafenden Hund auf Dürers Kupferstich. Das schmutzige Waschwasser ist ein Teich ohne Abfluss wie in der Vorlage das Meer am Horizont, das nicht nur das Unergründliche meint, sondern auch die Neigung des Melancholikers, weite Reisen zu unternehmen. Und wie in Dürers Bildprogramm die Gerätschaften des tätigen Lebens − Hobel, Säge, Lineal − ungenutzt am Boden liegen und zu Gegenständen des Grübelns werden, so liegen die Habseligkeiten des Reisenden unberührt im Hotelzimmer.33 Man muss nicht zögern, das ‚Lebende Bild’ des jungen Mannes als Kontrafaktur des Bildprogramms in Dürers Kunstwerk zu lesen. Kracauer hat die Konstruktion der Melancholia und die Bedeutung der Requisiten en détail gekannt − von Benjamin. Dessen Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels, in der unter anderem der Code der Melancholia entschlüsselt wird, hatte Kracauer 1928 in der FZ rezensiert,34 und sie hat sein Verständnis der Allegorie stark beeinflusst. Schließlich vermag sich der Erzähler loszureißen. Er schlägt sich zur Verkehrsstraße durch und taucht in den vertrauten Tumult, aber der erotische Rausch mag nicht mehr gelingen, weil ihn das Bild des jungen Mannes verfolgt. Ein Autoreifen zerplatzt und bringt ihn zur Besinnung. Von nun an versucht das räsonierende Ich, die rationale Rekonstruktion des verstörenden Eindrucks zu leisten, den die schockhafte Begegnung hinterlassen hat. Die Straße und ihre Bewohner, waren es am Ende nur „Erscheinungen, die sich aus meinem eigenen Zustand erklärten?“, fragt sich der Erzähler, ahnend dass der junge Mann eine Spiegelung seines Seelenzustands war. Den Prozess des Erwachens empfindet er als steigende Verwirrung seines gesichert geglaubten Selbstwahrnehmungsmusters. Sie drückt sich in einem Irrgang durch die umliegenden Straßen aus, auf dem sich der Tumult der Stadt mit dem Tumult der Gedanken und Empfindungen trifft. Am Ende steht der Erzähler wieder am Ausgang der Straße, um sie erneut, diesmal in umgekehrter Richtung, zu durchmessen und sich ein zweites Mal, bewusster vielleicht, mit dem Bild zu konfrontieren. Als Sinnbild ist es von der Zeit unberührt geblieben. Die Straße hat nun etwas von ihrer Bedrohlichkeit verloren und erscheint real, die Fenster glänzen, die Mauer des Hotelgebäudes ist fest und aus Stein. Aber den Vorfall zu durchschauen, gelingt dem Erzähler erst drei Jahre später, und auch dann 33
34
Zum Bildprogramm der Melancholie-Allegorie vgl.: Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 21982. S. 119–127. Zur Bedeutung des schlafenden Hundes bes. S. 131f. Nach der Überlieferung beherrscht die Milz den Organismus des Hundes. Dies hat er mit dem Melancholiker gemein. Böse Träume sollen aus der Milz kommen, und entartet dieses zarte Organ, soll der Hund seine Munterkeit verlieren oder der Tollwut verfallen, der beim Menschen die Manie entspricht. Hinzu kommen Spürsinn und Ausdauer des Hundes, denen das Forschen und Grübeln des Melancholikers entspricht. Hinweise auf die Melancholie-Allegorie als Bedeutungshintergrund der Textstelle finden sich in: Mülder: Grenzgänger. S. 82ff, sowie in: Heinz Brüggemann: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt a. M. 1989. S. 293ff. Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins. In: FZ, 15. Juli 1928. Wieder in: Schriften 5.2, S. 119–124.
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noch nicht ganz. In der Rekonstruktion wird deutlich: Im Moment der Begegnung mit dem ‚Lebenden Bild’ gelangte der Flaneur unversehens an den Ort, an dem ihm das Vergessene wieder einfällt, das zu finden er sich in den Rausch der Straße begeben hatte. Was er als Vergessenes bezeichnet hatte, war in Wirklichkeit ein Verdrängtes. Und was er als begierige Suche nach dem Vergessenen bezeichnet hatte, war der Versuch, das Verdrängte nicht hochkommen zu lassen. Die Selbstbegegnung im Bild des jungen Mannes ist der Schlüsselreiz, in dem das Verdrängte durchbricht: die Einsicht, trotz aller Lust am Rausch der Stadt ein Dasein im Zustand der Melancholie zu führen. Die Schwermut ist nach Freud die innere Verfassung, die sich einstellt beim Verlust des Liebesobjekts und einer nicht wieder gelingenden Besetzung. Melancholie sei die Auswirkung einer ziellos irrenden Wunsch- und Liebesenergie, die weder Bild noch Gegenstand finde, bei denen sie zur Ruhe und zum Ausgleich von Wunsch und Erfüllung komme. Der Melancholiker habe den Verlust des Liebesobjekts durch „narzisstische Identifikation“ mit ihm zum unbewussten Bestandteil seiner selbst gemacht und die Verlusterfahrung zum Modus einer Lust am eigenen Ich, das sich in „genussreicher Selbstquälerei“ reproduziert.35 Der Affekt der Melancholie tendiert nach Freud dazu, in den Affekt der Manie umzuschlagen, so dass Melancholie und Manie sich zwar gegensätzlich äußern, in der Psyche jedoch einen gemeinsamen Grund haben: den Verlust des Liebesobjekts. Die Begegnung des Flaneurs mit dem Mann im Zimmer erscheint somit als umgekehrte Spiegelung der selben Verfassung: drinnen jener, der ob seines Schmerzes über seinen Verlust ins Grübeln, in Einsamkeit und Lähmung verfallen ist und sich von der Objektwelt zurückgezogen hat; draußen jener, der vor dem Schmerz Tag für Tag in die Straßen flüchtet und sich in ekstatischer Selbstaufgabe mit stets neuen Liebesobjekten zu verbinden trachtet. Der Affekt, mit dem diese Erkenntnis ins Bewusstsein tritt, ist Angst − der Flaneur erlebt sie physisch in der Straße und projiziert sie in sein umgekehrtes Ebenbild im Hotel. Welches ist nun das Liebesobjekt, das dem Flaneur abhanden gekommen ist und ihn in die erotische Straßenmanie bzw. in die Melancholie treibt? Dies lässt der Text in seltsamer Weise offen, ja es scheint, als vermeidet es Kracauer mit Absicht, die Frage einer eindeutigen Antwort zuzuführen. Noch das Postskriptum gleitet in den Bilderraum und verweigert eine Fixierung. Immerhin stellt es die Abhandlung in einen historisch-gesellschaftlichen Rahmen und verdeutlicht so, dass sie mehr sein will als der Selbsterfahrungsbericht einer manisch-depressiven Persönlichkeit. Jede Straße habe ihre Geschichte, und diese sei nicht vergangen, sondern lebe weiter, als sei sie von heute.
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Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Werke, Studienausgabe Bd. III, Psychologie des Unbewussten. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a. M. 21975. S. 193–212.
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„Vielleicht rührt es daher, daß […] in Paris die Gegenwart den Schimmer des Vergangenen hat. Während man noch durch die leibhaftigen Straßen wandelt, sind sie bereits entfernt wie Erinnerungen, in denen sich die Wirklichkeit mit dem vielstöckigen Traum von ihr mischt und Abfälle und Sternbilder sich treffen.“36
Die Stadt erscheint als vielschichtiger Traum, in dem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfließen und das Kommende vorgeträumt werden könnte. Die geträumte Stadt wäre eine Erinnerungsspur im gesellschaftlichen Unbewussten und ein Zusammenhang, der einer gemeinsamen Sehnsucht entspränge. Und das verlorene Liebesobjekt wäre dies: die utopische Stadt, die den Menschen eine Seelenheimat wäre. Sie zu gewinnen ist weder dem Manischen noch dem Melancholiker gegönnt − vielleicht nur dem Träumenden. Die utopische Stadt hat zwei Gegenbilder: Das eine ist die Goldgräberstadt wie der Kurfürstendamm im Text Straße ohne Erinnerung, diese „Verkörperung der leer hinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag“37, und alles, nach einem Augenblick intensivster Gegenwart, ohne Spur im Nichts verschwindet. Das zweite Gegenbild ist die Geisterstadt, die sich nicht mehr wandelt, sondern aus der Zeit gefallen ist. Kracauer hat eine solche Geisterstadt gefunden: La ville de Malakoff, eine Proletariervorstadt im Süden von Paris, „eine Müllgrube von einem Ort, […] der Vergessenheit preisgegeben“. Dieser Ort ist Niemandsland in einer Niemandszeit, um den sich niemand schert. „Der Betrieb, der Leben heißt, hat Malakoff den Rücken gekehrt, und nun fristet es das Dasein jener zahllosen Pariser Hinterhöfe, auf die nur blinde Abortfenster starren.“ Kracauer konstruiert diesen Ort als Stätte der Melancholie, indem er ihn als ein Stein gewordenes Abbild der Melancholie beim Menschen beschreibt. „Menschen, die der Melancholie erlegen sind, sinken aus dem erfüllten Raum in eine Leere von unbestimmbaren Dimensionen. Da sie sich den Zusammenhängen der Oberfläche und der Wirklichkeit entzogen haben, stehen die Erinnerungen in ihnen beziehungslos neben dem Gegenwärtigen, und aus der Perspektive der Schwermut entstellt sich ihnen die Welt. Malakoff ist von der Verlaßenheit gezeichnet. Es ist keine Stadt, sondern ein Komplex, eine Ansammlung von Stücken und Teilen, die der gemeinsamen Absicht entraten. Sie sind ein Rinnsal verschrobener Erscheinungen, aus dem Trübsinn geflossen und lungern in loser Vereinzelung umher.“38
Malakoff ist der Hohlraum der Melancholie, der immer neue Kurfürstendamm in Straße ohne Erinnerung der Raum der Manie. Beide Orte sind entleerte Wirklichkeiten. Und der Melancholiker wie der Manische sind Suchende, die nicht ankommen, weil die Stadt, der ihre Liebe gälte, in der Moderne verschwunden ist und nur noch eine utopische sein kann. Der Melancholiker und 36 37 38
Siegfried Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: Schriften 5.2, S. 247f. Ders.: Straße ohne Erinnerung. In: Schriften 5.2, S. 170. Ders.: La ville de Malakoff. In: Schriften 5.2, S. 22.
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der Manische leiden beide am Wirklichkeitsverlust der Moderne. Der eine entzieht sich grübelnd der Wirklichkeit, der andere veräußert sich besinnungslos an sie. Aber beide trachten danach, in der „atomisierten unwirklichen Welt der gestaltlosen Kräfte und der des Sinnes baren Größen“39 die Flamme ihrer Sehnsucht wachzuhalten, „bis endlich einmal der Genius erscheint, der durch seine Tat diese unsere aus den Fugen gegangene Welt von dem Fluche der Sinnlosigkeit erlöst.“40 Wie sehr Wirklichkeitsverlust und Melancholie zusammenhängen, hat Kracauer in einem weiteren, in der Rezeption weitgehend unbeachteten Text dargestellt. Er trägt den Titel Akrobat − schöön und handelt vom Versuch zweier Clowns im Zirkus, eine Brücke zu bauen. Das Komische daran ist, dass die Brücke auf lauter Umwegen zustande kommt, die wichtiger sind als das Ziel selbst. Am Ende ist sie ein belangloses Nebenprodukt vielerlei Aktionen, und gerade dies ist der Ansatzpunkt für Kracauer. Es gebe keine echte Clownerie, die nicht die Bestimmung hätte, die herkömmlichen Verhältnisse umzukehren, die gewohnte Ordnung zu bagatellisieren und die scheinbare Bagatelle in die Mitte zu rücken. Durch Vertauschung der Proportionen lasse der Clown die Zweideutigkeit menschlichen Tuns offenbar werden. Babylonische Türme und andere Heldentaten umgeben sich mit Glanz, doch sie sind die Hauptsache nicht. Jene Taten, die das Leben wirklich ausmachen, stehen in ihrem Schatten. Diese ins rechte Licht zu rücken und die Haupt- und Staatsaktionen zu entwerten, ist laut Kracauer die zutiefst dialektische Mission der Clownerie. „Während die angebliche Hauptsache von allen geglaubt und gepriesen wird, nimmt die echte Hauptsache, die, auf die unser Leben wirklich bezogen ist, in der Welt den Charakter der Unscheinbarkeit an, der niemand so leicht Beachtung schenkt. Jene um dieser willen zu entthronen, ist daher eine Aufgabe, deren Bewältigung mitten in die Melancholie hineinführt, wenn sie nicht gerade die Komik heraufbeschwört. Nicht umsonst sagt man den Clowns nach, daß sie melancholisch seien. Melancholie und Komik sind nur zwei Ausdrucksformen desselben Verhaltens, das sie so notwendig bedingt, daß die eine ohne die andere kaum bestehen kann.“41
Wer sich also der Aufgabe stellt, die verschobenen Werte „wichtig“ und „unwichtig“ zurecht zu rücken und das Nebensächliche ins Recht zu setzen, fällt der Melancholie anheim. Weshalb? Weil man bei diesem Tun gewahr wird, wie sehr die Wirklichkeit einem abhanden gekommen ist, wie rabiat einem unwichtige Phantomgebilde aufgezwungen werden und wie sehr man sich verbraucht darin, den nur vermeintlich wichtigen Dingen nachzujagen. Im zitierten Abschnitt aus dem Clown-Text, unschwer ist es zu erkennen, spricht Kracauer von sich selbst. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, „die 39 40 41
Ders.: Die Wartenden. In: Schriften 5.1, S. 169. Ders.: Georg von Lukács’ Romantheorie In: Schriften 5.1, S. 123. Ders.: Akrobat – schöön. In: FZ, 25. Oktober 1932. Wieder in: Schriften 5.3. Frankfurt a. M. 1990. S. 127–131, hier S. 129.
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Bedeutung von Bereichen herauszuschälen, deren Anspruch, um ihretwillen anerkannt zu werden, noch nicht Genüge geschah“.42 Es ging ihm darum, den unscheinbaren Dingen zu ihrem Recht auf Beachtung zu verhelfen gegenüber dem angemaßten Recht der vermeintlich wichtigen. Nimmt man nun seine Analyse der Clownerie beim Wort, ist es nicht verwunderlich, dass in vielen seiner Texte die Grundstimmung der Melancholie mitschwingt. Und auch sein Hang zur Komik, wie er am ausgeprägtesten in Ginster zum Ausdruck kommt, findet von daher seine Erklärung.
6. Reportage? – Nein: Denkbild! Kracauer verstand sich während der zwölf Jahre bei der FZ als dokumentarischer Autor. Und er arbeitete bewusst darauf hin, einen neuen Typus dokumentarischen Schreibens zu etablieren. „Ein wesentlicher Teil der Zeitungsartikel wird nach einheitlichen Gesichtspunkten verfaßt“43, schrieb er an Adorno. Auch sein Briefwechsel mit Ernst Bloch um 1926 zeugt davon, dass er mit seinem „Ansatz beim Materiellen und Äußerlichen“44 und mit seinem Weg „durch den planen Materialismus hindurch“45 etwas Neues in den Kanon der dokumentarischen Zeitungstexte bringen wollte, das mit dem „rüden Faktenund Raportierkram“,46 wie er ihn vorfand, nichts gemein haben sollte. Seine neue Form war das Denkbild. Der Begriff stammt von Benjamin, und womöglich ist gerade das der Grund, weshalb Kracauer ihn nie für sich in Anspruch nahm, obwohl gerade die Bezeichnung „Denkbild“ das Spezifische seiner journalistischen Texte knapp und plastisch ausdrückt.47 Benjamin dürfte bei seiner Beschäftigung mit der barocken Allegorie auf den Ausdruck gestoßen sein, der, konsultiert man die Wortgeschichte, „Idee“ oder „Emblem“ bedeutet. Dem Denkbild liegt die Theorie des „dialektischen Bildes“ zugrunde, wie sie Benjamin im Passagen-Werk mit Blick auf den Historiker formulierte. „Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige,
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Ders.: Geschichte − Vor den letzten Dingen. Schriften 4, S. 16. Brief von Siegfried Kracauer an Theodor W. Adorno vom 1. August 1930, DLA 72.1119/6. Brief von Siegfried Kracauer an Ernst Bloch vom 27. Mai 1926, DLA 72.1192/1. In: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1985. S. 274. Brief von Siegfried Kracauer an Ernst Bloch vom 29. Juni 1926, DLA 72.1192/2. Ebd., S. 283. Walter Benjamin: Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, ‚Die Angestellten’. In: Ders.: Gesammelte Schriften 3. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972. S. 219–225, hier S. 225. Benjamins ‚Denkbilder’ erschienen unter dem Pseudonym Detlev Holz zuerst in der FZ, 15. November 1933; wieder in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften 4.1, S. 305–438.
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worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.“48
Die Paradoxie einer Dialektik im Stillstand erläutert Benjamin so: „Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.“49
Übertragen auf die Aufgabe des Journalisten hieße dies: Er trägt das Bild aus den Bruchstücken der Wirklichkeit zu einer Konstellation zusammen und lädt es in der Beschreibung selbst mit dialektischer Spannung auf. Das so konstruierte Bild steht dem Leser schließlich als ein Ausschnitt des gesellschaftlichen Verlaufs vor Augen, und in einer „messianischen Stillstellung des Geschehens“50 wird die Wirklichkeit für einen Augenblick blitzhaft erhellt.51 Dies geschieht im Denkbild. Heinz Schlaffer kommt das Verdienst zu, die Bezeichnung „Denkbild“ für Kracauers journalistische Arbeiten verfügbar gemacht zu haben. Er erkannte richtig: „Jene Doppeltheit von Gedanke und Anschauung kommt darin zum knappsten Ausdruck“.52 Schlaffer ging allerdings in die Irre bei seinem Versuch, anhand von Texten von Kracauer, Brecht, Bloch, Benjamin und Adorno eine Poetik des Denkbildes zu skizzieren. Zu stark vertraute er dem etymologischen Wegweiser. Weil im Emblem ein gegenständlicher Weltausschnitt, die „pictura“, mit einer ideellen Auslegung, der „subscriptio“, verbunden wird, meinte Schlaffer auch in der aktualisierten Form des Denkbildes eine deutliche Trennung zwischen Beobachtung und Gedanken, zwischen Anschauung und Reflexion festzustellen. Das konkrete Phänomen wird in seiner Interpretation nur beigezogen, um der theoretischen Reflexion den Ansatzpunkt zu bieten. Die Theorie dominiere und reduziere im Prozess „das Einzelne, Konkrete aufs Allgemeine, Abstrakte“, behauptete er. Er sieht „eine scharfe Grenze, die das Denkbild zwischen der Anschauung des Konkreten und der Reflexion des Gesehenen zieht“, und glaubt, dass die „‚Anschaulichkeit’ lediglich die Funk-
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Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd 1. S. 578. Ebd., S. 595. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften 1. Frankfurt a. M. 1972ff. S. 701. Gerwin Zohlen hat Siegfried Kracauers Städtebilder „Prozeduren des dialektischen Bildes“ genannt, „Prozeduren, insofern er die Raumbilder in seinen Texten zusammenträgt, um sie im literarisch-ästhetischen Prozess − in der Konstruktion und Formulierung − zugleich zu deuten“. Vgl.: Zohlen: Text-Straßen. In: Text + Kritik. S. 68. Heinz Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland: Hg. v. Wolfgang Kuttenheuler. Stuttgart u.a. 1973. S. 137–154, bes. 142–147.
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tion hat, auf die Wahrheit zu verweisen, die − ihres eigenen Zusammenhangs gewiß − das Bild nun als bloßes Beispiel hinter sich lassen kann“. Die poetologische These der „deutlichen und wesentlichen Zweiteilung des Denkbildes“ ist jedoch problematisch.53 Tatsächlich lässt sich in Kracauers Texten nirgends festmachen, was denn nun Anschauung und was Reflexion ist, und erst recht nicht, wo die scharfe Trennung verläuft. Nicht minder fragwürdig ist Schlaffers zweite These, wonach das konkrete Phänomen erst in der theoretischen Deutung wirklich werde. Er glaubt, „daß erst Reflexion das Konkrete konstituiert; sie verhindert, daß der Fall, als Geschichte verkleidet, von der Wirklichkeit zur Poesie überläuft“. Fixiert auf die Vorstellung, theoretische Erkenntnis stehe vor der konkreten Anschauung, verkennt Schlaffer die zentrale Eigenart des Kracauerschen Denkbildes: Es geht gerade nicht um die „Reduktion des Einzelnen, Konkreten aufs Allgemeine, Abstrakte“,54 gerade nicht um die Illustration des Allgemeinen durch das Besondere. Denkbilder wollen gerade nicht „Exempel irgendeiner Theorie“55 sein. Das Denkbild ist vielmehr anschauliche Reflexion und reflektierte Anschauung in einem. In ihm verschmelzen, wie es der zusammengezogene Begriff sinnfällig zeigt, beide Erkenntnisweisen. Die Gestaltung ist theoriegesättigt, die Theorie geht in der Gestaltung auf. Erkenntnis und Erfahrung, Reflexion und Anschauung, Gehalt und Gestalt, oder wie die Antinomie auch immer benannt wird, durchdringen einander. Wo sie sich aufs äußerste steigern, schießt die materielle Realität zum bedeutungsvollen Bild zusammen. Schlaffer ließ bei seinem poetologischen Versuch zum Denkbild offenbar vor allem Adorno Pate stehen. Nur so lässt sich erklären, weshalb er das Denkbild als Prozedur verstehen kann, in der sich die Theorie in der Empirie bloß ihrer Stimmigkeit vergewissern geht und sich im Konkreten ihre Anschaulichkeit holt. Gerade Kracauer hat dem am deutlichsten widersprochen. So gewinnt Schlaffer seine fragwürdige Charakterisierung des Denkbildes in einer falschen Wahrnehmung des Kracauerschen Verfahrens, wie schon Adorno Kracauers Verfahren verkannte. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, wie Adorno Kracauer im Aufsatz über den „wunderlichen Realisten“ vorhielt, er habe sich jener Aufgabe entzogen, „an die sein Bewußtsein von der Nichtidentität der Sache mit ihrem Begriff dicht ihn heranführte: den Gedanken aus dem ihm Widerspenstigen zu extrapolieren, das Allgemeine aus dem Extrem der Besonderung“. Kracauer habe sich der Theorie verweigert und sich mit der genauen Fixierung des Besonderen beschieden: „Im Zeichen ihrer Undurchdringlichkeit läßt sein Gedanke die Realität, an die er erinnert und die er durchdringen sollte, stehen. Von da bietet sich ein Übergang zu ihrer Rechtfertigung als der des Unabänderlichen an. […] In dem Blick, der an die Sache sich festsaugt, ist bei Kracauer anstelle der Theorie immer schon er 53 54 55
Vgl. Mülder: Grenzgänger. S. 103ff. Schlaffer: Denkbilder. S. 144. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 207.
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selber da. Das Ausdrucksmoment gewinnt Übergewicht über die Sache, der die Erfahrung gilt.“56
Adorno nahm Kracauers Beharren auf der irreduziblen und unauflöslichen Besonderheit der Phänomene gegenüber der unterwerfenden Macht der Theorie nicht als eine wohlbegründete Position wahr. Er sah sie nur als Verstocktheit des vertrackten Individualisten und als Versagen vor der angeblich einzig wirklichen philosophischen Aufgabe, die allgemeine Theorie aus dem Besonderen zu extrapolieren. So klebte Adorno Kracauers Position das Etikett des Subjektivismus und der Affirmation an. Kracauer ging es aber nicht darum, sich vom Einzelnen zum Allgemeinen aufzuschwingen. Das Konkrete sollte gerade nicht nur auf eine Weltsicht verweisen, die ihrer eigenen Stimmigkeit von vornherein gewiss ist und sich das Bild als bloßes Beispiel subsumieren kann. Es lag Kracauer vielmehr gerade daran, das Konkrete vor der Vereinnahmung durch die Theorie zu schützen und es in seinem Eigensein zu bewahren, auch dort, wo in ihm das Besondere eines Allgemeinen erkannt wird. Es ging ihm um „materialistische Interpretationen im konkreten Material“57, um ein „erfahrendes Denken“,58 um ein Denken in der Sache über die Sache, um ein, wie er es selbst nannte, im wirklichen Wortsinn „konkretes Denken“59. Dass es dieses Streben ist, das im Denkbild die ihm gemäße Form fand, entgeht jedem, der von einer „Präexistenz der Theorie gegenüber dem Text“, einer „Subsumtion des Einzelfalls unter das generelle Gesetz“60 und der „Reduktion des Einzelnen, Konkreten aufs Allgemeine, Abstrakte“ ausgeht. Vielmehr durchdringen sich im Denkbild Anschauung und Reflexion in der Sache selbst. In der Darstellung wird das Sinnliche vergeistigt und das Geistige versinnlicht. So ist das Denkbild jene Form, in der die Wirklichkeit beredt wird und etwas Allgemeines aufscheinen lässt, ohne dass sie aufhört, konkret und besonders zu sein. In der spezifischen Form des Denkbildes wird die Wirklichkeit entschleiert und bewahrt.61 56
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Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1980. S. 83–108, hier S. 90 und 92. Siegfried Kracauer: Oktoberrevolution. Revolutionärer Realismus. In: Deutsche Republik. Jg. 7 (1932/33), H. 19 (5. Februar 1933). Wieder in: Schriften 5.3, S. 201. Mülder: Grenzgänger. S. 16. Diesen Denkgestus bezeichnete Mülder zurecht als die Klammer, die die Einheitlichkeit des Kracauerschen Werkes erkennen lässt, eines Werkes, „das nicht aus der Bindung an ein theoretisches Bezugssystem oder der Fixierung auf ein Thema resultiert, sondern aus der unablässigen Anstrengung um ein erfahrendes Denken, das die Phänomene unserer Lebenswirklichkeit in ihrer Besonderheit angemessener zu erfassen vermag als ein im herkömmlichen Sinn theoretisches.“ Siegfried Kracauer: Gestalt und Zerfall. In: Schriften 5.1, S. 326. Schlaffer: Denkbilder. S. 140ff. Siegfried Kracauer in einem Brief an Ernst Bloch am 29. Juni 1926, DLA 72.1192/2. In: Bloch: Briefe 1903–1975, Bd. 1, S. 281ff.: „Gerade das Entschleiern und Bewahren zusammen erscheint auch mir als das von einem letzten Aspekt aus Geforderte, und als das große Motiv dieser Art von Geschichts-Philosophie würde ich das Postulat ansprechen, daß nichts je vergessen werden darf, und nichts, was unvergessen ist, ungewandelt bleiben darf. Das Motiv der Verwandlung spielt für mich eine entscheidende Rolle.“
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Um sich restlos sicher zu sein, dass dem so ist, braucht man sich nur die vorhin dargestellten Verfahrensweisen zu vergegenwärtigen. Analyse der unscheinbaren Oberflächenäußerungen, Deutung des unbewussten Traumbildes, Entzifferung von Symbolen, Metaphern, Gleichnissen, von Personifizierungen, lebenden Bildern und Allegorien, Zusammenführung von Wirklichkeitspartikeln in der Montage − immer geht es darum, im Bild selbst denkend, dessen Gehalt zu enthüllen und es zugleich der Erfahrung zu erhalten. Kracauer war überzeugt, dass seine Methoden mehr als die gängigen Verfahren fähig seien, die Wirklichkeit, so wie er sie verstand, zu erfassen und darzustellen. Entsprechend rabiat schaltete er sich in die Debatte ein, die damals um die Frage entbrannt war, welches die angemessenen Verfahren zur Beschreibung der Wirklichkeit seien. Die Herausgabe seiner Aufsatz-Sammlung Die Angestellten nahm er 1929 zum Anlass, deutlich seine Position zu markieren. Als Reportagen, wie sie der Boom neusachlicher Realitätsschilderung in den 20er und 30er Jahren hervorbrachte, wollte er seine Aufsätze nicht missverstanden sehen. So hielt er im ersten Text der Serie − in dieser Ausdrücklichkeit das einzige Mal − sein Credo fest und entwarf sein Programm in Abgrenzung zur Reportage. Es gehe ihm darum, die Wirklichkeit der Angestellten in Berlin zu erfassen. „Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? Seit mehreren Jahren genießt in Deutschland die Reportage die Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf.“62
Hier stimmte Kracauer in den Chor jener Schriftsteller ein, die sich damals ziemlich eintönig und undifferenziert gegen die Reportage als Inbegriff der neusachlichen Literatur wandten. Den dokumentarischen Berichten wurde insgesamt Perspektivlosigkeit und bloße Konstatierung isolierter, für sich belangloser Fakten vorgeworfen. Joseph Roth fällte das Urteil stellvertretend, als er der Reportageliteratur entgegenhielt, sie sehe das Ziel schriftstellerischer Arbeit mit der genauen Beobachtung der Tatsachen bereits erreicht, wo dies doch erst ihre Voraussetzung sei, und sie verwechsle die pure Faktizität mit der Wirklichkeit.63 Dass Kracauer sich in diese Kritik einreiht, ist also nicht originell, und die pauschale Aburteilung der Reportage zeugt auch von einer Unterschätzung dessen, was die Reportage als neue Form der Annäherung an die Wirklichkeit damals tatsächlich leistete. Originell hingegen ist, dass er die Reportage nicht wie üblich in jener Zeit als Resultat einer Rückbesinnung auf die Nüchternheit nach den Exzessen des Expressionismus interpretierte, sondern in erster Linie als Reaktion auf das auslaugende Denken des Idealismus. Diese Sicht ist, denkt man an seine alte Aversion, typisch Kracauer und inso62 63
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216. Joseph Roth: Schluß mit der Neuen Sachlichkeit! In: Ders.: Das journalistische Werk. Bd. 3, 1929–1939. Frankfurt a. M. 1994. S. 153–164.
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fern eine Frucht seines einzelgängerischen Denkens. Woher rührt also laut Kracauer der neusachliche Reportageboom? „Ein Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernährung durch den deutschen Idealismus ist. Der Abstraktheit des idealistischen Denkens, das sich durch keine Vermittlung der Realität zu nähern weiß, wird die Reportage als die Selbstanzeige konkreten Daseins entgegengesetzt. Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. Sie ist ein legitimer Gegenschlag gegen den Idealismus gewesen; mehr nicht. Denn sie verliert sich nur in dem Leben, das dieser nicht finden kann, das ihm und ihr gleich unnahbar ist.“64
Diese Interpretation der literarischen Reportage geht nahtlos aus Kracauers eigener philosophischer Problemstellung hervor, wie sie zu Beginn dargelegt worden ist. Die Zeit erfordere, das im Idealismus groß gewordene deutsche Denken seiner Formalität zu entreißen und es „mit der Nase aufs Konkrete zu stoßen“. Kracauer forderte, und das ist ganz wörtlich zu verstehen, eine „Hingabe an die Sache.“ „Arbeit im Material: das ist gerade in Deutschland eine richtige Parole. Denn der deutsche Geist, der durch den Idealismus der Berührung mit dem Konkreten entfremdet worden ist, verliert sich entweder gern in den Wolken oder begnügt sich mit einer Spezialistentätigkeit ohne Horizont. So ist es gewiß nützlich, ihn zu veranlassen, dass er in die Sachen hineinlausche.“65
Die gleiche geistige Mangellage, welche aus Kracauers Sicht die neusachliche Reportage hervorbringt, treibt auch ihn selbst in die gesellschaftliche Wirklichkeit hinaus: Auch er leidet unter dem Realitätsverlust, auch er teilt die Sehnsucht nach dem konkreten, unmittelbaren Leben, auch er arbeitet mit an der Wiederentdeckung des Alltags als literaturfähiges Thema, auch er treibt die Politisierung der Literatur im Dienste gesellschaftskritischer Aufklärung voran, auch er bahnt der Ausweitung des Literaturbegriffs auf nicht-fiktionale, journalistische Texte den Weg. Indem er jedoch die Reportage nicht als Reaktion auf den Expressionismus, sondern als zwar legitimen, aber unzureichenden Befreiungsversuch vom idealistischen Denken analysiert, geht er über den Realismus seiner Zeit hinaus. Die Reportage folgt aus seiner Sicht mit ihrer Hinwendung zum Konkreten zwar dem Gebot der Stunde und erschließt inhaltlich Neuland. Aber sie bleibt ohnmächtig, da sie bloß das an der Oberfläche Beobachtbare konstatiere, statt den Stoff methodisch zu durchdringen. „Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein 64 65
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216. Siegfried Kracauer: Philosophische Brocken. In: FZ, 23. Oktober 1931. Wieder in: Berliner Nebeneinander. S. 205.
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in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben: ein solches Mosaik wäre sein Bild.“66
Aufschlussreich ist diese Stelle aus dem Jahr 1930 nicht nur, weil in ihr jene berühmt gewordene Bemerkung Brechts von 1932 ausformuliert ist, wonach eine Fotografie der Kruppwerke nichts über deren Wirklichkeit aussage, da ihre „eigentliche Realität […] in die Funktionale gerutscht“ sei.67 Aufschlussreich ist die Stelle vor allem deshalb, weil in ihr Kracauers methodisches Credo aufscheint. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“68 ist einer der meistzitierten Sätze Kracauers, wahrscheinlich wegen der Suggestion, die von seiner scheinbaren Eindeutigkeit herrührt. Eindeutig ist er nicht. Er hat zwar ein glattes Äußeres, aber was er impliziert, ist erkenntnistheoretisch problematisch und hat weitreichende Folgen, die, wie später dargelegt wird, seinem Urheber wohl nicht ganz bewusst waren. Zunächst zur offensichtlichen Aussage des Satzes, die zu Kracauers Zeit schon avantgardistisch genug war: Die gesellschaftliche Wirklichkeit, so wie sie sich dem Betrachter zeigt, ist aus Kracauers Sicht konstruiert, künstlich hergestellt durch strukturbildende, in der Tiefe der Gesellschaft wirkende Kräfte. Der Reportage wirft er unter Rückgriff auf den schon standardisierten Vergleich mit der Fotografie vor, bloß ein mimetisches Abbild der Oberfläche zu liefern. Indifferent gegenüber den optisch wahrnehmbaren Einzelheiten wie der Fotoapparat, halte die Reportage mehr oder minder zufällige Beobachtungen fest, die für sich nichts besagen. „Man beschreibt die Realität, statt ihren Konstruktionsfehlern auf die Spur zu kommen: man weicht ins Ästhetische aus und versäumt dabei, die aufs Handeln gerichteten Kräfte zu mobilisieren: man treibt Metaphysik, wo man in die Ökonomie hineinsteigen sollte usw. Immer dieselbe Geschichte.“69
Auch der größer angelegten ‚sozialen Romanreportage’ spricht Kracauer die Potenz ab, die Realität zu erfassen. „Denn die als Roman aufgeputzte gesellschaftskritische Zustandsschilderung, die seit etlichen Jahren bei uns gepflegt wird, ist eine unfruchtbare Mischform“70, die weder wissenschaftlichen noch 66 67
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Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216. Die Stelle bei Brecht lautet: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je die einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen’, etwas ‚Künstliches’, ‚Gestelltes’. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.“ Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst 1. Zürich 1977. S. 161f. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216. Ders.: Der ‚operierende’ Schriftsteller. Zu Tretjakows Buch: Feld-Herren. In: FZ, 17. Februar 1932. Wieder in: Schriften 5.3, S. 28. Ders.: Zu einem Roman aus der Konfektion. Nebst einem Exkurs über die soziale Romanreportage. In: FZ, 5. Juni 1932. Wieder in: Schriften 5.3, S. 75–79.
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ästhetischen Ansprüchen genüge. Entstanden aus dem Bedürfnis, Wissenschaft zu verlebendigen und so besser zwischen ihr und dem Leben zu vermitteln, versage die soziale Romanreportage in beiderlei Hinsicht. Sie gebe die genaue wissenschaftliche Begrifflichkeit preis und entwerfe ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, das sich nicht kontrollieren lasse, ja „sie verzichtet auch von vornherein, eben um der Romanhaftigkeit willen, auf die substanzielle Durchdringung des Stoffes.“ Damit hinke sie der Wissenschaft hinterher und stehe an dokumentarischem Wert weit hinter der exakten Analyse zurück, ohne dass sie auf der anderen Seite des konkreten Lebens wirklich habhaft würde. Die Romanreportage lasse die Zustände nicht aus der epischen Gestaltung hervorgehen, sondern benutze das konkrete Dasein lediglich zur Verlebendigung eines Stoffes, der in einer systematischen Abhandlung treffender dargestellt werden könnte. „Die meisten der hier gemeinten Romanreportagen leiden an dem Gebrechen der Scheinkonkretheit. Ihre Situationen sind von einer bestimmten abstrakten Auffassung her konstruiert und müßten doch von Rechtswegen auf sie hinweisen; ihre Menschen sind keine wirklich erfahrenen Menschen, sondern Puppen, die zur Verdeutlichung der Tendenz ins kahle Konstruktionsgerippe eingesetzt und mit der an der betreffenden Stelle fälligen Erkennungsmarke versehen werden.“ Laut Kracauer versagt die Romanreportage damit sowohl den Fakten gegenüber wie auch gegenüber den Ansprüchen der Erzählform. Sie hat weder die Verbindlichkeit der Wissenschaft, noch die Unmittelbarkeit des Romans, und ihr gebricht sowohl der Mobilisierungskraft wie der Möglichkeit, Anleitung für das gesellschaftliche Eingreifen zu werden: „Unkräftig bewegt sie sich zwischen Wissenschaft und gestalteter Epik, Erfindung und Dokument.“ Den gleichen Widerspruch erregte bei Kracauer auch „eine dramatisierte Reportage über das Leben und Treiben in und vor einem New Yorker Mietshaus“, die 1930 in Frankfurt aufgeführt wurde.71 Auch in der dramatisierten Form leidet die Reportage aus seiner Sicht daran, dass sie ihren Gegenstand nicht in eine Komposition bringt, die einen Gehalt zu Tage fördern, etwas meinen würde und einen wirklich beträfe. „In den alten naturalistischen Stücken wußte man, was gemeint war; dieser amerikanische Realismus von heutzutage ist in entscheidendem Sinn grundlos. Weder setzt er sich für eine bestimmte Tendenz ein, noch kristallisiert sich ihm irgendein Gehalt aus dem Stoff heraus. Stur betrachtet er die Tatsachen und stellt sie zusammen. Das ist die Welt, durch Fotografien gesehen, die Welt in den illustrierten Beilagen, die das Untergrundbahnpublikum müd überfliegt. Doofe Aspekte, die ungedeutet bleiben und ohne Bedeutung sind. Von ungefähr nur regt sich in der Tiefe das Gefühl, daß dieses merkwürdige Kaleidoskop eben das
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Ders.: Theater in Frankfurt. Im Schauspielhaus ‚Straße’ von Elmer E. Rice. In: FZ, 10. Februar 1930. Wieder in: Frankfurter Turmhäuser. S. 129–131.
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Leben sei. Der Mangel an einem Wohin und Wozu rächt sich durch den Mangel an jeglicher Komposition.“72
Ähnlich unfähig zur Erfassung der Wirklichkeit wie Reportage, Romanreportage und Theaterreportage sind laut Kracauer auch die meisten zeitgenössischen Dokumentarfilme: „Man könnte meinen, daß sie den Ehrgeiz besäßen, uns die Welt vorzuführen, wie sie ist. Genau das Umgekehrte trifft zu. Sie sperren von dem Leben ab, das uns einzig angeht, sie überschütten das Publikum mit einer solchen Fülle gleichgültiger Beobachtungen, daß es gegen die wichtigen abstumpft. Eines Tages wird es völlig erblinden.“73
Die Belanglosigkeit vieler Dokumentarfilme werde nur noch gesteigert durch die gedankenleere Art, in der die einzelnen Bildeinheiten zusammengefügt würden. Anhand des berühmten Dokumentarfilms von Walther Ruttmann „Berlin, die Symphonie der Großstadt“ zeigt Kracauer auf, woran es den dokumentarischen Darstellungen aus seiner Sicht insgesamt mangelt. Das Filmwerk wolle Berlin aus einer Folge mikroskopischer Einzelzüge erstehen lassen. „Vermittelt es die Wirklichkeit Berlins? Es ist wirklichkeitsblind wie irgendein Spielfilm. Schuld daran trägt seine Haltungslosigkeit. Statt den gewaltigen Gegenstand in einer Weise zu durchdringen, die ein echtes Verständnis für seine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Struktur verriete, statt ihn mit menschlicher Anteilnahme zu beobachten, ihn überhaupt an einem bestimmten Zipfel anzufassen und dann entschlossen aufzurollen, läßt Ruttmann Tausende von Details unverbunden nebeneinander bestehen und schaltet höchstens frei ersonnene Überleitungen ein, die inhaltsleer sind. […] Nichts ist gesehen in dieser Symphonie, weil nicht ein einziger sinnvoller Zusammenhang von ihr aufgedeckt worden ist.“74
Die vermeintlich getreuen Abbilder der Realität in der Fotografie und im Film sind laut Kracauer niemals objektiv, so sehr sie sich auch so geben. Denn solche „Abbilder sind keineswegs standpunktlos; sie nehmen nur die Gegebenheiten so hin, wie sie sich dem banalen Blick ergeben. Blind gegen den Gehalt der Phänomene, registrieren sie in Wirklichkeit ein konfuses Zufallsgemenge, das nichts meint und mit dem nichts gemeint ist“.75 Damit liefen sie lediglich „auf die Verbildlichung gleichgültiger, bedeutungsleerer Gegebenheiten hinaus“, wo es doch darum ginge, dass man „im Interesse der Herausarbeitung des jeweiligen Gehalts der Dinge deren Oberflächenzusammenhang 72 73
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Ebd., S. 129f. Siegfried Kracauer: Film 1928. In: FZ, 30. November und 1. Dezember 1928. Wieder in: Ornament. S. 299. Ders.: Film 1928. In: Ornament. S. 307f. Ders.: Zur Ästhetik des Farbfilms. In: Das Werk. September 1937, (Jg. 24, Heft 9). S. 287–288. Wieder in: Siegfried Kracauer: Kino. Frankfurt a. M. 1974. S. 48–53, hier S. 49 und 51.
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zerreißt.“ Die gewohnten Alltagsbilder, wie sie sich dem naiven Blick präsentieren, müssten gesprengt werden, „damit aus den Stücken Bilder montiert werden können, denen Bedeutung innewohnt.“ Wir haben nun eine Anzahl von Begriffen versammelt, die aus Kracauers Sicht allesamt Merkmale jener angeblich dokumentarischen Darstellungsformen sind, mit denen er seine journalistischen Texte nicht verwechselt sehen will. Die Unterschiede der Gattungen liegen in der Auffassung der Wirklichkeit sowie in den Methoden ihrer Analyse und Darstellung: Die Faktografie der Neuen Sachlichkeit hält sich an die bloße Oberfläche, statt diese als unbewussten, traumhaften, bildlichen Ausdruck von Verhältnissen in der gesellschaftlichen Tiefe zu nehmen und sie in einen dialektischen Prozess des Erwachens und Erkennens zu ziehen. Die Reportagen, wie Kracauer sie vorfindet, bleiben an der Oberfläche haften, statt deren symbolische, metaphorische und allegorische Codes zu entziffern. Sie inventarisieren das Material, statt es dialektisch zu durchdringen. Weil sie die Welt nicht aus einer bestimmten, bewusst eingenommenen Position sehen, sind ihre Wahrnehmungen beliebig. Sie überschütten den Leser mit einer Flut von zufälligen, belanglosen Beobachtungen, die gegenüber den wichtigen blind machen. Sie stellen die Wirklichkeitspartikel zu sinnlosen, höchstens formal begründeten Abfolgen zusammen, statt aus ihnen aufgrund der Erkenntnis ihres Gehalts in einer richtig verstandenen Montage ein beredtes Bild zu konstruieren. Und wenn die Beobachtung doch einmal theoretisch geleitet ist, werden die Wirklichkeitspartikel bloß als Illustration der bereits vor der Beobachtung vorliegenden Erkenntnis in die Darstellung eingesetzt, statt die theoretisch gewonnenen Einsichten in der Gestaltung aufgehen zu lassen, das Problem „im Material selber auszukonstruieren“76 und die Erkenntnisse durch die Gestaltung selbst hervorzutreiben. „Statt in der engen Tuchfühlung mit dem Material Einblick in seine Struktur zu gewinnen, unterstellte man es häufig in Bausch und Bogen der einen oder andern allgemeinen Formulierung. Empirische Tatbestände jedoch wollen von innen her erschlossen und nicht von oben her gefolgert werden, sie erteilen Antwort nur dem, der sich wirklich mit ihnen einläßt.“
Da ist Kracauer sich sicher, denn: Je konkreter die Materie, desto weniger ergibt sie sich einem Betrachter, der ihre Konkretheit verleugnet.77 Wirklichkeitsdarstellungen dürfen deshalb „nicht von einer vorgefaßten Idee zur materiellen Welt herabsteigen, um diese Idee zu erhärten; umgekehrt, sie beginnen damit, die physischen Gegebenheiten auszukundschaften, und arbeiten sich
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Ders.: Presse und öffentliche Meinung. In: FZ, 4. Oktober 1930. Wieder in: Berliner Nebeneinander. S. 192ff. Ebd., S. 192. Gemeint ist, dass der Forscher sich selber als Betrachter mit in die Untersuchung einbeziehen soll. Die Erforschung eines Gegenstandes, im Text geht es um die Presse als politische Instanz, sei an eine politisch und wirtschaftlich durchgeformte Haltung des Forschenden geknüpft.
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dann in der von ihnen gewiesenen Richtung nach oben“.78 Eine Darstellung, die die Wirklichkeit tatsächlich treffen will, muss vom Material selbst ausgehen, sich ihm anschmiegen, es durchdringen und durch den Gegenstand hindurch dialektisch die Vermittlung der Erkenntnis leisten. „Denn nur die Bekenntnisse, die er selber ablegt, sind einflußreich; nicht aber die Ideen, die ihm aufoktroyiert werden“.79 So formuliert Kracauer: „Daher meine Überzeugung, daß einer, der nicht verstrickt ins Hier ist, niemals in ein Dort gelangen könne,“80 − ein Satz, der mit Fug als Kracauers journalistischer Leitsatz gelten darf. Radikal ins Material, mit einem „Blick, der durchdringt, wo andere nur berichten,“81 war seine Devise für alle Journalisten, die Aussagen über das Wirkliche machen wollen. Sie sollen sich die Absätze austreten auf ihren Gängen durch das tatsächliche Leben, sollen mit den konkreten Phänomenen auf Tuchfühlung gehen, in sie eindringen, ihren Gehalt erkennen und sie in künstlerischen Gestaltungen transparent machen. Dies geht nicht, ohne bewusst einen Standpunkt einzunehmen, es braucht ein Wohin und Wozu, eine Haltung, eine Tendenz. Gerade das ist es, worauf es ankommt. Denn alles andere führt, so war Kracauer überzeugt, zu belanglosem Geschwätz, Faktenhuberei, fruchtloser Rapportiererei von Zufälligkeiten und blutleeren Schilderungen, mit denen nichts gemeint ist. Und weil der sich objektiv gebende Blick objektiv niemals sein kann, sondern die Dinge nur hinnimmt, wie sie sich präsentieren, führt der von Kracauer kritisierte naive Abbildrealismus letztlich zur Bejahung und Zementierung der gegebenen Verhältnisse. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“,82 hat Kracauer gesagt. Wenn es tatsächlich so ist, dass die treibenden Kräfte, welche die Wirklichkeit hervorbringen, auf der Oberfläche nicht direkt ablesbar sind, muss dies Konsequenzen für die Darstellung haben. Sie kann sich nicht darin erschöpfen, die Oberfläche minutiös abzufotografieren. Um etwas über die Konstruktion auszusagen, muss sie vielmehr − und das wurde Kracauer nicht müde zu betonen − selbst konstruierend mit dem vorgefundenen Material verfahren. Die Wirklichkeit stecke einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet werde. Das bedeutungslose Beobachtbare muss zerlegt werden, der Gehalt der Einzelteile muss erkannt werden, damit aus ihnen ein Mosaik zusammenmontiert werden kann, das etwas bedeutet. Erst das so künstlich, das heißt künstlerisch gestaltete Bild vermag nach Kracauer etwas über die Wirklichkeit auszusagen.
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Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 399f. Ders.: Ein Buch von der Ruhr. In: FZ, 1. November 1931. Wieder in: Schriften 5.2, S. 395. Siegfried Kracauer: Zwei Deutungen in zwei Sprachen. In: Ernst Bloch zu Ehren. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1965. Wieder in: Schriften 5.3, S. 351. Diese Beschreibung von Kracauers Sehweise geht auf Ernst Bloch zurück. Vgl.: Eckhardt Köhn: Der Blick, der durchdringt, wo andere nur berichten. Zum Stand der KracauerAusgabe. In: Frankfurter Hefte. Jg. 33. Heft. 12. Dezember 1978. S. 73. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216.
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Damit ist nicht nur die Wirklichkeit selbst eine Konstruktion, auch die Wirklichkeit, wie sie in der Zeitung präsentiert wird, ist eine Konstruktion.83
6. Realismus oder Konstruktivismus? Erkenntnistheoretisch ist Kracauer damit − das ist die vorhin erwähnte folgenschwere Implikation des zitierten Satzes − in einer vertrackten Situation: Er hängt zwar nach wie vor der Sichtweise des Realismus an, wonach es eine Wirklichkeit gibt, die vor jeder Wahrnehmung liegt und die vom Bewusstsein dieser Realität zu unterscheiden ist. Er postuliert weiterhin die Möglichkeit ihrer Erkenntnis und besteht dazu auf einer empirischen Vorgehensweise. Gleichwohl ist er sich sicher, dass es eine objektive Wahrnehmung und Darstellung jener präexistenten Wirklichkeit nicht geben kann. Damit wird das Wahrheitskriterium des Realismus zweifelhaft, wonach eine Aussage über die Wirklichkeit dann wahr sei, wenn sie mit ihr in Übereinstimmung stehe. Kracauers Vorgehen, die Wirklichkeit in einer materialistisch angeleiteten Konstruktion zu suchen, führt ihn in eine neue Schwierigkeit. Denn als Konstruktion ist das Bild der Wirklichkeit jedenfalls künstlich und mit dem Odium der Subjektivität behaftet. Das Subjekt macht ja jene „mehr oder minder zufälligen Beobachtungen“. Das Subjekt entscheidet, ob eine Beobachtung gehaltvoll ist oder nicht. Es ist ihm anheimgegeben, entlang begrifflicher Leitlinien diesen Gehalt zu erkennen. Es ist seinem Talent zu danken, wenn das Zusammenstiften der Beobachtungen zum Bild der Realität gelingt. Und ‚Zusammenstiften eines Bildes’, was heißt das aus der Sicht des Realismus anderes als Manipulation? Nimmt das Subjekt diese Stellung ein, ist verbindliche Erkenntnis nicht garantiert. Dennoch behauptet Kracauer, in seinen Konstruktionen eine präexistente Wirklichkeit besser zu erfassen, als es nach den landläufigen Verfahren des Realismus möglich ist. Er beharrt darauf, dass Welterkenntnis niemals ohne ein Subjekt möglich ist, ja dass das erkennende Subjekt zur Wirklichkeit gehört, und er hält bewusst einen Raum für das subjektive Empfinden offen. Gegen den Vorwurf des Subjektivismus zieht er zugleich methodische Verteidigungslinien auf, indem er sein Verfahren transparent macht, um dem subjektiven Eindruck allgemeine Geltung zu verschaffen. So ist beispielsweise im Text Über Arbeitsnachweise84 die Absicht spürbar, einen zunächst subjektiven Eindruck, der dramaturgisch mit der Ich-Form des Erzählers eingeführt ist, argumentativ zu einem Eindruck zu machen, der allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Kracauer liefert gleich in den ersten Abschnitten zu handen der Kritik seine Prämisse mit, dass jede Gesellschafts 83
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Vgl. auch: Zohlen: Text-Straßen. In: Text + Kritik. S. 63f. Und: Schulz: Traum und Aufklärung. S. 879. Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise. In: Schriften 5.2, S. 185–192.
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schicht den für sie typischen Raum habe, der durch die für sie typischen Verhältnisse zustande gebracht werde, und in dem sich die Verhältnisse unzensuriert ausdrückten. Er deklariert seine Darstellung von Anfang an als Konstruktion eines Raumes, legt seine Analyse- und Konstruktionsmethoden offen und versucht, Stück für Stück zu belegen, weshalb er es für gerechtfertigt hält, die einzelnen Elemente, aus denen sich der reale Raum und er den Raum im Text zusammensetzt, als Zeugen eines allgemeinen Zustandes zu interpretieren. Damit legt er nicht nur ein Ergebnis vor, sondern zieht den Leser auch in einen Dialog hinein über den Weg, wie er zu diesem Ergebnis gelangt. So gibt die örtliche Lage des Arbeitsnachweises in einem zweifelhaften Quartier in einem düsteren Hinterhof als Ausdruck der sozialen Position der Arbeitslosen den Rahmen für die Konstruktion. Dass die meisten Anwesenden ihre Kopfbedeckung aufbehalten, entziffert Kracauer als Zeichen für die Illusion eines bloß befristeten Aufenthalts. Eine unscheinbare Figur tritt auf als Sinnbild für die Tragödie der Armut, welche die Gestrandeten und vom Produktionsprozess Ausgeworfenen vergeblich zu verdecken versuchen. „Bei einem besser gekleideten Schneider etwa hat sie sich als letzten Schlupfwinkel die Manschetten des Hemdes ausersehen. Gelingt es ihr an einer Stelle, sich zu bedecken, so schlägt sie an der anderen um so sicherer nach außen durch.“
Besonders aufschlussreich sind die im Arbeitsnachweis aufgehängten Schilder mit Rauchverboten, Hausregeln und Verhaltensvorschriften. Sie werden in die Konstruktion eingesetzt als Chiffren einer grenzenlosen, zynischen Geringschätzung, welche die Menschen zu bloßen Organismen ohne Leidensfähigkeit degradiert. „Nichts kennzeichnet aber die Beschaffenheit des Raumes mehr, als daß in ihm sogar Unfallbilder zu Ansichtskartengrüßen aus der glücklichen Oberwelt der Tariflöhne werden.“
Solche in der Darstellung selbst Schritt für Schritt vorgeführte Konstruktionen könnten leicht dazu verleiten, Kracauer als einen frühen Konstruktivisten rekrutieren zu wollen. Tatsächlich hat er ja mit dem Ausspruch „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“ in den Angestellten 1930 wörtlich den Kernsatz des Konstruktivismus formuliert − ein halbes Jahrhundert bevor diese Erkenntniskonzeption sich formte und sich, die Fachdisziplinen übergreifend, verbreitete, so dass mittlerweile sogar von einem Paradigmawechsel in der Wissenschaft die Rede ist.85 Die Konstruktivisten glauben, dass eine Korrespondenz von Realität und Aussage, wie sie im realistischen Wahrheitsbegriff postuliert wird, prinzipiell unmöglich sei, dass also methodisch nie eine Übereinstimmung von Aussage 85
Vgl. Bodo Abel: Grundlagen der Erklärung menschlichen Handelns. Zur Kontroverse zwischen Konstruktivisten und Kritischen Rationalisten. Mit einem Vorwort von Hans Albert. Tübingen 1983.
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und Tatsache hergestellt werden könne. Wenn davon ausgegangen werde, dass sich Realität sprachfrei konstituierte, Aussagen über sie und ihre Kritik aber immer im Sprachraum blieben, ergebe sich unauflösbar das Problem des Sprachzirkels, verbunden mit dem Geltungs- und dem Überprüfungsproblem. Die Konstruktivisten sehen die realistische Konzeption als gescheitert an, und zwar deshalb, weil in deren Wahrheitsbegriff der zwangsläufig vorhandene Kontext der Redesituation ausgeblendet wird. Deshalb entwickelten sie einen Wahrheitsbegriff, der gerade in der Redesituation ansetzt. Es geht darum, einen Raum für eine willkürfreie Entscheidung darüber zu öffnen, was wirklich ist. Statt die Entscheidung über die Wahrheit einer Aussage von einer Übereinstimmung mit der nichtsprachlichen Realität abhängig zu machen, verlegen sie die Entscheidung ganz in den Sprachbereich und etablieren einen pragmatischen Wahrheitsbegriff: Wahr ist eine Aussage über die Wirklichkeit, wenn sie in einem nach bestimmten Regeln abgehaltenen Diskurs von den Teilnehmern als wahr akzeptiert wird. Wirklichkeit ist damit nicht mehr ein von sich aus und ohne Bewusstsein eines Subjekts Seiendes, sondern etwas Gemachtes, im Diskurs Hergestelltes, eben eine Konstruktion. Wenn also die Wirklichkeit kommunikativ hergestellt wird,86 müssen die Anforderungen an den Diskurs formuliert werden, der eine willkürfreie Entscheidung über die Wahrheit gewährleisten kann. Hierauf, also auf das praktische, diskursive Konzept der Wahrheitsbestimmung, richteten die Konstruktivisten ihre Anstrengungen. Als oberstes Prinzip einer ‚vernünftigen Beratung’ gilt dabei das Prinzip der „Transsubjektivität“. Es ist die Aufforderung, Argumente und Interessen daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht bloß subjektiv sind, es ist die Forderung, die Subjektivität zu negieren oder eben zu transzendieren, mit dem Ziel eine „qualifizierte Homologie“, einen „wahren Konsens“ unter den Gesprächspartnern zu erreichen. Daraus leiten sich verschiedene weitere Forderungen an die Gesprächspartner und den Diskursrahmen ab wie Unvoreingenommenheit, Sachkunde, Aufrichtigkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit der Argumente und Gründe. Ist ein solcher Diskurs etabliert, besteht aus Sicht der Konstruktivisten die Möglichkeit, eine qualifizierte Übereinstimmung zu erreichen; eine derart gewonnene Zustimmung gilt dann als „rational eingeholt“. Die Wahrheit einer Aussage wird also nicht durch den Rekurs auf eine unabhängig von dem Konsens festzustellende objektive Eigenschaft der Wirklichkeit definiert, sondern pragmatisch als eine unter bestimmten Bedingungen erzielte Übereinstimmung der am Prozess der Wahrheitsfindung Beteiligten. Damit wird die Frage „Was ist wirklich?“ übersetzt in die in Frage „Was kann als wirklich akzeptiert werden?“ Innerhalb dieses Rahmens vollzieht sich nun die Begründung, bei der die Probleme schrittweise methodisch zurückgeführt werden − nicht auf ein in irgendeiner Weise sicheres, 86
Der konstruktivistische Ansatz ist mit Paul Watzlawicks Formulierung, die Wirklichkeit sei das Ergebnis von Kommunikation, bedeutsam geworden. Vgl.: Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München und Zürich 1976.
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letztes Fundament außerhalb, sondern auf ein methodische gesichertes, d.h. der allgemeinen Kritik zugänglich gemachtes Fundament, das alle Beteiligten akzeptieren können. Dieses Konzept und seine Begriffe standen Kracauer noch nicht zur Verfügung. Aber es ist frappierend, dass er schon 1930 den Kerngedanken des Konstruktivismus aussprach, und dass auch viele seiner journalistischen Texte wie jener über die Arbeitsnachweise die Merkmale jenes Diskurses tragen, den die Konstruktivisten verlangen, um akzeptable Aussagen über die Realität zu erreichen. So können Kracauers Darstellungen auch als diskursive Prozeduren einer Wirklichkeitserkenntnis im konstruktivistischen Sinn gelesen werden. Kracauer mag zwar im Rückblick als Wegbereiter des Konstruktivismus erscheinen, als einer, der früh ahnte, dass sich die Debatte um die alte, erkenntnistheoretische Frage, was Wirklichkeit ist und wie sie zu erkennen wäre, in dieser Richtung entwickeln würde. Trotzdem darf man ihn nicht für diese Richtung vereinnahmen. Es scheint vielmehr, als habe er den Streit zwischen Realismus und Konstruktivismus, der Jahrzehnte später öffentlich ausbrach, schon in sich selbst ausgetragen, ohne ihn, seiner Abneigung gegen alles Hundertprozentige entsprechend, auf diese oder jene Seite hin entscheiden zu können.87 Die Konsequenz des konstruktivistischen Ansatzes, die Wirklichkeit ganz der Sprache zu überantworten, wäre dem „abgrundtiefen Realisten“88 nicht geheuer gewesen. Er, der Exzenter, hätte wahrscheinlich wie gegenüber allen philosophischen Cliquen und Moden auch gegenüber dem Konstruktivismus Distanz gehalten und sich womöglich gerade wegen der geistigen Verwandtschaft als ein besonders scharfsinniger Kritiker hervorgetan. Er hätte dem Konstruktivismus wohl vorgehalten, er atme idealistischen Geist, indem er sich von der physischen Realität verabschiede. Er hätte sich gegen die Verabsolutierung des Diskurses und des Konsenses zur Wahrheitsfindung zur Wehr gesetzt und auf die Gefahr des Relativismus in diesem Ansatz hingewiesen.89 Kracauer, der 1960 seiner materialen Filmästhetik den Untertitel „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“90 gab und seiner Geschichtsphilosophie 87
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Kracauer hätte kaum eine Wende vollziehen können, wie es Habermas, von der gleichen Tradition herkommend, zwischen 1971 und 1981 tat. Vgl.: Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Ders. und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a. M. 1971. Und: Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981. „Mein Realismus ist so abgrundtief, daß ich mit keiner Theorie etwas zu tun haben will, die so blind wie die von Lukács geradeausgeht.“ Brief von Siegfried Kracauer an Ernst Bloch vom 13. Dez. 1929, DLA 72.1192/6. In: Bloch: Briefe 1903–1975, Bd. 1, S. 329f. Vgl. zu diesen Problemen: Dirk Hartmann und Peter Janich: Die Kulturalistische Wende. In: Die Kulturalistische Wende. Hg. v. Dirk Hartmann und Peter Janich. S. 9–22, hier S. 19. Und: Rainer Lange: Zwischen Skylla und Charybdis? In: Die Kulturalistische Wende. S. 23–56, bes. 35ff. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. In: Schriften 3. Frankfurt a. M. 1973. Originaltitel: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York 1960.
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den auf den Bereich diesseits der Metaphysik verweisenden Zusatz „Vor den letzten Dingen“91, hätte gewiss – gegen die „herrschende Meinung“ sich stemmend – auf einer präexistenten Realität beharrt, bei der sich jede Theorie rückversichern müsse. Er hätte wohl auch hier verlangt, „daß man sich diese materiale Totalität nicht verkümmern lassen dürfe“ und hätte darauf bestanden, auch den Konstruktivismus „mit Realien zu durchdringen“.92 Denn darum ging es ihm letztlich: Um die Wirklichkeit, die ganze, vielgestaltige, konkrete Wirklichkeit. Kracauer hat dem Journalismus mit seiner Kritik am planen Oberflächenglauben und mit seinem Konzept der Bilderentzifferung wichtige Impulse gegeben. Er hat poetisch für die dokumentarische Literatur neue Maßstäbe gesetzt. Erkenntnistheoretisch hat er jedoch die Sache weder auf die eine noch auf die andere Seite hin entscheiden können. So wurde er auch nicht Begründer einer Schule, sondern bleibt − ein Suchender, der sich anschmiegt an das unfassbare, faszinierende Wesen, das da heißt: Wirklichkeit.
6. Schluss Die Wirklichkeit war Kracauers große Liebe. Er litt am Wirklichkeitsverlust der Moderne, an der Verflüchtigung des Sinnzusammenhangs und an dem Geschiedensein von Ich und Welt. Er verzehrte sich nach der Wirklichkeit, nach der Vereinigung mit ihr, nach der Verbindung von Denken und Empfinden. Er suchte sie im profanen Alltag, in den Straßen, Kneipen und Revuen, im Traum und im Rausch. Die Liebe zur Wirklichkeit trieb ihn in die Manie und in die Melancholie, in jene psychischen Zustände, die dem Leiden am Verlust des Liebesobjekts entspringen − und in die Komik, die nicht minder darauf aus ist, die Wirklichkeit auf dem Weg des Lachens, und sei es manchmal bitter, wieder zu gewinnen. Die Liebe zur Wirklichkeit und das Leiden an ihrem Verlust trieben Kracauers Geist an. Er durchschaute, dass das abstrakte, formalistische Denken die Wirklichkeit vereinnahmt, vergewaltigt und letztlich vertreibt. So wandte er sich rabiat gegen jede Art des Denkens, das sich über die Wirklichkeit erhebt, sie gering schätzt, sie sich unterordnet und sie unterjocht unter die Formel und den leeren Begriff. Er bestand darauf, dass Theorie sich einlässt mit dem Konkreten, und ließ nur gelten, was an Erkenntnis aus dem Material heraus hervorgeht. Anschauung und Reflexion waren ihm gleichwertige Modi der Weltaneignung, und so entwickelte er ein Denken, in dem sich beides verbin91
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Siegfried Kracauer: Geschichte − Vor den letzten Dingen. In: Schriften 4. Frankfurt a. M. 1971. Originaltitel: History. Last Things Before The Last. New York 1969. Brief von Siegfried Kracauer an Ernst Bloch vom 27. Mai 1926, DLA 72.1192/1. In: Bloch: Briefe 1903–1975, Bd. 1, S. 273.
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det. Es ist ein Denken, das auf engste Tuchfühlung geht mit der Wirklichkeit, das sich hineinbegibt ins konkrete, stoffliche Sein und das dort Erfahrene durchdringt und es nicht verdampft im abstrakten Begriff, sondern es in seiner Konkretheit um seiner selbst Willen bewahrt. Die Liebe zur Wirklichkeit und dieses anschmiegende Denken haben bei Kracauer Methoden der Erkenntnis und der Wirklichkeitsdarstellung hervorgebracht, die sich jenseits von Objektivität und Subjektivität bewegen. Im Denkbild durchdringen sich Anschauung und Reflexion dergestalt, dass der Gegenstand in der Darstellung entschleiert und zugleich in der Erfahrung bewahrt wird. Es ist ein sowohl poetisches wie analytisches Verfahren, das gerade dadurch seinem Gegenstand gerecht werden will, dass es sich nicht auf eine Seite schlägt und so tut, als sähe ein verengter Blick die ganze Wirklichkeit. Damit setzte sich Kracauer zwischen alle Stühle. So wenig er sich poetisch auf eine einzige Rolle festlegen lässt, so wenig ist er erkenntnistheoretisch eindeutig zuordnen. Sein Misstrauen gegenüber einem naiven Abbildrealismus einerseits und seine Furcht vor Denksystemen, die wie der Idealismus und der Konstruktivismus sich ablösen von der konkreten Wirklichkeit und sich ganz ins Reich der Begriffe und Diskurse begeben, ließen ihm keine Wahl. Er war ein „abgrundtiefer Realist“ in dem Sinne, dass er sich nicht mit der oberflächlichen Beobachtung zufrieden gab, noch die Wirklichkeit sich durch abgehobene Theorie nehmen lassen wollte. Als dokumentarischer Schriftsteller beharrte er darauf, seine Erfahrungen im Säurebad der Theorie zu gerben. Als theoretischer Denker bestand er darauf, sich die Süße und Bitterkeit der konkreten Wirklichkeit zu erhalten. Und so bleibt denn Siegfried Kracauer singulär: ein Philosoph unter den Journalisten, ein Poet unter den Philosophen, ein Theoretiker unter den Poeten. Und obwohl er mit der konkreten Wirklichkeit ein erotisches Verhältnis einging, sich leidenschaftlich nach ihr sehnte und seine Hinterlassenschaft eine große Liebeserklärung an sie ist, bleibt er auch unter den erotischen Schriftstellern ein Fremder.
DOROTHEE KIMMICH
„Begrenzen ohne zu definieren“ Kracauers Ästhetik der Aufmerksamkeit als „praktische Phänomenologie“ 1. Phänomenologie der Aufmerksamkeit Kracauers Forderung nach einer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ durch das Kino – so lautet der Untertitel seiner 1965 erschienen Filmtheorie – stellt nicht nur eine medientheoretische oder filmhistorische These dar, vielmehr handelt es sich um die Integration des Mediums Film in eine phänomenologisch orientierte Ästhetik, die man zugleich als eine „Phänomenologie der Aufmerksamkeit“1 verstehen könnte. Die Begriffe „Phänomenologie“, „Aufmerksamkeit“ und „Ästhetik“ werden die folgenden Überlegungen leiten. Zudem wird sich die Frage nach einer spezifischen Form der Subjektkonstitution an diese Überlegungen anschließen. Den Anstoß zu diesen Thesen haben zwei Publikationen aus jüngerer Zeit gegeben, die die phänomenologische Tradition in Deutschland weiterführen, ästhetische Themen aufgreifen und sich zugleich aus systematischen Gründen ausführlich dem Thema Aufmerksamkeit widmen: Es handelt sich um Hans Blumenbergs Zu den Sachen und zurück (2002) und um Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie der Aufmerksamkeit (2004). Auch Martin Seels Ästhetik des Erscheinens (2003) ist dazuzuzählen. Beide Texte sind insofern für die literaturwissenschaftliche bzw. die literaturhistorische Diskussion interessant, als sie die in Deutschland häufig der transzendentalphilosophischen Tradition zugeordneten Phänomenologie ins Lebensweltliche, Pragmatische und Ästhetische wenden. Die phänomenologische Tradition ist in Deutschland vom Werk Husserls dominiert und hat nie die in Frankreich erfolgreiche pragmatische und literarische Seite entwickelt, die man mit den Namen Maurice Merleau-Ponty, Francis Ponge, Sartre und Camus verbindet. Doch sind gerade in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Verbindungen zwischen philosophischen Positionen und literarischen Verarbeitungen auch in Deutschland noch ganz offensichtlich. Die biografischen und historischen Bezüge sind zahlreich und auch die systematischen Kongruenzen sind nicht nur offensicht1
Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004.
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lich, sondern zudem in verschiedener Hinsicht für eine Bewertung literaturwissenschaftlicher und literaturhistorischer Phänomene außerordentlich aufschlussreich. In welchem Ausmaß phänomenologisches Denken in den 20er und 30er Jahren in den Bereichen der Gestaltpsychologie, der Wahrnehmungsphysiologie, der Medizin- und Literaturtheorie ebenso wie in der Philosophie eine wichtige Rolle spielte – häufig subkutan und nicht leicht zu erkennen – ist noch lange nicht ausreichend erforscht. Im Einzelnen kann auch hier den biografischen und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen nicht nachgegangen werden, obwohl sie ein außerordentlich interessantes Feld darstellen. Immerhin sei darauf hingewiesen, dass Siegfried Kracauer Béla Balázs und Rudolf Arnheim im Vorwort seiner Filmtheorie nicht nur explizit dankt, sondern tatsächlich auch inhaltlich viel schuldet. Zu Husserls 70. Geburtstag am 8. April 1929 schreibt Kracauer eine kurze Nachricht, in der er ihn als einflussreichen Kritiker des Psychologismus und des formalistischen Idealismus seiner Zeit würdigt. Scheler und Heidegger nennt er als die wichtigsten Vertreter der Lehre Husserls, deren „historisches Verdienst“ es sei, „daß sie wider das idealistische System eine Lehre setzt, die nicht wie das System bei formalen Oberbegriffen anhebt und in sie einmündet, sondern der Fülle der Phänomene durch die unsystematische Anschauung gerecht werden will“.2 Kracauer bescheinigt Husserl dort aber auch, dass er selbst immer mehr einem „konstruktiven Idealismus“ verfalle, dem er anfänglich gerade zu begegnen suchte. Diese Formulierung vom „konstruktiven Idealismus“ gilt es im Auge zu behalten, wenn man Kracauers Philosophie einer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ untersuchen will. Offenbar handelt es sich bei dieser Formulierung um die Kritik an einer Form von – wie man heute wohl sagen würde – „radikalem Konstruktivismus“, den Kracauer für eine Fehlentwicklung hält. Selbstverständlich kann auch eine unvermittelt realistische Position nicht die Antwort sein. Kracauer zweifelt sowohl die rein realistischen, als auch die simpel konstruktivistischen Positionen an, und zwar weil sie beide dem „phänomenalen“ Charakter – also dem über die Erfassbarkeit hinausgehenden Charakter – von Welt nicht entsprechen.3 Seine Vorstellung einer Verbindung von Aufmerksamkeit, Verfremdung und „Errettung“ soll der unsystematischen Fülle des Konkreten, des Wirklichen und der Kunst besser gerecht werden können. Dies gilt es nun zu prüfen, insbesondere im Hinblick auf die neueren Forschungen zu den einschlägigen Philosophien der Aufmerksamkeit und mit Hilfe eines Vergleichs mit dem, was zeitgenössische Autoren wie Robert Musil oder Walter Benjamin zu dieser Diskussion beitragen. Zunächst soll daher 2
3
Siegfried Kracauer: Schriften. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 5.2. S. 146–148, hier S. 147. Vgl. dazu Martin Seel: Wie phänomenal ist die Welt? In: Ders.: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 2006. S. 171–189; vgl. auch Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2007.
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der Horizont der Problematik, wie sie sich in der Philosophie und der Literatur der Moderne an einigen Beispielen vorstellen lässt, abgesteckt werden. Die Kombination aus philosophischen und literarischen Werken ist dabei nicht dem Zufall geschuldet, sondern soll genau diese disziplinäre Schnittstelle thematisieren. Das in den letzten Jahren zu bemerkende Interesse am Thema „Aufmerksamkeit“4 scheint einen Ansatzpunkt zu markieren, der nicht nur den Zusammenhang zwischen Mediengeschichte, Wahrnehmungstheorie, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Philosophie aufnimmt und neu konturiert, sondern insbesondere auch die Verbindung zu einer phänomenologischen Tradition „ästhetischer“ – oder besser „aisthetischer“ – Reflexion herzustellen in der Lage ist. Jonathan Crarys bemerkenswerte Studie zu Aufmerksamkeit entwirft in einem groß angelegten Kapitel die Zusammenhänge zwischen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und der Kulturgeschichte der Moderne: „Im späten 19. Jahrhundert wird in den Humanwissenschaften und insbesondere in der entstehenden wissenschaftlichen Psychologie das Problem der Aufmerksamkeit zu einem Grundanliegen.“5
Er betont, dass es sich dabei nicht nur um eine Reaktion auf die modernen Veränderungen im „urbanen, psychischen und industriellen Feld“ handelt.6 Das hieße nämlich, dass „Aufmerksamkeit“ als Strategie zur Bewältigung der durch die Industrialisierung und insbesondere das Leben in der Großstadt erwachsenen Herausforderungen zu bewerten wäre. Die Diskussion über die Aufmerksamkeit hat viel weiter reichende Fragen aufgeworfen: „Gleichzeitig aber ist die Aufmerksamkeit als historisches Problem nicht auf Strategien der sozialen Disziplin reduzierbar. Ich werde zeigen, daß die Artikulation eines Subjekts über das Vermögen der Aufmerksamkeit zugleich ein Subjekt aufdeckte, das sich solchen disziplinären Imperativen entzog.“7
Diese andere Seite der Aufmerksamkeit hängt mit den divergierenden Auffassungen und Definitionen von Aufmerksamkeit, das heißt mit einer fast paradoxen Konstellation zusammen: Aufmerksamkeit wird auf der einen Seite als intentionaler Akt, als höchste Form der Konzentration (im Sinne von christlicher attentio oder auch dem von Meditation ganz allgemein) verstanden. Andererseits ist sie aber auch ein fast passiver Zustand, in dem weniger das Subjekt selbst „aufmerksam“ agiert, sondern vielmehr das Gegenüber die Aufmerksamkeit „erregt“ oder „fordert“ und damit das Subjekt seiner ungestörten 4
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Vgl. z. B. Georg Frank: Mentaler Kapitalismus: eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005; Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII. Hg. v. Aleida und Jan Assmann. München 2001; Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Cambridge 1999 (deutsch: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a. M. 2002); Aufmerksamkeit. Hg. von Norbert Haas. Eggingen 1998. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. S. 23. Ebd. Ebd.
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Verfügung über sich selbst beraubt. Dabei ist Aufmerksamkeit dann gerade eher etwas Unwillkürliches, das vom Objekt ausgehend das Subjekt in seinen Bann schlägt. Aufmerksamkeit ist also sowohl ein Verfahren als auch ein Geschehen, ein aktiver und ein passiver Vorgang, der Menschen und ihre Umwelt in Beziehung setzt. Dabei geht die Aktivität nicht immer vom Subjekt der Wahrnehmung aus, sondern kann auch vom wahrgenommenen Objekt stammen, womit sich dann eben die Frage nach dem Objektstatus des Objekts und umgekehrt dem Subjektstatus des Subjekts stellt. Anders – literaturwissenschaftlicher – formuliert: Alle die sprechenden, lächelnden, lebendigen Objekte, Dinge, Gegenstände, mit denen uns gerade die Literatur der Moderne konfrontiert,8 lassen sich als Protagonisten im Spiel mit der Aufmerksamkeit und ihrer spezifischen Funktion im Rahmen von Wahrnehmung, Wirklichkeitserfahrung und Subjekt/Objektrelation lesen.9 Aufmerksamkeit hat allerdings nicht nur eine mediale, relationale, sondern damit verbunden und darüber hinausgehend auch eine dominant materiale Seite: Sie ist abhängig von und wirkt auf den Körper, ist eine Frage des Sehens, Hörens, Fühlens und der entsprechenden Reaktionen. Dies mögen auch die Gründe sein, warum die Aufmerksamkeit kein genuin philosophisches Feld zu sein beansprucht und daher erst im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Erforschung der Moderne wieder ins Blickfeld der Wissenschaften geraten ist. Andererseits lässt sich unschwer erkennen, dass bei Berücksichtigung aller dieser Aspekte die Beschäftigung mit der Aufmerksamkeit ein Anliegen moderner Ästhetik und Kulturwissenschaft sein muss.
2. Aufmerksamkeit im ästhetisch-philosophischen Diskurs der Moderne Aufmerksamkeit ist – in gewisser Weise als Gegenpart zu „Zerstreuung“ – ein zentrales Thema moderner (und postmoderner) Selbstreflexion. Im Zuge einer immer unübersichtlicher werdenden Welt streiten und konkurrieren verschiedenste Eindrücke um den Vorrang, was die Erregung von Aufmerksamkeit angeht. Die spezifische Form von Aufmerksamkeit, die Kunstwerke verlangen, tritt in der Moderne in Konkurrenz zu Werbung, Verkehr, Warenausla8
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Dorothee Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme. Bemerkungen zu Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil und Robert Walser. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XLIV (2000). S. 177–194; dies.: ‚Wir sehen nur was uns anschaut.’ Walter Benjamin und die Welt der Dinge. In: Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. Katalog zur Ausstellung im Haus am Waldsee. Berlin 2004/2005. Hg. v. Barbara Straka und Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2004. S. 156–167. In beiden Fällen − sowohl als „Verfahren“ als auch im Sinne von „Geschehen“ − ist Aufmerksamkeit offensichtlich von spezifischen Praktiken abhängig, von Diskursen gelenkt und von Medien induziert: Sie ist angewiesen auf „Medien“ bzw. markiert selbst ein „Dazwischen.“ Bernhard Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von einer „dritten Macht“ (Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. S. 116), die sich zwischen Subjekt und Objekt schiebt.
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gen, Menschenmassen – zum Leben in der Großstadt. Diesem „Kult der Zerstreuung“ widmen sich viele Theoretiker der Moderne. „Besonders Georg Simmel, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno und andere vertraten die Ansicht, daß eine zerstreute Wahrnehmung für eine Theorie der Subjektivität in der Moderne in jedem Fall zentral ist.“10
Crary führt einschlägige Texte wie Die Großstädte und das Geistesleben von Georg Simmel, Über einige Motive bei Baudelaire von Walter Benjamin, Das Ornament der Masse von Kracauer und Über den Fetischcharakter in der Musik und Die Regression des Hörens von Theodor W. Adorno als Beispiele an. Zerstreuung gilt als Folge einer stetig zunehmenden Beschleunigung des Lebens, einer Fragmentarisierung und Atomisierung der Existenz, einer Entsinnlichung und Entsubstanzialisierung aller Wahrnehmung und Erfahrung. Oft werden gerade die neuen Medien wie Radio und Film mit dem „Kult der Zerstreuung“ in eins gesetzt. Leicht wird dabei übersehen, dass neben der Diagnose der allgemeinen Zerstreuung eben auch von Aufmerksamkeit die Rede ist; und zwar wie Crary richtig beobachtet hat, nicht nur im Sinne einer disziplinären Reaktion gegen die Zerstreuung, sondern eher als eine Form der radikalisierten, über sich hinausweisenden Zerstreuung im Sinne einer vollkommenen Selbstvergessenheit, einer Selbstauflösung oder Selbstvervielfältigung.11 Es ist die Rede von Techniken der Verlangsamung, der Stillstellung, der Unterbrechung, der Verkleinerung und es findet sich sogar das vollkommene Verschwinden.12 So gibt es in allen Künsten, in der Literatur, der Psychologie, der Physiologie und der Philosophie, einen komplexen Diskurs der Aufmerksamkeit, der oft weniger theoretisch oder kritisch, als vielmehr auf pragmatische, praktische Weise implizit in der Praxis, der Performanz, den Repräsentationen der Künste selbst enthalten ist. Häufig findet man das Phänomen der Aufmerk10
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Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. S. 46; vgl. auch die Anmerkung dazu ebd. S. 304. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. In: ders.: Werke. Hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Frankfurt a. M. 2006. Bd. 1. S. 21–31; Helmuth Lethen: Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1990. S. 195–228. „Überlebensstrategien“ für die zerstreuende und zerstreute Moderne, wie sie etwa von Georg Simmel oder Helmuth Plessner beobachtet werden, sind Immunisierung gegen Eindrücke, Rückzug ins Innere oder „Verhaltenslehren der Kälte“ (Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994.) Vgl. dazu auch: Dorothee Kimmich: Moralistik und Neue Sachlichkeit. Ein Kommentar zu Helmuth Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft’. In: Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft’. Eine Debatte. Hg. v. Wolfgang Eßbach und Joachim Fischer. Frankfurt a. M. 2002. S. 160–182. Das Werk Robert Walsers etwa – um hier nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen –, das dem unscheinbaren kleinen Angestellten gewidmet ist, dem dienenden „Nichts“, demonstriert eindrucksvoll, in welcher Weise gerade die „kugelrunde Null“, wie eine Romanfigur sich selbst bezeichnet, in der Lage ist, alle Aufmerksamkeit und alle Energie so auf sich zu ziehen, dass sämtliche sozialen Systeme implodieren. (Vgl. dazu z. B. Robert Walser: Jakob von Gunten. Ein Tagebuch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd.11. Hg. v. Jochen Greven. Frankfurt a. M. 1998–2000.)
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samkeit oder genauer der Aufmerksamkeitsökonomie auch im Kontext anderer Begriffe bzw. unter anderen Bezeichnungen, wie etwa „Stillstellung“, „Unterbrechung“, „Verfremdung“, oder „Schock“.13 Auch „Entfremdung“ oder „Verfremdung“ stellen ebenso wie Verkleinerung, Vergrößerung, Unterbrechung, Stillstellung, Verzögerung etc. wichtige Verfahren der Aufmerksamkeitsökonomie dar.14 Die im normalen Alltag notwendige Automatisation von Wahrnehmung soll so unterbrochen und ausgesetzt werden. Es gibt Bereiche, die genuin dafür vorgesehen sind, andere Formen der Wahrnehmung anzubieten und einzuüben: Anders als für alltägliche Wahrnehmung, so führt etwa Schklowskij aus, darf Automatisation für die Kunst nicht gelten. Im Gegenteil, in der Kunst geht es um „die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozeß ein Ziel in sich und muß verlängert werden“.15 Der aufmerksame, spezifisch veränderte Wahrnehmungsprozess als solcher ist bereits das Ziel einer ästhetischen Erfahrung, ja ist die ästhetische Erfahrung.16 Diese „Entautomatisierung“ von Wahrnehmung zum Zweck der Isolierung, Neubeschreibung und -bewertung von Dingen und Ereignissen erinnert an das phänomenologische Verfahren der „epoché“. Das „Einhalten“ bzw. die Unterbrechung gilt dort dem Urteil; es soll in der „epoché“ zunächst aufgeschoben und dann durch die Verfahren der phänomenologischen Reduktion unterstützt, zuverlässiger und nachprüfbarer ausfallen. Dieser Vorgang nimmt sich aus wie die philosophische Formulierung der ästhetischen Verfahren der Verfrem13
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„Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. Bd. 1.2. S. 692–703, hier S. 702f.) „Um uns für die Wahrnehmung des Lebens wieder herzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen.“ (Viktor Schklowskij: Theorie der Prosa. Frankfurt a. M. 1984. S. 13.) Ebd.: „Komplizierung“ und v.a. „Verfremdung“ sind Stichworte, die in der Literaturgeschichte seit Montesquieus Lettres persannes bis Bertolt Brecht eine aufklärerische Tradition markieren. Im Sinne Schklowskijs gehören aber auch etwa Stendhal und Tolstoi mit ihren verfremdeten Darstellungen von Kriegen und Schlachten in der Kartause von Parma oder in Krieg und Frieden dazu. Vgl. dazu auch Carlo Ginzburg: Verfremdung. Vorgeschichte eines literarischen Verfahrens. In: Ders.: Holzaugen. Über Nähe und Differenz. Berlin 1999. S. 11–41. Vgl. zu technischen Innovationen und Verfremdung: Jonathan Crary: Suspension of Perception. Bei Schklowskij klingt dabei an, dass ästhetische Erfahrung in diesem Sinne an und mit Kunst gemacht wird. Offenbar sollen diese Erfahrungen – insbesondere die Techniken der Aufmerksamkeitslenkung – auch im Alltag ihre Bedeutung bekommen, um zu verhindern, dass das Leben nicht im Strom automatischen Registrierens untergeht. Die Idee bekommt also eine ethische oder auch politische Bedeutung.
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dung, oder umgekehrt ließen sich die Techniken der Verfremdung als Praktiken der epoché beschreiben. Allerdings handelt es sich bei Kunstrezeption eben nicht – wie in der Philosophie – um ein rein intellektuelles Verfahren, sondern um eines, das genuin „aisthetisch“, d.h. sinnlich ist, also Erfahrung im körperlichen Sinne notwendig mit einschließt. Hier liegt eine entscheidende Differenz zur philosophischen Phänomenologie. Dabei wird es hier darum gehen, neben den Nachteilen auch insbesondere die Stärken des ästhetischen Verfahrens hervorzuheben: Verfremdung und Komplizierung der Wahrnehmung sollen Aufmerksamkeit erregen, und zwar Aufmerksamkeit nicht nur im Sinne von willentlicher Konzentration, sondern auch in demjenigen einer nicht steuerbaren Disposition für Eindrücke, die dem Empfinden näher liegen als einer rationalen Operation. Die ästhetische Variante der epoché stellt damit eine wichtige Ergänzung der philosophisch-phänomenologischen Debatte dar. Es handelt sich hier um den Punkt, an dem – wie oben angekündigt – Phänomenologie, Aufmerksamkeit und Ästhetik zusammentreffen. Neben Siegfried Kracauer und Walter Benjamin ist Robert Musil einer derjenigen, der diese Form von Theorie und Praxis der Aufmerksamkeit in seinen Werken vereint.17 Musil studierte bei dem berühmten und einflussreichen Sinnesphysiologen Carl Stumpf, der auch der Lehrer von Husserl war, und zeigt sich informiert über die zeitgenössische Aufmerksamkeitsdebatte:18 17
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„Wir denken überhaupt nicht discursiv, sondern sprungweise. Die Täuschung ist dieselbe wie bei einem Kinematographen. Die willkürliche Aufmerksamkeit ist diskontinuierlich. Da die Fähigkeit des Aufmerkens, des sich denken-Fühlens, die Wurzel aller cogitor ergo sumErkenntnistheorie ist, so sind diese psychologischen Aufgaben von größter Wichtigkeit.“ (Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1976. S. 117 [= Heft 24 1904/1905]). Vgl. Henri Avron: Robert Musil und der Positivismus. In: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Hg. v. Karl Dinklage u.a. Hamburg 1970. S. 200–213; Aldo Venturelli: Dichtung und Erkenntnis. Zu Musils philosophischen Studien und zu seinem Verhältnis zur Gestaltpsychologie. In: Ders.: Robert Musil und das Projekt der Moderne. Frankfurt a. M. 1988. S. 83–183; Margret Kaiser-El Safti: Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit. In: Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. Hg. v. Hans Georg Pott. München 1993. S. 126–170; vgl. etwa Max Wertheimer: Experimentelle Studie über das Sehen von Bewegung. Leipzig 1912. Seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es eine umfangreiche Diskussion über Aufmerksamkeit, die von Sinnesphysiologen, Psychologen und Philosophen geführt wurde. Vgl. etwa Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie. Leipzig 1903. S. 33ff.; Harry A. Kohn: Zur Theorie der Aufmerksamkeit. Halle 1894; G.E. Müller: Zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit. Berlin 1873; Henri Bergson: Matière et Mémoire (1886). In: Ders.: Oeuvres. Bd.1. Hg. v. André Robinet. Paris 1970. S. 157–379, bes. 244ff.; Alfred Pilzecker: Die Lehre von der sinnlichen Aufmerksamkeit. Göttingen 1889; Edward Bradford Tichener: A Text-Book of Psychology (1896). New York 1911; Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. 1.2. Leipzig 1880. S. 263ff.; später noch wichtig: Gaston Bachelard und seine Kritik an Bergson: L’intuition de l’instant. Paris 1932. Aufmerksamkeit spielt natürlich schon früher eine Rolle in wichtigen Texten der Philosophiegeschichte: Als ‚attentio’ bereits in der Antike bekannt, taucht sie in den stoischen und epikureischen Selbstsorgepraktiken und als
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Die gesamte Szene, die den Mann ohne Eigenschaften einleitet,19 kann man lesen als eine Reflexion auf die Frage nach dem Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Ereignis: Das Ereignis wird als Störung der Ordnung vorgeführt, es folgt die Reaktion eines Passanten, der seine unwillkürlich affizierte Aufmerksamkeit nicht als Indiz für den Ereignischarakter gelten lassen will und die Zahlen von offiziellen Unfallstatistiken dagegen hält, was vom Erzähler ironisch kommentiert und ebenso diskreditiert wird, wie die Gefühle der den Passanten begleitenden Dame, die schlicht „unberechtigt“ seien.20 Der Zusammenhang von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Ereignis wird auf den Ebenen des Geschehens und der Geschichte zugleich reflektiert. Die Frage, die hier gestellt wird, ist die nach dem konstitutiven Zusammenhang von Erzählung, Aufmerksamkeit und Ereignis bzw. Erlebnis. Dabei spielt die Aufmerksamkeit eine besondere Rolle, läuft doch dort die Frage nach dem jeweiligen Anteil von Subjektivität und dem des Objektiven zusammen. Als Antwort bietet sich kein konventioneller Realismus, aber eben auch kein Kon-
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Hinwendung zu Gott bei Augustinus auf. Im 18. Jahrhundert spielt sie z.B. bei Leibniz und Malebranche eine wichtige Rolle. Vgl. dazu etwa Peter von Moos: Attentio est quaedam sollicitudo. Die religiöse, ethische und politische Dimension der Aufmerksamkeit im Mittelalter. In: Aufmerksamkeiten. Hg. v. Aleida Assmann und Jan Assmann. S. 91–128.; Fritz Rüdiger Sammern-Frankenegg: Zum Begriff der Aufmerksamkeit bei Goethe und Hegel. In: Goethe im Kontext. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. München 1984. S. 341–355 und die anschließende Diskussion S. 355–358. Eine brillante kulturhistorische Erörterung findet sich bei Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur; Aufmerksamkeit. Hg. von Norbert Haas. Eggingen 1998; William James betont den voluntaristischen Aspekt der Aufmerksamkeit und vertritt damit – zumindest noch in Principles of Psychology – auch einen anderen Subjektbegriff. Er signalisiert aber besonders im Kapitel über die Aufmerksamkeit seine Sensibilität für die entsprechenden Vorannahmen, die bei beiden Thesen zu treffen sind. (Vgl. William James: The Principles of Psychology. 2 Bde, hier Bd.1. Cambridge 1981. Kapitel XI und bes. S. 424.) Der Unfall wird dort als der Moment beschrieben, in dem etwas – ein Gegenstand, ein Körper – „aus der Reihe gesprungen ist“ und eine „quer schlagende Bewegung“ vollführt hat. Die gestörte Ordnung des fließenden Verkehrs wird von zwei Passanten, einem Mann und einer Frau, unterschiedlich erfahren und kommentiert: Er weist darauf hin, dass es in den USA jährlich 190 000 Tote durch Autounfälle gebe und sogar 450 000 Verletzte – eine astronomisch hohe Zahl, die ausschließlich dazu angetan ist, Statistiken und ihre vermeintliche Normalisierung des Geschehenen ad absurdum zu führen. Seine Begleiterin dagegen hat das „unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben“. „Unberechtigt“ ist das Urteil, das der Erzähler fällt. Der Leser bekommt zudem den Eindruck, es sei die Meinung des Beobachters, des Mannes ohne Eigenschaften, der die Szene von einem höher gelegenen Zimmer aus betrachtet hat. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Hamburg 1978. S. 11) Bernhard Waldenfels schließt genau an dieser Stelle an die Traditionslinien an: Nach einem kursorischen Durchgang durch die Denkgeschichte der Aufmerksamkeit in den Texten von Husserl, Bergson und William James betont er mit Bergson die Bedeutung des Körperlichen für die Charakterisierung von Aufmerksamkeit und deren Beitrag zur Konstitution von Subjekt und Objekt zugleich: „Schließlich gibt es eine ‚Aufmerksamkeit auf das Leben’, eine attention à la vie, die gegenüber der überbordenden Aktivität des Geistes und gegenüber der Masse angehäufter Erinnerungen dem empfindenden und bewegten Leib verhaftet bleibt.“ (Bernhard Waldenfels: Aufmerksamkeit. S. 28)
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struktivismus an. Die Entstehung eines Ereignisses findet in einem „Dazwischen“ statt, das von materiellen Gegebenheiten, diskursiven Bedingungen und Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozessen zugleich auf eine komplexe – schwindelerregende – Weise geprägt ist.21 Erst die „Entautomatisierung“, Verlangsamung und Verfremdung der Wahrnehmungsprozesse im Text machen dieses komplexe Ineinander – wie in der Zeitlupe oder unter dem Mikroskop – sichtbar. Die Anatomie dieses „Zwischenraums“, in dem sich Geschehen, Beobachtung, Wirklichkeit und Subjektivität verschränken, ist Literatur. Die ästhetisch-philosophische Brisanz dieser musilschen „Experimente“ hat in neuerer Zeit besonders Hans Blumenberg betont. Er greift in einem seiner nachgelassenen Werke Zu den Sachen und zurück genau diese Debatte um die Aufmerksamkeit und deren Funktion im Bereich der Ästhetik auf. Dabei handelt es sich für ihn nicht um ein nebensächliches Thema, sondern um eine Frage nach den Grundlagen seiner Wissenschaft. Tatsächlich definiert er die Philosophie und mit ihr auch alle philologischen Fächer als „Aufmerksamkeitslehren“: „Insofern ist Philosophie die reine Ausprägung einer jener Disziplinen, die auch unter dem Vorwand höherer und höchster Ansprüche schließlich ‚nur‘ der Steigerung und Schärfung von Aufmerksamkeit dienstbar sind. Dazu sind alle beschreibenden und hermeneutischen Disziplinen zu zählen: die Literaturwissenschaft, die Kunstwissenschaft, sogar die Historie, soweit sie nicht, wie die Philologien, auch der Sicherung ihres Bestandes ihrer kanonischen Objekte und des nackten Zugangs zu ihnen hilfreich zu sein haben. […] Rettung der Phänomene ist nicht nur eine Formel der klassischen Astronomie, sondern auch der ‚erschließenden‘ theoretischen Verfahren, die Phänomene davor retten, übersehen und vergessen, verachtet und für irrelevant erklärt zu werden.“22
Nicht nur der Begriff der „Rettung“, sondern auch der Hinweis auf das Übersehene und Vergessene erinnert an die Diktion Kracauers und legt damit noch einmal die Kontinuität dieser vom phänomenologischen Denken geprägten Ideen nahe. Für Blumenberg ist die Tatsache, dass im „Phänomen der Aufmerksamkeit das mundane gegen das transzendentale Bewußtsein“ streitet, der Grund, warum Aufmerksamkeit keine zentrale Kategorie der Phänomenologie sein kann. Andererseits scheint dies wiederum aber auch der Grund dafür zu sein, dass Aufmerksamkeit und Ästhetik bzw. Kunst einander gegenseitig bestimmen: „Bildbewußtsein entsteht so durch eine Art von Gewaltsamkeit gegenüber dem auf die Konsistenz seiner Wahrnehmung eingestellten Bewußtsein. Die Umdeu21
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Vgl. dazu Dorothee Kimmich: ‚Ist das eine Schlacht?’ Heine, Immermann, Stendhal und Flaubert. Erzählen von Ereignissen. In: Ereignis: Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Hg. v. Thomas Rathmann. Köln u.a. 2003. S. 45–62. Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Frankfurt a. M. 2002. S. 190.
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tung der fremdartigen Gegebenheit zum Bild ist zunächst Selbstschutz des Bewußtseins, das auf andere Weise mit der Störung nicht fertig werden könnte, sofern es nicht schafft, das als Bild beabsichtigte Gegebene einfach zu übersehen, wie es in so vielen Wahrnehmungszusammenhängen des Alltags geschieht.“23
Dieses Argument – Kunst als Störung und Unterbrechung des alltäglichen Wahrnehmungsvorgangs zu verstehen – greift nicht nur die Aussagen von Musil, Schklowskij und Benjamin auf, sondern charakterisiert auch das zentrale Anliegen von Kracauers ästhetischer Philosophie.
3. Kracauers „errettende“ Aufmerksamkeit als Form der phänomenologischen „Epochè“ Kracauer wählt wiederum ein Beispiel aus der Literatur, um den eben beschriebenen Effekt der Erkenntnis durch Verfremdung, des spezifischen „Stillstellens“ von Wahrnehmung, zu illustrieren. In Marcel Prousts Recherche du Temps perdu gibt es eine Stelle, an der Marcel unbemerkt über die Schwelle eines Zimmers tritt: „Was auf ganz mechanische Weise in diesem Moment in meinen Augen zustande kam, als ich meine Großmutter bemerkte, war wirklich eine Fotografie. Wir sehen geliebte Wesen stets nur im lebendigen Zusammenhang […]. Und wie ein Kranker […] erblickte ich, für den meine Großmutter immer ein Teil meiner selbst geblieben war und der ich sie niemals anders als durch das Mittel meiner Seele erschaut hatte, […] plötzlich in unserem Salon, […] auf dem Kanapee sitzend, rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend […] eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte.“24
Der Erzähler, von sich selbst entfremdet, „krank“, auf der Schwelle, in räumlicher und zeitlicher Hinsicht zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist ein Beobachter, der sich als Aufzeichnungsmaschine bezeichnet. Als Fotoplatte „sieht“ er plötzlich einen Menschen, den es so vorher nicht gab. Dabei ist der gesamte Effekt der Situation nur dann verständlich, wenn er als Variante zu den gewöhnlichen Sichtweisen auf die Großmutter, also als schockhafte Abweichung vom Gewohnten empfunden werden kann. Die Großmutter wird aus dem Zusammenhang des Alltags, der aus der eigenen Geschichte, Erinnerungen und Illusionen besteht, gerissen und ist nun eine alte Frau unter den vielen anderen alten Frauen. Im normalen Alltag „sieht“ Marcel eine Frau, d.h. ein 23 24
Ebd., S. 203. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 2.: Die Welt der Guermantes. Frankfurt a. M. 1967. S. 1437ff. Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1985. S. 39. Auch andere literarische Beispiele werden angeführt. Über Prousts Kuß der Albertine heißt es: „Dergleichen Bilder erweitern unsere Umwelt in doppeltem Sinne: Sie vergrößern sie buchstäblich; und eben dadurch sprengen sie das Gefängnis konventioneller Realität, Bezirke erschließend, die wir zuvor bestenfalls im Traum durchstreift haben.“ (Ebd., S. 80.)
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Bild, das gesättigt ist mit seinen Erinnerungen und den Bildern der Vergangenheit. Erst durch die Unterbrechung dieses Kontinuums kommt das „reale“ Gesicht der Gegenwart zum Vorschein; und doch bleibt unklar, welche Realität realer ist. Beide zeigen unterschiedliche Seiten der gleichen Wirklichkeit, wie in einem kubistischen Bild: Sie ist zugleich die vertraute Großmutter und eine fremde alte Frau, der Erzähler zugleich Mensch und (Aufzeichnungs-) Maschine. Dieser Effekt des Stillstellens, Unterbrechens und des Ausschneidens von Momenten ist ein Moment der „passiven“ Aufmerksamkeit, in dem Bilder, Wörter, Handlungen und Dinge aus der üblichen Ordnung herausfallen, das Subjekt von ihnen befremdlich affiziert wird und alles dann in einen neuen Zusammenhang stellt, in eine neue Ordnung einbringt. Es handelt sich dabei um eine spezifische Erkenntnisleistung, die allerdings nicht in erster Linie einer rationalen Operation zu verdanken ist, sondern vielmehr eine genuin ästhetische Form der Erkenntnis repräsentiert. Kracauer hat diese Form von ästhetischer Erkenntnis nicht nur theoretisch immer wieder erörtert, sondern auch in seinem Roman Ginster umgesetzt.25 Es handelt sich bei Ginster um einen Kriegsroman, der gleich in den ersten Rezensionen und Kommentaren mit filmischen Vergleichen charakterisiert wurde.26 Entfremdung ist das eigentliche Thema des Romans: Es geht um alle 25
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Kracauer hat sich bis zu seinem Tod mit dem Problem der Aufmerksamkeit intensiv auseinandergesetzt. Seine Frau bittet in einem Brief vom 30. März 1968 Hans Blumenberg um eine Erklärung einiger Notizen für sein Geschichtsbuch, die sie im Nachlass ihres Mannes fand: „Prof. Blumenberg has etablished a principle of the economy of intention. According to this principle, the intensive attention we pay to one problem precludes our close investigation of others.“ Blumenberg antwortet Lili Kracauer am 16. April: Er habe mit Kracauer in diesem Zusammenhang die Husserlsche Idee einer „erfüllten Anschauung“ diskutiert und kritisiert. Sie sei ihnen als „hypertrophe Unendlichkeitszumutung erschienen“. Die Ablehnung der Husserlschen Konzepte steht im Zusammenhang mit ihrem immer wieder diskutierten Versuch, Geschichte als heterogene Zeitstruktur zu erfassen. (Die Originale der Briefe befinden sich im DLA Marbach.) Die Analogien bzw. die gegenseitige Erhellung von literarischer und filmischer Ästhetik bei Kracauer lässt sich nicht übersehen: In der Frankfurter Zeitung vom 25. November 1928 findet sich eine Rezension von Joseph Roth mit dem Titel Wer ist Ginster? und Roths Antwort lautet: „Ginster im Krieg, das ist: Chaplin im Warenhaus. Über die rollende Treppe, die allen anderen zur Hinaufbeförderung dient, stolpert Chaplin sechzehnmal. Wo alle anderen einkaufen, wird er von Rayon-Chefs verfolgt. Wo alle anderen regelrecht und bieder zahlen, gerät er in Verdacht, ein Dieb zu sein. Gegenüber den Warenhäusern, den Kriegen, der Konfektion, den Vaterländern ist Chaplin ebenso wie Ginster ratlos und feig, merkwürdig und unbeholfen, lächerlich und tragikomisch. Wir haben endlich den literarischen Chaplin. Das ist Ginster.“ Zit. nach: Siegfried Kracauer 1889–1966. In: Marbacher Magazin 47 (1988). Hg. von Ingrid Belke und Irina Renz. S. 52; vgl. auch Dorothee Kimmich: Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Frankfurt a. M. 2003. S. 7–29. Am 15. Januar 1928 hatte Ernst Bloch in einem Brief an Kracauer einen ähnlichen Vergleich bemüht: „[…]eine spannendere Entspanntheit habe ich noch nicht gelesen. Der unbeteiligte Held, den nichts angeht, der alles jetzt Geschehende dadurch zugleich, ganz ohne Pathos, entwertet. Trotz Schweijk (dazu wäre viel zu sagen) ist der Typ neu. Höchstens vom Film gehen gewisse Züge herüber, von Chaplin und Buster Keaton. Seltsam wirkt dabei die angehaltene Langeweile des Aspekts; sie vergrößert so-
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Formen der menschlichen, politischen, sozialen und ästhetischen Entfremdung, also auch um verfremdete Wahrnehmung. Sie bringt – wie bei Proust – auch hier ganz fundamentale Kategorien, wie die von Vergangenheit und Gegenwart, die von Subjekt und Objekt ins Wanken. Dies wirkt verstörend. Insbesondere die Auflösung des „Subjekts“ im Roman wirkte auf viele irritierend: Adorno empfindet es als befremdlich, insbesondere, weil – wie er richtig konstatiert – die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu implodieren droht. Ginster – so Adorno zwischen Bewunderung und Ablehnung – sei ein roman philosophique, in dem genau dieses Individuelle, dieses „Unauflösliche“, das paradoxerweise in Kracauers Text nichts als ein Loch sei, illustriert werde. Dabei werde „dieser Knoten der Individualität nicht als etwas Substantielles affirmativ hingestellt“, sondern „vermöge der ästhetischen Reflexion wird das tragende Ich selbst relativiert“.27 Adorno beobachtet richtig, dass die hier praktisch bzw. ästhetisch vorgeführte phänomenologische epoché, die wirklichkeitsverändernde Aufmerksamkeit auf das Konkrete zwar der Erkenntnis und „Errettung“ des Konkreten und wirklich Geschehenen dient, zugleich aber notwendigerweise die Idee eines idealistischen Subjekts verabschieden muss, denn auch Ginster ist – wie Marcel – nicht selten viel eher eine wandelnde Fotoplatte als ein handelnder Mann. Das „tragende Ich“ wird relativiert und aufgelöst; es scheint sich in den Prozess des aufmerksamen Registrierens von Dingen, Personen, Ereignissen zu verlieren. Der Knoten der Individualität ist bei Ginster tatsächlich nichts „Substantielles“, von einem Wesen kann keine Rede sein, sondern es gleicht eher dem von Ernst Mach propagierten „Empfindungskomplex“, dem Proustschen kranken Gast auf der Schwelle oder auch Törleß mit seinen Schwindelgefühlen. Ginster ist ein Mensch, der nicht im üblichen Sinne Erfahrungen macht, sich erin-
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wohl verblüffend, als sie macht das Trostlose irgendwie heiter, als vor allem: sie ist das Erkenntnisinstrument des Wahren, Konkreten, wirklich damals Geschehenen.“ (Marbacher Magazin. S. 47.) Bloch hat den Roman mit Begriffen aus der Fotografie- oder Filmtechnik beschrieben und damit auf den systematischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmen, Erzählen, Literatur und Film verwiesen. Die besonderen Mittel der Perspektivierung, Vergrößerung und Isolation, die die Fotografie bietet, prädestinieren sie in Augen vieler dazu, die Wirklichkeit in ungewohnter Weise zu repräsentieren und damit die Aufmerksamkeit auf bisher Übersehenes zu lenken. Dies gilt insbesondere für die Dinge des Alltags, die auf diese Weise aus ihrer gewohnten Umgebung isoliert, aus dem funktionalen Zusammenhang gelöst werden und dadurch einen anderen eigenen Charakter bekommen. Die Werke von Eugène Atget, Berenice Abott, Albert Renger-Patzsch oder August Sander und Karl Blossfeld sind wohl die bekanntesten Beispiele einer solchen Verfremdung zum Zwecke der Sichtbarmachung. Vgl. auch Anton Kaes: Das bewegte Gesicht. Zur Großaufnahme im Film. In: Gesichter der Weimarer Republik. Eine pysiognomische Kulturgeschichte. Hg. v. Sander Gilman und Claudia Schmölders. Köln 2000. S. 156–174. Adorno betont, dass es sich hier nicht um ein theoretisches Programm handle, sondern um ästhetische Praxis: „Ebenbürtig der Konzeption ist die Sprache. Mit ihrer unzähmbaren Lust, Metaphern wörtlich zu nehmen, eulenspiegelhaft zu verselbständigen, aus ihnen eine Arabeskenrealität zweiten Grades zu stricheln, treibt sie Luftwurzeln weit in die Moderne hinein.“ (Theodor. W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders.: Gesammelte Werke II. Frankfurt a. M. 1981. S. 393–405, hier S. 402)
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nert, Geschehnisse in kausale Zusammenhänge setzt und daraus Schlüsse zieht. Es scheint, als glitte er durch die Geschichte, als lebte er in den Ritzen der Zeit oder eben – wie der Name Ginster sagt – „an den Rändern der Welt“. Ginster überlebt – womöglich darum – den Krieg in der Etappe und in Amtsstuben. Fünf Jahre nach dem Kriegsende verbringt er einen seltsam planlosen Urlaub an der Côte d’Azur. Allein spaziert er durch die Straßen von Marseille und als er zufällig einer alten Bekannten begegnet, kann er sich nur mit Mühe unterhalten. „Sie schien den Austausch von Erinnerungen zu wünschen, es war ihm aber für die Vergangenheit zu heiß. Er hatte auch sein Gedächtnis verloren.“28
Lieber erzählt er von einem Besuch im Hafen, den er am Tag vorher unternommen hatte: „Ein Mann verabschiedete sich von einer Frau, die nicht einmal weinte – er war nicht mehr zu Hause, er war noch nicht unterwegs, er war unerreichbar weit fort. Für einen Augenblick wenigstens aus jedem Zusammenhang gerissen; wie neu.“29
Es handelt sich bei dieser Szene offensichtlich um den „Schwellenmoment“, der Kracauer in Prousts Textstelle so faszinierte. Dieser Moment stillgestellter Zeit, den es – wie bei Benjamin und Proust – eigentlich ja gar nicht gibt, der eben nur im Blick des Beobachters – wie auf einem Foto – festgehalten wird, ist ein „Loch“ in der Zeit, in dem etwas aufblitzt, was „neu“ ist: „Ich habe ihn nicht eigentlich beobachtet, ich habe überhaupt nichts beobachtet, sondern bin selbst entglitten, als führe ich ab. Es handelt sich immer um den Augenblick, in dem sich ein winziges Loch öffnet, ich weiß nicht, ob sie mich verstehen.“30
So versucht Ginster, seine Erfahrung noch etwas genauer zu beschreiben:31 Es handelt sich erwartungsgemäß also nicht um willentliches, aber doch um aufmerksames Beobachten, in dem sich das Ich verliert, zugleich aber bzw. gerade dadurch das Gesehene „errettet“. 28 29 30 31
Siegfried Kracauer: Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Frankfurt a. M. 1990. S. 230f. Ebd. Ebd. Die Nähe des Films zum realen Kontinuum des Lebens ist für Kracauer eine Bedingung filmischer Ästhetik. Der Filmausschnitt ist anders als der Bilderrahmen nicht die Umrandung einer Komposition, sondern ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der sich als solcher in seiner Kontingenz zu zeigen hat und daher grundsätzlich und immer über sich selbst hinausweist. Anders als für den Rahmen eines Tafelbildes fungiert der Bildausschnitt nicht in erster Linie einschließend, sondern auch immer ausschließend. Die Kontingenz und die Unabgeschlossenheit ihres Gegenstands verlangen einen bestimmten „Stil“, der niemals die Geschlossenheit klassischer Kunstwerke anstreben zugleich aber auch den Charakter des „Gemachten“ nicht leugnen kann. Vgl. dazu auch: Nia Perivolaropoulou: Les mots de l’histoire et les images de cinéma. In: Culture de masse et modernité. Siegfried Kracauer sociologue, critique, écrivain. Hg. v. ders. und Philippe Despoix. Paris 2001. S. 248–261.
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Erst mit dem Bericht bzw. dem Bericht des Berichts durch den Erzähler ist das Verfahren der „Errettung“ daher ganz abgeschlossen. Die Momentaufnahme wird so − mehrfach gerahmt − zu einer Erzählung und der Text wirkt dadurch wie ein sich selbst kommentierendes Fotoalbum. Erzählen nähert sich einer Sammlung von Momenten, deren Wert erst dann zu taxieren ist, wenn sie in einer „Sammlung“ – in diesem Fall der Text – auftauchen. Dabei ist Aufmerksamkeit zugleich Bedingung und Ziel der ästhetischen Operation. Ginsters Aufmerksamkeit und die des Lesers bedingen sich gegenseitig; wobei die Bedingung des momentanen Selbstverlusts ebenfalls für beide gilt, andernfalls sind sie nicht für die Störungen der ökonomischen Alltagsordnung empfänglich. Insofern ist Ginster als Bildersammler und Fotograf – genau wie Prousts Marcel – der ideale Leser. Diese seltsame Kombination von Wahrnehmung und Selbstverlust lässt sich nur mit Blick auf die Funktion von Aufmerksamkeit erklären. Gerade weil Aufmerksamkeit keine ausschließlich willentliche Operation ist, sondern ein Vorgang, in dem das Subjekt von den Objekten der Wahrnehmung affiziert wird, kann es tatsächlich zu einer „Rettung“ dessen, was vorher übersehen worden ist, kommen. Die Dinge „zeigen sich“ und werden im Medium bzw. im Zustand der Aufmerksamkeit wahrgenommen – und dies desto präziser, je mehr sich das Subjekt seinen Wahrnehmungskonventionen, den Bedingungen und Einschränkungen seiner Wahrnehmung entzogen hat, also je weniger Subjekt es ist.32 Diese Form der „Rettung“ und Kommunikation mit der Dingwelt kann komische Züge tragen, wie Kracauer das bei Charlie Chaplin33 konstatiert und bewundert, kann aber auch außerordentlich rebellisch sein und die Ordnung der Dinge gefährlich durcheinander bringen, wie etwa im Falle von Robert Walsers Figuren oder Kafkas sprechender Spule Odradek aus Die Sorge des Hausvaters; 32
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Vgl. dazu Dorothee Kimmich: Wie Dinge sich zeigen. In: Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. Hg. v. Heike Gfrereis und Marcel Lepper. Göttingen 2007. S. 156–169. „Der Mensch, den Charlie Chaplin verkörpert, ist ein Loch“, konstatiert Kracauer und führt diese Diagnose weiter aus. Das Zitat stammt aus einer Rezension, die er im November 1926 für die FZ über Charlie Chaplins Goldrausch schrieb. Weiter heißt es dort: „Er hat keinen Willen, an der Stelle des Selbsterhaltungstriebes, der Machtgier ist bei ihm eine einzige Leere, die so blank ist wie die Schneefelder Alaskas. Andere Menschen haben ein Ichbewußtsein […]; ihm ist das Ich abhanden gekommen […].“ Und doch ist es gerade diese ganz spezifische Ohnmacht, die die Zuschauer rührt und zum Lachen bringt. „Seine Ohnmacht ist Dynamit, seine Komik bezwingt die Lacher und erweckt mehr als Rührung, denn sie rührt an den Bestand unserer Welt.“ Diese seltsame Form der Zerstörung und Auflösung der Ordnung, nicht durch Protest, nicht durch willentlichen Widerstand, sondern durch eine besondere Form der fröhlichen Willenlosigkeit, der unbedarften sozialen Mimikry, ist etwas, das Charlot mit einer ganzen Anzahl von anderen Gestalten, weniger aus dem Film als aus der Literatur, teilt. Auch sie sind Fremde in der Welt und sie haben der Literaturwissenschaft seit jeher große Probleme bereitet. Ihre seltsame Opazität, ihr deplazierter Humor, die unerschütterliche, heitere Oberflächlichkeit gepaart mit einer tiefen Melancholie: So spazieren − tatsächlich haben alle etwas vom Flaneur − die Figuren von Walser, Kafka, Kracauer, Benjamin, Hessel und Efraim Frisch durch die Geschichte und machen sie dabei auf ihre ganz eigene Art zunichte.
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sie kann aber auch eine Spur von Messianismus enthalten wie zuweilen bei Kracauer und Benjamin. 4. Schluss: Die Kunst und das verborgene Leben der „schäbigen Dinge“ Abschied von der Lindenpassage heißt ein kurzer Text von Kracauer aus dem Jahr 1930.34 Die Lindenpassage, die Kracauer nur noch aus der Erinnerung beschreibt, da nach der Sanierung nichts von ihrem alten Charakter übrig ist, ist wie die Pariser Passagen ein Ort am Rande – oder besser im Untergrund – der bürgerlichen Welt. Alles, was nicht gern gesehen wird, nistet sich dort ein. „Sie beherbergten das Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die nicht zum Fassadenschmuck taugten.“35
Die Auslagen der Läden dienen „körperlicher Notdurft“ und der „Gier nach Bildern“.36 Hier findet sich Pornografisches, allerdings weniger in den dafür vorgesehen Buchläden als im nebenan liegenden Anatomischen Museum; weiter Brillen, Briefmarken, Reisebüros, Andenkenläden (mit ebenfalls pornografischen Artikeln), ein Weltpanorama, das eine unwirkliche Ferne herstellt, wie sie einem im Zeitalter des Massentourismus nie wieder begegnen wird. „Was die Gegenstände der Lindenpassage einte und ihnen allen dieselbe Funktion zuerteilte, war ihre Zurücknahme von der bürgerlichen Front. Begierden, geographische Ausschreitungen und viele Bilder, die aus dem Schlaf rissen, durften sich dort nicht blicken lassen, wo es hoch herging in den Domen und den Universitäten, bei Festreden und Paraden. Man exekutierte sie, wenn es möglich war, und konnten sie nicht ganz zerstört werden, so wies man sie doch aus und verbannte sie ins innere Sibirien der Passage. Hier aber rächten sie sich am bürgerlichen Idealismus, der sie unterdrückte, indem sie ihre geschändete Existenz gegen seine angemaßte ausspielten. Erniedrigt wie sie waren, gelang es ihnen, sich zusammenzuscharen und im Dämmerlicht des Durchgangs eine wirksame Protestaktion gegen die Fassadenkultur draußen zu veranstalten. Sie stellten den Idealismus bloß und entlarvten seine Produkte als Kitsch.“37
Die anstößigen Dinge desavouieren den glatten Kitsch der Fassaden als Faschismus.38 Sie provozieren Begierden und antworten auf die Augenlust vagabundierender Passanten. Sie sind lebendiger, als der „bürgerliche Idealismus“ erlaubt. Dabei sind sie nicht nur Zeugen der Vergangenheit, sondern auch solche der Vergänglichkeit. Sie verdrängen den Tod nicht: „Wir selbst begegnen uns als Gestorbene in der Passage wieder“.39 Denn in der bürgerlichen Welt ist der Tod – wie 34 35 36 37 38 39
Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage. In: Ders.: Schriften 5.2, S. 260–265. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd., S. 265. Ebd., S. 261.
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übrigens auch das Leben – ins „innere Sibirien“ der Gesellschaft verbannt worden. Aber es wird nichts helfen, denn gerade dafür wird er sich mit Hilfe der Dinge fürchterlich rächen. So wie das Bild von Marcels Großmutter ohne die verklärende Vergangenheit plötzlich ein anderes ist, so ist auch die bürgerliche Welt der Großstadt durch die verstörende Präsenz der Dinge in den Passagen plötzlich eine andere. Sie ist nicht mehr glatt und in sich geschlossen, sondern hat Risse und Löcher bekommen, sie ist untertunnelt. Die Löcher in der Zeit, die Schwellen zwischen den Räumen, die Passagen unter der Oberfläche der Städte, die vielen Gesichter, die ein Mensch trägt, das Banale als Ereignis und vor allem die Dinge, die den Menschen anschauen, markieren einen massiven Einwand gegen einen Idealismus, der Aufmerksamkeit mit willentlicher Konzentration verwechselt. Sie protestieren gegen einen Konstruktivismus, der sich als Naturgesetz ausgibt und sie protestieren gegen die Aufteilung der Welt zwischen Subjekten und Objekten. „Die Ideen und Konstruktionen des Künstlers führen das Erkennen nicht aus der phänomenalen Welt heraus, sondern auf eine unvorhersehbare, neuartige, einmalige Weise in sie hinein.“40
So kann nur die ästhetische Wahrnehmung die Komplexität von Wirklichkeit – wenn schon nicht repräsentieren – so doch erfahrbar machen. „In der ästhetischen Wahrnehmung […] ereignet sich eine Affirmation des begrifflich und praktisch Unbestimmbaren; sie leistet […] eine sensitive Betrachtung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist. Sie ist darauf aus, ihre Gegenstände so zu belassen, nicht wie sie unter diesem oder jenem Aspekt sind, sondern wie sie unseren Sinnen jeweils hier und jetzt erscheinen.“41
Die künstlerische „Leistung“ besteht auf der einen Seite im „Belassen“ der Dinge, wie sie erscheinen, ohne dass damit Formlosigkeit gemeint ist: Das ist die Seite eines gelungen filmischen Realismus, die Kracauer als genuine ästhetische Qualität von Film erkannt und propagiert hat. „Kamera-Realität“, so führt er in Geschichte – vor den letzten Dingen aus – sei „wie historische Realität […] teils geformt, teils amorph – in beiden Fällen eine Folge des halbgaren Zustands unserer Alltagswelt. […] Es gibt außerdem die Affinität der Kamera zum Unbestimmten. Gewiß verleiht der Fotograf seinen Bildern Form und Bedeutung nach Maßgabe vorsätzlicher Auswahl. Seine noch so selektiven Abzüge müssen dennoch Natur im Rohzustand aufnehmen. Wie die natürlichen Objekte selbst werden sie daher von einem Saum nicht abgesetzter, mannigfaltiger Bedeutungen umgeben“. Es handelt sich um ein genuin realistisches Verfahren der Verfremdung von Alltäglichem oder auch einfach um den aufmerksamen Blick, der „begrenzt, ohne zu definieren“.42 40 41 42
Martin Seel: Ästhetik. München 2000. S. 30. Ebd., S. 38. Ebd., S. 63f.
II. Die Objektivität der Dinge: Undurchdringlichkeit, Verfallenheit, Realismus
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Undurchdringlichkeit Oder: über Kracauer und die „Fruchtbarkeit des gegenständlichen Widerstandes“ in der deutschen Kulturphilosophie der 1920er Jahre Im 1926 erscheinenden, 16. Band der Propyläen Kunstgeschichte zur Kunst des 20. Jahrhunderts kommt sein Verfasser Carl Einstein auch auf das bildnerische Werk Wassilij Kandinskys zu sprechen. Kandinsky habe, so Einstein, in seinen flächigen Farbkompositionen das Volumen der Dinge preisgegeben und damit eine Raumerfahrung verweigert, die doch das wesentliche, welterschließende Moment aller Kunst ausmache. Vielleicht habe Kandinsky gefürchtet, so der Kunstkritiker weiter, „wenn das Formerlebnis in Gegenstände mündete, sein Inneres zu banalisieren“, und sich darum in eine „zart ergebene Dingangst“ verschlossen, die für „die Fruchtbarkeit des gegenständlichen Widerstandes“ gänzlich blind sei.1 Die von Einstein gegen die vergeistigte Kunst Kandinskys ins Feld geführte „Fruchtbarkeit des gegenständlichen Widerstandes“ ist ein zentrales Motiv der Kulturphilosophie der 1920er Jahre in Deutschland und der Angelpunkt der folgenden Ausführungen. Raum- und Ding-Erfahrungen beschäftigen nicht nur die Kunst und Literatur, die Kunsttheorie und Ästhetik dieser Zeit, sondern auch die zeitgenössische Phänomenologie und Soziologie.2 Schließlich bezeugt die schon oft beobachtete Begeisterung Siegfried Kracauers für die Welt der Dinge – allein im Jahr von Einsteins Kandinsky-Kritik, 1926, erscheinen Feuilletons Kracauers u.a. über das Klavier, über Regenschirme, Hosenträger und das Monokel –,3 dieses allgemeine Interesse. Seit dem Be1
2
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Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Tanja Frank. Leipzig 1988. S. 296f. (Erstausgabe 1926). Vgl. Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Hg. v. Sigrid Lange. Bielefeld 2001; Dirk Niefanger: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen 1993; Heinz Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. RaumBilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Hannover 2002. Siegfried Kracauer: Das Klavier, Falscher Untergang der Regenschirme, Die Hosenträger. Eine historische Studie, Das Monokel. Versuch einer Biographie. Alle in: Schriften. Bd. 5.1. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 1990. Vgl. zur Bedeutung der Dinge für Kracauer die schöne Darstellung von Helmut Lethen: Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1990. S. 195–228.
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ginn des Jahrhunderts bereits kündigt es sich in Rilkes Dingästhetik an, in Georg Simmels Entdeckung der alltäglichen Gegenstände für die Kulturphilosophie und Soziologie oder in der ebenfalls auf dem ‚Widerstand der Dinge’ aufgebauten Erkenntnistheorie Max Schelers, den Kracauer zu den wichtigsten zeitgenössischen deutschen Philosophen rechnet. Der Gedanke eines spezifischen ‚Widerstands’ der Dinge hält dabei die von der idealistischen Philosophie und Ästhetik in Gang gesetzte dialektische Bewegung zwischen Ding und Mensch gleichsam auf der Stelle. Ging es der idealistischen Dialektik um den Traum einer vollständigen Aufhebung der dinglichen Welt im Geist und durch die „harte Rinde der Natur“ hindurch – wie es in der Hegelschen Ästhetik heißt4 – wird die widerständige ‚Härte’ der äußeren Natur als solche nun zum bleibenden, unaufhebbaren Anstoß der Reflexion. Die Undurchdringlichkeit der Dinge und der Widerstand ihrer Gegenständlichkeit, den sie dem Subjekt entgegensetzen, erscheinen in der Kulturphilosophie der klassischen Moderne und bei Kracauer insbesondere vielmehr als eigene ‚fruchtbare’ Qualitäten.
1. „[…] einmal […] mußten Gottes Blicke in ihren dunklen Schwingen über Italien hängen. Das Land unten war hell, die Zeit glänzte wie Gold, aber quer darüber, wie ein dunkler Weg, lag der Schatten eines breiten Mannes, schwer und schwarz, und weit davor der Schatten seiner schaffenden Hände, unruhig, zukkend […]. Gott konnte seine Augen nicht abwenden von diesen Händen, die ihm zuerst gefaltet schienen, wie betende […]. Er neigte sich tiefer, fand den schaffenden Mann, sah über seine Schultern fort auf die am Steine horchenden Hände und erschrak: sollten in den Steinen auch Seelen sein? Warum belauschte dieser Mann die Steine? Und nun erwachten ihm die Hände und wühlten den Stein auf wie ein Grab, darin eine schwache, sterbende Stimme flackert: ‚Michelangelo’, rief Gott in Bangigkeit: ‚wer ist im Stein?’ Michelangelo horchte auf; seine Hände zitterten. Dann antwortete er dumpf: ‚Du, mein Gott, wer denn sonst. Aber ich kann nicht zu dir.’ Und da fühlte Gott, daß er auch im Steine sei, und es wurde ihm ängstlich und enge.“5
Rilkes Geschichte Von Einem, der die Steine belauscht aus den Geschichten vom lieben Gott (1900), in der Gott auf „die Hände Michelangelos, die ihn befreien würden“, warten muss bis jener wiederum in Demut eingesehen hat, dass Gott auch in ihm selbst ist,6 veranschaulicht den Stand der Dingästhetik um 1900, die in Rilke bekanntlich einen ihrer herausragenden Vertreter hatte. 4
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1986. Hier Bd. 1, S. 23. Rainer Maria Rilke: Von einem, der die Steine belauscht. In: Ders.: Geschichten vom lieben Gott (1900). Zitiert nach: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 3. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a. M. 1996. S. 391f. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 392f.
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Walther Rehm hat diese Aufwertung der Dinge zu einem Medium der Weltund Gotteserfahrung in einer großen Studie unter dem Titel Wirklichkeitsdemut und Dingmystik (die selbst im weiteren Sinne zu dem Phänomenbereich gehört, den sie beschreibt) auf den Begriff der „Dingdemut“ gebracht und ihr eine Geschichte von Dürer über Goethe, Keller und Stifter bis eben zu Rilkes „Dingverkündigung“ geschrieben.7 Das ‚Ding’, in Rilkes Geschichte der Stein, aus dem unter der kundigen Hand des Künstlers die Plastik entstehen soll, wird zu einem Symbol der Einheit des Kosmos erhoben, in dem sich die Menschen und Gott hier nun im Wortsinn ‚in’ den Dingen treffen. Auch die prägnante Formel, mit der Walther Rehm das Konzept dieser Dingästhetik charakterisiert: Wirklichkeitsdemut und Dingmystik, verdeutlicht, dass das Ding in diesem Zusammenhang Gegenstand einer modernen religiösen Erbauung ist. Sie ist dadurch charakterisiert, dass nicht nur, wie Rilke es sich ausdenkt, Gott und Mensch die Positionen tauschen, wenn in der zitierten Geschichte Von Einem, der die Steine belauscht der Mensch Gott befreien muss, sondern scheinbar auch Mensch und Ding ihren Platz gewechselt haben. Der Mensch verfügt nicht mehr über die Dinge, sondern er rückt aus der Mitte des Kosmos heraus und das Ding tritt an seine Stelle. Das Ding wird zu einem Gegenstand der demütigen Annäherung, der, wie Rilke in seinem Rodin-Vortrag von 1907 die Zuhörer auffordert, „auf Ihre Liebe, auf Ihre Hingabe“ wartet.8 Liegt die Pointe dieses Programms also darin, dass die geläufige Hierarchie zwischen den Menschen und den Dingen umgedreht wird, so kommen die Dinge den Menschen dabei doch auch weit entgegen. Sie öffnen sich dem, der sich ihnen mit Aufmerksamkeit nähert, wie Rilke mit seinem im Stein ‚wühlenden’ Michelangelo sehr handgreiflich vorführt. Sogar der taube Stein birgt eine Seele, ja, Gott vermag aus ihm zu sprechen – auch wenn es der Mensch ihm erst erklären muss: „Du, mein Gott, wer denn sonst.“ Das ist die notwendige Bedingung dieser demütigen ‚Dingmystik’: dass sie glauben machen muss, dass die geformte Materie eine Seele habe. Ja, dass sie so beseelt ist, dass sie an der allgemeinen Auferstehung der Sterblichen teilnehmen wird, wenn Rilke aus dem Louvre berichtet:
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Walther Rehm: Wirklichkeitsdemut und Dingmystik. In: Logos 19 (1930). S. 297–358. Wiederabgedruckt in: Ders.: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900. Hg. v. Reinhardt Habel. Göttingen 1969. S. 78–152, hier S. 150. Siehe auch aus dem gleichen Zeitraum Kurt Oppert: Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (1926). S. 747–783. Zur bislang im größeren Zusammenhang noch wenig erforschten Bedeutung der Ding-Ästhetik für die Moderne siehe Dorothee Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme. Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 44 (2000). S. 177–194. Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin. Zweiter Teil. Ein Vortrag. In: Werke. Bd. 4. Hg. v. Horst Nalewski. S. 451–483, hier S. 456.
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„Da waren Steine, die schliefen, und man fühlte, daß sie erwachen würden bei irgend einem Jüngsten Gericht, Steine, an denen nichts Sterbliches war, und andere, die eine Bewegung trugen, eine Gebärde, die so frisch geblieben war, als sollte sie hier nur aufbewahrt, und eines Tages irgend einem Kinde gegeben werden, das vorüberkam.“9
Spätestens die von Rilke im Louvre imaginierte Auferstehung der ‚Steine’ verrät, dass letztlich doch trotz aller ‚Dingdemut’ der Mensch das Maß aller Dinge in dieser Dingästhetik bleibt. Beseelung ist das Ziel, und die Dinge werden sich schon fügen. So deutet bemerkenswerterweise auch Walther Rehms Reflexion dieser modernen Dingmystik mit keinem Gedanken die Möglichkeit an, dass die Dinge vielleicht auch schweigen und sich sperrig zeigen könnten gegenüber der ihnen zugedachten Funktion, Medium moderner Andacht und Weltbeseelung zu sein. Aber es gibt solche Zweifel. Und sie setzen in gewisser Weise an der vielleicht elementarsten Form der Dingerfahrung an: ihrer Undurchdringlichkeit. So erinnert Georg Simmel daran, dass es definitorisch ein ‚Ding’ bestimmt, ein undurchdringlicher Körper, ‚solide’ zu sein, „daß jedes vielmehr vermöge der Undurchdringlichkeit der Materie seinen Raum unverlierbar bewahre, während das eigentliche Verdrängen, das Dorthinwollen, wo der Andere ist, nur den Geistern und den Elementen innerhalb des Geistes zukomme“.10 Wo ein Ding ist, so kann man zusammenfassen, ist nichts anderes. Aus dieser 9
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Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin. Erster Teil (1902). S. 403–449, hier S. 406. Hartmut Böhme interpretiert Rilkes Anthropologisierung der Steine in einem auch ansonsten im vorliegenden Kontext sehr lesenswerten Aufsatz: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des ‚Menschenfremdesten’. In: Das Erhabene zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hg. v. Christine Pries. Weinheim 1989. S. 119–142, hier S. 129. Am Beispiel des Archaïschen Torso Apollos, eines Steins, der nach Rilke „ganz Auge“ ist („denn da ist keine Stelle / die dich nicht sieht“), ganz entsprechend zur oben zitierten Louvre-Passage als Triumph des Künstlers über den Tod: „Der harte, ebenso undurchsichtige wie blinde Stein, der gleichwohl ganz Auge ist: er ist das Seelenfenster, er ist ganz und gar Seele, anima und pneuma zugleich, vis vitalis und Weltgeist, lebendiger als jeder organische Körper. Dies ist der totale Triumph der Kunst über die tote Natur.“ Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1989ff. Bd. 4, S. 381. Auf den primären Charakter der Erfahrung der Widerständigkeit der Dinge weist schon John Locke hin: „Die Idee der Festigkeit erhalten wir durch den Tastsinn; sie ergibt sich aus dem Widerstand, den, wie wir beobachten, ein Körper einem anderen Körper entgegensetzt, der den von ihm ausgefüllten Raum einnehmen will, bevor ihn ersterer verlassen hat. Keine andere Idee wird uns durch Sensation so unausgesetzt zugeführt wie die der Festigkeit. Mögen wir uns bewegen oder ruhen, ja, in welcher Stellung wir uns auch befinden mögen, stets fühlen wir etwas unter uns, das uns trägt und uns daran hindert, weiter nach unten zu sinken; ebenso nehmen wir an den Körpern, die wir täglich anfassen, wahr, daß sie, solange sie zwischen unsren Händen bleiben, durch eine unüberwindliche Kraft die auf sie drückenden Teile unserer Hände daran hindern, sich zu nähern.“ John Locke: Über die Idee der Festigkeit. In: Versuch über den menschlichen Verstand. Buch II, Kap. IV. Übers. und hg. v. Carl Winckler. Hamburg 1981. Bd. 1, S. 131f.; Hervorhebung von mir, J.J. Vgl. Wolfgang Lefèvre: Undurchdringlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u.a. Basel 1971–2004. Bd. 11, Sp. 137f.
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dauernden, „epische[n] Starre der Dinge“11 lässt sich damit auch ein Widerstand gegenüber ihrer allzu einfachen Aneignung ableiten, und darum ist gerade das Ding prädestiniert dazu, der fragwürdig gewordenen Aneignung der Welt, wie sie die Kulturphilosophie der zwanziger Jahre thematisiert (und beispielsweise auch noch Martin Heideggers verspätete Dingphilosophie)12, zum Reflexionsgegenstand zu dienen. Ich möchte zeigen, dass die elementare materiale Sperrigkeit der Dinge, ihre Undurchdringlichkeit, in den philosophisch-ästhetischen Diskursen der zwanziger Jahre eine besondere Rolle gespielt hat und schließlich auch mit eigenen erkenntnis- und kulturkritischen Akzentuierungen für Siegfried Kracauers „Denken durch die Dinge“ von maßgeblicher Bedeutung ist.
2. Im gleichen Jahr wie Walther Rehms Wirklichkeitsdemut und Dingmystik, 1930, veröffentlicht Ernst Bloch innerhalb seiner Essaysammlung Spuren das kleine Prosastück Der Rücken der Dinge. Man kann es wie ein kritisches Korreferat zu Rehms Ausführungen lesen. „Ganz einfach“, schreibt Bloch, „ganz früh hingesehen: was ‚treiben’ die Dinge ohne uns? wie sieht das Zimmer aus, das man verläßt?“13 Statt der ‚Beseelung’ der Dinge nachzugehen, wirft Bloch die Frage auf, wie sich die Welt jenseits der Seele darstellt. „Grade, daß alles bei unserer Rückkehr wieder dasteht, ‚als wäre nichts gewesen’, kann das Unheimlichste von allem sein.“14 Bloch hebt einen kindlichen Zweifel ins Bewusstsein, der das stumme Dasein der Dinge fremd macht und vermuten lässt, dass sie „einer immerhin queren Welt angehören, aus der noch keiner zu uns kam“.15 „Vorn ist es hell oder hell gemacht“, so Bloch weiter über das Ding, das sich unserer Wahrnehmung zeigt, „aber kein Mensch weiß noch, woraus der Rücken der Dinge besteht, den wir allein sehen, gar ihre Unterseite […]“.16 Die Dinge selbst bleiben demnach unerkannt. Das, „woraus“ sie „besteh[en]“, verweigert sich dem analytischen Blick, dem sie immer nur eine Seite zeigen.17 Jedenfalls „noch“ – ob es einmal anders war oder sein wird, 11 12
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Oppert: Dinggedicht. S. 748. Martin Heidegger: Das Ding (1950). In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 51985. S. 157–180. Ernst Bloch: Spuren (1930). Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M. 1969. S. 172. Ebd. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 174; Hervorhebungen im Original. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bill Brown: The Secret Life of Things. Virginia Woolf and the Matter of Modernism. In: Modernism/Modernity 6.2 (1999). S. 1–28; ich danke für diesen Hinweis Dorothee Kimmich. Schon Edmund Husserl hatte zu Beginn des Jahrhunderts auf dieses nur scheinbar banale Problem aufmerksam gemacht: „Wir sehen, so heißt es, ein Haus, aber eigentlich sehen wir nur die Vorderseite.“ Edmund Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hg. v. KarlHeinz Hahnengress und Smail Rapic. Hamburg 1991. S. 49.
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lässt der Utopist Bloch offen. So behält die Bloch’sche Dingästhetik ebenfalls, wenn auch unter Vorbehalt, ein religiöses Moment, das jedoch nicht im Subjektiven bzw. Künstlerisch-Ästhetischen begründet ist, sondern sich im Horizont eines historischen Messianismus bewegt. Das Insistieren auf messianischer Unerlöstheit ist jedoch sicher nur einer der Quellgründe für die Vorstellung einer besonderen Widerständigkeit der Dinge. Von besonderer Bedeutung für die skeptische Wendung der Dingästhetik in den zwanziger Jahren dürfte etwa auch Wilhelm Worringers epochemachende kunsthistorische Studie Abstraktion und Einfühlung von 1907 gewesen sein, die bislang vor allem als kongeniale kunsttheoretische Fundierung der modernen abstrakten Malerei gewürdigt worden ist und von immensem zeitgenössischen Einfluss war.18 Auch für den vorliegenden Zusammenhang ist Worringers Studie von Bedeutung, weil sie die bis dahin letztlich auch die Dingästhetik beherrschende systematische Dominanz der Einfühlungsästhetik korrigieren will und dieser unter dem Stichwort der ‚Abstraktion’ ein gleichrangiges, historisch nicht weniger legitimiertes Modell künstlerischer Produktion und Rezeption an die Seite stellt.19 Die „Beglückungsmöglichkeit“, so Worringer, die die Kunst zu bieten habe, müsse nicht zwangsläufig darin beruhen, „sich in die Dinge der Außenwelt zu versenken, sich in ihnen zu genießen“, sondern könne auch darin bestehen und habe historisch konkret auch darin bestanden, „das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen“,20 es zu abstrahieren und absolut zu setzen, es aus der Tiefenräumlichkeit in die zweidimensionale Fläche zu übertragen und sich auf diese Weise die Welt äußerlich gegenüber zu setzen. Was bei Worringer als historisch variierende, einem souveränen Kunstwillen unterstellte Möglichkeit unterschiedlicher Wahrnehmung künstlerischer Objekte erscheint – Einfühlung oder Abstraktion –, eröffnet den Lesern Worringers über die kunsthistorische Disziplin hinaus ein weites Feld kulturphilosophischer Geschichtsbetrachtung. Blochs erkennbar von Worringer inspirierte Ausführungen zum Ornament und zur Gotik etwa in Geist der Utopie (1918) zeigen es beispielhaft.21 War der Umgang mit den Dingen bei Worringer Folge eines ganz bestimmten „Kunstwollens“ (Alois Riegl) und damit der freien Entscheidung vorbehalten, wie man sich den Dingen gegenüber verhalten wolle, so beschäftigen 18
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Vgl. jetzt jedoch die beiden umfassenden Studien von Claudia Öhlschläger: ‚Abstraktionsdrang’. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne. München 2005; und Jutta MüllerTamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i. Br. 2005. Siehe Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Mit einem Nachwort von Sebastian Weber. Amsterdam 1996. S. 36f. Ebd., S. 50f. Ernst Bloch: Geist der Utopie (21923). Frankfurt a. M. 1973. S. 32ff.: Ägyptisch Werdenwollen wie Stein. Vgl. Vf., Ornament und Raum. Worringer, Jünger, Kracauer. In: Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur-Literatur-Film. Hg. v. Sigrid Lange. Bielefeld 2001. S. 135–158, hier S. 141.
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Kracauers Lehrer Georg Simmel (nach eigenem Zeugnis ebenfalls ein begeisterter Worringer-Leser) zunehmend die einer solchen Entscheidung vorgelagerten Schwierigkeiten, die einem reibungslosen Umgang der Menschen mit den Dingen nach Simmels Beobachtung entgegenstehen und auch für eine ursprünglich auf geistige Verinnerlichung ausgerichtete Dingemphase nicht ohne Folgen bleiben können. Im großen Maßstab etwa verfolgt Simmels Untersuchung über Begriff und die Tragödie der Kultur von 1911 das Problem, wie und ob überhaupt noch jene „zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde“22 (gemeint sind kulturelle Objektivationen materieller und auch geistiger Art) in der modernen Gesellschaft noch vermittelbar seien: „Der Geist sieht sich einem Sein gegenüber“, so heißt es dort, „auf das ebenso der Zwang, wie die Spontaneität seiner Natur ihn hintreibt; aber er bleibt ewig in die Bewegung in sich selbst gebannt, in einem Kreise, der das Sein nur berührt, und in jedem Augenblick, in dem er, in der Tangente seiner Bahn abbiegend, in das Sein eindringen will, reißt ihn die Immanenz seines Gesetzes wieder in seine in sich selbst beschlossene Drehung fort“.23
Das hier sehr genau entworfene Bild der Undurchdringlichkeit des Seins, an der der Geist abprallt und „in seine in sich selbst beschlossene Drehung“ zurückgezwungen wird, soll die Unmöglichkeit veranschaulichen, sich die moderne Kultur – und das heißt auch ihre Dinge – in ihrer Fülle anzueignen. Eine Figur, die Simmel nicht nur als kultursoziologisches Gleichnis, sondern an anderen Stellen auch konkret am Ding selbst vorführt. Es sei hier nur auf Simmels großen Essay Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur (1910) hingewiesen, der dieses Problem im Horizont der Kunst behandelt und den man etwas überspitzt auch ‚Schwierigkeiten mit der Dingästhetik’ nennen könnte. Denn unter dem Blick Simmels wenden sich Michelangelos Plastiken im Gegensatz zu Rilkes Steinen nicht mehr vertrauensvoll an ihr Gegenüber, sondern es regiert vielmehr eine „ungeheure [...] Einsamkeit, die Michelangelos Gestalten wie eine fühlbare und undurchdringliche Sphäre umgibt“.24 Diese ist jedoch nicht gesellschaftlichen Verwerfungen geschuldet, sondern hat, wie Simmel im Weiteren ausführt, mit der Sperrigkeit der eingesetzten ästhetischen Form selbst, mit der steinernen Form der Plastik zu tun, deren „idealer Raum […] nicht weiter und nichts anderes als die Grenzen ihres Körpers selbst“ ist: „außerhalb dieser ist keine Welt mehr, mit der sie zu tun hätte.“25 Kurz, das Ding, jedenfalls soweit es Skulptur geworden ist, ist „porenlos gegen die Welt außerhalb ihrer abgeschlossen“.26 Hier ist nicht der Ort, weiter zu 22
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Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 14, S. 385–416, hier S. 198. Ebd. Georg Simmel: Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur (1910/11). In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12, S. 111–139, hier S. 118. Ebd. Ebd., S. 119.
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verfolgen, wie Simmel aus dieser „furchtbare[n] Unerlöstheit“27 Michelangelos und seiner künstlerischen Gestalten herausfindet, aber die Skepsis gegenüber einer beseelenden Dingästhetik ist doch unüberhörbar. Die Durchlässigkeit und Lebendigkeit der Dinge ist zu einer problematischen Vorstellung geworden und muss, wenn man Simmels Analysen folgt, mit Widerständen sehr grundsätzlicher Natur rechnen – was Simmel im übrigen nicht daran gehindert hat, sich selbst den Dingen vom ‚Henkel’ über ‚Brücke und Tür’ oder ‚Schmuck’ bis zur ‚Ruine’, um nur einige seiner bekanntesten Untersuchungsgegenstände zu nennen, mit größter intellektueller Intensität zu widmen.
3. Das Interesse Simmels an den Dingen hat sein Schüler Kracauer bekanntlich geteilt. Neben den schon eingangs erwähnten Arbeiten ist hier beispielsweise auch Kracauers berühmter Essay Abschied von der Lindenpassage (1930) zu nennen, in dem ähnlich wie in Blochs Spuren die Dinge zum stummen Rätsel werden, die messianische Hintertür allerdings verschlossen bleibt. Der skizzierte Gedanke einer geschlossenen ‚Außenseite’ der Dinge, die sich der Aneignung widersetzt, ist dabei kein ausdrückliches Thema dieses Essays, in dem Kracauer vielmehr den Dingen als Gegenständen der Erinnerung kritische gesellschaftliche Einsichten abgewinnt. Sondern die Idee einer gegenübertretenden Äußerlichkeit der Welt scheint mir eher ein allgemeiner Grundzug des ‚wunderlichen Realismus’ Kracauers zu sein, wie ihn Adorno in seiner sehr ambivalenten Würdigung Kracauers charakterisiert und in engste Verbindung mit dessen Hinwendung zu den Dingen gebracht hat:28 „In einem nur schwer zu treffenden Sinn war sein Denken eigentlich immer mehr Anschauung als Denken, eigensinnig bestrebt, nichts von dem durch Erklärung sich abmarkten zu lassen, was die harten Dinge im Aufprall ihm eingeprägt hatten.“29
Dabei wäre es nun sicher falsch, Kracauer zu einem Äußerlichkeitsfetischisten, zu einem bedingungslosen Anwalt von Undurchdringlichkeit zu erheben. Anders als Adorno suggeriert („Im Zeichen ihrer Undurchdringlichkeit läßt sein Gedanke die Realität, an die er erinnert und die er durchdringen sollte, stehen“),30 ist auch Kracauer durchaus an der verlangten kritischen Durchdringung der Welt gelegen, wie etwa seine später in der Sammlung Das 27 28
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Ebd., S. 125. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer (1964). In: Ders.: Noten zur Literatur. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1965. S. 83–108, hier bes. S. 107f. Ebd., S. 88; Hervorhebung von mir, J.J. „Von da bietet sich ein Übergang zu ihrer Rechtfertigung als der des Unabänderlichen an“, ebd., S. 90. Kracauer liegt ein solcher ‚Übergang’ vom ‚Undurchdringlichen’ zum ‚Unabänderlichen’ fern, für den Dialektiker Adorno ist er unausweichlich.
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Ornament der Masse vereinigten Essays exemplarisch zeigen. Aber die Idee eines widerständigen, ‚harten’ Außen scheint doch von einiger Faszinationskraft für Kracauer zu sein: bis hin zum bekannten Programm einer Errettung der äußeren Wirklichkeit, das der Filmtheorie von 1960 ihren immer noch provozierenden Untertitel gibt. Er weist auf einen im genauen Sinn materialistischen Impuls, der das Interesse an der äußeren Gestalt der Erscheinungen leitet.31 Der Film, so Kracauer, unterscheide sich von den traditionellen Künsten genau darin, dass er sein Rohmaterial „darbiete“, während jene es zu „verzehren“ genötigt seien.32 Der Film ist damit Inbegriff einer die Äußerlichkeit der Dinge bewahrenden Kunst, die genau darum einem auf durchdringende ‚Innerlichkeit’ abonnierten Betrachter suspekt sein muss: „All dies heißt, daß Filme sich an die Oberfläche der Dinge klammern. Sie scheinen um so filmischer zu sein, je weniger sie sich direkt auf inwendiges Leben, Ideologien und geistige Belange richten. Das erklärt, warum kultureifrige Leute das Kino verschmähen. Sie befürchten, daß seine unleugbare Vorliebe fürs Äußerliche uns dazu verleiten könnte, unsere höheren Aspirationen über den kaleidoskopartigen Bildern vergänglicher Erscheinungen zu vernachlässigen“.33
Für die „Voraussetzung und Achse“ seiner gesamten Filmtheorie hält Kracauer damit, wie er im „Vorwort“ zur Theorie des Films ausdrücklich formuliert, dass Filme „record and reveal physical reality“, so der Wortlaut der englischen Originalausgabe, dass Filme also physische Realität ‚aufzeichnen’ und ‚zum Vorschein bringen’ wie man wohl zunächst wörtlich übersetzen müsste, während die für die deutsche, vom Autor selbst revidierte Übersetzung gewählte Formulierung: „physische Realität wiedergeben und enthüllen“,34 doch wieder die alte Skepsis gegenüber dem blendenden äußeren Schein verrät, die die im Buch entwickelte Phänomenologie des Filmischen gerade widerlegen will. Nicht die Filmtheorie des späten Kracauer soll jedoch im Folgenden im Mittelpunkt stehen, sondern ich möchte Kracauers Aufmerksamkeit für die widerständige „harte Rinde der Natur“, von der Hegel sprach, an zwei Arbeiten aus den zwanziger Jahren verfolgen und damit auch zeitlich einen engen 31
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Vgl. den frühen Aufsatz des befreundeten Erwin Panofsky: Style and Medium in the Motion Pictures (1936).: „Der Film, und nur der Film, wird jenem materialistischen Weltverständnis gerecht, das die gegenwärtige Welt durchdringt“, zitiert nach ders.: Stil und Stoff im Film. In: Filmkritik 11 (1967). S. 354. Zu dem nur scheinbar ‚naiven Realismus’ Kracauers siehe Lethen: Sichtbarkeit. Bes. S. 198ff.; zur Ambivalenz des Oberflächlichen bei Kracauer Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der ‚Oberfläche’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 359–373. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 21993. S. 13; vgl. auch ebd., S. 389f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 11f. Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York 1960. S. IX. Hervorhebungen von mir, J.J.
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Zusammenhang herstellen zu der oben skizzierten Entdeckung dinglicher Widerständigkeit bei Worringer, Bloch und Simmel. Dabei soll schließlich im Versuch, das Interesse an ‚Undurchdringlichkeit’ im philosophisch-ästhetischen Umfeld der zwanziger Jahre zu rekonstruieren, der begonnenen Reihe eine weitere zentrale Figur hinzugefügt werden: der Philosophen, Kultur- und Wissenssoziologe Max Scheler, der nach dem Urteil Kracauers einer „der bedeutendsten Denker, die Deutschland in der Gegenwart hervorgebracht hat“, ist.35 Zunächst jedoch zu Kracauer.
4. Zwischen 1922 und 1925 arbeitet Siegfried Kracauer an einem Manuskript, das eine umfassende Kritik neuzeitlicher Rationalität zum Gegenstand hat. Zu Lebzeiten unveröffentlicht, erscheint es zuerst 1971 im Rahmen der Werkausgabe der gesammelten Schriften Kracauers unter dem Titel Der DetektivRoman. Ein philosophischer Traktat Kracauer liest das meist geringgeschätzte Genre des Detektivromans seit Edgar Allan Poe als eine „negative Ontologie“, dessen Held, der Detektiv, nach Kracauer nichts weniger als die Personifikation der „von dem Seinsgrund losgerissen[en]“ ratio zu verstehen ist.36 Denn das Ziel des Detektivs ist die restlose Analyse des ihm Vorliegenden, die Auflösung jeder Verwicklung. Demgegenüber will Kracauer das Unauflösliche, den ‚Stoff’, wie er es nennt, festhalten und, passend zum rationalitätskritischen Impuls, gegenüber dem neuzeitlichen Ideal der durchdringenden Zergliederung die „Undurchdringlichkeit des Seienden“ (110) bewahren. An der Figur des Detektivs führt Kracauer die Verfallsgeschichte eben dieser neuzeitlichen Rationalität vor. Nicht von ungefähr wirkt so das Theodor W. Adorno gewidmete Manuskript wie eine Vorstudie zur Dialektik der Aufklärung, die mit dem Detektiv eine populäre Prä- bzw. Postfiguration dessen entdeckt, was Adorno später am Homerischen Odysseus im berühmt gewordenen Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung in der mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (1947) kritisch entfalten wird. Der Detektivroman stellt ästhetisch den Erkenntnisprozess des „seiner ontologischen Residuen beraubten Transzendental-Subjekts“ dar (100). Charakteristisch für ihn ist, dass sich in ihm der „Intellekt durch seine Formkraft“ erst die vermeintliche „Ungestalt“ des Gegebenen zum „Gegenstand wandelt“ 35
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Siegfried Kracauer: Max Scheler und der Pazifismus (1932). In: Schriften 5.3. Frankfurt a. M. 1990. S. 19–22, hier S. 22. Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt a. M. 1979. S. 122. Zitatnachweise im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl in Klammern im Text. Vgl. David Frisby: Zwischen den Sphären. Siegfried Kracauer und der Detektivroman. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1990. S. 39–58. Siehe dort auch zu Benjamins und Blochs zeitgleicher Beschäftigung mit dem Detektivroman.
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(105), genau so, wie es Kant entworfen hatte und „[j]ene Kant-Nachfolge, die von Fichte zum Neukantianismus führt“, es bis in die jüngste Gegenwart verlängert, die „das Ding an sich auszumerzen“ sucht (77). Analog inszeniert der Detektiv-Roman, so Kracauer, einen „Erkenntnis-prozeß“, der sich „abzulösen [trachtet; J.J.] von der Haft im Material“ (103). Wie das Objekt seine „radikale Destruktion“ erleiden muss, „damit das Transzendental-Subjekt als Gesetzgeber sich bewährt“, ‚zerpulvert’ auch die ratio des Detektivs den Stoff zum puren „Anschauungsmaterial“ (105), um ihre Überlegenheit an ihm zu erweisen: So, wenn Tabaret in Emile Gaboriaus Das Alibi (dt. 1913) im Plädoyer vor Gericht aus ‚flüchtigen Spuren’ im Sand und aus Zigarettenstummeln in der Herdasche die Identität des Mörders rekonstruiert (104). Der Detektiv im Roman ist die literarisierte Version einer Rationalität, die in ihrer „Unbedingtheit […] dem Stoff gegenüber […] nirgends mehr auf Schranken des Seienden stößt“ (113). Kracauer zieht sich nun jedoch in seiner Abhandlung über den DetektivRoman nicht vollständig auf die kritische Darstellung der ‚negativen Ontologie’ einer durchdringenden Vernunft zurück, die ihre Objekte destruiert und sie darüber verliert, sondern er erlaubt sich auch – zumindest theoretisch –, die mögliche Alternative zu einer solchermaßen sezierenden Vernunft anzudeuten. Sie beruht auf der Anerkennung von ‚Undurchdringlichkeit’. Die „Undurchdringlichkeit des Seienden“ (110), auf die Kracauer insistiert, wird zur Chiffre für die Anerkennung des Einmaligen und Besonderen der Existenz von Subjekten und Objekten. Sie richtet sich gegen die maskenhafte Verwandlung des Detektivs, dessen „Verkleidungsfähigkeit […] der ästhetische Ausdruck dafür“ ist, dass dieser sich über alle „Schranken des Seienden“ hinwegsetzt und „nicht in der Sphäre weilt, in der die in sich gestalteten und darum unwiederholbaren Wesen existieren“ (113). Vor allem aber bedeutet die Anerkennung von ‚Undurchdringlichkeit’ die Anerkennung von Distanz. „Das Dasein“, so Kracauer etwas später zustimmend Kierkegaard gegen Hegel zitierend, „ist das Spatiierende, das auseinanderhält“ (120). Diese Idee der Distanz, die die Undurchdringlichkeit des Seienden aushält, zeigt sich am Ende des Detektiv-Romans, wie zur gleichen Zeit bei Bloch, in messianischem Licht. Anders als der Roman, der am Ende alles versöhnt, weiß der „ausgerichtete Mensch“, dass das „Hier der Erlösung bedarf, die hier nicht gegeben ist“ (131): „Wirklichkeit ist der Zwiespalt, die Zerrissenheit, das Geöffnetsein dem Öffnenden, das Haben und Nichthaben zugleich, und die Versöhnung mag als Ahnung sich neigen, wenn das Getrennte existiert, das zu versöhnen wäre, sonst ist sie nichtiger Klang. Sie ist sichtbar nur, wenn in sie nicht eingesehen wird, sie ist Wirklichkeit nur, wenn sie jenseits der Wirklichkeit bleibt.“ (ebd.; Hervorhebung von mir, J.J.)
Auf die Offenbarung einer Sichtbarkeit zu warten, die „nicht eingesehen wird“, ist im Traktat über den Detektiv-Roman noch Ausdruck einer metaphy-
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sisch fundierten Erkenntniskritik, die jedoch schon auf Kracauers späterer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ vorausweist. Beide Gedanken verbindet der Respekt vor der Besonderheit des Seienden, der „Wirklichkeit“, und Kracauers im Detektiv-Roman entwickelte Formel von der „Undurchdringlichkeit des Seienden“ soll diese staunende und zugleich deutende erkenntniskritische Haltung auf den Begriff bringen. Eine karnevaleske Version des Motivs der Undurchdringlichkeit indes, das der Detektiv-Roman in einem doch eher hohen Ton anschlägt, findet sich in dem kurz nach Abschluss des Manuskripts am 28. Januar 1926 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Essay Kaliko-Welt. Die Ufa-Stadt zu Neubabelsberg.37 Er beschreibt eine „Wüste in der Oase“: die abgelegte, ausrangierte Kulissenwelt auf dem Filmgelände der UFA in Babelsberg inmitten des Grunewalds. In der „Kaliko-Welt“ regiert die reine Undurchdringlichkeit – in dem grotesken Sinne, dass es in der Potemkinschen Szenerie der Filmkulissen nichts zu durchdringen gibt: „[…] der ganze Makrokosmos scheint in dieser neuen Arche Noah eingesammelt: aber die Dinge, die sich hier ein Stelldichein geben, gehören nicht der Wirklichkeit an. Sie sind Abbilder und Fratzen, die man aus der Zeit gerissen und durcheinander gemischt hat. Unbewegt harren sie, vorne voller Bedeutung, hinten das blanke Nichts.“ (271) So bestehen die Dinge hier ausschließlich aus Oberflächen, die jedes Eindringen in das Innere verwehren, weil hinter den Außenseiten, das Innere fehlt: „vorne voller Bedeutung, hinten das blanke Nichts“. Zerstückt und verzerrt, wie der Film sie zur Schaffung seiner Illusionen benötigt, erscheinen die Dinge dem Beobachter im Gelände wie „[e]in böser Traum von Gegenständen, der in das Körperreich gezwungen worden ist“ (ebd.), und vermögen gleichwohl im Film die Illusion perfekter Dinge zu erzeugen: „Mitunter verleihen sich die auf die Leinwand geworfenen Dinge ein so alltägliches Aussehen, als stünden sie auf der Straße. Ihre Heraufkunft ist indessen von abnormen Umständen begleitet.“ (274)
Zur Unvergänglichkeit der „Heraufkunft“ der im Kino „auf die Leinwand geworfenen Dinge“ steht ihre tatsächliche Existenz jedoch im schärfsten Kontrast. Ganz dem Willen der „Herrscher dieser Welt“ unterworfen, den Requisiteuren und Regisseuren, die wie der Detektiv im Detektiv-Roman als „Experimentator, der einen willkürhaft angesetzten Versuch kontrolliert“, Figuren der „reinen Herrschaft des Transzendental-Subjekts“ sind,38 überdauern die Dinge in der Kaliko-Kulissenwelt auch nur solange, wie sie ihren Regisseuren von Nutzen sind: „Nichts hat vor ihnen Bestand, die stolzeste Schöpfung ist auf Abbruch errichtet.“ (273) 37
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Im Folgenden mit Seitenangabe im Text zitiert nach Siegfried Kracauer: Kaliko-Welt. Die Ufa-Stadt zu Neubabelsberg. (1926). In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M. 1977. S. 271–278. Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. S. 113.
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Damit scheint sich nicht nur eine Parallelwelt zum Detektivroman, sondern auch zu der todverfallenen Ruinenlandschaft des Barock aufzutun, wie sie Walter Benjamin zur selben Zeit im Trauerspielbuch skizziert. Nur, dass Kracauer die Babelsberger UFA-Filmkulissen nicht ins tragische Licht taucht, sondern den unendlichen, willkürlichen „Metamorphosen“ mit einem „erfreulichen Mangel an historischem Sinn“ (273) durchaus eine heitere Note abzugewinnen vermag. So ist auch die Aufdeckung des falschen Scheins, der Blick in die Trickkiste des illusionistischen Kinos, den Kracauer seine Leser werfen lässt, nur die eine Seite seines Essays. Die andere Seite ist, dass gerade erst in dieser Oberflächenwelt sich Menschen und Dinge vereinen. Nicht nur, dass am Ende der Regisseur am Schneidetisch aus den Mosaiksteinen seines „Bildmaterial[s], das so schön ungeordnet ist wie das Leben selber“, jene „Einheit“ erst herstellt, „die das Leben der Kunst verdankt“ (278), auch die Zusammenführung von Mensch und Ding erweist sich als ein Kunstprodukt: „Vorkehrungen sind erforderlich, um die Sachen und Menschen zusammenzubringen. Beharrten sie in der ihnen angestammten Verfassung, so wiesen sie auseinander wie Museumsraritäten und ihre Beschauer. Beleuchtung verschmilzt sie […].“ (276)
Jene Einheit von Mensch und Ding, die dem Detektiv-Roman zufolge schon seit der Auflösung der alten Ordo-Metaphysik zerbrochen ist39 und die die vorhergehende Dingästhetik in kosmischer Mystik und Wesensschau noch einmal restituieren wollte, stellt sich für Kracauer als eine Beleuchtungsfrage dar. Dinge und Menschen verschmelzen nur noch im künstlichen Licht, und der „Quell“ ihrer modernen, illusionistischen Vereinigung „ist die ausgedehnte Elektrozentrale, die das ganze Unternehmen mit Energien speist“ (276). Die Dingästhetik funktioniert nur noch im Kino, wo im milden Glanz der Oberfläche zueinander findet, was ansonsten ‚auseinander weist’. Kaliko, der Stoff, der dieser Welt in Kracauers Essay den Namen gibt, ist ein dichtes, leinwandartiges, künstlich hart gemachtes Gewebe aus Baumwolle, das, bunt bedruckbar und vergoldbar, vorzugsweise bei Bucheinbänden zum Einsatz kommt. Vielleicht spielt die „Kaliko-Welt“ in der Tradition des Topos’ von der Welt als Buch kritisch auf die Scheinwelt des Kinos an, die, „vorne voller Bedeutung, hinten das blanke Nichts“, eigentlich nur ein harter Einband ist, hinter dem sich nichts mehr verbirgt. Vielleicht aber erinnert sie auch an eine Eigenschaft des Kalikos, die, wie jeder Leser Kracauers weiß, für den Autor von besonderer Bedeutung ist. Im neunten Band des Großen 39
Vgl. ebd., S. 32: „Menschen und Dinge, die in der Spannung miteinander sind, weisen nun auseinander, und zwar löst sich das Subjekt aus der Haft des Objektiven, weil sich die Objektwelt der Wesenheiten abgelöst von dem Subjekt zu behaupten trachtet. Sie gleicht der Fassade eines eingestürzten Hauses, die nur noch den Schein bewohnter Räume erweckt.“ In der „Kaliko-Welt“ überführt Kracauer diese erkenntnistheoretische Analyse bis ins Detail in den „Schein“ des Films.
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Brockhaus von 1931 kann man die eigentümliche materielle Beschaffenheit des hart gemachten Kalikos auf zwei kleinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen nebeneinander gestellt betrachten: rückseitig eine einfache, regelmäßige Leinenstruktur, vorne jedoch eine dichte, leicht gekörnte Oberfläche, die – glänzt.40
5. Noch im Jahr des Abschlusses der Arbeit am Manuskript zum Detektiv-Roman veröffentlicht Kracauer eine kleine Besprechung über das Werk des derzeit in Leipzig lehrenden Biologen und Philosophen Hans Driesch, einem heute weitgehend vergessenen Vertreter des Neovitalismus und Verfasser u.a. einer Geschichte des Vitalismus (Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, 1905, 21922), derjenigen Lehre also, die erkenntniskritisch von der Unreduzierbarkeit und Undurchsichtigkeit des Lebens selbst ausging, die Driesch selbst mit einer Philosophie des Organischen (1909, 41930) antimaterialistisch weiterentwickeln will.41 Nicht um Driesch geht es hier jedoch, sondern um Kracauers Beurteilung seiner Lehre, die Kracauer zufolge der idealistischen Philosophie überlegen sei, weil sie anerkenne, dass der Mensch, „sich in eine Wirklichkeit hineinversetzt findet, die zu umfangen ihm nicht aufgegeben sein kann.“42 Drieschs „Überzeugung von der Unerkennbarkeit des Wirklichen […] mag ihren Grund in der Aufgeschlossenheit Drieschs für das Eigenwesen der Gegenstände haben – einer Aufgeschlossenheit, die bezeichnend für unsere Epoche ist.“43 Diese „Wendung zum Objekt“,44 so Kracauer, sei durch Husserl eingeleitet worden und auch bei Max Scheler finde sie sich. Letzterer jedoch bleibe Driesch unterlegen, insofern Scheler für sich in Anspruch nehme, das Wesen der Dinge in ihrer Ordnung doch durchschauen zu können.45 Kracauers Charakterisierung Schelers als einen, der den Dingen noch auf den Grund zu kommen glaube, lenkt jedoch davon ab, dass gerade Scheler maßgeblich zur Karriere der − wie gezeigt − auch für Kracauer in dieser Zeit bedeutsamen Idee eines spezifischen ‚Widerstands’ des Seienden beigetragen hat. Denn ungeachtet des Drangs des Husserl-Schülers Scheler nach dem 40
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Art. Kaliko. In: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. 15., völlig neu bearbeitete Auflage von Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Bd. 9. Leipzig 1931. S. 589. Vgl. Hans Driesch: Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie von heute. Hg. v. Aloys Wenzl. Basel und München 1951; Thomas Miller: Konstruktion und Begründung. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs. Hildesheim u.a. 1991. Siegfried Kracauer: Hans Driesch. Zu seiner Philosophie (1925). In: Ders.: Schriften 5.1. Frankfurt a. M. S. 312–317, hier S. 316. Ebd. Ebd. „Anders als Scheler jedoch meint er [Driesch; J.J.] nicht, die Dingwesenheiten in ihrer Ordnung seien ihm aufgetan, ihre Ordnung vielmehr ist ihm stets nur eine Forderung, und so bleiben auch die Wesenheiten ihm am Ende geheim.“ Ebd., S. 317.
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„Reich der Wesenheiten“,46 konzipiert Scheler eine, wie er in der Abhandlung Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) ausführt, „Philosophie der Wahrnehmung“, die auf dem „zentralen Erleben […] von Widerstand“ aufgebaut ist, der von den „Dinge[n] selbst“ herrührt.47 Vereinfacht formuliert, konstituiert nach Schelers Ausführungen nicht das Denken die Dinge, wie der „Idealismus und alle Formen des sogenannten ‚kritischen Realismus’ fälschlich annehmen“,48 sondern umgekehrt ist es das ‚vage’ Gegebensein des Gegenstandes, „der erlebte Widerstand [der; J.J.] den Aktus der Reflexio […] erst seinerseits hervorruft. Bewußtwerden oder ‚zum Ich in Bezug Kommen’ ist in allen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt.“49
Eine solche Widerstandserfahrung verbindet der Mensch bemerkenswerterweise, so Scheler, in der Regel zu allererst nicht mit seinem Körper, nicht mit seiner psychischen Sphäre, sondern mit den unabhängig von ihm existierenden Gegenständen, mit den Dingen: „Nur das steht fest, daß der normale Mensch die Neigung hat, gegebene Widerstände ‚zunächst’ (und ceteris paribus) in den von seinem Ich und seinem Leibe unabhängig existierenden Gegenstand zu verlegen“.50 Diese Orientierung auf das Außen und auf den Widerstand, den die Dinge dem Wollen und dem Gefühl des Menschen entgegensetzen, hat nun nicht nur eine wahrnehmungs- bzw. erkenntnistheoretische Dimension, sondern kehrt auf eigentümliche Weise auch in Schelers kulturkritischem Engagement wieder, in einer Engführung, die sicherlich auch Anregungen Georg Simmels aufnimmt. Gemeint ist Schelers Abrechnung mit der ‚deutschen Innerlichkeit’, die Gegenstand seiner Kampfschrift Von zwei deutschen Krankheiten (1919) ist und die ähnlich wie Kracauer – und einige andere wären zu ergänzen51 – aus der modernen Tugend der Äußerlichkeit ein Pharmakon gegen die falschen Präten46
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Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926). Mit Zusätzen hg. v. Maria Scheler. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Bern und München 21960. S. 362. Ebd., S. 365. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 363. Ebd., S. 370. Hervorhebungen im Original. Vgl. auch ders.: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bern und München 71966. S. 17. (Erstausgabe 1928). Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1913/1916). Mit einem Anhang hg v. Maria Scheler. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Bern und München 51966. S. 150f. „Der erste Expressionist, ein Mensch, der die ‚innere Freiheit’ erfand, war ein verfressener und versoffener Sachse, Martin Luther. Er hat die protesthafte Wendung des Deutschen zu einer unerklärbaren ‚Innerlichkeit’ gleich Verlogenheit, ein Jonglieren mit eingebildeten Leiden, Abgründen der ‚Seele’ und ihrer Macht […] herbeigeführt, er ist der Vater Kants, Schopenhauers und des heutigen Kunstblödsinns, der an der Welt vorüberstarrt und sie damit zu überwinden meint.“ Raoul Hausmann: Rückkehr zur Gegenständlichkeit in der Kunst (1920). In: Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Hg. v. Karl Riha in Zusammenarbeit mit Hanne Bergius. Stuttgart 1977. S 102–105, hier S. 103f. Oder auch Walter Benjamin: Paul Scheerbart: Lesabéndio. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. Bd. 2.2. S. 618–620.
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JOACHIM JACOB
tionen der vielbeschworenen deutschen Innerlichkeit gewinnen will.52 Wobei schon der Zeitpunkt der Veröffentlichung von Schelers Pamphlet, 1919, ahnen lässt, dass das Motiv für Schelers Kritik der ‚deutschen Krankheit’ der Innerlichkeit die Verarbeitung der deutschen Weltkriegsniederlage ist und damit von den Intentionen der Kracauerschen Innerlichkeits-Kritik erheblich abweicht. Es zeigt, dass sich aus der allgemein diagnostizierten Veräußerlichungstendenz der Moderne sehr unterschiedliche Wege weisen lassen. Gut täten die Deutschen daran, so Scheler, „das, was uns in immer neuen Tönen als das hohe Gut der deutschen ‚Innerlichkeit’ viel zu kritiklos angepriesen wird“,53 aus ihrem Charakter und ihrem Denken zu verbannen. Der kraftlose Hang zur Innerlichkeit habe den Deutschen den heilsamen Zwang zur „Darstellung ihres ‚Innerlichen’ im ungefügten ‚Äußerlichen’“ genommen und damit die abstrakte Idee um die notwendige Korrektur gebracht, „welche die Welt und die Dinge selbst vollziehen, wenn man sie nach Ideen zu formen und zu bilden sich anschickt.“54 Doch das Telos dieses von Scheler empfohlenen ‚Drangs nach Außen’ und zu den Dingen soll nun keineswegs in einer materialen, gar materialistischen Anerkennung eines Außen oder gar einer undurchdringlichen Äußerlichkeit bestehen, sondern zielt wiederum auf ihre organische Vermittlung, in der sich Inneres und Äußeres durchdringen, als deren Denkmäler „Dichtung, Dome, Kathedralen, germanisches Recht“ aus der deutschen Vergangenheit herausragen.55 Damit reiht sich Scheler dann doch nahtlos in die bekannten Argumentationsmuster einer konservativ-reaktionären Modernekritik, wie sie etwa schon Julius Langbehns seit der Jahrhundertwende immer wieder aufgelegter, berüchtigter ‚Rembrandt-Deutscher’ propagierte.56 Von einer solchen Wendung ist Kracauer weit entfernt; was ihn vor ihr bewahrt, ist nicht zuletzt Geduld und die Auffassung, dass man angesichts der Entzweiung die Vermittlung nicht erzwingen kann, sondern, so Kracauer in einer Scheler-Rezension von 1921, „im Vakuum tapfer auszuharren und zu – warten“ habe.57 52
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Vgl. Dirk Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers. Heidelberg 1999. Vgl. zum Thema auch Gerhard Sauder: Zur Kontinuität von ‚Innerlichkeit’ in deutscher Selbstreflexion. In: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder. Hg. v. Bernd Thum. München 1985. S. 249–267. Max Scheler: Von zwei deutschen Krankheiten (1919). Zuerst in: Der Leuchter. Jahrbuch der Schule der Weisheit VI (1919). Dann aufgenommen in: Ders.: Nation und Weltanschauung. Leipzig 1923. Hier zitiert nach: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Bonn 31986. S. 204–219, hier 207f. Ebd., S. 209. Ebd., S. 211. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1922. (Erstausgabe 1890). Weitere Literatur bei Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur ‚fonction classificatoire’ Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart und Weimar 2002. S. 521–539, hier S. 527ff. Siegfried Kracauer: Katholizismus und Relativismus (1921). In: Ders.: Das Ornament der Masse. S. 187–196, hier S. 194.
GÉRARD RAULET
Verfallenheit ans Objekt Zur Auseinandersetzung über eine Grundfigur dialektischen Denkens bei Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer 1. Kracauer, der in Berlin bei Simmel studierte, widmete diesem zwei kritische Stellungnahmen: 1921 publizierte er in der Zeitschrift Logos einen Teil seines unveröffentlichten Manuskripts Georg Simmel. Ein Beitrag zur Deutung des geistigen Lebens1, 1922 setzte er sich in Soziologie als Wissenschaft mit Weber, Troeltsch und Simmel auseinander.2 Letzterer Text ist für die Profilierung seines eigenen Ansatzes von entscheidender Bedeutung gewesen. Als Wissenschaft, so argumentiert Kracauer, erfordert die Soziologie zugleich Verallgemeinerung und Formalisierung. Damit ihre Erkenntnisse „den Rang synthetischer Urteile a priori einnehmen“3 können, soll sich die Soziologie Husserls Phänomenologie der Intentionalität zu Eigen machen. Kracauer versucht durch diesen Rekurs auf Husserl zugleich Simmels Dualismus des Lebens und der Formen und das, was man als Simmels absichtliche Begründungsabstinenz bezeichnen könnte, zu überwinden. Für Simmel sind die Formen zwar Produkte des Geistes, aber sie verselbstständigen sich dermaßen, dass sie nicht nur zu Formen des „objektiven Geistes“ werden, wie Hegel gesagt hätte, sondern zu einer „Verdinglichung des Geistes“ führen.4 Darin besteht die ganze „Tragödie der Kultur“ bzw. der „Konflikt der modernen Kultur”.5 Angesichts dieser „Tragödie“ liegt die Begründungsabstinenz der Simmelschen Soziologie darin, dass sie die Erkenntnis als einen „freischwebenden Prozeß“ auffasst und sich weigert, den von ihr erkannten Phänomenen einen vorbestimmten Zusammenhang aufzuzwingen oder gar eine vorgegebene Grundlage zu unterstellen.
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Siegfried Kracauer: Georg Simmel. In: Logos 9 (1920/21). Ders.: Soziologie als Wissenschaft. Dresden. Im Sibyllen Verlag 1922. Im Folgenden verweise ich auch auf die Neuauflage in den Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1971. S. 9–101 [abgekürzt: Schriften 1 u. Seitenzahl]. Ebd., S. 128. Schriften 1, S. 76. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Berlin 1958. S. 510. Ders.: Der Konflikt der modernen Kultur. München und Leipzig 1918.
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„Irgendwo freilich mag das Erkennen seine absolute Basis haben; wo es sie aber hat, können wir nie unabänderlich feststellen, und müssen daher, um das Denken nicht dogmatisch abzuschließen, jeden zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre. […] Das Erkennen ist so ein freischwebender Prozeß, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen, wie die Materienmassen es vermöge der Schwere tun; gleich dieser ist die Wahrheit dann ein Verhältnisbegriff. […] Das Ganze der Erkenntnis wäre dann so wenig ‚wahr‘, wie das Ganze der Materie schwer ist; nur im Verhältnis der Teile untereinander gälten die Eigenschaften, die man von dem Ganzen nicht ohne Widerspruch aussagen könnte.“6
Kracauer verwirft Simmels „Relativismus“, obwohl er seine „größte Nähe zum Gegenstand“ lobt.7 Deren Kehrseite sei nämlich, dass Simmel den Formbegriff in einem sehr weiten, ja unverbindlichen Sinn versteht – indem er z.B. damit auch die Formen der Höflichkeit meint – und in die Vielfalt der Erscheinungen gar keine Ordnung einführt. Kracauer trifft zweifelsohne, wie negativ auch immer, Simmels Intention, wenn er diesem vorwirft, das Verhältnis, in dem die verschiedenen Formen zueinander stehen, im Unklaren zu lassen: „Weder ist Simmel sich dessen bewußt, daß viele der von ihm herausgeschälten Formen ihrerseits wieder zu Inhalten allgemeinerer Formen (genauer zu Spezifikationen höherer Generalisierungen) herabsinken können, noch offenbaren sich ihm die Folgen, die eine derartige Einordnungsmöglichkeit seiner Formen in die Hierarchie der Wesenheiten für die Objektivität der auf sie bezogenen Intuitionen hat.“8
Über diese Studie von Kracauer hat Adorno ein ausgeprägt positives Urteil gefällt: Sie sei von der Bemühung getragen worden, „das material-soziologische Interesse mit erkenntnistheoretischen Reflexionen zu verbinden, die auf der phänomenologischen Methode basieren“ – ein um so ehrenswerter Versuch, als „seine [Kracauers] Art Intellektualität nichts vom hochtrabenden Intuitionismus, viel vom nüchternen Sehen [hat]“.9 Was Adorno somit lobt, ist freilich offensichtlich eher Kracauers „phänomenologische“ Praxis als die noch mühsame Abrechnung mit einem Formalismus, der für Kracauer zu Beginn der zwanziger Jahre Wissenschaftlichkeit zu garantieren schien. In diesem Sinn ist die Äußerung zu verstehen: „Auf die Phänomenologie ließ Kracauer so wenig sich vereidigen wie auf irgendeine andere geistige Position; Simmel am treuesten in einer Art philosophischer Treulosigkeit, der überwachen Angst gleichsam vor intellektuellen
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Ders.: Philosophie des Geldes. S. 65 und 68. (Neuauflage: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1989. S. 96 und 100). Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. S. 110. In: Schriften 1, S. 66. Ebd. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11. Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 392.
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Verpflichtungen, als wären es Schulden. Die reaktive Verhaltensweise Kracauers sprang gern ab, wo er sich gebunden fühlte.“10
Die Abhandlung Soziologie als Wissenschaft wies freilich schon eine doppelte Bewegung auf, die Kracauer am Ende des dritten und abschließenden Kapitels folgendermaßen resümiert: „Das paradoxe Wesen der Soziologie wird erst hier, am Ende dieser Untersuchung, ganz offenbar. Wohl mag das Unternehmen, eine Wissenschaft zu begründen, um hernach ihre Undurchführbarkeit zu erweisen, bedenklich erscheinen; aber wie sollte man anders als auf einem solchen Weg, oder richtiger: einem solchen Umweg zu ihrem wahren Verständnis gelangen?“11
Wenn nämlich die Husserlsche Phänomenologie der Soziologie eine feste wissenschaftliche Grundlage zu sichern scheint, so stellt sich aber heraus, dass die formale Soziologie wegen ihrer „Reduktion der Erlebniswirklichkeit“12 weder der Mannigfaltigkeit des Realen noch der „Art der Auswirkung des Geistes“13 gerecht werden kann, so dass „die Rückbewegung aus dem Feld der formalen Soziologie in das der materialen soziologischen Wesenheiten Schwierigkeiten mit sich [bringt, G.R.]“.14 In anderen Worten: Muss sich die Soziologie zunächst über die Mannigfaltigkeit der realen Erscheinungen erheben, um ihre Wissenschaftlichkeit zu sichern, so besteht ihre Bestimmung nichtsdestoweniger darin, zu diesen zurückzufinden: „Statt von der Mannigfaltigkeit empirisch gegebener Erscheinungen anzusteigen zu den kategorialen Wesenheiten der Region ‚Soziologie’, gilt es jetzt, sich aus dem Felde der allgemeinen oder formalen Soziologie zurückzufinden in die Sphäre der individuellen Wirklichkeit, insoweit sie den Gegenstandsbereich der materialen Soziologie bildet. Während man aber den Weg aus dem Erfahrungsraum in den leeren Raum der reinen Phänomenologie hinein ohne sonderliche Schwierigkeiten beschreiten konnte, setzt derselbe Weg dem Zurückwandernden Hindernisse entgegen, die nun nicht mehr außer acht gelassen werden dürfen.“15
Dabei vermag Husserls Phänomenologie der Soziologie am wenigsten Hilfe zu leisten. Trotz des Ontologismus, der sie von Kants Transzendentalphilosophie unterscheidet, tendiert sie nämlich zu einem ähnlichen Formalismus: Während es darauf ankommt, „aus [ihren, G.R.] Erkenntnissen die soziale Gesamtwirklichkeit wieder soziologisch zu rekonstruieren“, muss das reine Ich der Phänomenologie wie das Transzendentalsubjekt Kants an dieser Aufgabe notwendig scheitern.16 Die Phänomenologie scheint nicht einmal das zu leisten, wozu sie im zweiten Kapitel („Begründung der Soziologie“) von Kra10 11 12 13 14 15 16
Ebd., S. 395. Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. In: Schriften 1, S. 96. Ebd., S. 67. Ebd., S. 74. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 98.
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cauers Abhandlung berufen war: nämlich die „bloße Empirie“17 zu überwinden und eine übergreifende Form des Wissens zu ermöglichen, die über die einzelwissenschaftlichen Ansätze der Geschichte, der Nationalökonomie, der Jurisprudenz, der Psychologie usw. hinausgehen würde.18 Wo die formale Soziologie sich wieder auf das Materiale einlassen muss, „erscheint es von vornherein fraglich, ob die auf Grund des Prinzips der Soziologie erfolgte reinliche Scheidung dieser Wissenschaft von ihren Nachbarwissenschaften aufrechterhalten werden kann“.19 Diese Problematik ist keineswegs nur eine der „Anwendung“, sie ist vielmehr dem phänomenologischen Ansatz selber inhärent, wie Kracauer es in der Mitte seines Kapitels über die „Begründung der Soziologie“ betont: „Der Kegelraum der Gesamtphänomenologie ist […] nicht homogen. Er umfaßt alle dem Bewußtsein immanenten Wesenheiten, von den materialen Phänomenen an bis zu den kategorialen Wesenheiten höchster Allgemeinstufe.“20
Bei dem Anstieg von den Tatbeständen des Bewusstseinsstroms zu den „Bewußtseins-Wesenheiten“ ist es, „als ob die Luft sich mehr und mehr verdünnere“. Je mehr man aber „von der Spitze zu der Basis des Kegels vordringt“, um so mehr weicht das reine Ich, das „Ich überhaupt“, dem wirklichen Ich, d.h. dem empirischen Ich, wie Kant gesagt hätte, dem „Gesamt-Ich“, wie Kracauer nun sagt, der damit die Gesamtheit der Lebensäußerungen der vergesellschafteten Menschen meint.21 „Da alle soziologischen Begriffe die intentionalen Lebensäußerungen der vergesellschafteten Menschen zum Gegenstand haben, so meinen sie jedenfalls Wesenheiten, deren Gestaltung irgendwie von den Beschaffenheiten des Bewußtseins abhängt, und zwar, bei dem Blick auf die zunächst noch nicht reduzierte Erlebniswirklichkeit, von denen der individuellen Bewußtseinsströme.“22
Mit diesen konfrontiert, muss die phänomenologische Reduktion einsehen, dass „kein Erlebnis innerhalb des Bewußtseins isoliert auf[tritt], es reiht sich vielmehr einem ganzen Verband von Erlebnissen ein, die durch einen ihnen allen gemeinsamen Sinn vereinheitlicht werden“.23 Diese Überlegungen sind in den allgemeinen Kontext der Auseinandersetzung mit Husserl einzuschreiben, an der sich auch Adorno, der seit 1923 mit Kracauer eng befreundet war, mit seiner Dissertation über Die Transzendenz 17 18
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Ebd., S. 80. Vgl. hierzu den Anfang des ersten Kapitels „Idee und Stoffgebiet der Soziologie“. Insb. S. 16ff.: „Das Prinzip der Soziologie gewinnt sofort an Deutlichkeit und Fülle, wenn man es gegen die Prinzipien von Wissenschaften abgrenzt, die sich ungefähr auf die gleiche Materie wie die Soziologie erstrecken“ (ebd., S. 18). Ebd., S. 90f. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 68 (Hervorhebung von mir, G.R.). Ebd., S. 58.
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des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie (1924) beteiligt hat und bei der es allgemein um die Notwendigkeit ging, die Phänomenologie zu konkretisieren, oder, in Schelers Vokabular ausgedrückt, zu „materialisieren“. Adornos Abrechnung mit der Phänomenologie Husserls in der rund zehn Jahre später erschienenen Metakritik der Erkenntnistheorie (1934) hat dazu geführt, dass man öfters die Bedeutung der Dissertation unterschätzt oder gar übersehen hat. In ihr war es auch Adorno darum zu tun, der Husserlschen Wende von 1913 zur Phänomenologie als reiner Wissenschaft entgegen zu arbeiten, um die doppelte Anregung der phänomenologischen Methode unverkürzt zu verwerten und sie nicht nur als die Erforschung der intentionalen Akte, sondern auch als eine neue Herangehensweise an die objektive Realität anzuwenden. In dieser Hinsicht sei, so Adorno in seinem Lob auf Kracauer, eine „Bildchen-Phänomenologie“ alles in allem ergiebiger als eine Wesensschau, die „sich als Heilmittel [darbot, G.R.] für die anwachsende Unfähigkeit des erfahrenden Bewußtseins, die komplexe und ideologisch immer dichter übersponnene gesellschaftliche Realität zu verstehen und zu durchdringen“.24 Bei Kracauer sei also die Bemühung um eine Wesensschau weder platonisch25 noch Husserlscher Obedienz, sie erfülle vielmehr das Programm, das Simmel schon 1896 in seiner Soziologischen Ästhetik ausgedrückt hatte und das Adorno folgendermaßen zusammenfasst: „spezifische, sachhaltige Phänomene auf das zu interpretieren, was, nach jeder Konzeption, an allgemeinen Strukturen in ihnen erscheint.“26
2. Ich nehme mir hier vor, die Auswirkungen dieser Überlegungen im Spiegel eines Personendreiecks aufzuzeigen, zu dem sich freilich auch noch, aus Gründen, die sofort einleuchten werden, ein vierter Protagonist gesellen wird: Ernst Bloch. Hinter dem Gruppenbild steht Simmel. Im Februar 1964 hielt Adorno im Hessischen Rundfunk einen Vortrag über Kracauer, den er „Der wunderliche Realist“ betitelte. In Ernst Bloch zu ehren veröffentlichte er 1965 den Aufsatz Henkel, Krug und frühe Erfahrung. Beide Texte sind in den Noten zur Literatur aufgenommen worden, und vor allem sind sie beide eine Auseinandersetzung mit Simmel. Nicht nur die Bezeichnung Der wunderliche Realist könnte sich genauso gut auf Simmel beziehen, nicht nur erinnert der Titel Henkel, Krug und frühe Erfahrung an Simmelsche Betitelungen (man denke etwa an Brücke und Tür), sondern beide rechnen tatsächlich zugleich mit Kracauer bzw. mit Bloch und mit Simmel ab. 24 25
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Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 392. Adorno spielt offensichtlich auf die doppelte Bewegung von Kracauers Abhandlung an, die an die synagoge und an die diairesis bei Plato erinnert. Ebd., S. 391. Vgl. Georg Simmel: Soziologische Ästhetik. In: Die Zukunft 1896. S. 206.
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Was Adorno an Kracauer lobt, entspricht dem, was er an Simmel schätzt: „Zäh beharrte Kracauer […] auf einem Moment, das dem deutschen Geist, fast gleichgültig welcher Richtung, stets wieder im Begriff verdampft.“27 Umgekehrt ist dies auch genau das, was er bemängelt: „Dialektisches Denken war seinem Naturell nie gemäß.“28 „Freilich hat er damit der Aufgabe sich versagt, an die sein Bewußtsein von der Nichtidentität der Sache mit ihrem Begriff dicht ihn heranführte: den Gedanken aus dem ihm Widerspenstigen zu extrapolieren, das Allgemeine aus dem Extrem der Besonderung. Dialektisches Denken war seinem Naturell nie gemäß. Er beschied sich bei genauer Fixierung des Besonderen zugunsten seines Gebrauchs als Exempel für allgemeine Sachverhalte. Das Bedürfnis nach strikter Vermittlung in der Sache selbst, nach dem Aufweis des Wesenhaften inmitten der innersten Zelle von Besonderung war kaum das seine.“29
Adornos Lob auf Kracauer ist genauso zweideutig wie sein eigenes Verhältnis zu Simmel. Auf der einen Seite scheitere Kracauer daran, das „Wesenhafte inmitten der innersten Zelle von Besonderung“ aufzuweisen, auf der anderen Seite schreibt Adorno ihm zugute, dass „je blinder er an die Stoffe sich verlor, welche seine Erfahrung ihm zutrug, desto fruchtbarer das Ergebnis“ war.30 Adornos Nachruf scheint sich selber von dem Reiz jenes „VielleichtDenkens“ nicht losreißen zu können, den Bloch Simmel entgegenhielt und den Adorno ausdrücklich zur Sprache bringt, indem er daran erinnert, dass Kracauer, der einmal mit Brecht aneinander geriet, „gegen ihn den Witz von der Augsburger Konfusion [erfand, G.R.] und erklärte, als Brecht auf den Jasager den Neinsager folgen ließ, er Kracauer, gedächte, den Vielleichtsager zu schreiben“. Adorno kommentiert: „Kein übles Programm dessen, der einmal die Haltung des Wartenden als die seine entwickelte; zugleich auch Formel kritischer Selbstreflexion.“31 Kurzum: einiges legt die Vermutung nahe, dass Adornos Lob auf Kracauer ein Plädoyer in eigener Sache ist. Was in Frage steht, ist die Absage an Denkansätze, die den Sachen selbst das Gerüst eines Systems aufzwingen. Wie weit Adorno in dieser Richtung zu gehen bereit ist, verraten allerdings die Übereinstimmungen zwischen seiner Kritik an Kracauer und derjenigen, die er an Simmel und an Benjamin richtet.
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Ebd. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 394. Ebd. Ebd., S. 397. Ebd., S. 402.
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3. Bei aller Absage an die Gewalt des Systematischen hält Adorno an dem „Bedürfnis nach strikter Vermittlung in der Sache selbst“ fest. Wenn das dialektische Denken darauf verzichtete, würde es sich um des Besonderen willen entweder einem haltlosen Relativismus oder aber jenem unkenntlichen Geheimnis des Lebens,32 das dessen Kehrseite ist, verschreiben. Eine ganze Generation hat Simmel „das Klappern von Erkenntniskritik oder Geistesgeschichte“ – in anderen Worten: den Neukantianismus – überwinden gelehrt, um die „Rückwendung der Philosophie auf konkrete Gegenstände“ zu vollziehen.33 Doch er selbst hat sich geweigert, sich „in die Sache zu verlieren, wie es verlangt ist, wenn Erkenntnis mehr sein soll als der selbstgenügsame Leerlauf ihrer prästabilisierten Apparatur“.34 Er ist vielmehr einer neuen bzw. gar nicht so neuen, sondern durchaus „neokonventionellen“ Art von Formalismus verhaftet geblieben, der sowohl seine Theorie der kulturellen Formen als auch seine Werttheorie charakterisiert. Für ihn ist nämlich der Wert keine objektive Eigenschaft der Dinge und er besteht auch nicht im Nutzen oder in der Seltenheit, sondern ausschließlich im Tausch. Das Geld als Symbol des Wertes tendiert immer mehr dazu, sich von jeglichem materiellen Substrat loszulösen. Diesen Formalismus, der daraus folgt, dass die Werte oder die Formen, wie relativ sie auch sind, ihre eigenen Regeln und Maßstäbe aufstellen, dokumentiert Adorno durch Simmels Beschreibung eines Krugs – eine Beschreibung, die nach ihm in eine formale Trivialität mündet: „Er postuliert, daß ‚Henkel und Schnabel einander anschaulich als Endpunkte des Gefäßdurchmessers korrespondieren und ein gewisses Gleichgewicht halten müssen’35, unbekümmert um die Möglichkeit, es vermöchte die Konstruktion einer Form oder sogar die Rücksicht auf Zweckmäßigkeit andere Anordnungen hervorzubringen als derlei symmetrische.“36
Das Kunstwerk bleibt bei Simmel „Gegenstand betrachtenden Genusses“37, Simmel geht nicht über den platonischen bzw. kantischen Dualismus von Schönheit und Nutzen hinaus, ja die Schönheit ist nach seinen eigenen Worten „eine nicht weiter beschreibliche Einheit“.38 Dieser Auffassung wirft Adorno ihre „konventionelle Ansicht vom fraglosen in sich Ruhen der Kunstwerke“ vor, die sich nicht die Frage stellt nach dem dialektischen Verhältnis des „ideellen Raums“ der Kunst zum „realen Raum“, in dem sie steht. Daraus 32 33
34 35 36 37 38
Vgl. ebd., S. 408. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: Gesammelte Schriften 11, S. 558. Ebd. Georg Simmel: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Potsdam 31923. S. 132. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. S. 560. Ebd., S. 559. Georg Simmel: Philosophische Kultur. S. 132.
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folgt, dass Simmels Reflexion, die sich an allem Möglichen entzündet, zur „prompten Fähigkeit und Bereitschaft, über alles und jedes zu philosophieren“, verkommt.39 Einen ähnlichen Mangel an Dialektik hat Adorno Benjamins Denkweise entgegengehalten. Bekannt sind die unrühmlichen Verhandlungen, die der Publikation von Auszügen aus Benjamins noch in Arbeit befindlichem Charles Baudelaire in der Zeitschrift für Sozialforschung im Herbst 1940 vorausgingen. Die Briefe von Adorno an Benjamin vom 10. November 1938 und von Benjamin an Adorno vom 9. Dezember 1938 spiegeln sie wider. In seinem Brief unterzieht Adorno die drei Fragmente, die Benjamin ihm geschickt hat (Die Bohème, Der Flaneur, Die Moderne) einer unerbittlichen Kritik, deren Tenor darin besteht, dass Benjamin den dialektischen Materialismus einer unverbindlichen Phänomenologie der Moderne aufopfere. Insofern als Benjamin dagegen die unvoreingenommene, ja asketische Haltung des „Sammlers“ für sich vindizierte, trifft Adorno zweifelsohne den wunden Punkt von Benjamins Methode, wenn er ausgerechnet den einzigen ausdrücklichen Bezug Benjamins auf Simmel aufgreift und diesen zum Anlass nimmt, um sowohl Benjamins als auch indirekt Simmels Denkweise als „impressionistisch“ anzuprangern. Von Benjamins Untersuchung habe er erwartet, dass sie die Ideologie einer Epoche mit ihrer „materialistischen Determination“ in Verbindung bringen würde, was „möglich nur vermittelt durch den Gesamtprozeß“ sei.40 Wo diese Vermittlung ausbleibt, befürchtet Adorno die Unterstellung von Kausalverhältnissen zwischen Basis und Überbau, die umso verfänglicher wirken, als sie unkontrolliert sind und bloß suggestiv verfahren. „Das Gefühl solcher Künstlichkeit prägt sich mir allemal dort auf, wo die Arbeit anstelle der verpflichtenden Aussage die metaphorische setzt. Hierher gehört vor allem der Passus über die Verwandlung der Stadt ins Interieur für den Flaneur, wo mir eine der mächtigsten Konzeptionen Ihres Werks als ein bloßes Als ob präsentiert dünkt […] oder später die Stelle über das Verhältnis von Sehen und Hören in der Stadt, die nicht ganz zufällig ein Zitat von Simmel heranzieht. Bei all dem ist mir nicht recht geheuer. Fürchten Sie nicht, daß ich die naheliegende Gelegenheit benütze, mein Steckenpferd zu besteigen. Ich begnüge mich damit, […] für meine Abneigung gegen jene besondere Art des Konkreten und dessen behaviouristische Züge Ihnen den theoretischen Grund anzugeben. Der ist aber kein anderer, als daß ich es für methodisch unglücklich halte, einzelne sinnfällige Züge aus dem Bereich des Überbaus ‚materialistisch‘ zu wenden, indem man sie zu entsprechenden Zügen des Unterbaus unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung setzt.“41
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Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. S. 561. Walter Benjamin: Briefe. Frankfurt a. M. 1978. Bd. 2, S. 785. Ebd.
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4. Doch die Übereinstimmung der Argumente, die Adorno 1964/65 gegen Simmel und gegen Kracauer wendet, mit seiner harten Kritik an Benjamin zu Beginn der 40er Jahre, darf auf keinen Fall zu dem Fehlschluss verleiten, Adorno habe seine eigene frühe phänomenologische Schulung einfach zu den Akten gelegt. Sie kommt vielmehr in dem doppelten Imperativ des Spätwerks ganz zum Zuge, und zwar durch die komplementären Imperative, die die Negative Dialektik ausspricht: die Achtung vor dem System und die Rettung des Besonderen. Es ist der Vorrang des Objekts, der den gemeinsamen Nenner bildet, über den sich Adorno mit Kracauer und auch mit Benjamin und sogar mit Bloch einig ist. Am Ende seines Kracauer-Vortrags schreibt Adorno folgende Sätze, die stark an Ton und Gehalt der Minima moralia erinnern: „Einem Bewußtsein, das argwöhnt, es sei von den Menschen verlassen, sind die Dinge das Bessere. An ihnen macht der Gedanke wieder gut, was die Menschen dem Lebendigen angetan haben. Der Stand der Unschuld wäre der der bedürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem Zweck entfremdeten; sie allein verkörpern dem Bewußtsein Kracauers, was anders wäre als der universale Funktionszusammenhang, und ihnen ihr unkenntliches Leben zu entlocken, wäre seine Idee von Philosophie.“42
Sowohl der Kracauer-Vortrag als auch der Aufsatz Henkel, Krug und frühe Erfahrung, der einem kontrastiven Vergleich zwischen Simmels Essay Der Henkel43 und der Blochschen Beschreibung eines alten Krugs in Geist der Utopie44 gewidmet ist, setzen beim Objekt selbst an, sozusagen bei der „Dinglichkeit des Dinges“ bzw. der Dinge, die sie sich entweder „dialektisch“ einzuordnen oder, wie es bei Simmel der Fall ist, ästhetisch-impressionistisch zu verklären weigern. Gegen Simmel bekennt sich Adorno eindeutig zu Bloch. Blochs Kritik an Simmel stimmt in der Tat weitgehend mit derjenigen Adornos überein. Simmel habe bloß, so Bloch, „die farbigen, nervösen, rein impressiblen Ränder des Lebens gemalt“.45 Er habe in anderen Worten eine Erwartung geweckt, die er nicht befriedigt hat, indem er darauf hinwies, dass das unkenntliche Geheimnis des Lebens in den Formen, auch in den unscheinbarsten, beschlossen ist. Und er hat diese Erwartung umso weniger erfüllt, als es dabei um das Schicksal des Subjekts selbst geht. Im Gegensatz zu Simmels formal-trivialen ästhetischen Beschreibungen trifft die Beschreibung eines alten Krugs durch Bloch das, worauf es eigentlich ankommt: „Die Selbstbegegnung“.46 42 43
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Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 408. Georg Simmel: Der Henkel. In: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. S. 127ff. Ernst Bloch: Das Glas und der Krug. In: Geist der Utopie. Frankfurt a. M. 1964. Ebd., S. 93. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. S. 561. „Die Selbstbegegnung“ ist der Titel des ersten Hauptteils von Geist der Utopie.
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„Was die Höhlentiefe des Krugs ausdrückt, ist kein Gleichnis; wäre man darin, so suggeriert Bloch, so wäre man im Ding an sich, in dem am Menschenwesen, was vor der Introspektion zurückweicht.“47
Dies umreißt das Problem, das Adorno ebenfalls aufwarf, als er Benjamins destruktiven Charakter als „Verfallenheit ans Objekt bis zur buchstäblichen Auslöschung des Ich“ bezeichnete.48 Nicht von ungefähr suggerierte er sogar, in einer Äußerung, die nun sehr wohl zwischen Simmel und Benjamin unterscheidet und das harte Urteil von 1938 einschränkt, wenn nicht gar zurücknimmt, eine Verwandtschaft zwischen Bloch und Benjamin: „Denkend verhält er [Bloch] zum Gesammelten schon nicht sich wie zu Besitz; eher wie ein Allegoriker zu den ihn umgebenden, ihm beredten Emblemen, oder gar wie ein Mystiker zu den Handschriften, die er manisch fortschleppt, damit sie sich enträtseln.“49
Tatsächlich nimmt in Blochs Beschreibung des Krugs im Geist der Utopie die Grundeinstellung einer Philosophie der symbolischen Formen ihren Ursprung, die sich an den konkreten Gegenständen orientiert und sich, ganz im Sinne der „positiven Barbarei“ Benjamins auf die Gegenständlichkeit bzw. Vergegenständlichung einlässt, um in ihr und durch sie hindurch nach den Allegorien oder Emblemen der Selbstbegegnung und der Heimat zu suchen. In Blochs Experimentum mundi wird die von Adorno verspürte Verwandtschaft mit Benjamin auf zweierlei Weise bestätigt: einmal durch direkte Bezüge auf Benjamins Theorie der Allegorie, zum anderen dadurch, dass gleich zu Beginn dieses erkenntnistheoretischen Spätwerks Blochs „Phänomenologie der Wahrnehmung“ bei der Erfahrung der Breite und der Tiefe, also beim Gegensatz von Allegorie und Symbol, ansetzt.50 Die Tiefe des Krugs wird zum Symbol dessen, was der bloßen Beschreibung seiner äußeren Gestalt nur entgehen kann, wenn sie die Form nicht als äußerlich verdinglichte Erscheinung allegorisch ernst nimmt. Was dabei in Frage steht, macht das Spätwerk Adornos klar. Die Negative Dialektik zieht den Schluss, dass das Schicksal des vormals autonomen Subjekts in den Dingen befangen liegt. Die „Verfallenheit ans Objekt“ ist keineswegs nur ein theoretischer Entschluss, sondern die Folge der Tendenz zur totalen Verdinglichung. In demselben Maße, wie im Kontext der zum geschlossenen System tendierenden „totalen Verwaltung“ die Philosophie Ach-
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49 50
Ebd., S. 565. Theodor W. Adorno: Benjamins Einbahnstrasse. In: Über Walter Benjamin. Frankfurt a. M. 1968. S. 55. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. S. 563. Auch die für jede Erkenntnis konstitutive Bewegung der „Drehung“ und „Hebung“, die Bloch seiner „Logik“ in Experimentum mundi zugrundelegt, ist in der Beschreibung des alten Krugs schon am Werk. Siehe: Geist der Utopie. S. 17. Über Tiefe und Breite, Symbol und Allegorie bei Bloch vgl. Gérard Raulet: Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat. Darmstadt 1987. S. 114.
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tung vor dem System haben soll,51 muss das Subjekt angesichts der tendenziellen Verdinglichung dem Objekt den Vorrang geben. Nur so ließe sich noch das nicht mehr Denkbare bedenken. Wenn die Identität von der Verdinglichung bestimmt wird, dann ist das Objekt das, was von dem in ihm aufgehenden Subjekt nicht mehr reflektiert werden kann. Die „zweite Reflexion des Subjekts“ setzt die Anerkennung des Primats des Objekts voraus. Erst die Wiederholung der Unfreiheit vermag, indem sie den Vorrang des Objekts bewusst macht, das denkende Subjekt wieder zu behaupten. Die Freiheit der Philosophie besteht nur noch in ihrer Fähigkeit, „ihrer Unfreiheit zum Laut zu verhelfen“.52 Das gilt auch und vornehmlich im ästhetischen Bereich: „Nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften Unwesens.“53 Auch Kracauers frühe Studie über die „Soziologie als Wissenschaft“ verfolgte keineswegs nur ein erkenntniskritisches Ziel. Es ging nach dem Schlusssatz des Vorworts um nichts Geringeres als „eine vertriebene Menschheit wieder in die neu-alten Bereiche der gotterfüllten Wirklichkeit“ zu führen.54 In einer Fußnote zu Beginn des ersten Kapitels wies Kracauer ausdrücklich darauf hin, dass es ihm darum gehe, den von Lukács in der Theorie des Romans geprägten Begriff der „sinnerfüllten Epoche“ auf seinen „erkenntniskritischen Gehalt“ hin zu verwerten. Die Grundthese dieses Versuchs lautet: „Wenn nach dem Zerfall des gestalteten Kosmos der Sinn problematisch wird, ist fortan die Deutung des geschichtlichen Chaos den entfesselten und sich beliebig differenzierenden Subjekten anheimgegeben.“55
Wenn sich von diesen Subjekten überhaupt noch im Sinne eines Subjekts reden lässt, dann gleicht dessen Erkenntnissituation durchaus derjenigen des Benjaminschen Allegorikers: „Nach dem Einsturz des ungeheueren Sinngebäudes bleibt das Subjekt verlassen in dem Trümmerfeld der wesenlos gewordenen Realität zurück. […] Die Wege des Heils sind verschüttet, und nur die Ideen noch, leuchtende Spuren des einst der Welt einwohnenden Sinnes, haben sich erhalten.“56
Die Ideen freilich – wohl aber auch und vor allem die Dinge selbst, denn „die tote Materie ist die letzte Ausstrahlung des göttlichen Wesens“.57 Man muss entweder bei ihnen wieder ansetzen, oder auf jeden Fall zu ihnen zurückfinden können, will man sich nicht mit der herrschenden wissenschaftlichen Tendenz begnügen, die „die Dinge ihrer Qualitäten [entkleidet] und die zwischen ihnen
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Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966. S. 29. Ebd., S. 27. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970. S. 250. Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. In: Schriften 1, S. 11. Ebd., S. 22. Ebd., S. 35. Ebd., S. 43.
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obwaltenden quantitativen Beziehungen fest[stellt], sie in alle nur erdenklichen Bereiche hinein verfolgend“.58 Die Bedeutung, die Kracauer der Husserlschen Phänomenologie bei der erkenntnistheoretischen Begründung einer wissenschaftlichen Soziologie beimisst, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine Notmaßnahme, die lediglich dazu dienen sollte, dem „Zerfall der sinngebundenen Welt“59 zu widerstehen. Nur in dieser war „die vollständige Erfassung der individuellen Fülle“ möglich. Ihr Zusammenbruch bewirkt eine „Sinnverflüchtigung“, angesichts derer der Mensch dem „Höllensturz in die historische Zeit“, d.h. dem haltlosen Fluss der Erscheinungen und Weltanschauungen nur dadurch entgehen zu können scheint, dass er für die „wissenschaftlich-objektive, wertfreie Erkenntnis“ optiert.60 Aber weder die Hingabe an den historischen Relativismus noch die Reduktion der „gesamtmenschlichen“ Wirklichkeit auf die etablierten Einzelwissenschaften sind in Kracauers Augen akzeptabel. Die Phänomenologie scheint, zumindest in einem ersten Anlauf, einen Ausweg zu bieten, allerdings nur insofern, als auch sie ein Produkt der sinnentleerten Zeit ist. „Nach der Verflüchtigung des Sinnes ist eine in sich ruhende Systematik von (annähernd) objektiver Gültigkeit möglich nur in der dem ‚reinen Ich‘ zugeordneten Sphäre äußerster Formalität. […] Eine so weitgehende Entselbstung […] ist möglich nur in einer Zeit völliger Sinnentfremdung. […] Erst die reine Phänomenologie schält aus der materialen Erlebnisfülle die kategorialen Bewußtseins-Wesenheiten heraus und vollendet derart die Reihe der überhaupt möglichen Entindividualisierungen des Erkenntnissubjekts. Ihre Entdeckung ist das Zeichen der beinahe restlosen Abtrennung des Geistes von sich selber als dem sinnüberdeckten Wesen katexochen, theologisch ausgedrückt bedeutet sie den seither größten Triumph des teuflischen Prinzips über das gottentfremdete Denken im leeren Raum.“61
Deshalb ist freilich die Lösung nicht in der Phänomenologie zu finden, die nur dazu dienen kann, der Verflüchtigung des Sinns und der Haltlosigkeit der Erkenntnis entgegenzuarbeiten, sondern in der Rückwendung der so errungenen wissenschaftlichen Grundlage zur Welt der Phänomene. Dies ist der Weg, den Kracauer – selbst wenn er sich nicht mehr systematisch, sondern nur noch gelegentlich in Formeln wie „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“62 zu den grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragen, die damit einhergehen, geäußert hat – eingeschlagen hat.
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Ebd. Ebd., S. 79. Ebd., S. 78–80. Ebd., S. 29, 42, 44. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a. M. 1930. S. 216.
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5. Wie „dialektisch“ aber war Kracauer? Inwiefern entsprach seine Formel „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“ der Adornoschen Forderung eines dialektischen Denkens von der Sache, ja von den Dingen her? Ich möchte diese Frage abschließend durch einen Vergleich zwischen der dialektischen „Rettung des Besonderen“ bei Kracauer und Bloch einigermaßen beantworten, da Adorno selber auf diesem Gebiet keine konkrete Anwendung seiner methodischen Forderungen aufzuweisen hat.63 Im damaligen Kontext stand über diesem Vergleich die Mahnung, dass der Ansatz bei den Sachen selbst leicht in Neue Sachlichkeit kippen kann. Nicht nur das Berlin-Kapitel von Blochs Erbschaft dieser Zeit, das Kracauers „soziologische Expeditionen“ fortsetzt, sondern die ganze Sammlung, deren zentrale Kategorie, die „Zerstreuung“, der Angestellten-Studie Kracauers entnommen ist, ist ein Gespräch mit Kracauer. Die Pointe von Kracauers Argument, die Beobachtung, dass die scheinbare Sachlichkeit sich in Zerstreuung auflöst, macht sich Bloch zu eigen, indem er die unmittelbare Sachlichkeit als „die oberste, auch unkenntlichste Form der Zerstreuung“ bezeichnet.64 Nicht minder als Bloch setzt sich freilich Kracauer ausdrücklich zum Ziel, der Zerstreuung und der unmittelbaren Sachlichkeit entgegenzuarbeiten, wie sehr er sich ihr scheinbar hingibt: „Ihr entgegenzuarbeiten, ist nun die Absicht einer Literaturgattung, deren einzelne Werke im übertragenen Sinn ebenfalls Reisebeschreibungen sind. Nur daß die Reisen, denen sie sich widmen, in umgekehrter Richtung vonstatten gehen. Diese Expeditionen ziehen nicht nach Afrika oder Asien aus, sondern erforschen das von uns bewohnte Terrain; sie wenden uns nicht den Rücken zu, sondern verfolgen die Aufklärung des gesellschaftlichen Seins, das unser Tun und Denken bedingt. Kurzum, es handelt sich hier um soziologische Literatur, die immer mehr in Aufnahme zu kommen scheint.“65
Für Kracauer sind die Erfahrungen in der Großstadt alles andere als neusachliches Reportagematerial, sie sind vielmehr ein Mosaik, das Einsicht in die „Konstruktion“ der sozialen Wirklichkeit ermöglichen soll. Dieser Herausforderung begegnet Kracauer durch sein grundsätzliches Interesse für das „Nebenbei“, für die Oberflächenerscheinungen: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“66
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Vgl. hierzu auch das Kapitel: Die Stadt als Mythologie. Sozio-Mythologie der Metropolen bei Simmel, Kracauer, Benjamin und Bloch. In: Gérard Raulet: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin. Münster 2004. S. 67–90. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1964. S. 216. Siegfried Kracauer: Reisen, nüchtern. In: Schriften 5.3. Frankfurt a. M. 1990. S. 88. Siegfried Kracauer: Schriften 5.2. Frankfurt a. M. 1990. S. 57.
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Das „Konkrete“, auf welches Kracauers Ansatz hinzielt, ist dabei „jene besondere Art des Konkreten“, gegen welche Adorno nicht müde wurde, seine „Abneigung“ zu erklären, vor allem gegen Benjamin: ein Individuelles der Erfahrung, das den letzten kritischen Zufluchtsort von Erfahrung darstellt, wo sie nicht in Erlebnis verdampft. Davor hat Adorno ihn schon in einem Brief vom 25. Juli 1930, der sich auf den Text Über Arbeitsnachweise bezieht, gewarnt: „Mit Staunen und allerdings mit Zustimmung habe ich gemerkt, daß Du die Benjaminsche Formel von den Häusern als den Träumen des Kollektivs – nur ohne das Wort Kollektiv, das ich auch nicht leiden kann – akzeptiert hast.“67
Kracauer antwortete am 1. August: „Du meinst, daß ich die Benjaminsche Formel akzeptiert habe. Das ist doch nicht der Fall. Gewisse Raumbilder sprach ich als Träume der Gesellschaft an, weil sie das Sein dieser Gesellschaft darstellen, das durch deren Bewußtsein verhüllt wird. Ich begegne mich also mit Benjamin […] nur im Wort Traum […]. Die Auffassung der Stadt als eines Traumes vom Kollektiv erscheint mir immer noch als romantisch.“68
Wenn die Oberflächenanalyse der Atomisierung der Wirklichkeit, ihrer „Zerstreuung“, Rechnung trägt, so soll sie auch deren Täuschung widerstehen. Der Soziologie Simmels wirft Kracauer vor, dem Historismus und Relativismus Vorschub zu leisten. Ebenso wenig wie Simmel postuliert er aber eine gesellschaftliche Totalität oder – wie Adornos Einwand gegen Benjamins Methode 1938 lauten wird – einen „Gesamtprozeß“, aus dem sich die „materialistische Determination kultureller Charaktere“ ergeben soll.69 Wie Simmel setzt er zwar bei der fragmentarischen Peripherie an, aber er sucht nach der „Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des Lebens an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen“70, nach der „Wesenszusammengehörigkeit verschiedenster Phänomene“. Hatte Lukács der Simmelschen Soziologie der Großstadt den Vorwurf machen können, dass „dieses Netz von Wechselbeziehungen ein Labyrinth bleiben [muss] und kein System werden [kann]“71, so ist sich Kracauer dieser Gefahr voll bewusst. Dass der Soziologe selbst allzu sehr, zumal als Flaneur, ein bloßer Spiegel der neuen Erscheinungsbedingungen zu werden droht, hat er bereits in seiner Simmel-Monographie von 1920/21 diesem entgegengehalten:
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Zitiert nach: Inka Mülder: Siegfried Kracauer. Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933. Stuttgart 1985. S. 181, Anm. 17. Ebd. Theodor W. Adorno an W. Benjamin, 10.11.1938. In: Benjamin, Briefe, Bd. 2. S. 785. 5 Georg Simmel: Philosophie des Geldes. München und Leipzig 1930. S. IX. Georg Lukács: Georg Simmel. In: Buch des Dankes an Georg Simmel. Hg. v. Kurt Gassen und Michael Landmann. Berlin 1958. S. 175.
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„Dieses Wandern von Beziehung zu Beziehung, dieses Ausschwärmen in Ferne und Nähe, dies Kreuz und Quer, es gewährt dem Geist, der ein Ganzes umgreifen möchte, keinen Halt, er verliert sich im Endlosen.“72
Zwar hatte Simmel in seiner Soziologie der Großstadt behauptet, dass diese als „Brennpunkt der sozialen Differenzierung und komplexer sozialer Netzwerke“73 doch ein Ganzes bildet und nicht „zu einem unentwirrbaren Chaos“ zusammenbricht.74 Sie bleibe also noch „durchaus Gesellschaft“, wiewohl sie neue Formen der Geselligkeit, neue „Spielformen der Vergesellschaftung“ hervorbringt.75 Diese Überzeugung wandelt Kracauer zu der berühmten Formel ab, an der sich Adornos Verdacht entzündete: „Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“76
Die Behauptung der Lesbarkeit der Stadtgebilde bedeutet in dieser Äußerung grundsätzlich dasselbe wie die „Konstruktion“. Sie geht aber „benjaminisch“ sowohl über ein bloßes Netz von Beziehungen als auch über einen bloßen Funktionszusammenhang hinaus: Das „Mosaik“ ist ein Schriftsystem, es besteht aus „Hieroglyphen“. Es geht darum, durch die Oberfläche der Zeichen zu dringen und historische Verhältnisse aufzudecken. In ganz ähnlichem Sinn bemüht sich Bloch in Erbschaft dieser Zeit, Berlins scheinbar absolute „Gleichzeitigkeit“ als „Übergang“ zu durchschauen: „Wohl aber lassen sich hier, mittelbar und von echter Gültigkeit her gesehen, Züge des Übergangs (des Morgens wider Bewußtsein und Wille) besonders aktiv erkennen und betonen.“77 Diese Bemühung teilt er mit Benjamin wie mit Kracauer. Seine Mythologien der Moderne sammelte ja Benjamin um des Erwachens willen, so wie Kracauer im Angestellten-Buch seinen „geographischen Entdeckungsfahrten in die Wirklichkeit“ die Aufgabe zuschreibt, „alle Expeditionsteilnehmer zur Veränderung dieser Wirklichkeit zu aktivieren“.78 Kracauer hegte die Hoffnung, dass die Veranstaltungen der Kulturindustrie mit ihrer Flut von Bildern, Tönen und Lichtern „genau und unverhohlen die Unordnung der Gesellschaft den Tausenden von Augen und Ohren vermitteln – dies gerade befähigte sie dazu, jene Spannung hervorzurufen und wachzuhalten, die dem notwendigen Umschlag vorangehen muß“.79 72 73
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Siegfried Kracauer: Georg Simmel. In: Logos 9 (1920). S. 318. David Frisby: Georg Simmels Theorie der Moderne. In: Georg Simmel und die Moderne. Hg. v. Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1984. S. 42. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden 9 (1903). S. 192. Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit. 1920. Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise. In: Schriften 5.2. S. 186. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. S. 213. Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M. 1977. S. 315. Ebd.
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An dieser Prognose einer Bewusstseinsänderung wird Kracauer später zweifeln. Diesem Zweifel setzt Bloch in Erbschaft dieser Zeit entgegen, dass Kracauer gleichsam noch zu sehr das Modell eines sich aufklärenden Subjekts vorschwebe, während die Entscheidung erst aus dem Extrem der Tendenz entspringe: „Mit anderen Worten: das Morgen im dezidierten Heute nimmt die Momente des Staubs, der Zerstreuung, Berauschung relativ homogener auf; sie erscheinen dann sozusagen als Staub hoch vier.“80
Damit war – und zumal bei Bloch selber! – das Motto einer „positiven Barbarei“ ausgesprochen, die ihren dialektischen Anspruch nur noch um den Preis des Ansetzens bei den Formen äußerster Verdinglichung einlösen kann.
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Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. S. 213.
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„Realistisch sein, ohne zu verdinglichen“ Siegfried Kracauers Dingwahrnehmung im Kontext von Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg Begreift man die Moderne als Konstellation, die im Wesentlichen durch Ambivalenz geprägt ist; durch eine Ambivalenz, die weder logisch noch ästhetisch aufgehoben werden kann, wird deutlich, dass Wirklichkeit angreifbar und zufällig geworden ist. Damit einher geht der Verlust des Herrschaftsanspruchs des Subjekts, da die Vernunft als absolutes Instrument in Frage gestellt wird. Vorrangiges Grundgefühl ist schließlich die Einsicht in die Kontingenz des Lebens; Wahrheits- und Realitätsvorstellungen werden hinterfragt, das Subjekt befindet sich in einer Krise.1 Als Folge der epistemologischen Krise der Moderne lässt sich eine Sprachkrise nachweisen, die die literarischen Darstellungsformen prägt und zu einem fragmentarischen Sprechen führt, wie dies zahlreiche Texte moderner Autoren dokumentieren. Auch Siegfried Kracauers Texte sind von dieser Fragmentstruktur bestimmt und verorten das Fragment als Philosophem, von dem aus Denken und Schreiben ihren Ausgang finden. Dass Kracauer dabei maßgeblich von Benjamin beeinflusst wurde, haben bereits zahlreiche Forschungsbeiträge belegt. Im Folgenden soll der Fokus auf Kracauers Dingwahrnehmung und sein damit verbundenes Bilddenken gelenkt werden. Stellt man es in den Kontext von Benjamins Sprach-Bildtheorie, ergeben sich einige interessante Aspekte: Kracauers fotografischer Blick und seine spezifische Anschauung der Dinge erheben den Anspruch, die Materialität der Dinge hervorzubringen. Gesucht wird dementsprechend nach einer Sprache, die dieser Materialität gerecht wird; einer Sprache also, die die Dinge allererst hervorbringt; das Ding an sich präsentiert. In Benjamins Terminologie ist dies die ‚reine Sprache’ oder auch ‚Namensprache’, die von einer sinnlichen Ähnlichkeit zwischen Idee und Laut
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Peter V. Zima: Zur Konstruktion von Modernismus und Postmoderne: Ambiguität, Ambivalenz und Indifferenz. In: Sprachkunst 27 (1996). S. 127–141. Zima spricht hier allerdings von Modernismus und nicht von Moderne, um der Schwierigkeit der genauen Begriffsdefinition der Moderne aus dem Weg zu gehen. Außerdem ders.: Moderne/Postmoderne. Tübingen 1997.
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getragen ist.2 Auch wenn Konsens darüber besteht, dass diese Sprache nicht mehr gesprochen werden kann, werden doch Strategien entwickelt – etwa die der Erinnerung bzw. Wiederholung – die ihr zu einer zweiten Gegenwart im poetischen Text verhelfen sollen. In Auseinandersetzung mit Walter Benjamin soll zunächst Kracauers spezifische Redeweise untersucht werden, die als eine allegorische vorgestellt wird. Durch die Bewegungen des Erinnerns und Vergessens sowie der Destruktion und Montage ist diese ‚allegorische Rede’ schließlich in der Lage, an der semantischen Seite der Sprache die ‚reine Sprache’ im Bild aufblitzen zu lassen und damit eine Eineindeutigkeit zwischen Ding und Zeichen erahnbar zu machen. Die ‚allegorische Rede’ präsentiert so die Materialität der Dinge im sprachlichen Bild. Letztlich trägt sie damit dem Paradoxon der Moderne Rechnung: Sie präsentiert anhand der Differenz von Sprache die Eineindeutigkeit von Sprache. Die ‚reine Sprache’ wird als abwesend Anwesende im Bild inszeniert, die Strategie dieser Inszenierung ist, wie nachgewiesen werden soll, die Allegorie. Daran anschließend wird die auf Benjamins Sprachphilosophie aufbauende ‚allegorische Rede’ in den Kontext von Cassirers Symbolphilosophie gestellt, und dies aus zwei Gründen: Erstens findet Benjamins Idee der ‚reinen Sprache’ oder ‚Namensprache’ ihr Äquivalent in Cassirers Vorstellung von einer mythischen Rede bzw. ‚mythischen Namensprache’, da die ‚sinnliche Ähnlichkeit’ – also die Eineindeutigkeit von Sprache und Gestalt – nach Cassirer an die Ausdrucksfunktion des Mythos gebunden ist. Insofern erinnert die ‚allegorische Rede’ nicht nur an die ‚reine Sprache’, sondern auch an die mythische Rede im Sinne Cassirers. Aber, und hier findet sich der zweite Vergleichspunkt: diese mythische Rede ist nur vermittelt durch die sprachlichen Zeichen präsent, insbesondere durch die sprachlichen Zeichen der poetischen Rede. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Bündelung der mythischen Energien’ in der symbolischen Form der Kunst.3 Denn erst durch die Umsetzung und Wiedererinnerung der sinnlichen Erfahrung in eine sinnhafte ‚symbolische Form’ ist Sinnlichkeit – und damit die ursprüngliche Einheit von Idee und Gestalt – tatsächlich erfahrbar. Demnach ist die symbolische Tätigkeit – vor allem im Rahmen der Kunst – immer auch eine Erinnerungsarbeit. Die Eineindeutigkeit von Ding und Sprache ist also letztlich ein Mythos; den sogenannten ‚unverstellten ersten Blick’4 gibt es tatsächlich nur noch in der Erinnerung. Insofern braucht die Materialität der Dinge eine sprachliche 2
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Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.1. Frankfurt a. M. 1991. S. 140–157. Vgl. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994. S. 120; ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. (Orig.: Essay on Man. Übers. v. Reinhard Kaiser). Frankfurt a. M. 1990. Franz Hessel: Spazieren in Berlin. In: Ders.: Ein Flaneur in Berlin. Berlin 1984.
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Struktur, um zur Anschauung zu gelangen. In diesem Zusammenhang können Kracauers Sprach-Bilder mit Blumenberg als ‚absolute Metaphern’ gelesen werden; sie erweisen sich damit nicht nur als sprachliche Struktur, die die Dinge ‚realistisch darstellt, ohne zu verdinglichen’, sondern auch als Arbeit am Mythos, am Mythos der ‚reinen Sprache’ bzw. der Eineindeutigkeit von Sprache und Ding. Kracauer gibt, mit Blumenberg gesprochen, den Dingen ‚Namen, ohne sie zu benennen’. Gezeigt werden soll also nicht nur, dass Kracauers Texte von einer allegorischen Redeweise geprägt sind, die schließlich im Bild kulminiert. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht Kracauers Rekurs auf das Einzelphänomen, die Herausarbeitung von ‚absoluten Metaphern’, die Materialität der Dinge präsentiert. Seine allegorisch angelegten Texte erweisen sich damit als ‚symbolische Formen’ im Sinne Cassirers, die durch den Zusammenschluss von Sinn und Sinnlichkeit die ursprüngliche Einheit von Sprache und Gestalt in Form der ‚absoluten Metapher’ präsentieren, im Bewusstsein dessen, dass diese Einheit stets nur als Mythos zu denken ist. Der folgende Beitrag versteht sich also auch als Konturierung von Kracauers ästhetischem Umfeld, zu dem insbesondere die Sprachphilosophie Benjamins, aber auch Cassirers Symbolphilosophie und – in sachlicher Hinsicht − Blumenbergs Idee der ‚absoluten Metapher’ gezählt werden kann.5
1. Voraussetzung für die Erzählweise der ‚allegorischen Rede’ ist Benjamins Konzept des ‚Eingedenkens’, mit dem eine Reaktivierung der Vergangenheit in der gegenwärtigen Erfahrung einhergeht. Durch den Zusammenschluss der Zeiten wird eine Gegenwärtigkeit hergestellt, die Benjamin als utopisch bezeichnet.6 Er verabschiedet also ein Vergangenheitsbewusstsein, das von Kontinuitäten und Linearitäten ausgeht. Mit Kracauer formuliert, steht die Koexistenz des Gleichzeitigen mit dem Ungleichzeitigen im Mittelpunkt bzw. die Ergänzung einer diachronen Betrachtungsweise um synchrone Prozesse, denn „das Gedächtnis achtet der Daten nicht, es überspringt die Jahre oder über-
5
6
Ein ausführliche Darstellung der hier vorgestellten Theorie findet sich in: Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. Paderborn 2006. Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften 1.2. Frankfurt a. M. 1991. S. 702, 704. − Auch Szondi macht darauf aufmerksam, dass bei Benjamin die Orte des ‚Eingedenkens’ die Züge des Kommenden tragen. Vergangenheit beinhaltet die Zukunft. Demzufolge ist die Utopie nicht mehr ein Zustand, der allein auf die Zukunft ausgerichtet ist, sondern er ist dem gegenwärtigen Text als Ahnung bereits eingeschrieben. Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin. In: Ders.: Satz und Gegensatz. Sechs Essays. Frankfurt a. M. 1964. S. 79–98.
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dehnt den zeitlichen Abstand.“7 Der Erinnernde – bei Kracauer die Figur des Flaneurs – nimmt aus der Vielfalt möglicher Eindrücke nur einzelne Fragmente wahr, ohne sie zunächst genau zu analysieren. Der Oberflächenzusammenhang wird vom Flanierenden zerstört, um Geschichte als ein Gedächtnisbild darstellen zu können.8 Den Zusammenprall von Vergangenheit und Gegenwart empfindet der Flaneur als ‚chock’, die räumliche Bewegung wird zu einer grenzüberschreitenden zeitlichen.9 „Ich glaubte ein Ziel zu haben, aber ich hatte das Ziel zu meinem Unglück vergessen. Es war mir zumute wie einem Menschen, der in seinem Gedächtnis nach einem Wort sucht, das ihm auf den Lippen brennt, und er kann es nicht finden. Von der Begierde erfüllt, endlich an den Ort zu gelangen, an dem mir das Vergessene wieder einfiele, konnte ich nicht die kleinste Nebengasse streifen, ohne sie zu betreten, um hinter ihr um die Ecke zu biegen. Am liebsten hätte ich sämtliche Höfe ergründet und Zimmer für Zimmer durchforscht. Wenn ich so nach allen Seiten spähte, aus der Sonne in die Schatten und wieder zurück nach dem Tag, hatte ich die deutliche Empfindung, daß ich mich, auf der Suche nach dem gewünschten Ziel, nicht nur im Raum bewegte, sondern oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang. Ein geheimer Schmugglerpfad führte ins Gebiet der Stunden und Jahrzehnte, dessen Straßensystem ebenso labyrinthisch angelegt war, wie das der Stadt selber.“10
Auch Benjamin verlagert das Vergangenheitsbewusstsein in das topografische Bild der Stadt, sodass aus der zeitlichen eine räumliche Beziehung entsteht und die erinnerte Zeit gleich einer Karte grafisch vorstellbar wird. Die Durchdringung des Alten mit dem Neuen evoziert eine Gedächtnisspur, die sich an den verschiedensten Konfigurationen der Stadt ablesen lässt.11 Ein aktives Eingedenken wird einem passiven Erinnern gegenüber gestellt.12 Zurück Liegendes wird in eine Vielzahl von Fragmenten zerlegt, an die Stelle linearer Prozesse treten Bilder. Diese entstehen spontan, gleich einem ‚Tigersprung ins Vergangene’.13 Vergangenheit hat also bildliche, keine zeitliche Präsenz. So 7
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Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M. 1977. S. 24. Vgl. Inka Mülder-Bach: Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Kracauers. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1990. S. 250. Auch Haenlein macht deutlich, dass für Kracauer die Utopie im Zwischenraum von Vergangenheit und Zukunft liegt. Leo Haenlein: Der Denk-Gestus des aktiven Wartens im SinnVakuum der Moderne. Frankfurt a. M. 1984. S. 31. Siegfried Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: Ders.: Schriften 5.2. Frankfurt a. M. 1990. S. 243–248. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Gesammelte Schriften 5.1, S. 57. Ders.: Zentralpark. In: Gesammelte Schriften 1.2, S. 690. Ders.: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften 1.2, S. 701. Butzer macht darauf aufmerksam, dass Benjamins Begriff der Aktualität immer die Gegenwart des Vergangenen meint. Erfasst wird diese Gegenwart von dem dialektischen Bild, welches durch die Erinnerung hergestellt wird. Günter Butzer: Das Glück in der Geschichte. Walter Benjamins Utopismus. In: Widerspruch 12 (1992). S. 59–75, hier S. 66.
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bedarf Kracauers Flaneur eines zufälligen Anstoßes, eines ‚chocks’, in dem das Vergessene sich als Erinnerungsbild wiederherstellt. Dieser Moment kann vom Subjekt nicht willentlich hergestellt werden, vielmehr handelt es sich um einen Moment der ‚Unentrinnbarkeit’.14 „Ihr grünes verschlissenes Mobiliar, ihre altmodischen Stiche und ein paar kuriose Leute, die hier regelmäßig verkehrten: alle diese Einzelheiten entstiegen frisch dem Gedächtnis. Ich sehe sie vor mir, ich bin unter ihnen zu Gast. Aber um sie zurückzurufen, hat es erst der Wiederholung eines besonderen Ereignisses bedurft.“15
Auf seinen Streifzügen durch die Stadt ‚liest’ Kracauers Flaneur die Dinge spontan auf und indem sie für ihn eine Erinnerungsspur evozieren, wird ihm der Stadtraum zugleich zum Textraum. Das Erinnerungskonzept Benjamins ist ebenfalls eng mit dem Begriff der Schrift verbunden. Die poetische Kraft der Worte besteht auch für ihn vor allem darin, eine Erinnerungsspur herstellen zu können.16 Der Moment des Eingedenkens evoziert also einen Zwischenraum im Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft, von bereits vergebener und noch auszuhandelnder Bedeutung. In Benjamins Theorie stellt die Allegorie eine Form der Lektüre dar, die diese Erinnerungsspur herstellen kann. Durch den für die Allegorie typischen Ambivalenzcharakter, der ein Reflexionsmedium für das Nachdenken über zeichenhafte Repräsentation darstellt, avanciert sie zu der poetischen Ausdrucksform der Moderne. Immer wieder dokumentiert sich in ihr die unüberwindbare Differenz zwischen Zeichen und Idee. Allerdings verharrt die Allegorie nicht in der sogenannten Krise der Repräsentation, sondern ihr produktives Potenzial steckt vor allem im Hinweisen auf die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant. Gerade die Ambivalenz zwischen Sinnanspruch und -abbruch fordert eine Lust am Text, eine Lust an der Vielfalt heraus. Zwar wird die Arbitrarität des Zeichens herausgearbeitet, diese aber nutzbar gemacht für einen metaphysischen Anspruch. Insofern spricht Benjamin der Allegorie eine Steigerung des Ausdrucks zu. „Ja, man ist versucht zu sagen, schon die Tatsache, daß sie, so vereinzelt, noch etwas bedeuten, gibt dem Bedeutungsrest, der ihnen verblieb, etwas Drohendes. Dergestalt wird die Sprache zerbrochen, um in ihren Bruchstücken sich einen veränderten und gesteigerten Ausdruck zu leihen.“17
So paart sich in der Allegorie der Wunsch nach Darstellbarkeit des ontologisch Letzten mit der gleichzeitigen Skepsis gegenüber einer solchen Darstellbarkeit. Der Wunsch nach Transzendenz wird mit dem Wissen um seine Uner14
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Inka Mülder-Bach: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften. 1913–1933. Stuttgart 1985. S. 84. Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a. M. 1964. S. 49. Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften 1.1, S. 142. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften 1.1, S. 382.
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reichbarkeit verbunden. Es handelt sich also um eine Rede, die stets anderes bedeutet als das, wovon sie spricht; in der Ambivalenz der Worte werden immer auch andere, zugleich bestehende Sinnpotenziale mit eingeschlossen.18 Nicht zuletzt Kracauer macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, die Dinge aus ihrem starren Begriffsgehäuse zu befreien. In diesem Zusammenhang bezeichnet er die Allegorie als Organ der Erkenntnis. Diese Aufgabe der Befreiung kommt vor allem dem Flaneur zu, der den Stadtraum zum Textraum werden lässt.19 „Die Dinge in ihren starren Begriffsgehäusen werden einsinnig, immer bloß eine Seite von ihnen ist uns zugekehrt, wir fassen sie so auf, wie wir sie nutznießen. Kein Wunder, daß sie unversöhnlich nebeneinander lagern! Ihre Vergleichbarkeiten treten zurück, von den vielen Bedeutungen, die sie besitzen, ist einzig diejenige übrig geblieben, die ihren Gebrauchszweck angibt, sie sind schmal und engbrüstig geworden. Je mehr sich dem Menschen die Wirklichkeit öffnet, umso fremder wird ihm die Durchschnittswelt mit ihren fratzenhaften Begriffsversteinerungen. Er erkennt, daß jedem Phänomen eine Fülle von Eigenschaften innewohnt.“20
Das Herausarbeiten dieser Vielfältigkeit der Begriffe und das Aufzeigen der Differenz zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren findet letztlich durch die der Allegorie eigene Erinnerungsleistung statt. Die Allegorie als poetische Ausdrucksform des Eingedenkens verbindet Vergangenheit und Zukunft zu einem Moment gegenwärtiger Erfahrung, indem sie Altes als Neues und Neues als Altes erzählt.21 Die bereits vergebene Bedeutung der Worte wird aufgebrochen, ihr instrumenteller Charakter durch die Allegorie aufgedeckt. Jedes so entstandene Fragment gleicht einem Mosaiksteinchen, das seine sprachliche Dichte erst in der Zerstörung hervorbringt. Auf diese Weise werden Bruchstellen erkennbar und die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem transparent.
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Kristeva hat in ihrer Bestimmung des Lesens auf das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit hingewiesen. Das Endliche müsse immer in seinem Verhältnis zur Unendlichkeit gelesen werden, aus diesem Grund ist es notwendig, die Verknüpfungsweisen innerhalb des Systems der poetischen Sprache herauszuarbeiten. Julia Kristeva: Zu einer Semiologie der Paragramme. In: Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Hg. v. Helga Gallas. Neuwied 1972. S. 163–201, hier S. 170. Günter weist darauf hin, dass Kracauers Flaneur gerade keine Sinnsuggestion anbietet, vielmehr stellt er die konstituierenden Elemente als sich auflösende dar. Manuela Günter: Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein. Würzburg 1996. S. 72f. Siegfried Kracauer: Georg Simmel. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M. 1963. S. 220. Haverkamp bezeichnet die allegorische Lektüre als eine zweite Lektüre, die durch die Wiederholung im Modus der Erinnerung steht. Insofern kann die allegorische Lektüre als ein Akt des Durcharbeitens verstanden werden. Anselm Haverkamp: Allegorie, Ironie und Wiederholung. In: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. Hg. v. Manfred Fuhrmann u.a. München 1981. S. 561–567, hier S. 562.
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2. Aber noch etwas anderes ist interessant: Sowohl Benjamins Erinnerungskonzept als auch sein Allegoriebegriff laufen auf seine Bildtheorie hinaus, denn nach Benjamin kann die Idee der ‚reinen Sprache’ allein im Bild präsentiert werden. Wie bereits erwähnt, wird durch das Eingedenken eine gegenwärtige Textur erzeugt, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt. Der erinnerte Text wird so aus seinem bedeutenden Zusammenhang herausgelöst, um in der jetzt entstehenden Textur als Bild überdauern zu können, denn Bilder werden von Benjamin stets unter dem Aspekt der Schrift betrachtet. Gleich einem ‚chock’ blitzt die ‚reine Sprache’ im Bild auf. Bildlichkeit ist dabei eine in der Sprache selbst liegende Dimension, die durch die poetische Redeweise im Modus der Allegorie erzeugt werden kann. Das Bild fungiert dabei nicht mehr länger als Zeichensorte, sondern als grundlegendes Prinzip. Das für kurze Momente hervortretende Bild ist stets ein Drittes zwischen Sagbarem und Unsagbaren. Die Lesbarkeit des Bildes entzieht sich somit einer instrumentellen Bedeutung und fordert eine aktive Lektürehaltung heraus. Diese Lesbarkeit ist an das ‚Jetzt der Erkennbarkeit’ gebunden und an der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen bereits geschriebenen und noch zu schreibenden Texten beheimatet. Bild und Sprache werden durch diese Lektürehaltung im Modus der Allegorie ununterscheidbar. Die allegorische Lektüre ist also in der Lage, diese Bilder zu lesen bzw. sie in kurzen Momenten allererst hervorzubringen. Das Bild tritt als absolute Konkretion auf, als Monade, in dem sich in einem Teil das Ganze des Weltzusammenhangs konzentriert, als identische Ähnlichkeit des Einen mit dem Anderen. Insofern ist Ähnlichkeit Bild: „Kinder kennen ein Wahrzeichen dieser Welt, den Strumpf, der die Struktur der Traumwelt hat, wenn er im Wäschekasten eingerollt, ‚Tasche’ und ‚Mitgebrachtes’ zugleich ist. Und wie sie sich selbst nicht ersättigen können, dies beides: Tasche und was drin ist in einem Griff in etwas Drittes zu verwandeln: in den Strumpf, so war Proust unersättlich, die Attrappe, das Ich, mit einem Griffe zu entleeren, um immer wieder jenes Dritte: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, einzubringen. Zerfetzt vom Heimweh lag er auf dem Bett, Heimweh nach dem Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre sürrealistische Gesicht des Daseins, zum Durchbruch kommt. Ihr gehört an, was bei Proust geschieht, und wie behutsam und vornehm es auftaucht. Nämlich nie isoliert pathetisch und visionär, sondern angekündigt und vielfach gestützt eine gebrechliche Wirklichkeit tragend: das Bild.“22
Als solches ist das Bild unauflösbare Schwelle, ein ‚Drittes’ zwischen dem herausgehobenen Teil und dem Totalzusammenhang, zwischen ‚Hülle’ und ‚Verhülltem’, zwischen Dargestelltem und Darzustellendem. Durch den Aufenthalt im Zwischenraum der Schrift verhindert es seine Arretierung; es ver22
Walter Benjamin: Zum Bilde Prousts. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 314.
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bleibt auf der Schwelle zwischen einer Mitteilung ‚durch’ und einer Mitteilung ‚in Sprache’ und macht so auf die Leerstelle der ‚reinen Sprache’ aufmerksam. Demzufolge sind Bilder vor allem als gelesene präsent, sie sind Ereignis und Folge einer Verdichtung von Zeichenbezügen und Korrespondenzen. Gefordert ist eine Lektüre, die in kurzen ‚chockhaften’ Augenblicken Sprache an die Schwelle des Bildes führt, ein Lesen in Konfigurationen, das auch das Ungeschriebene zwischen den Zeilen erahnt; letztlich eine allegorische Lektüre.
3. Diese allegorische Lektüre, die Sprache in kurzen Momenten in ein Bild überführt, erprobt auch Kracauers Flaneur. Nicht umsonst bezeichnet Benjamin, Kracauers Flaneur beschreibend, den Autor als einen Lumpensammler oder auch Allegoriker: „So steht von rechts wegen dieser Autor am Schluß da: als ein Einzelner. Ein Mißvergnügter, kein Führer. Kein Gründer, ein Spielverderber. Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu den einen oder den andren dieser ausgeblichenen Kattune ‚Menschenturm‘, ‚Innerlichkeit‘, ‚Vertiefung‘ spöttisch im Morgenlichte flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.“23
Die Voraussetzung der allegorischen Denk-Bewegung ist der spezifische Blick des Flaneurs, der die gegenständliche Welt aus ihrem alten Zusammenhang holt und in einen neuen Kontext überführt. So wird der Stadtraum durch den Blick des Flaneurs zu einem Textraum. Untersucht man darüber hinaus Kracauers Interesse an filmischen Strategien und seine dem Film entlehnte Technik der Destruktion und Montage, wird vor allem eins deutlich: An den Schnittstellen des so entstandenen Mosaiks, die das Neue immer als Konstruktion präsentieren, lässt sich die Materialität der Dinge erahnen, die sich festen Strukturen entzieht.24 Seine Verfahrensweise, die sich damit als allegorische ausweist, impliziert also immer auch das Unsagbare, das Unaussprechliche. Sie beinhaltet stets einen zweiten, entgegengesetzten Sinn. Als systematische Anspielung einer Geschichte auf eine andere verweist sie auf eine Leerstelle. Auch der Roman Ginster ist an der zeitgenössischen Filmästhetik orientiert und erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein allegorischer Text. Das Verhältnis von Signifikat und Signifikant wird als Scheinverhältnis entlarvt bzw. 23 24
Ders.: Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. In: Gesammelte Schriften 3, S. 225. Vgl. Günter, die in diesem Zusammenhang von einem anderen Zustand spricht. Manuela Günter: Anatomie des Anti-Subjekts. S. 63.
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der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem bedarf einer ständigen Neuinterpretation.25 Durch die allegorische Bewegung wird die Zerfallsstruktur der Wirklichkeit kenntlich gemacht, um im Moment der Zerstörung auf ihre konstruktive Überwindung hinzuweisen.26 Winzige Details, Gedankenfragmente und Gesprächsfetzen werden zu einem Mosaik zusammengestellt, das stets die Bruchstellen erkennbar macht. „Die Lichter, die abends in den Mietshäusern brannten, beschienen nicht nur Familientische, sondern waren die Bruchstücke eines glänzenden Mosaiks.“27
Sie werden ihrem ursprünglichen Zweck enthoben – nämlich Beleuchtung für die Zimmer zu sein – und zu einem Teil des Gesamtbildes, welches nur für den Außenstehenden sichtbar ist. Diese neue Kontextualisierung des Lichtes erzeugt eine neue Bedeutung, die Ernst Bloch folgendermaßen beschreibt: „Sie nimmt sich die besten Stücke, baut andere Zusammenhänge daraus […]. Diese Art hat alles Negative der Leere, doch sie hat auch, mittelbar als möglich Positives: daß sie Trümmer in einen anderen Raum schafft.“28
Um einen unverstellten Blick auf die Dinge zu erlangen, müssen die Teile immer wieder aus dem ursprünglichen Totalzusammenhang gerissen werden. Eine ständige Revision des einmal Gesagten scheint notwendig. Und dies nicht nur, weil Sprache beständig aus ihrem starren Begriffsgehäuse geholt werden muss, um Bilder entstehen zu lassen, die der Wirklichkeit entsprechen. Kolumbus beschreibend macht Kracauer auf die Notwendigkeit der Revision, der beständigen Neuformulierung, aufmerksam: „Kolumbus musste nach seiner Theorie in Indien landen; er entdeckte Amerika. Nicht anders, meine ich, hätte sich jede Hypothese zu bewähren. Eine Hypothese, ist nur unter der Bedingung tauglich, daß sie das beabsichtigte Ziel verfehlt, um ein anderes, unbekanntes zu erreichen.“29
Kausale und finale Verknüpfungen von Satzteilen werden stets wieder aufgebrochen. So macht die häufige Verwendung des Konjunktivs in dem Roman Ginster die Fragilität des Sprechens deutlich. Der Erzählende ist nur noch potenziell in der Sprache verankert. Gemäß Benjamins Diktum: „Nach Ihnen liebste Sprache. Die hat den Vortritt. Nicht nur vor dem Sinn. Auch vor dem Ich“, kommen statt eines selbstbewussten Sprechers die Dinge selbst zu Wort.30 Einzelne Eindrücke werden aufgereiht, ohne sie in logische Zusam-
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Vgl. ebd., S. 69. Vgl. hier auch Mülder-Bach, die in der Potenzierung der Zerfallsstruktur ihre Überwindung sieht. Inka Mülder-Bach: Siegfried Kracauer. S. 98. Siegfried Kracauer: Ginster. In: Ders.: Schriften 7. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 1973. S. 7–243, hier S. 23. Ernst Bloch: Erbschaft unserer Zeit. Frankfurt a. M. 1985. S. 225, 228. Siegfried Kracauer: Ginster. S. 34. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 297.
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menhänge zu pressen oder es entstehen arabeske Satzstrukturen, die sich einer Plausibilität verweigern. „Hoch in der Luft thronte ein steinernes Labyrinth, der eine Domturm, der von den Pfeilern des Langhauses überschnitten wurde, auf das ein Gäßchen stieß, das in eine Riesenwand drang, die den Himmel bedeckte.“31
Die gewohnten Alltagsbilder werden zerstört, um aus den fragmentierten Stücken wieder neue Bilder entstehen zu lassen, die die Materialität der Dinge präsentieren. Der alte Sinn wird aufgesprengt, um neuen generieren zu können. Vor allem Kracauers Flaneur sammelt diese sich der Lesbarkeit entziehenden Bilder. Sie begegnen ihm gleich einem „unentrinnbaren“ ‚chock’ und er tritt schließlich hinter die Materialität der Dinge zurück. Was bleibt, ist allein der Blick des Flaneurs, der diese Bilder hervorbringt. Dementsprechend fungiert die Allegorie als Organ der Erkenntnis.32 So ist jede sprachliche Darstellung im Modus der Allegorie eine Meta-Reflexion über die Darstellbarkeit selbst. Durch die allegorische Bearbeitung eines Textes entsteht ein Subtext, der sich der Mitteilung ‚durch Sprache’ entzieht.33 Insofern evoziert die Allegorie eine Erinnerungsspur, die der Eineindeutigkeit von Idee und Laut als Fluchtpunkt verpflichtet ist und sensibel macht für den Abstand zwischen Text und Bedeutung.
4. Stellt man nun in einem zweiten Schritt die Verfahrensweise der ‚allegorischen Rede’ in den Kontext von Ernst Cassirers Symbolphilosophie, lässt sich verdeutlichen, dass die ‚reine Sprache’ im Sinne Benjamins nur als Mythos denkbar ist und somit eine Entlastung von der Sprachskepsis der Moderne stattfindet. Cassirer beschreibt in seiner Symbolphilosophie u.a. wie die Moderne ihr produktives Potenzial durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion entfaltet, indem sie die Leerstelle der mythischen Sprache bearbeitet und ihr so eine zweite Gegenwart in der ‚symbolischen Form verleiht’. Wie bereits für Benjamins Denken nachgewiesen, lässt sich auch in der Philosophie der symbolischen Formen ein aktives Eingedenken feststellen, das die verschiedenen Zeitperspektiven im Moment der Gegenwärtigkeit miteinander verbindet. So ist der Zusammenschluss von Sinn und Sinnlichkeit in der ‚symbolischen Form’ nicht nur ein Zusammendenken zweier verschiedener Seinsweisen, sondern auch Ausdruck der Verbindung von Vergangenem und Zukünftigem. 31 32 33
Siegfried Kracauer: Ginster. S. 180. Siegfried Kracauer: Asyl für Obdachlose. In: Ders.: Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 282. Insofern ist der Allegorie auch das Durchbrechen der Textlinearität eigen, sowohl auf der zeitlichen als auch auf der semantischen Ebene. Stierle beschreibt die Allegorie hier als Passage, als Ausdruck des Übergangs. Karlheinz Stierle: Walter Benjamin und die Erfahrung des Lesens. In: Poetica 12 (1980). S. 227–248, hier 246.
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Zunächst jedoch sollen kurz Ähnlichkeiten in der Sprachauffassung von Benjamin und Cassirer dargelegt werden: Benjamins Idee von einer ‚Namensprache’ findet ihr Äquivalent in Cassirers Vorstellung von einer ‚mythischen Rede’ bzw. ‚mythischen Namensprache’. Für Cassirer ist die ‚sinnliche Ähnlichkeit’ zwischen Idee und Laut an die Ausdrucksfunktion des Mythos gebunden, dies nicht zuletzt deshalb, weil jegliche Sprache ihren letzten Grund im Mythos hat. Der Name ist im mythischen Diskurs keine Bezeichnung, sondern selbst Teil des Gegenstandes. Das einzelne Wort der mythischen Rede wird zur Urpotenz oder Monade, in dem alles Sein aufgehoben ist. Idee und sprachliche Äußerung sind eineindeutig, folglich fungiert das mythische Wort als unmittelbarer Ausdruck. Die mythische Sprache ist kein Bedeutungsträger, sondern sie ist Ausdruck reiner Gegenwart. „Der Name ist, mythisch genommen, niemals ein bloß konventionelles Zeichen für ein Ding, sondern ein realer Teil desselben – und ein Teil, der nach dem mythisch-magischen Grundsatz des ,pars pro toto’ das Ganze nicht nur vertritt, sondern wirklich ‚ist’. […] Und ebenso wird die Ähnlichkeit hier niemals als bloße Beziehung, die etwa nur in unserem subjektiven Denken ihren Ursprung hätte, aufgefaßt, sondern alsbald auf eine reale Identität zurückgedeutet: Dinge könnten nicht als ähnlich erscheinen, ohne in ihrem Wesen irgendwie eins zu sein.“34
Um auf die Affinität zu Benjamins Sprachauffassung hinzuweisen, hier ein weiteres Zitat – diesmal von Benjamin: „Der Name hat im Bereich der Sprache einzig diesen Sinn und diese unvergleichlich hohe Bedeutung: daß er das innerste Wesen der Sprache selbst ist. Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mitteilung die Sprache selbst in ihrer absoluten Ganzheit ist, da allein gibt es den Namen, und da gibt es den Namen allein. […] Der Inbegriff dieser intensiven Totalität der Sprache als des geistigen Wesens des Menschen ist der Name. […] Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen […].“35
Diese ‚mythische Namensprache’, die sich ebenso wie Benjamins ‚reine Sprache’ durch eine Eineindeutigkeit von Sprache und Welt bzw. Signifikat und Signifikant auszeichnet, findet nach Cassirer in die menschliche Sprache nur als erinnerte ihren Eingang.36 Allerdings, und hier nimmt er eine entscheidende Potenzierung der Erinnerungsleistung vor, ist die ‚mythische Namensprache’ 34 35
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Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994. S. 24. Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 144. Bereits Aristoteles hat dem Mythos in seiner Poetik die Funktion der Wiederholung und Erinnerung zugesprochen. Aristoteles: Die Poetik. Übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. § 16. Vgl. auch Platon, der den Mythos als mündliche Botschaft versteht, die als Erinnerung fungiert und damit ein kulturelles Gedächtnis herstellt. Die Herstellung eines mythischen Erinnerungstextes wird im Medium der Dichtung vollzogen. Platon: Timaios 21e–23d.
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zu keiner Zeit eine menschliche Sprache gewesen und daher selbst nur als Mythos denkbar. Insofern handelt es sich bei der Erinnerung an die mythische Rede um eine mythische Erinnerung, da letztlich an eine Leerstelle erinnert wird.37 Einmal mehr wird deutlich, dass Welt nur in ihrer zweiten wiederholenden Gegenwart erfahrbar ist. Zwar hat nach Cassirer jeglicher Inhalt der Kultur eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung, an diesen Ursprung kann aber nur vermittelt durch die kulturelle Einbindung erinnert werden. Die Gestalt dieser Erinnerung ist in Cassirers Philosophie die ‚symbolische Form’. Wirklichkeit ist demnach nur in Bildwelten zugänglich, die sich der Mensch mittels der Symboltätigkeit selbst entwirft. Erst durch die Umsetzung und Wiedererinnerung der sinnlichen Erfahrung in eine sinnhafte ‚symbolische Form’ ist Sinnlichkeit – und damit die ursprüngliche Einheit von Sprache und Welt – tatsächlich erfahrbar.38 Einerseits stellt die Symbolisierung damit eine Entfernung von der unmittelbaren Totalität des sinnlichen Erlebens dar, andererseits kann diese Sinnlichkeit nur in einer kulturellen Form wahrgenommen werden. So gesehen ist die Entwicklung zur symbolischen Form zugleich als Bewegung hin wie auch als Bewegung weg von einem wie auch immer gearteten Ursprung zu verstehen, der nur in Form der Übersetzung präsent ist. Die besondere Leistung Cassirers besteht vor allem darin, die Differenz zwischen Sprache und Welt in der symbolischen Form nicht als Verlusterfahrung zu sehen, sondern gerade darauf aufbauend seine Kulturphilosophie zu formulieren. Die Symbolphilosophie bietet folglich ein Gegengewicht zu der für die Moderne angenommenen Melancholie, die aus einer Diskrepanz zwischen Idee und Ausdruck resultiert und fordert eine experimentelle Fortsetzung der Moderne, ein Neuschreiben, das sich die Möglichkeit zur Revision vorbehält.39 Die Krise der Moderne kann nach Cassirer nur dann überwunden werden, wenn die ‚mythischen
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Goodman-Thau weist darauf hin, dass auch die Erinnerung an den Schabbat als mythische Erinnerung fungiert, da der Mensch das, was er erinnert, nicht direkt erlebt hat, denn die Erschaffung der Welt kennt er nur durch die Erzählung. Insofern ist die schöpferische Sprache, die ‚reine Sprache’, nur in der mythischen Erinnerung präsent. Vgl. Eveline Goodman-Thau: Kabbala und neues Denken. Zur Vergeschichtlichung und Tradierbarkeit des mythologischen Gedächtnisses. In: Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Hg. v. ders. und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Berlin 1994. S. 101–127, hier S. 114. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1994. S. 176; außerdem: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Darmstadt 1964. S. 53. Vgl. auch Paetzold, der hier von Anzeichen der Postmoderne spricht. An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Cassirers Symbolphilosophie um eine Theorie der Moderne handelt, die stets einem Ursprungsdenken verpflichtet bleibt. Ein nicht dingfest zu machender Ursprung wird als Leerstelle mitgedacht und durch die Sinnkomponente mit in die Kultur der Moderne hineingeholt. Vgl. Heinz Paetzold: Mythos und Moderne. In: Kulturkritik nach Ernst Cassirer. Hg. v. Enno Rudolph und Bernd-Olaf Küppers. Hamburg 1995. S. 172.
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Energien’ – die Eineindeutigkeit von Idee und Laut – vor allem in der Kunst aktiv wiederholt und bearbeitet werden. „Dies ist die Leistung, die wir in den einzelnen ‚symbolischen Formen‚ die wir in der Sprache, im Mythos, in der Kunst sich vollziehen sehen. Jede dieser Formen nimmt vom Sinnlichen nicht nur ihren Ausgang, sondern sie bleibt auch ständig im Kreise des Sinnlichen beschlossen. Sie wendet sich nicht gegen das sinnliche Material, sondern lebt und schafft in ihm selbst. Und damit vereinen sich Gegensätze, die der abstrakten metaphysischen Betrachtung als unvereinbar erscheinen mußten. So wird in der Sprache der reine Bedeutungsgehalt der Begriffe, als ein Etwas, das allgemein und unwandelbar sein soll, dem flüchtigen Element des Lautes anvertraut, von dem wie von keinem anderen zu gelten scheint, daß es immer nur wird, aber niemals ist.“40
5. Diese aktive Wiederholung der ‚mythischen Energien’ in der Kunst funktioniert – so soll mit Blumenberg nachgewiesen werden – über die Herausbildung ‚absoluter Metaphern’, womit sich diese Wiederholungsleistung als Arbeit am Mythos, am Mythos der Eineindeutigkeit von Sprache und Welt ausweist. Blumenberg verdeutlicht, dass die Arbeit am Mythos mit der Namensgebung beginnt. Der Name bricht in das Chaos des Unbenannten ein und bringt etwas zur Identität. Damit wird die unfassbare Absolutheit in eine Geschichte verwickelt und erfahr- bzw. erzählbar. Genau wie Benjamin macht auch er auf die Differenz zwischen dem von Gott gegebenen Namen als der ‚reinen, schöpferischen Sprache’ und der menschlichen Sprache als Organ der instrumentalisierten Mitteilung aufmerksam. „Die biblische Schöpfung hingegen ist Befehl, zu werden, und Benennung, zu sein: Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein, und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also das Schaffende, und das Vollendete, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist. Und er sah, daß es gut war, das ist: er hatte es erkannt durch den Namen… Das heißt: Gott machte die Dinge in ihrem Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.“41
Die Suche nach dem Namen für das Unvertraute ist nach Blumenberg konstitutiv für die Arbeit am Mythos. Zugespitzt formuliert, ist die Arbeit am Mythos also immer auch ein Ringen um die Leerstelle der ‚reinen Sprache’, der 40 41
Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. S. 178. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. S. 44. Die entsprechende Stelle findet sich bei Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 148.
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Eineindeutigkeit zwischen Sprache und Welt; also eine Sprachbemühung. Als solche bewahrt sie vor dem Vergessen und ist wesentlich Erinnerungsleistung. Der Arbeit am Mythos kommt demnach eine doppelte Funktion zu: Erstens wiederholt sie den Namen bzw. die ‚reine Sprache’ auf einer zweiten, hier rezeptiven Ebene und macht ihn so in der kulturellen Gegenwart erfahrbar. Durch dieses Erfahrbarmachen nimmt sie zweitens dem Namen die Absolutheit und somit die Übermacht. Die Totalpräsenz der ‚reinen Sprache’ wird durch die Arbeit am Mythos in Ästhetik überführt. Zum einen wird dadurch Abstand genommen vom instrumentalisierten Sprachgebrauch, indem die ‚reine Sprache’ in der Kunst eine zweite Gegenwart erfährt, zum anderen wird aber auch vom Druck der ‚paradiesischen Sprache’ befreit, die jegliches Sprechen nach dem Sündenfall unmöglich macht. Diese Wiederholung des Namens im Rahmen der Arbeit des Mythos ist wesentlich an das Hervorbringen von ‚absoluten Metaphern’ gebunden. Insofern ist die Metapher die Bedingung der mythischen Begriffsbildung. Hierin sind sich Blumenberg und Cassirer einig.42 Die ‚absolute Metapher’ tritt als Ort der Transformation auf, da sie erst im Moment des Übergangs erzeugt wird. Diese eigentümliche Schwellenposition kann sie vor allem durch zwei Eigenschaften einnehmen: Erstens durch ihre Übertragungsleistung, die nicht das Eine im Anderen aufhebt, sondern wechselseitig ergänzt und weiterführt, und zum anderen durch ihre Intensivierungsleistung, die sie dazu befähigt, einen sinnlichen Eindruck zu konkretisieren und ihn prägnant darzustellen, ohne ihn in Begrifflichkeit überführen zu müssen. Für Blumenbergs Konzept der ‚absoluten Metapher’ ergibt sich daraus, dass Metaphern dort ihren Ort haben, wo das begriffliche Denken nicht zu einem Abschluss kommen kann. Die Metapher ist also ein Sprachvorgang, denn nicht das Wort ist per se Metapher, sondern wird erst durch die Bedeutungsübertragung zu derselben.43 Insofern ist sie ein Grenzphänomen zwischen Noch-Nicht und Nicht-Mehr. Demzufolge bewegt sie sich nicht nur zwischen Sinnlichkeit und Sinn, sondern auch zwischen Unsagbarem und Sagbarem. „Daß diese Metaphern absolut genannt werden können, bedeutet nur, daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeiten aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht auch eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. […] Die Metaphorologie versucht an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch faßbar machen, mit welchem Mut sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist.“44
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Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 194; ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie. S. 85–87; Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. S. 145. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960). S. 7–142; 301–305. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. S. 12, 13.
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Die sich allein im gegenwärtigen Augenblick herstellende Metapher ist durch ihre Fähigkeit zur Prägnanz und Intensivierung bei gleichzeitiger Vieldeutigkeit charakterisiert: durch ihre Schwellenposition zwischen Anwesendem und Abwesendem.45 Als solche bewegt sie sich an der Grenze zwischen Mythos und Sprache und ist die Bedingung der mythischen Begriffsbildung. Sie versucht die Leerstelle, welche die Arbeit am Mythos aufdeckt, ästhetisch zu füllen, ohne sie zuzudecken. Metaphern sind eine begriffsförmige Ausgestaltung der Unbegrifflichkeit, ihre Aufgabe besteht darin, provisorisch zur Einheit zu führen, wovon keine konkrete Anschauung existieren kann. Damit hat sie entscheidenden Anteil an der Depotenzierung des absoluten Beginns bzw. des Ursprungs. Im Rahmen der Arbeit am Mythos erlangt die Leerstelle der ‚reinen Sprache’ – also die Eineindeutigkeit zwischen Sprache und Welt – durch die ‚absolute Metapher’ eine zweite Gegenwart bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer Nicht-Darstellbarkeit, denn die ‚absolute Metapher’ gibt ‚Namen, ohne zu benennen’. Sie gibt dem Absoluten der ‚reinen Sprache’ einen Namen ohne sie in starre Begrifflichkeiten zu überführen. Sie besetzt diesen leeren Raum durch ihr spezifisch imaginatives Verfahren. Mit Benjamin gesprochen ‚zeigt sie, anstatt zu sagen’.46 Sie depotenziert die Leerstelle der ‚reinen Sprache’, indem sie sie poetisch bearbeitet.
6. In seiner Studie über die Angestellten entwickelt Kracauer seine Poetologie des konstruktiven Realismus. Die Struktur der Wirklichkeit sei allein durch Destruktion und Konstruktion sichtbar. Nur dort, wo die Oberfläche von dem Wissenden zerstört wird, um sie auf neue, Erkenntnis gewinnende Weise wieder zusammenzusetzen, entsteht ein Bild der Wirklichkeit. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie entstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportrage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehaltes zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“47
Neben den Bewegungen der Destruktion und Montage, des Erinnerns und Vergessens, macht die allegorische Denkbewegung also noch etwas anderes deutlich: die unmittelbare Erfahrung muss stets rückgebunden werden an ein bereits vorhandenes Wissen. Nur dort, wo sich Wissen und sinnliche Erfahrung paaren, also im Sinne Cassirers Sinn und Sinnlichkeit eine Verbindung 45 46 47
Ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. M. 1979. S. 80f. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften 5.1, S. 574. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Schriften 1, S. 216.
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eingehen, ist die Materialität der Wirklichkeit erkennbar.48 Diese Materialität der Wirklichkeit überführt Kracauer durch seine spezifische Vorgehensweise in ‚absolute Metaphern’, um sie lesbar zu machen. Ernst Bloch hebt diese Leistung Kracauers in einem Brief an den Freund hervor, indem er schreibt: „Sie haben die seltsame Kunst realistisch zu sein, ohne zu verdinglichen. Immer mehr möchte ich dasselbe tun, dem Nebel und den Sternchen gegenüber, die ich sehe. Eine auf Nebel scharf eingestellte Linse, die sieht, was sich darin bildet; möglichst einzeln.“49
Kracauers Texte, die ‚realistisch sind, ohne zu verdinglichen’, bringen nach Blumenberg ‚Namen hervor, ohne zu benennen’. So werden Kracauers allegorisch hergestellten Texte zu ‚symbolischen Formen’, die durch den Zusammenschluss von sinnlicher Wahrnehmung und sinnhafter Struktur an die Materialität der Dinge erinnern, indem sie sie als eine ‚absolute Metapher’ präsentierten. Zugleich wird damit ein neuer Blick auf Kracauers Texte ermöglicht, die sich in diesem Kontext als eine Revision der Moderne lesen lassen, indem sie nicht in einer kulturpessimistischen Perspektive verharren, sondern konstruktive Möglichkeiten entwickeln, um die Krise der Moderne ästhetisch zu überwinden. Der vom Flaneur hergestellte allegorische Textraum nimmt der Materialität der Dinge ihre Übermacht, indem er die Dinge durch seinen Blick als ‚absolute Metaphern’ präsentiert und so darstellbar macht. Durch seine spezifische Wahrnehmungsweise entlastet Kracauers Flaneur von der Eineindeutigkeit zwischen Sprache und Welt und macht so ein Sprechen jenseits dieses Mythos möglich.
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Vgl. auch Michael Schröter: Weltzerfall und Rekonstruktion. Zur Physiognomik Siegfried Kracauers. In: Text und Kritik 68 (1980). S. 18–40, hier S. 32. Ernst Bloch an Siegfried Kracauer, 9.7.1930. In: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975. Bd. 1. Hg. v. Karola Bloch u.a. Frankfurt a. M. 1985. S. 340.
III. Der Vorrang des Optischen: Bilder und Medien
GÜNTER BUTZER
MedienRevolution Zum utopischen Diskurs in den Medientheorien Kracauers und Benjamins The Revolution will not be televised. Public Enemy1
1. Vorbemerkung Der Form eines neuen Mediums, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird, entsprechen im Bewusstsein des Intellektuellen Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht der Intellektuelle die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts, sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben, wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewussten ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie.
Dieses entstellte Zitat Benjamins aus dem Exposé zum Passagen-Werk (das von Adorno wegen seiner Nähe zu Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten inkriminiert wurde)2 soll als methodischer Leitfaden dienen, um Kracauers 1
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Public Enemy: Countdown to Armageddon. Auf der LP „It takes a nation of millions to hold us back.“ Def Jam Recordings 1988. Das Zitat lautet im Original: „Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauern-
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und Benjamins Umgang mit den neuen Medien der Fotografie und des Films zu untersuchen. Es wird also nicht um die Stichhaltigkeit von Faktenaussagen über das revolutionäre Potential der Medien gehen, sondern gewissermaßen um den Traum-Diskurs, der in den 1920er und 1930er Jahren (und darüber hinaus) über sie geführt wird. Ich möchte zeigen, inwiefern beide Autoren auf je unterschiedliche Weise die neuen Medien in eine Geschichtskonzeption einbinden, die auf die revolutionäre Überwindung von Geschichte ausgerichtet ist, und dabei die mediale und die soziale Revolution so ineinander blenden, dass beide nahezu identisch erscheinen.
2. Der kollektive Medienkörper Norbert Bolz hat postuliert, Benjamin nehme im Unterschied zu Adorno keine melancholische, sondern eine trauernde Haltung gegenüber dem Ende der Schriftkultur ein.3 Im Hintergrund dieser Aussage steht die Freudsche Theorie der Melancholie, wonach diese eine ebenso lähmende wie aggressive Identifikation mit dem toten Liebesobjekt bedeute, während die Trauer eine gelungene und damit befreiende Loslösung von diesem bewirke.4 Dieser Trauerarbeit soll im Folgenden nachgegangen werden. Betrachtet man Benjamins Geschichtskonzeption, so fällt deren mediale Codierung unmittelbar ins Auge: Die grundlegende Opposition bildet hier der Gegensatz von kontinuierlicher Narration und instantanem Bild. Der revolutionäre Historiker, so Benjamins bekannte Forderung, dürfe die Geschichte nicht als Erzählung auffassen, sondern müsse sie als Bild ansehen.5 Denn die Narration präsupponiere die Vorstellung einer homogenen, durch die lineare Abfolge von Ereignissen aufzufüllenden Zeit, in der es immer so weiter gehe und deshalb für den
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den Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat.“ (Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg. v. von Rolf Tiedemann. 2 Bde, hier Bd. 1. Frankfurt a. M. 1983. S. 47.) Legitim erscheint die Subsumtion der neuen Medien unter die Produktionsmittel, wenn man Benjamins Ausführungen in dem Vortrag Der Autor als Produzent heranzieht, der die schriftstellerischen Produktionsverhältnisse unter dem Leitbegriff der Technik behandelt (vgl. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980. Bd. 1.3, S. 683–701, hier S. 686). Vgl. zu diesem Vortrag ausführlich Chryssoula Kambas: Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik. Tübingen 1983. S. 16–80. Vgl. Norbert Bolz: Schwanengesang der Gutenberg-Galaxis. In: Allegorie und Melancholie. Hg. v. Willem van Reijen. Frankfurt a. M. 1992. S. 224–260, hier S. 257f. Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Bd. 3. Frankfurt a. M. 61989. S. 193–212. Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 596: „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.“ Oder: Ebd.: S. 592: „Der historische Materialist muß das epische Element der Geschichte preisgeben. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ‚Kontinuität der Geschichte’ ab. Er sprengt aber auch die Homogeneität der Epoche auf. Er durchsetzt sie mit Ekrasit, d.i. Gegenwart.“
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revolutionären Bruch schlichtweg kein Raum verbleibe.6 Dem gegenüber stellt Benjamin die Zerstückelung der Zeit in eine Reihe von Momentaufnahmen, die diskontinuierlich aufeinander folgen wie die Bilder des Films und dadurch Zwischenräume erzeugen, die es ermöglichen, einzelne Augenblicksbilder aus dem Zeitverlauf „herauszusprengen“.7 Diese Momentaufnahmen, die sog. dialektischen Bilder, erweisen sich als Fotografien – wie Benjamin in einer Notiz deutlich macht: „Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ‚Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen. […]’“8
An dieser Bemerkung ist dreierlei wichtig: Erstens wurde seit dem 19. Jahrhundert die besondere mnemonische Leistung der Fotografie gegenüber anderen Bildmedien darin gesehen, dass sie etwas im Unsichtbaren aufbewahrt, das nachträglich wieder ans Licht gebracht werden kann, dass sie mithin, wie das Gedächtnis, die Vorstellung latenter Daten – in der von Benjamin benutzten tiefenpsychologischen Terminologie: die Vorstellung des ‚psychisch Unbewussten’ – ermöglicht.9 Zweitens liegt die perzeptorische Leistung der Fotografie in ihrer Fähigkeit, Elemente sichtbar zu machen, die der menschlichen Wahrnehmung bislang unzugänglich waren, also das zu erfassen, was Benjamin das ‚Optisch-Unbewusste’ nennt.10 Drittens schließlich basiert die Fotografie auf einer ihrem technischen Charakter geschuldeten indexikalischen Zeichenrelation, die eine kausale und damit der Willkür des menschlichen Bewusstseins (zunächst) unzugängliche Beziehung zwischen Objekt und Bild impliziert.11 6
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Es handelt sich um die physikalische Vorstellung einer verräumlichten Zeit, wie sie für die Moderne paradigmatisch von Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience (1899) beschrieben und kritisiert wurde. Die pyrotechnische Metaphorik begegnet bei Benjamin allerorten (vgl. bereits das Zitat in Anm. 5). Der locus classicus findet sich am Schluss der Thesen Über den Begriff der Geschichte (vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften 1.3, S. 691–703, hier S. 701–703). Die Zerstückelung der Zeit in eine Folge von Momentaufnahmen geht wiederum auf Bergson zurück, der in Matière et mémoire (1886) das eigentliche Gedächtnis der mémoire pure als eine sukzessive Abfolge von fotografischen Bildern konzipiert. Kracauer hat Benjamins kategoriale Unterscheidung zwischen einer homogenen und diskontinuierlichen Zeitauffassung weitgehend in seine Geschichtstheorie übernommen. (Vgl. Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Frankfurt a. M. 1971. S. 133–154). Walter Benjamin: Das dialektische Bild. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 1238, Anm. 2. Vgl. Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt 1999. S. 123–130. („Das Gedächtnis als lichtempfindliche Platte“). Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften 1.2, S. 471–508, hier S. 498–500. Vgl. etwa Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 41989.
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Auf die Geschichte übertragen bedeutet dies, dass der Vergangenheit ein zwar latenter, aber nichtsdestotrotz objektiver Status zugesprochen wird, der dessen Wahrheit durchaus enthält, jedoch zu seiner Erkennbarkeit der Belichtung bedarf.12 Als Entwickler fungiert bei Benjamin die Idee der Erlösung als ein Element des Transhistorischen, ohne das sich die Gegenwart nicht als Aktualität des Vergangenen offenbart.13 Das dialektische Bild erfasst demnach nicht nur eine zweistellige Beziehung von Gegenwart und Vergangenem, sondern eine dreistellige Relation zwischen Gegenwart und Vergangenheit, durchdrungen vom Licht des jüngsten Tags.14 Letztlich ist es das Licht Gottes, das die fotografische Belichtung zur göttlichen Erleuchtung geraten lässt und das, wie Anselm Haverkamp anlässlich von Roland Barthes’ La chambre claire gezeigt hat, aus der Theorie der Fotografie kaum zu eskamotieren ist.15 Diese – und damit auch Benjamins Geschichtstheorie – zehrt von einer Theologie der Illumination, die letztlich Augustinschen Ursprungs ist und von daher auch die Unverfügbarkeit der Belichtung/Erleuchtung entlehnt. In seiner Geschichtstheorie konzipiert Benjamin den historiografischen Akt in Homologie zum revolutionären: So wie der Historiker im Jetzt der Erkennbarkeit das wahre Bild der Vergangenheit wahrnimmt, so erkennt sich das Proletariat in einem bestimmten Augenblick der Geschichte als gemeint und vollzieht dadurch jenen „Tigersprung ins Vergangene“, der identisch mit der
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Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 573, wo es heißt, die Vergangenheit müsse „durch die Gegenwart belichtet“ werden. Dass Benjamins Konzept des dialektischen Bildes sich der Kollektivierung von Prousts unwillkürlicher Erinnerung verdankt, hat Henning Teschke nachdrücklich herausgestellt (vgl. Henning Teschke: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild. Würzburg 2000). Prousts Programm eines vermeintlich authentischen souvenir involontaire ist aber, wie Manfred Schneider gezeigt hat, grundlegend vom Medium der Fotografie her entworfen (vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München und Wien 1986. S. 93–103). Mit der Konzeption des dialektischen Bildes ist allerdings für Benjamin keine generelle Absage an die Schrift verbunden: Der Historiker soll nicht Fotograf werden, sondern wird weiterhin dezidiert als Geschichtsschreiber verstanden. Wie diese nichtnarrative, bild-beschreibende Historiographie konkret auszusehen habe, dazu hat sich Benjamin nicht näher geäußert; einigermaßen sicher scheint jedoch, dass damit nicht die zur Zeit prosperierende Façon kulturgeschichtlicher Bilderbögen gemeint ist. Der Begriff der Erlösung dient in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte als jene verdeckte theologische Kategorie, die in säkularisierter Gestalt als „Bild von Glück“ in Erscheinung tritt (vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 693). Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften 1.3, S. 1245: „Insofern partizipiert jeder Begriff der Gegenwart am Begriffe des jüngsten Tages“ (Notizen und Vorarbeiten zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte). Vgl. Anselm Haverkamp: Lichtbild. Das Bildgedächtnis der Photographie: Roland Barthes und Augustinus. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hg. v. ders. und Renate Lachmann. München 1993. S. 47–66, hier S. 59–66. Barthes schreibt in La chambre claire: „[…] rien à faire: la Photographie a quelque chose à voir avec la résurrection“ (Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980. S. 129).
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revolutionären Tat ist.16 Das heißt aber, dass die Revolution ebenso wie die Geschichtsschreibung eine Art ‚Licht-Schreibung’ ist; sie soll das Unbewusste, das Träumerische der Geschichte ans Licht bringen und damit ein Erwachen aus dem Schlaf des Kollektivs provozieren.17 Die Revolution ist mithin, und zwar weit über die bloße Metaphorik hinaus, an die Möglichkeit bildgebender Verfahren gebunden und damit mediatisiert – ohne fotografische Belichtung der Vergangenheit keine Revolution und vice versa. Das belegt Benjamins Sürrealismus-Essay mit jenem merkwürdigen Konzept des Leib- und Bildraums, der zugleich der Raum revolutionärer Aktion sein soll. In der Verknüpfung von Bild und Leib versucht Benjamin nämlich, den bildproduzierenden Akt des Historikers mit dem revolutionären Akt des Proletariats derart zu verschränken, dass sie schließlich ununterscheidbar werden. Das geschieht vor allem dadurch, dass nicht nur der Bildraum, sondern auch der Leibraum als medialer Raum verstanden, dass mithin der Leib- und Bildraum als Netzwerk medialer Verschaltungen von Körpern, Apparaten und Bildern aufgefasst wird, innerhalb dessen „für den Groschen ‚Sinn’ kein Spalt mehr“ übrig bleibt.18 Es geht um die Konstruktion eines Raums, in dem „geisterhafte Signale aus dem Verkehr aufblitzen, unerdenkliche Analogien und Verschränkungen von Geschehnissen an der Tagesordnung sind“19 – eines Raums, der (verkehrs)technisch verschaltet und nicht hermeneutisch interpretiert, der sinnlich und nicht sinnvoll organisiert ist. Durch die Integration der Medienapparate wird der Körper als Cyborg konstruiert, als kybernetischer Organismus, der die Grenze zwischen Mensch und Maschine auflöst, weil, wie es McLuhan später formuliert, die Medien selbst nichts anderes als die amputierten und nach außen verlagerten Organe des Menschen darstellen.20 So entsteht ein kollektiver Medienkörper von grotesker Gestalt, mit abgetrennten Organen und dezentrierten Nerven, umspannt von einer Epidermis, deren Oberfläche nicht mehr sichtbar ist. Technische Bilder und organische Körper operieren hier auf derselben Ebene – das Handeln ist Bild und das Bild ist Handlung. Möglich wird dies, weil das Bild hier nicht mehr als visuell-kontemplativ rezipierbares Objekt verstanden wird,21 sondern 16
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Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 703 (701). Zur Engführung von historiografischem und psychoanalytischem Diskurs bei Benjamin vgl. Jutta Wiegmann: Psychoanalytische Geschichtstheorie. Eine Studie zur Freud-Rezeption Walter Benjamins. Bonn 1989. Vgl. meine kritische Rezension in Widerspruch 12 (1992), Sonderheft Walter Benjamin. S. 141–142. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 295–310, hier S. 296. Ebd., S. 301. Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf u.a. 1992. S. 57–64. Vgl. auch Götz Großklaus: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt a. M. 1995. S. 11–71. Vgl. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 309: „Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumessen.“
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als taktiles Instrument, das, wie Benjamin in seiner Filmtheorie ausführt, dem Menschen auf den Leib rückt und (ihm) zustößt.22 Das Ziel besteht darin, dass das „Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt“, so dass „die Nähe sich selbst aus den Augen sieht“.23 Diese ganz und gar unauratische Konzeption eines „anthropologischen Materialismus“ ergreift alles Psychische und Innerliche, stülpt es nach außen und zerreißt es in zwei Momente: in Politik und Physis.24 Deren Verschaltung aber ist eine (in einem umfassenderen Sinn) medientechnische. Denn seinen Ursprung hat der Kollektivleib in der Organisation von Technik und Körpern, wie sie laut Benjamin im Ersten Weltkrieg erfahrbar wurde: „Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde.“25
Koppelung von Mensch und Maschine, Vernetzung durch Elektrizität – das sind die technischen Verfahren, die am Ursprung der neuesten Medienentwicklung stehen und deren Herkunft aus der Kriegs- und Nachrichtentechnik hinlänglich bekannt ist.26 Benjamin ist weit davon entfernt zu leugnen, dass die Technisierung der kollektiven Physis sich im Krieg destruktiv vollziehe. Das hindert ihn jedoch nicht daran, in der technischen Erneuerung der Physis das Telos der Geschichte zu entwerfen.27 Was der Historiker gegenüber einzelnen Augenblicken der Geschichte leistet, das leistet der medial verschaltete Kollektivleib gegenüber dem Vergangenen schlechthin: Er produziert Gegenwart. Die nicht-narrative, distanzlose 22
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Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk. In: Gesammelte Schriften 1.2, S. 502, wo vom „Wechsel der Schauplätze und Einstellungen“ im Film die Rede ist, „welche stoßweise auf den Beschauer eindringen“; das Kunstwerk wird damit, so Benjamin, „zu einem Geschoß“. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 309. Vgl. ebd. Dazu Norbert Bolz und Willem van Reijen: Walter Benjamin. Frankfurt a. M. und New York 1991. S. 87–106. Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften 4.1, S. 147. Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986; Ders.: Rock Musik − ein Mißbrauch von Heeresgerät. In: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Hg. v. Theo Elm und Hans H. Hiebel. Freiburg i. Br. 1991. S. 245–257; Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München und Wien 1986. Vgl. Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften 4.1, S. 147f.: „Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.“ In gleichem Sinn heißt es im Nachwort zum Kunstwerk-Essay, das Ziel einer künftigen Gesellschaft sei es, „sich die Technik zu ihrem Organ zu machen“ (Walter Benjamin: Das Kunstwerk. In: Gesammelte Schriften 1.2, S. 507). Das ist wörtlich zu nehmen. Vgl. zur utopischen Dimension von Natur und Technik im Kunstwerk-Essay Bernd Auerochs: Aura, Film, Reklame. Zu Walter Benjamins Aufsatz ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit’. In: Medien und Maschinen. Hg. v. Theo Elm und Hans H. Hiebel. S. 107–127, hier S. 124f.
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Momenthaftigkeit der technischen Medien entfaltet hier ihre volle Wirksamkeit, indem sie alles von ihnen Erfasste ins Heute überführt. Doch Benjamin geht noch einen Schritt weiter. Die profane Belichtung wird zur profanen Erleuchtung, wenn das Vergangene nicht nur gegenwärtig, sondern zugleich aktualisiert, d.h. wenn es im schon beschriebenen Sinn unter dem Zeichen der Erlösung behandelt wird, denn, so Benjamin: Jeder Begriff der Gegenwart partizipiert am Begriff des Jüngsten Tages. Um dies näher zu erläutern, konzipiert er – unter Vorwegnahme der Verschaltungsmöglichkeiten elektronischer Medien – den medialen Kollektivleib als innerviert mit elektrischer Energie: Leib und Bildraum sollen sich „so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation“28 wird. Damit ist zunächst nicht mehr als die mediale Vernetzung des Leib- und Bildraums benannt, die als Koppelung der elektrischen Bahnen von Nerven und Medienapparaten gefasst wird. Das eigentliche Ziel bildet jedoch die „revolutionäre Entladung“ der „leiblichen Innervationen des Kollektivs“, und diese erfolgt erst in der profanen Erleuchtung, wenn der Leib- und Bildraum sich in eine „Welt allseitiger und integraler Aktualität“ wandelt (dazu mehr unter Punkt vier).29 Der Sprung von der Belichtung zur Erleuchtung stellt somit im Wortsinn die Schaltstelle von Benjamins Konzept der MedienRevolution dar. Und wie jede Erleuchtung ist auch die profane nur ansatzweise manipulierbar, d.h. die Zersprengung des geschichtlichen Kontinuums ist nicht vollständig zu provozieren. Nichtsdestotrotz ist der pyrotechnische Punkt zu suchen, an dem die „schwache messianische Kraft“ ansetzen muss, um den „Explosivstoff“ zu liefern, an den der Historiker die Zündschnur anlegt und auf den erleuchtenden „Funken“ wartet, der die Explosion als revolutionäre Entladung des technisierten Kollektivleibs bewirkt.30 Dieser pyrotechnische Punkt, die Zündstelle der Geschichte, liegt, wie Benjamin im Sürrealismus-Essay konstatiert, in der Dingwelt. In den Dingen als Schnittstelle von Natur und Politik, in ihrem Fetischcharakter als naturalisierte soziale Beziehung, kristallisieren sich jene „gewaltigen Kräfte“, die es „zur Explosion“ zu bringen gilt.31 28
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Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 310. Vgl. Sigrid Weigel: Passagen und Spuren des ‚Leib- und Bildraums’ in Benjamins Schriften. In: Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin. Hg. v. ders. Köln u.a. 1992. S. 49–64. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 309f. Am Ende der Einbahnstraße vergleicht Benjamin diese Entladung mit einem epileptischen Anfall. Dieser kann bekanntlich provoziert bzw. simuliert werden: durch Elektroschocks. Die Aufgabe des revolutionären Intellektuellen wäre es demnach, durch die Manipulation am medialen Bildraum die Spannung der „leiblichen Innervation des Kollektivs“ so weit hoch zu regeln, dass sich eine energetische Entladung, d.h. die Revolution einstellt. Walter Benjamin: Notizen und Vorarbeiten zu Über den Begriff der Geschichte. In: : Gesammelte Schriften 1.3, S. 1249. Vgl. Ders.: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 495: „Und diese dialektische Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhänge ist die Probe auf die Wahrheit des gegenwärtigen Handelns. Das heißt: sie bringt den Sprengstoff, der im Gewesnen liegt […] zur Entzündung.“ Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: Gesammelte Schriften 2.1, S. 300.
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3. Die mediale Erlösung der Physis Verglichen mit diesem heißen medialen Energetismus nimmt sich Kracauers Medientheorie der Geschichte auf den ersten Blick eher ‚kühl’ aus. Wenn Kracauer in seinem unvollendeten Geschichtsbuch überrascht feststellt, dass er sich im Grunde immer schon mit Geschichte beschäftigt habe,32 ohne es zu wissen, so liegt darin ein gerüttelt Maß an Ironie. Diese besteht nicht zuletzt darin, dass für Kracauer die Geschichtsschreibung in Bezug auf die vergangene Wirklichkeit nichts anderes tut als der Film in Bezug auf die gegenwärtige: Beide retten sie nämlich vor dem Vergessen. Angesichts dieser Einsicht weiß man gar nicht, worüber man mehr verblüfft sein soll: darüber, dass Kracauers Filmtheorie seine Geschichtstheorie vorweggenommen hat, oder darüber, dass seine Geschichtstheorie so reibungslos an seine Filmtheorie anknüpfen kann. Wie meist, liegt auch hier der Grund in einem Dritten, nämlich in eben jenem Begriff der Errettung bzw. Erlösung (redemption) der (äußeren) Wirklichkeit, der ein (wenn nicht das) Zentrum von Kracauers Werk bildet.33 Hinter diesem 32
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Kracauer berichtet in der Einleitung, „wie ich kürzlich unvermutet entdeckte, daß mein Interesse an Geschichte – das vor etwa einem Jahr sich geltend machte und von dem ich bislang annahm, es sei durch den nachhaltigen Eindruck unserer gegenwärtigen Situation auf meinen Intellekt hervorgerufen – eigentlich aus den Ideen hervorging, die ich in meiner Theorie des Films auszuführen suchte“, und fährt fort: „Vor kurzem stieß ich auf meinen Aufsatz zur ‚Photographie’ und war völlig überrascht festzustellen, daß ich den Vergleich von Historismus und Photographie bereits in diesem Artikel aus den Zwanziger Jahren gezogen hatte“ (Kracauer: Geschichte. S. 15). Vgl. den (vom Verfasser autorisierten) Untertitel des Filmbuchs: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, im englischen Original: The Redemption of Physical Reality. Dagmar Barnouw erklärt in Auseinandersetzung mit D.N. Rodowick kategorisch: „Redemption in Kracauer’s use tends in the direction of the German ‚einlösen’ – to save, redeem, or reclaim pawned objects or objects wrongly thought useless, or to fulfill promises – rather than ‚erlösen’ – to save, redeem a person in an existentially difficult situation; the latter is a word with strong religious connotations and a key term in Benjamin’s work. Redemption in Kracauer’s meaning applies to the potential knowledge (made possible by photo images) of a world outside the individual observer, a world that is not automatically his“ (Dagmar Barnouw: Critical Realism. History, Photography, and the Work of Siegfried Kracauer. Baltimore und London 1994. S. 54; vgl. D.N. Rodowick: „The Last Things before the Last. Kracauer and History“. In: New German Critique 41 [1987]. S. 109–139). Ist es tatsächlich so einfach, das Bedeutungspotential der von Kracauer verwendeten Begriffe in ‚richtig’ und ‚falsch’ zu scheiden? Liegt hier lediglich eine bedauerliche, aber unbeabsichtigte Mehrdeutigkeit vor, die mit Rekurs auf die (vermeintliche) Autorintention zu vereindeutigen ist? Vgl. dagegen Miriam Hansen zu Kracauers Verwendung des Begriffs ‚redemption’: „The motif of discovery is linked to the recording and inventory function of film, the messianic motif of gathering and carrying along [mitnehmen] the material world in all its fragments and elements – this is the sense in which Kracauer uses the word redemption that has survived in the subtitle of the book“ (Miriam Hansen: ‚With Skin and Hair’: Kracauer’s Theory of Film, Marseille 1940. In: Critical Inquiry 19, Spring 1993. S. 437–469, hier S. 448). Gertrud Koch schreibt über Benjamins „theological intentions which, in the end, were not so very different from his [sc. Kracauer’s] own. […] Kracauer, at least up to and including his Theory of Film, accorded primacy to the optical, an idea first developed in the book on history to include redemption of the world of things via their historiographical identification and their transformation into narration. Thus
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Wirklichkeitsbegriff steht eine Ontologie, die es ihm ermöglicht, über einige wenige Wesensmerkmale die Gegenstände von Fotografie und Film auf der einen und Geschichtsschreibung auf der anderen Seite zu identifizieren: Zufall, Endlosigkeit, Unbestimmbarkeit und der „Fluß des Lebens“ definieren eine „ungestellte Realität“, die jenseits aller ökonomischen, sozialen und kulturellen Bearbeitung lokalisiert ist.34 Die ontologische Identifikation der Gegenstände von Film und Geschichtsschreibung verwundert einigermaßen, wenn man bedenkt, dass Kracauer noch im Filmbuch das Gebiet des Historischen neben dem Fantastischen als Hauptgegner der ‚realistischen Tendenz’ des filmischen Mediums ausmacht, und zwar aufgrund ihrer kulturell determinierten Zeichenhaftigkeit.35 Freilich beruht dieser Gegensatz nicht auf einer ontologischen Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, sondern auf dem Problem der Repräsentation der Historie im Film, welche eben nur mit Hilfe kultureller Zeichen vonstatten zu gehen vermag.36 Die Vergangenheit selbst hingegen versteht Kracauer als eben jene autonome Physis, die seinem Wirklichkeitsbegriff als Ganzem zugrunde liegt. Kracauer ist deshalb, nebenbei bemerkt, kein geschichtstheoretischer Konstruktivist, wenngleich er wie seinerzeit allenfalls der frühe Hayden White die Überwindung der überkommenen Erzähldramaturgie in der Geschichtsschreibung und ihre ästhetische Öffnung für die Verfahren der literarischen Moder-
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in the end Kracauer indeed arrives where Adorno had always fancied him to be, namely, in the world of things as the only true world worthy of redemption; the optical is the medium, not the thing itself“ (Gertrud Koch: ‚Not yet accepted anywhere’. Exile, Memory, and Image in Kracauer’s Conception of History. In: New German Critique 54 [1991]. S. 95–109, hier S. 100). Dasselbe Problem stellt sich, wie noch auszuführen sein wird, bei dem Begriff ‚revelation’ in Kracauers Filmtheorie. Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 31979. S. 95–112. Vgl. Ders.: Geschichte. S. 52: „Im Lichte irdischer Argumentation [!] zeigt dieses Universum [sc. die historische Realität] folgende (minimale) Merkmale: Es ist geladen mit Zufälligkeiten, die seine Berechenbarkeit, seine Subsumtion unter das deterministische Prinzip zunichte machen. […] Zudem ist die historische Realität virtuell endlos, da sie ausgeht von einem Dunkel, das zunehmend abnimmt und sich in eine Zukunft offenen Endes weitet. Und schließlich ist sie in Hinsicht auf Bedeutung unbestimmt.“ Es geht hier also nicht nur um eine „Ontologie des photographischen Mediums“, die Gertrud Koch als strittigen Punkt der Kracauer-Forschung ausmacht, sondern um eine Ontologie im klassischen Sinn: als Lehre vom Seienden (vgl. Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung. Hamburg 1996. S. 127). Denn, wie Gert Ueding konstatiert, „auch die Überzeugung und Darlegung von Kontingenz ist eine allgemeine Aussage über Geschichte“ (Gert Ueding: Erzählte Geschichte. Über einige rhetorische und ästhetische Aspekte von Kracauers Geschichtsphilosophie. In: Ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992. S. 203–215, hier S. 204). Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 115–121. „Die Welt, die sie [die historischen Filme] zeigen, ist als Reproduktion einer vergangenen Epoche ein künstliches Erzeugnis, vollständig abgetrennt vom Raumzeit-Kontinuum der Lebenden, ein geschlossener Kosmos, der keine Erweiterungen zuläßt“ (Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 116).
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ne propagiert.37 Seine Wendung gegen die story – die sich in gleicher Weise in seinen Bedenken gegenüber der story im Film artikuliert – ist also nicht nur der Einsicht in die Rhetorizität der Historiografie geschuldet, sondern einem weit fundamentaleren Interesse an jener Physis, die sich in ihrem ontologischen Status kategorial von aller Geschichte und allen Geschichten unterscheidet. (Von daher rührt auch seine Bevorzugung der Mikro-Dimension der Historiografie.) Betrachtet man die von Kracauer angeführten Darstellungsverfahren der Geschichtsschreibung, so wird ihre Orientierung an den Techniken des Films so deutlich, dass man annehmen muss, ihm wäre am liebsten, der Historiker erfasse die Vergangenheit im Film und nicht in der Schrift.38 Da dies aus dem schon angeführten Grund (der Nicht-Registrierbarkeit vergangener Wirklichkeit) nicht möglich ist, soll er zumindest im schriftlichen Medium den Realitätseffekt des fotografischen Mediums zu erreichen suchen. Daran schließt sich zwangsläufig die Frage an, warum Kracauer der Historiografie dieses filmische Ideal verordnet. Die Antwort darauf liegt in zwei Leistungen des Film, die sich aus der Perspektive der Geschichtstheorie als revolutionäre Leistungen kat’exochen entpuppen: in der ‚Registrierung’ (record) und in der ‚Enthüllung’ (revelation) der physischen Realität.39 Dass der Registrierung der schieren Faktizität eine eschatologische Dimension eignet, bestätigt Kracauer in einer beiläufigen Bemerkung seines Geschichtsbuchs, wenn er sich fragt, welchem Zweck eigentlich die „vollständige Ansammlung der kleinsten Fakten“ in der Mikro-Geschichte dienlich sei und darauf antwortet, es gebe hierfür letztlich nur eine theologische Begründung, nämlich das Argument, „daß nichts verloren gehen soll“. „Es ist“, schreibt er, „als verrieten die faktisch orientierten Darstellungen Mitleid mit den Toten“.40 An diesem 37
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Vgl. den vorab im dritten Band der Reihe Poetik und Hermeneutik publizierten Abschnitt: „General History and the Aesthetic Approach“ aus dem Geschichtsbuch (Siegfried Kracauer: Geschichte. S. 155–178), daneben den programmatischen Aufsatz von Hayden White: The Burden of History. (Dt.: Die Last der Geschichte. In: Ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986. S. 36–63). Vgl. dazu meinen Beitrag Narration – Erinnerung – Geschichte: Zum Verhältnis von historischer Urteilskraft und literarischer Darstellung. In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. v. Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp. Berlin und New York 2002. S. 147–169. Vgl. die extensiven Ausführungen zur Analogie von Fotografie bzw. Film und Historiografie in Siegfried Kracauer: Geschichte. S. 55–65. Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 71–94. Siegfried Kracauer: Geschichte. S. 130. Dazu Barnouw: „To the reader who considers the different opinions regarding the structure of the historical universe, history appears composed of different histories. The fact of such compositeness, its implications of instability and provisionality seemed obvious to Kracauer” (Barnouw: Critical Realism. S. 229f.). Dieser Betonung des „‚anteroom’ status of historical investigation“ (ebd., S. 229) ist nichts hinzuzufügen – außer der offensichtlichen Tatsache, dass Kracauer an dieser Stelle der Historiografie – oder genauer: eines bestimmten, grundlegenden Aspekts derselben – eine theologische Legitimation geben zu müssen glaubt. Das ändert nichts am ‚Vorraum’-Charakter der Historiografie, sondern zeigt an, dass der ‚historische Ansatz’ in seiner Instabilität auf theologische Stabilisierung angewiesen ist, dass der Peribolos auf den Raum des Heiligen verweist.
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Punkt treffen die historiografische und die filmische Intention zusammen in der Bewahrung der Wirklichkeit für die Zeit nach dem Ende der Geschichte. Denn warum sollte nichts verloren gehen, wenn nicht die registrierte Physis dereinst wiederauferstehen wird als integre Natur? Diese nur scheinbar zu weit gehende Kontextualisierung der ‚sammelnden’ Aufgabe von Film und Geschichtsschreibung wird gestützt durch die zweite Funktion des Films: die der Enthüllung. Denn der Film stellt ja die Realität bei Weitem nicht so dar, wie sie unseren Wahrnehmungsgewohnheiten entspricht, sondern unterwirft sie einer Transformation, die alles Kulturelle auf die physische Leiblichkeit reduziert (also an ihren Ursprung zurückführt).41 Was der Film enthüllt, ist das von Benjamin so genannte ‚Optisch-Unbewußte’, mit Kracauers Worten: ein „Leben unterhalb der Bewußtseinsschwelle“, das die durch kulturelle Überformung verdeckte Kreatürlichkeit des Menschen sichtbar macht und ihn dadurch in die „Solidarität des Universums“ integriert.42 Der von Kracauer verwendete Begriff der ‚revelation’ meint in diesem kosmischen Zusammenhang mehr als nur Enthüllung – er meint Offenbarung im eschatologischen Sinn als Erneuerung der Natur.43 Der Film wird damit für Kracauer zum Medium der Erlösung: Die filmische Rettung der Physis vollführt zugleich eine mediale Auferstehung des Leibes und fungiert damit quasi 41
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Vgl. Heide Schlüpmann: The Subject of Survival: On Kracauer’s Theory of Film. In: New German Critique 54 (1991). S. 111–126, hier S. 120: „Unlike Balázs, Kracauer does not conceive of the ‚psychophysical correspondences’ in the organic sense of physiognomics; rather, the rupture between psyche and physis is intrinsic to them, a rupture that first permits the unique, innate qualities of physics to become visible.“ Damit ist zugleich allen Unterstellungen eines „naive realism“ (J. Dudley Andrew: Concepts in Film Theory. Oxford 1984. S. 19) in Kracauers Filmtheorie der Boden entzogen. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 104 und 100. Zur Übernahme von Benjamins Konzept des Optisch-Unbewussten durch Kracauer vgl. Hansen: ‚With Skin and Hair’. S. 444. Vgl. dagegen Schlüpmann: The Subject of Survival. S. 119, die diese eschatologische Dimension ausblendet und in der Enthüllung der schieren Körperlichkeit („exposing life as a soulless corporeality“) das Telos von Kracauers Filmtheorie sieht. Den Hintergrund für diese Position bildet Schlüpmanns an Gertrud Koch anschließende These, Kracauers Theorie des Films konzipiere den Film als Medium des Überlebens in Konfrontation mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: „Hope […] now lies solely in a kind of survival, which is formed by the reproductive media“ (ebd., S. 114). Belege für diese These bleibt Schlüpmann ebenso schuldig wie eine Antwort auf die Frage, inwiefern das mediale Überleben als solches Grund zur Hoffnung geben soll. Wenn sie vom „motif of redemption in the midst of catastrophe“ (ebd., S. 122) bei Kracauer spricht – einem Hölderlinschen Motiv, das sich so nicht bei Kracauer, sondern bei Benjamin findet –, verstellt sie den Blick auf das zentrale Moment bei Kracauer: die Erlösung als sukzessive und klammheimliche, letztlich subjektlose mediale Praxis. Gertrud Koch selbst akzentuiert Kracauers Position gänzlich anders, indem sie die nazistische Massenvernichtung gerade als Herausforderung für Kracauers Konzept eines Primats des Optischen benennt, welches dadurch grundlegend in Frage gestellt werde: „The concretism of visual plasticity (Anschaulichkeit) that must attach itself to an extant object – the image – is intrinsically opposed to a portrayal of that which constitutes mass destruction“ (Koch: ‚Not yet accepted anywhere’. S. 104). Koch resümiert dementsprechend: „It would seem to be no coincidence that Kracauer asked one of the key questions of aesthetics after Auschwitz only in passing, circuitously“ (ebd.).
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als Medium des Jüngsten Tags, an dem die Welt neu geordnet und in ihren ursprünglichen Stand versetzt wird.
4. Die mediale Apokatastasis An die eingangs zitierte Stelle aus Benjamins Passagen-Werk anschließend kann man konstatieren, dass Benjamin und Kracauer auf die Form der neuen Medien Wunschbilder projizieren, die sich einerseits dezidiert gegen das Vergangene absetzen – das ist das, was ihre Medientheorien bis heute attraktiv, weil modern erscheinen lässt –, die andererseits aber auch die Zukunft mit Elementen der Urgeschichte vermählen. Beide binden die neuen medialen Techniken an das Urvergangene und erzeugen dadurch einen utopischen Traum-Diskurs. Dabei geht Kracauer insofern subtiler vor als Benjamin, als er den Übergang von der historischen in die transhistorische Zeit nicht als Bruch versteht, sondern als stetige, quasi unbewusste Tätigkeit der medialen Praxis von Fotografie, Film und Historiografie (eine Variante von Hegels ‚List der Vernunft’?). Doch vielleicht wird vor dem Hintergrund von Kracauers Konzeption medialer Geschichtsoffenbarung auch Benjamins medialer Revolutionsbegriff besser fassbar: nicht als gewaltsamer und alles pervertierender Bruch, sondern als plötzliche, unscheinbare Verschiebung innerhalb einer sich zunehmend anreichernden historischen Situation, die sich unversehens in eine erneuerte Welt wandelt.44 Das Modell, das dabei in Ansatz gebracht wird, ist das einer stetig sich vollziehenden Rettung der Phänomene, die mit dem traditionellen Konzept des historischen Fortschritts nichts gemein hat. Sie schließt an jene eschatologische Vorstellung einer endzeitlichen restitutio in integrum an, deren Bedeutung für Benjamins Geschichtsauffassung verschiedentlich hervorgehoben wurde.45 Benjamin wie Kracauer geht es um eine medial induzierte Transformation von Technik in Physis und damit um eine Versöhnung von Natur und Geschichte, die von der Idee der Apokatastasis zehrt, der vollständigen Wiederherstellung der Welt, in der sich das Jüngste mit dem Ältesten verbindet: die Endzeit fällt zusammen mit der Urzeit.46 44
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Benjamin kontaminiert gelegentlich das „apokryphe Wort eines Evangeliums: worüber ich einen jeden treffe, darüber will ich ihn richten“ mit „Kafkas Notiz: das jüngste Gericht ist ein Standgericht“ und zieht daraus den Schluss: „[…] der Jüngste Tag würde sich, nach diesem Worte, von den andern nicht unterscheiden“ (Walter Benjamin: Notizen und Vorarbeiten zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 1245). Vgl. die unten (Anm. 53) zitierte Passage aus Benjamins Kafka-Essay zur Apokatastasis als geringfügiger Zurechtstellung der Welt. Vgl. z.B. Irving Wohlfarth: Et cetera? Der Historiker als Lumpensammler. In: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts. Hg. v. Norbert Bolz und Bernd Witte. München 1984. S. 70–95, hier S. 87; Josef Fürnkäs: Sürrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen. Stuttgart 1988. S. 148–174. Vgl. Artikel Apokatastasis. In: Lexikon für Theologie und Kirche2. Bd. 1, Sp. 708–712. Dazu noch eine Anmerkung zu Benjamins Pyrotechnik: In der stoischen Kosmologie geht der Apo-
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Bezeichnenderweise thematisiert Benjamin diese Vorstellung nicht wie Kracauer im Rahmen seiner Theorie der neuen Medien, sondern anhand einer gerade nicht mediatisierten Form der Mitteilung: der mündlichen Erzählung. In ihr wirke eine Kraft, welche auf die Komplizität der Natur mit dem befreiten Menschen hindeute. Der Weg, auf dem diese Komplizität verwirklicht werden kann, liegt bei Benjamin wie bei Kracauer in der Kreaturwerdung des Menschen: Die Entzauberung, als die die Auferstehung bei Erzählern wie Leskov verstanden wird, ist wesentlich Verleiblichung und damit Einreihung des Menschen in die „Hierarchie der kreatürlichen Welt“, die „in vielfachen Stufungen in den Abgrund des Unbelebten“ hinabreicht; indem der Erzähler sich in diesen Abgrund versenkt, gelingt es ihm, „den Zugang zu der innersten Kammer des kreatürlichen Reiches“ zu finden.47 Der genuine Erzähler ist ein Mystiker, der die unio mit der Kreatur vollzieht und dadurch die Erlösung antizipiert. Er tut dies als anonyme „Stimme […], die vor allem Schrifttum gewesen ist“,48 und dadurch wird deutlich, dass diese Konzeption – wie Benjamin freimütig bekennt – eine anachronistische ist. Allerdings ist damit noch nicht das endgültige Urteil über sie gesprochen. Ihre Renaissance erlebt die Erzählung nämlich in jenem postrevolutionären Zustand, den Benjamin als „Welt allseitiger und integraler Aktualität“ bezeichnet.49 In dieser Welt, deren Beschreibung das von ihm erteilte Bilderverbot in Bezug auf die Verfassung der erlösten Menschheit aufhebt – in dieser messianischen Welt ersteht all das wieder auf, was Benjamin in seiner Geschichtstheorie als konterrevolutionär verabschiedet hat: Die Vergangenheit wird als Ganze verfügbar in einer neuen „messianischen“ Form der Universalgeschichte, die nicht mehr geschrieben, sondern in einer befreiten Prosa festlich begangen wird. Diese Prosa, „die die Fesseln der Schrift gesprengt hat“, ist diejenige des mündlichen Erzählers.50
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katastasis die Ekpyrosis, der Weltenbrand, voraus. (Vgl. Artikel Apokatastasis. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 1, Sp. 510–516, hier Sp. 511). Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Gesammelte Schriften 2.2, S. 458–460. Ebd., S. 462. Vgl. Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins. Tübingen 1987. S. 251–255; Verf.: Das Glück in der Geschichte. Walter Benjamins Utopismus. Widerspruch 12 (1992). Sonderheft Walter Benjamin. S. 59–72, hier S. 67–70. Vgl. Walter Benjamin: Neue Thesen K. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 1234–1235. Vgl. ders.: Das dialektische Bild. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 1238: „Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte. Aber nicht als geschriebene, sondern als die festlich begangene. […] Seine [sc. des Fests] Sprache ist integrale Prosa, die die Fesseln der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird (wie die Sprache der Vögel von Sonntagskindern). – Die Idee der Prosa fällt mit der messianischen Idee der Universalgeschichte zusammen“. Demgegenüber schreibt Kracauer in seiner Geschichtstheorie lakonisch: „Ich fürchte, die Idee von Universalgeschichte ist eine Fata Morgana, eine Schimäre, die uns narrt […]“ (Siegfried Kracauer: Geschichte. S. 129). Genau hier liegt die mediologische Differenz zwischen Benjamin und Kracauer – was jedoch nicht heißt, dass Kracauer die medientheologische Dimension völlig abginge. Wenn Ueding (ders.: Erzählte Geschichte. S. 206) die rhetorisch-ästhetische Bedeutung der
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Entscheidend ist dabei, dass Benjamin die Erzählung von Anfang an als Rückführung von Geschichte in Natur konzipiert hat,51 so dass sich die befreite Prosa als Mitteilungsform der erlösten Natur präsentiert. Benjamins Theorie der medialen Revolution kippt an dieser Stelle um in die Utopie totaler Unmittelbarkeit und Präsenz, die tatsächlich Elemente des Urvergangenen (das Benjamin mit der klassenlosen Gesellschaft identifiziert)52 zum Leben erweckt. Dass sie sich im anachronistischen Medium der Mündlichkeit artikuliert, spricht nicht für Bolz’ eingangs zitierte Annahme, Benjamin habe die Schriftkultur trauernd überwunden, sondern vielmehr dafür, dass er die neuen Medien als Alibi der Entstellung betrachtet, das in Richtung auf eine „Zurechtstellung“ – also einer Apokatastasis – des Mündlichen hin gerade zu rücken ist.53 Kracauer braucht diese Volte so nicht mitzumachen. In seiner Korrelation von Film und Geschichte wird die Erlösung klammheimlich Schritt für Schritt vollzogen, sodass die erlöste Menschheit zu guter Letzt in ihrem eigenen Film verschwinden könnte – so wie jener viel zitierte chinesische Maler in seinem Bild. Jedoch liegt bei Kracauer vor diesem letzten Schritt eine Schwelle, die nicht einfach bewältigt werden kann. Das lässt ihn
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Erzählung für Kracauers Auffassung der Geschichtsschreibung und damit − ganz im Sinne des New Historicism − die ‚petites histoires’ gegenüber dem ‚grand récit’ der Geschichtsphilosophie hervorhebt, so zeichnet sich eine Nähe zu Benjamin ab, die zugleich die entscheidende Differenz markiert: Was Benjamin auf die postrevolutionäre Zeit projiziert, postuliert Kracauer als status quo der Geschichte. Vgl. Inka Mülder-Bach: Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1989. S. 249–266. Zur „Umwertung“ der historischen Realität beim späten Kracauer schreibt Mülder-Bach: „Es bedarf nach der späten Auslegung der verwandelnden Kraft der Subjektivität nicht mehr, weil es das Kontinuum nicht mehr gibt, das zu verwandeln wäre. Die Wirklichkeit ist vielmehr selbst schon, als Peripherie, eine Konfiguration von Bruchstücken. Sie ist als das gegeben, was nach der frühen Theorie dem erkennenden Subjekt zur Konstruktion aufgegeben war“ (S. 260). Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Gesammelte Schriften 2.2, S. 450: „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen. Mit andern Worten: es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten zurückverweisen.“ Vgl. die einleitend zitierte Stelle aus dem Exposé zum Passagen-Werk: „In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft“ (Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 47). Der einschlägige Beleg für diese These findet sich in Benjamins Kafka-Essay, wo es heißt: „Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme“ (Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Gesammelte Schriften 1.3, S. 436). Die eigentliche Funktion der neuen Medien ist demnach die Bloßstellung der Entstellung. Diese sei „die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen“, und werde „verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde“ (ebd., S. 431f.). Damit ist zugleich Benjamins Revolutionsbegriff als minimaler Gestus der Zurechtstellung des Entstellten bezeichnet.
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die Geschichte in einem Vorraum lokalisieren, der zugleich ein Warteraum ist – ein Warteraum der Erlösung.54 Während Kracauer in seiner späten Filmtheorie das rettende Moment der fotografischen Medien herausstellt, betont er in den 1920er Jahren eben diese ambivalente Schwellenposition zwischen Tod und Erlösung. Die Fotografie wird hier zunächst als regelrechte Gegenspielerin der Geschichte verstanden, die den Restbestand erfasst, den diese abgeschieden hat. Die Fotografie sammelt also gewissermaßen die Leichen (oder mit Benjamin: die Lumpen) der Geschichte ein, jedoch ohne sie zu erretten; vielmehr fristet die vergangene Realität im technischen Bild ein gespenstisches Dasein und erscheint somit – wie alles Untote – als „unerlöst“.55 Das gilt a fortiori für den Menschen, der durch die fotografische Abbildung nicht in seiner Kreatürlichkeit gerettet, sondern durch sie geradezu vernichtet wird. Die Fotografie verharrt somit im Zwischenreich des Todes, den sie nur scheinbar zu überwinden vermag. Mit der Reduktion des Historischen auf das Naturfundament verbindet Kracauer 1927 demnach noch nicht die Errettung der äußeren Wirklichkeit, sondern die bedeutungslose Welt der Toten, der das freigesetzte Bewusstsein gegenübergestellt wird, um an ihnen seine Gewalt zu bewähren.56 Die Rückführung der Realität aufs Kreatürliche erscheint nicht als Wiedereinsetzung der „Solidarität des Universums“, sondern als Inventarisierung einer frei verfügbaren Natur, der als Komplement die Inventarisierung der Zeit im Historismus entspricht. Die im fotografischen Archiv dingfest gemachte Natur erweist sich statt als Offenbarung der Wirklichkeit vielmehr als deren Entfremdung, welche allenfalls ex negativo die „richtige […] Ordnung des Naturbestands“57 erahnen lässt. An dieser Stelle erhält nun der Film seine besondere Aufgabe zugewiesen: Indem er die Unordnung der Naturelemente durch die Willkür der Montage auf die Spitze treibt, praktiziert er ein „Spiel mit der zerstückel-
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Vgl. das letzte, „Der Vorraum“ überschriebene Kapitel in: Siegfried Kracauer: Geschichte. S. 179–201. Obschon sich Kracauer hier vor allem um die Abgrenzung zwischen den ‚letzten Wahrheiten’ der Philosophie und den relativen Erkenntnissen der Historiografie bemüht, zeigt die Terminologie von ‚Vorraum’ (einem Begriff, den er von Burckhardts ‚Peribolos’ übernommen hat), den ‚letzten Dingen’ (das sind bekanntlich Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle) und den daraus abgeleiteten ‚vorletzten Dingen’, die bis in den (deutschen) Untertitel des Buchs vorgedrungen sind, dass es hier auch, wenn nicht zuvorderst, um die Beziehung von Geschichtsschreibung und Theologie, von historischer Zeit und Zeitenende, zu tun ist. Oder handelt es sich wieder ‚nur’ um ein Problem der Vieldeutigkeit der Wörter? Vgl. daneben den frühen, explizit (negativ) theologisch argumentierenden Essay Kracauers Die Wartenden. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M. 1977. S. 106–119. Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Ders.: Das Ornament der Masse. S. 32. Zum Verhältnis des frühen Photographie-Aufsatzes zur späten Geschichtstheorie vgl. Mülder-Bach: Schlupflöcher, die auf die durchgängige Bezugnahme Kracauers auf Prousts Erinnerungskonzept und dessen interne Konkurrenz zur Fotografie hinweist, die auch für Benjamin von grundlegender Relevanz ist. (Vgl. oben Anm. 12.) Vgl. Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Das Ornament der Masse. S. 37. Ebd., S. 39.
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ten Natur“, das diese nicht in einer restitutio in integrum erlöst, sondern lediglich deren Erlösungsbedürftigkeit anzeigt.58 In seiner späten Filmtheorie weist Kracauer also dem Medium jene Funktion zu, die ehedem der sozialen Vernunft vorbehalten war. Darin dürfte ein Stück politischer Desillusionierung liegen, die allerdings in die neuerliche Illusion einer medialen Rettung umgebogen wird. Hieraus entsteht jener Traum-Diskurs der MedienRevolution, der die soziale Utopie ins Mediale verschiebt und damit einhergehend die soziale Befreiung als Erlösung der Natur umformuliert. 1927 steht Kracauer diesem Utopismus sehr fern: Hier ist es nicht die Rede über den Film, sondern der Film selbst, der sich in seiner frei assoziierenden Tätigkeit als Traum präsentiert. Von diesem gilt, was Benjamin vom Traumbewusstsein des Kollektivs schrieb: „Der Traum wartet heimlich auf das Erwachen“.59 Nachbemerkung: Denkt man Kracauers filmische und Benjamins orale Medienutopie zusammen, so landet man nicht im Jenseits der Geschichte, sondern in der sehr diesseitigen Welt des Fernsehens, das mit den Mitteln des Films jene Wiederkehr der Mündlichkeit vollführt, die McLuhan als Signum der elektronischen Medien schlechthin betrachtet hat.60
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Vgl. ebd. Kracauer konstatiert abschließend, „daß die gültige Organisation unbekannt ist, nach der die in das Generalinventar aufgenommenen Reste […] einst anzutreten haben“ (ebd.). Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1, S. 492. Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. S. 67: „Der visuelle, spezialisierte und fragmentierte westliche Mensch muß nicht nur tagtäglich im engsten Kontakt mit den alten oralen Kulturen der Erde leben, sondern es ist auch so, daß seine eigene Technik der Elektrizität nun beginnt, den visuellen oder Augenmenschen in die Formen des Oralen und der Stammesorganisation mit ihrem nahtlosen Netz von Affinitäten und gegenseitiger Abhängigkeit umzupolen.“ Vgl. dazu meinen Beitrag: Oralität und Utopie. Überlegungen zur Funktion simulierter Mündlichkeit im modernen Erzählen. In: Peter Weiss Jahrbuch 10 (2001). S. 103– 119.
MARKUS SCHROER
Unsichtbares sichtbar machen Visualisierungsstrategien bei Siegfried Kracauer Siegfried Kracauer ist innerhalb der Soziologie noch immer ein großer Unbekannter.1 Kaum eine Theoriegeschichte oder Einführung in die Soziologie nennt auch nur seinen Namen, kaum ein Seminar wird zu seinem Werk angeboten, kaum ein Soziologiestudent hat je von ihm gehört. Doch die Zeichen stehen gut für eine Neuentdeckung des Frankfurter Architekten, Film- und Literaturkritikers, Romanciers, Journalisten und Soziologen. Und dies nicht deshalb, weil die Soziologie sich plötzlich leicht tun würde, mit den Grenzgängern zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Wissenschaften. Die Vorbehalte gegenüber dem Unsystematischen und Essayistischen, die auch schon zur Randstellung von Kracauers Lehrer Georg Simmel geführt haben, wird nach wie vor – dagegen hat die Postmoderne wenig ausrichten können – als Makel angesehen. Nein, es ist vielmehr sein spezifischer Zugang zum Sozialen, dem vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Strömungen und Diskurse eine unübersehbare Aktualität bescheinigt werden kann. Denn Kracauers Arbeiten wollen weder selbst Großtheorie sein, noch sich einer der vorhandenen philosophischen oder soziologischen Großtheorien anschließen. Sie wollen vielmehr anhand materialer Analysen konkrete Themenfelder bearbeiten, und stehen damit in einer von Georg Simmel ausgehenden Tradition, die in den Arbeiten Robert Ezra Parks und Pierre Bourdieus eine Fortsetzung erfahren haben. Unter dem unübersehbaren Einfluss der phänomenologischen Parole „Zu den Sachen selbst“ geht es Kracauer um die Analyse der konkreten Dinge. Diese sich totalisierenden Denksystemen und absolutistischen Theoriegebäuden konsequent verweigernde Herangehensweise ist von großer Aktualität. Die Situation, vor dessen Hintergrund Kracauer seine Arbeiten in Angriff nimmt, ist mit der heutigen durchaus vergleichbar. Wenn Kracauer zu seiner Zeit einen „Hunger nach Unmittelbarkeit“ ausmacht, den er auf die „Unterernährung durch den deutschen Idealismus“ zurückführt, so können wir heute
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Dieser Beitrag erschien in leicht modifizierter Form unter dem Titel Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit. Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung in der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie, 32. Jg., H. 1/2007.
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eine ähnliche Konstellation beobachten.2 Waren es bei Kracauer noch die blutleeren Denksysteme des Idealismus, so sind es heute die abstrakten Höhen des Poststrukturalismus und der Systemtheorie, die – z. T. bis in diese Denkschulen hinein – einen neuen Bedarf an Konkretem, Handfestem und Wirklichen ausgelöst zu haben scheinen. Vor allem in der Körper- und Raumsoziologie, die nicht zufällig einen neuen Aufschwung erleben, stößt man auf Vorstellungen von Raum und Körper als Realitätsgaranten, die gewissermaßen als Anker im Meer der Kontingenzen fungieren sollen.3 In Kracauers Arbeiten verbirgt sich unter anderem der noch weitgehend ungehobene Schatz einer Soziologie des Raums und der Dinge bzw. Sachen – Themen, mit denen sich die Soziologie stets schwer getan hat. Von ihrer derzeitigen Wiederentdeckung könnte auch die Wahrnehmung des Kracauerschen Werkes profitieren. Mit beidem eng verknüpft ist der „Vorrang des Optischen“ in seinen Arbeiten, der ihn zu einem wichtigen Bezugspunkt für eine noch zu etablierende Visuelle Soziologie macht.4 Kracauers gesamtes Werk – so die im Folgenden zu entfaltende These – kann als Versuch gelesen werden, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Ebenso wie seine eigenen Arbeiten sich diesem Ziel verschrieben haben, interessiert er sich für alle Möglichkeiten, die es erlauben, etwas sichtbar zu machen, indem sie es der Unsichtbarkeit, der Welt des Verborgenen, entreißen. Ob er mit seinen eigenen Arbeiten etwas sichtbar werden lässt oder den Film als Medium feiert, das etwas sichtbar machen kann: Das Ziel ist stets die Visibilisierung des Invisibilisierten. Kracauers Affinität zum Film rührt daher, dass dieser seiner Art Soziologie zu betreiben entgegenkommt. Die Aufgabe, die er sich als Beobachter der Gesellschaft stellt, erfüllt der Film in vorbildlicher Weise. Die Verfahren und Techniken, deren sich der Film dabei bedient, sind auch in Kracauers Arbeiten, die geradezu filmisch angelegt sind, vorzufinden.
1. Abenteuer Alltag – Soziologische Forschung als Entdeckungsreise „Den größten Teil seiner Zeit verbringt“ der Soziologe, so schreibt Peter L. Berger in seiner Einladung zur Soziologie, „in Zonen der Erfahrung, die ihm und den meisten Leuten in der Gesellschaft, zu der auch er gehört, vertraut sind oder zu sein scheinen. Er untersucht Gruppen und Einrichtungen und Tätigkeiten, von denen man alle Tage in den Zeitungen liest. Aber gerade dabei wartet ein anderes Entdeckerglück auf ihn: nicht die aufregende Begegnung mit dem völlig Unvertrauten, sondern das unheimliche Staunen, das sich 2
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Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a. M. 1971. S. 15. Vgl. Soziologie des Körpers. Hg. v. Markus Schroer. Frankfurt a. M. 2005. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981. S. 408.
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einstellt, wenn das Vertraute plötzlich ein anderes Gesicht bekommt. Die Faszination der Soziologie liegt darin, daß ihre Scheinwerfer uns die Welt, in der wir leben, plötzlich in einem anderen Licht zeigen.“5 Diese Charakterisierung der Soziologie beschreibt exakt das Interesse und die Arbeits- und Vorgehensweise Siegfried Kracauers. Dem Frankfurter Soziologen geht es in der Tat um die Entdeckung des Fremden im Vertrauten. Sein vornehmliches Interesse gilt dem Unspektakulären und Unbeachteten, dem scheinbar Unbedeutenden und Nebensächlichen. Kracauer ist der Analytiker der Oberflächenerscheinungen. Statt sich im Gestus des Großtheoretikers und bürgerlichen Intellektuellen mit Abscheu von den profanen Produkten der Kultur abzuwenden oder sie allenfalls als Illustration für den nahenden Untergang des zivilen Welt anzuführen, taucht Kracauer im Gegenteil ein in die Welt der nichtigen Dinge und der unscheinbaren Gestalten, die die Straßen moderner Großstädte wie Berlin oder Paris bevölkern. Er widmet seine Aufmerksamkeit Buden, Karussells und Hosenträgern ebenso wie dem Zeitungsrufer, dem Dauerkunden und dem Nummernmädchen.6 In all diesen Fällen geht es ihm darum, das bisher nicht Beachtete zu beachten, das oft Übersehene zu sehen, dem Unsichtbaren zur Sichtbarkeit zu verhelfen und damit dem Vergessenen und Verdrängten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In seinem posthum erschienenen Buch über Geschichtsschreibung notiert Kracauer, dass er „ein Leben lang“ versucht habe, „die Bedeutung von Bereichen herauszuschälen, deren Anspruch, um ihretwillen anerkannt zu werden, noch nicht Genüge geschah“.7 Kein Gegenstand scheint zu unscheinbar, zu banal oder belanglos, um sich nicht einer eingehenden Betrachtung als würdig zu erweisen8, denn: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse der unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus 5
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Peter Berger L.: Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive. München 1977. S. 30. Vgl. Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo. Berlin 1987. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Frankfurt a. M. 1973. S. 16. Man bemerkt an Adornos Beschreibung dieser Herangehensweise nur zu deutlich, wie fremd ihm Kracauers Offenheit für das Alltägliche ist: „Dabei war das Interesse Kracauers an der Massenpsychologie des Films nie bloß kritisch. Er hat in sich selbst etwas von der naiven Sehlust des Kinobesuchers; noch in den kleinen Ladenmädchen, die ihn belustigen, trifft er ein Stück seiner eigenen Reaktionsformen. Nicht zuletzt darum wurde sein Verhältnis zu den Massenmedien nie so schroff, wie es seine Reflexion auf deren Wirkung hätte erwarten lassen. Seine Hinneigung zum Unteren, von der hohen Kultur Ausgeschlossenen, in der er sich mit Ernst Bloch verstand, ließ ihn dort noch über Jahrmarkt und Drehorgel sich freuen, wo längst industrielle Großplanung jene verschluckt hatte. Im Caligaribuch werden Filmhandlungen seriös, ohne Wimperzucken referiert“ (Adorno: Der wunderliche Realist. S. 397). Die Distanz, mit der Adorno diese Eigenheit Kracauers beschreibt, verrät viel von seinen eigenen Vorbehalten gegenüber den Produkten der Massenkultur. Seine Kritik ist im Grunde vernichtend. Doch ist es gerade Kracauers Sicheinlassen auf die Produkte der Massenkultur, die ihn heute so aktuell erscheinen lassen. Man könnte ihn durchaus zu den Wegbereitern der Cultural Studies zählen.
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dem Urteil der Epoche über sich selbst. […] Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“9
Aus der Versenkung in das Detail möchte er die Signatur eines ganzen Zeitalters herauslesen. Kracauer lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit der Dinge, die dem Strom des Vergessens entrissen werden sollen. Ihre Benennung weckt sie förmlich aus ihrem Schlummer, so seine feste Überzeugung. Dieses Verfahren unterscheidet sich deutlich vom Umgang der Kritischen Theorie mit den Oberflächenerscheinungen ihrer Epoche und den Erzeugnissen der Massenkultur. Während sich Kracauer nicht mit vorgefasster Ablehnung, sondern mit unstillbarer Neugier auf die alltägliche Wirklichkeit stürzt, sind sich die Großphilosophen der Frankfurter Schule in ganz traditioneller Manier sprichwörtlich zu fein, um sich mit den Niederungen des Alltagsgeschehens abzugeben. Der Blick vom Thron der Philosophie auf die als Kulturindustrie gescholtenen Erzeugnisse ist jedoch nicht Kracauers Sache, der sich – genau umgekehrt – analytisch mit den einzelnen Produkten des Kulturbetriebs auseinandersetzt – darin Walter Benjamin, der anderen Figur aus dem Randbezirk des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ähnlich. Der in der Rezeptionsgeschichte vorherrschende Versuch, Kracauer als wichtigen Vorläufer oder eigentlichen Vater der Kritischen Theorie zu würdigen, hat den Blick auf seine spezifische Leistung – den unvoreingenommenen Zugang zu den zuvor nicht als satisfaktionsfähig geltenden Phänomenen der modernen Kultur – eher verstellt als erhellt. Statt ihn als zentralen Stichwortgeber der Kritischen Theorie einzuordnen, gilt es Kracauer deshalb als Wegbereiter der neueren Kultursoziologie zu entdecken. Kracauer hat durch seinen unverblümten Umgang mit den Erzeugnissen der Alltagskultur die Tür, die Simmel schon ein wenig geöffnet hatte, weit aufgemacht, durch die die Vertreter der Cultural Studies später ebenso hindurchgehen konnten wie Pierre Bourdieu. Dass diese erneut dafür gefeiert werden konnten, auch Produkte der U-Kultur für interpretationswürdig und vielfältig deutbar zu erachten, zeigt auf der einen Seite das systematische Vergessen einzelner Einsichten in der Geschichte der Soziologie und unterstreicht auf der anderen Seite die in der Kultursoziologie lange Zeit mitgetragene große Affinität zu den Produkten der E-Kultur.
2. Enthüllen und Entlarven – Kracauers Studie über die Angestellten Exemplarisch vorführen lässt sich Kracauers spezifische Arbeitsweise an seiner Studie über Die Angestellten aus dem Jahre 1930.10 Anlass und Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet die Beobachtung, dass man über das Leben der Angestellten – trotz ihrer eigentlich unübersehbaren Präsenz – nahezu nichts weiß: 9 10
Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M. 1977. S. 50. Siegfried Kracauer: Die Angestellten.
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„Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern.“11
Ähnlich wie später Pierre Bourdieu und Michel Foucault, plädiert Kracauer deshalb für die Anwendung eines gleichsam ethnografischen Blicks auf die eigene Gesellschaft, die uns nur scheinbar vertraut ist. Der Aufbruch in das „unbekannte Gebiet“ wird nicht zufällig als „kleine Expedition“ bezeichnet, „die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist. Denn indem sie die Angestellten aufsucht, führt sie zugleich ins Innere der modernen Großstadt“.12 Es ist gerade die Alltäglichkeit der Phänomene, die ihre Wahrnehmung, ihre Erfassung und Beschreibung verhindert. Der „Exotik des Alltags“ kommt man nicht auf die Spur, wenn man sich hinter abstrakten Denkgebäuden verschanzt, die den Zugang zur Wirklichkeit verstellen.13 Deshalb sucht Kracauer nach einem Weg zwischen der Reportage auf der einen und der bloß statistischen Erfassung der Angestellten auf der anderen Seite zu entgehen. Zwar sieht Kracauer in der Reportage einen „legitimen Gegenschlag gegen den Idealismus“.14 Doch das alleine reicht nicht, wie er unmissverständlich erklärt: „Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“15
Damit will Kracauer sagen, dass die Reportage es sich zu leicht macht, wenn sie einfach Reproduktionen des Beobachteten liefert. Worum es vielmehr geht, ist, den einzelnen Beobachtungen einen Sinn zu verleihen, indem sie miteinander in Beziehung gesetzt werden, so dass sich die „Wirklichkeitssplitter“ zu einem Mosaik zusammensetzen lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, verwendet Kracauer das filmische Mittel der Montage, mit dem Zusammenhänge und Querverbindungen zwischen einzelnen Elementen hergestellt werden können, ohne dass daraus immer jemals ein komplettes Bild entstehen würde, von dem die deduktiv arbeitenden großen Denksysteme immer schon ausgehen. Unermüdlich wirbt Kracauer für die Entdeckung des Exotischen in unserer unmittelbaren Nähe. Wenn man sich nur umsehen wollte, würde man auf die erstaunlichsten Dinge stoßen können, so lautet Kracauers Botschaft. Und in der 11 12 13 14 15
Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16. Ebd.
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Tat wird unter dem Blick Kracauers „das grau Gewohnte“ zum „Objekt des Staunens“.16 Kracauers Blick lässt uns Straßen, Plätze und Dinge auf eine Weise sehen, wie wir sie zuvor nicht gesehen haben. Durch den Einsatz spezifischer Filmtechniken – etwa der Großaufnahme – verfremdet er auf subtile Weise den von ihm beschriebenen Gegenstand, so dass wir nicht eine Bestätigung unserer Bilder vorgeführt bekommen, sondern ganz neue Bilder sich einstellen, weil erst ein anderer Blick die gewohnten Dinge wieder sichtbar zu machen vermag. Für die von ihm erzeugten Bilder gilt das gleiche wie für die von Kameras hervorgebrachten: „Natürlich sind bestätigende Bilder von geringerem Interesse als solche, die unsere Vorstellungen von der physischen Welt in Frage stellen.“17
Allein diese Aussage macht deutlich, dass es Kracauer nicht um eine bloße Abbildung der Wirklichkeit geht, sondern um den Nachweis von Zusammenhängen zwischen den scheinbar unzusammenhängenden Einzelheiten. Uninterpretiert, gleichsam im Rohzustand, ist auch bei Kracauer kein Gegenstand der Wirklichkeit zu haben. Aber je mehr Blicke auf ihn fallen, die ihn nicht einer Allgemeinheit unterordnen, sondern in seiner Besonderheit zeigen wollen, desto lebendiger wird gleichsam der Gegenstand. Kracauers Studie über die Angestellten hat sich zum Ziel gesetzt, den Kegel der Aufmerksamkeit endlich auf diese Gruppe zu lenken, die durch ihre massive Sichtbarkeit nahezu unsichtbar geworden zu sein scheint. Dabei bedient er sich einer Vielzahl empirischer Verfahren – Gespräche, Interviews, Porträts, Analyse von Dokumenten, Inspektion von Lokalitäten, teilnehmende Beobachtung – die ihn zu einem Pionier der qualitativen Sozialforschung machen. Nun ist es allerdings keineswegs so, als wären die Angestellten bisher nicht Untersuchungsgegenstand zahlreicher Abhandlungen gewesen. So wenig sich das Leben der Angestellten im Verborgenen abspielt – ganz im Gegenteil findet es in der Öffentlichkeit statt –, so wenig auch sind sie als Forschungsgegenstand bisher übergangen worden. So bezieht er sich beispielsweise explizit auf die Untersuchungen von Emil Lederer. Doch nach Kracauer ist es gerade die öffentliche Präsenz und ihre statistische Erfassung, die das Leben der Angestellten mehr verhüllen als beleuchten. Würde man diese Einsicht verallgemeinern, ließe sich sagen: Gerade die Sichtbarkeit und Offensichtlichkeit eines Phänomens schützt am zuverlässigsten vor seiner Entdeckung. Tatsächlich erinnert Kracauer nicht nur in diesem Zusammenhang an die berühmte Erzählung The Purloined Letter von Edgar Allan Poe, in der ein Brief gerade deshalb nicht gefunden wird, weil er – für alle Augen sichtbar – ganz oben auf einem Stapel liegt. Für Kracauer ist dieses Phänomen der Wahrnehmung von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung. Ähnlich wie der Brief gerade 16 17
Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 399. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1985. S. 397.
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durch seine exponierte Lage vor Entdeckung geschützt ist, verhält es sich auch mit einem öffentlichen Platz in Berlin, den Kracauer wie folgt beschreibt: „Mitten in einem großen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. Vielleicht hat diese märchenhafte Geschicklichkeit ihren Grund in der Tatsache, daß er vor allem dem Durchgangsverkehr dient. Tausende kreuzen ihn täglich im Omnibus oder in der Tram, aber gerade weil sie ihn ohne jedes Aufheben überqueren, versäumen sie es, seiner zu achten. So genießt er das unvergleichliche Glück, gewissermaßen inkognito im Trubel leben zu dürfen, und obwohl er sich nach allen Seiten hin auftut, ist es doch, als sei er von dichten Nebeln umlagert.“18
Kann es sein, dass die häufig bei Kracauer zu findende animistische Wendung im letzten Satz auf ein Ideal seiner eigenen Existenz und Arbeitsweise verweist? Gleichsam unsichtbar am Leben der anderen teilzuhaben, ohne selbst dabei mitwirken zu müssen? Eine reine Beobachterexistenz, die anonym, unerkannt und unbemerkt sich zum Augenzeugen der Ereignisse machen kann wie eine versteckte, mobile Kamera? Für diese These spricht zum einen, dass Kracauer hier ausdrücklich seinen eigenen Beobachtungsstandort beschreibt (was deutlich an E.T.A. Hoffmanns Vetters Eckfenster erinnert) und dafür spricht zum anderen, dass er in seinem Geschichtsbuch mit der Methode Leopold von Rankes sympathisiert, der bekanntlich zeigen wollte, „wie es eigentlich gewesen ist“.19 Wenn Kracauer an von Rankes Wunsch erinnert, „sein Ich auszulöschen, so daß nur die Dinge selbst zur Sprache kämen“, so hat er damit auch sein eigenes Ideal bündig auf den Punkt gebracht.20 Sich selbst ganz und gar zurücknehmen, ist das Ziel, das er auch als „passive Beobachtung“ und „Selbstvertilgung“ beschreibt.21 Das erinnert nicht zufällig auch an Max Webers Ideal, allein der Sache zu dienen, statt bei jeder Gelegenheit krampfhaft Spuren der eigenen Persönlichkeit hinterlassen zu wollen: „Selbstauslöschung erzeugt Selbsterweiterung“, heißt es bei Kracauer dazu kurz und bündig.22 Die Unterordnung unter die Erfordernisse der Sache und die Hingabe an das Material verhindert also nicht, sondern führt überhaupt erst zur Persönlichkeitsbildung. Kracauer steigert dieses Ideal der sachdienlichen Hingabe bis hin zur Fantasie der eigenen Unsichtbarkeit und Anonymität – etwa wenn er von seinem „alteingewurzelten Bedürfnis, exterritorial zu leben, sowohl in Hinsicht auf das intellektuelle Klima wie auf [die] chronologische Zeit“ spricht und fortfährt:
18 19 20 21 22
Ders.: Straßen in Berlin und anderswo. S. 50. Vgl. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Frankfurt a. M. 1973. Ebd., S. 100. Ebd., S. 104. Ebd., S. 111.
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„Es ist einzig die Scheu davor, durch Fixierung des Datums und der unvermeidlichen connotations einer solchen Fixierung der chronologischen Anonymität entrissen zu werden.“23
Im scheinbaren Widerspruch zu diesem Ideal erweist sich als ebenfalls typisch für Kracauers Arbeiten, dass sie in der Konzentration auf eine Sache immer auch Selbstaussagen über eigene Arbeiten und das eigene Vorgehen enthalten, sodass sich seine einzelnen Arbeiten permanent gegenseitig kommentieren. Insofern lässt sich durchaus fragen, ob er jemals Texte verfasst hat, die nicht autobiografisch geprägt sind. Denn in seinen Arbeiten über andere Autoren, Phänomene und Dinge steckt zugleich auch immer ein Selbstporträt: Wie der Fotograf „Dank der entlarvenden Macht der Kamera“, so hat auch Kracauer selbst „etwas von einem Entdecker an sich, der voller Neugier durch noch uneroberte Räume streift“.24 Wie der Detektiv dringt auch Kracauer in unbekannte Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit vor. Und wenn er Simmels methodisches Vorgehen analysiert, beschreibt er zugleich auch sein eigenes: „Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt.“25
Zahllose weitere Beispiele ließen sich anführen. So sehr Kracauer einerseits bis zur Selbstauslöschung in die Welt der Dinge eintauchen will, um diese selbst zur Sprache kommen zu lassen, so sehr ist er doch andererseits stets anwesend als ihr Arrangeur und Regisseur, der in der Beschreibung jeder seiner Untersuchungsgegenstände immer auch einen Bezug zu sich und seinen eigenen Arbeiten herstellt. Trotz des „sich Draußenhalten[s] als Medium der Erkenntnis“ gilt26: „In dem Blick, der an die Sache sich festsaugt, ist bei Kracauer, anstelle der Theorie, immer schon er selber da“.27 Dieser Widerspruch erzeugt die eigentümliche Mischung aus Selbstvergessenheit und Selbstpräsentation, von der Kracauers Texte leben. Seine Enthüllungen sind insofern immer auch Selbstenthüllungen. „Entlarven ist diesem Autor Passion“ schreibt treffend Walter Benjamin über Kracauers Motivation zu seiner Arbeit.28 Eine Passion, die er mit Pierre Bourdieu teilt, auf den die Benjaminsche Charakterisierung ebenso gut passen würde.29 Ebenso wie dieser arbeitet Kracauer an der 23 24 25 26 27 28
29
Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo. S. 160. Vgl. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. S. 71. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. S. 242. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 399. Ebd., S. 395. Walter Benjamin: Politisierung der Intelligenz. Zu S. Kracauers ‚Die Angestellten’. In: Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a. M. 1971. S. 110–123, hier S. 116. Wenn Kracauer schreibt, dass es die Idee der Soziologie sei, „die Notwendigkeiten herauszukristallisieren, die das Leben der vergesellschafteten Menschen in seiner ganzen empirisch erfahrbaren Breite allenthalben durchwachsen“ (Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. In:
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Sichtbarmachung des Verborgenen, wobei beide davon ausgehen, dass die Unsichtbarkeit nicht daraus resultiert, dass es sich um eine wirklich verhüllte und geschlossene und damit schwer zugängliche Welt handelt, sondern daraus, dass sie sich nur allzu sichtbar an der Oberfläche befindet. Gerade das allzu Sichtbare und Offensichtliche hat bei beiden die besten Chancen unsichtbar zu bleiben. Und bei beiden gibt es starke gesellschaftliche Kräfte, die dafür sorgen, dass die unbequemen Einsichten nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Bourdieu wie Kracauer betreiben beide eine Art Enthüllungssoziologie, die in der Aufdeckung bisher unerkannter Zusammenhänge besteht, was ihres Erachtens die entscheidende Aufgabe des Gesellschaftskritikers ausmacht, als den sich beide begreifen. Das erklärte Ziel von Kracauers Studie ist es, die Welt der Angestellten zur Sprache zu bringen, die Nöte, Ängste und Sorgen der Angestellten sichtbar zu machen. „Mein Wunsch wäre“, schreibt er in der Einleitung zu seiner Untersuchung, „daß dieses kleine Buch wirklich von ihnen spräche, die nur schwer von sich sprechen können“.30 Und auch diesen Wunsch teilt er mit Pierre Bourdieu, der in seiner Studie über das „Elend der Welt“ ein ähnliches Ziel formuliert.31 Beide gehen davon aus, dass die jeweils Betroffenen nur schwer über sich selbst sprechen können und es deshalb die Aufgabe der Soziologie sei, diesen zum Sprechen zu verhelfen.32 Kracauer kritisiert in diesem Zusammenhang Ansätze, die sich den Extremen widmen, statt dem Alltag und dem „normale[n] Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit“.33 Exakt in diesem Sinne will auch Bourdieu nicht den medial anschlussfähigen Inszenierungen extremer Ausschlussphänomene auf den Leim gehen. Ihn interessiert, ähnlich wie Kracauer, weit mehr, wie sich Ausgrenzungserfahrungen in den Alltag einschleichen und dort zu einem langsam wirkenden Gift werden, das nicht spektakulär, sondern sukzessive die Basis sozialer Beziehungen zerstört: „Man entledige sich doch des Wahns, daß es auch nur in der Hauptsache die großen Geschehnisse sind, die den Menschen bestimmen. Tiefer und dauernder beeinflussen ihn die winzigen Katastrophen, aus denen der Alltag besteht, und gewiß ist sein Schicksal vorwiegend an die Folge dieser Miniaturereignisse geknüpft.“34
30 31 32 33 34
Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 57), dann hat er damit zugleich Bourdieus soziologisches Programm prägnant beschrieben, in dem die Notwendigkeit ebenfalls eine herausragende Stellung einnimmt (vgl. Markus Schroer: Zwischen Engagement und Distanzierung. Zeitdiagnose und Kritik bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. In: Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Hg. v. Armin Nassehi und Gerd Nollmann. Frankfurt a. M. 2004. S. 233–270). Siegfried Kracauer: Die Angestellten. S. 8. Pierre Bourdieu: Das Elend der Welt. 1997. Vgl. Markus Schroer: Zwischen Engagement und Distanzierung. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. S. 109. Ebd., S. 56.
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Diesen Satz hätte auch Bourdieu ohne Abstriche unterschreiben können. Kracauer fertigt mit seinen genauen Beobachtungen vor Ort eine Art dichte Beschreibung der Arbeitsvermittlungsstellungen an, die einen tiefen Einblick in die Lebenswelt der aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen vermitteln, die jede Hoffnung auf Wiedereingliederung aufgegeben haben und denen deshalb das (vergebliche) Warten zur Hauptbeschäftigung geworden ist. Mit bitterem Sarkasmus schildert Kracauer das Los der „Abfallprodukte“, der Überflüssigen, „von denen die Statistik in Zahlen berichtet“, die man hier aber leibhaftig antreffen kann: „Ältere Leute, die man um jeden Preis losschlagen will, werden wie Sorgenkinder behandelt und müssen sich täglich auf dem Arbeitsmarkt melden. Immerhin haben sie dadurch eine Beschäftigung. Freilich, wenn sich keine andere findet, füllt sie ihr Leben nicht genug aus, um zu seiner Verlängerung anzureizen, und manche drehen dann schließlich den Gashahn auf.“35
An Kracauers Herangehensweise ist auffällig, dass er sich die Welt der Angestellten über eine Inventarisierung der Räume und Dinge zu erschließen versucht, die in deren Leben eine Rolle spielen. Das womöglich seinem vorübergehend ausgeübten Beruf des Architekten geschuldete „Primat des Optischen“ in seinen Arbeiten wird vor allem an der überragenden Rolle deutlich, die der Raum in Kracauers Schriften spielt.36 Für Kracauer lässt sich an der „Konstruktion des Raumes“ der Aufbau und die Struktur einer Gesellschaft ablesen: „Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum. So gehört zum Generaldirektor jenes neusachliche Arbeitszimmer, das man aus den Filmen kennt, die ihr Original oft nicht einmal erreichen. […] Als charakteristischer Ort der kleinen, abhängigen Existenzen, die sich noch immer gern dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr die Siedlung heraus. Die paar dort verwohnbaren Kubikmeter, die auch durchs Radio nicht erweitert werden, entsprechen genau dem engen Lebensspielraum dieser Schicht. Der für die Erwerbslosen typische Raum ist reichlicher bemessen, aber dafür das Gegenteil eines Heims und gewiß kein Lebensraum. Es ist der Arbeitsnachweis. Eine Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbstätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heute stark verstopft.“37
Entscheidend dabei ist Kracauers Überzeugung, dass sich an den räumlichen Gegebenheiten die gesellschaftliche Wirklichkeit ablesen lässt. Der Besuch 35
36 37
Ebd., S. 63. Vgl. auch die folgende Textstelle, die unter anderem deutlich macht, dass der „Jugendwahn“ keine Erfindung des späten, sondern bereits des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts ist: „In der Annonce wünscht nämlich ein Herrenkonfektionsgeschäft einen älteren Verkäufer von 25 bis 26 Jahren. Wenn es so weitergeht, werden bald die Wickelkinder zu den Jüngeren zählen. Mag aber auch das Herrenkonfektionsgeschäft einen übertriebenen Begriff von Jugendlichkeit hegen, so ist doch heute tatsächlich die Altersgrenze im Geschäftsleben stark nach unten gerückt, und mit vierzig Jahren sind viele, die noch munter zu leben glauben, wirtschaftlich leider schon tot.“ (Ebd., S. 44) Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 392. Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo. S. 66.
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der Arbeitsnachweise sagt seiner Ansicht nach mehr über die realen Verhältnisse und das Lebensgefühl der vom Arbeitsmarkt verdrängten Arbeitnehmer aus, als sich den Erwerbslosenstatistiken und Parlamentsdebatten entnehmen lässt. Während diese „ideologisch gefärbt“ sind, weil sie die „Wirklichkeit in dem einen oder anderen Sinne“ zurechtrücken, ist „der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit selber gestellt“. Raum wird somit gewissermaßen zum Wirklichkeitsgaranten. Er gibt Auskunft über die wahren Verhältnisse: „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“38
Ohne Umweg also und unmittelbar schreiben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Raum ein. Anders als die auf bestimmte Intentionen und Interessen zurückgehenden Verlautbarungen, Erklärungen und Dokumente, sind die Räume ebenso stumme wie beredte Zeugen des wirklichen Lebens. Diese Auffassung – die sich auch schon bei Emile Durkheim und Maurice Halbwachs findet – teilt Kracauer wiederum mit Bourdieu.39 Angesichts der Bedeutung, die der Raum in Kracauers Arbeiten einnimmt, die sich unter anderem auch durch die Vielzahl räumlicher Metaphern auszeichnen, die er bei der Erklärung von Sachverhalten verwendet, ist es sinnvoll zu fragen, welchen Raumbegriff Kracauer eigentlich zu Grunde legt. In einer Auseinandersetzung mit dem „Tat-Kreis“ grenzt sich Kracauer dezidiert von einem rein geografischen Raumbegriff ab, den Geopolitiker wie Carl Schmitt in dieser Zeitschrift pflegen. Er polemisiert gegen den „Kult mit dem Raum“ und den Versuch, Raum als Eigengröße zu verabsolutieren.40 Für Kracauer dagegen stiftet nicht schon das zufällige räumliche Nebeneinander den Zusammenhalt einer Nation, deren „kleinste geographische Zelle […] das Familienheim“ bildet.41 Kracauer versteht diese Auffassung als Gegenreaktion auf die in liberalen Kreisen Betonung von Internationalität, die auf „räumliche Eigenheiten“ keine Rücksicht nimmt.42 Jenseits dieser Auseinandersetzung, auf die wir hier nicht näher eingehen können, obgleich sie von großer Aktualität ist, ist für den vorliegenden Zusammenhang festzuhalten, dass Kracauer Raum nicht als Eigengröße versteht, weil dieser „in Wirklichkeit Bedeutung jeweils von den auf seinem Boden sich realisierenden Gehalten empfängt“.43 38 39
40 41 42 43
Ebd. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter Raum. In: Stadt-Räume. Hg. v. Martin Wentz. Frankfurt a. M. und New York 1991. S. 26–34. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. S. 92. Ebd., S. 84. Ebd., S. 92. Ebd., S. 91.
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Der Raum ist folglich für Kracauer nicht Boden, sondern hat einen Boden. Er schließt sich damit dem Raumverständnis Simmels an, der dem Raum so wenig wie Kracauer ein Eigenleben zuerkennt, so dass er dieses oder jenes zu wollen und zu bewirken in der Lage wäre. Allerdings gilt für Simmel ebenso wie für Kracauer und Bourdieu, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Raum einschreibt, so dass sich aus räumlichen Arrangements die gesellschaftliche Wirklichkeit förmlich herauslesen lässt. Es ist dieses Raumverständnis, das Kracauer dazu veranlasst, die Wirklichkeit der Angestellten nicht aus den Texten, Dokumenten und Statistiken zu entnehmen, sondern an ihren räumlichen Gegebenheiten abzulesen. 3. „Schläft ein Lied in allen Dingen“ – von der Kamera als Aufmerksamkeitsapparat und dem Kino/Film als Schule des Sehens Schon an Kracauers Studie über die Angestellten wird deutlich, dass das Gegensatzpaar Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit in Kracauers Schriften einen geradezu erkenntnistheoretischen Stellenwert einnimmt. Seinen Analysen liegt die Einsicht zugrunde, dass die Welt mit Blindheit geschlagen ist, gerade weil alles offen zutage liegt: „Das Licht blendet eher, als daß es erhellte, und vielleicht dient die Fülle des Lichts, […], nicht zuletzt einer Vermehrung der Dunkelheit.“44
Kracauer spricht an dieser Stelle vom Gegensatz zwischen den engen, lichtlosen Räumen in den Wohnungen der Angestellten auf der einen und dem Lichtermeer der Warenhäuser auf der anderen Seite und doch weist diese Einsicht weit über diesen Kontext hinaus. Nicht das Dunkle und Verborgene, sondern gerade umgekehrt das im hellen Licht Erstrahlende und Vorgezeigte ist unsichtbar und muss erst sichtbar gemacht werden. In Kracauers aufklärerischer Intention des Aufdeckens und Enthüllens unerkannter Zusammenhänge geht es nicht mehr länger um das Licht, das in das Dunkel gebracht werden muss, sondern um das unbeirrte Sehen und die gezielte Aufmerksamkeit auf die gleichsam überbelichteten Zusammenhänge – ohne sich dabei von ihrem gleißenden Licht blenden zu lassen. Bei Kracauer haben wir es mit einer vollständig belichteten Welt zu tun, die deshalb nicht mehr erkennbar ist, weil sie permanent abgelichtet wird. Und als Folge davon halten alle Zeitgenossen die Abbildungen der Realität für die Realität selbst, was für Kracauer aber deshalb nicht ohne Logik ist, weil sich die Realität bereits selbst mediengerecht inszeniert:
44
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. S. 93.
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„Die Welt selber hat sich ein ‚Photographiergesicht’ zugelegt; sie kann photographiert werden, weil sie in dem räumlichen Kontinuum aufzugehen strebt, das sich Momentaufnahmen ergibt.“45
Jenseits der in diesem Text durchaus vorhandenen Kulturkritik ist diese Passage ein hochaktueller Gedanke, der die Einsicht transportiert, dass wir es nicht auf der einen Seite mit der Realität und auf der anderen mit ihrer Abbildung zu tun haben, sondern mit einer Realität, die sich durch den jeweiligen Zugriff auf sie auch selbst verändert. „Je nach der Absicht, mit der das Ich an die Realität herantritt, bietet dieses sich ihm anders dar“.46 Kracauer ist deshalb keineswegs der naive Realist, als der er in der Sekundärliteratur immer mal wieder herhalten muss.47 Es geht ihm nicht um die bloße Abbildung der Wirklichkeit. Das wird aus seiner Kritik an der Reportage ebenso deutlich wie an seiner Kritik des Dokumentarfilms, mit dem er sich innerhalb seiner Filmtheorie auseinandersetzt. Seine Suche nach einem Zugang zur Wirklichkeit führt Kracauer schon in den Anfängen zum Medium Film. Entgegen der bis heute populären Meinung, dass der Film eine Illusionsmaschinerie darstellt, die von der eigentlichen Wirklichkeit ablenkt, führt er für Kracauer genau umgekehrt zur Wirklichkeit hin. Der Film weiß eine Wirklichkeit einzufangen, die mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen ist. Filme sind ihm deshalb willkommene Verbündete im Kampf um „die Errettung der äußeren Wirklichkeit“.48 Während er in seiner Untersuchung über die Angestellten (mit dem gleichen Bezug auf Poes Erzählung vom gestohlenen Brief) es sich selbst zur Aufgabe macht, die Welt der Angestellten sichtbar werden zu lassen, die bisher unbeleuchtet geblieben ist, obwohl sie offen zu Tage liegt, bescheinigt er dem Film eben diese Fähigkeit zur Wiedergabe der physischen Realität, die merkwürdig unsichtbar, weil unbeachtet und unbeobachtet bleibt: „Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war, eine Welt, die sich dem Blick so entzieht wie Poes gestohlener Brief, der nicht gefunden werden kann, weil er in jedermanns Reichweite liegt. […] So merkwürdig es klingt: Straßen, Gesichter, Bahnhöfe usw., die doch vor unseren Augen liegen, sind bisher weitgehend unsichtbar geblieben.“49
Wie im Angestelltenbuch begegnet uns auch in Kracauers Filmtheorie die bereits bekannte Argumentationsfigur. Obwohl die Dinge offen zu Tage liegen, können wir sie gleichwohl nicht erkennen. Hier wie dort stellt sich die 45 46 47
48
49
Ders.: Das Ornament der Masse. S. 34. Ders.: Soziologie als Wissenschaft. In: Schriften 1. Frankfurt a. M. 1971. S. 14. Die polemische Abrechnung Tudors aus dem Jahre 1974 bestätigend, hält auch Rainer Winter Kracauers Theorie des Films für gescheitert (vgl.: Rainer Winter: Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft. München 1992. S. 17). Dieser Untertitel von Kracauers Theorie des Films könnte als Motto für Kracauers Gesamtwerk dienen. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 388.
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Frage, welche Gründe Kracauer dafür anführt, dass die offensichtlichen Dinge sich unserer Aufmerksamkeit entziehen. Den entscheidenden Grund für die „Fremdheit physischer Realität“ macht er „in unserer Gewöhnung an abstraktes Denken unter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik“ aus.50 Für Kracauer sind es vor allem die Wissenschaften, die mit ihrem Ideal der Abstraktheit vom unverstellten und ungetrübten Blick auf die Dinge ablenken. Im Verbund mit Dewey und Whitehead setzt Kracauer dem Abstrakten das Konkrete entgegen. Entgegen der Auffassung Deweys, der der Wissenschaft einen Anteil daran zuerkennt, zur Beobachtung von Dingen motiviert zu haben, über deren Existenz zuvor kaum etwas bekannt war, macht Kracauer auf die ambivalente Rolle der Wissenschaften aufmerksam. Seines Erachtens nämlich trägt die Wissenschaft sowohl zur Verhüllung als auch zur Enthüllung der Dinge bei. Für ihn ist es vor allem das abstrakte Denken, welches uns von den Dingen entfernt. Unter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik werden wir der Qualität der Dinge nicht mehr gewahr: „So ziehen sich die Dinge weiter zurück“.51 Es ist, als führten die Dinge ein Eigenleben – ein Gedanke, den er für den Raum ausdrücklich ablehnt. Die Dinge sind wie scheue Lebewesen, die sich der Aufmerksamkeit in dem Maße entziehen, wie sie gemessen und gewogen werden sollen, ihnen Interpretationsschemata einfach übergestülpt werden, um sie in vorgefertigte Kategorien einzuordnen, statt sie in ihrer Einmaligkeit wahrzunehmen. Besonders deutlich wird diese Kritik an einem Whitehead-Zitat, das Kracauer in seine Argumentation zustimmend einbaut: „Wenn man alles über die Sonne und alles über die Atmosphäre und alles über die Erdumdrehung weiß, ist es immer noch möglich, daß man den Glanz des Sonnenuntergangs nicht sieht. Es gibt keinen Ersatz für die unmittelbare Wahrnehmung des konkreten Sicherfüllens (achievement) eines Dinges in seiner Wirklichkeit. Wir wollen konkrete Fakten, von einem Licht aus beschienen, das heraushebt, was ihre Kostbarkeit ausmacht.“52
Das naturwissenschaftliche Wissen legt gewissermaßen einen Schleier über die Dinge, den es wegzureißen gilt, um ihres wahren Gehalts wieder ansichtig werden zu können. Widersprüchlicherweise aber hilft ausgerechnet eine technische Erfindung bei der Wiederaneignung der alltäglichen Wirklichkeit. „Wäre nicht die Filmkamera erfunden worden“, so Kracauer, so würde es uns „eine enorme Anstrengung kosten, die Schranken zu überschreiten, die uns von unsrer alltäglichen Umgebung trennen“.53 Denn: „Der Film macht sichtbar, was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht nicht einmal sehen konnten“.54 Der Film bringt uns förmlich in das Leben zurück, von dem wir 50 51 52 53 54
Ebd., S. 389. Ebd. Ebd., S. 385. Ebd., S. 389. Ebd.
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uns nach Kracauers Verständnis in seiner vitalen Ursprünglichkeit schon so weit entfernt haben. „Infolge der Überspannung des theoretischen Denkens sind wir dieser Wirklichkeit, die von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt, in einem entsetzenerregenden Maß ferngerückt.“55
Statt von der Realität abzulenken, hat die „‚Kamera-Realität’ – die Art Realität, auf die der Fotograf oder Filmemacher seine Linsen richtet – alle Kennzeichen der Lebenswelt an sich. Sie umfaßt leblose Objekte, Gesichter, Massen, Leute, die sich mischen, leiden und hoffen; ihr großartiges Thema ist Leben in seiner Fülle, Leben, wie wir es gemeinhin erfahren“.56 Die Kamera ist insofern ein „Aufmerksamkeitsapparat“ par exellence.57 Sie vermag uns Dinge wieder nahe zu bringen, von denn wir uns längst entfernt haben: „Tatsächlich zeigt sich die Leinwand besonders mit dem befaßt, was unaufdringlich ist und normalerweise vernachlässigt wird. […] Im Aufspüren von Einzelheiten scheinen Filme eine ihnen eigene Mission zu erfüllen.“58
Gerade weil Filme diese Eigenschaft und Qualität besitzen, rufen Filme, die der Wirklichkeit entfliehen, statt sie vorzuzeigen und zu thematisieren, Kracauers scharfe Kritik auf den Plan. Kracauer sieht es als die Aufgabe der Filme an, sich mit den Problemen der menschlichen Existenz auseinander zu setzen und den Zuschauer damit zu konfrontieren, statt ihn in ferne Welten zu entführen, die von der eigenen Wirklichkeit ablenken: „Auch die üblichen Kulturfilme“, beklagt Kracauer, „hüten sich ängstlich davor, unserer Kultur auf den Leib zu rücken. Lieber schweifen sie zu der fremden: zu afrikanischen Volksstämmen, zu den Sitten und Gebräuchen der Eskimos, zu Schlangen, Käfern und Palmen.“ Sie sind sich darin gleich, „daß sie wie auf Verabredung nahezu alle den dringlichsten menschlichen Angelegenheiten aus dem Weg gehen, daß sie das Exotische in den Alltag hereinziehen, statt die Exotik im Alltäglichen zu suchen“.59 Dem Film wird als Aufgabe verordnet, worin er selbst als Soziologe seine Aufgabe sieht: Die Aufmerksamkeit auf die Exotik im Alltag zu lenken, statt durch Exotik vom Alltag abzulenken. Das Ziel des Entlarvens und Enthüllens erstreckt sich für Kracauer insofern auch auf den Film: „Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfil-
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Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. S. 118. Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. S. 74. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004. S. 14. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt a. M. 1984. S. 12. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. S. 299.
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men geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen.“60
Er hat darüber hinaus die Scheinwelt, die in solchen Filmen aufgebaut wird, „mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren und aufzudecken […], inwiefern jene diese verfälscht.“ Der Filmkritiker, der für Kracauer deshalb zugleich auch immer Gesellschaftskritiker ist, hat die Mission, „die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“61
An dieser Passage erweist sich scheinbar als richtig, dass Kracauer „fest an die heilende Wirkung der Benennung von Mißtänden“ glaubt.62 Allerdings ist dieser ebenso optimistische wie auch ein wenig mechanistische Glaube an die Veränderungsmöglichkeiten durch Enthüllung nicht eben typisch für ihn, sondern eher eine Ausnahme. Denn Kracauer plädiert zwar für die Entlarvungsfunktion des Gesellschaftskritikers, verbietet sich aber Rezepturen auszustellen, die Heilung versprechen: „Sollen Wege gewiesen werden? Wird ein Rezept erwartet? Es gibt kein Rezept. Aufrichtigkeit, Beobachtungsgabe, Humanität – dergleichen läßt sich nicht lehren. Genug, daß die Situation offen dargelegt ist.“63
Das Offenlegen der Situation – darin hat er letztlich seine Aufgabe gesehen. Die Konsequenzen daraus müssen von seinen Lesern selbst gezogen werden. Haben wir bisher vor allem die abstrakten Systeme der Wissenschaften als Ursache für den Wirklichkeitsverlust angeboten bekommen, so nennt Kracauer in seiner Theorie des Films weitere Gründe, die dazu führen, dass wir etwas nicht oder nicht mehr sehen. Filme „tendieren dazu, Dinge zu enthüllen, die man normalerweise nicht sieht; ferner Phänomene, die das Bewußtsein überwältigen; schließlich gewisse Aspekte der Außenwelt, die ‚Sonderformen der Realität’ genannt werden mögen.“64
Doch vor allem das uns allzu Vertraute vermögen wir nicht mehr zu erkennen: „Auch das Vertraute nehmen wir nicht wahr. Nicht als ob wir davor zurückschreckten, wie beim Anblick von Abfällen; aber wir halten es für so selbst60
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Siegfried Kracauer: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 1974. S. 10. − In den Filmanalysen traut Kracauer gerade nicht der Oberfläche. Vielmehr will er die gut verborgenen Gehalte, den Subtext der Filme, herausarbeiten. Seine umfassende Studie Von Caligari zu Hitler gilt schließlich dem Versuch herauszuarbeiten, dass und wie sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten in den Filmen ankündigt. Ebd., S. 11. Sven Papcke: Die Welt der Angestellten. Siegfried Kracauer und die neue Mehrheit (1930). In: Ders.: Gesellschaftsdiagnosen. Klassische Texte der Soziologie im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. und New York 1991. S. 82–115, hier S. 88. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. S. 310. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 77.
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verständlich, daß wir ihm weiter keinen Gedanken gönnen. Altbekannte Gesichter, Straßen, durch die wir täglich gehen, das Haus, in dem wir wohnen – all diese Dinge sind Teile unseres Selbst wie unsere Haut, und weil wir sie wirklich von innen kennen, kennen wir sie nicht in ihrer äußeren Wirklichkeit. Sobald sie einmal unserer Existenz einverleibt sind, hören sie auf, Gegenstände unserer Wahrnehmung, begehrenswerte Ziele zu sein.“65
Die Nähe zu den Dingen, die Vertrautheit mit ihnen, macht uns also förmlich blind ihnen gegenüber. Deshalb begrüßt Kracauer es, dass uns der Film die Dinge in gewisser Weise verfremdet, so dass wir sie wieder wahrnehmen können, denn nur das Andere, Unbekannte und Überraschende vermögen wir wirklich zu sehen. Für Kracauer gilt allemal: „Auf der einen Seite ist die Welt das, was wir sehen und auf der anderen Seite müssen wir dennoch lernen, sie zu sehen“.66 Unser Lehrer ist für Kracauer der Film, das Kino eine Schule des Sehens. 4. Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit Kracauers Rettungsversuch Auf den vorangegangenen Seiten habe ich zu zeigen versucht, dass Kracauer es als seine Aufgabe ansieht, Unsichtbares in Sichtbares zu verwandeln. Ihm geht es darum, Menschen, Dinge und Situationen, Räume, Straßen und Plätze ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, die sonst kaum mehr wahrgenommen werden. Dabei ist Kracauer beständig auf der Suche nach einem Zugang zur Wirklichkeit, dem „große[n] Zauberwort in Kracauers Schriften“.67 Warum dieses Ringen um die Wirklichkeit? Was versteht Kracauer darunter? Und warum geht er davon aus, dass wir uns von ihr entfernt haben? Um diese Frage beantworten zu können, muss man (noch einmal) auf die Ausgangslage der Kracauerschen Arbeiten zurückgehen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Annahme einer Gesellschaft, der die verbindlichen, allgemein akzeptierten Werte und Überzeugungen abhanden gekommen sind. Der ehemals von der Religion gespendete Orientierungsrahmen – diese Diagnose teilt er mit Emile Durkheim und Max Weber – ist dem Menschen abhanden gekommen. Wir bewegen uns in einer Landschaft aus „Ruinen“ und „Trümmern“, die von der alten Welt zurückgeblieben sind.68 Der Wissenschaft, die den Platz der Religion einzunehmen sich anschickt, steht Kracauer äußerst skeptisch gegenüber – weit skeptischer als Durkheim und Weber. Denn sie trägt selbst in einem erheblichen Maße dazu bei, dass dem Menschen 65 66 67
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Ebd., S. 88. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986. S. 18. Anselm Sigrun: ‚Indizienjäger im Alltag’. Siegfried Kracauers kritische Phänomenologie. In: Kultursoziologie – Symptom des Zeitgeistes? Hg. v. Helmuth Berking und Richard Faber. Würzburg 1989. S. 170–194, hier S. 173 . Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 375 bzw. S. 386.
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die Wirklichkeit abhanden kommt. Was Kracauer von zahlreichen anderen Soziologen unterscheidet, ist, dass er aus dem unbestreitbaren Bedeutungsverlust der Religion nicht auf eine unaufhaltsame Säkularisierung der Welt setzt, sondern im Grunde um eine Versöhnung von Religion und Wissenschaft ringt.69 Eingedenk der festen Überzeugung, dass sich das Rad nicht zurückdrehen lässt, indem die Wissenschaft gezügelt und die alten Glaubenssätze wieder etabliert werden, bleibt er gleichwohl wachsam für das sich artikulierende Bedürfnis nach festen Glaubensinhalten, die die moderne Gesellschaft nicht mehr bieten kann. Man kann sich kaum ein soziologischeres Vorgehen vorstellen. Die Gefahr, sich von der Wirklichkeit immer stärker zu entfernen, verstärkt sich für Kracauer in erheblichem Maße dadurch, dass wir es Dank des naturwissenschaftlichen Denkens und den Errungenschaften der Technik mit einer immer stärkeren Durchdringung des Nahraums mit fernen Einflüssen zu tun bekommen – ein Phänomen, das wir heute unter dem Namen „Globalisierung“ zu diskutieren gewöhnt sind, das sich in Kracauers Wahrnehmung aber vor allem als Heraufkunft eines „Zeitalters der Vergleichung“ (Max Scheler) darstellt: „Fortschreitende soziale Beweglichkeit sowohl wie der ununterbrochene Fluß von Informationen, der durch die Massenmedien so stark gefördert wird, erheben die Tatsache ins Allgemeinbewußtsein, daß jedes Ding von mehr als einer Seite aus gesehen werden kann und daß unsere eigene Lebensweise nicht die einzige ist, die Anspruch auf Anerkennung hat. Infolgedessen wird das allgemeine Vertrauen in absolute Werte oder Normen erschüttert; gleichzeitig lädt die Erweiterung des Horizonts zu Vergleichen verschiedener Auffassungen und Perspektiven ein, die nun in Sicht gekommen sind.“70
Die für Kracauer unübersehbare zunehmende Globalisierung der Welt, auf die er auch in anderem Zusammenhang aufmerksam gemacht hat,71 erschwert zusätzlich, worauf es ihm ankommt: „Sich in jedes einzelne System um seiner selbst willen zu versenken“, um es auf diese Weise, „von innen her zu erfassen“.72 „Je weiter der Kreis von Werten und Entitäten, die zu überblicken wir fähig sind, umso größer die Chance, daß sich ihre Besonderheiten verflüchtigen“.73 Kracauer formuliert damit eine äußerst skeptische Position hinsichtlich 69 70 71
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Vgl. ebd., S. 377f. Ebd., S. 381. In seiner posthum erschienenen Schrift Geschichte – vor den letzten Dingen macht er auf „die gewaltige Expansion unserer physischen und geistigen Umwelt“ aufmerksam: „Es wird schwierig, nicht in globaler Sicht zu denken, und die Vision vom Ganzen der Menschheit ist nicht mehr aus der Luft gegriffen. Doch so, wie die Welt zusammenrückt – virtuell sind wir allgegenwärtig −, so weitet sie sich, jeder Kontrolle entzogen, auch aus. Vertrieben aus unserer vertrauten Umgebung sind wir in den offenen Raum geworfen, in dem viele herkömmlichen Ansichten und gewohnte Verfahren nicht mehr gelten.“ (Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. S. 17) Ebd., S 382. Ebd.
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des auch zu seiner Zeit schon zu beobachtenden Globalisierungsprozesses. Die zunehmende Vergleichsmöglichkeit mit anderen Werten, Normen und Glaubensinhalten fördert den Einblick in die Kontingenz jeder gesellschaftlichen Ordnung und stärkt damit den Relativismus, dem er äußerst skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Mit seiner Sorge um den Verlust der Besonderheiten nimmt er die in der gegenwärtigen Globalisierungsdiskussion geläufige These einer zunehmenden Homogenität der Welt vorweg. Kracauer begegnet der Gefahr des Wirklichkeitsverlusts, wie wir gesehen haben, mit einer Visibilisierung des Invisibilisierten. Es geht ihm darum, eine Welt sichtbar zu machen, die davon bedroht ist, zunehmend unsichtbar zu werden. Kracauer steht mit dem sich darin niederschlagenden Vertrauen in die Kulturtechnik des Sehens fest in der abendländischen Tradition der Privilegierung des Blicks. Nichts liegt ihm ferner als die Aussage: „Die Sichtbarkeit ist eine Falle“ (Foucault). Bei ihm verhält es sich vielmehr genau umgekehrt: Was nicht sichtbar wird, kommt nicht zur Welt. Denn schließlich gilt für Kracauer: „Erblicken […] heißt erfahren“.74 Für Kracauer lässt deshalb der Film jeden Einzelnen wieder Erfahrungen machen, indem er ihm eine Welt zeigt, zu der er längst keinen Zugang mehr hat. Mit Hilfe des Films wird eine Welt wieder sichtbar, die wie hinter einem Schleier wissenschaftlichen Wissens verborgen war. Es geht um die Errettung der Besonderheit der Dinge, die durch das naturwissenschaftliche Wissenschaftsideal verloren zu gehen droht. Das Interesse am Konkreten und Besonderen führt Kracauer zu einer dezidierten Kritik der Vorherrschaft quantifizierender Verfahren in der empirischen Sozialforschung: „Die Sozialwissenschaften zum Beispiel, deren Objektbereich, so sollte man meinen, eine qualitative Erfassung des gegebenen Materials rechtfertigt, ja geradezu fordert, tendieren dazu, qualitative Bewertungen über quantitative Verfahrensweisen zu vernachlässigen, die testbare (wenn auch oft völlig irrelevante) Regelmäßigkeiten ergeben: sie suchen den Status der exakten Wissenschaften zu erreichen. Und diese ihrerseits streben nach weiterer Mathematisierung der Spuren von Realität, die sie noch enthalten.“75
Kracauer kann insofern als einer der Pioniere der qualitativen Forschung in den Sozialwissenschaften angesehen werden. Sein spezifischer Zugang zum Sozialen ist dabei keineswegs ohne Nachfolger geblieben. Auf die Verwandtschaft zu Pierre Bourdieu habe ich mehrfach hingewiesen, weitere Verbindungslinien – etwa zu Richard Sennett – wären zu ziehen.76 Sie reichen bis hin zu Gerhard Schulze, wenn dieser – im Kontext einer Debatte darüber, was Soziologie heute noch soll – notiert: 74 75 76
Siegfried Kracauer: Theorie des Films. S. 396. Ebd., S. 380. Vgl. auch Rainer Paris‘ brillante Analyse über das Warten auf Amtsfluren (Rainer Paris: Warten auf Amtsfluren. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2000/01. Seite 705-733.), die den subtilen Blick für die unscheinbaren Dinge und den Einfluss des Räumlichen auf das Soziale mit Kracauers Arbeiten teilt.
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„Mit Fragebögen ist diese Sphäre [Schulze meint die Gesellschaft, M.S.] nicht zu erreichen, sondern nur mit umfassender, langfristiger Beobachtung des Alltagslebens. Zeitunglesen, Fernsehen, Einkaufen, in Kneipen gehen und beliebige Gespräche sind soziologische Forschungsverfahren.“77
Schulze will mit dieser Einladung zur Beobachtung des Alltagslebens so wenig wie Kracauer der methodischen Beliebigkeit das Wort reden. Beiden ist es vielmehr darum zu tun, jenseits der großen Denkgebäude und abstrakten Debatten den Blick auf die konkrete Erfahrungswelt zu lenken, in der Individuen sich bewegen. Eine Aufgabe, die aktueller nicht sein könnte. Von Kracauer lässt sich lernen, wie eine Erfassung der Wirklichkeit zu bewerkstelligen ist, in diesem Sinne gilt es ihn für die soziologische Forschung wiederzuentdecken.
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Gerhard Schulze: Der Film des Soziologen. In: Wozu heute noch Soziologie? Hg. v. Joachim Fritz-Vannahme. Opladen 1996. S. 51–57, hier S. 57.
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Gruppenporträt und Ornament der Masse Zum Verhältnis von Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Soziologie bei Alois Riegl und Siegfried Kracauer Zu den Inkunabeln einer Kunstgeschichte der Moderne gehört Alois Riegls Das holländische Gruppenporträt von 1902. Zwar behandelt Riegl mit dem Gruppenporträt eine Erscheinung der niederländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, also nicht selbst einen Gegenstand der Moderne, aber Riegls Diskussion des Gruppenporträts geschieht aus einem ästhetischen Bewusstsein heraus, das erst durch die Erfahrung der Moderne sein spezifisches Profil gewinnen konnte. Riegl gelingt es, das holländische Gruppenporträt als ein ästhetisches und soziales Phänomen zu konturieren, das, vermittelt über die geschichtsphilosophischen Implikationen seiner Kunstgeschichte, den historischen Ort der Niederlande in der Geschichte der Weltanschauung sichtbar macht. Gerade diese Verbindung von Soziologie, Ästhetik und Geschichtsphilo sophie ist in besonderer Weise auch Siegfried Kracauer eigen. Von Riegls Gruppenporträt aus lassen sich einige bemerkenswerte Brücken zu Kracauers Ornament der Masse schlagen. Nicht nur gibt es im Gruppen- und Massenbegriff thematische Berührungspunkte zwischen Kracauer und Riegl, sondern die methodologischen Operationen ihrer Argumentation in der Spannung zwischen Ästhetik und Soziologie sowie ihre Korrelation über eine Geschichtsphilosophie weisen eine erstaunliche Nähe auf. Erstaunlich ist diese Nähe zunächst deshalb, da es im Werk Kracauers, soweit im Moment absehbar, keine namentliche Erwähnung Riegls gibt. Will man Rezeptionswege oder Rezeptionsmöglichkeiten eruieren, so wären in erster Linie an die RieglRezeptionen von Max Weber und Walter Benjamin zu denken, über deren Vermittlung möglicherweise auch Kracauer Kenntnis von Riegls Werk erlangt haben mag.1 1
Zur Riegl-Rezeption bei Max Weber siehe Klaus Lichtblau: Die ‚Moderne’ um 1900. Zur Physiognomie einer Epoche. In: Ders.: Transformationen der Moderne. Berlin und Wien 2002. S. 53–82, hier S. 78–80 und bei Walter Benjamin Michael Gubser: Time’s visible surface. Alois Riegl and the Discourse on history and temporality in Fin-de-Siècle Vienna. Detroit 2006. Bes. S. 202–214. Zur Auseinandersetzung Kracauers mit Max Weber siehe Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Dresden 1922; zu Kracauer und Benjamin siehe Walter Benjamin: Briefe an Siegfried Kra-
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Der vorliegende Beitrag untersucht nicht mögliche Rezeptionswege, sondern ist in systematischer Absicht darauf fokussiert, Parallelen und Differenzen zwischen Riegl und Kracauer in der sozialen und ästhetischen Konturierung der von ihnen betrachteten Gegenstände thematisch zu machen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Art und Weise, wie Kracauer und Riegl die Phänomene, die ihr Gegenstand sind – Gruppenporträt und Ornament der Masse – mit den geschichtlichen Prozessen, wie sie sie aus ihren jeweiligen geschichtsphilosophischen Optionen formulieren, korrelieren. Dabei gibt der folgende Beitrag in den ersten beiden Abschnitten zunächst eine ausführlichere Darstellung von Riegls Holländischem Gruppenporträt (I. Gruppe und Einzelne im holländischen Gruppenporträt, sowie: II. Riegls ästhetische Teleologie der Kunst). Ihr folgt im dritten Abschnitt der Vergleich mit Kracauers Ornament der Masse. Hier wird Kracauers Text nicht im Einzelnen analysiert, sondern die Beschäftigung mit ihm konzentriert sich vor allem auf Nähen zu Riegl (III. Das Ornament der Masse – von Riegl aus gesehen). In einem kurzen letzten Teil wird schließlich auf grundlegende Differenzen zwischen beiden, was die Korrelation von Phänomenen und Geschichte angeht, eingegangen (IV. Korrelationsdifferenzen).
1. Gruppe und Einzelne im holländischen Gruppenporträt Es ist das historische Verdienst von Alois Riegl (1858–1905) das holländische Gruppenporträt als eine eigene kunsthistorische Gattung beschrieben zu haben.2 Ihm gelingt dieses einerseits, indem er eine quantitative Auffassung des Gruppenporträts, wie sie seinen kunsthistorischen Vorgängern eigen ist,3 in ein qualitatives Verständnis dieser Gattung gewandelt hat. Die Gruppenbildung ist für Riegl kein anordnungstechnisches Verteilungsproblem von Porträtköpfen mehr, sondern konstitutive Leistung des jeweiligen Gruppenporträts. Andererseits gelingt Riegl diese Gattungskonturierung, indem er den bei seinen Vorgängern direkten Zusammenhang von Kunst und Geschichte entkoppelt.4 Ge-
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cauer. Mit vier Briefen von Siegfried Kacauer an Walter Benjamin. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Marbach am Neckar 1987. Alois Riegl: Das holländische Gruppenporträt. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 23 (1902), S. 71–278. Neu hg. v. Karl M. Swoboda. Wien 1931, nach der hier im Folgenden zitiert wird. Alle folgenden Zitate werden direkt im Text mit HGp und Seitenzahl nachgewiesen; alle Hervorhebungen folgen dem Original, Auslassungen und Einfügungen vom Verf. sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. So bei Carel Vosmaer: Die niederländischen Anatomie-Gemälde. In: Zeitschrift für bildende Kunst 8 (1873), S. 13–22; Wilhelm Lübke: Zur Geschichte der holländischen Schützen- und Regentenbilder. In: Repertorium für Kunstwissenschaft 1 (1876), S. 1–27 sowie Hermann Riegel: Zur Geschichte der Schutter- und Regentenstücke. In: Ders.: Beiträge zur niederländischen Kunstgeschichte, Bd. I: Abhandlungen und Forschungen zur niederländischen Kunstgeschichte. Berlin 1882. S. 105–162. Siehe dazu vom Verf.: Rembrandt. Anatomie eines Bildes. München 2004. S. 162–168.
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gen sie akzentuiert er die Entkausalisierung des Verhältnisses von Kunst und Geschichte. „Wer sich nun“, so Riegl in deutlicher Kritik an seinen Vorgängern, „jeweilig mit der nächsten Ursache begnügt, kann die unbestreitbare Wechselwirkung zwischen Korporationswesen und Gruppenporträt als eine kausale fassen: das zweite wäre dann einfach durch das erste bedingt gewesen.“ (HGp, 3) Gegen diese lineare Bestimmtheit setzt Riegl die Parallelität von Gruppenporträt und Korporationswesen: Beide sind „als parallele Folgeerscheinungen eines höheren Dritten anzusehen, das auch auf allen übrigen Gebieten des holländischen Kulturlebens analoge Erscheinungen hervorgebracht hat“ (HGp, 3).5 Riegl bringt gegen die ereignisgeschichtliche Historiographie seiner Vorgänger, die das Gruppenporträt in einer direkten Abhängigkeit zum historischen Geschehen als eine Art zeitdokumentarische Darstellung sieht, zunächst eine geistesgeschichtliche Vorstellung zur Geltung, die aus einer epochalen Einheit die Vielzahl kultureller Erscheinungen als Parallelphänomene dieser Zeit bestimmt. Das Gruppenporträt tritt in ein laterales Verhältnis zum Korporationswesen, d.h. es steht als eine eigene Sphäre neben ihm. In dieser Eigenständigkeit wiederum wird es einer von den gesellschaftlichen Ereignissen und geschichtlichen Verläufen gelösten Betrachtung zugänglich. Mit anderen Worten: Die Entkausalisierung des Zusammenhanges von Kunst und Geschichte zugunsten eines lateralen Verhältnisses zwischen ihnen setzt Riegl frei für eine innere, d.h. an den Formen der künstlerischen Gestaltung und ihrer Veränderung orientierten, Kunstgeschichte des Gruppenporträts.6 Ihm wird es damit auch möglich, die verschiedenen Erscheinungsweisen des Gruppenporträts im 16. und 17. Jahrhundert – die Anatomien, Schützen- und Regentenstücke – als Varianten innerhalb einer Gattung aufzufassen. In diesem Sinne fragt Riegl: „Doch was verstehen wir überhaupt unter dieser Kunstgattung?“ (HGp, 2) Er bestimmt das Gruppenporträt konzise als „die Mehrzahl der in ein Bild vereinigten Porträtfiguren“ (HGp, 2). Damit tritt für Riegl das Gruppenporträt zunächst in einen Gegensatz zum Einzelporträt. Gerade dieser Gegensatz zwischen beiden Porträtarten ist es, der in besondere Weise den Bruch Riegls mit seinen Vorgängern verdeutlichen kann. Diese fassten das Gruppenporträt als 5
6
Die genauere Bestimmung dieses höheren Dritten, das Wolfgang Kemp als die weltanschauliche Haltung einer Epoche deutet, ist für Riegl selbst (zumindest zu Beginn seiner Überlegungen zum holländischen Gruppenporträt) noch offen. So ist es Riegl fraglich, „ob für die Nennung jenes Dritten in widerspruchsfreier Weise bereits die Zeit gekommen ist, weshalb sich“, so die Konsequenz Riegls, „unsere Untersuchungen auf die Betrachtung der Entwicklung innerhalb der Gruppenporträtmalerei allein beschränken sollen“ (HGp, 3). Vgl. dazu auch Wolfgang Kemp: Augengeschichten und skopische Regime. Alois Riegls Schrift „Das Holländische Gruppenporträt“. In: Merkur 45 (1991), S. 1162–1167, hier S. 1164–1165. Vgl. dazu Jeroen Boomgaard: Bronnenstudie en stilistiek. Van de kunst der werkelijkheid tot de werkelijkheid der kunst. In: De Gouden Eeuw in perspectief. Het beeld van de Nederlandse zeventiende-eeuwse schilderkunst in later tijd. Hg. v. Frans Grijzenhout und Henk van Veen. Nijmegen 1992. S. 255–279, hier S. 269–271.
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Fortsetzung des Einzelporträts in einer grösseren Zahl auf, dessen Gestaltungsproblem in der Anordnung (Verteilung) dieser Bildnisse in einem Bild lag. Riegl dagegen spricht pointiert von der Vereinigung mehrerer Porträts in ein Bild. Mit anderen Worten: Riegl erkennt die gestalterische Aufgabe des Gruppenporträts in der bildlich zu leistenden Vereinigung der einzelnen Porträts zu einer Gruppe. Aus dem quantitativen Aspekt der Gruppierung ist hier ein qualitatives Moment des Bildes selbst geworden: Es ist die konstitutive Leistung des Gruppenporträts, eine Mehrzahl von Porträtfiguren bildlich zu einer Gruppe zu vereinigen. Diese Vereinigungsleistung in der bildlichen Gruppenbildung ist es auch, die Riegl das Gruppenporträt von anderen Bildnisarten absetzen lässt. Neben dem Einzelbildnis zieht er ebenso eine Grenze zum Familienporträt, das in seiner Sicht „im Grunde bloß ein erweitertes Einzelporträt“ (HGp, 2) ist. „Mann und Frau“, so Riegls Begründung, „sind gleichsam zwei Seiten eines und desselben Wesens und die Kinder deren wesensgleiche Vervielfältigungen.“ (HGp, 2) Wird die Familie hier für Riegl gleichsam zur Substanz der Individualität, so ist mit ihr zugleich das vereinigungsstiftende Moment, das die Porträtierten zusammenbindet, als dem Bild vorgegeben bestimmt: Die familiäre Einheit in ihrer institutionellen Basis regelt vor ihrer Porträtierung die Beziehung zwischen den Personen. So gehören die Kinder, an deren Status Riegl seine Überlegungen exemplifiziert, mit ihren Eltern „schon körperlich von Natur wegen zusammen und es bedarf keiner besonderen Mittel der Auffassung und Komposition, um sie im Kunstwerk als eine Einheit wiederzugeben“ (HGp, 2). Als institutionell bestimmte, formal und inhaltlich geregelte bildliche Einheit erscheint das Familienporträt für Riegl auf diese Weise gekennzeichnet durch einen subordinierenden Vorgang: Die einzelnen Personen stehen unter einem einheitsstiftenden Prinzip, das in der Sicht Riegls die Abgabe von Rechten als Pflicht fordert.7 Dieser gleichsam überdeterminierten Bildeinheit in Auffassung und Komposition steht mit dem Freundschaftsbild als weiterer Abgrenzung gegen das Gruppenporträt eine in der Vorstellung Riegls vergleichsweise unterdeterminierte Vereinigung im Bild gegenüber. So sind im Freundschaftsbild „zwei, drei oder noch mehr durch bloße Zuneigung einander verbundene Personen gruppenweise“ (HGp, 2) vorgeführt. Sie sind also in eine bildliche Verbindung gestellt, die ebenso wie das Familienporträt einen geregelten Charakter, aber im Hinblick auf die Gruppenbildung für Riegl keine besonderen Einheitsqualitäten besitzt. Als gruppenweise Darstellung ist dem Freundschaftsbild eine Orientierung am selbsterfüllten Einzelnen gegeben, die allein zu einem äußerlichen Zusammenschluss führt.8 7
8
Vgl. dazu Margaret Iversen: Alois Riegl. Art history and theory. Cambridge, Mass. und London 1993. S. 99–100. Vgl. zur Kritik dieser Rieglschen Abgrenzung Klaus Lankheit: Das Freundschaftsbild der Romantik. Heidelberg 1952. S. 119.
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War es zunächst die Vereinigungsleistung in der bildlichen Gruppenbildung, die das Gruppenporträt auszeichnete, so verweisen die Rieglschen Abgrenzungen des Gruppenporträts gegen das Familien- und Freundschaftsbild auch auf einen besonderen Charakter der Gruppe, die in ihm zur Darstellung kommt. Zeigte das Familienporträt eine zu stark determinierte Bestimmung der Gruppe, die die einzelnen Personen einem vereinigungsstiftenden Moment unterstellt, so war es das Freundschaftsbild, das in der starken Stellung der Einzelnen eine zu schwache Bestimmung der Gruppe gab, deren vereinigungsbildende Motivation konturlos blieb. In Riegls Verständnis dagegen steht der Charakter der Gruppe im Gruppenporträt zwischen diesen beiden Polen: Es sind einerseits einzelne, in keiner Bindung stehende Personen, die andererseits ihre Beweggründe der Vereinigung zu einer Gruppe bildlich zeigen. „Die Gruppe“, so seine Bestimmung, „um die es sich bei den Holländern gehandelt hat, war vielmehr aus lauter völlig selbständigen Individuen gebildet, die sich nur zur Erlangung eines bestimmten gemeinsamen, praktischen, aber dabei doch gemeinnützigen Zweckes zu einer Korporation vereinigt und im Übrigen jedes für sich gefaßt sein wollten.“ (HGp, 2) Wie seine Vorgänger auch bestimmt Riegl das Gruppenporträt hier zunächst von dem in ihm porträtierten Einzelnen aus, den er in einem betonten Individualitätsbegriff als ein autonomes Subjekt anspricht. Im Gruppenporträt kommen so eine Mehrzahl selbständiger Individuen zusammen, deren Vereinigungsgrund in der Erlangung eines ihnen allen gemeinsamen Zweckes liegt. Als sachlich-profaner und auf das Gemeinwohl bezogener Zweck zeigt dieser einen sozialen Charakter, dessen Organ die Form einer Korporation angenommen hat. So erscheint das Gruppenporträt in der Bestimmung Riegls hier als Vereinigung mehrerer Personen zu einer sozial tätigen Körperschaft in ein Bild, dessen starke Stellung der Einzelnen es zunächst in die Nähe des Einzelporträts bringt. Das holländische Gruppenporträt, so Riegl, „besteht also im Grunde aus einer Anzahl von Einzelporträten“ (HGp, 2). Neben diesem Porträtaspekt ist es für Riegl aber ebenso die bildliche Gruppenbildung, die das Gruppenporträt kennzeichnet. So soll in ihm auch „der Charakter der Vereinigung, des temporären Zusammenschlusses zu einer Einheit im Bilde zum sinnfälligen Ausdruck gelangen“ (HGp, 2). Im Gegensatz zur Porträtierung der Einzelnen ist es hier die Vereinigungsleistung im Hinblick auf den Gruppenaspekt des Gruppenporträts, die in der Betonung des Zusammenschlusses der selbständigen Individuen den Charakter dieser Vereinigung zu bildlicher Präsenz führt. In seiner inhaltlichen Bestimmung als temporärer Zusammenschluss erlangt er eine eigene Bedeutungshaftigkeit, die die bildliche Gruppenbildung in eine eigenständige Wertigkeit setzt: Als sozialtätige Körperschaft von zeitlich begrenztem Charakter wird die im holländischen Gruppenporträt zur Darstellung gebrachte Gruppe in ihrer besonderen Qualität thematisch. Nach Riegl sind es diese beiden Momente: die Porträtierung der Einzelnen und ihre Vereinigung zu einer Gruppe, die das Gruppenporträt auszeichnet.
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Ihm gelingt es, sowohl eine Anzahl von Einzelporträts als auch den Charakter ihrer bildlich geleisteten Vereinigung zu einem sinnfälligen Ausdruck zu bringen. Insofern ist es „also weder ein erweitertes Einzelporträt noch eine sozusagen mechanische Zusammenstellung von Einzelporträts in ein Tableau: es ist vielmehr die Darstellung einer freiwilligen Korporation aus selbständigen, unabhängigen Individuen. Man könnte es auch als Korporationsporträt bezeichnen.“ (HGp, 2) Riegls konzise Beschreibung des Gruppenporträts als Mehrzahl in ein Bild vereinigter Porträtfiguren erweist sich hier als implikationsreiche Bestimmung. In ihrer Folge ist das Gruppenporträt in der Abgrenzung zum Familienbildnis kein erweitertes Einzelporträt: Die Subordination des Einzelnen unter ein allgemeines Prinzip führt im Familienporträt nach Riegl zu einer Dominanz des Gruppencharakters, der die in diesem Sinne heteronomen Einzelnen aus einem dem Bild vorgegebenen Zusammenhang bestimmt. Dagegen ist es gerade die Basis des Gruppenporträts, dass autonome Individuen in einem freiwilligen Akt in einen erst durch sie gebildeten Zusammenhang gestellt sind. Ihre bildliche Gruppenbildung ist es, die sich ebenso gegen eine mechanische Zusammenstellung von Einzelporträts stellt. Diese Addition der Porträts aus der Dominanz der Einzelnen zu einer Reihe selbständiger Individuen widerspricht der freiwilligen Vereinigung der autonomen Einzelnen in eine Gruppe. Ihr eben in dieser freiwilligen Vereinigung bestehender besonderer Charakter könnte bildlich nicht präsent werden. Dabei ist es aber für Riegl gerade die freiwillige Vereinigung selbständiger Individuen, die als ihre verbindende Qualität den Gruppencharakter zur Anschauung bringt. Im Rieglschen Verständnis zeigt sich das Gruppenporträt so als bildlich geleistete Präsenz porträtierter Einzelner und ihrer Vereinigung in eine Gruppe. Die Verbindung zwischen beiden, der Porträtierung selbständiger Individuen einerseits und ihrem gruppenbildenden Zusammenschluss andererseits, gelingt für Riegl im Gruppenporträt durch einen Akt der freiwilligen Selbstbeschränkung dieser Individuen. Sie ist im Charakter der Korporation selbst beschlossen, insofern es zu ihrem Kerngehalt gehört, dass „einzelne Mitglieder zugunsten eines gemeinsam zu erreichenden, praktisch-irdischen und dabei gemeinnützigen Zweckes ein Stück ihrer Individualität und ihres Selbstbestimmungsrechtes“ (HGp, 40) preisgeben.9 Auf der Basis dieser sozial begründeten ‚Autoheteronomie‘ konstituiert sich historisch und gattungshaft das holländische Gruppenporträt. Dieses konnte nach Riegl erst dort beginnen, „wo jeder eine selbständige Rolle spielt, jedoch zugunsten und Nutzen der Gesamtheit“ (HGp, 41). Das Gruppenporträt bildet sich auf diese Weise aus auf die Gemeinschaft bezogenen, d.h. sozialen Individuen: Ihre Spannung zwischen dem Anspruch auf individuelle Autonomie und der Anforderung von sozialer Heteronomie löst sich als Korporation in einer freiwilligen Selbstbe9
Siehe dazu auch Andrea von Hülsen-Esch: Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter. Göttingen 2006. S. 353–358.
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schränkung zu einem gemeinschaftlichen Zweck. Es ist dieser für die Einzelnen gleiche Akt, der sie als Gruppe konstituiert und zugleich in ihrer Individualität zur Geltung bringen kann: Als Akt freiwilliger Selbstbeschränkung ist es eine Beschränkung aus eigener Bestimmung, der als die Leistung eines souveränen Individuums gerade dieses hervortreten lässt. Er lässt zugleich aber in eben dieser Selbstbeschränkung auch die Gruppenbildung zu, insofern sie als Selbstbeschränkung zu einem sozialen Zweck die einzelnen Individuen zu einer Gemeinschaft zusammenbindet. So entfaltet sich im Rieglschen Verständnis das Gruppenporträt in der Spannung zwischen dem zu porträtierenden Einzelnen als einem autonomen Individuum und der Vereinigung dieser Einzelnen zu einer durch einen sozialen Zweck bestimmten Gruppe.
2. Riegls ästhetische Teleologie der Kunst Auf dieser Basis schreibt Riegl seine Geschichte des holländischen Gruppenporträts, die danach fragt, „durch welche vereinheitlichenden Mittel der inneren, psychischen Auffassung und der äußeren, physischen Komposition“ (HGp, 11) die einzelnen Porträtierten „zu einem höheren Ganzen zusammengefasst, aus einem äußeren Nebeneinander von Einzelporträten zu einem Gruppenporträt erhoben werden“ (HGp, 11). In dieser Perspektive werden für Riegl die Strategien der Gruppenporträtierung thematisch, die den Kern seiner historiographischen Bemühungen um diese Gattung ausmachen. Mit seinen Kriterien von Subordination und Koordination sowie von innerer und äußerer Einheit, mit denen er auf der Ebene der Porträtkonstitution diese Strategien beschreibt, zielt Riegl auf die Bestimmung der Modalitäten der Figurenintegration zur Gruppe und die Bestimmung der bildlichen Gruppenexistenz im Gruppenporträt. So versteht Riegl unter der äußeren Einheit eine Verbindung der Dargestellten „mit dem (in Mehrzahl gedachten) Beschauer außerhalb des Bildes“ (HGp, 153)10, unter der inneren Einheit in entsprechender Bestimmung ein innerbildliches Verhältnis der Figuren zueinander.11 Was er damit beschreibt, sind zwei verschiedene Arten der bildlichen Gruppenbildung, die sich entweder allein bildintern organisiert oder in einem Vorgang der Betrachteransprache und seiner Integration in die Bildszene die einzelnen Porträtierten zu einer Gruppe vereinigt. Beide Modi der Gruppenbildung sind für Riegl keine sich für das einzelne Bild ausschließenden Größen, sondern affinitive bildliche Strategien. Die Brücken zwischen ihnen werden in besonderer Weise durch ein Verfahren der koordinierenden bzw. subordinierenden Porträtfigurenanordnung herge10 11
Siehe dazu auch Riegl: Das holländische Gruppenporträt. S. 180. Siehe dazu Riegl: Das holländische Gruppenporträt. S. 153; zur historischen Genese dieser Begriffe bei Riegl vgl. M. Podro: The critical historians of art (1982). New Haven und London 51991. S. 83–84 sowie Iversen: Alois Riegl. Art history and theory. S. 101–105.
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stellt. Hat die Koordination der einzelnen Porträts, wie sie Riegl im Anschluss an seine Vorgänger formuliert, ihr Ziel darin, dass sie „jeden einzelnen Porträtierten zu seinem gleichen und ungeschmälerten Rechte gelangen läßt“ (HGp, 28), so meint die Subordination hier, dass einer „einen Vorrang vor den übrigen behauptet“ (HGp, 28)12. Dabei schließt sich eine koordinative Auffassung der einzelnen Porträtierten eher einer äußeren Einheit an, insofern die Gleichheit der Porträtierten in ihrer Vereinigung in besonderer Weise durch ihre Betrachterzuwendung zur Geltung kommt. Dagegen verbindet sich eine subordinative Darstellung der Porträtierten eher mit einer inneren Einheit, insofern die innerbildliche Gruppenbildung eine abstufende Anordnung um ein Zentrum begünstigt. In der Geschichte des holländischen Gruppenporträts ist es nun in einer wechselnden Akzenturierung von Subordination und Koordination sowie der Durchdringung von innerer und äußerer Einheit zu verschiedenen Formen der bildlichen Gruppenbildung im Gruppenporträt gekommen. Für Riegl verläuft diese Geschichte als Geschichte eines holländischen Kunstwollens, d.h. eines teleologisch aufgefassten historischen Prozesses, der von seinen Anfängen an nach einer ihm eigenen Entwicklungslogik ein Ziel vor Augen hat.13 Dieses näher zu bestimmen, ist für Riegl die Aufgabe der Kunstgeschichte: Sie besteht, genauer gesprochen, darin, aus den einzelnen Kunstwerken „das Kunstwollen herauszulesen, das sie hervorgebracht und so und nicht anders gestaltet hat“ (HGp, 4). Die Beschäftigung mit dem Gruppenporträt kann dieses leisten, insofern es, „gleichsam wie ein Spiegel alle Grundeigentümlichkeiten der holländischen Malerei“ (HGp, 195) zusammenfasst, also „wie kein anderes geeignet ist, den eigensten Charakter des holländischen Kunstwollens zu offenbaren“ (HGp, 4). So legitimieren sich für Riegl Porträt und Gruppenporträt in der holländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem dadurch, dass mit ihnen „das eigentliche Ziel aller holländischen Kunstauffassung, die selbstlose Aufmerksamkeit, am vollkommensten darzustellen war“ (HGp, 262). Was Riegl hier als causa finalis des holländischen Kunstwollens anspricht, die „selbstlose Aufmerksamkeit“, bestimmt er in Abgrenzung von Willen und Gefühl als eine der nordniederländischen Kunst eigene Disposition zur Welt. Während die Auffassung der Welt, die durch den Willen bestimmt ist, „die Außenwelt nur als Objekt“ (HGp, 14–15) dem Individuum gegenüberstellt, es also zu einem 12
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Zur Herkunft dieser Begriffe bei Riegl vgl. M. Olin: Forms of respect. Alois Riegl’s concept of attentiveness. In: The Art Bulletin 71 (1989), S. 285–299, hier S. 291. Sie dazu auch Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie (1901), Darmstadt 51987. S. 8–9 und 389–405; zu Stand und Perspektiven der Diskussion um Riegls Konzept des Kunstwollens vgl. M. Olin: Forms of representation in Alois Riegl’s theory of art. Pennsylvania 1992. S. 148–153 sowie Iversen: Alois Riegl. Art history and theory. S. 6–16 und 71–73 sowie jüngst auch Matthew Rampley: Zwischen Nomologischer und Hermeneutischer Kunstwissenschaft: Alois Riegl und das Problem des Kunstwollens. In: kritische berichte 31 (2003), Heft 4, S. 5–19.
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Dualismus von Welt und Individuum kommt, wendet die Weltauffassung, die durch das Gefühl geprägt ist, „bloß ein[en] Teil des Objektes ins Subjektive“ (HGp, 15), und folgt darin einer hedonistischen Option in ihrer Stellung zur Welt. Dagegen nimmt die Aufmerksamkeit eine Position zwischen beiden ein: Sie lässt „das Objekt überhaupt nur durch ein Subjekt verständlich erscheinen“ (HGp, 14). Das Individuum, so Riegl weiter, „erschließt sich dabei die Außenwelt, aber nicht, um sie sich zu unterjochen, und auch nicht, um sich entweder in Lust damit zu verbinden oder in Unlust davor zurückzuweichen, sondern in reinem, selbstlosen Interesse an derselben.“ (HGp, 14) Gegen den Machtanspruch des Willens und den Hedonismus des Gefühls ist die Aufmerksamkeit, so Riegls Konsequenz, „passiv, denn sie läßt die Außendinge auf sich wirken und sucht sie nicht zu überwinden; sie ist zugleich aktiv, denn sie sucht die Dinge auf, ohne sie gleichwohl der selbstischen Lust dienstbar machen zu wollen.“ (HGp, 14)14 Diese Haltung prägt zugleich die mimische und gestische Darstellung des Einzelnen im Porträt. Hier zeigt sich die Aufmerksamkeit als ein „ernstes gesammeltes Innenleben, das zugleich der Außenwelt offensteht“ (HGp, 28). Als holländisches Kunstwollen ist sie aber ebenso der Gestaltungsmotor des Gruppenporträts: Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht beschreibt ein Grundmotiv in der Gruppenbildung selbst. Als Spannung zwischen innerer Sammlung und Offenheit für die Außenwelt bestimmt sie für Riegl entscheidend die bildliche Gruppenbildung. Sie zielt darauf, zwischen den Dargestellten „zugleich sowohl einen geschlossenen inneren als auch einen den Beschauer umfassenden äußeren Zusammenhang herzustellen“ (HGp, 151). Die Pointe dieser Durchdringung von innerer und äußerer Einheit ist es, dass sich mit ihr in der Gruppenbildung eine Form von Weltaneignung realisiert. Dieses verdeutlicht sich im Blick auf die universale Teleologie der Kunst, in die das holländische Kunstwollen des 16. und 17. Jahrhundert als eine regionale Teleologie eingeschrieben ist. Die universale Teleologie der Kunst entwirft Riegl dabei als Geschichte der Weltauffassung, die sich von einem antik-objektiven Verständnis zu einer modern-subjektiven Orientierung in seiner Zeit entwickelt hat. In ihr nimmt das holländische Kunstwollen eine vermittelnde Stellung ein, in der sich (antiker) Objektivismus und (moderner) Subjektivismus verschränkend begegnen. So waren die Holländer „die ersten, denen die Erkenntnis aufgegangen ist, sämtliche Objekte ließen sich für das Subjekt auf dem Wege erobern, daß sie als Vorstellungen in das Bewußtsein des Subjektes eingingen“ (HGp, 281). Auf dieser Basis zeigten sie sich in ihrer Malerei bestrebt, „die Dinge derart wiederzugeben, daß dadurch weniger ein bestimmter sinnlicher Reiz (namentlich auf den Tastsinn, aber auch auf den Gesichtssinn) als eine bloße allgemeine Vorstellung von den Dingen im Beschauer wachgerufen werden sollte“ (HGp, 281). In der Porträtierung der 14
Vgl. dazu auch Olin: Forms of representation in Alois Riegl’s theory of art. S. 155–169 sowie Iversen: Alois Riegl. Art history and theory. S. 94–111.
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Einzelnen und ihrer bildlichen Gruppenbildung leistete dieses die Darstellung der Aufmerksamkeit, die für Riegl hier „im Grunde nichts anderes ist als Vorstellung – unter Zurückdrängung der Willens- und Gefühlsäußerungen“ (HGp, 281). Riegl vermittelt hier das holländische Kunstwollen über die Darstellung der Aufmerksamkeit in eine Kunstgeschichte der Weltauffassung, an deren Entwicklung vom antiken Objektivismus zum modernen Subjektivismus die holländische Kunst insofern teilhat, als sie die Weltaneignung des Menschen als einen Bewusstseinsvorgang, für Riegl: als Vorstellung, zur Geltung bringt. In dieser Perspektive formulieren sich ebenso die Modi der Figurenintegration zur Gruppe, innere und äußere Einheit, in einer geschichtlichen Spannung. Im Blick auf die universale Teleologie der Kunst zeigt sich für Riegl der Kerngehalt des holländischen Gruppenporträts darin, die innere Einheit „mit der äusseren Einheit restlos auszugleichen, die zu innerer Einheit abgeschlossene Szene als subjektives Erlebnis des Beschauers erscheinen zu lassen“ (HGp, 163). Dieses gelingt vom einzelnen Bild aus dadurch, dass die „Darstellung des selbstlosen Psychischen (der Aufmerksamkeit) eine Brücke zwischen den Figurenkörpern“ (HGp, 188) schlägt, in deren Wirkung „diese Einzelpsychen im Bewußtsein des betrachtenden Subjektes zu einem Ganzen zusammen verschmolzen“ (HGp, 188) werden. Auf Basis der inneren Einheit kommt es damit in der äußeren Einheit zu einer Involvierung des Betrachters,15 der gerade in der Konstitution der inneren Einheit nach Riegl die bildliche Gruppenbildung vollzieht. Dieser Vorgang ist es, mit dem das holländische Gruppenporträt in der Darstellung der Aufmerksamkeit an der universalen Teleologie der Kunst teilhat. Die in der Durchdringung von innerer und äußerer Einheit gelingende Verschränkung von Subjekt und Objekt leistet dieses.
3. Das Ornament der Masse – von Riegl aus gesehen Zweifellos hat Kracauers Ornament der Masse mit den Tillergirls als einem Phänomen der zeitgenössischen Körper- und Unterhaltungskultur einen gänzlich anderen Gegenstand als Riegl mit dem holländischen Gruppenporträt.16 15
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Vgl. dazu die Bemühungen von Wolfgang Kemp an die Betrachterinvolvierung bei Riegl mit einer Rezeptionsästhetik anzuknüpfen; Wolfgang Kemp: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts. München 1983. Bes. S. 10–40 sowie ders.: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. In: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Hg. v. ders. Berlin 21992. S. 7–27. Kemps Bemühungen schneiden allerdings die Teleologie Riegls ab. Kemp knüpft so an einen ästhetischen Riegl unter Ausblendung der historiographischen Dimension an. Gerade diese motiviert aber erst die Betrachterinvolvierung; zur Stellung Kemps in einer betrachterbezogenen RieglRezeption vgl. Iversen: Alois Riegl. Art history and theory. S. 125–147. Die Tillergirls waren, wie Henrik Reeh: Ornaments of the metropolis. Siegfried Kracauer and modern urban culture. Cambridge, Mass. 2004. S. 94 und 223 sie charakterisiert, „gigantic Anglo-American (or Anglo-American-inspired) dance troupes from the period just after the
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Gleichwohl ergeben sich einige erstaunliche Parallelitäten zwischen den Autoren, und zwar sowohl was ihren Gegenstand angeht als auch die Art und Weise ihres Umganges mit ihm. Um genau diese Parallelitäten, aber auch um die Differenzen soll es im Folgenden gehen. Die Darstellung Kracauers erfolgt dabei allein im Hinblick auf die Parallelitäten und Differenzen zu Riegl.17 Was Gruppenporträt und Massenornament zunächst als Gegenstände verbindet, sind Korrelationsfragen von Einzelnen und Gruppe, die von beiden Autoren thematisiert werden. Im Gegensatz zum Gruppenporträt, das in der Sicht Riegls seine Aufgabe in der gleichzeitigen Porträtierung von Gruppenzweck und Einzelpersonen hat, nivelliert das Massenornament die Individualität der es bildenden Einzelnen. Gerade darin hat es für Kracauer seine operationale Basis. So werden die Massenornamente „aus Elementen zusammengestellt, die nur Bausteine sind und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerks kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.“18 Kracauer gewinnt dieses Urteil aus einem soziologischen wie ästhetischen Blick auf die Tillergirls, indem er einerseits einen Massenbegriff skizziert und andererseits sein Urteil aus einer (ansatzweise) anschaulichen Analyse ihrer Ornamentfiguren formuliert. Damit wiederholt er zugleich Riegls argumentative Grundoperation, der vom Gruppenbegriff und einer anschaulichen Bildarbeit aus das holländische Gruppenporträt diskutiert hatte. Kracauer bestimmt die Masse zunächst als den Träger der Ornamentfiguren, wie sie von den Tillergirls gebildet werden. Darin grenzt er sie negativ, und zwar entlang der Unterscheidung von organisch und mechanisch, wenn man so will, in der Opposition von Vitalität und Berechenbarkeit, von den Begriffen „Volk“ und „Gemeinschaft“ ab. „Träger der Ornamente“, so Kracauer, „ist die Masse.
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First World War. With their almost military discipline they enthralled the mass audiences who thronged their performances in sport stadiums, in huge theatres, and in front of the screen at the weekly film revues shown all over Germany.“ (S. 94) „Named after the choreographer John Tiller, who presented this type of show for the first time in Manchester in 1890, the dancers made their entry into Berlin in October 1924, ousting the culture of the operetta for the following five years. These huge troupes of dancing girls, almost boyish in appearance and clad in costumes that neutralized their sex, were trained to parade in columns in military fashion. They were soon imitated throughout Germany. The Tiller Girls had a decisive influence on the German female ideal of interwar years” (S. 223). Siehe zum Ornament der Masse vor allem Inka Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften, 1913–1933. Stuttgart 1985. S. 60–62 und 86–95 sowie Henrik Reeh: Ornaments of the metropolis. S. 93–105. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. In: Ders.: Schriften. Hg. v. Inka Mülder-Bach, Bd. 5.2: Aufsätze 1927–1931. Frankfurt a. M. 1990. S. 58; alle folgenden Zitate werden direkt im Text mit OdM und Seitenzahl nachgewiesen und beziehen sich auf die genannte Ausgabe. Alle Hervorhebungen folgen dem Original, Auslassungen und Einfügungen vom Verf. sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.
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Nicht das Volk, denn wann immer es Figuren bildet, hängen diese nicht in der Luft, sondern wachsen aus der Gemeinschaft hervor. Ein Strom des organischen Lebens wälzt sich von den schicksalhaft verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet sind, daß sie sich zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen. Auch die aus der Gemeinschaft ausgeschiedenen Menschen, die sich als Einzelpersönlichkeiten mit einer eigenen Seele wissen, versagen bei der Bildung der neuen Muster. Gingen sie in die Veranstaltung ein, so ginge das Ornament nicht über sie hinweg. Es wäre eine farbige Komposition, die nicht bis zu Ende berechnet werden könnte, da ihre Spitzen sich wie Zinken eines Rechens in die seelischen Zwischenschichten einsenkten, von denen ein Rest noch verbliebe.“ (OdM, 58) Leistete das Gruppenporträt im Rieglschen Sinne gerade die Vermittlung von Gruppe und Einzelnen, so liegt die Masse, wie sie Kracauer hier bestimmt, gerade jenseits von Einzelindividualität und Gruppenzusammenhang. Beide sind nicht fähig, in der Masse aufzugehen, da sie eine substantiell getragene Einheit bilden: eine eigene Seele haben bzw. schicksalhaft verbundene Gruppen sind, die sich weder zu einem Massenornament funktionalisieren noch zu einem solchen formieren lassen. Sie haben eine Zweckorientierung, die sie als Individualität bzw. als Schicksal mit einer Sinndimension ausstattet, die der Maßstab des eigenen Handelns ist. Dagegen bestimmt Kracauer das Massenornament gerade als „Selbstzweck“ (OdM, 58). Darin unterscheidet es sich grundlegend von anderen Anordnungsformen, wie Kracauer sie mit dem Ballett, militärischen Formationen und turnerischen Übungen nennt. Sie zeichnen sich gegenüber dem Massenornament durch eine referentielle Zweckhaftigkeit aus. Kracauers Erwähnung „militärischer Evolutionen“ (OdM, 58) legt einen Vergleich zu Riegl nahe. „Wie regelmäßig immer“, so Kracauer dazu, „diese ausfielen, ihre Regelmäßigkeit ward als Mittel zum Zweck erachtet; patriotischen Gefühlen entstammte der Parademarsch, der wiederum in Soldaten und Untertanen Gefühle erweckte. Die Sternbilder [wie sie die Tillergirls bilden, C.V.] meinen nichts ausser sich selbst, und die Masse, über der sie aufgehen, ist nicht wie die Kompanie eine sittliche Einheit.“ (OdM, 58) Zeigt sich hier einerseits eine deutliche Nähe zum substantiellen Gruppenbegriff Riegls, so wird hier andererseits ebenso das kategorial Andere der Masse und ihrer Anordnungsformen deutlich: Die Masse bildet ein Ornament, zu dessen Verschlossenheit, so Kracauer, „die substanzhaltigen Gefüge sich entleeren“ (OdM, 59). Blickt man von Kracauer zu Riegl zurück, dann erscheint bei Riegl die Gruppe im Sinne Kracauers als eine sittliche Einheit. Die Aufgabe ihrer Porträtierung stellt sich als die Aufgabe, ihr substantielles Gefüge zu zeigen. Dieses wiederum kommt für Riegl aus einem Souveränitätsverzicht der Einzelnen zustande, die einen Teil ihrer Autonomie in die Gruppensubstanz einbringen. Diesen Vorgang macht das Gruppenporträt sichtbar. Und Riegl analysiert ihn anschaulich in seinen Spielarten entlang des Phänomens der Aufmerksamkeit
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in den Begriffen von „innerer“ und „äußerer Einheit“ sowie im Verhältnis von „Subordination“ und „Koordination“ innerhalb der Porträtgruppen und ihrer Beziehung zum Betrachter. Nachdrücklich zu betonen ist hier, dass dieses allein anschaulich einlösbare Kriterien sind, die nur in visuellen Vollzügen bildlich greifbar werden. Insofern kann auch davon gesprochen werden, dass Riegl seine Argumentation auf eine implizit ästhetische Basis stellt. D.h. sein Bildumgang impliziert (und vollzieht) die Möglichkeit einer sinnlichen Erkenntnis. Ihre besondere Leistung liegt darin, soziale Prozesse, stark gesprochen, überhaupt erst sichtbar werden zu lassen. Gerade von hier aus schlagen sich erstaunliche Brücken zum Ornament der Masse, deren Pointe mit Blick auf Riegl darin besteht, dass Kracauer in durchaus vergleichbarer Weise eine implizit ästhetische Basis seiner Argumentation kennt. Diese wird an verschiedenen Stellen greifbar wie thematisch. So spricht Kracauer vom „Blick auf die Leinwand“, der belehrt, dass „die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch Tribünen gegliederte Menge zu.“ (OdM, 57) Wie Riegl das holländische Gruppenporträt in eine kommunikative Verbindung mit dem Betrachter treten lässt, aus dem es seine besondere Gestaltung erfährt, weist Kracauer auf die inszenatorische Dimension der Figuren des Massenornaments hin, die ihre besondere Form gerade aus ihrem grundlegenden Zuschauerbezug bezieht: „[N]iemand“, so Kracauer, „erblickte sie, säße nicht die Zuschauermenge vor dem Ornament“ (OdM, 59). Kracauer bringt hier eine Bildhaftigkeit des Massenornaments ins Spiel, die es ihm zugleich erlaubt, es in seinen Grundformen anschaulich zu analysieren. Dabei parallelisiert er die Beschreibung der Ornamentfiguren mit den Charakteristika der Masse. So wird für Kracauer das Ornament „von den Massen, die es zustandebringen nicht mitgedacht. So linienhaft es ist: keine Linie dringt aus den Massenteilchen auf die ganze Figur. Es gleicht darin den Flugbildern der Landschaften und Städte, dass es nicht dem Innern der Gegebenheiten entwächst, sondern über ihnen erscheint. [...] Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden; auch die Elementargebilde der Physik, Wellen und Spiralen, bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organischer Formen und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens. Die Tillergirls lassen sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen [...]. Arme, Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestandstücke der Komposition.“ (OdM, 59) Wie Kracauer die Masse als substanzentleertes Gefüge auffasst, versteht er die Ornamentfiguren, die diese Masse bildet, als entsubstanzialisierte Form. Auch hier grenzt er sie gegen einen organischen Zusammenhang der Gruppe und die individuelle Form des Einzelnen ab. Was der Blick auf die Ornamentfiguren dabei sichtbar macht, ist ein qualitativer Sprung, genauer: eine qualitative Differenz zwischen den Einzelformen und der Gesamtform. Sie lässt sich dadurch beschreiben, dass die Gesamtform eine Formqualität aufweist, die
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nicht mehr auf die Einzelformen zurückführbar ist. Die Gesamtform baut sich aus Einzelformen auf, wiewohl die Einzelformen in der Gesamtform nicht mehr als diese Einzelformen wahrnehmbar sind. In diesem Sinne, um Kracauer hier erläuternd zu paraphrasieren, dringt auch keine Linie aus den Massenteilchen auf die ganze Figur, sondern erscheint diese über ihnen, also gerade in einer Differenz zwischen Teilen und Ganzem. Die Ornamentfiguren der Masse bilden somit ein Ganzes, ohne dass seine Teile sichtbar werden. Dieses Ganze ist kein organisches Gefüge (mehr) aus seinen Teilen, sondern eine rational gesetzte, vorgegebene Gesamtform, die in einem funktionalen Verhältnis zu ihren Teilen steht. Für die Teile der Gesamtfigur heißt dieses, dass sie – im Blick auf die Tillergirls – einer körperlichen Fragmentierung unterworfen sind. In dieser tragen sie funktional, nicht substantiell, zur Gesamtform bei. Wie für Riegl das holländische Gruppenporträt macht im Blick Kracauers das Massenornament, wie es die Tillergirls bilden, soziale Verschiebungen sichtbar, die aus einem soziologisch orientierten Massenbegriff und einer ästhetisch fundierten Anschauungsarbeit zugänglich werden. Argumentieren Riegl und Kracauer damit aus einer vergleichbaren Korrelation von soziologischen und ästhetischen Momenten ihrer Gegenstände, die sich zu einer anschaulichen Einsicht in soziale Vorgänge verbinden, so sind beide Korrelationen weitergehend in eine Geschichtsphilosophie eingeschrieben. Aus dieser Geschichtsphilosophie wiederum – und auch dieses ist Riegl und Kracauer gemeinsam – versuchen sie eine Bestimmung des historischen Ortes ihrer Gegenstände im von ihnen als Prozess bestimmten Verlauf der Geschichte. Während Riegl diesen Prozess – eher epistemologisch orientiert – als Geschichte der Weltaneignung entwirft, die von einem antiken objektiven Pol zu einem modern subjektiven Pol verläuft, beschreibt Kracauer diesen Prozess – eher geistesgeschichtlich orientiert – als Geschichte einer zunehmenden Entmythologisierung, die sich als Kampf der Vernunft gegen die Natur darstellt. In dieser Perspektive wird Riegl das holländische Gruppenporträt als Zentralinstanz des Kunstwollens im 17. Jahrhundert thematisch, in dem es als Kreuzungspunkt zwischen Subjektivismus und Objektivismus steht. Daher spricht Riegl im Hinblick auf das Gruppenporträt, wie es zuvor beschriebenen worden war, auch von einer „Malerei des subjektivierten Objektivismus“ (HGp, 280). Für Kracauer wiederum steht das Massenornament der Tillergirls in einer Strukturanalogie zur kapitalistischen Produktionsweise: „Den Beinen der Tillergirls“, so Kracauer pointiert, „entsprechen die Hände in der Fabrik.“ (OdM, 60) Die kapitalistische Epoche selbst ist dabei, wie es die KracauerForschung expliziert hat, „eine Etappe auf dem Weg zur Entzauberung“ (OdM, 62).
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4. Korrelationsdifferenzen Abschließend soll hier noch kurz auf die deutlichen wie grundlegenden Differenzen zwischen Riegl und Kracauer hingewiesen werden. Bei einer vergleichbaren Korrelation von Soziologie und Ästhetik unter dem Dach und in der Perspektive einer Geschichtsphilosophie sind doch die Korrelationsmodi, mit denen Riegl und Kracauer ihre ‚primären‘ Phänomene in den geschichtlichen Verläufen positionieren, andere. Kracauer beginnt Das Ornament der Masse mit der bekannten methodischen Prämisse, dass der Ort, „den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, [...] aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen [ist] als aus dem Urteilen der Epoche über sich selbst“ (OdM, 57). Gerade die unscheinbaren Oberflächenäußerungen sind es für Kracauer, die „ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden“ (OdM, 57) gewähren. An die Erkenntnis dieses Grundgehalts ist für Kracauer wiederum „umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“ (OdM, 57)19 Kracauer konkretisiert und löst den hermeneutischen Zirkel, in den er hier durch die Korrelation von Teil und Ganzem getreten ist, in einer bzw. durch eine Strukturanalogie, wie sie zuvor für die Korrelation von Ornamentfiguren und kapitalistischer Produktionsweise beschrieben worden war. Wechselseitig erhellen können sich Oberflächenerscheinungen und Grundgehalt darin, dass aus der Bildhaftigkeit des Massenornamentes in den Oberflächenerscheinungen soziale Veränderungen sichtbar werden, die in der Form einer geschichtsphilosophischen These in der Lage sind, den Grundgehalt einer Epoche zu bestimmen, der wiederum auf ihre Deutung zurückwirkt.20 Bei Riegl dagegen ist weniger von einer strukturalen (und darin wechselseitigen) Korrelation von Phänomen und Geschichte zu sprechen als vielmehr (oder eher) von einer figuralen Korrelation. Als eine Form von geschichtlicher Bezugsherstellung aus der typologischen Tradition21 erkennt sie die eigene Sinndimension der Phänomene an – und genau dieses tut Riegl, indem er dezidiert eine von der Ereignisgeschichte unabhängige Kunstgeschichte des holländischen Gruppenporträts entwirft und schreibt. Zugleich aber bezieht die figurale Korrelation die Phänomene auf eine Geschichts19
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Siehe dazu auch Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. S. 86–95. Insofern nennt Inka Mülder nur eine Seite der wechselseitigen Erhellung, wenn sie schreibt: „Das Massenornament übersetzt für Kracauer diesen systemkonstituierenden Zusammenhang von Abstraktheit und Naturwüchsigkeit gleichsam ins Optische.“ (Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. S. 66) Gerade der Gewinn an Bildhaftigkeit ist es, der eine strukturelle Einsicht erst ermöglicht. Insofern handelt es sich nicht allein um einen übersetzenden, sondern ebenso um einen konstituierenden Vorgang. Siehe dazu Erich Auerbach: Figura. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern und München 1967. S. 55–92 sowie Olaf Hansen und Jörg Villwock: Einleitung. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hg. v. Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1988. S. 7–21.
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teleologie zurück, die den Phänomenen geschichtsphilosophisch als Prätext vorausgeht. Wenn man so will, überhöht sie die Eigenständigkeit der Phänomene geschichtsphilosophisch. Riegl wird dadurch eine eigene Geschichte des Gruppenporträts möglich, in der die bildliche Gruppenkonstellation und die durch sie bedingte Bildrezeption Auskunft über den Stand der Weltanschauung geben kann – wobei ‚Weltanschauung‘ bei Riegl wortwörtlich zu verstehen ist, nämlich als die Art und Weise, wie die Welt angeschaut wird: als historisch wechselnde Wahrnehmungsdispositive. Was Riegl fehlt, oder besser: was bei Riegl nicht vorkommt, ist eine Sozialutopie, wie sie Kracauer aus seiner Geschichtsphilosophie heraus entwirft. Sie ermöglicht ihm, Kracauer, eine Kritik der kapitalistischen Epoche, die sich aus der Differenz zwischen dem Vernunftprozess, den die Geschichte darstellt, und der kapitalistischen Rationalität, die für Kracauer nur eine „getrübte Vernunft“ (OdM, 62) ist, ergibt.22 Zugleich aber klingen darin bei Kracauer Gedanken und Motive an – dieses als Ausblick –, die wiederum eine Gemeinsamkeit mit Riegl herstellen. Diese Gemeinsamkeit besteht in der Problemlage, auf die beide antworten: Riegl und Kracauer argumentieren, methodologisch gesehen, gegen die Leitinstanz des Ausdrucks, der das jeweilige Phänomen gegenüber Geist, Geschichte oder Leben in eine sekundäre Stellung setzt.23 Sie fragen nach dem Verhältnis von Einzelphänomen und Gesamtzusammenhang, ohne einerseits die Bedeutung des Einzelphänomens bereits vorgängig aus dem Gesamtzusammenhang bestimmt zu haben. Darin vollziehen Riegl und Kracauer eine Rückwendung auf konkrete Gegenstände, die sich wissenschaftsgeschichtlich wiederum an die zeitgenössische Phänomenologie und die Lebensphilosophie zurückbinden lässt. Beide arbeiten an der Emanzipation der Phänomene gegenüber der Geschichte, ohne andererseits auf die Bildung von geschichtlichen Zusammenhängen verzichten zu wollen. Dabei gehen sie allerdings unterschiedliche Wege: Kracauer schlägt – zumindest im Ornament der Masse – eine durch Karl Marx inspirierte Deutungsrichtung ein,24 der Weg von Riegl führt indessen über die Österreichische Geschichtsforschung.25 Beide verbindet in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung jedoch eine – thesenhaft und in lebensweltlicher Perspektive gesprochen – spezifische Erfahrung von Modernität: die der Steigerung und der Medialisie-
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Siehe dazu auch Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. S. 60–67. Siehe dazu Bernd Fichtner: Art. „Ausdruck.II“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Hg. v. Joachim Ritter. Basel und Stuttgart 1971. Sp. 655–661 sowie Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart, Berlin und Köln 1991. Bes. S. 141–152. Siehe dazu auch Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. S. 56–60 und 65–67. Siehe dazu jüngst Gubser: Time’s visible surface. passim.
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rung des Visuellen. Daran arbeiten sich Riegl und Kracauer ästhetisch wie soziologisch ab.26
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Siehe im Sinne einer Materialsammlung zu Riegl Ulrich Schumacher: Gruppenporträt und Genrebild. Zur Bedeutung der Photographie für die französische Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Giessener Beiträge zur Kunstgeschichte IV (1979), S. 19–62, der Riegls holländisches Gruppenporträt mit dem impressionistischen Gruppenporträt und der zeitgenössischen Porträtphotographie ins Gespräch setzt, und Edwin Lachnit: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte und die Kunst ihrer Zeit. Zum Verhältnis von Methode und Forschungsgegenstand am Beginn der Moderne. Wien, Köln und Weimar 2005. S. 53–74 sowie zu Kracauer Henrik Reeh: Ornaments of the metropolis. passim.
DETLEV SCHÖTTKER
Bild, Kultur und Theorie Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis Wie Walter Benjamin so ist auch Siegfried Kracauer von der Frankfurter Schule so sehr vereinnahmt worden, dass sich Darstellungen zu seiner Denkund Arbeitsweise meist an den sozialphilosophischen Positionen der Kritischen Theorie orientierten. Die Verbindung hatte gute Gründe: Kracauers Freundschaft mit Theodor W. Adorno seit 1921, die trotz mancher Krisen bis zu seinem Tod (1966) andauerte; seine Tätigkeit als Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Zeitung seit 1922, die dazu beitrug, dass hier der Soziologie große Aufmerksamkeit geschenkt wurde; und schließlich seine Beiträge zur Massenkultur, die gesellschaftstheoretische Ansprüche hatten und später in dem Band Das Ornament der Masse (1963) zusammengefasst wurden. Einflüsse der Kunst- und Kulturwissenschaften sind dagegen nicht berücksichtigt worden, obwohl Kracauer Architektur und Kunstgeschichte studierte, 1914 über Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin und Potsdam promovierte und sich seit Anfang der 1920er Jahre intensiv mit den visuellen Erscheinungsformen der Massenkultur in Film, Fotografie, Revue und Stadtbaukunst beschäftigte. Nicht Texte und ihre philosophische Tradition, sondern Bilder und ihre soziale Funktion standen im Mittelpunkt von Kracauers publizistischen Arbeiten. Sie haben in den Filmbüchern des Exils ihre konsequente Fortsetzung erfahren und in seinem letzten Buch History einen bild- und kulturtheoretischen Zusammenhang bekommen. Zwar hat Adorno, der 1958 als Nachfolger von Max Horkheimer Direktor des Instituts für Sozialforschung wurde, in seinem Aufsatz Ein wunderlicher Realist (1964/65) auch Unterschiede zwischen den geschichtsphilosophischen Ideen der Frankfurter Schule und den kultursoziologischen Interessen Kracauers betont, dessen Methode aber ohne theoretische Zuordnung als Detailversessenheit mit dem Anspruch auf Verallgemeinerung charakterisiert. „Dialektisches Denken“, so Adorno, „war seinem Naturell nie gemäß. Er beschied sich bei genauer Fixierung des Besonderen zugunsten seines Gebrauchs als Exempel für allgemeine Sachverhalte“.1 1
Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1997. S. 388–408, hier
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Obwohl diese Auffassung durch die Betonung der theoretischen und methodischen Reflexivität von Kracauers Texten seit den 1980er Jahren korrigiert wurde, blieb das Merkmal der Singularität an seiner Methode haften.2 Allerdings ließ der Briefwechsel mit Erwin Panofsky, den Volker Breidecker 1996 veröffentlicht hat, deutlich werden, dass Kracauers Arbeiten seit 1941, dem Jahr seiner Übersiedelung von Paris nach New York, Überschneidungen mit Überlegungen von Mitarbeitern der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg“ aufweisen.3 Ob diese Annäherung an den Kreis um Aby Warburg durch eine Lektüre einschlägiger Schriften vorbereitet war, ist dagegen ungeklärt geblieben. Kracauer selbst hat Schriften des Warburg-Kreises erst in seinem Buch From Caligari to Hitler (1947) erwähnt und später nichts über eine frühere Lektüre berichtet.4 Dennoch gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten, die auf eine Kenntnis einschlägiger Schriften und Ideen seit den 1920er Jahren hindeuten. Wie dem Warburg-Kreis ging es auch Kracauer um eine kulturwissenschaftliche Interpretation von Bildern, so dass ein Interesse nahe lag. Die Rekonstruktion dieser Annäherung, die ich hier in drei Schritten und einem Ausblick auf Kracauers letztes, 1969 aus dem Nachlass erschienenes Buch History unternehme, ermöglicht eine genauere Bestimmung seiner Methode. Sie lässt sich als sozialpsychologische Ikonologie charakterisieren und unterscheidet sich durch ihren gesellschaftstheoretischen Anspruch von der kulturhistorischen Ikonologie des Warburg-Kreises.
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S. 394. – Vgl. zum Verhältnis beider Autoren Martin Jay: Adorno and Kracauer. Notes on a Troubled Friendship. In: Ders.: Permanent Exils. Essays on the Intellectual Migration from Germany to America. New York 1985. S. 217–236. Vgl. für die verschiedenen Phasen der Rezeption: Text + Kritik 68: Siegfried Kracauer. München 1980; Inka Mülder: Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Stuttgart 1985; Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Akten des internationalen, interdisziplinären Kracauer-Symposions. Hg. v. Michael Kessler und Thomas Y. Levin. Tübingen 1990; Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung. Hamburg 1996; Anja Beiküfer: Blick, Figuration und Gestalt. Elemente einer ‚aisthesis materialis’ im Werk von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim. Bielefeld 2003. Vgl. Siegfried Kracauer, Erwin Panofsky, Briefwechsel 1941–1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer „under the spell of the living Warburg tradition“. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen v. Volker Breidecker. Berlin 1996. In den Kommentaren und in seinem umfangreichen Nachwort hat Breidecker das Netz der Verbindungen präzise dargelegt. Die neue Ausgabe der Werke, die seit 2004 erscheint und die der Schriften (1971–1979) ablösen wird, hat die Textbasis erheblich erweitert, enthält aber keine neuen Beiträge, in denen Kracauer die Herkunft und den Status seiner Methode erläutert. Vgl. Siegfried Kracauer: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. 9 Bde. Frankfurt a. M. 2004ff. Erschienen sind die Bände 1 (Soziologie als Wissenschaft), 3 (Theorie des Films), 4 (Geschichte – Vor den letzten Dingen), 6 (Kleine Schriften zum Film), 7 (Romane und Erzählungen), 8 (Jaques Offenbach und das Paris seiner Zeit), und 9 (Frühe Schriften aus dem Nachlass). Für Auskünfte zu weiteren Bänden danke ich Inka Mülder-Bach.
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1. Warburg und sein Kreis: Herausbildung der Theorie Am 21. Juli 1928 schrieb Benjamin einen Brief an Kracauer, der nicht nur sein Interesse an den Arbeiten der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ dokumentiert, sondern ein solches auch bei seinem Brief- und Gesprächspartner unterstellt. Benjamin bedankt sich darin zunächst für Kracauers Rezension seiner Bücher Ursprung des deutschen Trauerspiels und Einbahnstraße, die am 15. Juli 1928 in der Literaturbeilage der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Zu den Schriften Walter Benjamins erschienen war, und geht dann auf einen Artikel über Arbeiten des Warburg-Kreises auf der ersten Seite der Beilage ein. Es handelt sich um eine Rezension zu zwei Abhandlungen, die 1926/27 in der Reihe der Vorträge der Bibliothek Warburg veröffentlicht wurden: Ferdinand Noacks Aufsatz Triumph und Triumphbogen und Erwin Panofskys Abhandlung Die Perspektive als symbolische Form.5 Benjamin schreibt: „Übrigens war mir auch der Leitartikel in dieser Nummer des Literaturblattes wichtig. Er hat die Vermutung bestätigt, daß die für unsere Anschauungsweise wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen sich mehr und mehr um den Warburgkreis gruppieren. Und darum kann es mir nur umso lieber sein, daß neulich, indirekt, die Mitteilung kam, Saxl sei intensiv in mein Buch interessiert.“6
Benjamin setzt also bei seinem Briefpartner die Kenntnis des Kreises voraus, zu dem auch Fritz Saxl gehörte, der als engster Mitarbeiter Warburgs die „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ nach dessen Tod (1929) geleitet hat. Zugleich spielt Benjamin auf seine vorausgehenden Bemühungen an, mit dem Warburg-Kreis in Kontakt zu treten: durch die Übersendung des TrauerspielBuches an Panofsky und Saxl sowie ergänzende Briefe von Hugo von Hofmannsthal und von Gershom Scholem; doch sind die Bemühungen gescheitert.7 Warburg hatte die Bibliothek seit 1903 in Hamburg aus privaten Mitteln, die ihm durch den Verzicht auf eine Tätigkeit in der väterlichen Bank zur Verfügung gestellt wurden, als kunstwissenschaftliche Institution aufgebaut.8 Schwerpunkt des Forschungsprogramms war das „Nachleben der Antike“ in der Renaissance. Dabei ging es Warburg zugleich um eine kulturwissenschaftliche Erneuerung der Kunstgeschichtsschreibung. Er wollte Aussagen über die 5
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Maria Altheim: Römische Antike. In: FZ Nr. 29 vom 15. 7. 1928 (Literaturblatt). Über Panofskys Abhandlung heißt es hier u.a.: „In ungemein eindringlicher Weise, unter Heranziehung nicht nur des bildlichen Materials, sondern auch der Theoretiker, wird der grundsätzliche Unterschied der antiken und der abendländischen Raumvorstellung dargelegt“. Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. 6 Bde. Frankfurt a. M. 1995–2000. Bd. 3, S. 400. Vgl. Sigrid Weigel: Bildwissenschaft aus dem ‚Geiste wahrer Philologie’. Benjamins Wahlverwandtschaft mit der neuen Kunstwissenschaft und der Warburg-Schule. In: Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Hg. v. Detlev Schöttker. Berlin und Frankfurt a. M. 2004. S. 112–127. Vgl. zur Vorgeschichte Bernd Roeck: Der junge Aby Warburg. München 1997.
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kulturelle Überlieferung machen und stützte sich dabei in erster Linie auf Ausdrucksformen von Figuren in Werken der bildenden Kunst. Das Kunstwerk wurde damit zu einem Dokument der Kultur und die Kunstgeschichtsschreibung zur historischen Kulturwissenschaft.9 Warburg hat diese Konzeption in seinen eigenen Arbeiten vorbereitet, die methodischen Konsequenzen allerdings nur angedeutet.10 So zeigte er in seiner Dissertation Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus’ und ‚Frühling’ (1893), dass die emotionale Darstellung der Figuren auf antike Vorbilder zurückzuführen ist. In der umfangreichen Abhandlung über Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920) versuchte er nachzuweisen, dass die „dämonische Antike“ auch in der deutschen Reformation weiterlebte. Und in seinem 1912 gehaltenen Vortrag Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara konnte er aufgrund schriftlicher Dokumente zeigen, dass die orientalisch und mittelalterlich kostümierten Figuren der Fresken auf antike Vorbilder zurückgehen. In einer Ergänzung zur Publikation dieses Vortrags hat Warburg 1922 erstmals grundsätzliche Überlegungen angedeutet. Er plädiert hier für eine „methodische Grenzerweiterung“ der „Kunstwissenschaft“, die er als „historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks“ verstanden wissen wollte.11 Vergleichbare Studien zum „Nachleben der Antike“ in der Renaissance haben auch Warburgs Mitarbeiter erarbeitet. So konnten Fritz Saxl und Erwin Panofsky in ihrem Buch Dürers ‚Melencolia I’ von 1923 zeigen, dass der Kupferstich astrologische Vorstellungen über den Zusammenhang von Melancholie und Genie verarbeitet, die auf antike Auffassungen zurückgehen und in der Renaissance verbreitet wurden, was die Autoren später in Zusammenarbeit mit Raymond Klibansky in ihrem Buch Saturn and Melancholy (1964) umfassend ausgearbeitet haben.12 Wie das Buch von 1923 so sind auch die anderen Arbeiten der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ in zwei Reihen erschienenen, die Saxl ab 1922 herausgab: den Studien der Bibliothek Warburg (in 25
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Vgl. im Einzelnen Martin Jesinghausen-Lauster: Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Baden-Baden 1985; Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990. Hg. v. Horst Bredekamp u.a. Weinheim 1996. Ich zitiere die Schriften nach der Ausgabe Aby M. Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. v. Dieter Wuttke. Baden-Baden 21980. – Vgl. darüber hinaus: Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Hg. v. Horst Bredekamp u.a. Berlin 1998ff. Erschienen sind die Bände 1.1 und 1.2: Die Erneuerung der heidnischen Antike (1998), 2.1: Der Bilderatlas Mnemosyne (2000) und 7: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (2001). Aby Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912/1922). In: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. S. 173–198, hier S. 191. In deutscher Übersetzung: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M. 1992.
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Bänden) und den Vorträgen der Bibliothek Warburg (in 9 Bänden mit jeweils mehreren Arbeiten).13 In einem Werk mit dem Titel Bilderatlas Mnemosyne, an dem er nach einer mehrjährigen psychischen Erkrankung ab 1924 arbeitete, wollte Warburg die Summe seiner Arbeit ziehen. Das Buch sollte die Geschichte des Bildgedächtnisses von der Antike bis in die Gegenwart dokumentieren, so dass auch Massenmedien wie Briefmarken, Fotografien und Zeitungsartikel berücksichtigt wurden.14 Für die Darstellung psychischer Erregungszustände hat Warburg den Begriff der „Pathosformel“ verwendet und in den Mittelpunkt seiner Idee einer ikonografischen Kulturgeschichtsschreibung gestellt.15 Doch konnte er weder den Bilderatlas abschließen noch die methodischen Implikationen seiner Arbeiten systematisch darstellen. Methodologisches Profil bekamen Warburgs Ideen und das Forschungsprogramm der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ seit Anfang der 1920er Jahre, als Ernst Cassirer, Edgar Wind, Saxl und Panofsky begannen, Beiträge zur Theorie und Methode der Ikonologie zu publizieren. So hat Cassirer in seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) den Rückschluss vom Kunstwerk auf die historische Wirklichkeit, die Warburg in seinen Bildanalysen vornahm, durch die Kategorie der „symbolischen Repräsentation“ vorbereitet.16 Saxl hat die Ideen Warburgs in seinem Beitrag Rinascimento dell’antichità erstmals im Zusammenhang dargelegt (1922 im Repertorium der Kunstwissenschaft erschienen). Hier wird auch der Begriff der „Pathosformeln“ verwendet, den Saxl in seinem Aufsatz Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst genauer erklärt hat (gedruckt 1932 im Bericht über den XII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie).17 In seinem Aufsatz Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, der 1931 in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft veröffentlicht wurde, hat Wind Warburgs Überlegungen von der zeitgenössischen Kunstgeschichtsschreibung abgegrenzt.18 Panofsky legte in seinem Aufsatz Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der 13
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Genaue Nachweise in: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hg. v. Michael Diers. Hamburg 1993. S. 157–177. Eine Nachlass-Ausgabe liegt vor (vgl. Anm. 10). Erstmals beschrieben wurde das Projekt von Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Hamburg 1992 (zuerst London 1970). Vgl. Martin Warnke: Vier Stichworte. In: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg. Hg. v. Werner Hofmann u.a. Frankfurt a. M. 1980. S. 61–68; Ulrich Port: Katharsis des Leidens. Aby Warburgs ‚Pathosformeln’ und ihre konzeptionellen Hintergründe in Rhetorik, Poetik und Tragödientheorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), Sonderheft. S. 5–42. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (1923–1929). Darmstadt 91994. – In der „Hamburger Ausgabe“ der Gesammelten Werke Cassirers ist das Werk als Band 11– 13 erschienen (Hg. v. Birgit Recki. Darmstadt 2001–2002). Jeweils in Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. S. 347–400 und 419–431. Abgedruckt in ebd., S. 401–417.
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bildenden Kunst, der 1932 in der Zeitschrift Logos erschien, einen systematischen Aufriss der Ikonologie als Methode einer kulturhistorisch orientierten Kunstwissenschaft vor, die 1939 in seinem Buch Studies in Iconology unter dem Titel Iconography and Iconology weiterentwickelt wurde.19
2. Vom Logos zur Frankfurter Zeitung: Verbindungen Mit diesen Arbeiten trat der Warburg-Kreis seit Anfang der 1920er Jahre in Konkurrenz zu einer bereits etablierten Richtung der Kulturwissenschaft, die seit der Jahrhundertwende innerhalb der Philosophie entstanden war.20 Ihr publizistisches Fundament hatte sie in der Zeitschrift Logos, die Georg Mehlis 1910 gegründet und von 1912 bis 1933 gemeinsam mit Richard Kroner herausgegeben hat. Der Untertitel kennzeichnet die Konzeption: „Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“.21 Obwohl die Schwerpunkte der hier publizierten Arbeiten neben der Philosophie auf Literatur und Sprache lagen, gehörte auch Heinrich Wölfflin zum Beirat der Zeitschrift (neben Eucken, Gierke, Husserl, Meinecke, Rickert, Simmel, Troeltsch, Vossler, Weber und Windelband). Die beiden Aufsätze, die Wölfflin im Logos publiziert hat, nämlich Über den Begriff des Malerischen (1913) und Italien und das deutsche Formgefühl (1921/22) waren eine Fortsetzung seiner einflussreichen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe (1915), die er im letzten Jahrgang des Logos von 1933 einer „Revision“ unterzogen hat. Wölfflins Auffassung allerdings war formhistorisch und nicht kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Der WarburgKreis bezog seine methodischen Impulse dagegen aus einer Kritik der formalen Methode. So schreibt Wind 1931 mit Bezug auf Wölfflin: „Dem Begriff des reinen künstlerischen Sehens, den Wölfflin in der Auseinandersetzung mit Burckhardt entwickelt hat, stellt Warburg den Begriff der Gesamtkultur entgegen, in der das künstlerische Sehen eine notwendige Funktion erfüllt. Wer aber die Funktionsweise dieses Sehens verstehen will – so lautet die weitere Forderung −, der darf es nicht aus seinem Zusammenhang mit den übrigen Kulturfunktionen völlig herauslösen. Er muß vielmehr die doppelte Frage stellen: Was bedeuten diese übrigen Funktionen – Religion und Dichtung, Mythos und Wissenschaft, Gesellschaft und Staat – für die bildhafte Phantasie? Was bedeutet das Bild für diese Funktionen?“22
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Abgedruckt in: Ikonologie und Ikonographie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Hg. v. Ekkehard Kaemmerling. Köln 61979. S. 185–206 und 207–225 (nach der deutschen Übersetzung). Vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Rüdiger Kramme: ‚Kulturphilosophie’ und ‚Internationalität’ des ‚Logos’ im Spiegel seiner Selbstbeschreibungen. In: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Hg. v. Gandolf Hübinger u.a. 2 Bde., Bd. 2: Idealismus und Positivismus. Stuttgart 1997. S. 124–134. Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft. S. 405.
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Trotz dieser Opposition zu Wölfflin gehörten neben Panofsky auch andere Mitarbeiter des Warburg-Kreises zu den Autoren des Logos. Im selben Jahrgang wie Panofskys Darstellung zur Ikonologie erschien Winds Aufsatz Mathematik und Sinnesempfindung. Cassirer war von 1924 bis 1926 Mitglied des Beirats. Seither wurden im Logos auch Schriften des Warburg-Kreises rezensiert wie Panofskys Buch Idea (1924), sein umfangreicher Aufsatz Die Perspektive als symbolische Form (1927) sowie Cassirers Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927).23 Auch Kracauer hat im Logos zwei Aufsätze veröffentlicht, während er als Architekt in Frankfurt am Main und Osnabrück tätig war.24 Im Jahrgang 1917/18 erschien (zusammen mit dem ersten Teil von Cassirers Aufsatz Hölderlin und der deutsche Idealismus) der Beitrag Über die Freundschaft und 1920/21 die umfangreiche Abhandlung Georg Simmel, die als Teil eines Buches geplant war und das bereits 1922 erschienene Buch Soziologie als Wissenschaft weiterführen sollte. Simmel, den Kracauer seit seiner Studienzeit las und verehrte, war einer der Hauptautoren des Logos und in allen Jahrgängen mit mindestens einem Beitrag vertreten. In seinem Aufsatz Die Wissenschaftskrisis, der 1923 in der Frankfurter Zeitung erschien und 1963 zusammen mit dem Simmel-Aufsatz in Das Ornament der Masse übernommen wurde, hat sich Kracauer auch mit Arbeiten der Logos-Autoren und -Herausgeber Troeltsch und Max Weber auseinandergesetzt. Dass er nicht nur Autor und Leser der Zeitschrift war, sondern auch Leser aus dem Warburg-Kreis fand, zeigt ein Brief Winds aus dem Jahr 1962, in dem dieser an Kracauer schrieb, dass er sich „sehr gut“ an ihn „als Autor der Aufsätze über Freundschaft und über Georg Simmel in Logos“ erinnere.25 Ab wann Kracauer Publikationen des Warburg-Kreises gelesen hat, lässt sich nicht genau feststellen. In seinen Aufzeichnungen aus Hamburg, die im Oktober 1931 in der Frankfurter Zeitung erschienen sind, beschreibt er nur touristische Attraktionen.26 Die „Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg“ erwähnt er nicht, obwohl 1926 über den Neubau und den 60. Geburtstag ihres Gründers in Zeitungen berichtet worden war.27 Das gilt auch für die Frankfurter Zeitung, in der ein kurzer, aber sehr informierter Beitrag erschien. Über Warburg und die ikonologische Methode heißt es hier: „Er erkannte, wie die künstlerischen Intentionen dieser Epoche [der Renaissance, D.S.] erst dann in 23
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Vgl. Hans Weigert zu Panofskys Idea. In: Logos 15 (1926). S. 124–125; Günther Stern zu Panofkys Perspektive-Aufsatz. In: Logos 17 (1928). S. 254–255 und Heinrich Levy zu Cassirers Individuum und Kosmos. Ebd., S. 367–373. Vgl. zur Biographie Ingrid Belke und Irina Renz: Siegfried Kracauer 1889–1966. Marbach 1988. S. 84ff. Kracauer, Panofsky: Briefwechsel (siehe Anm. 4), S. 124. Vgl. Siegfried Kracauer: Straßen, Schiffe, Lokale. Aufzeichnungen aus Hamburg, Spätsommer 1931. In: Ders.: Schriften. Bd 5.2. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 1990. S. 383–390. Vgl. die Bibliographie in Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. S. 539f.
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vollem Umfang richtig gedeutet werden können, wenn man die dahinterstehenden kulturellen und ganz besonders religiösen und mythischen Bedeutsamkeiten aufweist.“ Über das Haus wird gesagt: „Hand in Hand damit wuchs die schon weitberühmte ‚Bibliothek Warburg’, ein wissenschaftliches Institut aus privaten Mitteln, mit dem wohl kein ähnliches staatliches den Vergleich an Reichhaltigkeit und Bedeutsamkeit aufnehmen kann.“28
Ab 1928 hat Kracauer Arbeiten des Warburg-Kreises nachweisbar zur Kenntnis genommen. Am Anfang steht möglicherweise die Lektüre von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, dem Kracauer den größten Teil seines Beitrags Zu den Schriften Walter Benjamins gewidmet hat. In einem Kapitel des Buches, in dem er das Verhältnis von Melancholie und Allegorie behandelt, ist Benjamin auch auf zwei Arbeiten der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ eingegangen: das 1923 erschienene Buch von Saxl und Panofsky über Dürers ‚Melencolia I’ und Warburgs Abhandlung Heidnisch-antike Weissagung. Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Bildgedächtnisses“, der zu den zentralen Kategorien des Hamburger Kreises gehörte. „Warburg“, so schreibt er, „hat aus wahlverwandter Stimmung faszinierend entwickelt, wie in der Renaissance ‚die Himmelserscheinungen menschlich umfaßt wurden, um ihre dämonische Macht wenigstens bildhaft zu begrenzen’. Die Renaissance belebt das Bildgedächtnis.“29 Ein Jahr später hat die Frankfurter Zeitung im Feuilleton Fritz Saxls Nachruf auf Warburg publiziert, der am 26. Oktober 1929 gestorben war. Saxl geht darin nicht nur auf Warburg als Person ein, sondern nutzt die Gelegenheit, um Ideen, Grundbegriffe und Projekte der „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ vorzustellen. Unter anderem heißt es hier: „Wir beobachten daß unter gewissen Voraussetzungen es der Menschheit gelingt, bildhafte Ausdrücke ihres Gefühls zu prägen, die solchen Charakter und solche Stärke haben, daß sie, überpersönlich geworden, im sozialen Gedächtnis aufbewahrt werden. Welcher Art sind diese Prägungen, daß sie solch eine Lebenskraft besitzen und wie vollzieht sich ihr Lebenslauf in der Geschichte? Durch diese Problemstellung wuchs die Bibliothek Warburgs, wurde sie vielteilig und behielt ihre Einheit. Das Gebiet greift weit über das Gebiet von Religion und Kunst hinaus, ist universell, ist das Problem der Sprache ebenso wie des Rechts und der Geschichtsschreibung. […] Ein Bilderatlas von mehreren Bänden 28
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Dr. B-r: Aby Warburg. In: FZ, Nr. 431, 12. Juni 1926 (Abendblatt). S. 2. – Das Kürzel konnte nicht aufgelöst werden. Die Vermutung, dass Benno Reifenberg, Leiter des Feuilletons und Mentor Kracauers, der Verfasser war, lässt sich nicht bestätigen. Verwunderlich wäre es allerdings, wenn Kracauer den Artikel nicht zur Kenntnis genommen hätte, da unmittelbar darüber einer seiner eigenen Beiträge gedruckt wurde: raca [d.i. Kracauer]: Rudolf Schildkraut im Film. In: FZ, Nr. 431, 12. Juni 1926 (Abendblatt). S. 1–2. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974. Bd. 1, S. 203–430, hier S. 395; vgl. außerdem zum Buch von Saxl und Panofsky ebd., S. 327–329.
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soll die Ausdrucksformen, die die Antike für das gesteigerte menschliche Gefühl geschaffen hatte, deren Nachleben, Wiederaufnahme und Umformung, vom Mittelalter bis zu Rembrandt und Rubens, bis in die Spielkarten der Neuzeit und die heutigen Briefmarken, vor Augen stellen, der Text zum Atlas, das allgemeine historische Phänomen wie die einzelnen historischen Tatsachen deuten. […] Indem er die Pathosformeln der Antike als die klassischen Erben jener Formen erkennt, wird Warburg der Historiker der ‚mémoire sociale’, der Historiker des historischen Bewußtseins. Über die Türe seiner Bibliothek hat er das Wort ‚Mnemosyne’ gesetzt.“30
Eine Kostprobe zur Wirksamkeit der hier skizzierten Ideen lieferte Theodor W. Adorno, als er 1937 im dritten Heft der Zeitschrift für Sozialforschung den Band Philosophy and History rezensierte, eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Ernst Cassirer.31 Adorno hob vor allem Panofskys Aufsatz Et in arcadia ego hervor. Der Verfasser, so Adorno, gehöre zum „engeren Kreis der Bibliothek Warburg“ und liefere die „subtilste ikonografische Deutung“ zu Poussins Arkadien-Bildern.32 Kracauer selbst hatte 1937 mit der Redaktion der Zeitschrift einen Aufsatz über Masse und Propaganda verabredet, dessen Abdruck er 1938 wegen der Kürzungen Adornos untersagte.33 An der Besprechung der Cassirer-Festschrift dürfte er aber vor allem deshalb kaum vorbeigegangen sein, weil dasselbe Heft eine Kritik seines Buches Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) enthielt, deren Verfasser ebenfalls Adorno war. In Anspielung auf Kracauers Artikel Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930) heißt es hier: „Distanziert von Offenbachs Material gerät die Darstellung in die Nähe eben jener individualisierten Roman-Biographik, der K. so emphatisch opponiert.“34 Dabei hatte Kracauer in diesem Buch eine umfassende Epochendeutung angestrebt, die durch eine ikonologische Interpretation von Delacroix’ Gemälde die Freiheit führt das Volk eingeleitet wurde, was Adorno mit keinem Wort erwähnt.35 30
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F[ritz] Saxl: A. Warburg. In: FZ, Nr. 837, 9. November 1929. S. 1f. − Am selben Tag erschien von Siegfried Kracauer im „Stadtblatt“ der Zeitung anonym der Beitrag Allerlei Leut über Frankfurt (vgl. Thomas Levin: Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie seiner Schriften. Marbach 1989. S. 224, Nr. 1462). Die Festschrift befindet sich in einer Neuausgabe in Kracauers Bibliothek, die er seit seiner Übersiedelung nach New York zusammengetragen hat. Sie wird heute mit seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt: Philosophy and History. Essays Presented to Ernst Cassirer. Hg. v. Raymond Klinbansky und H.J. Paton. New York 1963. − Den Mitarbeitern des Archivs danke ich für die Möglichkeit der Einsicht. Theodor W. Adorno, [Rezension zu Philosophy and History, London 1936]. In: Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1937), H. 3, S. 657–661, hier S. 659f. – Panofsky hat den Aufsatz in sein 1955 erschienenes Buch Meaning in the Visual Arts übernommen. In deutscher Übersetzung: Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst. Köln 1996. S. 351–377. Dokumentiert in: Ingrid Belke und Irina Renz: Siegfried Kracauer. S. 84–93. Theodor W. Adorno: Rezension zu: Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Amsterdam 1937. In: Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1937), H.3, S. 697–698. – Kracauers Artikel Die Biographie als neubürgerliche Kunstform war 1930 in der FZ erschienen und ist später in den Band Das Ornament der Masse (1963) übernommen worden. Vgl. Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937). Frankfurt a. M. 1976. Hier heißt es über Delacroix’ Gemälde u.a.: „Vielleicht ahnte die Menge, die das Bild
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3. Mikrologie und symbolische Form: Methodenvergleich In seinem Artikel Zu den Schriften Walter Benjamins schreibt Kracauer, dass Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels „sein Verfahren“ als „monadologisch“ bezeichne und erläutert dieses als Gegenposition zur philosophischen Abstraktion. „Der Unterschied zwischen dem üblichen abstrakten Denken und dem Benjamins“, so schreibt er, „wäre also der: laugt jenes die konkrete Fülle der Gegenstände aus, so wühlt sich dieses ins Stoffdickicht ein, um die Dialektik der Wesenheiten zu entfalten. Es lässt sich auf keinerlei Allgemeinheiten ein.“36 Kracauer war die Methode durch seine Beschäftigung mit den Werken Simmels vertraut. In seinem Logos-Aufsatz von 1920 schreibt er: „Wann immer Simmel individuelle Gestalten betrachtet, spaltet er sie vom Makrokosmos ab und löst sie aus ihrer Verwobenheit mit den Erscheinungen heraus; sie gelten ihm als selbständige Einheiten, er verschmäht es, den individuellen Mikrokosmos in die Alltotalität einzubeziehen“.37
Der von Kracauer verwendete Begriff der Mikrologie unterscheidet sich von dem der Monadologie dadurch, dass Benjamins Begriff stärker auf die Herkunft aus Leibniz’ Monadenlehre verweist. Die methodische Konzeption betrifft dies in diesem Falle nicht. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass größere Zusammenhänge an Einzelheiten veranschaulicht werden sollen. Vorausgesetzt wird dabei im Sinne von Leibniz, dass im konkreten Gegenstand der große Zusammenhang enthalten ist und vermittelt werden kann. Details werden dabei als Symbole aufgefasst, die den Zusammenhang repräsentieren. In seinem Logos-Aufsatz hatte Kracauer Simmels Symbolbegriff und die daraus folgenden methodischen Implikationen in diesem Sinne erläutert: „Simmel ist der geborene Mittler zwischen der Erscheinung und den Ideen. Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt, daß sie die Sichtbarwerdung und Auswirkung dieser geistigen Kräfte und Wesenheiten ist. Das geringfügigste Ereignis weist hinab in die Schächte der Seele, jedem Geschehen kann von irgendeinem Standpunkt aus ein bedeutender Sinn abgewonnen werden.“38
Das monadologische Verfahren entspricht damit der ikonologischen Methode, die konkrete Zeichen eines Bildes als Symbole der historischen Realität auffasst. In seinem Aufsatz Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, der 1923 im ersten Band der Vorträge der Bibliothek
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belagerte, daß es ihr nicht nur das Geschehen der drei glorreichen Julitage vergegenwärtigt, sondern auch ein Stück der Zukunft entschleiert“ (S. 15). Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins (1928). In: Ders.: Das Ornament der Masse (1963). Frankfurt a. M. 1977. S. 249–255, hier S. 249f. Siegfried Kracauer: Georg Simmel (1920). In: Ornament. S. 209–248, hier S. 228. Ebd., S. 242.
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Warburg erschien, hat Cassirer diese Konzeption dargestellt und den Begriff der symbolischen Form wie folgt definiert: „Unter einer ‚symbolischen Form’ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und Kunst als eine je besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.“39
In Cassirers Überlegungen fehlt also die psychologische Ausrichtung des Symbolbegriffs, die für Warburg eine zentrale Rolle spielte.40 Dagegen gibt es deutliche Überschneidungen mit dem von Kracauer beschriebenen Symbolbegriff Simmels. Sie sind nicht zufällig. Wie Kracauer (ab 1907), so hatte auch Cassirer (ab 1894) Vorträge und Vorlesungen Simmels gehört und sich später mehrfach auf ihn bezogen.41 Die Physiognomik ist das gemeinsame Band der methodischen Überlegungen. Da es jedoch keine zeitgenössische Debatte gab, sind die Besonderheiten der monadologischen Methode und ihre physiognomischen Voraussetzungen bis heute unklar geblieben.42 In den drei Bänden seiner Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer die „Sprache“ (1923) und das „Mythische Denken“ (1925) behandelt und diese Überlegungen in den Aufsätzen Die Begriffsform im mythischen Denken und Sprache und Mythos ergänzt (1922 und 1925 in den Studien der Bibliothek Warburg erschienen).43 Im dritten Band (1929) allerdings beschränkte er sich auf eine „Phänomenologie der Erkenntnis“, ohne die Besonderheiten der kunst- und kulturwissenschaftlichen Methodik zu erörtern.44 39
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Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923). In: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffes. Darmstadt 81994. S. 169–200, hier S. 175. Vgl. Klaus Herding: Panofsky und das Problem der Psycho-Ikonologie. In: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992. Hg. v. Bruno Reudenbach. Berlin 1994. S. 144–170; Bernd Roeck: Psychohistorie im Zeichen Saturns. Aby Warburgs Denksystem und die moderne Kulturgeschichte. In: Kulturgeschichte heute. Hg. v. Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996. S. 231–254. Vgl. Massimo Ferrari: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Hamburg 2003. S. 307ff. Vgl. John Michael Krois: Cassirer und die Politik der Physiognomik. In: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik. Hg. v. Claudia Schmölders. Berlin 1996. S. 213–226; Wolfgang Kabatek: Physiognomie und Ikonographie. Berührungspunkte zweier Lesbarkeitskonzepte. In: Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Hg. v. Heinz-B. Heller, Mattias Kraus und Thomas Meder. Marburg 2000. S. 117–136; Heiko Christians: Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), H. 1, S. 84–110. Jeweils nachgedruckt in Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Vgl. Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler und Detlev Pätzold. Stuttgart und Weimar 2003; Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004.
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Kracauer kannte vermutlich die ersten beiden Bände von Cassirers Hauptwerk oder die begleitenden Aufsätze, dürfte also mit dessen Symboltheorie vertraut gewesen sein.45 In seinem Artikel Das Ornament der Masse, der im Juni 1927 in der Frankfurter Zeitung erschienen war, setzt er sich mit dem Verhältnis von Mythos und Symbol auseinander, das Cassirer in den genannten Schriften mehrfach beschäftigt hat. Während dieser von der Überwindung des mythischen Denkens in der symbolischen Darstellung und dessen Analyse ausgeht, betont Kracauer die Verbindung von Mythos und Symbol. Eine zentrale Ausdrucksform der Moderne war für ihn das Massenornament, das er am Beispiel einer US-amerikanischen Revuegruppe, den sogenannten „Tillergirls“, beschreibt. Die „unauflöslichen Mädchenkomplexe“ deutet er als symbolischen Ausdruck ökonomischer Rationalisierung in der Unterhaltungskultur, die für die Kunst zugleich ein „Rückschlag in die Mythologie“ sei: „Es ist die jedes ausdrücklichen Sinnes bare rationale Leerform des Kultes, die im Massenornament sich darstellt. Damit erweist es sich als ein Rückschlag in die Mythologie, wie er größer kaum gedacht werden kann – ein Rückschlag, der seinerseits wieder die Abgesperrtheit der kapitalistischen Ratio gegen Vernunft verrät. Daß es eine Ausgeburt des bloß Natürlichen ist, wird durch die Rolle bestätigt, die es im sozialen Leben spielt. Die geistig Gutsituierten, die, ohne es wahr haben zu wollen, der Anhang des herrschenden Wirtschaftssystems sind, haben das Massenornament noch nicht einmal als Zeichen dieses Systems gesichtet. Sie verleugnen die Erscheinung, um sich weiter an Kunstveranstaltungen zu erbauen, die unberührt geblieben sind von der im Stadionmuster gegenwärtigen Realität.“46
Im ersten Abschnitt des Aufsatzes hat Kracauer seine methodischen Vorstellungen knapp formuliert. Sie entsprechen Warburgs Konzeption einer psychohistorisch orientierten Ikonologie: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbedachten Regungen erhellen sich gegenseitig“.47
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Gemeinsam mit Ernst Cassirer war Siegfried Kracauer Autor des Bandes Vom Beruf des Verlegers. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Bruno Cassirer. Gewidmet von Freunden und Mitarbeitern. Privatdruck. Leipzig 1932. Von Ernst Cassirer erschien hier der Beitrag Über Bruno Cassirer (S. 26–29) und von Kracauer Der Verleger großen Stils (S. 68–69). Der Band befindet sich in Kracauers Nachlassbibliothek (s. Anm. 31). Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. In: Ornament. S. 50–63, hier S. 61 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 50.
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Wie Warburg und Panofsky wollte also auch Kracauer symbolische Ausdrucksformen in den Mittelpunkt seiner Analyse stellen und an ihnen epochale Zusammenhänge aufzeigen. Im Unterschiede zu ihnen aber interessierte er sich in erster Linie für die Gegenwart. Die Ikonologie als Methode der historischen Kulturwissenschaft wird damit bei Kracauer zur Methode der Gesellschaftsanalyse.48 Auch in weiteren Artikeln der Frankfurter Zeitung hat Kracauer die Inhaltsanalyse von Bildern mit erkenntnistheoretischen Überlegungen zur mikrologischen Methodik verbunden und damit Ideen zu einer sozialpsychologisch orientierten Ikonologie skizziert. Wenige Monate nach dem Massenornament-Aufsatz nahm er den Faden der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Mythos und Symbol in seinem Aufsatz Die Photographie wieder auf. Er erschien im Oktober 1927 in der Frankfurter Zeitung und wurde ebenfalls in den Band Das Ornament der Masse übernommen. „Die Reihe der bildlichen Darstellungen“, so heißt es hier, „deren letzte geschichtliche Stufe die Photographie ist, beginnt mit dem Symbol“. Doch ist die frühe Fotografie nach Kracauers Auffassung aus dem mythischen Stadium der Naturbindung noch nicht herausgetreten.49 Kracauer leitet auch diese Erörterung mit der Analyse von Bildern ein: Fotografien „der Filmdiva“ und „der Großmutter“. Der Unterschied zwischen beiden bestehe darin, dass die Darstellung der Großmutter ein Zeitkontinuum vergegenwärtige, solange sie im Gedächtnis der Verwandten existiere, während die Abbildung der Filmdiva zum Raumkontinuum werde, was für die Fotografie insgesamt charakteristisch sei: „Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks.“50 Kracauers methodisches Credo lautet deshalb im Sinne der Ikonologie: „Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben. […] Damit die Geschichte sich darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Photographie bietet“.51 Auch in anderen frühen Beiträgen geht Kracauer von Bildern aus, um kulturelle Zusammenhänge aufzuzeigen. In der Artikelserie Film und Gesellschaft von 1927 – unter dem Titel Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino ebenfalls in Das Ornament der Masse – zeigt er anhand von Liebesfilmen und 48
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Vgl. Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Kracauers Metaphorik der ‚Oberfläche’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 359–373; Dirk Niefanger: Gesellschaft als Text. Zum Verhältnis von Soziographie und Literatur bei Siegfried Kracauer. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), Sonderheft: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert. S. 162–180. Siegfried Kracauer: Die Photographie (1927). In: Ornament. S. 21–39, hier S. 35 und 37. Ebd., S. 32. Ebd., S. 26f.
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Melodramen, dass die Filmindustrie die Sehnsüchte des Publikums aufgreift und befriedigt. Dabei schließt er vom Film auf die soziale Wirklichkeit und ihre Ideologie: „Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten.“
In dem Artikel Über Arbeitsnachweise (1930), die er 1964 in den Band Straßen in Berlin und anderswo übernahm, verdeutlicht Kracauer an der Wartehalle eines Arbeitsamtes, wie gering der gesellschaftliche Status der Arbeitslosen ist. Auch hier basiert die Methode auf dem physiognomischen Prinzip: „Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar“.52
4. Von der Filmtheorie zur Geschichtstheorie: Synthesen Seit seiner Übersiedelung nach New York hat sich Kracauer auf Ideen des Warburg-Kreises berufen. Zwar zerfiel der Kreis äußerlich, als die Bibliothek 1934 nach London überführt wurde und einige der Mitglieder in die USA gingen wie Panofsky, Wind und später auch Cassirer, doch blieb die Einheit über die postum wirksame Bindungskraft seines Gründers und einige seiner theoretischen Grundsätze erhalten. Anlass für Kracauers offenes Bekenntnis zum Warburg-Kreis war die briefliche und persönliche Beziehung zu Panofsky, der ihm seit 1941 bei der Beantragung von Stipendien für seine Arbeit in der Film Library des Museum of Modern Art unterstützte, wie der Briefwechsel zeigt, den beide bis zu Kracauers Tod (1966) geführt haben. Wie Kracauer, so hatte auch Panofsky schon vor 1933 großes Interesse am Film. In seinem Aufsatz On Movies, den er 1935 als Vortrag zur Eröffnung der Film Library gehalten hatte, überführte er seine Leidenschaft in theoretische Überlegungen.53 Kracauer erwähnt die Lektüre des Aufsatzes bereits in seinem zweiten Brief an Panofsky vom 1. Oktober 1941 und bezeichnet die „Abhandlung“ 1949 als „a true classic“, die er „immer bei der Hand“ habe.54 52
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Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo (1964). Neuausgabe Berlin 1987. S. 52– 58, hier S. 52. Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film. In: Ders.: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt a. M. 1999 (zuerst 1993). S. 19–57. − Der Aufsatz erschien nach der ersten Veröffentlichung im Bulletin der University of Princeton (1936) in verschiedenen Zeitschriften: 1937 unter dem Titel Style and Medium in the Moving Pictures und 1947 unter dem Titel Style and Medium in the Motion Picture. Vgl. zu den verschiedenen Nachdrucken und Übersetzungen die Bibliographie in Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin 1992. S. 1–15. Kracauer, Panofsky: Briefwechsel. S. 5 und 54.
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Während Panofsky hier Themen und Motive darstellt, die der Film von der bildenden Kunst übernahm, also eine ikonografische Perspektive wählt, hat Kracauer in seinen einschlägigen Artikeln und Film-Büchern die filmische Darstellungsweise mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert, also eine ikonologische Position eingenommen. Er erfüllt damit den Anspruch, den Panofsky im Einleitungskapitel seines Buches Studies in Iconology (1939), einer überarbeiteten Fassung seines Logos-Aufsatzes von 1932, für die ikonologische Analyse gefordert hatte. Über die „eigentliche Bedeutung“ des Bildes, ihren „symbolischen Wert“, heißt es hier: „Er wird erfaßt, indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, unbewußt modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk.“55
Im Dezember 1943 begründete Kracauer seine Wertschätzung des im selben Jahr erschienenen Dürer-Buches von Panofsky mit dem hier praktizierten mikrologischen Verfahren: „Dies Buch bestätigt auf großartige Weise, daß sich die wahre Interpretation von Dokumenten nur aus der Analyse ihrer kleinsten Elemente ergibt. So ist Ihre Deutung der ‚Melancholie’ aufgebaut.“56 Die Ausführungen weisen Überschneidungen mit einer Idee auf, die auch Warburg für sich reklamiert und durch die Formel „Der liebe Gott steckt im Detail“ charakterisiert hat. Warburgs Mitstreiter haben die Formel, die er 1925 in einem Seminar verwendete, so erfolgreich kolportiert, dass sie in spätere Publikationen zur Kulturwissenschaft Eingang gefunden hat.57 Auch Kracauer bezog sich im fünften Kapitel seines Buches History direkt auf das – wie es hier heißt – „berühmte Diktum von Aby Warburg“. Hier behandelt er für die Geschichtsschreibung noch einmal das im Simmel-Aufsatz erörterte Verhältnis von „Mikro- und Makro-Dimensionen“. Er schreibt: „Makro-Geschichte kann nicht Geschichte im idealen Sinn werden, es sei denn, sie ziehe Mikrogeschichte nach sich. […] Aus diesem Grund sind aufmerksame
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Erwin Panofsky: Einleitung. In: Ders.: Studien zur Ikonologie der Renaissance. Köln 21987. S. 30–61, hier S. 33. Die englische Ausgabe des Buches von 1939 befindet sich in Kracauers Nachlass-Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. In Panofskys Buch Meaning in the Visual Arts (Garden City 1955) bekam die − stellenweise veränderte − Fassung der Einleitung den Titel Iconography and Iconology. Kracauer, Panofsky: Briefwechsel. S. 22. Kracauer bezieht sich auf Panofskys Darstellung zu Dürers Melencolia I. Vgl. Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München 1977. S. 208–229. Vgl. die Nachweise von Dieter Wuttke: Nachwort. In: Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. S. 601–638, hier S. 618. Außerdem: Roland Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen 1987. S. 168ff. und 189ff. sowie ‚Der liebe Gott steckt im Detail.’ Mikrostrukturen des Wissens. Hg. v. Wolfgang Schäffner u.a. München 2003.
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Historiker, die nach Geschichte in ihrer Fülle streben, für eine wechselseitige Durchdringung von Makro- und Mikro-Geschichte.“58
In der Einleitung des 1947 erschienenen Buches From Caligari to Hitler, das den Untertitel „A psychological History of the German Film“ trägt, verbindet Kracauer Warburgs Idee der Kunstgeschichte als „historischer Psychologie des menschlichen Ausdrucks“ mit Panofskys Konzeption der Ikonologie zu einer Filmtheorie als sozialpsychologischer Kulturtheorie: „Was Filme reflektieren, sind weniger explizite Überzeugungen als psychologische Dispositionen – jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken. Natürlich geben auch populäre illustrierte Zeitschriften und Rundfunksendungen, Bestseller, Anzeigen, Sprachmoden und andere sedimentäre Produkte im kulturellen Leben eines Volkes wertvolle Informationen über vorherrschende Haltungen und weitverbreitete innere Tendenzen her. Das Medium des Films aber übertrifft diese Quellen an Einschließlichkeit. […] Mittels Aufnahme der sichtbaren Welt – ob nun die gängige Realität oder ein imaginäres Universum – liefern Filme daher Schlüssel zu verborgenen geistigen Prozessen.“59
In seiner Theory of Film (1960) liefert Kracauer schließlich einen umfassenden Beitrag zu einer sozialpsychologischen Ikonologie des Films. Der Untertitel des Buches greift nicht zufällig eine Formulierung aus Panofskys FilmAufsatz auf: The Redemption of Physical Reality. Anders als Rudolf Arnheim, der in seinem Buch Film als Kunst (1932) die künstlerische Dimension der filmischen Bilder darstellte, geht es Kracauer um die symbolische Präsenz der Wirklichkeit im fotografischen Bild bzw. seiner montierten Reihung: „Mein Buch unterscheidet sich von den meisten Schriften dieses Gebiets darin, daß es eine materiale Ästhetik ist, nicht eine formale. Es befasst sich mit Inhalten. Es beruht auf der Annahme, daß der Film im wesentlichen eine Erweiterung der Fotografie ist und daher mit diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her gemeinsam hat. Filme sind sich selber treu, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen.“60
In dieser Weise hatte auch Panofsky die ästhetische Form der filmischen Bilder erläutert: „Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche.“61 Die Überschneidungen mit Kracauers Auffassung sind nicht zu übersehen, konnten aber zeitgenössischen Lesern nicht auffallen, da Panofskys Aufsatz in 58
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Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen. In: Schriften 4. Frankfurt a. M. 1971. S. 116f. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt a. M. 21993. S. 12f. − Eine Kritik dieses Verfahrens ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs liefert Christoph Brecht: Strom der Freiheit und Strudel des Chaos. Ausblicke auf Kracauers Caligari-Buch. In: Christoph Brecht und Ines Steiner: Im Reich des Schattens. Siegfried Kracauers ‚From Caligari to Hitler’. Marbach 2004. S. 5–52. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 21993. S. 11 (Hervorh. im Orig.). Panofsky: Stil und Medium im Film. S. 54.
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Deutschland nicht zugänglich und sein intellektueller Zusammenhang weitgehend unbekannt war.62 Das gilt durchaus auch für Adorno, der sich am Schluss seines Kracauer-Aufsatzes direkt auf den Untertitel von Theory of Film nämlich The Redemption of Physical Reality bezog: „Wahrhaft zu übersetzen“, so schreibt er, „wäre das: Die Rettung der physischen Realität. So wunderlich ist sein Realismus.“63 Kracauer selbst reagierte mit Schweigen auf den Text, wie ein Brief Adornos an Horkheimer vom 30. September 1964 zeigt, in dem er die Übersendung des Aufsatzes wie folgt kommentiert: „Max, die kleine Arbeit […] interessiert Dich vielleicht ein wenig. Jedenfalls bist Du der einzige, der sie verstehen kann. Sie ist recht hintersinnig; bezieht sich in dem, was über K. negativ gesagt ist, indirekt, positiv, auf uns, Dich und mich. Vielleicht macht Dir das Stück ein wenig Freude. Den Kracauer scheint es nur geärgert zu haben, obwohl er sich weiß Gott nicht beklagen kann; er hat bis jetzt mit keinem Wort darauf reagiert.“64
Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. In der Tat hatte Kracauer seit Ende der 1930er Jahre Arbeiten Adornos nicht mehr zitiert und nur einmal eine Ausnahme gemacht, als er während der Arbeit an History die 1966 erschienene Negative Dialektik las. Eine Bemerkung lässt sich als Antwort auf den Vorwurf des „wunderlichen Realismus“ lesen. Denn hier heißt es über Adorno: „Sein Verwerfen jeder ontologischen Stipulation zugunsten einer unbegrenzten Dialektik, die alle konkreten Dinge und Wesenheiten durchdringt, scheint unlösbar von einer gewissen Willkür, einer Abwesenheit von Inhalt und Richtung in diesen Reihen materialer Bewertungen“.65
Mehr als in den vorausgehenden Büchern zeigt aber gerade History, wie weit sich Kracauer vom geschichtsphilosophischen Denken der Kritischen Theorie entfernt hatte. Vergleichbar ist die Darstellung darin nur mit Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, aus denen Kracauer eine Formulierung als „scharfsinnig“ bezeichnete, obwohl er auch Benjamins Schriften seit der Exilzeit nicht mehr zitiert hat.66 Kracauers Ablehnung des Historismus ist dabei weit radikaler als die Benjamins. Wo dieser die Geschichtlichkeit mit dem Erinnern in Verbindung bringen wollte, der Geschichte also noch ein Zeitmoment zugestand, deutet Kracauer die gesamte Geschichte als Bildwelt, die zu einer Neube-
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Der Aufsatz erschien auf Deutsch erstmals 1967 in der Zeitschrift Filmkritik, ohne Aufmerksamkeit zu finden, und 1993 in Buchform (vgl. Anm. 56). Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. S. 108. Theodor W. Adorno: Brief an Max Horkheimer vom 30. September 1964. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Hg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Bd. 18. Briefwechsel 1949– 1973. Frankfurt a. M. 1996. S. 576. − Adornos Beitrag wurde am 7. Februar 1964 im Hessischen Rundfunk gesendet, im September/Oktober in den Neuen Deutschen Heften erstmals gedruckt, bevor er in den dritten Band der Noten zur Literatur (1965) übernommen wurde. Siegfried Kracauer: Geschichte. In: Schriften 4. S. 187. Ebd., S. 142.
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stimmung der Geschichtsschreibung als Ikonologie führen müsse. In diesem Sinne schreibt er im letzten, unvollendet gebliebenen Kapitel seines Buches: „Ich habe in der Theorie des Films ausgeführt, daß die photographischen Medien uns helfen, unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden, daß sie uns tatsächlich zum ersten Mal mit ‚dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist’ (Gabriel Marcel) vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen. Anders gesagt, die photographischen Medien erleichtern uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einzuverleiben und sie derart der Vergessenheit zu entreißen. Etwas ähnliches wäre auch über Geschichte zu sagen“.67
Das vorausgehende Kapitel Allgemeine Geschichte und ästhetischer Ansatz hatte Kracauer wenige Wochen vor seinem Tod (1966) auf der dritten Tagung der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ vorgetragen. In seinem letzten Brief an Panofsky vom Februar 1966 hat er das Projekt einer ikonologischen Geschichtsaneignung, das er in History entwerfen wollte, bekräftigt: „Mein Buch ueber Geschichte, in dem es natuerlich auch nicht ohne Sie abgeht, kommt langsam von der Stelle. In der ersten Septemberhaelfte werde ich, wie schon vor zwei Jahren, an einem colloquy einer Gruppe sehr begabter juengerer deutscher Professoren teilnehmen – diesmal unter Vorlage eines papers, das ungefähr das vorletzte Kapitel meines Buches sein wird: ueber die theoretische Unmöglichkeit des general historical narrative.“68
67 68
Ebd., S. 180. Kracauer, Panofsky: Briefwechsel. S. 79. – Der vorliegende Beitrag erschien zuerst in: Leviathan 34 (2006), H. 1, S. 124–141.
Namenverzeichnis
Abel, Bodo 80 Abott, Berenice 96 Adorno, Theodor W. 7, 9, 14f., 19f., 22, 45, 56f., 68–71, 89, 96, 110, 112, 120–129, 131–133, 153f., 161, 170f., 174, 176, 178, 207f., 215, 223 Albert, Hans 80 Altheim, Maria 209 Andrew, J. Dudley 163 Angehrn, Emil 204 Aristoteles 145 Arnheim, Rudolf 86, 208, 222 Arnold, Heinz Ludwig 7 Assmann, Aleida 87, 92 Assmann, Jan 87, 92 Atget, Eugène 96 Auerbach, Erich 203 Auerochs, Bernd 158 Augustinus 156 Avron, Henri 91 Bachelard, Gaston 91 Balázs, Béla 86 Barnouw, Dagmar 7, 17–20, 22f., 25, 160, 162 Barthes, Roland 156 Baßler, Moritz 33 Beiküfer, Anja 208 Belke, Ingrid 31, 54, 89, 95, 208, 213, 215 Benjamin, Walter 7, 9, 14f., 19–22, 24– 26, 29, 34, 38f., 42f., 46, 56, 58f., 61, 64, 68f., 86, 89–91, 94, 97-99, 112, 115, 117, 124, 126–129, 132f., 135–139, 141–145, 147, 149, 153–160, 163–168, 172, 176, 189f., 207, 209, 214, 216, 223 Benn, Gottfried 34 Berger, Peter L. 170f. Bergius, Hanne 117 Bergson, Henri 91f., 155 Berking, Helmuth 185 Bienert, Michael 57 Bloch, Ernst 7, 9, 14f., 18–23, 38, 41, 46,
68f., 78, 82f., 95f., 107f., 110, 112f., 123f., 127f., 131, 133f., 143, 150, 171 Bloch, Karola 41, 150 Blossfeld, Karl 96 Blumenberg, Hans 9, 42f., 85, 93, 95, 137, 147–150 Böhme, Hartmut 106 Bohn, Volker 203 Bolz, Norbert 34, 154, 158, 164, 166 Boomgaard, Jeroen 191 Borsò, Vittoria 46 Bourdieu, Pierre 169, 172f., 176f., 179f., 187 Braungart, Wolfgang 42 Brecht, Bertolt 69, 74, 90, 124 Brecht, Christoph 222 Bredekamp, Horst 210 Breidecker, Volker 208 Brown, Bill 107 Brüggemann, Heinz 64 Buber, Martin 20f., 35, 45 Burckhardt, Jacob 167, 212 Butzer, Günter 138, 157, 162, 165, 168 Camus, Albert 85 Cassirer, Ernst 7, 136f., 144–149, 211, 213, 215–218, 220 Chaplin, Charlie 85, 98 Christians, Heiko 217 Crary, Jonathan 87, 89f., 92 Dahme, Heinz-Jürgen 133 Delacroix, Eugène 215f. Despoix, Philippe 97 Detering, Heinrich 118 Dewey, John 182 Diers, Michael 211 Dinklage, Karl 91 Döblin, Alfred 29 Draaisma, Douwe 155 Driesch, Hans 116 Dürer, Albrecht 63f., 105, 221 Durkheim, Emile 179, 185 Einstein, Carl 103
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NAMENVERZEICHNIS
Elm, Theo 158 Engels, Friedrich 35 Ernst, Max 59 Eßbach, Wolfgang 89 Eucken, Rudolf 212 Faber, Richard 185 Ferrari, Massimo 217 Fichtner, Bernd 204 Fischer, Joachim 16, 89 Flusser, Vilém 155 Foucault, Michel 173, 187 Frank, Georg 87 Frank, Tanja 103 Freud, Sigmund 57, 59, 65, 154 Frisby, David 45, 112, 133 Frisch, Efraim 98 Frisé, Adolf 91f. Fritz-Vannahme, Joachim 188 Fuhrmann, Manfred 140, 145 Fulda, Daniel 162 Fürnkäs, Josef 164 Gaboriau, Émile 113 Gallas, Helga 140 Gassen, Kurt 132 Gfrereis, Heike 43, 98 Gierke, Otto von 212 Gilman, Sander 96 Ginzburg, Carlo 90 Gödde, Christoph 209 Goebbels, Joseph 23 Goethe, Johann Wolfgang von 41, 105 Gombrich, Ernst H. 211 Goodman-Thau, Eveline 146 Greven, Jochen 89 Grijzenhout, Frans 191 Großheim, Michael 33 Großklaus, Götz 157 Gubler, Friedrich Theodor 43f., 62 Gubser, Michael 189, 204 Günter, Manuela 140, 142f. Haas, Norbert 87, 92 Habel, Reinhardt 105 Habermas, Jürgen 82 Haenlein, Leo 138 Hahnengress, Heinz 107 Halbwachs, Maurice 179 Hansen, Miriam 160, 163 Hansen, Olaf 203 Hardtwig, Wolfgang 217 Hartmann, Dirk 82 Hausmann, Raoul 117 Haverkamp, Anselm 140, 156 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 104, 111–113, 119, 164
Heidegger, Martin 86, 107 Heise, Carl Georg 19 Heller, Heinz-B. 217 Helmstetter, Rudolf 37 Herding, Klaus 217 Hessel, Franz 98, 136 Hiebel, Hans H. 158 Hillebrand, Bruno 34 Hocke, Gustav René 29f., 34f. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 175 Hofmann, Werner 211 Hofmannsthal, Hugo von 209 Hölderlin, Friedrich 163 Horkheimer, Max 112, 207, 223 Hübinger, Gandolf 212 Hülsen-Esch, Andrea 194 Husserl, Edmund 33, 42f., 85f., 91f., 95, 107, 116, 119, 121–123, 130, 212 Iversen, Margaret 192, 195–198 Jacob, Joachim 38 James, William 92 Janich, Peter 82 Jansen, Peter Erwin 42 Jay, Martin 208 Jesinghausen-Lauster, Martin 210 Jung, Carl Gustav 153f. Kabatek, Wolfgang 217 Kaemmerling, Ekkehard 212 Kaes, Anton 96 Kafka, Franz 41, 98, 164 Kaiser, Reinhard 136 Kaiser-El Safti, Margret 91 Kambas, Chryssoula 154 Kandinsky, Wassilij 104 Kant, Immanuel 32, 113, 117, 121f., 125 Kany, Roland 42, 221 Kästner, Erich 22 Kauffmann, Kai 42 Kaulen, Heinrich 165 Keaton, Buster 95 Keller, Gottfried 105 Kemp, Wolfgang 191, 198 Kessler, Michael 7, 89, 103, 112, 138, 166, 208 Kierkegaard, Sören 32, 35, 113 Kimmich, Dorothee 43, 88f., 93, 95, 98, 105, 107 Kittler, Friedrich 158 Klee, Paul 59 Klinbansky, Raymond 210 Knaap, Ewout van der 33 Koch, Gertrud 32, 38, 160f., 163, 208 Köhn, Eckhardt 18, 38, 78 Kohn, Harry A. 91
NAMENVERZEICHNIS
Kolumbus, Christoph 143 Koziol, Klaus 7 Kracauer, Lili 54 Kramme, Rüdiger 45, 212 Kraus, Mattias 217 Kristeva, Julia 140 Krois, John Michael 217 Kroner, Richard 212 Küppers, Bernd-Olaf 146 Kuttenheuler, Wolfgang 38, 69 Lachmann, Renate 156 Lachnit, Edwin 205 Landmann, Michael 132 Langbehn, Julius 118 Lange, Rainer 82 Lange, Sigrid 38, 103, 108 Lankheit, Klaus 192 Lawrence, David Herbert 47 Lederer, Emil 174 Lefèvre, Wolfgang 106 Leibniz, Gottfried Wilhelm 92, 216 Lenin 22 Lepper, Marcel 98 Leskov, Nikolai 165 Lessing, Gotthold Ephraim 38f. Lethen, Helmut 34, 89, 103, 111 Levin, Thomas Y. 7, 89, 103, 112, 138, 166, 208, 215 Lichtblau, Klaus 190, 212 Lichtenberg, Georg Christoph 41 Lindner, Burkhardt 35 Lipps, Theodor 91 Locke, John 106 Lonitz, Henri 209 Löwy, Michael 26 Lübke, Wilhelm 190 Luckmann, Thomas 37 Ludz, Peter 34 Luhmann, Niklas 82 Lukács, Georg 14, 21f., 31, 34f., 49, 51, 82, 129, 132 Luther, Martin 20f., 117 Malebranche, Nicolas 92 Mallarmé, Stéphane 47 Mannheim, Karl 34 Marcel, Gabriel 224 Marquard, Odo 33 Marx, Karl 32, 35, 52, 153 Mautner, Franz H. 41 McLuhan, Marshall 157, 168 Meder, Thomas 217 Mehlis, Georg 212 Meinecke, Friedrich 212 Merleau-Ponty, Maurice 85, 185
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Michel, Karl Markus 104 Michelangelo 104f., 109f. Miller, Henry 47 Miller, Thomas 116 Mitscherlich, Alexander 65, 154 Moldenhauer, Eva 104 Montesquieu, Charles de 90 Moos, Peter von 92 Mülder-Bach, Inka 21, 29–32, 35, 38, 46, 49, 57, 64, 70f., 86, 89, 99, 103, 111, 132, 138f., 143, 166f., 199, 203f., 208, 213, 219 Müller, Georg Elias 91 Müller-Tamm, Jutta 108 Münzer, Thomas 20 Musil, Robert 9, 15f., 86, 91f., 94 Nalewski, Horst 105 Nassehi, Armin 177 Niefanger, Dirk 104, 118, 219 Noack, Ferdinand 209 Nollmann, Gerd 177 Oberer, Hariolf 220 Öhlschläger, Claudia 108 Olin, Margaret 196f. Opalka, Uwe 21 Oppert, Kurt 105, 107 Oschmann, Dirk 31, 35, 42, 118 Ott, Ulrich 54 Paetzold, Heinz 146 Panofsky, Erwin 111, 208–215, 219–224 Papcke, Sven 184 Paris, Rainer 187 Park, Robert Ezra 169 Paton, Herbert J. 215 Pätzold, Detlev 217 Perivolaropoulou, Nia 97 Pilzecker, Alfred 91 Platon 145 Plessner, Helmuth 15–18, 89 Podro, Michael 195 Poe, Edgar Allan 112, 174, 181 Ponge, Francis 85 Port, Ulrich 211 Pott, Hans Georg 91 Pries, Christine 106 Proust, Marcel 94, 96–98, 156, 167 Rammstedt, Otthein 45, 106, 120, 133 Rampley, Matthew 196 Ranke, Leopold von 175 Rapic, Smail 107 Rathmann, Thomas 93 Raulet, Gérard 128, 131 Recki, Birgit 211, 217 Reeh, Henrik 198f., 205 Rehm, Walther 105–107
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NAMENVERZEICHNIS
Reifenberg, Benno 44, 214 Reijen, Willem van 154, 158 Renger-Patzsch, Albert 19, 96 Renz, Irina 54, 95, 213, 215 Reudenbach, Bruno 217 Rickert, Heinrich 212 Riegl, Alois 9, 189–205 Riha, Karl 117 Rilke, Rainer Maria 104–106, 109 Ritter, Joachim 106, 204 Robinet, André 91 Rodowick, David Norman 160 Roeck, Bernd 209, 217 Rosenzweig, Franz 20, 35, 45 Roth, Joseph 72, 95 Rousseau, Jean-Jacques 14 Rudolph, Enno 146 Ruttmann, Walther 76 Sammern-Frankenegg, Fritz Rüdiger 92 Sander, August 96 Sandkühler, Hans Jörg 217 Sartre, Jean-Paul 85 Sauder, Gerhard 118 Saxl, Fritz 209–211, 214f. Schäffner, Wolfgang 221 Scheler, Maria 117 Scheler, Max 33, 86, 104, 112, 116–118, 123, 186 Schklowskij, Viktor 90, 94 Schlaffer, Heinz 38, 69–71 Schlüpmann, Heide 163 Schmid Noerr, Gunzelin 223 Schmidt, Christian 42 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 146 Schmitt, Carl 179 Schmölders, Claudia 96, 217 Schneider, Manfred 156 Schnitzler, Arthur 48 Scholem, Gershom 209 Schopenhauer, Arthur 117 Schöttker, Detlev 43, 88, 209 Schroer, Markus 169f., 177 Schröter, Michael 7f., 49, 150 Schulz, Genia 57 Schulze, Gerhard 187f. Schumacher, Ulrich 204 Schütz, Alfred 19, 37 Schweppenhäuser, Hermann 29, 58, 90, 117, 136, 154, 214 Seel, Martin 85f., 100 Sennett, Richard 187 Sigrun, Anselm 185
Simmel, Georg 18, 33, 45f., 52f., 89, 104, 106, 109f., 112, 117, 119–121, 123–128, 132f., 169, 172, 176, 180, 212f., 216f. Simonis, Annette 35 Simonis, Linda 35 Sommer, Manfred 42 Stahl, August 104 Stalder, Helmut 57 Steiner, Ines 222 Steiner, Rudolf 31 Stendhal 90 Stern, Günther 213 Stierle, Karlheinz 144 Stifter, Adalbert 105 Straka, Barbara 88 Stumpf, Carl 91 Swoboda, Karl M. 190 Szondi, Peter 137 Teschke, Henning 156 Thum, Bernd 118 Tichener, Edward Bradford 91 Tiedemann, Rolf 29, 58, 64, 90, 117, 136, 154, 207, 214 Tiedemann-Bartels, Hella 68 Todorow, Almut 37 Tolstoi, Leo N. 90 Tretjakow, Sergej 34f. Troeltsch, Ernst 119, 212f. Tschopp, Silvia Serena 162 Tudor, Andrew 181 Ueding, Gert 161, 165f. Unseld, Siegfried 78 Veen, Henk van 191 Venturelli, Aldo 91 Verheyen, Egon 220 Verlaine, Paul 48 Villwock, Jörg 203 Virilio, Paul 158 Volk, Andreas 37 Volkenandt, Claus 190 Vosmaer, Carel 190 Vossler, Karl 212 Waldenfels, Bernhard 85, 88, 92, 183 Waldow, Stephanie 137 Walser, Robert 89, 98 Warburg, Aby 9, 208–215, 217–222 Warnke, Martin 211 Watzlawick, Paul 81 Weber, Max 31f., 119, 175, 185, 189, 212f. Weber, Sebastian 108 Wehler, Hans-Ulrich 217 Weigel, Sigrid 43, 61, 159, 209 Weigert, Hans 213
NAMENVERZEICHNIS
Wentz, Martin 179 Wenzl, Aloys 116 Wertheimer, Max 91 White, Hayden 161f. Whitehead, Alfred North 182 Wiegmann, Jutta 157 Winckler, Carl 106 Wind, Edgar 211–213, 220 Windelband, Wilhelm 212 Winter, Rainer 181 Witte, Bernd 164 Witte, Karsten 29, 53, 60, 111, 143, 184 Wittkowski, Wolfgang 92 Wohlfarth, Irving 164 Wölfflin, Heinrich 212f. Worringer, Wilhelm 108f., 112 Wundt, Wilhelm 91 Wuttke, Dieter 210, 221 Zima, Peter V. 135 Zohlen, Gerwin 39, 69, 79
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