Gestalten des Bewußtseins: Genealogisches Denken im Kontext Hegels 9783787319350, 9783787319930

Genealogisches Denken thematisiert Werden, Prozessualität und Geschichtlichkeit und fragt gleichzeitig danach, welche Ge

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German Pages 362 [358] Year 2009

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Gestalten des Bewußtseins: Genealogisches Denken im Kontext Hegels
 9783787319350, 9783787319930

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 52

HEGEL-STUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 52

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

GESTALTEN DES BEWUSSTSEINS Genealogisches Denken im Kontext Hegels

Herausgegeben von BIRGIT SANDKAULEN, VOLKER GERHARDT UND WALTER JAESCHKE

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1935-0

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Vorwort Birgit Sandkaulen ....................................................................................

9

Grußwort des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Professor Dr. Dr. h.c. Günter Stock ....

13

sektion i: erkenntnis Birgit Sandkaulen .....................................................................................

21

Jürgen Stolzenberg Geschichten des Selbstbewußtseins. Fichte – Schelling – Hegel ...........

27

Gunnar Hindrichs Hegels genealogische Reflexion der Kunst ...............................................

50

Michael Hampe Die Historische Ontologie und einige Motive des deutschen Idealismus ..................................................................................

78

sektion ii: leben Andreas Arndt ...........................................................................................

95

Pirmin Stekeler-Weithofer Teleologie als Organisationsprinzip. Zu Hegels Kritik an Kants (Krypto-)Physikalismus .............................................................

102

Volker Gerhardt Die Evolution der Freiheit. Natur, Technik und Geist bei Hegel ..........

135

Hans-Peter Krüger Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie. Ein Rückblick auf Hegels Phänomenologie des Geistes ...................................................................................................

156

6

Inhalt

sektion iii: wissenschaft Hans Friedrich Fulda ...............................................................................

179

Birgit Sandkaulen Wissenschaft und Bildung. Zur konzeptionellen Problematik von Hegels Phänomenologie des Geistes .................................................

186

Olaf Breidbach Die Wissenschaft und die Wissenschaften ..............................................

208

Stefano Poggi Paradigmen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte ....................

231

sektion iv: moral Ludwig Siep ...............................................................................................

243

Robert B. Pippin Der Status der Literatur in Hegels Phänomenologie des Geistes. Über das Leben von Begriffen ...................................................................

248

Henning Ottmann Die Genealogie der Moral und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit ...............

266

sektion v: politik und rechtsgeschichte Volker Gerhardt ........................................................................................

279

Walter Jaeschke Genealogie des Rechts ................................................................................

284

Jean-François Kervégan Recht zwischen Natur und Geschichte ....................................................

302

Gertrude Lübbe-Wolff Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie .................................

328

Personenregister .........................................................................................

351

Siglenverzeichnis

Werke Enz RPh

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 3. Auflage (1830) Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821)

Editionen GW

Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. Bd. 4: Jenaer kritische Schriften Bde. 7–8: Jenaer Systementwürfe II–III Bd. 9: Phänomenologie des Geistes Bde. 11–12: Wissenschaft der Logik (1812–1816) Bd. 13: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) Bd. 15: Schriften und Entwürfe I (1817–1825) Bd. 18: Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831) Bd. 21: Wissenschaft der Logik. Band 1 (1832) Bd. 25: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes

TWA Theorie Werkausgabe. Werke in 20 Bänden. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969 ff. Bd. 1: Frühe Schriften Bd. 2: Jenaer Schriften Bd. 3: Phänomenologie des Geistes Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften Bd. 6: Wissenschaft der Logik II Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts Bde. 8–10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I–III

8

Inhalt

Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Bde. 13–15: Vorlesungen über die Ästhetik I–III Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III

Vorwort

Jubiläen sind Ausdruck und Anlaß der Erinnerung. Wenn sie sich auf die Publikation eines weltberühmten Buches beziehen, geben sie besonderen Grund, es wieder zu lesen und nach seiner Aktualität zu fragen. Dazu sollte das Symposion anregen, das der im März 1807 erstmals erschienenen Phänomenologie des Geistes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gewidmet war und genau 200 Jahre später, vom 21. bis 24. März 2007, im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattgefunden hat. Im vorliegenden Band kommen die Beiträge der Referenten und Moderatoren des Symposions nunmehr zum Druck, die in Berlin unter großer Beteiligung des zahlreich erschienenen Publikums intensiv diskutiert worden sind. »Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels« – schon der Titel weist darauf hin, daß eine immanente und allein im Raum der Philosophie verbleibende Interpretation von Hegels erstem großem Werk bewußt nicht beabsichtigt war. Das Anliegen bestand darin, eine Diskussion über Hegels Phänomenologie zu führen, die seinen Entwurf epochen- und disziplinenübergreifend vergegenwärtigt. Historische Fachdiskurse über viele wichtige Details sollten in diesem Falle zurücktreten hinter einer zentralen Frage, die die Aufmerksamkeit auf dieses Werk bündeln und mit der Gegenwart in Beziehung setzen kann. Das Thema »Genealogisches Denken im Kontext Hegels« kann dies aus drei guten Gründen leisten: Erstens ist die Problemstellung der »Genealogie« schon als solche im wahrsten Sinne bewegend. Genealogisches Denken setzt die Vernunft aus dem Reich ewiger Wahrheiten heraus. Es thematisiert Werden, Prozessualität und Geschichtlichkeit und fragt gleichzeitig danach, welche Geltung Aussagen unter den Bedingungen geschichtlicher Prozesse haben. Damit zielt das Thema in die Mitte der Moderne, die durch Hegels Philosophie wesentlich geprägt worden ist. Nicht von ungefähr zielt das Thema »Genealogie« deshalb zweitens auch ins Zentrum von Hegels Phänomenologie. Hegel hat hier in maßstäbesetzendem Format über den Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Vernunft nachgedacht und dabei alle Bereiche des menschlichen Lebens in so bis dato nicht gekannter Weise in die Betrachtung einbezogen: Erkenntnis, Leben, Wissenschaft, Moral, Politik und Recht, Kunst und Religion. Welche Vielfalt

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Vorwort

von »Gestalten des Bewußtseins« er dabei entworfen und plastisch figuriert hat, muß man bis heute nicht nur in der Komplexität seiner persistenten Problemanalysen, sondern nicht zuletzt auch als eine phänomenale Leistung philosophischer Darstellungskunst bewundern. Drittens schließlich erlaubt das Thema »Genealogie« in hervorragender Weise, Hegels Ansatz in der Auseinandersetzung mit anderen genealogischen Denkmodellen der Moderne aufzuschließen und interdisziplinär zu diskutieren. Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und Rechtsphilosophie haben sich hier über die Philosophie hinaus an dieser Diskussion beteiligt. Dabei trägt auch Kritik zur Erhellung der Sache bei. Von bloßer Erbaulichkeit hat gerade Hegel, wie man weiß, nichts gehalten. Es haben sich viele Institutionen zusammengetan, um das 200. Jubiläum der Phänomenologie des Geistes zu begehen, die Hegel am Beginn seiner großen, am Ende weltweit beachteten Karriere geschrieben hat. Neben der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften als der Herausgeberin der Kritischen Werkausgabe Hegels waren die Internationale Hegel-Gesellschaft, das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum, das Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und die Friedrich-Schiller-Universität in Jena beteiligt. Sinnfällig wurde so nicht zuletzt, daß zwischen Jena und Berlin als zentralen Orten in Hegels Leben eine enge Verbindung besteht. Hegel hat von 1818 bis zu seinem Tod 1831 in Berlin gelebt und gelehrt. Daß er damals nicht in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden ist, gehört zu den dunklen Stellen ihrer Geschichte. Als Präsident ihrer Nachfolgerin und der gastgebenden Institution des Symposions schildert Herr Professor Dr. Günter Stock in seinem den vorliegenden Band eröffnenden Grußwort die damaligen Umstände, die zeigen, daß auch Gelehrtengesellschaften mitunter Fehler unterlaufen. Entstanden aber ist das Manuskript der Phänomenologie in Jena, und fertiggestellt wurde es 1806 im Augenblick der großen Schlacht bei Jena und Auerstedt, als Napoleon die preußischen Truppen vernichtend schlug. Hegels Äußerung, er habe in Gestalt Napoleons die »Weltseele« (und nicht wie oft kolportiert den »Weltgeist«) hoch zu Pferde vorüberreiten sehen, ist bekannt. Das Wort und die historische Begebenheit passen, wie man es sich kaum besser ausdenken könnte, zu einem Entwurf, der sich so substantiell auf die reale Geschichte und ihre Folgen eingelassen hat. Für die großzügige finanzielle und gastliche Förderung des Symposions danken die Veranstalter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen-

11

Vorwort

schaften und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Unser Dank für ihre beträchtliche Unterstützung gilt darüber hinaus der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ferner danken wir Daniel Althof und Sascha Pahl, die bei der Vorbereitung der Tagung und bei der Drucklegung der Manuskripte hilfreiche Dienste geleistet haben. Unser besonderes Gedenken gilt Rüdiger Bubner und Christa Hackenesch, deren philosophische Anliegen eng mit dem Werk Hegels verbunden waren. Beide wollten unserer Einladung nach Berlin gerne folgen. Ihr viel zu früher Tod hat sie von der Mitwirkung zu unserem schmerzlichen Bedauern ausgeschlossen. Zugleich im Namen von Walter Jaeschke und Volker Gerhardt

Jena, im März 2009

Birgit Sandkaulen

Grußwort des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Professor Dr. Dr. h.c. Günter Stock

»Internationales Symposion zum 200. Jubiläum von Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹« am 21. März 2007 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Sehr verehrte Herren Präsidenten Neumann und Schuster, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zu diesem Internationalen Symposion anläßlich des 200. Jubiläums von Hegels »Phänomenologie des Geistes«, das die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften vom 21. bis 24. März 2007 gemeinsam mit der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Internationalen Hegel-Gesellschaft, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum und dem Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltet. Das Symposion steht unter dem Titel »Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels« – es wird dankenswerterweise durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Ein besonderer Dank gilt auch denjenigen, welche die wissenschaftliche Leitung dieser anspruchsvollen und breitangelegten Veranstaltung übernommen haben, nämlich Herrn Professor Volker Gerhardt, zugleich Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Herrn Professor Walter Jaeschke, dem Direktor des Hegel-Archivs, und Frau Professor Birgit Sandkaulen vom Institut für Philosophie der FriedrichSchiller-Universität Jena. Ihnen allen ist es gelungen, ein eindrucksvolles und in höchstem Maße interdisziplinäres Tagungsprogramm zusammenzustellen, das nicht nur die Hegel-Spezialisten, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler höchst unterschiedlicher Disziplinen wie der Anthropologie, der Biochemie, der Philosophie sowie der Rechtswissenschaft zum gemeinsamen Dialog über Hegel und dessen Werk vereint.

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Grußwort

Neulich hatte ich ein hübsches kleines Erlebnis anläßlich einer Einladung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: Herr Dr. Gottfried Honnefelder, der Vorsteher des Börsenvereins, beanspruchte in seiner etwas launigen Einführungsrede wie selbstverständlich Hegel für Berlin, und dies stieß auf den launigen, aber gleichwohl ernst gemeinten Widerstand von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der ganz eindeutig Hegel für uns Süddeutsche reklamierte. Die Frage lautet also: Wem gehört Hegel? oder: wo gehört er hin? oder schließlich: wer darf, wer sollte ihn feiern? – und damit sind wir beim heutigen Tage. Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart als ältester Sohn des herzoglichen Rentkammer-Sekretärs Georg Ludwig Hegel geboren. Er wurde im Geiste der humanistischen Aufklärung erzogen und trat 1788 ins Tübinger Stift ein, wo er das Studium der Philosophie und Theologie 1790 bzw. 1793 abschloß. Eine enge Freundschaft verband Hegel mit Schelling und Hölderlin. Nach Stellen als Hauslehrer in Bern (1793–96) und Frankfurt am Main (1797–1800) lehrte Hegel ab 1801 zunächst als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor in Jena. Im Herbst 1808 wurde er Rektor des Ägidiengymnasiums in Nürnberg; ab 1816 lehrte er schließlich an der Universität in Heidelberg. Schon ein Jahr später, nämlich 1818, wurde Hegel der Nachfolger Johann Gottlieb Fichtes an der Berliner Universität, der er 1829/ 30 auch als Rektor vorstand. Mehrere große Reisen führten ihn auch in die damaligen europäischen Kunstzentren. Georg Wilhelm Friedrich Hegel starb am 14. November 1831 in Berlin.1 Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist klar: Hegel gehört den Schwaben in Berlin – und feiern dürfen alle ! Mit dieser etwas scherzhaften Anmerkung kann und will ich jedoch nicht über den auch heute noch irritierenden Umstand hinwegsehen, daß Hegel, der 13 Jahre – nämlich von 1818 bis zu seinem Tod im Jahre 1831 – in Berlin lehrte und wirkte, letztendlich nicht als Mitglied in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. Jubiläen sind – wie allenthalben bekannt ist – sowohl Anlaß als auch zugleich Ausdruck der Erinnerung. Wenn sich derartige Veranstaltungen auf die Veröffentlichung eines geradezu weltbekannten und höchst einflußreichen Werkes wie der »Phänomenologie des Geistes« beziehen, dann ergibt sich ein besonderer Grund, sowohl dessen innewohnende Aktualität kritisch

1

Cf. Brockhaus Enzyklopädie, »Hegel, Georg Wilhelm Friedrich«, vol. 9. Mannheim 1989, 592.

Grußwort

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zu hinterfragen als sich auch mit der Person seines Autors in neuem Lichte auseinanderzusetzen. Mit diesem Symposion zum 200. Jubiläum der »Phänomenologie des Geistes« möchte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die ihrerseits in der Tradition der Preußischen Akademie der Wissenschaften steht, kenntlich machen, daß auch Gelehrtengesellschaften mitunter Fehler machen und Fehlentscheidungen unterlaufen. Daher möchte ich die Gelegenheit dazu nutzen, aus Anlaß der Eröffnung dieses Symposions die Umstände darzulegen und zu skizzieren, welche dazu führten, daß Hegel seinerzeit nicht Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde – obgleich die entsprechenden Bemühungen mit dem gebührenden Ernst unternommen worden waren, wie auch unsere speziell für den heutigen Tag durchgeführten, intensiven Recherchen in den überkommenen Dokumenten unseres Akademiearchivs eindeutig ergeben haben. Adolf von Harnack hat die Geschichte der Bemühungen um eine Aufnahme Hegels in die Akademie in seiner »Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin« von 1900 ebenfalls ausführlich beschrieben und kommentiert. So schreibt Harnack über die uns hier interessierende Epoche: »Das Jahrzehnt von 1830–1840 hat tief in das Leben der Akademie eingeschnitten. […] Die Geschichte der Akademie in diesem Zeitraum beginnt mit inneren Streitigkeiten, auf die man nicht gefasst ist. Die beiden Klassen, wie sie sich eben erst gebildet hatten, traten in eine Spannung, und diese Spannung führte zeitweise zu ernster Entzweiung.«2 In den Dokumenten und Archivalien der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stellen sich die Vorgänge wie folgt nüchtern dar: In der Sitzung des Plenums vom 6. Dezember 1827 schlug die philosophische Klasse Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Heinrich Ritter erstmalig zu ihren Mitgliedern vor; Hegels Aufnahme in die Akademie war bis dato – insbesondere aufgrund des Betreibens von Schleiermacher – stets abgelehnt worden. Im Verlauf der anschließenden Verhandlung über die Vereinigung der philosophischen und historisch-philologischen Klasse wurde dieser Vorschlag jedoch wieder zurückgezogen und eine Wahlversammlung somit nicht ausgeschrieben.3

2

Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, vol. I.2. Berlin 1900, 752. 3 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand Preußische Akademie der Wissenschaften (1812-1945), II-V-8, Bl. 178-179.

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Grußwort

Während der folgenden drei Jahre passierte nichts: »Die philosophisch-historische Klasse [der Akademie] entschloss sich im Sommer 1830 endlich zu Hegels Aufnahme. Nachdem die Verschmelzung der philosophischen Klasse mit der historischen durchgesetzt worden war, gab auch Schleiermacher seinen Widerstand gegen ihn auf. Nur in einer selbständigen philosophischen Klasse war Hegel’s Despotie zu fürchten gewesen; in der neuen Klasse, die alle Zweige der Geisteswissenschaften umfasste, konnte er nicht so leicht die Herrschaft gewinnen. Aber ihn allein wollte man doch nicht aufnehmen; in Heinrich Ritter sollte ihm ein Gegengewicht gegeben werden.«4 In seinem Wahlvorschlag vom 24. Mai 1830 ging der Philologe August Böckh seinerseits umfassend auf die Begründung seines von dem Sprachwissenschaftler Franz Bopp mitunterzeichneten Wahlvorschlages ein; Böckh beschreibt, daß die vereinte philosophisch-historische Klasse bereits in früheren Versammlungen das »Bedürfnis anerkannt« habe, »sich besonders in der Eigenschaft als philosophische Classe zu verstärken«, und verweist ferner auf den bereits genannten Antrag der philosophischen Klasse. Nachdem die philosophische Klasse sich mit der ehemaligen historischphilologischen Klasse vereinigt habe, fielen viele Gründe weg, welche jenem Antrag entgegenstanden. Namentlich sei, so Böckh, gegen die Aufnahme neuer Mitglieder in die philosophische Klasse einzuwenden gewesen – Zitat: »daß wenn auch noch eines oder zwei aufgenommen würden, die Classe dennoch nicht eine solche Gestalt würde erhalten können, um abgesondert thätigen Bestand zu haben, daß ferner die speculative Philosophie nicht geeignet sei, für sich allein in einer ganzen Classe der Akademie behandelt zu werden, und gemeinsame Wirkung unserer speculativen Philosophen schwerlich zu erwarten sei«. Die beiden Vorschlags-Unterzeichner Böckh und Bopp glaubten in Anbetracht der durch die Klassenvereinigung veränderten Situation jedoch, mit ihrem Wahlvorschlag »dem Wunsche und den Ansichten der Classe [der Akademie] entgegenzukommen«. Weiter heißt es in dem Schriftstück: »Einer näher[e]n Begründung überhebt uns zwar sein [d. h. Hegels] anerkannter Ruf, der bei einer solchen Wahl nicht außer Acht gelassen werden darf, indem die Akademie einerseits sich selbst in der Wahl ihrer Mitglieder ehrt, andererseits aber auch die Aufnahme in ihre Mitte für den 4

Adolf Harnack, a. a. O., 753.

Grußwort

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Gewählten eine Ehrenbezeugung ist; jedoch bemerken wir, daß die Fülle und Mannigfaltigkeit der Gelehrsamkeit des H[er]rn Hegel, auch abgesehen von seiner speculativen Kraft«, [beinhaltet, dass sich] die »Akademie eine angemessene Thätigkeit von ihm verspricht, und wir zweifeln nicht, daß auch die persönlichen Verhältnisse, obwohl deren Berücksichtigung bei einer solchen Angelegenheit völlig untergeordnet seyn muß, sich zu allseitiger Zufriedenheit stellen werden«.5 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, einer der beiden Sekretare der philosophisch-historischen Klasse, schreibt in seinem kurzen Wahlvorschlag vom 8. Juni 1830 als Begründung seines Antrages, daß es wohl nicht nötig sei, »auf die Stellung [von Hegel] in der deutschen Philosophie« hinzuweisen.6 Wilhelm von Humboldt und Aloys Hirt stimmten dieser Wahl schriftlich zu.7 In der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 5. Juli 1830 wurde über die Vorschläge zur Wahl von Hegel und anderer – darunter Jacob Grimm – als Mitglieder der Akademie abgestimmt. Auf dieser Sitzung waren 10 von 14 Mitgliedern der philosophisch-historischen Klasse anwesend; es waren 9 bejahende Stimmen für die Annahme des Vorschlags notwendig. Die Ballotierung, d. h. die »Kugelung«, ergab für Hegel dann 11 Stimmen (8 weiße Kugeln und 3 schriftlich abgegebene Stimmen), also 2 Stimmen mehr als notwendig. Am Ende der Sitzung erhielt der Sekretar den Auftrag, dem Plenum über diesen Wahlakt Bericht zu erstatten und die nächsten Anträge »zu formieren«.8 In der Sitzung des Plenums vom 15. Juli 1830 wurden diese Vorschläge indessen, weil der Antrag nicht der Form entsprach, die in den neuen Statuten vorgeschrieben war, der Klasse zur neuen Beratung zugestellt und von beiden Klassen ein Gutachten zu eventuellen Modifikationen des Statutes verlangt.9 Nachdem dann das zuständige preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten die in Vorschlag gebrachten Zusätze über die Wahlformen genehmigt hatte, legte Schleiermacher in seinem Schreiben an das Plenum vom 9. Dezember 1830 die Ergebnisse der 5

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand Preußische Akademie der Wissenschaften (1812-1945), II-III-20, Bl. 33. 6 Ebd., II-III-20, Bl. 32. 7 Ebd., II-III-20, Bl. 34-35. 8 Ebd., II-V-144, Bl. 13-14. 9 Ebd., II-V-11, Bl. 113.

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Grußwort

damaligen Abstimmung zu den Wahlvorschlägen entsprechend den neuen Maßstäben dar.10 In der Sitzung des Plenums vom 16. Dezember 1830 begann der vorsitzende Sekretar, der Astronom Johann Franz Encke, die Abstimmung über die eingereichten Wahl-Vorschläge der philosophisch-historischen Klasse mit dem Vorbehalt, daß von den 38 Mitgliedern des Plenums nur 27 (also keine Dreiviertel) anwesend waren. Zur Wahl von Hegel ist nur protokolliert, daß er »nicht die gehörige Zahl von 21 bejahenden Stimmen« erhielt.11 Die nach diesem Wahlergebnis folgenden Auseinandersetzungen zwischen der philosophisch-historischen und der physikalisch-mathematischen Klasse beschreibt Adolf von Harnack in seiner Akademiegeschichte eingehend – sie sollen indes hier nicht Gegenstand sein. In der Außerordentlichen Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. November 1831 schließlich schlägt der Theologe Schleiermacher vor, die abgelehnten Wahlvorschläge – mit Ausnahme des Vorschlages für den im gleichen Monat verstorbenen Hegel – zu erneuern »und auf die Priorität derselben antragen« zu wollen.12 Damit endet die Geschichte der gescheiterten Wahl Hegels zum Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften – Harnack kommentiert abschließend: »Damit [das heißt mit dem Tod Hegels] war dem Conflict der Klassen die Wurzel abgeschnitten; aber den Einsichtigen musste es schmerzlich sein, dass es zu Hegel’s Aufnahme in die Akademie nicht mehr gekommen war.«13 Heute ist es nicht die Berliner, sondern die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, welche eine besondere Verantwortung für Hegel und die Präsentation des Hegelschen Werkes trägt, denn aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung wird die historisch-kritische Hegel-Ausgabe dieser Akademie in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Hegel-Archiv, einer Einrichtung der Ruhr-Universität Bochum, erstellt, das von Herrn Professor Walter Jaeschke geleitet wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Tagung und heiße Sie noch einmal hier im Hause der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herzlich willkommen.

10 11 12 13

Ebd., II-III-115, Bl. 51. Ebd., II-V-11, Bl. 170-171. Ebd., II-V-144, Bl. 26. Adolf Harnack, a. a. O., 764.

Sektion I

erkenntnis

Erkenntnis Birgit Sandkaulen

Die in der ersten Sektion versammelten Beiträge eröffnen den vorliegenden Band mit einer historisch wie sachlich weit aufgespannten Diskussion. Von »Geschichten des Selbstbewußtseins« führen sie über die »genealogische Reflexion der Kunst« bis hin zum wissenschaftsphilosophischen Problemaufriß einer »historischen Ontologie«. Das Personaltableau, das Fichte, Schelling und Hegel, Marx, Adorno und Foucault, Latour und Hacking umfaßt, schließt ausgehend von der klassischen deutschen Philosophie die jüngere Moderne bis zur unmittelbaren Gegenwart ein. In jedem anderen Kontext würde man sich über eine solche Zusammenstellung vermutlich wundern. Was verbindet diese auf den ersten Blick ganz heterogenen Themen- und Fragestellungen, und worin liegt der Sinn, sie gemeinsam unter das Stichwort »Erkenntnis« zu rücken? Im Kontext Hegels weicht die Verwunderung dem Interesse an einem hochvirulenten Problemzusammenhang. Was die Beiträge durchgehend und gerade in der Vielfalt ihrer Perspektiven miteinander verknüpft, ist – die Titel weisen darauf hin – das Konzept genealogischen Denkens. Herausgefordert durch Hegels Entwurf der Phänomenologie des Geistes steht dieses Konzept in seinen Motiven, Verfahrensweisen, Reflexionsfeldern und nicht zuletzt seinen Problemen epochen- und themenübergreifend zur Debatte. Dabei fungiert das Stichwort »Erkenntnis« als Problemanzeige und kritisches Signal. Denn was sich unter Bedingungen genealogischen Denkens zuallererst ändert, ist das epistemische Feld im Ganzen, das mit beträchtlichen Konsequenzen für alles weitere in seinem Wirklichkeitsgehalt neu zu vermessen ist. In diesem Sinn hat Hegel selbst sein Unternehmen in einer kritischen Anspielung auf Kant eine »Untersuchung und Prüfung der Realität des Erkennens« genannt.1 Und noch etwas rückt diese Aussage sogleich in den Blick. Während der Ausdruck »Erkenntnis« in der Phänomenologie nur ganz sporadisch fällt, bevorzugt Hegel hier wie an anderen programmatischen Stellen der »Vor1

Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg 1988, S. 63. Diese Ausgabe wird im folgenden unter Angabe der Seitenzahl im Text zitiert.

22

Birgit Sandkaulen

rede« und »Einleitung« eindeutig den Ausdruck »Erkennen«. Ein Zufall ist das offenbar nicht. Denn anders als im Fall der Erkenntnis, die entweder als abstrakter Begriff für epistemisch einschlägige Sachverhalte überhaupt steht oder das (subjektive oder objektive) Vorliegen von gewonnenen Einsichten bezeichnet, blickt im Falle des Erkennens in der Form des Substantivs die verbale Herkunft noch durch, und eben darin liegt im Zeichen genealogischen Denkens die Pointe: Das Erkennen lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Tätigkeit, einen aktiven Vollzug, einen Prozeß. Daß dieser Prozeß des Erkennens auf den Gewinn von Erkenntnis und damit auf ein Ergebnis der unternommenen Anstrengung zielt, ist und bleibt auch für Hegel von entscheidender Bedeutung. Aus der Prüfung je erhobener und je als unhaltbar sich erweisender Erkenntnisansprüche ergibt sich ja nicht nur die Reihe der »Gestalten des Bewußtseins«. Vielmehr soll im Durchgang durch diese Bewußtseinsgestalten mit dem absoluten Wissen zuletzt auch ein Erkenntnisresultat von der Art erreicht werden, das seinerseits nicht mehr dem Zweifel oder besser gesagt der »Verzweiflung« verfällt (61). Von sachlichem Belang ist Hegel zufolge ein sei es vorübergehendes, sei es am Ende absolutes Resultat des Erkennens aber nur dann, wenn die Einsicht in sein Gewordensein aus dem Resultat nicht herausgehalten wird, sondern es vielmehr durch und durch bestimmt. Mit dieser Überlegung, die Genesis und Geltung hinsichtlich des Gegenstands des Erkennens und seines Begriffs unauflöslich ineinander verschränkt, versetzt Hegels Phänomenologie das epistemische Feld buchstäblich in Bewegung – die berühmte Formel vom »bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist« (35), bringt das plastisch zum Ausdruck. Man wird nicht sagen können, daß Hegel den Ansatz genealogischen Denkens als erster überhaupt erfunden hat. In der Moderne dürfte dies vielmehr Vico gewesen sein, dessen nicht umsonst so genannte Neue Wissenschaft das von Descartes bestellte Erkenntnisfeld mit einer Genealogie der Kulturentwicklung zuerst ins Wanken gebracht hat. Im unmittelbaren Umfeld Hegels wären darüber hinaus Herder und Jacobi zu nennen, und von Fichte und Schelling wird ohnehin noch die Rede sein. Jenseits der Frage nach Gemeinsamkeiten und Differenzen innerhalb genealogischer Denkmodelle kommt es an dieser Stelle darauf an, den Traditionsbruch auch bei Hegel zu betonen: den Bruch mit derjenigen Tradition, die sich, wie zuletzt noch einmal Kant, der Bedingungen der Gültigkeit der Erkenntnis jenseits konkreter und sich verändernder Umstände ihres realen Werdens a priori zu vergewissern suchte. Im Bruch mit einer so verfaßten Theorie der Erkenntnis wird die »Realität des Erkennens« aber nicht nur in einen großangelegten Prozeß, in eine Geschichte der jeweiligen Bewußtseinsgestalten hineingezogen, die sowohl

Erkenntnis

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den Gegenstand als auch das Subjekt der Erkenntnis erfaßt. Gegenüber der Tradition ändert sich unter solchen Umständen auch fundamental, was überhaupt in den Bereich der Erkenntnis fällt, der mit der Einschränkung auf theoretische Vollzüge nicht länger identisch ist. Sogar Hegel selbst scheint vollends erst im Zuge der Durchführung der Phänomenologie zu Bewußtsein gekommen zu sein, in welchen gewaltigen Raum menschlicher Erfahrung sein genealogischer Ansatz vorstößt und vorstoßen kann. Über die Engführung auf kognitive Einstellungen weit hinausgehend schließt die Untersuchung der »Realität des Erkennens« in der Entsprechung zwischen den jeweiligen Bewußtseinsgestalten und den von ihnen erzielten Aufschlüssen über die Wirklichkeit die Formulierung bestimmter Theorien über die Welt ebenso ein wie diverse Praktiken des Lebens einschließlich der realhistorischen Herausbildung kultureller Institutionen. Spätestens im Moment ihres Werdens zum Geist werden darum die »Gestalten des Bewußtseins«, wie Hegel notiert, zu »Gestalten einer Welt« (290). Damit ist der Hintergrund der folgenden Beiträge umrissen. Sie alle setzen den genealogischen Bruch mit traditionellen Theorien der Erkenntnis in seinem ganzen hier angedeuteten Umfang voraus. Aber was genau heißt es, sich mit Hegels Ansatz tatsächlich zu konfrontieren und das in Bewegung gebrachte epistemische Feld wirklich zu betreten? Jürgen Stolzenberg geht dem unter der Leitfrage von »Geschichten des Selbstbewußtseins« nach, womit er Hegels Phänomenologie in einen für die ganze nachkantische Philosophie typischen Kontext stellt. Eine neue Auffassung des Selbstbewußtseins, so die These, regt hier allenthalben zum Geschichtenerzählen an. Worin liegt dann aber das Spezifikum Hegels? Schon bei Fichte wird die eben skizzierte Entschränkung des Gebiets der Erkenntnis akut: schließlich fängt seine Geschichte nicht im Bereich der theoretischen, sondern der praktischen Philosophie an. Hier wird das Ich, wie Stolzenberg argumentiert, in Umstellung der Perspektive von der dritten auf die der ersten Person zur Selbstreflexion über das, was es ist, aufgefordert, was seiner Realisierung in der »Einheit von Selbst- und Weltbewußtsein« entspricht. Kritische Bedenken gegen die Inhaltsleere des anfänglichen Ich-Prinzips treffen Fichte danach nicht, der Einwand gegen das berühmte Anstoßtheorem bleibt aber in Kraft. Er veranlaßt Schelling, die Geschichte des Selbstbewußtseins nach Maßgabe eines dem Ich internen Widerstreits umzuschreiben. Das Motiv, diesen Antagonismus aufzulösen, treibt die Geschichte voran, um sich zuletzt in der Kunst zu erfüllen, die Schelling als einziges Medium gelingender Selbstverständigung des Ich vorstellig macht. Von diesen Entwürfen unterscheidet sich Hegels Geschichte zunächst darin, daß sie, anstatt mit dem Selbstbewußtsein zu beginnen, die defizitäre

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Birgit Sandkaulen

Bestimmung des Bewußtseins an den Anfang rückt, dem sein Selbstbezug im Bezug auf Anderes verborgen bleibt. Die Aufgabe und Fähigkeit, sich selbst in der Einheit von Selbstbeziehung und Beziehung auf Anderes zu erfassen, wird demgegenüber als allererst zu erobernde Struktur des Geistes begriffen, die sich im absoluten Wissen völlig durchsichtig wird. Der »Satz des Bewußtseins« werde so durch den »Satz des Geistes« ersetzt. Damit einhergehend erscheint die Gestalt des sogenannten Selbstbewußtseins nunmehr als eine phänomenologische Etappe, die Hegel in ihrer leeren Tautologie zu Unrecht als Kritik an Fichte modelliert. Wichtiger als das und sogar wichtiger als der Befund, daß Fichte eine Geschichte des subjektiven Geistes, Hegel indes eine Weltgeschichte des Geistes schreibt, ist der Blick auf das Ende der Geschichte. Erst an diesem Punkt geht Hegel, so der Autor, definitiv über seine Vorgänger hinaus: Im Kontrast zu Fichte wird aus der Beziehung des Selbst auf Anderes die Differenz des Anderen restlos entfernt, und im Kontrast zu Schelling ist es ausdrücklich nicht mehr die Kunst, in der sich die restlose Aufhebung aller Konflikte in der Selbstverständigung des Geistes ereignet. Ob man diese Lösung Hegels als wahr anerkennen kann oder nicht, bleibt hier allerdings am Ende offen. Kritisch zu Hegel verhält sich demgegenüber Gunnar Hindrichs, dessen Beitrag über »Hegels genealogische Reflexion der Kunst« an die von Stolzenberg entfalteten Motive direkt anschließt. Eröffnet wird er durch eine eindringliche Analyse genealogischen Denkens, die den spezifischen Zusammenhang von Genesis, Geltung und Kritik sondiert. Diesen Zusammenhang, so Hindrichs, realisiert Hegels Phänomenologie als ein anderen Formen überlegener Typ von Genealogie. Anstatt in der genealogischen Kritik von Geltungsansprüchen das Erfordernis von deren »vorgängiger Geltungsreflexion« entweder nur vorauszusetzen oder gar zu ersetzen, führt Hegel die Darstellung dieser Geltungsreflexion in Form einer lebendigen Geschichte des Selbstbewußtseins selber durch. Die Selbstbeziehung des Subjekts als verfehlter oder gelungener gibt so die orientierende Hinsicht ab. Vor diesem Hintergrund leuchtet dann ein, nicht nur, warum Hegel überhaupt von der Kunst, sondern von ihr auch nur in Gestalt der Kunstreligion handelt. Religion ihrerseits wird hier ja, dem genealogischen Projekt entsprechend, ausschließlich als eine ausgezeichnete Gestalt der Versöhnung zwischen Selbst und Welt reflektiert, die die Kunstreligion aus ihrer natürlichen in eine geistige Gestalt überführt. Einschließlich der politischen Bedeutung der so gewonnenen Einheit schlagen darin Motive des jungen Hegel durch. Jetzt aber diagnostiziert Hegel inmitten solcher Versöhnung ein Moment noch nicht restlos ins Subjekt vermittelter Substanz. Nicht nur die Welt der Griechen, sondern auch das Trachten der Modernen (bis in die Gegenwart)

Erkenntnis

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nach einer durch Kunst zu stiftenden Einheit hält deshalb der genealogischen Geltungsreflexion bei Hegel nicht stand. Hindrichs’ abschließende Kritik ist von Überlegungen des jungen Marx und Adornos inspiriert. Der Einwand besteht darin, daß sich Hegels Genealogie im Zusammenschluß ihrer selbst mit der Geschichte des Selbstbewußtseins unkritisch zu sich selber verhält. Die Darstellung der Geltungsreflexion als Anderes des Denkens wendet sich in den »Schein selbstgenügsamen Denkens« um. Diesen Schein zu durchbrechen, ohne die mit Hegel erreichten Reflexionsverhältnisse zu hintertreiben, lenkt zuletzt noch einmal den Blick auf die Kunst. In der Erfahrung des Neuen, so die Schlußthese des Beitrags, bietet sie das Andere als etwas schlechthin »Unbekanntes« auf, das sich nach genealogischem Muster nicht mehr begreifen läßt. Skepsis gegenüber Hegels Modell, wenngleich aus anderen Motiven, äußert schließlich auch Michael Hampe, dessen Beitrag unter dem Stichwort der »historischen Ontologie« zum jüngsten Werk von Ian Hacking und damit zu wissenschaftsphilosophischen Anliegen der Gegenwart führt. Obwohl, wie Hampe feststellt, das Programm der historischen Ontologie mit dem von der Seinslogik zu unterscheidenden Programm der Phänomenologie nicht identisch ist und Hacking selber sich auch gar nicht auf Hegel bezieht, lassen sich Anhaltspunkte für eine Aktualisierung des Hegelschen Konzepts zunächst einmal finden. Mit der These, daß sich die Geschichte des Wissens vom Wissen über die Wirklichkeit nicht ablösen läßt, wird hier wie da die Vorstellung einer »universalen Axiomatik« zurückgewiesen. Noch mehr Verwandtschaften zwischen beiden Projekten scheinen auf, wenn man Hackings Referenz auf Foucault als Brücke zwischen beiden mit einbezieht. Dann sieht es nämlich so aus, wie der Autor zeigt, daß Hegel hier gründlich vorgearbeitet hat: nicht allein mit dem Entwurf einer »historischen Subjektkonstitutionstheorie«, sondern auch mit der Entgrenzung des epistemischen Feldes, auf dem bereits bei Hegel »Philosophie- und Begriffsgeschichte« ebenso wie »politische Geschichte und Religionsgeschichte, Geschichte der Institutionen und Personen« zur Verhandlung stehen. Und sogar das, was Foucault gegenüber Hegel mit der Betonung von Diskontinuitäten als vermeintlich neue Geschichte reklamiert, überwindet Hegel nicht, dessen dialektisch verfaßte Geschichte ja längst selber jenseits schlichter Kontinuitäten verläuft. Eine Grenze möglicher Aktualisierung Hegels ist indessen mit Hackings Abwehr jeglicher Suche nach einem historischen Ursprung erreicht, zu der die »Fortschrittsteleologie« Hegels, so Hampes Argument, lediglich das Spiegelbild liefert. In beiden Fällen geht es, entweder am Anfang oder am Ende, um einen Punkt, der ins Ahistorische verweist. Folgt man diesem Gedanken nicht mehr, dann gewinnt die Thematisierung der Zeitlichkeit in der

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Unterscheidung zwischen der eigenen Zeit der wissenschaftlichen Objekte und der Zeit ihrer wissenschaftlichen Erforschung irreduzibel an Bedeutung. Gegen eine konstruktivistische Neutralisierung dieser Differenz, aber auch gegen Hegels im Hintergrund der Phänomenologie stehende Annahme einer »ewigen Ordnung«, die in der Zeit der Natur und der der Subjekte erscheint, plädiert Hampe zuletzt für Schellings Konzept einer Komplementarität von Natur- und Transzendentalphilosophie. In gewisser Weise schließt sich damit ein erhellender Kreis in dieser ersten Sektion. Zugleich öffnet er sich aber auch, denn Schelling unter heutigen Bedingungen zu reformulieren, ist Hampe zufolge eine Aufgabe, deren Lösung erst noch ansteht.

Geschichten des Selbstbewußtseins Fichte – Schelling – Hegel Jürgen Stolzenberg

»Die Wissenschaftslehre soll sein eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes«,1 so schreibt Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95. Im System des transzendentalen Idealismus von 1800 erklärt Schelling: »Die Philosophie ist eine Geschichte des Selbstbewußtseins, die verschiedene Epochen hat«.2 In der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes schließlich beschreibt Hegel das Programm seines Unternehmens wie folgt: »Die Reihe [der] Gestaltungen, welche das Bewußtsein […] durchläuft, ist […] die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft«.3 Damit ist das Thema der folgenden Überlegungen genannt. Es geht um eine Verständigung über die Motive, die methodischen Grundlagen, den sachlichen Gehalt und den systematischen Ertrag eines Theorieprogramms, das der klassischen deutschen Philosophie nach Kant ihr Gepräge gegeben hat und für das der Titel einer Geschichte des Selbstbewußtseins steht. Damit ist eine doppelte Aufgabe verbunden. Zum einen ist das theoretische Profil einer gesamten Epoche in den Blick zu nehmen; zum anderen hat man sich die Züge dieses Profils in ihrer spezifischen Linienführung verständlich zu machen. Das Thema »Geschichten des Selbstbewußtseins« eröffnet damit in Wahrheit ein Forschungsprogramm von einiger Attraktivität und Komplexität. Es geht um die Einsicht in die Struktur des Netzwerks gleichsam der Argumentationen und Konzeptionen, das die Protagonisten der Philosophie nach Kant in der Durchführung dieses Themas aufgebaut haben, und es geht um die Analyse der argumentativen Schaltstellen, an denen sich die Linien kreuzen und in neue Theoriebereiche führen. Daß ein solches Netzwerk nicht Fiktion ist, 1

W I, 222. Fichtes Werke werden zitiert nach der Werke-Ausgabe von Immanuel Hermann Fichte unter der Abkürzung W mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Mit einer Einleitung von Walter Schulz, hg. v. Horst D. Brandt und Peter Müller, Hamburg 1992. Im folgenden zitiert unter der Abkürzung System mit Angabe der Seitenzahl; hier: 67; vgl. 5. 3 TWA 3, 73.

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dafür stehen die eingangs genannten Zitate. Sie zeigen Domänen der Durchführung eines Theorieprogramms an, das sich einer erkennbar einheitlichen Problemstellung verdankt. Es ist das Problem, wie Selbstbewußtsein möglich ist. Von dem Sinn dieser Frage, ihren möglichen Antworten und den Gründen, die dafür anzugeben sind, erzählen die Geschichten des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant. Das mag bekannt sein, ist aber in wesentlichen Stücken immer noch nicht hinreichend erkannt.4 Nicht hinreichend erkannt ist der systematische Zusammenhang der Theorieentwürfe untereinander. Hier hat man sich von der immer noch vorherrschenden Konzentration auf das Werk eines Autors zu befreien. Nicht hinreichend erkannt und gewürdigt sind daher auch die polemischen Bezüge der Protagonisten untereinander. Sie können nur aus der Einsicht in die Binnenstruktur der jeweiligen Argumentationen und Debatten begriffen werden, die zu den verschiedenen Typen von Geschichten des Selbstbewußtseins geführt haben. Nicht hinreichend erkannt sind auch die Ausstrahlungen dieser Theorieentwürfe auf andere philosophische und kunsttheoretische Konzeptionen in der nachkantischen Epoche – zu nennen sind u. a. Schlegels Idee einer progressiven Universalpoesie sowie Hardenbergs dichterischer Entwurf des Weges der Seele zu sich selbst im Roman »Heinrich von Ofterdingen« und andere literarische Formen der Darstellung personaler Bildungsgeschichten. Hierher gehört auch die Gestaltung musikalisch-thematischer Entwicklungen in Sonaten, Sinfonien und Variationszyklen; und hierher gehören schließlich auch die Entwürfe einer teleologisch verfaßten Philosophie der Geschichte und die Nachhaltigkeit der genannten Konzeptionen bis in die Gegenwart. Von all dem kann hier freilich nicht gehandelt werden. Nicht hinreichend erkannt ist aber schon der Anfang der Geschichte von den Geschichten des Selbstbewußtseins. Auf ihn muß man zurückgehen, wenn man zumindest den Grundriß des Themas skizzieren will. Dies soll im folgenden in einem ersten Schritt geschehen.

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Die erste und bisher einzige monographische Untersuchung zum Thema hat Ulrich Claesges vorgelegt. Vgl. Ulrich Claesges: Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794–95, Den Haag 1974. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang der Beitrag von Ernst Behler: »Geschichte des Bewußtseins. Zur Vorgeschichte eines Hegelschen Themas«, in: Hegel-Studien 7, 1972, 169–216 sowie v. Vf.: »›Geschichte des Selbstbewußtseins‹. Reinhold – Fichte – Schelling«, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism, Bd. I, 2003, 93–113, an den der vorliegende Beitrag anschließt. Vgl. ferner Klaus Düsing »Strukturmodelle des Selbstbewußtseins. Ein systematischer Entwurf«, in: Fichte-Studien 7, 1995, 7–26 und ders.: Selbstbewußtseinsmodelle: moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997.

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I. Fichte Es ist nicht meine Absicht, in eine Archäologie genealogischen Denkens mit Bezug auf das Theorieprogramm einer Geschichte des Selbstbewußtseins einzutreten. Sie wäre über empiristisch-sensualistische Modelle – hier sind unter anderem Autoren wie Condillac, Diderot, Bonnet, Buffon und Platner zu nennen – und die Tradition der Leibnizschen monadologischen Metaphysik und Psychologie bis zur Geistmetaphysik des Neuplatonismus zurückzuverfolgen. Da ist alles noch offen. Hier soll es zunächst um den Anfang des Theorieprogramms einer Geschichte des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant gehen.5 Sein systematischer Ort ist die frühe Philosophie Fichtes. Der Anfang dieses Unternehmens befindet sich nicht dort, wo die eingangs zitierte Bemerkung Fichtes von der Wissenschaftslehre als einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes zu finden ist: im Kontext der Theorie der Einbildungskraft und der von ihr aus unternommenen Darstellung der Bedingungen des Zusammenhangs von Selbstbewußtsein und dem Bewußtsein einer Vorstellung.6 Der Anfang liegt vielmehr im Bereich der Praktischen Philosophie. Hier hat Fichte ein methodisches Verfahren entworfen, das den bis dahin verfolgten, aus der Grundsatzsystematik abgeleiteten Weg in gewisser Weise verläßt und in eine neue Dimension der Theorie des Selbstbewußtseins vorstößt.7 Hier liegt der eigentliche Anfang dessen, was man Fichtes frühe Philosophie des Selbstbewußtseins nennen kann. Und hier liegt somit auch der Anfang der Geschichte von den Geschichten des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant. Es sind im wesentlichen zwei Momente, die entscheidend sind. Das erste Moment betrifft das neue methodische Verfahren, das zweite Moment betrifft das dafür leitende systematische Motiv. Das neue methodische Verfahren läßt sich kurz gefaßt als konsequente Durchführung der erstpersonalen Perspektive hinsichtlich der Theorie des Selbstbewußtseins beschreiben,

5

Eine unausgeführte Skizze des Konzepts einer Geschichte des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant findet sich der Sache nach zuerst in Karl Leonhard Reinholds Theorie des Selbstbewußtseins in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens« (1789). Vgl. hierzu v. Vf.: »Selbstbewußtsein – Ein Problem der Philosophie nach Kant. Reinhold – Hölderlin – Fichte«, in: Revue Internationale de Philosophie, 3, Nr. 197, 461–482. 6 Vgl. W I, 227 ff. 7 Vgl. hierzu Violetta L. Waibel: »Hölderlins frühe Fichte-Kritik und ihre Wirkung auf den Gang der Ausarbeitung der Wissenschaftslehre«, in: Revue Internationale de Philosophie, 3, Nr. 197, 437–460 und dies.: Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn 2000, S. 49 ff.

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präziser, als Umstellung der Theorie von der Perspektive der dritten Person auf die Perspektive der ersten Person. Genau das meint die folgende programmatische Erklärung Fichtes: »Das Ich soll sich nicht […] selbst setzen für irgendeine Intelligenz außer ihm, sondern es soll sich für sich selbst setzen; es soll sich setzen, als durch sich selbst gesetzt. Es soll demnach, so gewiß es ein Ich ist, das Prinzip des Lebens und des Bewußtseins lediglich in sich selbst haben.«8 Daraus folgt unmittelbar das methodische Postulat, das dem weiteren Gang der Theorie zugrunde liegt: »Demnach muß das Ich, so gewiß es ein Ich ist, unbedingt und ohne allen Grund das Prinzip in sich haben, über sich selbst zu reflektieren.«9 Der Unterschied hinsichtlich der Methode läßt sich aus dem Unterschied der systematischen Rollen verständlich machen, die die Idee des Ich in Fichtes früher Wissenschaftslehre spielt. Für irgendeine Intelligenz außer ihm und insofern aus der Perspektive der dritten Person ist das Subjekt des Bewußtseins thematisch, sofern seine Funktion durch die Grundsatzsystematik und die Vermeidung von logischen Widersprüchen bestimmt ist, die sich aus den Implikationen der Grundsätze ergeben. Hierbei fungiert das Ich als oberstes Prinzip und negativ-logisches Kriterium der Konsistenz des Begründungsgangs, das darin besteht, daß die mit dem ersten Grundsatz exponierte Identität des Ich nicht aufgehoben werden darf. Insofern kommt dem Ich nur eine rein begründungstheoretisch-funktionale Bedeutung zu. Mit dem vorgestellten Reflexionspostulat wird das Ich selber Thema. Der Sinn dieses Postulats ist genauer darin zu sehen, daß die kognitiven Funktionen, mit denen das Subjekt des Bewußtseins sich auf die ihm entgegengesetzte, von Fichte so genannte Sphäre eines Nicht-Ich – den offenen Horizont einer Welt außer ihm, wie man sagen könnte – bezieht, von dem Subjekt selber als die ihm wesentlich zukommenden kognitiven Grundfunktionen begriffen werden sollen. Sie sind die Prädikate, mit denen das Ich sich selbst begreift. Sie sind daher die notwendigen Bedingungen des Selbstbewußtseins zu nennen. Deren Darstellung ist die Geschichte des Selbstbewußtseins. Noch vor der Frage, wie dies im einzelnen vor sich geht, ist in methodischer Hinsicht absehbar, daß die Bedeutungen dieser Prädikate, die das Ich sich anhand von Begriffen in Urteilen über seine eigene Verfassung zuschreibt, Resultate von Argumentationsgängen sein müssen, in denen 8 9

W I, 274. Ebd.

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diese Begriffe allererst ihre spezifische Bedeutung und Anwendung erhalten. Sofern die Bedeutung dieser Begriffe eine Funktion der Folgerungsbeziehungen ist, die im Gang der Argumentation entwickelt werden, kann unter Anspielung auf die Überlegungen Robert Brandoms von einem semantischen Pragmatismus in der fichteschen Theorie des Selbstbewußtseins gesprochen werden.10 Mit Bezug auf das über sich selbst reflektierende Ich ließe sich unter den fichteschen Prämissen dann das folgende sagen: Das, was das seiner selbst bewußte Subjekt seinem Wesen nach ist, das zeigt sich daran, was es tut, wenn es über sich selbst reflektiert, und das heißt, wenn es Begriffe als Prädikate in Urteilen über sich selbst auf sich selbst anwendet. Dies tun zu können, folgt aus dem Begriff des Ich, sofern es als ein der Begriffe fähiges Wesen, oder, wie Fichte es ausdrückt, als Intelligenz angesehen wird. Robert Brandoms Motto Making it explicit wäre unter dieser Perspektive mit Bezug auf das fichtesche Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins in den Slogan umzuwandeln: Make yourself explicit! Doch ist mit dem Hinweis auf die Fähigkeit zur Selbstreflexion das eigentliche systematische Motiv für dieses Programm noch nicht erklärt. Das ist der zweite Punkt, der von Interesse ist. Er läßt sich wie folgt erklären. Die an das fichtesche Ich zu richtende Forderung Make yourself explicit erhält ihre Motivation durch die an das Reflexionspostulat unmittelbar anschließende Erklärung Fichtes, daß das Ich als Realität gesetzt sei und daß es nunmehr darüber zu reflektieren habe, ob es Realität habe.11 Versteht man, wie es der Sache nach geboten ist, die Rede von Realität im Sinne von Sachhaltigkeit, dann ist die fichtesche Erklärung so zu lesen, daß das Ich nunmehr seine realen, und das heißt, ihm wesentlich zukommenden Prädikate aus seiner eigenen Perspektive zu entwickeln hat, mit denen es eben diejenigen Grundfunktionen beschreibt, die sein Wesen ausmachen und mit denen es sich in theoretischer und praktischer Weise auf die Welt der Erfahrung bezieht. Daß das Ich als Prinzip sachhaltiger Bestimmtheit gilt, das hatte Fichte bereits mit der Einführung des Satzes Ich bin zu zeigen gesucht, der denn auch als ursprüngliche Exemplifizierung der Kategorie der Realität interpre-

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Vgl. Robert B. Brandom: Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, MA 1994; deutsch: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt/M. 2000 sowie ders.; Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M. 2001. 11 Vgl. W I, 274: »Das Ich ist gesetzt als Realität« und es wird »reflektiert, ob es Realität habe«. Dem entspricht die an das Ich ergehende Forderung, »über sich selbst zu reflektieren, und zu fordern, dass es in dieser Reflexion als alle Realität erfunden werde; beides, so gewiss es ein Ich sein soll«. (W I, 276)

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tiert wird.12 Dort war aber auch gesagt worden, daß das sich selbst setzende Ich kein Prädikat hat und keins haben kann13 – sofern es nämlich allein in seiner letztbegründenden Stellung als oberstes Prinzip aller bewußten Leistungen thematisch ist. Diese inhaltliche Leere hatte bekanntlich die Kritik und gar den Spott der Zeitgenossen über das Fichtesche ›Ich-Gespenst‹ auf sich gezogen.14 Demgegenüber tritt die Darstellung der Geschichte des Selbstbewußtseins den Beweis durch die Tat an, daß das Ich höchst real ist und daß es seine realen, das heißt, ihm wesentlich zukommenden Prädikate aus eigener Kraft darzustellen in der Lage ist. Da diese Prädikate Begriffe von seinen kognitiven Funktionen sind, durch die es sich auf die Welt bezieht, liegt dem Projekt einer Geschichte des Selbstbewußtseins, wie nun präzisierend zu sagen ist, von Anfang an gleichsam eine doppelte Strategie zugrunde: Diese Funktionen sollen zum einen als notwendige Bedingungen des Selbstbewußtseins begründet werden, zum anderen sind sie diejenigen Bedingungen, unter denen das Subjekt sei es in theoretischer, sei es in praktischer Hinsicht sich eine Sphäre erschließt, in der es sich selbst objektiviert und realisiert. Kraft seines Begriffs, so läßt sich daher sagen, ist das Ich der Historiograph der Genese der Einheit seines Selbst- und Weltbewußtseins.

1. Der Begriff des Strebens Der erste Schritt auf diesem Wege konfrontiert mit einer systematischen Eigentümlichkeit. Sie ist darin zu sehen, daß zunächst noch gar nicht konkrete kognitive Funktionen des Ich wie etwa »Gefühl«, »Empfindung«, »Anschauung«, »Verstand«, »Urteilskraft«, »Vernunft«, zur Debatte stehen. Die Aufgabe des ersten Schrittes besteht vielmehr darin, die begriffliche Bedingung

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Vgl. W I, 99. »Das absolute Ich des ersten Grundsatzes ist nicht etwas (es hat kein Prädikat, und kann keins haben); es ist schlechthin, was es ist, und dies lässt sich nicht weiter erklären.« (W I, 109) 14 So spottete Friedrich Heinrich Jacobi über »mein leer und reines, nackt und bloßes Ich«, das ihm schließlich als ein »Gespenst«, ein »Nichts der Realität« erschien. (Jacobi an Fichte, Hamburg 1799, 35) Und auch für Kant sah das fichtesche Ich bekanntlich »wie eine Art Gespenst« aus, »was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst, u. zwar hievon auch nur die Hand, die darnach hascht, vor sich findet. – Das bloße Selbstbewußtsein«, so faßt Kant seinen Eindruck zusammen, »u. zwar nur der Gedankenform nach, ohne Stoff, folglich ohne daß die Reflexion darüber etwas vor sich hat, worauf es angewandt werden könne […], macht einen wunderlichen Eindruck auf den Leser«. (Akademie-Ausgabe XII, 240/241; Brief Nr. 805 an Johann Heinrich Tieftrunk vom 5. April 1798) 13

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namhaft zu machen, unter der das Ich seine Aktivität, durch die es sich ursprünglich und auf eine unmittelbare und vortheoretische Weise als Prinzip allen Bewußtseins qualifiziert, zu einem begrifflich bestimmten Gegenstand der Reflexion machen kann. Fichtes These ist es, daß dies unter dem Begriff eines »Strebens nach Kausalität überhaupt«15 möglich ist. Das also ist das logisch erste reale Prädikat, das sich das Ich im Zuge der Genese seines Selbstbewußtseins zuschreibt. Wendet man sich der fichteschen Argumentation zu, dann ist das folgende zu sagen. Die Tatsache, daß das fichtesche Ich sich einer spontanen Tätigkeit verdankt, durch die es sich als etwas Reales und zugleich als Prinzip aller konkreten Realitätssetzung konstituiert, erlaubt es in der Sicht Fichtes, dieser Tätigkeit eine bestimmte Form von Intentionalität zuzuschreiben. Sie läßt sich als eine ins Unendliche gehende Intentionalität sachhaltigen Bestimmens beschreiben. Gemeint ist die Tendenz, die Funktionen, unter denen ein sachhaltiges Bestimmen möglich ist, auf prinzipiell unabschließbare Weise in der Welt der Erfahrung anzuwenden, sei es auf theoretische, sei es auf praktische Weise.16 Das ist der erste Schritt. Soll dieser Tätigkeitssinn nun als Gehalt eines Begriffs gedacht werden, der als Prädikat in einem Urteil des Ich über sich selbst verwendet werden kann, dann muß dieser Gehalt trivialerweise den formalen Charakter logischer Bestimmtheit aufweisen. Das ist mit dem Hinweis auf eine gleichsam offene und insofern inhaltlich unbestimmte Intentionalität sachhaltigen Bestimmens nicht getan. Damit wird ein zweiter Schritt eingeleitet. Er soll zeigen, auf welche Weise das Ich zu einem bestimmten Begriff von dieser seiner ihm ursprünglich zukommenden Tätigkeit gelangen kann. An dieser Stelle kommt das berühmte Anstoßtheorem ins Spiel. Mit ihm soll zunächst gar nichts anderes als die Möglichkeit einer dem Ich erscheinenden formalen Anzeige auf eine von ihm unabhängige Welt der Erfahrung zum Ausdruck gebracht werden. Im vorliegenden Zusammenhang übernimmt das Anstoßtheorem die Funktion, zu erklären, auf welche Weise jene ins Unendliche gerichtete Intentionalität sachhaltigen Bestimmens durch den Horizont einer Welt, auf die sie bezogen ist und in der sie angewendet werden muß, begrenzt, dabei aber nicht aufgehoben, sondern, wie es heißt »in sich selbst zurückgetrieben«17 und auf diese Weise dem Ich zugänglich und verfügbar

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W I, 276, vgl. W I, 278 sowie W I, 263. »Die reine Tätigkeit des Ich allein, und das reine Ich allein ist unendlich.« (W I, 256; vgl. 272 u.ö.) 17 W I, 275. 16

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wird. Dabei ist von konkreten Gehalten als intentionalen Korrelaten dieser Tätigkeit noch nicht die Rede. Der dritte Schritt gilt daher auch nur der Frage, auf welche Weise der epistemische Zustand des Ich, der dieser Situation entspricht, beschrieben werden kann. Er läßt sich als das Bewußtsein einer Tendenz beschreiben, die darin besteht, die Grenzen, die durch den Bezug auf die Welt der Erfahrung gesetzt sind und die durch den Anstoß wahrnehmbar werden, im Zuge sachhaltigen Bestimmens sowohl anzuerkennen als auch auf neue Horizonte hin gleichsam ins Unendliche zu überschreiten. Da das Subjekt der Ursprung dieser seiner so gefaßten, auf die Welt der Erfahrung bezogenen Tätigkeit ist und bleibt, kann sie unter dem Begriff eines Strebens nach Kausalität überhaupt beschrieben und ihm selber zugeschrieben werden. Dieses Streben ist, so ließe sich zusammenfassend sagen, darauf gerichtet, die Totalität der Realität zu bestimmen.18 Das setzt eine vollständige Einsicht in die kognitiven Leistungen des Ich, unter denen dies möglich ist, voraus. Damit ist der formale Rahmen gegeben, in dem der Gang der Geschichte des Selbstbewußtseins sich vollzieht. Hier liegt ein Einwand nahe. Es ist gar nicht einzusehen, so ließe sich sagen, auf welche Weise das Subjekt des Bewußtseins die reflektierte Tätigkeit als seine eigene, ihm selber wesentlich zukommende Tätigkeit begreifen und unter dem Begriff eines endlich-unendlichen Strebens sich zuschreiben kann. Dies ist deswegen nicht einzusehen, so das Argument, weil der Grund der Begrenzung und Endlichkeit der Tätigkeit gar nicht in diesem Subjekt selber, sondern außer ihm liegt und ihm epistemisch somit gar nicht verfügbar ist. Daher wird es die durch den Anstoß begrenzte bzw. hinsichtlich ihrer Richtung reflektierte Tätigkeit nur als ein äußeres, ihm fremdartig erscheinendes Widerfahrnis registrieren können und sozusagen gar nicht auf den Gedanken kommen, daß dies in Wahrheit seine eigene Tätigkeit ist, die ihm nur auf eine spezifisch bestimmte Weise erscheint, die sich durch jenen Begriff des Strebens ausdrücken läßt. Zwar ist durch das Anstoßtheorem plausibel gemacht, wie »etwas in ihm [dem Ich] sein könne, was nicht durch dasselbe gesetzt sei«19, denn die Begrenzung seiner Tätigkeit muß es auf eine externe Ursache zurückführen, die ihm als solche aber gar nicht bekannt und erkennbar ist. Doch ist damit nicht erklärt, was das eigentliche Ziel der Argumentation ist, nämlich die Möglichkeit des Bewußtseins, daß

18

Vgl. W I, 277: »Das Ich fordert, dass es alle Realität in sich fasse, und die Unendlichkeit erfülle. Dieser Forderung liegt notwendig zum Grunde die Idee des schlechthin gesetzten, unendlichen Ich; und dieses ist das absolute Ich.« 19 W I, 276.

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die eingeschränkte Tätigkeit doch nur die eigene, dem Ich selber wesentlich zukommende Tätigkeit ist, die ihm im Modus jenes Strebens gegeben und begrifflich bestimmbar ist. Daher bleibt das Ich mit dieser Erklärung des Zustandekommens der ersten Bedingung seines Selbstbewußtseins doch noch ein Gegenstand ›für eine Intelligenz außer ihm‹. Dieser Einwand ist keine bloße Scharfsinnsübung. Mit ihm ist vielmehr eine jener argumentativen Schaltstellen im Netzwerk der Philosophie nach Kant identifiziert, von denen eingangs die Rede war. Es war nämlich Schelling, der diesen Einwand, wenngleich implizit, in seinem Entwurf einer Geschichte des Selbstbewußtseins im System der transzendentalen Idealismus von 1800 offenkundig an die Adresse Fichtes gerichtet hat. So sieht man sich gleich zu Beginn in eine Streitsache Schelling vs. Fichte hineingezogen, zu der man in ein geklärtes Verhältnis kommen muß, wenn man sich über die Geschichten des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant orientieren will.

II. Schelling Zu Schellings Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins ist vorab dies zu sagen. Sie bestätigt im nachhinein die oben erwähnte These vom Methodenwechsel in Fichtes früher Wissenschaftslehre. Von einer Grundsatzsystematik à la Fichte ist hier nicht mehr die Rede.20 An ihre Stelle tritt die durch-

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Vgl. hierzu Schellings Kommentar zur prinzipiellen Verfehltheit der Begründung der Philosophie durch einen obersten Grundsatz im Kontext der »Erläuterungen« zur »Deduktion des Prinzips selbst« (System, 34 ff.). Schellings Argument läßt sich, ähnlich wie Fichtes Betonung des Handlungscharakters des Ich in den Schriften zur neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, denen ebenfalls die Absage an die Grundsatzphilosophie zugrundeliegt, als modifizierte Neufassung einer Paralogismenkritik verstehen. Demnach kann das Ich als solches gar nicht zum Gegenstand eines Satzes gemacht werden, sondern kann nur auf performativem Wege realisiert werden, und zwar durch den Vollzug derjenigen Handlung, die dem Gedanken Ich zugrundeliegt. Wird das Ich hingegen in der Form eines Grundsatzes eingeführt, wird es als ein objektiver Sachverhalt aufgefaßt, der es nicht ist: »Ein Theorem ist ein Satz, der auf ein Dasein geht. Die Transzendental-Philosophie geht aber von keinem Dasein, sondern von einem freien Handeln, aus, und ein solches kann nur postuliert werden.« (System, 40) Alle weiteren deskriptiven Bestimmungen des Ich sind indessen als Prädikate in Urteilen, durch die es sich begreift und denen ihrerseits gewisse Handlungsarten zugrunde liegen, darzustellen. Vor diesem Hintergrund erscheint Fichtes Einführung des obersten Grundsatzes »Ich bin« in der Wissenschaftslehre von 1794/95 als ambivalent. Denn einerseits hält Fichte in der Nachfolge Reinholds an der Formulierung eines obersten Grundsatzes fest, andererseits soll er eben jene gar nicht objektivierbare »Tathandlung« zum Ausdruck bringen, deren »Erzählung« als Explika-

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gängig leitende Idee des Aufweises von Bedingungen des Selbstbewußtseins, die mit Fichte aus dem Postulat der Selbstreflexion des Subjekts begründet wird. Wie Fichte versteht Schelling das Ich als »ursprünglich unendliche Tätigkeit« und deswegen als »Grund – und Inbegriff aller Realität«21, und daher ist mit Fichte auch das Postulat der Selbstreflexion als Postulat einer Reflexion des Ich darüber zu verstehen, ob und auf welche Weise ihm alle Realität zukomme. Damit befinden sich Fichte und Schelling in einer denkbar engen theoretischen Konstellation. Schellings Entwurf einer Geschichte des Selbstbewußtseins setzt im System des transzendentalen Idealismus der Sache nach an eben der Stelle an, die in Fichtes Wissenschaftslehre durch das Reflexionspostulat markiert ist.22 Der oben vorgetragene Einwand ist nun in Schellings Bemerkung präsent, daß »das Entgegengesetzte (das Nicht-Ich) […] nicht wieder der Erklärungsgrund [der] Handlung sein [könne], wodurch das Ich für sich selbst endlich wird«.23 Eine solche Konzeption, das ist Schellings Argument, »erklärt die Begrenzung des Ich nur so, wie sich die [Begrenzung] eines Objekts erklären läßt, […], nicht aber ein Wissen um dieselbe«. Ganz im Sinne der obigen Überlegung fährt Schelling fort: »Bis zur Erklärung des Begrenztseins reicht die Erklärung des Dogmatikers, nicht aber bis zur Erklärung der Selbstanschauung in derselben.« Und weiter heißt es mit offenkundigem Bezug auf Fichtes Formulierung des Reflexionspostulats: »Das Ich soll eingeschränkt werden, ohne daß es aufhöre, Ich zu sein, d. h. nicht für ein Anschauendes außer ihm, sondern für sich selbst.« 24 Der Tenor dieses Einwandes ist mit dem oben vorgestellten Räsonnement der Sache nach identisch. In beiden Fällen besteht das kritische Argument darin, daß die Annahme einer externen Ursache der Begrenzung der ins Unendliche gerichteten Tätigkeit – und eine solche externe Ursache ist der Fichtesche Anstoß – nicht der Erklärungsgrund dafür sein kann, daß das Ich tion der Bedeutung jenes Grundsatzes dient (vgl. W I, 98). Zur Rekonstruktion der sog. Jenaer Grundsatzdebatte vgl. Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997. Das vorgestellte, für Fichtes und Schellings Selbstverständnis und die nachkantische Theorie des Selbstbewußtseins und deren weitere Entwicklung zentrale Argument scheint in dieser Debatte indessen keine besondere Beachtung und Diskussion erfahren zu haben; zumindest findet es sich in Franks Darstellung nicht näher berücksichtigt. 21 »Ist das Ich ursprünglich unendliche Tätigkeit, so ist es auch Grund – und Inbegriff aller Realität.« (System, 50) 22 Von der Differenz Schelling – Fichte, die sich aus Schellings Entwurf einer Philosophie der Natur ergibt, soll an dieser Stelle abgesehen werden. 23 System, 51 (Hvh. v. V.). 24 System, 52.

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ein Bewußtsein davon gewinnt, daß jene reflektierte und begrenzte Tätigkeit seine eigene, ihm wesentlich zugehörige Tätigkeit ist. Dies ist deswegen nicht möglich, so lautet das Argument, weil nur das Ich selber und nicht eine Instanz außer ihm der Grund seiner Begrenzung sein kann, wenn es denn in dieser Begrenzung sich selber soll begreifen können, und das heißt ein Bewußtsein davon gewinnen können soll, daß die begrenzte Tätigkeit seine eigene, ihm selber zugehörige Tätigkeit ist. Und daher wird das Ich in der skizzierten Weise nur wie ein von außen begrenztes Objekt, oder, was dasselbe meint, wie ein Gegenstand ›für eine Intelligenz außer ihm‹ betrachtet. Genau das soll und muß nach Maßgabe des Reflexionspostulats aber vermieden werden. Dies läßt sich in der Sicht Schellings nur dadurch vermeiden, daß der Akt der so zu nennenden erstpersonalen Reflexion den Grund der Begrenzung in sich selbst enthält. Das aber bedeutet – und dies ist die implizite fichtekritische Pointe –, daß dieser Akt als Einheit der Handlung des Setzens und des Entgegensetzens gedacht werden muß. »Im Begriff des Setzens«, so faßt Schelling die Konklusion seines Einwandes zusammen, »wird also notwendig auch der Begriff eines Entgegensetzens gedacht, also in der Handlung des Selbstsetzens auch die eines Setzens von Etwas, was dem Ich entgegengesetzt ist«.25 Das bedeutet, und damit spitzt Schelling die hier vorhandene logische Paradoxie offenbar mit Absicht und im Bewußtsein ihrer Unzuträglichkeit zu, daß das Ich »die Begrenzung selbst hervorbringt […], ohne daß es aufhöre, unbegrenzt zu sein. Es fragt sich, wie dies denkbar sei«.26 Das fragt sich in der Tat. Die Antwort auf diese Frage leitet Schellings Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins ein. An dieser Stelle verzweigen sich also die Linien der Argumentation, und eine neue Geschichte des Selbstbewußtseins wird erzählt, Schellings Geschichte. Hierbei wird der paradoxe Einheitssinn des von Schelling sogenannten synthetischen Aktes des Selbstbewußtseins27 als Beginn der Geschichte des Selbstbewußtseins interpretiert. Genauer gesagt, wird er als Ausdruck eines ursprünglichen Streits absolut entgegengesetzter Tätigkeiten bzw. Richtungen im Ich interpretiert, der durch den Gang der Geschichte des Selbstbewußtseins aufgelöst werden soll.28 25

System, 51. System, 52. 27 »Das Ich ist also selbst eine zusammengesetzte Tätigkeit, das Selbstbewußtsein selbst ein synthetischer Akt.« (System, 60). 28 Es verdient angemerkt zu werden, daß diese Idee wahrscheinlich ihre Wurzeln in Hölderlins Konzeption eines »allgemeinen Widerstreits im Menschen« hat, den Hölderlin als »Streben nach Absolutem und Streben nach Begrenzung« beschreibt. Diese Kon26

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Dieser Widerstreit, das ist das entscheidende Argument für Schellings Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins, kann nicht »in einer einzigen Handlung, sondern nur in einer unendlichen Reihe von Handlungen«29 aufgelöst werden. Dem würde allerdings eine nicht zu erreichende Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Welt entsprechen. Daraus ergibt sich der von Fichte sogenannte pragmatische Charakter der Geschichtsschreibung. Denn nur diejenigen Handlungen können dargestellt werden, die, so drückt es Schelling aus, »in der Geschichte des Selbstbewußtseins gleichsam Epoche machen«.30 Dies sind die generischen Handlungen, die denjenigen kognitiven Funktionen zugrundeliegen, deren Begriffe als je verschiedene, wenngleich unzureichende Formen des Ausgleichs jenes Antagonismus fungieren und damit die Bedingungen sind, unter denen das Subjekt des Bewußtseins einen Begriff von sich selbst gewinnen – sich explizit machen – und sich damit objektiv werden soll. Darauf kann im einzelnen hier nicht eingegangen werden. Dasjenige Objekt nun, mit Bezug auf das das Ich sich selbst sozusagen restlos gegenständlich wird, ist für Schelling ein vom Genie produziertes Kunstwerk. Im Kunstwerk nämlich ist unter den Bedingungen der Endlichkeit eine Totalität an Realitätsgehalt repräsentiert, in dem das Ich, einschließlich seiner ihm verborgenen bzw. unbewußten Naturkräfte, sich selbst zum Objekt wird und als dessen Organ Schelling am Ende noch einmal die Einbildungskraft zitiert.31 Darin hat man die eigentliche Botschaft und Pointe von Schellings Entwurf einer Geschichte des Selbstbewußtseins im System des transzendentalen Idealismus zu sehen: Der Gang dieser Geschichte endet mit der Einsicht, daß die Konstruktion einer Theorie des Selbstbewußtseins in Wahrheit die Konstruktion eines logisch-begrifflich prinzipiell nicht Kon-

zeption hat Schelling vermutlich aus Gesprächen mit Hölderlin aufgenommen, wie sich anhand der Entstehung von Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus zeigen ließe: Die Formel vom »ursprünglichen Widerstreit im Geiste« tritt hier zum ersten Mal im 3. Brief auf, der nach der Begegnung mit Hölderlin entstanden ist. Verbunden mit dem Fichteschen Konzept der Einbildungskraft hat Schelling sie zur Grundlage seines Entwurfs einer Geschichte des Selbstbewußtseins gemacht. Das belegt die Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur von 1797, der erste Entwurf des Systems von 1800 und der dort schon so genannten Geschichte des Selbstbewußtseins. So darf Hölderlin vermutlich auch für das nachkantische Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins in gewisser Weise als spiritus rector gelten. 29 System, 67. 30 System, 67. Es ist somit weniger, wie es naheliegend erscheint, ein handlungstheoretischer, als vielmehr ein theorieökonomischer Aspekt, der dem Ausdruck »pragmatisch« zugrunde liegt. 31 Vgl. System, 297.

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struierbaren ist. Die Domäne, in der das Ich sich auf eine seinem Begriff angemessene Weise darstellen und das heißt, sich selbst objektiv werden und damit allererst ein zureichendes Verständnis von sich selber gewinnen kann, diese Domäne ist nicht die Philosophie, sondern die Kunst.

III. Hegel Dem ist Hegel bekanntlich entgegengetreten. Nicht die Kunst, sondern allein die Philosophie ist in der Lage, auf eine methodisch kontrollierte Weise die Bedingungen anzugeben, unter denen der Begriff des Selbstbewußtseins Sinn und Bedeutung haben kann. Hegels berühmtes Wort, daß alles darauf ankomme, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«,32 formuliert das Programm seiner Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins. Denn das Wahre als Subjekt aufzufassen und auszudrücken, das ist Hegel zufolge nur auf dem Wege der Konstruktion eines logischen Prozesses möglich, in dem das Subjekt in eine Beziehung zu etwas von ihm Unterschiedenen eintritt, in dem es sich darstellt und realisiert und dadurch allererst einen inhaltlich bestimmten Begriff von sich gewinnt. Das ist der Sinn des ebenso berühmten Wortes, daß das Wahre das Ganze sei. Dieses Ganze ist das Resultat einer logischen Entwicklung, die das Subjekt als Genese und Realisierung seines eigenen Begriffs erfährt und beschreibt.33 Die eingangs zitierte Formel von der ausführlichen »Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft« meint indessen etwas anderes. Sie bezieht sich gleichsam auf die Vorgeschichte zu diesem Prozeß, der die Entwicklung des Systems der Philosophie als Wissenschaft betrifft, in Hegels Phänomenologie des Geistes. Ihr liegt die Einsicht zugrunde, daß diejenige Relation, die für die logische Struktur des Begriffs des Selbstbewußtseins konstitutiv ist, und dies ist, formelhaft ausgedrückt, die Konstitution der Selbstbeziehung in der Beziehung auf Anderes, nur dann als Prinzip einer philosophischen Theorie über das, was in Wahrheit wirklich ist, gerechtfertigt werden kann, wenn sie sich in Konkurrenz zu anderen Auffassungen über die Grundstruktur der Wirklichkeit in einer Weise bewährt

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TWA 3, 23. »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.« (TWA 3, 24) 33

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und behauptet hat, die von diesen Auffassungen selber akzeptiert werden kann. Erst dann ist das begriffliche Niveau dessen, was Hegel »Wissenschaft« nennt, auf eine alternativelose Weise erreicht und etabliert. Es ist nun eine der Pointen Hegels, daß eine spezifische Interpretation des Sachverhalts des Selbstbewußtseins als eine der konkurrierenden Optionen erscheint, deren Wahrheitsanspruch zu destruieren ist. Diese Destruktion findet sich zugleich als eine Kritik des Fichteschen Ichbegriffs instrumentiert. Damit ist ein weiterer Knotenpunkt im Netz der nachkantischen Diskussionen um die Möglichkeit von Selbstbewußtsein gegeben. Der Auftritt dieser Option und der systematische Kontext ihrer Kritik wird allerdings erst dann durchsichtig, wenn man sich über die Methode, die der Darstellung des Gangs jener ›Bildungsgeschichte‹ insgesamt zugrunde liegt, in groben Zügen verständigt hat. Hierbei wird eine weitere Eigentümlichkeit deutlich; sie ist darin zu sehen, daß der operative Grundbegriff dieser Methode gar nicht der des Selbstbewußtseins, sondern der des Bewußtseins bzw. die Implikation von Bewußtsein und Selbstbewußtsein ist. Dies wird aus Hegels Auffassung von Wissen und Wahrheit im Kontext der Phänomenologie des Geistes verständlich.

1. Wissen und Wahrheit Wenn von Hegels Auffassung von Wissen und Wahrheit in der Phänomenologie des Geistes die Rede ist, dann ist an die Erklärung in deren Einleitung zu erinnern, wie »die abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit […] in dem Bewußtsein vorkommen«. Sie kommen so vor, daß das Bewußtsein etwas von sich unterscheidet, auf das es sich zugleich bezieht.34 Man kann darin leicht eine strukturelle Minimalbedingung sehen, die erfüllt sein muß, wenn ein Subjekt des Bewußtseins über ein begrifflich reflektiertes und begründetes Wissen von seinen Gegenständen, das sich in Urteilen artikuliert, verfügen soll. Sie läßt sich auf eine theoretisch unvorgreifliche Weise dahingehend paraphrasieren, daß das Subjekt des Bewußtseins sich so auf einen Gegenstand beziehen muß, daß er von einer bloß subjektiven Beziehung auf ihn unabhängig und für sich bestehend gedacht werden kann. Es ist nun Hegels zentrale These, die sowohl über die Konzeption der Phänomenologie des Geistes und insofern über den Sinn der Rede von der »Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft«, als auch über die Anlage des Hegelschen Systems der Philosophie insgesamt Auf34

Vgl. TWA 3, 76.

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schluß gibt, daß damit die Struktur von Selbstbewußtsein gar nicht angemessen beschrieben ist. Das ist aus dem, was bisher bereits zur Sprache gekommen ist, einzusehen. Denn zwar ist in dem eben vorgestellten »Satz des Bewußtseins«, wie er genannt worden ist,35 ein Selbstverhältnis des Bewußtseins enthalten, sofern ein Bewußtsein auf seiten des epistemischen Subjekts davon vorliegt, was ihm als wahr gilt und wovon es ein Wissen hat.36 Damit ist aber offensichtlich nicht derjenige Begriff von Selbstbewußtsein gegeben, von dem zuvor die Rede war und dessen Gehalt darin besteht, daß das Selbst in der Beziehung auf etwas von ihm Unterschiedenes sich selber objektiv wird und eben darin sich als das, was es seinem Begriff nach ist, realisiert. Dafür hat Hegel bekanntlich den Begriff des Geistes geprägt. So bietet es sich an, Hegels »Satz des Bewußtseins« um einen »Satz des Geistes« zu erweitern, der die Grundstruktur von Selbstbewußtsein zum Ausdruck bringt. Dieser Satz würde lauten: Das Bewußtsein unterscheidet etwas von sich, auf das es sich so bezieht, daß es sich darin zugleich auf sich bezieht. Wenn irgendein Satz als Prinzip der Philosophie Hegels taugt, dann dürfte es dieser Satz sein. Er beschreibt die Grundstruktur dessen, was ›Subjekt sein‹ heißt, und was Hegel zufolge mit dem identisch ist, was in Wahrheit wirklich ist.37 Mit ihm hat Hegel ein neues Kriterium der Rationalität in die neuzeitliche Philosophie eingeführt, das in dem nachkantischen Projekt einer Geschichte des Selbstbewußtseins von Anfang an angelegt war. Denn die Bedingungen des Selbstbewußtseins, von denen in dieser Geschichte ›erzählt‹ wird, sind eben die Bedingungen, unter denen das Selbst sich realisiert und darin für sich selbst zum Objekt wird. Unter dieser Perspektive ließe sich die gesamte Philosophie Hegels als eine Geschichte des Selbstbewußtseins im Sinne einer Geschichte der Selbsterfassung des Geistes verstehen. Kraft seines Begriffs, so ließe sich nun im Blick auf das bisher Ausgeführte sagen, wird der Geist zum Historiographen der Geschichte seines Selbstbewußt35

Vgl. hierzu den inzwischen klassischen Beitrag von Konrad Cramer: »Bemerkungen zu Hegels Begriff vom Bewußtsein in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes«, in: Der Idealismus und seine Gegenwart, hg. v. U. Guzzoni, B. Rang u. L. Siep, Hamburg 1976, 75–100; wiederabgedruckt in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. v. R.-P. Horstmann, Frankfurt/M. 1978, 360–393. 36 »[…] das Bewußtsein ist einerseits Bewußtsein des Gegenstandes, andererseits Bewußtsein seiner selbst; Bewußtsein dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewußtsein seines Wissens davon.« (TWA 3, 77) 37 »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist.« (TWA 3, 23)

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seins, in der sich ihm zugleich eine Welt, die er als seine Welt begreift, erschließt. Davon ist das Programm einer Phänomenologie des Geistes und der mit ihr verfolgte bildungsgeschichtliche Anspruch methodisch und sachlich unterschieden. Hier geht es zunächst darum, das Grundverhältnis des Geistes als alternativlos wahre Aussage über die Struktur dessen, was in Wahrheit wirklich ist, zu sichern. So liegt es nahe, die Überlegenheit dieses Prinzips anhand einer kritischen Darstellung von alternativen Modellen der Weltdeutung – Hegel spricht hier von »Gestalten einer Welt«38 – zu demonstrieren. Die methodische Reflektiertheit dieser Demonstration besteht zum einen im Nachweis der spezifisch immanenten Defekte der alternativen Auffassungen über das, was da jeweils als Gegenstand von Wissen und Wahrheit behauptet wird; sie besteht zum anderen in der Folgeordnung der Darstellung und Kritik dieser Modelle. Denn eine solche Darstellung kann nur dann als ein Argumentationsverfahren akzeptiert werden, mit dem die Überlegenheit des Geistverhältnisses demonstriert wird, wenn die operativen Grundbegriffe der alternativen Modelle der Weltdeutung in einem solchen logischen Zusammenhang dargestellt werden können, daß die immanent begründete und aus der jeweiligen Perspektive heraus nachvollziehbare Überwindung der Defekte nicht nur die Existenz der verschiedenen Modelle samt ihren Defekten rechtfertigt, sondern auch im Begriff des allen anderen Konzeptionen gegenüber überlegenen Geistverhältnisses terminiert. Daraus wird eine weitere Eigentümlichkeit des Gangs der Phänomenologie des Geistes verständlich. Sie besteht darin, daß das Geistverhältnis selber zunächst in einer defizienten Fassung exponiert wird, der die formale Struktur des Bewußtseins, wie sie im oben erwähnten Satz des Bewußtseins ausgedrückt ist, zugrunde liegt. Das bedeutet, daß der Geist sich in seiner Beziehung auf das, was er von sich unterscheidet und als einen Gegenstand von Wissen und Wahrheit begreift, sich zunächst nur wie auf einen einfachen Gegenstand des Bewußtseins bezieht, ohne über ein reflektiertes und begrifflich vermitteltes Wissen davon zu verfügen, daß er in dieser Beziehung sich in Wahrheit nur auf sich selbst bezieht. Die Überwindung dieser Defizienz – sie entspricht dem, was Hegel den »sich entfremdeten Geist«39 nennt –, und die zugleich eine Überwindung der Gültigkeit des Paradigmas der Bewußtseinsrelation ist, ist das, was Hegel im eigentlichen Sinne als »Bildung«40 ver38

TWA 3, 326. Vgl. TWA 3, 359 ff. 40 Vgl. TWA 3, 327: »Der in sich selbst […] entzweite Geist beschreibt in seinem gegenständlichen Elemente als in einer harten Wirklichkeit die eine seiner Welten, das Reich der Bildung […].« 39

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steht. Sie ist das Thema und die Aufgabe der letzten Schritte im Gang der Phänomenologie des Geistes, der in der Gestalt des »absoluten Wissens« an sein Ziel kommt. Hier erst ist das Subjekt des Wissens so auf einen von ihm unterschiedenen Gehalt bezogen, daß es darin ganz bei sich ist.41 Damit ist das Niveau der »Wissenschaft« erreicht. Das ist der sachlich–methodische Kern der Hegelschen Idee einer Bildungsgeschichte des Bewußtseins zur Wissenschaft.

2. Hegels Kritik des Selbstbewußtseins »Mit dem Selbstbewußtsein«, so kündigt Hegel dessen ersten prominenten Auftritt in der Bildungsgeschichte des Bewußtseins an, »sind wir […] in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten«.42 Fragt man, worin die hier thematische logische Struktur des Sachverhalts des Selbstbewußtsein besteht und inwiefern mit ihm das »Reich der Wahrheit« eröffnet sei, dann ist das folgende zu sagen. Während im Gang der Phänomenologie des Geistes zuerst der einzelne, unmittelbar sinnlich präsente Gegenstand, sodann der einzelne materielle Gegenstand mit seinen wechselnden Eigenschaften und schließlich das Spiel der Kräfte, durch die Gegenstände und ihre mathematisch beschreibbaren Verhältnisse zueinander bestimmt sind, als Kandidaten für eine Theorie über das, was in Wahrheit als wirklich zu gelten hat, vorgestellt und als untauglich abgewiesen worden waren, wird der Sachverhalt des Selbstbewußtseins von Hegel als ein theoretisches Modell eingeführt, in dem zum ersten Mal eine Übereinstimmung zwischen subjektivem Wissen und objektiver Wahrheit erreicht sein soll. Das Argument dafür ergibt sich aus der logischen Struktur und dem epistemischen Status von Selbstbewußtsein. Im Selbstbewußtsein, gefaßt als dasjenige Bewußtsein, das ein Subjekt von sich selbst als dem gemeinsamen Referenten aller seiner kognitiven Leistungen hat, bezieht sich das Subjekt auf eine durch keine weiteren Hinsichten vermittelte Weise nur auf sich selbst und nicht auf einen davon unterschiedenen Gegenstand. 41

Die folgende Erklärung des Begriffs des absoluten Wissens kann daher die Bewußtseins-, Selbstbewußtseins- und die Geistrelation miteinander verschränken: »[Das Wissen] hat einen Inhalt, den es von sich unterscheidet; denn es ist die reine Negativität oder das Sichentzweien; es ist Bewußtsein. Dieser Inhalt ist in seinem Unterschiede selbst das Ich, denn er ist die Bewegung des Sichselbstaufhebens oder dieselbe reine Negativität, die Ich ist. Ich ist in ihm als unterschiedenem in sich reflektiert; der Inhalt ist allein dadurch begriffen, daß Ich in seinem Anderssein bei sich selbst ist.« (TWA 3, 583) 42 TWA 3, 138.

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Dieser Selbstbezug des Subjekts ist täuschungsfrei, irrtumsimmun und kann daher als ein ausgezeichneter Fall von Wissen gelten. Diesen Sachverhalt beschreibt Hegel mit der Formulierung, daß in diesem Falle »die Gewißheit« – gemeint ist die Gewißheit, die das epistemische Subjekt von sich selbst besitzt – »ihrer Wahrheit gleich ist«. Diese Gewißheit ist daher »sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtsein ist sich selbst das Wahre«.43 Der Begriff, über den das Subjekt des Bewußtseins von sich selbst verfügt, so läßt sich diese Formulierung Hegels paraphrasieren, bezieht sich in diesem Falle zutreffend auf seinen Gegenstand, denn dieser Gegenstand ist kein anderer als das Subjekt selber. Unter Rückgriff auf die in der Einleitung exponierte Struktur des Satzes des Bewußtseins ergibt sich die folgende, unmittelbar anschließende Aussage, die bewußt mit einer scheinbaren Paradoxie spielt: »Es ist darin zwar auch ein Anderssein; das Bewußtsein unterscheidet nämlich [etwas von sich], aber ein solches, das für es zugleich ein nicht Unterschiedenes ist.«44 Diese Paradoxie löst sich im Blick auf die doppelte Bedeutung auf, die im Begriff des Unterscheidens bzw. des Unterschiedes liegt. Es ist die Doppelung eines formalen und eines inhaltlichen Aspekts. In formaler Hinsicht ist Bewußtsein charakterisiert durch einen Unterschied zwischen den logischen Positionen des Wissenden und des Gewußten, dem Subjekt des Wissens und dem, was es weiß, dem Gegenstand bzw. dem Sachverhalt, der in einem Urteil zum Ausdruck gebracht wird. In inhaltlicher Hinsicht ist es die besondere Qualität des Gegenstandes, die von dem Subjekt, das sich mit einem Urteil auf ihn bezieht, unterschieden ist. Im Falle des Selbstbewußtseins liegt nun zwar eine epistemische Relation des Wissenden zu dem Gewußten und damit der formale Unterschied zwischen Wissen und Gewußtem vor. Doch ist dieser Unterschied kein seinem Inhalte nach bestimmter. Denn an der Stelle des Gewußten steht nur das Subjekt des Bewußtseins selber. Er ist daher kein realer, und das heißt, kein sachhaltiger, durch einen bestimmten Sachgehalt begründeter Unterschied. Damit ist das Entscheidende schon in den Blick gebracht. Wenn nämlich der Sachverhalt des Selbstbewußtseins so beschrieben werden muß, daß der Unterschied, der für die Bewußtseinsrelation definierend ist, nur formal und nur innerhalb der Beziehung des Subjekts des Bewußtseins auf sich

43

TWA 3, 137: »Nunmehr aber ist dies entstanden, was in [den] früheren Verhältnissen nicht zustande kam, nämlich eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist, denn die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtsein ist sich selbst das Wahre.« 44 TWA 3, 137.

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selbst besteht und er nicht durch einen seinem Gehalte nach bestimmten Gegenstand begründet ist, sondern eben nur eine rein formale Differenz bei identischen Relata darstellt, dann ist der Sachverhalt des Selbstbewußtseins offenbar kein Kandidat, der als ein tragfähiges Modell der Weltinterpretation gelten kann. »Die Gewißheit«, wie Hegel sich ausdrückt, »die ihrer Wahrheit gleich ist«, hat im Falle des hier thematisierten Selbstbewußtseins das Moment der inhaltlich bestimmten Unterschiedenheit eines realen Gegenstandes verloren, das für den bewußtseinstheoretisch interpretierten Begriff der Wahrheit zu fordern ist. Der bloß formale Unterschied zwischen Wissendem und Gewußtem im Selbstbewußtsein bringt es daher nicht zu einem inhaltlich bestimmten, gegenständlichen Sein und Bestehen. Was hier vorliegt, nennt Hegel eine »bewegungslose Tautologie«,45 die mit dem Satz des Selbstbewußtsein Ich bin Ich zum Ausdruck gebracht wird. Diesen Satz hatte bekanntlich Fichte im ersten Paragraphen seiner Wissenschaftslehre aufgestellt, wenngleich nicht als Grundsatz seiner Philosophie, für den der Satz Ich bin steht, der den Satz Ich bin Ich allerdings impliziert. Es ist Hegels kritische, und insofern auch Fichte-kritische These, daß dieser Gedanke ein Ungedanke ist, und dies ist er genau deswegen, weil in ihm kein aufweisbarer deskriptiver Gehalt oder kein inhaltlich bestimmtes Objekt des Bewußtseins auszumachen ist. Und daher ist der Ausgang der Philosophie von dem reinen Ich als dem obersten Prinzip einer Rekonstruktion der Grundstrukturen der Welt ein Ausgang, der buchstäblich zu nichts führt – eben eine leere Tautologie: Ich bin Ich. Der Fortgang der Überlegungen ist als Überwindung dieser Leere zu verstehen.

3. Begierde Um diesen Fortgang verstehen zu können, hat man sich den Kontext, in dem die Gestalt des Selbstbewußtseins eingeführt wird, vor Augen zu halten. Er ist nicht so verfaßt, wie es aus Fichtes früher Wissenschaftslehre bekannt ist, in der das Ich ohne Bezug auf konkrete Gehalte des Bewußtseins im Ausgang von einem wahren Urteil, dem Urteil »A ist A«, eingeführt wird. Das Ich der 45

TWA 3, 138: »Aber in der Tat ist das Selbstbewußtsein die Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung; aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterschiedet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein Anderssein aufgehoben; der Unterschied ist nicht, und es nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich; indem ihm der Unterschied nicht auch die Gestalt des Seins hat, ist es nicht Selbstbewußtsein.«

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Phänomenologie des Geistes hat sich im Unterschied zum Fichteschen Ich aus dem ihm systematisch vorgängigen Sachverhalt des Bewußtseins, und zwar aus der Negation der Beziehung zu Anderem, entwickelt; nur deswegen ist es die an Inhalt gänzlich leere Beziehung auf sich selbst geworden. Damit aber würde die Welt und das, was als wirklich gelten kann, sozusagen auf die Punktualität der Gewißheit seiner selbst zusammenschrumpfen, in der es gar keine materialen Gehalte gäbe, mit Bezug auf die wahre Aussagen möglich sein könnten. Solche Gehalte müssen also wiederhergestellt werden, wenn das Ich sich als eine Position von Wissen und Wahrheit, genauer als eine bewußtseinstheoretisch interpretierte Position, in der beides übereinstimmt, verstehen will. Eine solche Wiederherstellung kann indessen nicht durch einen Rückfall in die schon überwundenen Positionen der sinnlichen Gewißheit oder der Wahrnehmung oder des Spiels der Kräfte geschehen. Sie muß vielmehr unter Zugrundelegung und im Ausgang von der nunmehr erreichten Form von Selbstbewußtsein erfolgen. Soll dies möglich sein, dann muß ein Verhältnis zu realen materialen Gehalten und Sachverhalten etabliert werden, die so beschaffen sind, daß das Ich sich von sich aus in ihnen und vermittels ihrer objektivieren kann, um auf diese Weise den Verlust des Objektcharakters in der Grundstruktur des Bewußtseins wieder einzuholen und diesen mit der Struktur von Selbstbewußtsein zu verbinden. Aus der Perspektive des reinen Selbstbewußtseins kann diese Forderung nun zunächst nur so erfüllt und realisiert werden, daß dem Umstand Rechnung getragen wird, daß die sinnliche Welt für das Ich kein wahres Sein und Bestehen hat oder, wie Hegel es ausdrückt, daß die ganze Ausbreitung der sinnlichen Welt, die es sozusagen im Rücken hat, zwar erhalten, für das Selbstbewußtsein aber durchgängig »mit dem Charakter des Negativen bezeichnet ist«, während es sich selbst als das »wahre Wesen«46 versteht. Soll es nun sowohl zu einer Restitution der bewußten Beziehung auf Objekte als auch zu einer dadurch vermittelten Beziehung des Subjekts auf sich selbst kommen, dann kann dies aus den skizzierten systematischen Gründen zunächst nur im Modus des Setzens eines von ihm real unterschiedenen Objekts und zugleich der Negation dieses Objekts geschehen, wodurch und worin das Selbstbewußtsein sich gleichsam beweist, genauer, zu beweisen und zu objektivieren sucht. Dieses setzende und negierende Verhältnis zu den Dingen beschreibt Hegel als Begierde.47 Im Verhältnis der Begierde negiert das Ich einen selb46 47

TWA 3, 139. Es ist darauf hinzuweisen, daß der Gegenstand, auf den die Begierde bezogen ist,

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ständig für sich bestehenden Gegenstand dadurch, daß es sich ihn aneignet und in seine Verfügung bringt. Damit beweist es bzw. sucht es durch die Tat und in der Beziehung auf die Welt der Objekte zu beweisen, daß nur es selber das wahre Wesen ist.48 Die Kritik und Destruktion dieser Position ist indessen leicht absehbar. Das Subjekt wird alsbald einsehen, daß es gar keine auf Dauer gestellte Befriedigung seiner Begierde erfahren und damit auch nicht sich selbst als das »wahre Wesen« behaupten kann. Es vernichtet nämlich den Gegenstand gar nicht und beweist sich auch nicht als seinen Meister; vielmehr bestärkt und bestätigt es nur dessen Selbständigkeit. So ist die Begierde einerseits an den Gegenstand als etwas Nichtiges, genauer gesagt, etwas zu Vernichtendes gebunden, andererseits, und das ist das Entscheidende, braucht sie, um sich befriedigen zu können, doch stets einen Gegenstand, den sie für ihre Zwecke stets von neuem erzeugen muß. In der Form der Begierde vermag das Selbstbewußtsein daher gar nicht zu einer konsistenten Objektivierung seiner selbst und damit zur Wahrheit der Gewißheit seiner selbst zu gelangen. Das ist der Gehalt und Ertrag der ersten Epoche der Geschichte des Selbstbewußtseins in Hegels Phänomenologie des Geistes. So sehr Hegels Diagnose der Defizienz des reinen Selbstbewußtseins sowie der Substanz- und Haltlosigkeit der Begierde einleuchtet, so wenig vermag indessen die darin enthaltene Fichte-Kritik zu überzeugen. Es ist Hegel entgegenzuhalten, daß dem reinen Selbstbewußtsein in der Philosophie Fichtes nicht die Funktion eines selbstgenügsamen Prinzips der Weltdeutung zukommt; vielmehr ist es, folgt man der Grundsatzsystematik der frühen Wissenschaftslehre, ein Strukturelement des Sachverhalts des Bewußtseins, für den die Funktion des Unterscheidens und die Etablierung eines logischen Raums möglicher Prädikationen definierend ist; eben dies sind die Funktionen des zweiten und dritten Grundsatzes. Damit entspricht es formal eher dem von Hegel in der Einleitung namhaft gemachten Implikationsverhältnis von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß auch das Fichtesche Ich eine leere Vorstellung und insofern »nicht etwas« ist: »es hat kein Prädikat und Hegel zufolge »ein Lebendiges« (TWA 3, 139) ist. Auch diese Bestimmung ergibt sich aus der vorhergehenden systematischen Entwicklung; darauf kann und muß hier indessen nicht näher eingegangen werden. 48 Der anthropologische Ertrag dieser Überlegung wäre darin zu sehen, daß in der Begierde der Mensch in Wahrheit gar nicht so sehr den Besitz des begehrten Gegenstandes sucht, sondern sich selbst – sich selbst sucht er zu realisieren durch das und im Gefühl der Befriedigung seiner Begierde und in der Beziehung auf von ihm unabhängige Gegenstände.

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kann keins haben«.49 In dieser inhaltlichen Leere und der fehlenden Gegenständlichkeit des reinen Selbstbewußtseins ist das systematische Motiv zu sehen, das für Fichte das Movens des Gangs der Geschichte des Selbstbewußtseins ist. Denn zum einen dient dieser Gang dazu zu zeigen, »wie ein Objekt möglich wird«50, zum anderen wird das Ich in seiner Reflexion, »ob es Realität habe«, seinerseits erst zu einem »Etwas«51, und das heißt, es wird für sich selber zu einem Objekt möglicher Prädikationen. Der Ausgang des Ich aus seiner strukturbedingten Ungegenständlichkeit ist daher für Fichte und auch für Hegel das systematische Motiv der Geschichte des Selbstbewußtseins. Abgesehen davon, daß in Hegels Bildungsgeschichte des Geistes dieser Form von Selbstbewußtsein andere Formen von Bewußtsein vorausgehen, und abgesehen auch davon, daß die Phänomenologie des Geistes nicht, wie die Fichtesche Wissenschaftslehre, eine Theorie des subjektiven Geistes, sondern vielmehr der »Gestalten einer Welt« ist, ist die entscheidende systematische Divergenz hinsichtlich des Fundaments und der Durchführung einer Theorie des Selbstbewußtseins vor allem in der Zielbestimmung der Phänomenologie des Geistes zu sehen, die zugleich die konzeptionelle Grundlage der von Hegel sogenannten »Wissenschaft« ist. Die logische Struktur jenes absoluten Wissens, in dem »das Ich in seinem Anderssein bei sich selbst ist«52, ist die Spitze gegen Fichte, dessen Ich sich in einer unaufhebbaren Differenz zu seinem Anderen, der Sphäre des Nicht-Ich, hält. Diese Struktur, die über die Beziehung auf Anderes vermittelte Selbstbeziehung des Ich, sah der Schelling des »Systems« allein in der Kunstanschauung, in der die Intelligenz »sich selbst völlig objektiv geworden«53 ist, verwirklicht. Will man also die Wahrheit über die Geschichten des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant erfahren, dann kommt alles darauf an, der internen Logik dieser Konzeption Hegels und ihrer Leistungskraft hinsichtlich der Konstruktion eines Systems der Domänen, in denen das Ich sich darstellt und realisiert, auf die Spur zu kommen. Zur Selbsterkenntnis des Geistes gehört nun in der Sicht Hegels auch, daß eingesehen wird, daß die Natur genau diejenige Domäne ist, auf die der Geist sich als von ihm unterschiedenes Anderes und an ihm selber Äußerliches bezieht, daß er sich aber so darauf bezieht, daß er sich darin doch nur

49 50 51 52 53

W I, 109. W I, 271. W I, 274. TWA 3, 538. System, 286, Anm. 29.

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auf sich bezieht. Damit erscheint die Philosophie Hegels als ein Epos vom Selbstbewußtsein, in dem die Natur nicht, wie Schelling es sieht, eine Station auf der Odyssee des Geistes ist, »der wunderbar getäuscht sich selber suchend, sich selber flieht«54, sondern als eine Station auf der Fahrt, die ihn auf der Suche nach dem, was in Wahrheit wirklich ist, am Ende zu sich selbst zurückbringt, bereichert um die Erkenntnis, daß er selbst die Welt im Innersten zusammenhält. Man darf wohl sagen, daß die Frage, ob das alles wahr ist, bis heute immer noch keine überzeugende Antwort gefunden hat. Daß sie heute kein systematisches Interesse mehr verdient, das wird man wohl nicht gut sagen können.

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System, 299.

Hegels genealogische Reflexion der Kunst Gunnar Hindrichs

I. Unser Verständnis dessen, was genealogisches Denken sei, ist geprägt von Nietzsche und Foucault. Die Genealogie der Moral oder die Geschichte der Sexualität haben das Verfahren, die historischen Wurzeln eines Tatbestandes freizulegen, so eingefärbt, daß es durch das Wissen um seinen Ursprung den Tatbestand kompromittiert und delegitimiert. Die Einsicht in die Gewordenheit eines Tatbestandes richtet sich gegen ihn. Genealogie wird zur Kritik.1 Dieser Vorgang impliziert, daß der genealogisch betrachtete Tatbestand nicht einfach nur besteht, sondern mit einem bestimmten Anspruch auf Geltung verbunden ist. Denn das Bestehen oder Nichtbestehen eines Tatbestandes läßt sich nur dann delegitimieren, wenn es überhaupt mit einem Legitimitätsanspruch verbunden ist. Und Legitimität können nur solche Tatbestände beanspruchen, die neben ihrem Bestehen mit Geltung einhergehen. Das genealogische Denken richtet sich also auf Tatbestände, die als geltende bestehen, und seine Suche nach deren historischen Wurzeln ist die Suche nach einer die Geltung kompromittierenden Geschichte. Kurz, Geltung wird durch den Hinweis auf eine bestimmte Genesis des Geltenden beschädigt. In diesem Verständnis des genealogischen Denkens sind mehrere Begriffe im Spiel: Genesis, Geltung und Kritik. Um uns nicht durch die Suggestivkraft, die Nietzsche und Foucault besitzen, zu sehr in deren Fahrwasser ziehen zu lassen, seien diese Begriffe und ihr Verhältnis unabhängig von den beiden prägenden Genealogen bedacht. Das genealogische Denken zielt ja keineswegs eindeutig auf die Delegitimierung von Geltungsansprüchen. In seiner Form als Ahnenkunde geht es ihm zunächst einmal nur um die Darlegung von Familienverhältnissen. Mit Hilfe solcher Darlegung lassen sich freilich Ansprüche, die sich auf Abstammung gründen, überprüfen. Dann

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Rudi Visker: Michel Foucault. Genealogie als Kritik, München 1991; Raymond Geuss: »Kritik, Aufklärung, Genealogie«, in: Axel Honneth und Martin Saar (Hrsg.): Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/ M. 2003, 145–156; Martin Saar: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/M. 2007 (Theorie und Gesellschaft 59).

Hegels genealogische Reflexion der Kunst

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wird auch die Ahnenkunde kritisch: Sie unterscheidet zwischen illegitimen und legitimen Ansprüchen, die sich aus Familienverhältnissen ergeben. Dies gibt uns einen Hinweis auf die Eigenart dessen, was sich genealogisch kritisieren läßt. Ansprüche, die sich ahnenkundlich überprüfen lassen, können nur solche Ansprüche sein, die sich auf erworbene Rechte, nicht auf angeborene Rechte berufen. Die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Rechten stammt aus dem Naturrecht und besagt: Ein angeborenes Recht (ius connatum) ist ein Recht, das einem jedem Menschen aufgrund seiner Natur zu eigen ist, während ein erworbenes Recht (ius acquisitum) sich aus einem bestimmten Faktum herleitet, das zu der menschlichen Natur hinzukommt.2 So hat man etwa das Recht auf den Königstitel durch das Faktum erworben, daß man unter bestimmten Umständen geboren wurde, während das Recht auf bestimmte Körpertätigkeiten einem aufgrund der selbsterhaltenden Menschennatur angeboren ist. Im Falle von Ansprüchen, die sich auf angeborene Rechte berufen, fände eine ahnenkundliche Kritik nun gar keinen Ansatzpunkt. Denn angeborene Rechte ließen sich nicht aus Forschungen über Familienverhältnisse aufzeigen oder abweisen, da jeder Mensch sie bereits als Mensch hätte. Anders im Falle von Ansprüchen, die auf erworbenen Rechten beruhen. Hier kann das kritische Geschäft der Ahnenkunde einsetzen. Indem die Abstammung überprüft wird, wird das Faktum, auf dem das Recht beruht, überprüft, und das Ergebnis vermag die Legitimität des Anspruchs je nachdem zu sanktionieren oder zu kompromittieren. Der Blick auf die Rechtsfragen der Ahnenkunde lehrt etwas Grundsätzliches über das, dessen Geltung genealogisch durchleuchtet werden kann. Gäbe es Geltendes – Normen, Werte, Rechte –, dessen Geltung der Natur der Sache entspränge, so verfügte die Genealogie über keinen Ansatz. Genealogisch untersucht werden könnte nur die Vorstellung davon, daß es überhaupt in der Natur der Sache begründete Geltung gebe, und die Voraussetzung zu einer derartigen Untersuchung wäre, daß die Vorstellung von in der Natur der Sache gründender Geltung selber nicht aus der Natur der Sache heraus gelte. Das genealogische Denken beschäftigt sich daher von Anfang an mit erworbener Geltung, auch da, wo es sich nicht mit der Sphäre des Rechtes im engeren Sinne beschäftigt. Aber um Geltung geht es ihm immer. Auch das kann der Blick auf die Ahnenkunde lehren. Die Ahnenkunde setzt dann ein, wenn Familienverhältnisse unklar sind und man nach Klarheit verlangt. Das scheint nahezulegen, daß die Genealogie nicht nur zweifelhaften Rechtsansprüchen, sondern einer bloßen Neugier nach Kenntnissen entspringe. Doch das Verlangen nach Klarheit zeigt, daß es hier um mehr geht als um 2

Christian Wolff: Jus Naturae, §§ 26–38.

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die Kenntnis neuer Tatbestände. Man will um die Familienverhältnisse wissen, und verbindet also mit diesem Wissen einen bestimmten Wert. Diese Wertung bedeutet für den unklaren Ausgangspunkt, daß dessen Unklarheit ebenfalls bewertet wird. Man sieht sie als negativ an. Damit aber ist die Ebene der bloßen Tatsachen verlassen und der Schritt in die Sphäre der Geltung getan. Das unklare Wissen um die Familienverhältnisse gilt nicht mehr unangefochten, es soll durch klarere Kenntnisse entweder legitimiert oder delegitimiert werden. Eigentliche Rechtsansprüche müssen also gar nicht erst auftreten – die Ahnenkunde ist von Anfang an in die Frage nach der Geltung verwickelt, auch dann, wenn sie nicht zur Begründung eigens erhobener Rechtsansprüche herangezogen wird. In der negativen Wertung des Ausgangspunktes liegt eine zweite grundlegende Voraussetzung des genealogischen Denkens beschlossen: die Krise der vorfindlichen Situation. Indem man den Ausgangspunkt als negativ bewertet und daher die ahnenkundliche Forschung anstößt, besteht er nicht mehr einfach. Er wird hinterfragt, und seine Hinterfragung kommt zu keinem Ergebnis, solange die genealogische Untersuchung nicht vollzogen wird. Hierin besteht seine Krise: jener Zustand, in dem eine Unklarheit einer Entscheidung entgegenstrebt. Ohne eine solche Krise des Bestehenden könnte das genealogische Denken gar nicht erst einsetzen. Denn ohne sie würde das Wissen um die Gewordenheit eines Tatbestandes gar nicht gewollt. Hieraus erhellt der kritische Charakter des genealogischen Denkens. Kritisch ist die Genealogie deswegen, weil sie in einer Situation der Unklarheit einsetzt und diese überprüfend zu entscheiden sucht. Da die Situation der Unklarheit als negativ bewertet wird, bedeutet ihre überprüfende Entscheidung zugleich eine Entscheidung ihres Wertes. Die negative Unklarheit über Abstammungsverhältnisse wird in eine positive Klarheit überführt. Die positive Klarheit kann zwar selber wiederum negativ gesehen werden, insofern sie mit möglichen Illusionen aufräumt, die man liebgewonnen hatte. Aber die Klarheit war vom genealogischen Denken gewollt und stellt daher auch dann, wenn ihr verneinendes Ergebnis zu neuem Unbehagen führt, das positive Ziel der Genealogie dar. Die genealogische Prüfung ist folglich eine Kritik sowohl des Bestehenden als auch seiner Geltung. Sie ist in einem rein historischen Sinne die Kritik des Bestehenden, da sie dessen Geschichte überprüft, und sie ist in einem legitimierenden oder delegitimierenden Sinne die Kritik seiner Geltung, da sie in der Krise des Bestehenden ansetzt und diese dann, mit Hilfe der historischen Überprüfung, zu einer wertgebundenen Entscheidung treibt. Der Zusammenhang von Genesis und Geltung läßt sich nun genauer formulieren. Einerseits ermöglicht die Untersuchung der Genesis eines Beste-

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henden, dessen Geltungsansprüche zu bekräftigen oder zu widerrufen. Präziser gesagt, ist es nicht die Geltung selbst, die bekräftigt oder widerrufen wird, sondern nur der Anspruch auf sie. So wie der Anspruch eines Menschen darauf, als König zu gelten, durch die Ahnenkunde zerstreut wird, so kann der Anspruch einer Behauptung oder einer Forderung zerstreut werden, indem man sein Gewordensein durchleuchtet. Die Voraussetzung hierfür ist, daß die beanspruchte Geltung dem erworbenen Recht gleicht, also in einer bestimmten Geschichte gründet. Erzählt man diese Geschichte anders, erweist sich der Geltungsanspruch als nichtig. So wird die Genesis zur Kritik. Aber sie gründet selber wiederum in einem vorgängigen Zerfall von Geltung. Erst muß die Geltung des Bestehenden in eine Krise geraten, um die Frage nach seiner Genesis anzustoßen. Die genealogische Kritik, die sich durch die Erzählung einer Genesis vollzieht, stellt daher nicht den Grund der Geltungskrise dar, sondern deren Folge. Geltung wiederum gerät nur dann in eine Krise, wenn sie reflektiert wird.3 Als einfach hingenommene bleibt sie krisenfrei. Mithin ist eine vorgängige Geltungsreflexion, wie immer rudimentär sie auch sein mag, die Voraussetzung für das genealogische Denken. Der Nachweis einer bestimmten Genesis, den es führt, kann dann zwar seinen Teil zur Reflexion der Geltung beitragen, aber er ist selber nicht der Grund dieser Reflexion. Pointiert gesagt: Genealogisches Denken ist ein geltungsreflexives Derivat. Die Begriffe Genesis, Geltung und Kritik stehen somit in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Damit die Darlegung der Genesis die Geltung zu berühren vermag, muß es bereits eine vorgängige Geltungsreflexion geben, deren Kritik dann die genealogische Geltungskritik anzustoßen vermag. Für das genealogische Denken scheinen sich hieraus zwei Optionen zu ergeben. Entweder es vergißt seine Abkunft aus einer vorgängigen Geltungsreflexion und setzt sich selber als Grund der Geltungskrise. Oder es bleibt ein geltungsreflexives Derivat. Im ersten Fall begibt das genealogische Denken sich in ein Selbstmißverständnis. Es erweist sich gegenüber seinem eigenen Grund als blind und ist insofern unkritisch. Die als Kritik auftretende Genealogie wird affirmativ im Blick auf sich selbst. Im zweiten Fall verharren die anfängliche Geltungsreflexion und das genealogische Denken in einer hierarchischen Trennung. Die Genealogie wird zu einer zweitrangigen Größe. Aus diesen Optionen führte freilich eine dritte Option heraus. Diese Option bestünde darin, daß es neben den bisher beschriebenen Formen des genealogischen Denkens noch eine solche Form gäbe, die nichts anderes als die Darstel3

Zum Begriff der Geltungsreflexion siehe Hans Wagner: Philosophie und Reflexion, München/Basel 1959.

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lung der Geltungsreflexion wäre. Eine Genealogie, die diese Option erfüllte, träte weder an die Stelle der Geltungsreflexion noch bildete sie deren Derivat. Denn als Darstellung der Geltungsreflexion träte sie zu dieser in kein Begründungsverhältnis. Vielmehr bildete die Genealogie den Vollzug der Geltungsreflexion ab nach Art dessen, wie der Graph eine mathematische Funktion abbildet. Eine solche Darstellung der Geltungsreflexion in Form einer Genealogie wird indessen von der Geltungsreflexion selbst benötigt. Das erhellt aus dem Unterschied zwischen erworbener und unerworbener Geltung. Die bislang beschriebenen Formen des genealogischen Denkens zielten auf die Kritik erworbener Geltung ab. Die ihnen vorgängige Geltungsreflexion könnte selber keine erworbene Geltung besitzen, da sie sonst ebenfalls von der genealogischen Kritik erfaßt würde. Sie muß daher aus ihrer Sache heraus gelten. Daß sie aus ihrer Sache heraus gilt, muß sie jedoch erst einmal zeigen. Und hierzu hat sie die Notwendigkeit ihrer einzelnen Schritte aufzuweisen. Wenn die Reflexion einsichtig machen kann, daß sie einer überzeugenden Logik folgt, vermag sie ihre Geltung aus sich heraus darzulegen. Dieser Aufweis erfolgt durch eine Genealogie der Reflexionsschritte. Die Einsicht in die Gewordenheit einer bestimmten Position fügt diese mit den anderen Positionen, aus denen sie geworden ist und zu denen sie wird, zusammen und macht klar, daß die Abfolge der Positionen der Logik des Aufeinanderfolgens gehorcht. Kann in der Geschichte dieser einzelnen Positionen die Logik der Reflexion sich abbilden, so vermag die Geschichtserzählung diese Logik darzustellen. Hierin bestünde die Aufgabe der Genealogie. Das genealogische Denken besäße seinen Ort in der Darstellung der Reflexionslogik, aus der heraus sich sehen ließe, daß die Reflexion selber ihre Geltung nicht wieder von etwas anderem her erworben hätte, so daß man die Geschichte dieser Erwerbung zur Rechtfertigung oder Bestreitung ihrer Geltung erst noch erzählen müßte. Die Reflexion hätte dann ihre Geltung von sich her. Eine solche Genealogie setzte sich nicht an die Stelle der Reflexion noch wäre sie bloß abkünftig von dieser – sie fände ihre Aufgabe innerhalb des Geschäfts der Reflexion selber. Hinzu kommt freilich noch ein weiteres: Das genealogische Denken will nicht abstrakt bleiben, sondern das Leben betreffen. Auch dies betonen Nietzsche und Foucault,4 und auch dies läßt sich unabhängig von ihnen darlegen. Denn die Ahnenkunde hat es ersichtlicherweise nicht mit Konstruk4

Zu Nietzsche siehe Volker Gerhardt: »Leben bei Kant und Nietzsche«, in: Beatrix Himmelmann (Hrsg.): Kant und Nietzsche im Widerstreit, Berlin/New York 2005, 295– 311, zumal 308 ff.; zu Foucault siehe Martin Saar, op. cit., 201 ff.

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tionen im Raum leerer Gedanken zu tun, sondern mit Familiengeschichten aus Fleisch und Blut. Ihren Blick auf das Geschäft der Reflexion zu beziehen bedeutet mithin, deren Vollzüge aus dem logischen Raum des Denkens herauszuholen und in ein lebendiges Geschehen zu überführen. Die genealogische Darstellung der Reflexion, die deren Geltung ohne weitere Herleitung absichert, verlebendigte folglich die Schritte des sich auf sich rückwendenden Denkens. In anderen Worten: Die Logik der Reflexion würde als die Geschichte lebendiger Gestalten erzählt. Hierdurch wäre zweierlei gewonnen. Zum einen erlangten die Reflexionsschritte eine Plastizität, die sie als logische Ableitungen nicht besäßen. Eine solche Plastizität benötigt die Reflexion. Denn indem sie eine lebendige Darstellung erhält, wird sie konkret und kann so den Verdacht abwehren, ein von außen aufgelegtes Schema des Denkens zu sein. Erweist ihre Darstellung sie als ein lebendiges Geschehen, so konkretisiert sie sich zum Prozeß der Sache selbst. Ohne solche Konkretion bliebe sie ein dürres Gerüst. Zum andern kann das Leben, seit Platon, als etwas verstanden werden, das sich in sich selbst bewegt (αὐτοκίνησιϚ). Wird die Reflexion in einer Geschichte lebendiger Gestalten abgebildet, so vermag ihre Darstellung folglich mit der Eigenschaft der Selbstbewegung aufzutreten. Auch dies verstärkte die Überzeugungskraft der Genealogie: Sie schritte aus sich heraus voran.

II. Hegels Phänomenologie des Geistes verkörpert die beschriebene Form des genealogischen Denkens. Mehr noch, sie ist vermutlich der einzige Versuch, Genealogie und Geltung in jener Weise zusammenzudenken. Ihre Geschichte von Gestalten des Bewußtseins vollzieht sich als Darstellung der Reflexion in lebendigen Konkretionen. Den Ansatz der Phänomenologie bildet die Identifikation der gelungenen Geltungsreflexion mit der erfüllten Selbstbeziehung des Subjektes.5 Der Ansatz besagt: Die Reflexion auf die Geltung einer deskriptiven oder einer präskriptiven Größe erweist sich als Rückgang des reflektierenden Subjektes auf sich selbst, um in diesem Rückgang die Bedingungen für jene Geltung zu erfassen. Der Grund für diesen Ansatz ist der folgende. Die Überzeu-

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Siehe zu der grundlegenden Rolle der Selbstbeziehung für die Phänomenologie des Geistes Werner Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in »Vorrede« und »Einleitung«, Frankfurt/M. 21981, 113 ff., sowie Robert B. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness, Cambridge 1989, 143 ff.

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gung davon, daß etwas gültig sei, muß sich zunächst an ihrem Inhalt überprüfen lassen: Die Geltung des Inhaltes wird im Blick auf seine Verfaßtheit reflektiert. Sodann aber muß die Überzeugung sich auch im Hinblick auf die Bedingungen untersuchen lassen, die das überzeugte Subjekt selber für seine Überzeugungen und für die Konstitution jenes Inhaltes mitbringt. Denn sollte der Inhalt deskriptiver oder präskriptiver Größen sich als vom Subjekt konstituiert entpuppen, so hat die Überzeugung von seiner Gültigkeit auch die gelungene oder mißlungene Verfaßtheit solcher Konstitution zu berücksichtigen. Ja, um überhaupt die Frage klären zu können, ob der Inhalt jener Größen vom Subjekt konstituiert sei, hat das Subjekt bereits sein Verhältnis zu dem Inhalt zu bedenken. Daher muß sich das Subjekt in jedem Fall auf sich selber richten. Der Selbstbezug des Subjektes kann jedoch selber nicht einfach hingenommen werden, sondern ist ebenfalls noch auf seine Bedingungen hin zu erwägen. Nur so kann sein Mißlingen oder Gelingen bedacht werden, wovon wiederum die Prüfung der Überzeugung, daß etwas gültig sei, abhängt. So kommen die Bedingungen, unter denen ein Subjekt sich auf sich selber richtet, ebenfalls ins Spiel, um die Reflexion auf die Geltung deskriptiver oder präskriptiver Größen vollständig durchzuführen. Und das heißt, die Selbstbeziehung des Subjektes muß auf ihre Gelungenheit oder Mißlungenheit hin bedacht werden. Die Geltungsreflexion wird zu einer Frage nach dem erfüllten subjektiven Selbstverhältnis. Wenn vor diesem Hintergrund eine Genealogie als Darstellung der Geltungsreflexion gegeben werden soll, dann muß sie folglich als die Darstellung des erfüllten subjektiven Selbstverhältnisses durchgeführt werden. Aus diesem Grunde ist die von der Geltungsreflexion benötigte Genealogie jene Geschichte des Selbstbewußtseins, die in der klassischen deutschen Philosophie so prominent wurde. Zwei Aufgaben springen dabei ins Auge, die eine solche Geschichte des Selbstbewußtseins zu bewältigen hat.6 Erstens muß sie in einer durch ein Prinzip geregelten Stufenfolge die verschiedenen Vollzüge des Selbstbewußtseins aufzeigen, bis eine erfüllte Selbstbeziehung erreicht ist. Durch solche Prinzipiierung grenzt sie sich von anthropologischen Sammlungen der unterschiedlichen Formen von Selbstbewußtsein ab. Zweitens muß sie zwischen dem betrachtenden und dem betrachteten Selbstbewußtsein unterscheiden und zeigen, wie das betrachtete Selbstbewußtsein sich von Stufe zu Stufe dem betrachtenden Selbstbewußtsein nähert, bis

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Klaus Düsing: »Der Begriff der Vernunft in Hegels ›Phänomenologie‹«, in: Hans Friedrich Fulda und Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.): Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1993, Stuttgart 1994 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung 20), 245–260, hier: 246 f.

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beide am Ende zusammenkommen. Durch diese Zusammenkunft erweist sich die Geschichte des Selbstbewußtseins endlich als die Darstellung des erfüllten Selbstbewußtseins. Hegel nennt diese vollendete Selbstbeziehung das »absolute Wissen«.7 Denn da in ihr die Geltungsreflexion abgeschlossen ist, ist eine Stufe erreicht, auf der die Überzeugungen von der Geltung von Sätzen in vollständig begründete Überzeugungen umgeformt worden sind. In anderen Worten: Das Wissen ist absolut geworden. Mit ihm kann dann das wissenschaftliche System begonnen werden, das die Entfaltung des absoluten Wissens darstellt.8 Die in der Phänomenologie des Geistes durchgeführte Genealogie zeigt dementsprechend das »Werden des […] Wissens«9. Als Werden des Wissens stellt die Phänomenologie des Geistes noch nicht das Wissen selbst dar. Sie entwickelt nur die Schritte zu dem Wissen, das in vollständig reflektierten Überzeugungen besteht. Um auf dessen Stufe zu gelangen, müssen freilich alle vorangegangenen Überzeugungen ihrer Zweifelhaftigkeit überführt werden; nur dann nämlich verlangen sie nach der weiteren Begründung des Überzeugtseins, die zu dem Übergang in einen neuen Schritt der Reflexion führt. Der Zweifel an erreichten Positionen bildet somit die Triebkraft hinter dem Werden des Wissens. Die Begründung des Zweifels kann indessen wieder nur von der unverkürzten Reflexion geboten werden. Sie ist schließlich das Verfahren, die Geltung einer Position auf ihre Zweifelhaftigkeit zu überprüfen. Das Prinzip, das die Abfolge der Überzeugungsstufen regelt, ist daher die Geltungsreflexion selbst oder eben das gelungene Selbstbewußtsein, vor dessen Blick die Überzeugungen zweifelhaft werden. Das aber heißt: Das Prinzip der Geschichte des Selbstbewußtseins ist nicht principium, Anfang im gewöhnlichen Sinne. Die Geltungsreflexion bedarf ja ihrer Darstellung in einer Genealogie, um selber zu überzeugen. Wenn sie nun das Prinzip der Geschichte des Selbstbewußtseins abgibt, so wird sie demnach erst in der von ihr prinzipiierten Geschichte plausibel. Anders gesagt: Das Prinzip erweist sich erst am Ende der Darstellung – und das bedeutet: am Ende der Geschichte des Selbstbewußtseins – als Prinzip. Das Prinzip der Geschichte wird nur durch die Geschichte einsichtig. Darum nennt Hegel das genealogische Denken der Phänomenologie den »sich

7

GW 9, 422 ff. Zur Diskussion des Überganges von der Phänomenologie zum System der Wissenschaft siehe Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1965 (Philosophische Abhandlungen 27), 55 ff., und Michael N. Forster: Hegel’s Idea of a Phenomenology of Spirit, Chicago 1998, 259 ff. 9 GW 9, 24. 8

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vollbringende[n] Skeptizismus«.10 Seine Genealogie ist eine Durchführung des Zweifels an Überzeugungen, deren Grundlage erst am Ende durch das vollbrachte Geschehen von Verzweiflungen zu Tage tritt. Dann aber ist sie gerechtfertigt. Hegels Umdeutung des Prinzips von einem Anfang zu etwas, das sich erst im vollbrachten Geschehen als Prinzip erweist, ist eigentümlich. Ihre Eigentümlichkeit erhellt aus einem Blick auf Fichte. In seiner Schrift über die »Bestimmung des Menschen« hatte dieser ebenfalls mit dem Zweifel begonnen. Die Skepsis an der Position eines deterministischen Menschenbildes führte zu einem Wissen in transzendentalphilosophischer Perspektive, um dessen Unstimmigkeiten schließlich in den Glauben der praktischen Vernunft zu überführen.11 Doch Fichtes Zweifel ist proleptischer Natur. Die Position, auf die er hinausläuft, ist von Anfang an fest gegründet: das Prinzip des praktischen Selbstbewußtseins. Um Prinzip zu sein, bedarf es des Zweifels nicht; es nutzt ihn nur, um sich einzuführen. Anders Hegels Phänomenologie des Geistes. Ihr Prinzip wird nicht bloß durch den Zweifel eingeführt; es entsteht überhaupt erst durch ihn. Denn die Rechtfertigung des Prinzips beruht auf dessen Darstellung. Die Darstellung des Prinzips aber ist die durch den Zweifel an Überzeugungen bestimmte Geschichte des Selbstbewußtseins. Diese Geschichte ist daher nicht nur im äußerlichen Sinne ein »sich vollbringender Skeptizismus«: Sie ist es in ihrem Kern. Das bedeutet, daß der Sinn des Prinzips sich verwandelt aus einem Anfangsgrund in ein Werdendes, dem im Vollzug des Werdens seine Rechtfertigung gelingt. Diese Wandlung bleibt indessen fragwürdig. Wie kann das Prinzip der Geschichte des Selbstbewußtseins sich erst im Vollzug dieser Geschichte rechtfertigen, ohne eine petitio principii zu begehen? Anders gefragt: Wie kann der Zweifel sich begründet äußern, ohne zu seiner Begründung ein zweifelfreies Fundament ins Spiel zu bringen? Die Antwort, die das Verfahren der Phänomenologie auf diese Fragen bietet, besteht darin, in ihrem Wesen Kritik zu sein.12 Das phänomenologi10

GW 9, 56. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I, Bd. 6: Werke 1799–1800, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 191 ff. – Siehe hierzu meine Arbeit: »Der Standpunkt des natürlichen Denkens. Fichtes ›Bestimmung des Menschen‹ in Auseinandersetzung mit der ›Unphilosophie‹ Jacobis«, in: Birgit Sandkaulen (Hrsg.): System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, Würzburg 2006 (Kritisches Jahrbuch der Philosophie 11), 109–129. 12 Rüdiger Bubner: »Problemgeschichte und systematischer Sinn der ›Phänomenologie‹ Hegels«, in: ders.: Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1973, 9–42, besonders 17 ff. 11

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sche Unternehmen beruht darauf, eine jede Position hinsichtlich der in ihr erhobenen Ansprüche zu kritisieren, um ihre Voraussetzungen explizit zu machen. Die Reflexion überantwortet sich mithin ganz der jeweiligen Überzeugung, um an ihr selber zu überprüfen, ob sie ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Annahmen gerecht wird. Im Verlauf dieser Überprüfung werden die Positionen zweifelhaft und drängen sonach zu einer Umformulierung, die ihre Ansprüche besser erfaßt. Diese Umformulierung führt einerseits dazu, in eine neue Position überzugehen. Sie führt aber andrerseits auch dazu, die Positionen in einen einheitlichen Zusammenhang zu integrieren. Durch solche Integration verwandelt sich der Schein ihrer Ansprüche, den die kritische Prüfung aufdeckt. Die Ansprüche sind nunmehr nicht bloß scheinhaft, sondern bilden die Erscheinungen eines Ganzen, das sich in jenem Zusammenhang zweifelhafter Positionen zeigt. Das werdende Prinzip entwickelt sich folglich aus der immanenten Kritik von Überzeugungen, die diese von Positionen des Scheins in Erscheinungen des Geistes überführt. Diese Überführung des Scheins in Erscheinungen, damit aber auch den Verzicht auf ein vorausgesetztes Prinzip und den Beginn bei der Kritik, trägt die Phänomenologie des Geistes bereits in ihrem Titel. Auf solchem Wege entwickelt der durch das Verfahren der Kritik sich vollbringende Skeptizismus den Zusammenhang einer Geschichte des Selbstbewußtseins, den die genealogische Darstellung des Selbstbewußtseins benötigt. Wenn der genealogische Zusammenhang in der kritischen Verwandlung des Scheins in Erscheinungen besteht, dann können freilich ex post die verschiedenen Überzeugungen als die Ausdrucksformen jenes Zusammenhanges begriffen werden. Sie explizieren den Zusammenhang der Geschichte des Selbstbewußtseins auf jeweils bestimmter Stufe. Das wiederum heißt, daß die erfüllte Selbstbeziehung, die in jenem Zusammenhang entsteht, sich auf jeder der Stufen in einer vorläufigen Gestalt zeigt. In anderen Worten: Sie entäußert sich in ihnen.13 Diese Entäußerung der erfüllten Selbstbeziehung in unvollendete Stufen kann nicht vor dem Ende des Weges eingesehen werden. Denn sie ist die Entäußerung eines Prinzips, das nicht den Anfang der Genealogie der Erscheinungen ausmacht, sondern in ihr erst wird. Die Triebkraft in Hegels genealogischem Denken bleibt deshalb die zweifelnde Kritik an der Geltung deskriptiver oder präskriptiver Größen. Am Ende der Kritik indessen schließen die Positionen, die von solcher Geltung überzeugt

13

Den Begriff der Entäußerung als zentrale Konzeption der »Phänomenologie des Geistes« betont Georg Lukács: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Werke 8, Neuwied/Berlin 1967, 656 ff.

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sind, sich zu der Einheit einer Geschichte zusammen, als deren einzelne Entäußerungen sie dann zählen dürfen. Die phänomenologische Kritik sitzt folglich – ihrem Anspruch nach – keiner versteckten Grundlage auf. Ihr Imperativ lautet: Inmitten der Positionen vermeintlicher Geltung sei zu beginnen, und nur inmitten der Positionen vermöge die Reflexion nach und nach den Schein der Geltung in Erscheinungen einer gemeinsamen Idee, der Idee der vollendeten Selbstbeziehung, zu verwandeln. Dieser Reflexion ist nichts vorgängig. Insbesondere läßt sie sich nicht durch eine Naturgeschichte des Geistes überbieten: durch eine Geschichte des Geistes aus dem Geistlosen, das niemals von der Reflexion eingeholt zu werden vermöchte.14 Eine Naturgeschichte des Geistes wäre eine Genealogie, die nicht nur als die Darstellung der Reflexion aufträte, sondern dieser voranginge. Sie erzählte die Geschichte der Reflexionsschritte so, daß sie auf Voraussetzungen beruhten, die sich nicht als Erscheinungen des Reflexionsprozesses einholen ließen. Unter dem Titel der Natur thematisierte sie etwas Vorreflexives, von dem die Reflexion abhinge. Eine so verstandene Genealogie verfiele jedoch dem eingangs entwickelten Einwand, daß jede Genealogie bereits eine Geltungskrise und also die Reflexion voraussetzt. Es gibt daher keinen Rückgang hinter die Reflexion, und auch die Naturgeschichte des Geistes ist bloß einer ihrer Abkömmlinge. Die vorreflexive Genealogie einer Naturgeschichte des Geistes täuschte sich über ihre eigene Grundlage, wenn sie glaubte, der phänomenlogischen Kritik entgehen zu können. Hegels genealogisches Denken als Darstellung der Geltungsreflexion findet sonach seine bestimmte Form darin, die Geschichte des Selbstbewußtseins als die Geschichte der Kritik an Überzeugungen zu erzählen.15 Die Geschichte vom Werden des Wissens bleibt indessen nicht abstrakt. Sie konkretisiert sich im Gegenteil in einer Vielzahl von Gestalten, die auch die letzte Anforderung der darstellenden Genealogie erfüllt: die Verlebendigung der Reflexion. Indem nicht bloß deskriptive oder präskriptive Konzepte kri14

Eine solche Konfrontation entwickelt Christoph Menke: »Geist und Leben. Zu einer genealogischen Kritik der ›Phänomenologie‹«, in: Rüdiger Bubner und Gunnar Hindrichs (Hrsg.): Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongreß 2005, Stuttgart 2007 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung 24), 321–348. 15 Rolf-Peter Horstmann: »Hegels Ordnung der Dinge. Die ›Phänomenologie des Geistes‹ als ›transzendentalistisches‹ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen«, in: Hegel-Studien 41 (2006), 9–50, versteht die Phänomenologie als Theorie der Objektarten und deren Erkenntnisbedingungen, die eine monistische Theorie der Wirklichkeit rechtfertigen soll. Ich halte diese Ziele nicht für die primären Ziele der Phänomenologie, da eine Ontologie nur innerhalb der vollendeten Reflexion ihren Ort finden kann und also eher das Folgeprodukt einer an dem Begriff der Wahrheit – und nicht an dem Begriff des Seienden – orientierten Konzeption darstellt.

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tisiert werden, sondern in lebendigen Gestalten – von der verkehrten Welt über den Herrn und den Knecht bis zu Rameaus Neffen oder Antigone – ihre Darstellung erfahren, erweist sich die Geschichte des Selbstbewußtseins, und also die Geschichte der Reflexion, als das plastische Geschehen, aus dem es seine eigene Überzeugungskraft erlangt. Zudem wird die Lebendigkeit der Darstellung ihrem Gegenstand, der erfüllten Selbstbeziehung, am besten gerecht. Denn das sich selbst bewegende Leben ist etwas, das sich zu sich selbst verhält. Es besitzt mithin die Form der Subjektivität.16 So entspricht die Lebendigkeit der Darstellung dem Dargestellten: der Selbstbeziehung des Subjektes. Hegels genealogisches Denken entwickelt in diesem Zuge lebendige Erscheinungen des Überzeugtseins, um sie der zweifelnden Kritik zu unterziehen. Es stellt so die Reflexion als das geschichtliche Leben von Selbstbeziehungen dar. III. Innerhalb der Geschichte des Selbstbewußtseins findet die Kunst ihren Ort als eine Untergestalt der Religion: als Kunstreligion. Das berührt merkwürdig.17 Weshalb sollte Kunst auf die Gestalt der Kunstreligion reduziert werden? Innerhalb des benötigten genealogischen Denkens besitzt diese Reduktion aber ihren Sinn. Der Begriff der Religion bezeichnet im Rahmen der Phänomenologie des Geistes einen Einheitszusammenhang, insofern in ihm eine bestimmte Auffassung über die letzte Wahrheit zum Ausdruck kommt.18 Unter Religion wird also nicht das private Verhältnis eines religiösen Menschen zu seinem Gott verstanden, auch nicht die willkürliche Bildung religiöser Gruppen, und schon gar nicht eine Ansammlung von Glaubenslehren. Unter Religion wird vielmehr die Aufhebung der Trennung zwischen dem einzelnen Selbst und der gegenständlichen Welt begriffen, so daß als die wahre Gestalt der Wirklichkeit ein absolutes Selbstbewußtsein auftritt, das sich in beiden ausdrückt. Kurz, die Religion ist die Gestalt des Geistes, in der das Denken des Einzelnen und die rationalen Formen der Wirklichkeit sich ineinander und auseinander erkennen lassen.

16

Hans-Georg Gadamer: »Hegel – die verkehrte Welt«, in: ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien, Tübingen 21980, 31–47, hier: 46. 17 Walter Jaeschke: »Kunst und Religion«, in: Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner (Hrsg.): Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982 (Deutscher Idealismus 6), 163–195, hier: 170. 18 Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt/M. 2000, 217 ff.

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Der Grund für einen derartigen Begriff der Religion besteht darin, daß in der Religion der einzelne Mensch mit der ihn umgebenden Wirklichkeit versöhnt wird. Denn die in der Religion ausgedrückte Wahrheit über die Wirklichkeit ist eine, die das Wirkliche als göttlich begründeten Einheitszusammenhang erscheinen läßt. In dieser Einheit steht auch der einzelne Mensch, und mit dieser Einheit bleibt er daher auch dann versöhnt, wenn sie ihm negativ entgegentritt. Die Religion ist somit die Versöhnung des Einzelnen mit seinem Kontext. Ein solches Verständnis von Religion hatte bereits der junge Hegel entwickelt. Vor allem in dem Systemfragment von 1800 zeichnet er in deutlichen Strichen die Überwindung der Entzweiung von Einzelnem und Welt durch die Religion. Dort heißt es, das philosophische Denken verstricke sich in den doppelten Gegensatz des Denkens zum Nichtdenken und zum Gedachten. Es vermöge die Entzweiung daher nicht aufzuheben, sondern verfestige sie im Gegenteil. Und doch strebe es nach Überwindung der Entzweiung, da es seine eigene Beschränktheit erkenne und zu dem umfassenden Zusammenhang gelangen wolle, in dem es erst seine Beschränktheit verliere. Hegel folgert daraus: »Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören.«19 Denn die Religion sei die »Erhebung des Endlichen zum Unendlichen«,20 mithin die Aufhebung der Vereinzelung in einem Gesamtzusammenhang. In der Phänomenologie des Geistes wird dieser Ansatz weiter entwickelt. Hier wird der Postulatscharakter der religiösen Versöhnung aufgegeben, um sie stattdessen als die Beschreibung eines bestimmten Verhältnisses von Einzelnem und Wirklichkeit zu begreifen. Religion ist nun der Titel für die Einheit, in der der Einzelne sich mit der Welt befindet. Die unterschiedlichen Formen der Religion sind dementsprechend nichts anderes als die verschiedenen Ausdrucksformen solcher Einheit. Im Rahmen einer Darstellung der Geltungsreflexion vermag der so bestimmte Begriff der Religion diejenige Stufe des Selbstbewußtseins abzubilden, auf der die Selbstbeziehung sich aus der Einheit der Kontexte, in denen das Selbstbewußtsein steht, vollzieht. Das heißt, die Geltungsreflexion, die ihrer Darstellung durch eine Geschichte des Selbstbewußtseins bedarf, findet in der Religion das Abbild der Einheit des reflektierenden Ichs mit der umgebenden Wirklichkeit. Sie betrachtet mit ihr die Voraussetzungen des einzelnen Subjektes und thematisiert Bedingungen der gelungenen Selbstbeziehung. Dies, und nur dies, ist die Aufgabe, die der in der Phänomeno19

Herman Nohl (Hrsg.): Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907, 345–351, hier: 348. 20 Ebd., 350.

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logie wirksame Begriff der Religion zu tragen hat. Die Religion interessiert hier ausschließlich im Rahmen der genealogischen Darstellung der Reflexion. Die in den späteren Vorlesungen zur Religionsphilosophie entwickelte religionsgeschichtliche Differenzierung ist für das genealogische Denken der Phänomenologie daher auch sachlich noch nicht nötig.21 Dasselbe gilt aber auch für die Kunst. Im Rahmen der benötigten Genealogie kann sie nur als eine Gestalt des Selbstbewußtseins thematisch werden. Und da die Kunst für Hegel keinen gewöhnlichen Gegenstandsbezug oder einen Inhalt des in der Bildung entfremdeten Geistes ausmacht, sondern eine Form des Geistes, in dem der Einzelne mit der Wirklichkeit versöhnt ist, gehört sie auch in den Zusammenhang solcher Einheit. Sie muß also im Zusammenhang mit der Religion betrachtet werden. Anders gesagt: Kunst als Form des versöhnten Geistes hat in Gestalt der Kunstreligion aufzutreten, da die Religion gar nichts anderes ist als die in Frage kommende Form. Das prägt sowohl den Begriff der Religion als auch den Begriff der Kunst.22 Religion wird nur insofern zur Kunstreligion, als sie nicht mehr in einer ungeformten Einheit mit der Natur steht, sondern ihre geistige Gestaltung erfährt. Denn allein das, was gestaltet ist, tritt als Kunst auf. Die geistige Gestaltung einer Sache bringt wiederum deren Bestimmtheit mit sich. Und die Bestimmtheit einer Sache äußert sich auch darin, daß sie sich als eine soundso bestimmte Sache von anderen Sachen abgrenzen läßt. In anderen Worten, die geistige Gestaltung einer Sache kreiert deren Individualität. Auf die Religion übertragen heißt das: Religion als Kunstreligion ist die Einheit von Einzelnem und Kontext, die sich in einer gestalteten Individualität zeigt. Mit dieser Bestimmung ist die Individualisierung der Götter und die Vergöttlichung des Individuums gleichermaßen auf den Weg gebracht. Es sind nun gestaltete Individualitäten, die den Zusammenhang von Einzelnem und Kontext auszudrücken vermögen. Vor allem aber verkörpert sich die Wahrheit, die die Religion enthält, nunmehr in einem vom Menschen erzeugten Kunstwerk. Denn das Kunstwerk ist die möglichst vollendet gestaltete Individualität. Da das Kunstwerk ein Moment der Kunstreligion ist, steht es freilich nicht für sich. Es muß sich in die von der Religion ausgedrückte Einheit 21

Die Differenziertheit der späteren Vorlesungen erhellt Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, StuttgartBad Cannstatt 1986 (Spekulation und Erfahrung II/4), 219 ff. 22 Über den geistesgeschichtlichen Horizont, innerhalb dessen der Gedanke einer Kunstreligion entstand, informieren Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004, sowie Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (Palaestra 323).

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fügen und bildet somit einen Teil des Kultes und des religiösen Festes: sei es in Form von Statuen, sei es in Form musikalischer Zeremonien oder sei es in Form von Schauspielen. Kunst tritt demnach in dem Rahmen eines Einheitszusammenhanges auf, der in dem einzelnen Werk und dem Fest, innerhalb dessen das Werk seinen Sinn erhält, zur Gestalt gelangt. In ihr versöhnen sich der Einzelne und sein Kontext. Hegel findet für diese Versöhnung starke Worte. In einer den Bereich der Kunst um die Dimension des Politischen erweiternden Formulierung schreibt er: »Das Volk, das in dem Cultus der Kunstreligion sich seinem Gotte naht, ist das sittliche Volk, das seinen Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst weiß«.23 Den in künstlerischem Geiste gestalteten Einheitszusammenhang bildet der Volksgeist in seiner ganzen Reichweite.24 Und weil der im Fest versöhnte Zusammenhang die Einheit von Individuen, nicht aber die Melange von sich hassenden und unterjochenden Kasten darstellt, ist das Volk, das sich seinem Gott im Kultus naht, zugleich »das freye Volk«.25 Wir dürfen wohl hinzufügen: Es ist nicht nur ein freies Volk, sondern ein im Kult vereintes gleiches Volk von Brüdern. Die Kunstreligion verbindet das Fest mit dem revolutionären Dreiklang der Franzosen – so wie es Hegel aus den Revolutionsfeiern jenseits des Rheins kennen konnte. Ihre konkrete Gestalt findet die Verbindung von Kultus und Liberté, Égalité, Fraternité jedoch im griechischen Altertum. Die Individualität des Kunstwerkes, dessen Einbindung in das Fest, schließlich der sittlich-politische Zusammenhang entstammen einem bestimmten Bild der Polis, das Hegel im Zuge der deutschen Griechenlandliebe entwickelte.26 In diesem Bild birgt die klassische Welt der Griechen eine Einheit von Geist und Sinnlichkeit, von Politik und Kult, von Freiheit und Adel. Entzweiungen sind in

23

GW 9, 385. Zum politischen Charakter der Kunstreligion siehe Rüdiger Bubner: »The ›Religion of Art‹«, in: Stephen Houlgate (Hrsg.): Hegel and the Arts, Evanston, Ill. 2007, 296–309, hier: 303 ff. 25 GW 9, 376. 26 Hintergründe bei Jacques Taminiaux: La nostalgie de la Grece a l’aube de l’idéalisme allemand. Kant et les Grecs dans l’itinéraire de Schiller, de Hölderlin et de Hegel, La Haye 1967, zumal 206 ff., sowie Felix Duque: »›Schöneres kann nicht sein und werden.‹ Das Griechenlandbild bei Hegel und Hölderlin«, in: Christoph Jamme (Hrsg.): Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels, Hamburg 1996 (Hegel-Deutungen 2), 27–54. Siehe zudem Jacques d’Hondt: Hegel secret, Paris 1968. 24

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solch versöhnter Einheit aufgehoben. Ihr Ausdruck ist nichts anderes als die schöne Kunst, die in der religiös-politischen Feier ihren Sinn gewinnt. Schon zu seiner Frankfurter Zeit notierte Hegel: »Der Geist der Griechen ist Schönheit.«27 Die Einheit der Polis findet im Schönen ihre Erfüllung. All dies wird in dem Begriff der Kunstreligion mitgesagt. Deren Sinn läßt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen. Die Kunstreligion ermöglicht den – wie Platon an einer Stelle über das Fest sagt28 – Wechselverkehr (ἀμοιβή) mit den Göttern. Diesem Wechselverkehr dienen die verschiedenen Gestalten der Schönheit, und er schließt die in Kultus und Fest vereinten Menschen zum freien Volk zusammen. Solche Feste sind dann Manifestationen von Einheiten, die im Bezug auf transzendente Größen stehen und also bestimmte Auffassungen über letzte Wahrheiten veranschaulichen. Ja, die griechische Religion ist gar nichts anderes als das, was in der feiernden Kunst zum Ausdruck gelangt. Um es in Schillers berühmten Worten zu sagen: Damals war nichts heilig als das Schöne, Keiner Freude schämte sich der Gott.29 Zugleich aber ist die Kunst nichts anderes als ein Moment der Veranschaulichung der versöhnten Einheit von Menschen und Göttern. Sie ist also nicht autonom, sondern stellt die gestalteten Individualitäten in den Dienst der Manifestation der Einheit des freien, sittlichen Volkes. Wenn man so möchte, ist dies ein Bild vom griechischen Altertum im Zeitalter der Revolutionsfeiern. Hegels Ausführungen zur Kunstreligion entspringen dem besonderen Verhältnis von Hellas und Hesperien. Da die so gedeutete Kunst eine bestimmte Stufe der Selbstbeziehung darstellen soll, ist die Vergegenwärtigung der Griechen kein erbaulicher Selbstzweck, gar einer mit nostalgischen Zügen. Ihre Deutung steht selber noch einmal im Dienste eines anderen. Dieser Dienst besteht darin, eine der Formen, etwas für gültig zu halten, abzubilden. Es wurde bereits gesagt, was die Form, die die Kunstreligion abbildet, ausmacht: die Einheit des reflektierenden Ichs mit der es umgebenden Wirklichkeit. In solcher Einheit ist die Geschichte des Selbstbewußtseins fast an ihr Ende gelangt. Denn die Erfülltheit der Selbstbeziehung ist in dem versöhnten Einbezug der Zusammenhänge, innerhalb deren das Ich steht, nahezu erreicht. Aber noch nicht

27

Herman Nohl, op. cit., 368. – Hegels Wort entfaltet Robert Legros: »Hegel et ›l’esprit de beauté‹«, in: Revue de Philosophie ancienne, 3. Jg., 2. H. (1985), 3–38. 28 Platon: Nomoi 653 d. 29 Friedrich Schiller: »Die Götter Griechenlands«, in: ders., Werke und Briefe I, Frankfurt am Main 1992, 162–165, hier: 163.

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ganz. Denn die Kunstreligion erfaßt die Zusammenhänge nur in substantieller Form: in der Form des gestalteten Individuums, das als Statue seinen Selbstand besitzt oder das in einer substantiellen Einheit aufgeht. Sie beinhaltet daher noch eine letzte Trennung zwischen Substanz und Subjekt, auch wenn die substantielle Gestalt der Kunst sich aus dem Subjekt herleitet. Und damit bleibt ein letzter Rest von Unvermitteltem stehen, der die Erfülltheit der Selbstbeziehung stört. Die Kunstreligion stellt folglich jene Einheit des reflektierenden Ichs mit seiner Wirklichkeit dar, die in der Konzentration auf die substantielle Individualität den vollendeten Selbstbezug noch an einer Stelle abschneidet. Die Genealogie des Selbstbewußtseins, die der Darstellung der Geltungsreflexion dient, geht deshalb weiter. In Hegels Worten: »Später ist der Geist über die Kunst hinaus, um seine höhere Darstellung zu gewinnen«.30 Das bedeutet nicht nur, daß der griechische Geist der Schönheit noch einen Mangel birgt, den es zu überwinden gilt. Es bedeutet auch, daß jeder Wunsch nach einer Einheit, die die Kunst stiften möge, ein Wunsch ist, der auf einer nur unerfüllten Selbstbeziehung stehen bleibt. Das ist der harte Schluß daraus, daß die Kunstreligion noch nicht die Darstellung der vollendeten Geltungsreflexion bietet, daß also ein wahrhaft gerechtfertigtes Wissen sich in ihr noch nicht zeigt – kurz, daß das kunstreligiöse Überzeugtsein angesichts seiner Überprüfung ebenfalls noch in Verzweiflung geraten muß. Schillers oben zitierten Worten folgen die nicht minder berühmten Zeilen: Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder, Holdes Blütenalter der Natur! Ach, nur in dem Feenland der Lieder Lebt noch deine fabelhafte Spur. Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach, von jenem lebenswarmen Bilde Blieb der Schatten nur zurück. Genau diese Griechenlandsehnsucht durchkreuzt die Phänomenologie des Geistes. Sie legt die notwendige Vergangenheit des griechischen Altertums dar, das seiner Überwindung bedurfte. Hegel hat hiermit die Erschütterung der Klassik, die der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts bereiten wird, bereits vorab bewältigt.31 Die Klassik ist ihm nicht so klassisch, daß sie in alle Ewigkeit gültig bliebe. Im Gegenteil. Hegels Einsicht lautet: Der 30 31

GW 9, 377. Diese Erschütterung durchleuchtet Karl Reinhard: »Die klassische Philologie und

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griechische Geist der Schönheit war in seiner Substantialität noch zu wenig Subjekt, als daß er die erfüllte Selbstbeziehung darzustellen vermöchte. Die Geltungsreflexion drängt weiter. Die schöne Welt der Kunstreligion muß daher genealogisch verschwinden, um einer höheren Darstellung Platz zu bereiten. IV. Hegels Schluß auf die Unzulänglichkeit der Kunstreligion hat drei systematische Spitzen. Zum ersten verweist er jede religiöse Deutung des Festes in ihre Grenzen. Wer glaubt, daß in einer schönen Vereinigung von Menschen, abgesetzt vom profanen Treiben des Alltags, die Anwesenheit der Götter sich ereignen könne, hat den hierin beschlossenen Mangel seines Selbstverhältnisses nicht begriffen. Das gilt sowohl für die Auffassungen, die die Kunst auf ihren religiösen Charakter zurückführen wollen, als auch für die Auffassungen, die den Kult als den Kern des menschlichen Daseins zu behaupten suchen.32 Die Kunst religiös, als die musische Vermittlung der Götter oder des Gottes zu verstehen heißt, sie als das Medium jener Vereinigung von Einzelnem und göttlich begründeten Kontext zu verstehen, die sie als Kunstreligion darstellt. Die Kunst gewinnt so ihre Eigenheit aus der Feier der Vereinigung. Die Kunst aus der schönen religiösen Feier heraus zu deuten verfällt aber darum auch dem Hegelschen Einwand: Die Reflexion ist hier nicht zu Ende geführt, weil sie auf ein Selbständiges – Substantielles – trifft, das sich der Selbstbeziehung des Subjektes entzieht. Daher kann das Fest die Vereinigung nicht wahrhaft gewährleisten – es würde der kritischen Kraft der Reflexion nicht standzuhalten wissen. Vor der phänomenologischen Kritik könnte die Kunst als feierlicher Bezug auf Gott nur dann bestehen, wenn sie sich gegen die zu Ende geführte Reflexion immunisierte. Das aber hieße, sie müßte sich gegen das Denken abstumpfen. Kunst aus der Kultfeier heraus zu verstehen führte mithin dazu, sie als Betäubung gegenüber der Reflexion verkümmern zu lassen. Eben diesem Einwand verfällt auch der Glaube, bereits im Kult komme der Einzelne zu sich. Man kann den Kult als die unalltägliche Zustimmung zur göttlich gegründeten Welt verstehen: als Gottes-Lob, als Preisung des

das Klassische«, in: ders.: Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, Göttingen 1960, 334–360. 32 Exemplarisch für das erste Helmut Kuhn: Wesen und Wirken des Kunstwerks, München 1960, 67 ff.; exemplarisch für das zweite Josef Pieper: Muße und Kult, München 1948, 77 ff.

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Schöpfers dieser Welt. In solchem Lob würde der Einzelne sich in seinem Kern erfassen, Gottes Geschöpf zu sein. Die Feier der Eucharistie stellt ein solches Gottes-Lob dar. In der Kommunion findet der Einzelne zu sich, weil er mit Gott so verbunden wird, daß er sich als dessen Kind erkennt.33 Allein, auch die schöne Religion des Katholizismus birgt, Hegels genealogischem Denken zufolge, ein mangelhaftes Selbstverhältnis. Denn sie führt die Charakteristika der Kunstreligion fort, indem sie die religiöse Feier als den höchsten Ausdruck des Gottesbezuges behauptet. Und hiermit führt sie zugleich die Unvollendetheit des Selbstbezuges fort, den die Kunstreligion darstellt. Es gilt von neuem: Der Einzelne kann im Kult nicht zu sich selber kommen, weil die kultische Vereinigung substantiell ist. Sie widerstrebt der durchgängigen Selbstbeziehung des Subjektes durch den Selbstand des Kultgeschehens. Aus diesem Grunde kann der Einzelne im Kult niemals die Versöhnung mit dem göttlichen Zusammenhang erlangen, die er im Kult zu erblicken glaubt. Ein Rest der Entzweiung bleibt – und mit ihm ein Ansatz für das kritische Geschäft der Reflexion. Auch der Kult könnte sich gegen sie nur durch Abstumpfung oder künstliches Taubstellen erwehren. Zum zweiten wendet Hegels Schluß sich gegen alle Träume von einer neuen Mythologie. Das bedeutet eine Revision früherer Auffassungen. Den Gedanken einer neuen Mythologie hatte die in Hegels Handschrift überlieferte Jugendaufzeichnung, die unter dem Titel »Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus« Anfang des vergangenen Jahrhunderts publiziert wurde, selber vertreten. Wahrheit und Güte seien in der Schönheit verschwistert, heißt es da, und weiter: »Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter.« Noch weiter: »Wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus e Mythologie der Vernunft werden.« Und schließlich: »Die Myth. muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, u. d. Phil. muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnl. zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. […] Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte, gröste Werk der Menschheit seyn.«34 33

Siehe neuerdings das Nachsynodale Apostolische Schreiben Papst Benedikts XVI. vom 22. Februar 2007: Sacramentum Caritatis. De Eucharistia vitae missionisque ecclesiae fonte et culmine. 34 Kritische Edition in: Rüdiger Bubner (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm. Studien

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Die neue Mythologie soll hiernach Logos und Mythos vereinigen. Sie, die künstlerische Versinnlichung der philosophischen Idee, soll zudem Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der Menschen verwirklichen: eine politische Versöhnung im Zeichen der Schönheit. Das Schöne wird so nicht privat genossen, die Religion gleicht nicht moralischen Geboten, die Philosophie steht der Sinnlichkeit nicht gegenüber. Kurz, die neue Mythologie ist eine schöne Religion, deren Gehalt sich von der Vernunftidee nicht unterscheidet, diese aber allererst realisiert. Die Phänomenologie des Geistes bewahrt in Gestalt der Kunstreligion das Bild dessen, was die neue Mythologie vollbringen wollte. Es besitzt bis in unsere Tage große Anziehungskraft.35 Denn die Idee einer neuen Mythologie vermag in vier Hinsichten ihre Stärke zu bezeugen. Die erste Hinsicht ist theoretischer Natur. Hier besteht die Anziehungskraft der neuen Mythologie darin, daß sie auf die Problematik der Rationalität eine Antwort bereit hält. Die rationale Erfassung der Welt wird zum Problem, wenn sie Weltbewältigung in Weltbeherrschung verzerrt. Die Forderung der Rationalität lautet: das, was uns begegnet, unter die Begriffe der Vernunft zu bringen. Das heißt, nichts, was sich diesen Begriffen entzieht, kann vor dem Gerichtshof der Vernunft bestehen. Die Dinge müssen sich dem rationalen Zugriff fügen. Diese Beherrschung der Welt richtet sich indessen nicht nur gegen die Dinge; sie betrifft zuletzt auch das begreifende Subjekt. Denn auch es selber kann vor seiner eigenen Rationalität nur bestehen, wenn es sich deren Begriffen fügt. Und das führt dazu, daß all das Subjektive, was begrifflich sich nicht erfassen läßt, abgeschnitten wird. Die begreifende Rationalität richtet sich hierin gegen ihren eigenen Träger, das vernünftige Subjekt. Aus dieser Problematik bietet die neue Mythologie einen Ausweg. Indem sie Logos und Mythos versöhnt, versöhnt sie das begriffliche Denken mit seinem Gegenüber. Die Anschaulichkeit der Sinne stellt etwas Nichtbegriffliches dar. Sie wird, im normalen Vollzug der Rationalität, unter den Begriff gebracht. Ein Denken, das die anschauliche Mythe und die begriffliche Vernunft versöhnt, bringt die Anschaulichkeit der Sinne hingegen nicht unter Begriffe. Begriff und Anschauung sind im logischen Mythos ja bereits zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, Bonn 1973 (Hegel-Studien Beiheft 9), 263– 265, hier: 264 f. – Zur Rezeptionsgeschichte siehe Frank-Peter Hansen: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989 (Quellen und Studien zur Philosophie 23). 35 Siehe zu den Peripatien der Idee einer Neuen Mythologie und zu ihren systematischen Gehalten Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. I. Teil, Frankfurt/M. 1982, und ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil, Frankfurt/M. 1988. – Die Schriften zur Aktualität des Mythos sind Legion.

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zusammengewachsen. Die Weltbewältigung einer neuen Mythologie schlägt daher nicht in Weltbeherrschung um. Sie spinnt vielmehr den Faden der Versöhnung nur weiter. Die zweite Hinsicht ist politischer Natur. Hier entspringt die Anziehungskraft der neuen Mythologie ebenfalls einem Problem der Rationalität. Der Staat – ein »mechanisches Räderwerk« nennt ihn das »Älteste Systemprogramm«36 – funktioniert nach Gesichtspunkten der Vernunft. Er beruht auf Satzungen und ihrer Verwaltung. Die Freiheit des Einzelnen muß sich dieser Rationalität beugen. Der Staat wird dadurch zu einem Instrument der Herrschaft, unter dem die Einzelnen leiden. Die neue Mythologie hingegen bietet eine politische Versöhnung im Zeichen der Schönheit. Die Einzelnen werden nicht durch rationale Funktionalität zusammengehalten, sondern bilden eine freie Gemeinschaft von Brüdern, die in der ästhetischen Erfahrung des logischen Mythos ihre Einheit besitzen. Die Herrschaft des politischen Begriffes wird aufgegeben zugunsten eines im schönen Miteinander versöhnten Zusammenlebens. Das ist das politische Versprechen der neuen Mythologie. Die dritte Hinsicht betrifft das Religiöse. Sie besteht darin, die Religion aus der Herrschaft versteinerter Dogmen und Normen zu befreien. Eine im Zeichen der Schönheit gelebte Religion bedarf keiner Priesterweisheit. Sie findet vielmehr in der freien Vereinigung der Einzelnen statt, die die Kunst stiftet. Da solche Vereinigung im logischen Mythos ihr Leitbild findet, geht der vernünftige Gehalt jener Dogmen nicht verloren. Er wird jedoch umgewandelt in die anschaulichen Bilder der Mythe; dadurch verliert er seinen beherrschenden Charakter gegenüber denen, denen der Begriff fremd begegnet. Zugleich wird der Unterschied zwischen den wissenden Priestern und den unwissenden Laien aufgehoben. Beide feiern vereint das göttliche Fest, und beiden ist die Vernunftidee im anschaulichen Mythos gleichermaßen zugänglich. Und zuletzt besitzt die neue Mythologie ästhetische Anziehungskraft. Sie speist sich daraus, die Kunst aus ihrem eingezirkelten Sonderbereich herauszuholen. Die gewaltigen Aufgaben, die die neue Mythologie der Idee der Schönheit zumutet, holen die Kunst in den theoretischen, den politischen und den religiösen Raum zurück. Ja, sie begründen Vernunft, Politik und Religion auf der Kunst. Die Kunst wird daher nicht in einem Schutzraum eingesperrt. Sie gerät vielmehr auf die Straße, um die versöhnte Einheit freier und gleicher Brüder zu ermöglichen. Dadurch erhält die Kunst einen Glanz,

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Kritische Edition, op. cit., 263.

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den sie als heiterer Zusatz zum ernsten Leben niemals besäße. Die neue Mythologie verheißt: Kunst wird für das Leben zentral. Die vier Anziehungspunkte der neuen Mythologie sind nicht abzutun. Auch wenn das Programm einer Vernunftkritik in unseren Tagen seinen Reiz verloren zu haben scheint, so kann es inmitten der selbstherrlichen Rationalität leicht wieder aufkommen. Und dann verfügt die wie immer auch modifizierte Idee einer neuen Mythologie über die gleiche Verheißung wie vordem – die Verheißung, die Versehrungen der Rationalität zu heilen. Indem Hegels Phänomenologie des Geistes in Gestalt der Kunstreligion das Bild solcher Heilung bewahrt, anerkennt sie die Verheißung der neuen Mythologie. Das, worauf die neue Mythologie aus ist: die wiederhergestellte Polisreligion im Zeichen der Schönheit, vermag immerhin die vorvorletzte Stufe der erfüllten Selbstbeziehung darzustellen. Doch über die Sehnsucht nach der verheißenen Versöhnung ist die Phänomenologie des Geistes hinaus. Denn sie macht deutlich, daß jede Mythologie, auch eine neue, durch ihre Substantialität stets wieder ein Unvermitteltes bewahrt und so die erfüllte Selbstbeziehung stört. Das mythische Überzeugtsein von der Geltung bestimmter Inhalte vermag sich gegenüber einer wirklich durchdringenden Reflexion am Ende nicht zu rechtfertigen. Es bleibt im Verweis auf Mythologie stehen und verfällt mithin dann, wenn es ehrlich zu sich ist, dem Zweifel. Die Begründung des mythischen Überzeugtseins harrt deshalb noch ihrer Vollendung – ein Bedürfnis, das es zu seinem Selbstüberstieg treibt. Der Logos läßt sich daher weder vom Mythos einfangen noch mit ihm verbinden. Er muß über den Mythos hinaus, weil auch der Mythos als eine Form unserer Selbstbeziehung nach der Überführung von der Substanz in das Subjekt verlangt. Nach der religiösen Deutung der Kunst und dem Programm einer neuen Mythologie richtet Hegels Schluß – zum dritten – auch die bürgerliche Kunstreligion, die erst das neunzehnte Jahrhundert zur Blüte gebracht hat und deren Spuren unser Kulturleben bis heute prägen. Ihr Glaube lautet, daß in der Kunst etwas Absolutes sich ausspreche, daß die ästhetische Erfahrung mithin einer religiösen Haltung gleiche. Er kann sowohl von religiöser als auch von kunstphilosophischer Seite aus vertreten werden. Letztgenannte artikulierte sich besonders deutlich in der romantischen Verklärung der Instrumentalmusik. Die Unabhängigkeit von begrifflicher Sprache, die die rein instrumentale Musik auszeichnet, schien sie zu dem geeigneten Ausdruck dessen zu machen, was sich als allen Begriffen absolut erweist.37 Das Erbe solcher Auffassung bezeugt sich in der andächtigen Haltung des Kon37

Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, München 1978, 91 ff.

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zertbesuchers. Doch die Erhöhung der Kunst zur Religion ist keine bloß ästhetische Angelegenheit. Sie blüht auch auf dem Boden religiöser Konzeptionen. So benennen Schleiermachers Reden »Über die Religion« drei Wege, auf denen man zum Unendlichen gelangen könne. Der erste Weg besteht in der Versenkung in sich selbst; der zweite Weg besteht in der selbstvergessenen Betrachtung eines Weltstückes; der dritte Weg aber besteht in der Kontemplation des Kunstwerkes.38 Auch dem religiösen Nachdenken gerät hiernach die Kunst zur Religion. Religiöse und kunstphilosophische Betrachtung treffen sich in dem Punkt, das Kunstwerk zum Ausdruck der Absoluten zu erheben. Die ästhetische Erfahrung gerät in diesem Zuge zur religiösen Andacht. Die von solchen Erwägungen entwickelte Form der Kunstreligion ist von der Form, die Hegel schildert, getrennt. Ihr geht es nicht um die Vereinigung freier Brüder im göttlich gestifteten Fest, sondern um die Haltung des Einzelnen zum Werk. Polis und Revolutionsfeier sind verschwunden. An ihre Stelle ist die Kunstreligion des vereinzelten Bürgers getreten, der als für sich das Kunstwerk erfährt – und mit ihm die Transzendenz. Allein, Hegels Einwand gegen die schöne Religion der Griechen trifft auch die Kunstreligion des Bürgertums. Denn auch für sie gilt, daß die Substanz noch nicht gänzlich Subjekt geworden ist. Das Kunstwerk bleibt ja ein Selbständiges. Es vermag sich daher gegenüber dem Betrachter zu vergegenständlichen, so daß dessen Selbstbeziehung in der Beziehung auf das Kunstwerk noch auf etwas Fremdes trifft. Die Reflexion kann sich deshalb bei der religiösen Beziehung auf das Kunstwerk nicht beruhigen. Sie strebt weiter. Daran gibt es im Rahmen der Geschichte des Selbstbewußtseins nichts zu rütteln. »Später ist der Geist über die Kunst hinaus.« V. Hegels Begriff der Kunstreligion entspringt der eigentümlichen Genealogie, die die Phänomenologie des Geistes entwirft. In diesem Rahmen gewinnt er seinen Sinn und seine Kontur. Sinn und Kontur des Begriffes herauszuarbeiten hat sich die Rekonstruktion von Hegels genealogischem Denken bemüht. Dabei sucht sie sich so sehr auf dessen Struktur einzulassen, daß sie von deren grundlegenden Hinterfragung Abstand nahm. Allein die Hinterfragung ist nun in einem letzten Schritt zu vollziehen. Denn Hegels Genealogie erweist sich in einem entscheidenden Punkt als blind. 38

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe I/2, Berlin/New York 1984, 261 f.

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Wir sahen: Die Geschichte des Selbstbewußtseins wird erzählt, um die Stufen der Reflexion abzubilden. Die Reflexion wiederum prüft die Geltung deskriptiver und präskriptiver Größen. Diese Größen sollen für etwas anderes gelten. Traditionell gesprochen: Diese Größen sollen ein theoretisches und praktisches Wissen über etwas beinhalten. Die vollständig durchgeführte Reflexion nähme die Bedingungen solchen Wissens vollständig in den Blick und führte darum zu einem absoluten Wissen. Das so gewonnene absolute Wissen wüßte um seinen Inhalt ebenso wie um seine eigenen Voraussetzungen. Aber – und hier tritt die Blindheit der Hegelschen Genealogie zutage – wenn der Weg zu dem absoluten Wissen sich in einer Geschichte des Selbstbewußtseins darstellen läßt, dann bleibt das um seine Geltung besorgte Denken stets nur bei sich. Denn alles, womit es zu tun hat, entpuppt sich am Ende als ein Moment seiner eigenen Selbstbeziehung. Es findet in dem, was es reflektiert, immer bloß Bedingungen und Gestaltungen seines Verhältnisses zu sich selber: Momente seiner Beziehung auf sich. Doch ein Denken, dem es um die Geltung seiner Gedanken zu tun ist, kann nicht in allem, womit es sich beschäftigt, immer nur Momente seines eigenen Selbstbezuges entdecken. Denn es könnte dann nicht begreifen, was es hieße, daß seine Gedanken über etwas handelten, das nicht Denken oder Gedanke ist. Und damit könnte es einen entscheidenden Schritt der Geltungsreflexion nicht gehen, die ja die Geltung des Denkens für Nichtgedanken bedenkt. Das heißt: Damit das Denken sich als ein für Anderes gültiges Denken zu reflektieren vermag, hat es das wahrhaft Andere des Denkens zu begreifen. Die Identifikation der Geltungsreflexion mit der Geschichte des Selbstbewußtseins verstellt diese Möglichkeit. Sie legt fest, daß die Reflexion der Geltung immer nur das Eigene des Denkens, eben das Selbstbewußtsein in seiner ganzen Erstreckung, betrifft und dessen Anderes von Anfang an durch das Eigene ersetzt. In anderen Worten, das von der Geschichte des Selbstbewußtseins dargestellte Denken ist ein selbstgenügsames Denken und darum verkürzt. Dieser Einwand gegen Hegels Verfahren ist in den Aufzeichnungen des jungen Marx enthalten, die sich der Auseinandersetzung mit seinem geistigen Lehrer widmen. »Alles menschliche Wesen, der Mensch«, notiert Marx, »gilt für Hegel = Selbstbewußtsein. Alle Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts als Entfremdung des Selbstbewußtseins. Die Entfremdung des Selbstbewußtseins gilt nicht als Ausdruck, im Wissen und Denken sich abspiegelnder Ausdruck der wirklichen Entfremdung des menschlichen Wesens. Die wirkliche, als real erscheinende Entfremdung vielmehr ist ihrem innersten verborgnen – und erst durch die Philosophie ans Licht gebrachten – Wesen nach nichts andres als die Erscheinung von

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der Entfremdung des wirklichen menschlichen Wesens, des Selbstbewußtseins. […] Alle Wiederaneignung des entfremdeten gegenständlichen Wesens erscheint daher als eine Einverleibung in das Selbstbewußtsein; der sich seines Wesens bemächtigende Mensch ist nur das der gegenständlichen Wesen sich bemächtigende Selbstbewußtsein.«39 Diese Aufzeichnungen nehmen nicht einfach eine äußerliche Konfrontation von Wirklichkeit und Selbstbewußtsein vor. Eine äußerliche Konfrontation würde die unbegründete Annahme treffen, dem Selbstbewußtsein stünde eine vorgegebene Wirklichkeit gegenüber. Das Wirkliche als Erscheinung des Selbstbewußtseins zu begreifen beschädigte sodann diese Annahme und wäre um ihretwillen abzulehnen. In anderen Worten: Die unbegründete Annahme einer vorgegebenen Wirklichkeit erzwänge die Ablehnung von Hegels Erwägungen. In der Tat erheben sich einige der Junghegelianer, insbesondere Feuerbach, auf der Grundlage jener Annahme, und in der Tat atmen auch die Notizen des jungen Marx ihren Geist. Doch ihren Grund besitzen sie diesseits von ihr. Denn in Marxens Aufzeichnungen spricht sich ein Verständnis von Denken aus, das dessen Selbstgenügsamkeit zu überwinden sucht.40 Was Marx unter dem Titel der Wirklichkeit anspricht, ist das Andere des Denkens, das dieses nicht aus sich heraus zu erzeugen vermag. Ein solches Anderes ist dem Denken nicht äußerlich, sondern dessen Begriff eingeschrieben, insofern es als ein geltendes Denken sein Anderes zu erfassen strebt. Die Verwandlung des Wirklichen in Erscheinungen des Selbstbewußtseins, die Marx an Hegel kritisiert, ist somit eine Verwandlung, die den Begriff des Denkens in seinem Inneren betrifft. Sie verkürzt ihn um seine eigene Intention. In der von Marx gepflegten Ausdrucksweise heißt die Verkürzung des Denkens um seine eigene Intention eine »Mystifikation«. Eine Mystifikation ist die Verschleierung eines Sachverhaltes; und das Andere des Denkens in eine von dessen Erscheinungen zu verwandeln nimmt eine solche Verschleierung vor. Denn es erschafft einen neuen Schein: den Schein, daß das Denken selbstgenügsam wäre. Die Reflexion der Phänomenologie fällt sich hierin selber in den Arm. Die phänomenologische Kritik wollte, so sahen wir, den Schein zweifelhafter Positionen in die Erscheinungen einer

39

Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband I, Berlin 1968, 465–588, hier: 575 f. 40 Für eine derartige Lesart, die Marx aus den ideologischen Einhegungen befreien würde, plädiere ich ausführlicher in meinem Aufsatz: »Das Erbe des Marxismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 709–729.

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einheitlichen Instanz, der vollendeten Selbstbeziehung, überführen. Die in den Aufzeichnungen des jungen Marx enthaltene Volte besagt indessen, daß diese Überführung des Scheins in Erscheinungen selber wieder einen neuen Schein erzeugt. Den Schein in Erscheinungen zu überführen gibt vor, daß das Denken seines wahrhaft Anderen nicht bedürfte. Die phänomenologische Kritik des Scheins muß sich daher noch gegen sich selbst richten – nicht um sich am Ende nun selber als die Erscheinung eines Vorgegebenen zu begreifen, sondern um zu begreifen, daß die Verwandlung des Scheins in Erscheinungen nicht ihr letztes Wort zu sein vermag. Marx: »Die Phänomenologie ist daher die verborgne, sich selbst noch unklare und mystizierende Kritik.«41 Sie entzieht sich der Reflexion, indem sie ihre eigene Voraussetzung, ein Anderes als sich selbst zu bedürfen, nicht bedenkt. Darum kann sie – entgegen ihrem Anspruch – nicht die vollendete Geltungsreflexion darstellen, sondern muß im bloßen Schein der Vollendung verharren. Und weil sie zu der Überwindung des selbsterzeugten Scheins ihr eigenes Prinzip, die vollendete Selbstbeziehung, zu beschneiden hätte, vermag sie den Schleier aus eigenen Mitteln nicht zu zerreißen. Hegels genealogisches Denken kann die Darstellung der durchgeführten Geltungsreflexion hiernach nur in einer entscheidenden Verzerrung leisten. Was benötigt wäre, wäre die Möglichkeit, das Andere des Denkens so darzustellen, daß es sich nicht nur als eine der Gestalten des Eigenen erfahren ließe. Diese Erfahrung könnte indessen nicht dadurch gemacht werden, daß man hinter Hegels Erwägungen zurückfiele. Insbesondere läßt sie sich nicht dadurch vorgeben, daß man nunmehr doch jene Genealogie einzuführen suchte, die nicht nur die Darstellung der Reflexion wäre, sondern dieser voranginge. Wir sahen bereits, daß eine solche Naturgeschichte des Denkens dem Einwand verfiele, daß jede Genealogie bereits eine Geltungskrise und also die Reflexion voraussetzt. Es gibt daher weiterhin keinen Rückgang hinter die Reflexion. Das Andere des Denkens kann vielmehr nur innerhalb des Denkens eingeführt werden, weil es ansonsten dessen kritischer Reflexion nicht standzuhalten vermöchte. In Hegels Terminologie: Es hilft kein Rückgriff auf etwas, das gegenüber dem Denken als selbständig auftritt. Die Selbstgenügsamkeit des Subjektes läßt sich durch keine Substanz überwinden. Auf dem Boden dieser Zwangslage müssen wir schließen, daß das Denken – statt nach einem Vorgegebenen zu langen – sich so zu reflektieren hätte, daß es seine eigene Selbstgenügsamkeit kritisierte. Diese Kritik aber kann es nur dann durchführen, wenn es die Erfahrung von etwas macht, 41

Karl Marx, op. cit., 573.

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das weder einer vorreflexiven Genealogie entspringt noch in den Gestalten des Selbstbewußtseins sich abbilden läßt. Eine Möglichkeit, solche Erfahrung zu machen, ist indessen die Erfahrung des Unbekannten. Die Erfahrung des Unbekannten im strengen Sinne ist die Erfahrung von etwas, das keine Ahnen aufweist und auch kein Spiegelbild des Eigenen darstellt. Es läßt sich daher in den beschriebenen Formen des genealogischen Denkens nicht begreifen. Und dennoch ist die Erfahrung des Unbekannten kein Hokuspokus. Wir kennen sie aus – der Kunst. Freilich nicht aus der Kunst in Form der Kunstreligion, die man im Rahmen einer Geschichte des Selbstbewußtseins erfassen kann. Die Erfahrung des Unbekannten hat erst die Kunst unserer Zeit ausgesprochen. »Das Unbekannte in der Kunst« lautet Willi Baumeisters Inbegriff dessen, was seine Erfahrungen des künstlerischen Schaffens ihn lehrten.42 Einmal freigelegt, beleuchtet er die Kunst insgesamt, nicht nur die der erweiterten Gegenwart. Denn was das gelungene Kunstwerk ausmacht, ist nicht die Durchführung des künstlerischen Vorhabens, sondern gerade die in der Durchführung entstehende Abweichung von dem Vorhaben, in der sich die Begegnung mit dem Eigensinn des Materials ausspricht. Diese Abweichung führt zu der Erfahrung des Unbekannten. Denn sie weicht von allem Bekannten, der Absicht und dem vorhandenen Material, ab. Wer der inneren Verfaßtheit der Kunstwerke nachgeht, stößt darum auf das Unbekannte. Es bleibt auch bei noch so durchgeführtem Verständnis des Werkes bestehen, ja es tritt gerade in dem entwickelten Verständnis um so deutlicher hervor. Ein anderes Wort für das Unbekannte, das uns die Kunst erfahren läßt, wäre »das Neue«. Das ernst gemeinte Neue der Kunst, nicht das Neue als Selbstzweck eines nach Neuigkeiten gierenden Milieus, durchkreuzt alles genealogische Denken. Denn obwohl es sich auf die Geschichte der Kunst bezieht, insofern es eben neu gegenüber dieser ist, fällt es so sehr aus ihr heraus, daß man es in seinem Inneren als Bruch mit der Geschichte erfährt. Das Neue des gelungenen Kunstwerkes schneidet sich schließlich insofern von allem Vorangegangenen ab, als es eine Begründung besitzt, die allein aus dem autonomen Werk selbst erfolgt. Das gelungene Werk ist ein Neues, weil es in sich selbst begründet dasteht. Aus dem Bereich der Kunstreligion, die keine selbstbegründeten, sondern dienende Werke verlangt, ist das Werk damit herausgetreten. Ein Satz Adornos spricht diese Eigenart der Kunst aus: »Das Neue ist keine subjektive Kategorie, sondern von der Sache erzwungen, die anders nicht zu sich selbst, los von Heteronomie, kommen 42

Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst. Neue, veränderte Auflage. Mit einem Beitrag von René Hirner, Köln 1988.

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kann.«43 In anderen Worten: Es ist die Autonomie der Kunst, die das Neue erfahren läßt. Hiermit aber läßt sie zugleich das erfahren, was das um seine Geltung besorgte, mithin kritische Denken benötigt, wenn es nicht bloß in einer Geschichte des Selbstbewußtseins und also verkürzt dargestellt werden soll: das wahrhaft Andere. In der Diskontinuität des Neuen wird das ihm gegenüber blinde Denken der Genealogie überwunden – nicht nur das vorreflexive, sondern auch das die Reflexion darstellende. Und erst wenn die Blindheit gegenüber dem Anderen, die Hegels Geschichte des Selbstbewußtseins aufweist, gesehen wird, kann die Erfahrung des Unbekannten und des Neuen in der Kunst ihre Bedeutung erlangen. So entläßt das Scheitern der Phänomenologie des Geistes den Begriff der künstlerischen Avantgarde.

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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, 40

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1. Wir wissen nur dann, was es wirklich gibt, wenn wir als einzelne oder alle zusammen endgültig bei der Wahrheit angekommen sind. Und der Weg zur Wahrheit über das, was es wirklich gibt, zu diesem Wissen von der Wirklichkeit, gehört selbst zum Wissen von der Wirklichkeit; und zwar nicht nur deshalb, weil dieser Weg zum Wissen selbst ein Stück Wirklichkeit ist. Wenn es sich so verhält, dann kann man die Geschichte des Wissens, die wir als einzelne durchlaufen und die Kollektive oder Kulturen hinter sich bringen, und das Wissen von dem, was wirklich ist, nicht voneinander trennen. Warum soll aber der Weg zur Wahrheit zum Wissen von der Wahrheit dazu gehören? Dies läßt sich leicht verständlich machen, wenn man zwischen axiomatisierten und nicht axiomatisierten Aussagezusammenhängen unterscheidet. Wenn gesagt wird, was es wirklich gibt, gilt, daß die Bedeutung dessen, was gesagt wird, nur unter zwei Bedingungen verstanden werden kann: Entweder weil eindeutige Definitionen vorliegen, die die Bedeutung dessen, was gesagt wird, festlegen, oder wenn die Geschichten dessen, was gesagt wird, bekannt sind. Die Kenntnis der Geschichte einer Rede muß also immer dort die Bedeutung einer Rede klären, wo keine axiomatische Theorie vorliegt, die ohne geschichtliche Kenntnis einfach über ihre Definitionen verständlich sein soll. Weil jedoch ein axiomatisierter Aussagezusammenhang über alles, was es gibt, nicht möglich ist, ist die Geschichte der Redeweisen oder Diskurse unentbehrlich. Oder anders gesagt: Auf Grund der Unmöglichkeit einer vollständigen axiomatischen Wirklichkeitserfassung ist ein unhistorisches Wissen von der Wirklichkeit unmöglich. Sofern die wahre Rede über das, was es gibt, Ontologie ist, ihre Wahrheit aber nur dem zugänglich ist, der die Geschichte dieser Rede kennt, wäre nach diesen Überlegungen die Ontologie notwendigerweise historisch, weil sie nicht durchgängig axiomatisch sein kann. Für die Unmöglichkeit einer vollständigen axiomatischen Wirklichkeitserfassung spricht viel, wenn hier auch nicht der Ort ist, diese Unmöglichkeit ausführlich zu begründen. Der einfachste Gegengrund gegen eine universale Axiomatik liegt in der Einsicht, daß es zu viel gibt und die Reden über die Vielheit dessen, was es gibt, zu mannigfaltig sind, als daß jemals die Aussicht bestünde, die Wirklichkeit

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in einem einzigen axiomatisierten System zu erfassen, um auf diese Weise die Geschichte der Termini, die in der Rede überhaupt verwendet werden, in den Definitionen einer Axiomatik abzuschütteln. Nur Anhänger eines krassen reduktionistischen Physikalismus könnten zu dieser Hoffnung neigen. Und auch solche Physikalisten könnte man fragen, ob die Termini, mit denen definiert wird, nicht nur dann verstanden werden können, wenn man ihre Geschichte kennt, wenn also auf eine nicht axiomatisierte Sprache, die sich historisch entwickelt hat und die nicht auf Entscheidungen über Syntax und Semantik zurückgeht, Bezug genommen wird. Die möglichen Antworten auf diese kritische Nachfrage an die Freunde der Axiomatik würden uns in die Philosophie der Mathematik und zu der Frage führen, ob ein reiner Operationalismus oder Konventionalismus, in dem formalisierte Sprachen ganz für sich selbst sorgen, noch etwas mit Ontologie zu tun haben kann. Denn die für sich selbst sorgenden Zeichen erhalten ihre Bedeutung ja nicht durch den Bezug auf das, was es außer Zeichen noch gibt, sondern durch Bezug aufeinander. Diese Frage liegt nicht fern von Hegel, denn bei ihm scheint es manchmal, daß der Geist ganz für sich selbst sorgt, und man weiß nicht recht, ob Hegel tatsächlich etwas mit Ontologie in unserem Sinne anfangen konnte. Vom Hegelschen Standpunkt dürfte eine Axiomatik als Ontologie schon deshalb nicht in Frage kommen, weil deduktive Systeme widerspruchsfrei zu sein haben, für Hegel jedoch der »gewöhnliche horror, den das vorstellende, nicht spekulative Denken – wie die Natur vor dem vacuum – vor dem Widerspruch hat« gerade verhindert, daß man bei der Wirklichkeit, die nun einmal widersprüchlich ist, ankommt. 2. Trotzdem könnte man mit diesen eingangs angestellten Überlegungen versuchen, Hegels berühmte Sätze aus der Vorrede in die Phänomenologie des Geistes, daß das »Wahre das … Ganze« sei, das »Ganze aber … nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen« darstelle, zu aktualisieren. Denn die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit ist in der Hegelschen Überlegung ja als Entwicklung, nicht als Deduktion nachvollziehbar. Die Geschichte der Begriffe oder des Geistes ist die Geschichte von Widersprüchen, die zu Entwicklungen führt. Vielleicht wäre man dann sogar geneigt, Hegel deshalb als einen »historischen Ontologen« zu bezeichnen; mit der Prozeßphilosophie ist er ja schon oft genug in Zusammenhang gebracht worden. Doch Hegel spricht ja nicht von Ontologie (das Wort ist bei ihm eigentlich nur im Zusammenhang mit dem ontologischen Gottesbeweis in Gebrauch), und die Phänomenologie des Geistes ist nicht die Seinslogik.

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3. Der Terminus der »historischen Ontologie« hat deshalb erst einmal gar nichts mit Hegel zu tun, sondern hat als Titel des neuesten Buches von Ian Hacking Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hacking, dem der Begriff der Ontologie selbst etwas angestaubt und fade erscheint, berichtet jedoch wiederum, daß er ihn nicht selbst geprägt, sondern von Michel Foucault übernommen hat. Hacking schreibt: »Ich entnehme meinen Titel jedoch dem Werk eines Autors, den niemand für fade erachtet, obwohl er in letzter Zeit in Ungnade gefallen ist und in manchen Kreisen mit sehr böswilligen Einwänden bedacht wird. In seinem großartigen Essay ›Was ist Aufklärung?‹ spricht Michel Foucault zweimal von der ›historischen Ontologie unserer selbst‹. Das könnte, wie er sagt, die Bezeichnung für ein wissenschaftliches Fach sein, das sich mit der Wahrheit befaßt, ›durch die wir uns als Erkenntnissubjekte konstituieren‹, mit der ›Macht, durch die wir uns als Subjekte, die auf andere einwirken, konstituieren‹, und mit der ›Ethik, durch die wir uns als moralische Akteure konstituieren‹. In dieser Beziehung spricht Foucault von den Achsen des Wissens, der Macht und der Ethik.« Eine historische Subjektkonstitutionstheorie ist nun aber etwas, was uns sofort wieder zu Hegel zurückbringt. Denn Hegel wollte ja das »Bedürfnis, das Absolute als Subjekt vorzustellen« nicht durch eine Setzung, etwa einer göttlichen Subjektivität oder eines absoluten Ichs, befriedigen, sondern »als die Bewegung des in sich selbst Reflektierens« darstellen. Mit dieser vermutlich gegen Fichte gewendeten Äußerung sind wir zwar bei einer historischen Subjektkonstitution, doch ist dieses Hegelsche Subjekt das Absolute, das sich selbst reflektiert und entwickelt, und nicht ein endliches Ich, das um Macht und Erkenntnis mit anderen Subjekten ringt. Das Programm einer historischen Ontologie von Hacking ist bescheidener oder schlicht ein anderes als die Hegelsche Darstellung der historischen Selbstreflexion des Absoluten, wenn auch ehrgeiziger als das Foucaultsche einer lediglich auf uns selbst bezogenen historischen Ontologie. Hacking charakterisiert sein eigenes Vorhaben so: »Foucault interessierte sich dafür, wie ›wir‹ uns selbst konstituieren. Ich werde verallgemeinern und alle möglichen Arten von Konstitution untersuchen. Um nur einige zu nennen, mit denen ich mich beschäftigt habe: Wie ist die heute so bezeichnete Wahrscheinlichkeit zum Vorschein gekommen? Wie ist der Zufall – einst das ultimative andere, das unerkennbare – gezähmt worden, und wie hat er sich zum immer beliebteren Instrument der Prognose und Steuerung des Verhaltens von Personen und Dingen entwickelt? Wie ist es gekommen, daß etwas so Quälendes wie

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der Kindsmißbrauch umgemodelt und in den Brennpunkt des Handelns gerückt wurde – ein Vehikel des Urteils, ein Klagelied über die verlorene Unschuld einer Generation, ein Sündenbock für das Ende der Kleinfamilie und ein Grund für wiederholte Eingriffe: die Überwachung von Familien?« 4. Auf den ersten Blick scheint dieses Vorhaben Hackings auf nichts anderes hinauszulaufen, als ein schlichtes wissenschafts- und begriffshistorisches Programm. Doch ebenso wie Foucault in der Archäologie des Wissens die Einheiten der Begriffe und der Disziplinen nicht als für die historische Forschung vorgegeben hinnimmt, sondern als etwas betrachtet, das selbst in einem diskontinuierlichen Prozeß entsteht und deshalb nicht als gegebene Einheit vorausgesetzt werden darf, ebenso sieht sich Ian Hacking in seinen berühmten Arbeiten zur Geschichte der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls oder des Kindesmißbrauchs dazu gezwungen, auf sehr vieles Bezug zu nehmen, nicht nur auf Begriffe und Disziplinen, sondern auch auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen, auf kulturelle und soziale Veränderungen. Auch in dieser Sprengung der Grenzen zwischen Begriffs- und Philosophiegeschichte, politischer Geschichte und Religionsgeschichte, Geschichte der Institutionen und der Personen kann man sich an Hegels Phänomenologie des Geistes erinnert fühlen – es ist fast, als käme man nicht von ihr los. Denn dieses Buch ist auch eine formalisierte Geschichte ganz unterschiedlicher kultureller Faktoren (die Hegel freilich nicht so nennt), in der philosophische Positionen wie Empirismus, Stoizismus und Skeptizismus ebenso vorkommen wie die Lavatersche Schädellehre (in der »Beobachtung der Natur«), die französische Revolution (in »Die absolute Freiheit und der Schrecken«), der Pietismus (im Abschnitt über das Gewissen) und vieles andere mehr. Trotzdem handelt es sich bei der Phänomenologie des Geistes nicht um eine kulturwissenschaftliche Diskursgeschichte. Es mag einen Weg von Hegel über Marx und den Strukturalismus zur Archäologie des Wissens von Foucault bis zu Ian Hacking geben. Doch aus der Perspektive der Archäologie des Wissens, die Foucault als »neue Geschichte« verstanden wissen will, ist die Selbsterscheinung des Geistes »alte Geschichte«, weil sie mit dem Absoluten operiert und bei aller Anerkennung der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit durch Hegel doch den Bruch vermeintlicher Weise nicht kennt, sondern in der Erscheinung des Geistes Kontinuität vor dem Auge des Beobachters entstehen läßt. 5. Es ist also nicht die Auflösung der Grenzen zwischen den Disziplinen und Begriffen, die die alte von der neuen Geschichte in Foucaults Augen unterscheidet, sondern die Erkenntnis und Betonung von Brüchen, Diskon-

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tinuitäten, die der alten Geschichte vermeintlich entgehen oder gar von ihr geleugnet werden, von der neuen Geschichte des Foucaultschen Archäologieprojektes jedoch vor allem thematisiert werden sollen. Foucault schreibt: »Einer der wesentlichsten Züge der neuen Geschichte ist ohne Zweifel diese Deplazierung des Diskontinuierlichen: sein Übergang vom Hindernis zur Vertrautheit; seine Integration in den Diskurs des Historikers dort, wo er nicht mehr die Rolle einer äußerlichen Fatalität spielt, die man verringern muß, sondern die eines operationellen Begriffs, den man benutzt …« Die »alte Geschichte« operierte nach Foucault mit Teleologie und Totalisierung, die neue mit mehr oder weniger eingeschlossenen Phasen und deren von Zufällen bestimmter Konstitution. Auf den ersten Blick scheint dieser Kontrast zwischen kontinuierlicher und teleologisierender Totalisierung und kontingenzperzipierender Fragmentierung der Geschichte plausibel. Doch bei genauerem Nachdenken zeigt sich, daß die Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Geschichte nicht so leicht nachvollziehbar ist. In geometrischen, logischen und physikalischen Zusammenhängen ist es relativ leicht, zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Gebilden zu unterscheiden. Daß die Begrenzung einer geschlossenen Figur, wie die eines Kreises oder Quadrates, geometrisch kontinuierlich ist, die einer offenen Kurve, wie einer Parabel, jedoch nicht, ist einsichtig. Daß eine Abfolge von Behauptungen, bei denen der Übergang von der einen zur nächsten durch eine Schlußregel ermöglicht wird, die die frühere Behauptung in die spätere transformiert, eine inferentiell kontinuierliche ist, eine, bei der solche Regeln nicht zu finden ist, dagegen inferentiell lückenhaft, ist ebenfalls verständlich. Ebenso einfach ist es, in der Physik eine kontinuierlich beschleunigte Bewegung von einer zu unterscheiden, bei der ein Körper sich mal bewegt und mal ruht. Doch wie kann man eine kontinuierliche Ereignisfolge in der Geschichte von einer diskontinuierlichen, in der es Brüche gibt, unterscheiden? Geht es hier um die Realität der Ereigniszusammenhänge oder um die narrative Form ihrer Darstellung? Wenn Foucault von der Unterbrechung von Kausalzusammenhängen spricht, dann scheint ihm so etwas wie ein realer oder objektiver Zufall vorzuschweben, der für den Ablauf der Geschichte relevant ist. Wenn er von der »Rationalität des Werdens« als etwas, von dem die alte Geschichte sprach, in der »neuen Geschichte« abrückt, dann scheint es um inferentielle Strukturen in den historischen Narrationen zu gehen. Doch wird in den Erzählungen der Historiker oder gar in Hegels Phänomenologie des Geistes im deduktiven Sinne wirklich logisch geschlossen? Waren in den Erzählungen der Historiker und Hegels Erscheinungen der Gestaltungen des Bewußtseins Inferenzstrukturen und ein auf ihnen beruhendes ma-

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thematisches Rationalitätsverständnis jemals sehr prominent? Gibt es nicht, seit es Geschichte gibt, die Klage der Philosophen, daß in Geschichte und Geschichten nicht geschlossen, sondern eben bloß erzählt werde, das Erzählen jedoch immer etwas Zufälliges an sich habe oder vom Zufälligen handle, wohingegen die Theorie das Notwendige thematisiere? Ist die Erzählung nicht eine sehr allgemeine Form der Kontinuumserzeugung und die deduktive Erklärung in den Naturwissenschaften bzw. die logische Schlußfolgerung in den Formalwissenschaften eine spezielle Art der Kontinuumsherstellung? Foucault meint, daß bei immer genauerer historischer Betrachtung immer mehr Diskontinuitäten sichtbar würden. Von anderen Historikern ist das Gegenteil behauptet worden: daß Diskontinuitäten das Resultat ungenauer historischer Betrachtung seien, je detaillierter man in der Geschichte werde, um so mehr gingen die Ereignisse, Meinungen und Mentalitäten ineinander über. Gibt es also in der Geschichte einen notwendigen Zusammenhang zwischen Detailgenauigkeit der historischen Forschung auf der einen Seite und Anerkennung der Kontingenz bzw. Dekontingenzierung auf der anderen? Wie ist überhaupt zwischen diesen beiden Diagnosen, daß eine Entwicklung durch Kontingenzen oder daß sie durch Übergänge geprägt sei, zu unterscheiden, wie differenziert man eine Geschichte, die Diskontinuitäten entdeckt, von einer, die Kontinuitäten findet? Wenn Hegel vom Übergang in Anderes als dialektischem Prozeß des Seins handelt, geht es dann um die Diagnose einer Kontinuität oder die einer Diskontinuität? Was Foucault am Anfang seines Widerspruchskapitels in der Archäologie des Wissens sagt, gilt zumindest nicht für Hegel: »Gewöhnlich,« schreibt Foucault dort, »gewährt die Ideengeschichte dem Diskurs, den sie analysiert, einen Kohärenzkredit. Widerfährt es ihr, eine Unregelmäßigkeit im Wortgebrauch, mehrere unvereinbare Propositionen, ein Spiel von Bedeutungen, die nicht zueinander passen, und Begriffe, die nicht zusammen in ein System gebracht werden können, festzustellen, so macht sie es sich zur Aufgabe, auf einer mehr oder weniger tiefen Ebene ein Kohäsionsprinzip zu finden.« Hegel sucht nicht nach einer solchen tieferen Ebene, sondern macht den Widerspruch selbst zu einem Prinzip des Übergangs, wie der Widerspruch und gedankliche Unterbruch ja auch in einem Gespräch ein Prinzip ist, um von einer Behauptung zur nächsten zu kommen: A behauptet p und B daraufhin non-p, um A zu widersprechen. Durch den Widerspruch erhält das Gespräch eine Kontinuität und eine dialektische Rationalität. Schon beim Gespräch kann also – anders als bei einem deduktiven Beweis – ein Wider-

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spruch als eine Kontinuität und nicht Diskontinuität in einem sprachlichen Gebilde aufgefaßt werden, weil das Gespräch eben nicht die monologische Explikation einer, sondern die Darstellung vieler Perspektiven ist, so wie das kubistische Gemälde. Wenn Hegel in der Phänomenologie des Geistes zwischen Gestalten des Bewußtseins unterscheidet und von einer zur nächsten in dialektischen Gedankenbewegungen übergeht, wenn Dostojewski eine weitere Person in einem Roman einführt, die eine weitere Perspektive auf das bisherige Geschehen entfaltet, handelt es sich dann in den Übergängen der jeweiligen Werke um Kontinuitäten oder Diskontinuitäten? Die Unterscheidung zwischen Kontinuität und Diskontinuität hat in polyphonen geistigen Verhältnissen nicht mehr viel Sinn. Die Freunde geschlossener widerspruchsfreier Weltbilder und deduktiver Systeme haben die Polyphonie der Dostojewskischen Romane und die (ebenfalls polyphone) Dialektik der Hegelschen Systeme ja oft genug kritisiert. Insofern ist nicht leicht zu sagen, was eine neue Geschichte in ihrer Entdeckung der Diskontinuität gegenüber dieser Art von Werken Neues bringt. Die Relevanz der Kontinuitäts- bzw. Diskontinuitätsdiagnose einer Geschichtsschreibung könnte daran geprüft werden, welche Relevanz die Charakterisierung eines zeitlichen Übergangs in einer Geschichte als kontinuierlich bzw. diskontinuierlich hat. Was macht eine Geschichte interessant: die Quellen, die sie ausbreitet und in Beziehung zueinander setzt, sich gegenseitig beleuchten und deuten läßt, oder die Feststellung, daß der Übergang in der Geschichte der Rede über den Menschen zwischen 1580 und 1630 ein diskontinuierlicher ist? Ich vermute, daß die letzte Feststellung von Foucault in ihrer Abstraktheit für das konkrete historische Interesse so relevant ist, wie irgendeine andere geschichtsphilosophische Feststellung auch, also nicht sehr bis gar nicht bedeutsam. 6. Hacking setzt sich mit der Bedeutung der Kontingenz in Foucaults Konzept einer neuen Geschichte nicht auseinander, aber mit einem anderen Phänomen, von dem seiner Ansicht nach die Projekte einer Verschmelzung von Philosophie und Kulturgeschichte bedroht sind, dem Phänomen der Suche nach einem Ursprung. Hier spricht Hacking zunächst nicht von Foucault, sondern zuerst von Jonathan Rée, der in seiner 1999 erschienenen Philosophical History »die an den Universitäten gelehrte Form der Geschichte der Philosophie mit ihrer Bindung an bestimmte Epochen und Richtungen der Philosophie und ihrem Festhalten an einer kanonischen Liste von Philosophen, die man wie Brieffreunde betrachtet, mit denen man über die Jahrhunderte hinweg korrespondiert«

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in Frage stellen will. »Vielmehr gehe es,« wie Rée schreibt, »um ein Fach, das jetzt vielleicht noch nicht existiert (obwohl Foucault und Deleuze gewisse Ansätze beigesteuert haben) … Man werde (in diesem Fach, M. H.) nicht chronologisch verfahren, sondern wie im Film werde es Schnitte geben zwischen Nahaufnahmen und Panoramabildern. Ferner werde man sich der Methoden der Autobiographie, des Romans, der historischen Forschung und der philosophischen Kritik bedienen. Den umfassenderen Rahmen werde die Phänomenologie bereitstellen.« Dieses innovative Projekt findet Hackings Bewunderung, bis er auf den folgenden Satz bei Rée stößt: »Mit einigem Glück wird uns die philosophische Geschichte … die Möglichkeit geben, die Idee der wissenschaftlichen Objektivität vor ihrer Abspaltung von der subjektiven Erfahrung … in ihrem Urzustand zu betrachten.« Hier wiederholt Rée in Hackings Augen einen Fehler, den schon Foucault in der Geburt der Klinik begangen hat und von dem sich Foucault schon selbst befreit habe, so daß er allen Nachfolgern, die an einer Verschmelzung von Geschichte und Philosophie interessiert seien, eigentlich nicht mehr passieren müsse: den Fehler der Ersetzung der philosophischen Suche nach einem absoluten Anfang des Denkens oder Begründens durch einen historischen Urzustand. Wo das geschieht, wird das philosophische Denken nicht wirklich historisiert, sondern es hängt sich nur ein historisches Mäntelchen um, ohne sich in seiner Grundintention einer Suche nach ewiger Gewißheit zu verändern. Für Hacking ist die Suche nach dem historischen Urzustand ein »romantisches Hirngespinst«, der ältere Wahn, den die Geschichte der Psychiatrie zu entdecken in der Lage sein mag, ist so wenig der wahre oder ursprünglichere Wahn, wie die älteren Auffassungen von Objektivität die wahreren oder ursprünglicheren sind. Sie sind eben früher und insofern die Bedingung von historischen Transformationen, mehr aber auch nicht. Diese historischen Transformationen von vornherein als Verfallsprozesse zu deuten, die von einem wahren Ursprung wegführen, ist so abwegig wie sie a priori als Fortschritt zu begreifen, als Annäherung an die Wahrheit. Während sich die Heideggersche Seinsgeschichte vor allem auf das verfallshistorische Muster festgelegt hatte, verfolgte Hegel wohl ein fortschrittshistorisches Modell, wenn er den Durchlauf durch die Geistesgeschichte als einen Vervollständigungsprozeß hin zu einer Ganzheit begriff, in der sich dann alle Gestalten des Bewußtseins versammelten. Fortschrittsteleologie und Urzustandssuche sind jedoch zwei historische Unternehmungen derselben Art: Sie sehen den

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höchsten Preis der historischen Untersuchung im Erreichen einer absoluten Grenze, sei sie nun Ziel oder Anfang, an der die Historisierung aufhöre, etwa weil jetzt der wahre ursprüngliche Begriff von physis bei Anaximander gefunden worden ist oder der wahre Begriff der Natur in der zukünftigen Superstringtheorie auftauchen wird. »Wenn sich Geschichte und Philosophie überschneiden,« schreibt Hacking, »müssen diejenigen, die auf diesen Gebieten forschen, die romantischen Wunschbilder beiseitelassen, die den Philosophen so oft die Sicht versperren – einerlei, ob sie auf einen Moment der Reinheit des Urzustandes aus sind oder ob sie sich nach einem a priori gegebenen Rahmen sehnen.« 7. Der Suche nach Urzuständen entspricht in der Wissenschaftssystematik eine Suche nach fundamentalen Disziplinen. Alle Wissenschaften haben Vertreter in ihren Reihen, die von Zeit zu Zeit diesen Fundamentalitätsanspruch stellen; neuerdings bekanntlich die Neurowissenschaftler. Weil alles Denken ein Hirn brauche, sei die Wissenschaft vom Hirn die Grundlage aller Wissenschaften, schließlich können auch ein Physiker und ein Mathematiker nicht ohne Hirn denken. Weil das Hirn Produkt der Evolution ist, sagt der Evolutionsbiologe, sei die Naturgeschichte des Hirns die Fundamentaldisziplin, denn sie führe zum Urhirn, das sich bei bestimmten Nagern auf den Bäumen entwickelt habe und dessen Strukturen auch in unseren Hirnen noch anzutreffen sei. Der Wissenschaftssoziologe erwidert darauf, daß alles Denken, auch das über Hirne, in Gesellschaften und in Zeichensystemen oder Diskursen stattfinde, die sich in Gesellschaften verbreiten, deshalb seien die Sozialwissenschaften, die die gesellschaftliche Konstruktion der wissenschaftlichen Termini, ja der wissenschaftlichen Gegenstände betrachteten, die Fundamentaldisziplinen. Diese biologischen und soziologischen Fundamentalismen haben heute die physikalischen und philosophischen abgelöst. Die Physiker können ja behaupten, daß sie die Grundgesetze der Materie herausbekommen, aus der nun einmal alles bestehe, und deshalb die Fundamentaldisziplin darstellen, und die Philosophen haben lange Zeit behauptet, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmen und Denken erkennen, den apriorischen Rahmen für jede begründende Wissenschaft herausfinden, weshalb ihre Untersuchungen das Fundament der Wissenschaften abgäben. Man kann nun die sozialen und die transzendentalen Bedingungen von Erkenntnis historisieren und dann die Untersuchung des historischen Apriori oder die der historischen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse zum Fundamentalgeschäft der Wissenschaften überhaupt erklären, dann wird die Geschichte des Wissens zur vermeintlichen scientia prima. Was diese Jagd

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nach dem Fundaments-Orden soll, ist da, wo wiederum keine axiomatischen Fundamente gelegt werden können, nicht ganz klar. Aus der ältesten, also historisch primären, Disziplin läßt sich ja ebenso wenig alles weitere Wissen ableiten, wie aus der epistemisch ersten Disziplin. Höchstens Fichte glaubte hier an Deduktionsverhältnisse. Den Ehrgeiz, einzelne physikalische Disziplinen im wörtlichen Sinne aus der Transzendentalphilosophie abzuleiten, wird heute kaum noch jemand entwickeln. Psychologisierend gesehen, hat die Suche nach dem Ersten vermutlich letztlich vor allem mit Ruhmbedürfnissen und Ausstattungsgeldern zu tun: Wissenschaftler wollen eben gern die wichtigste, weil grundlegendste Disziplin vertreten und diese Anerkennung ihrer Bedeutsamkeit in der Menge der Forschungsgelder, über die sie verfügen, sichtbar machen. Intellektuell überzeugend ist das Streben, mit der eigenen Wissenschaft am Fundament zu sein, dagegen bei keiner Disziplin, weil sie jeweils alle von verschiedenen Arten von Fundamenten reden: die Physiker vom Kleinsten, aus dem alles besteht, die Sozialwissenschaftler von den Zeichen, Werten und sozialen Mustern, die alles Denken wie einen Mantel umgeben, die Evolutionsbiologen vom naturgeschichtlichen Ur usw. Letztlich läuft das Streben nach der Fundamentalität der eigenen Disziplin immer auf den Wunsch hinaus, daß das, was in der eigenen Disziplin als fundamental angesehen wird, eben überhaupt als fundamental in allen Disziplinen gelten soll. 8. Eine Variante dieses Fundamentalismusstrebens betrifft die Zeitlichkeit der wissenschaftlichen Objekte. Manchmal wird ja davon gesprochen, daß die Mikroorganismen in den Labors von Robert Koch »entstanden« oder »geschaffen« wurden. Damit ist eigentlich gemeint, daß diese Organismen als Objekte der wissenschaftlichen Forschung zur Zeit von Robert Koch entstanden sind, nicht unbedingt jedoch, daß sie als solche in dieser Epoche in die Welt kamen. Doch die Redeweise »als solche« im Sinne von »unabhängig von der Tatsache, daß wir Menschen sie wissenschaftlich erforschen«, ist in diesem Kontext die problematische. Wie problematisch sie ist, kann man sich deutlich machen, wenn man Lorraine Dastons Arbeiten zur historischen Epistemologie anschaut, an die Hakking ebenfalls anknüpft und die sie selbst in der folgenden Weise als »angewandte Metaphysik« kennzeichnet: »Dies ist ein Buch über angewandte Metaphysik. Es handelt davon, wie ganze Bereiche von Phänomenen – Träume, Atome, Monster, Kultur, Sterblichkeit, Gravitationszentren, Werte, Zytoplasma-Teilchen, das Ich, die Tuberkulose – als Gegenstände wissenschaftlicher Forschung entstehen und vergehen.«

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Hacking hebt hervor, daß Daston hier nicht vom Entstehen und Vergehen von Gegenständen, sondern vom Entstehen und Vergehen von Gegenständen wissenschaftlicher Forschung spricht, anders als Latour und manche seiner »Nachäffer«. Hinter dieser Differenz steckt eine ganze Reihe von veritablen philosophischen Schwierigkeiten. Zunächst kann man sich fragen, um welche Art von Metaphysik, die angewandt werden soll, es hier eigentlich geht. Die Whiteheadsche Vorstellung, daß nichts an einem Zeitpunkt existiert, sondern alles, was es gibt, Zeit braucht, um da zu sein, und unter bestimmten Bedingungen da ist, die, wenn sie nicht mehr gegeben sind, also ex negativo, auch verantwortlich für das Verschwinden von etwas sind, kann hier sicherlich angewandt werden. Sie spielt ja auch im Relationalismus von Bruno Latour eine wichtige Rolle, und einige haben die Whiteheadsche Prozeßmetaphysik mit der Prozeßphilosophie Hegels in der Phänomenologie des Geistes in Zusammenhang gebracht. Denn auch die Hegelschen Gestalten des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes brauchen in der Realgeschichte, die die Phänomenologie vor dem Augen des Phänomenologen im Zeitraffer vorbeiziehen läßt, ihre Zeit, um sich zu entwickeln, erfolgreich zu sein und dann in Aporien zu geraten, die der Ausgangspunkt für die Entstehung weiterer Gestalten des Bewußtseins sind. Doch auch wenn man über Hegel hinausgeht und nicht nur Formen der Welterkenntnis als temporale Wesen auffaßt, sondern mit Whitehead glaubt, daß alles, was es gibt, unter Bedingungen existiert, die werden und wieder vergehen, und eine zeitliche Ausdehnung braucht, um da zu sein, sagt das noch nichts über die unterschiedlichen Zeitskalen der Existenz, die im Spiele sind, wenn man von der Entstehung der Mikroben in Robert Kochs Labor spricht. Experimentelle Naturwissenschaften gibt es erst seit 300 Jahren. Daraus kann man folgern, daß kein Objekt experimenteller Naturwissenschaften als ein solches seit länger als 300 Jahren existieren kann. Nun postulieren die Theorien, die auf der Grundlage der experimentellen Naturwissenschaften entstehen, jedoch selbst eine Entstehungszeit für die Objekte, die sie betrachten, die in der Regel lange vor der Zeit liegt, in der sie zu wissenschaftlichen Objekten werden. Gene als Objekte der experimentellen Wissenschaften gibt es im strengen Sinne noch nicht einmal 100 Jahre. Wenn jedoch behauptet wird, daß Menschen mit Tieren wie der Drosophila viele Gene teilen, Drosophila jedoch eine Art ist, die viel älter ist als die der Menschen, dann wird auch behauptet, daß es Gene in uns gibt, die viel älter sind als die Gattung homo sapiens, also mehr als 160.000 Jahre alt. Wer behauptet, daß vor fünfzig Jahren ein Objekt entstanden ist, das über 160.000 Jahre alt ist, verwickelt sich entweder in einen Widerspruch, oder er kritisiert die Zeitindices, die

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Wissenschaftler den von ihnen entdeckten Gegenständen geben, als scheinhaft. Eine solche Kritik liefe jedoch letztlich auf einen subjektiven Idealismus hinaus, der behauptet, die zeitliche Existenz von Gegenständen hänge von ihrer Erkenntnis ab. Dieses Problem der Zeitverhältnisse der Erkenntnis- und Konstruktionsverfahren zu den Erkenntnisgegenständen resp. Konstruktionsergebnissen betrifft verschiedene Spielarten des modernen Konstruktivismus. Auch bei Nelson Goodmans Redeweise von »Weisen der Welterzeugung« ist mir nicht klar, wie die Zeitverhältnisse zu denken sind. Es wird angenommen, daß der Urknall vor 15 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Die US-amerikanischen Physiker Wilson und Penzias haben 1965 die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt, die als Spur des Urknalls gedeutet worden ist. Diese Deutung ist nur aufgrund der Radioastronomie möglich geworden. Rhetorisch unvorsichtige Konstruktivisten könnten jetzt davon sprechen, daß die technischen Bedingungen der Möglichkeit der Radioastronomie auch die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis des Urknalls sind. Realistische Physiker sagen dagegen, daß der Urknall als die Anfangsbedingung unseres Universums und damit auch von uns als erkennenden Wesen die Bedingung der Möglichkeit der Radioastronomie ist. Prioritäten in Seinszusammenhängen fallen eben nicht mit Prioritäten in Erkenntniszusammenhängen zusammen. Weil Prioritäten im Sein, ob sie nun wirkursächlicher oder materialer Art sind (beides trifft für den Urknall zu), in den Wissenschaften festgestellt werden und Menschen unabhängig von den Wissenschaften keine vergleichbar verläßliche Kenntnis von der Seinsordnung haben, verfallen manche Erforscher der historischen, sozialen oder technischen Bedingungen der Wissenschaften in den Irrtum, etwas der wissenschaftlich postulierten Seinsordnung noch Vorgelagertes zu untersuchen. In einem sozialkonstruktivistischen subjektiven Idealismus der Wissenschaften wird die Zeit der Entdeckung eines wissenschaftlichen Objektes zur fundamentalen Zeit, und der Zeitindex, den eine Wissenschaft den von ihr entdeckten Objekten zuschreibt, wird, wie die anderen Eigenschaften des Objektes, zu einem Konstruktionsprodukt. So wie das Gen als solches ein Konstruktionsprodukt ist, ist für einen solchen Idealismus auch sein angenommenes Alter ein Konstruktionsprodukt. Ist die Welt ein Konstruktionsprodukt der physikalischen Kosmologie, dann ist der Zeitpunkt der Entwicklung der Radioastronomie und der Entdeckung der Hintergrundstrahlung real, der des Urknalls aber konstruiert. Hacking übernimmt diesen Idealismus nicht. Er unterscheidet vielmehr zwischen solchen wissenschaftlichen Objekten, deren Entdeckung den Bereich der Möglichkeiten für Menschen direkt ändert, und solchen, deren

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Entdeckung vergangene Möglichkeiten verständlich macht. Die Entdeckung der Tuberkulose-Erreger macht verständlich, woran bereits Menschen mit blutigem Auswurf und Fieber im alten Ägypten gestorben sind. Die Konstruktion des Posttraumatischen-Stress-Syndroms ist dagegen eine Möglichkeit von Soldaten, sich ihr eigenes Leiden im Krieg zu erklären. Die Beschreibung dieses Syndroms ist auch ein Dispositiv für Schwindler, sich eventuell eine Kriegsversehrtenrente zu erschwindeln. Hacking macht die Priorisierung der Zeit der Entdeckung gegenüber der Zeit der entdeckten Objekte also nicht durchgängig mit. Es gibt Objekte, die für ihre Existenz eine viel längere Zeit brauchten als die, die seit ihrer Entdeckung oder Konstruktion im Labor vergangen ist, und es gibt Objekte, bei denen das nicht der Fall ist. Das entscheidende Argument für die Priorität der Zeit, in der ein Objekt zu einem Gegenstand wissenschaftliche Erkenntnis wird, ist, daß nur in einem uneigentlichen Sinne von demselben Objekt gesprochen werden kann, das als von Menschen unerkannt und als von Menschen erkannt existiert. Denn das Bakterium, das von Menschen erkannt worden ist, ist nicht mehr einfach nur ein Bakterium, das in Menschen Krankheiten hervorruft, sondern ein Feind, der durch Desinfektion, Antibiotika und Hygienemaßnahmen zu bekämpfen ist. Nun mag richtig sein, daß durch die Erkenntnis eines Objektes dieses Objekt in neue Relationen eingetreten ist, in der es vor dieser Erkenntnis noch nicht existierte. Doch muß man es deshalb nicht, wie Bruno Latour zu glauben scheint, als ein ganz anderes Objekt betrachten. Man kann vielmehr den Eintritt in die neuen Relationskontexte als einen weiteren Abschnitt in der Geschichte dieses Objektes betrachten. Wenn Pierre, der französische Freund von Hermanns Schwester Elise, sich 1912 mit Elise verlobt, so wird er zu Elises Verlobten, aber nicht ein neuer Mensch, denn dann wüßte Elise ja gar nicht, auf was sie sich mit der Verlobung einläßt, wenn sein Verhältnis zu ihr ihn völlig verwandeln würde. Wenn er dann 1915 zu Hermanns Feind im Schützengraben wird, tritt er in eine weitere neue Relation. Doch daß er von Hermann 1915 durch einen Schuß verwundet wird, macht ihn auch nicht zu einem neuen Menschen, sondern stellt eine Episode in seiner Geschichte dar. Latour scheint dagegen, an Whitehead anknüpfend und sich damit über Bradley auch auf Hegel beziehend, alle Relationen als interne Relationen zu begreifen, die Gegenstände immer in ihrem Wesen betreffen: Das unerkannte Bakterium ist etwas ganz anderes als das erkannte Bakterium. Eine solche Verabsolutierung interner Relationen ist jedoch wenig plausibel. Hinsichtlich der Zeitverhältnisse führt sie vor allem zu der Unerklärlichkeit der natürlichen Bedingungen unserer Erkenntnisleistungen. Sicher kann man sagen, daß die Radioteleskopie die Bedingung der Erkennt-

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nis des Urknalls ist, und ebenso, daß die Entdeckung der Hintergrundstrahlung von Wilson und Penzias die Bedingung der heute am meisten akzeptierten kosmologischen Überzeugungen darstellt. Doch genauso berechtigt ist es zu behaupten, daß aufgrund dieser kosmologischen Überzeugungen der Urknall und das, was er nach sich zog, die Entwicklung der natürlichen Elemente, die Bedingung unserer Erkenntnisleistungen ist. Schelling hat das einst als die Komplementarität von Natur- und Transzendentalphilosophie beschrieben: Die Transzendentalphilosophie habe zu zeigen, welche subjektiven Bedingungen zu unserer Naturauffassung führen, und die Naturphilosophie habe zu zeigen, welche natürlichen Umstände Subjektivität möglich machen. Diese Komplementarität scheint mir immer noch sinnvoll. Sie stellt freilich auch eine Absage an den Fundamentalismus dar, sowohl an den naturalistischen wie an den subjektivistischen. Der soziale Konstruktivismus bleibt als ein subjektiver Fundamentalismus, auch wenn er das Subjekt in der Diskursgeschichte auflöst, hinter dieser Einsicht von Schelling zurück. Auch Hegels absoluter Idealismus, der eine zeitlose begriffliche Ordnung im absoluten Geist »hinter« der zeitlichen Realgeschichte der Erscheinung der Bewußtseinsgestalten und der Geschichte der Natur (als dem anderen des Geistes) anzunehmen scheint, stellt eine sehr viel stärkere philosophische Annahme als der soziale Konstruktivismus dar. Die Schellingsche Komplementarität von Transzendental- und Naturphilosophie läßt sich freilich ebensowenig einfach mit einem Fingerschnipsen reanimieren wie der absolute Idealismus Hegels. (Wer weiß jedoch, wohin das Projekt von Latour ihn noch führen wird.) An die Stelle der Schellingschen Transzendentalphilosophie müßte eine Subjektivitätstheorie treten, die mit allen Wassern der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie gewaschen ist. Eine moderne Naturphilosophie, die diesen Namen verdiente, dürfte nicht einfach eine von Formeln bereinigte Nacherzählung einschlägiger naturwissenschaftlicher Theorien sein. Sie müßte vielmehr mit einer eigenen Sprache die zentralen Theorien der Physik und Biologie rekonstruieren und sich von da aus auf die Theorie der Subjektivität beziehen. Spinozas Ethik und Kants Kritik der Urteilskraft zeigen bereits vor Schellings System des transzendentalen Idealismus, wie schwierig ein solches Projekt ist. Whiteheads Process and Reality und die Arbeiten von Carl Friedrich von Weizsäcker belegen in der Nach-Schellingschen Epoche, mit was für einem komplexen Geschäft man es dabei zu tun hat: Vor allem die Frage, wie sich die Zeit der individuellen Subjekte und die der Kollektive von Subjekten zu der Zeit verhält, die durch die unbelebten Kausalrelationen in der Natur aufgespannt wird, stellt in diesem Zusammenhang ein sehr schwieriges Problem dar. Es mit der Annahme einer ewigen Ordnung, die in der Zeit der Natur

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und der Erfahrungszeit der Subjekte nur erscheint »zu lösen«, kommt mir eher wie eine Problemvermeidung vor. Seit der biologischen Evolutionstheorie und der modernen historischen Kosmologie ist die Zeit in der Natur immer bedeutsamer geworden und nicht mehr in einer ewigen Ordnung durch einen philosophischen Handstreich auflösbar. Doch wie verhält sich diese Weltzeit zu der Lebens- und Erkenntniszeit der Subjekte? Gegenwärtig scheint es mir niemand zu wagen, erneut eine philosophisch gründliche Antwort auf diese Frage zu versuchen.

Sektion II

leben

Leben Andreas Arndt

Der Terminus ›Leben‹ spielt in Hegels Denkweg eine herausragende Rolle und ist in der Phänomenologie des Geistes geradezu ubiquitär. Mit ihm verbindet sich zunächst der Gedanke einer in sich gegliederten und prozessierenden selbstbezüglichen Einheit. Die historischen Bezüge und auch die systematischen Konnotationen von ›Leben‹ sind vielfältig. Der nächste Bezug ist gewiß der Kantische Begriff des Organismus, jedoch reicht die von Hegel in Anspruch genommene und reflektierte Tradition bis weit in die Antike zurück.1 Nicht um diese historischen Bezüge jedoch soll es hier vor allem gehen, sondern um die systematischen Bezüge und die systematische Funktion des Begriffs ›Leben‹ in der Phänomenologie des Geistes. Dieser Begriff taucht zuerst in der Vorrede dort auf, wo Hegel darauf verweist, daß sein philosophisches System – als dessen erster, hinführender Teil die Phänomenologie ja konzipiert war – zu anderen Systemen nicht in einem Verhältnis des ausschließenden Entweder/Oder stehe. Eine solche Auffassung sehe »in der Verschiedenheit nur den Widerspruch« und nicht »die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit«.2 Die richtige Ansicht der Verschiedenheit, die darüber die Einheit nicht aus dem Blick verliert, illustriert Hegel mit dem bekannten und vielzitierten Verweis auf die Entwicklung der Pflanze: »Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüthe, und man könnte sagen, daß Jene von dieser widerlegt wird, eben so wird durch die Frucht die Blüthe für ein falsches Daseyn der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich mit einander. Aber ihre flüßige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so nothwendig als das andere ist, und diese gleiche Nothwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.«3

1

Vgl. Jens Halfwassen: Hegel und der spätantike Neoplatonismus: Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999. 2 GW 9, 10. 3 Ebd.

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Leben, das ist organische Einheit des Ganzen in seiner Entwicklung, auch wenn diese sich tatsächlich widersprüchlich gestaltet, sofern ihre Formen unverträglich miteinander sind. Somit kann Hegel bereits dem Mißverstehen, das Verschiedenheit ausschließlich als Widerspruch deutet, ein Wahrheitsmoment zugestehen und an ihm die Dialektik sich vollbringen lassen. Die Verschiedenheit ist Widerspruch, aber Widerspruch ist eben gerade Einheit der Entgegengesetzten, die nur darum einander Widersprechende sind. In der Entwicklung, im ›Leben‹, findet der Widerspruch seine Verlaufsform. Es mag in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß Hegel später – in der Wissenschaft der Logik – den Widerspruch als »Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit«4 charakterisiert. Die Herausforderung, die darin liegt, wird bereits an der zitierten Stelle der Phänomenologie greifbar. Das Unverträgliche, der Widerspruch, ist konstitutives Moment der Wahrheit. Das Mißverstehen der von Hegel kritisierten Position liegt nicht in einer schiefen Ansicht der Verschiedenheit, die zum Widerspruch gesteigert wird, sondern in einer schiefen Ansicht des Widerspruchs, der auf die Unverträglichkeit der Entgegengesetzten reduziert wird. Hegels in der Vorrede zur Phänomenologie pointierte Auffassung weist auf seine Jugendschriften zurück. In den Manuskripten zum Geist des Christentums heißt es: »Nur von Objekten, von Totem gilt es, daß das Ganze ein anderes ist als die Teile; im Lebendigen hingegen [ist] der Teil desselben ebensowohl und dasselbe Eins als das Ganze; […] die Lebendigen sind Wesen als Abgesonderte, und ihre Einheit ist ebensowohl ein Wesen. Was im Reich des Toten Widerspruch ist, ist es nicht im Reich des Lebens.«5 Jenseits des spezifischen, auf die spekulative Deutung der Trinität bezüglichen Kontextes dieser Stelle wird deutlich, daß Hegel unter ›Leben‹ eine organische Einheit bzw. Ganzheit versteht, in der Teil und Ganzes wechselseitig aufeinander verweisen und ein Widerspruch zwischen ihnen im gewöhnlichen Sinne nicht statthaben kann. Diese Einheit zur Sprache zu bringen, stellt für Hegel ein zentrales Problem dar. »Reines Leben«, »Sein« und »Gott« gelten hierbei als Synonyma,6 aber: »Weil das Göttliche reines Leben ist, so muß notwendig, wenn von ihm und was von ihm gesprochen wird, nichts Entgegengesetztes in sich enthalten; und alle Ausdrücke der Reflexion […] [müssen] vermieden werden; denn die Wirkung des Göttlichen ist nur eine Vereinigung der Geister; nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein«.7 Im Blick auf den

4 5 6 7

GW 11, 286. TWA 1, 376 Vgl. TWA 1, 370–372. TWA 1, 372.

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Anfang des Johannesevangeliums (»Am Anfang war das Wort [lógos], und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. […] In ihm war das Leben«8) verdeutlicht Hegel die Schwierigkeit der Reflexion. Diese »Sätze«, so Hegel, »haben nur den täuschenden Schein von Urteilen«, denn »die Prädikate sind nicht Begriffe, Allgemeines, wie der Ausdruck einer Reflexion in Urteilen notwendig enthält; sondern die Prädikate sind selbst wieder Seiendes, Lebendiges; auch diese einfache Reflexion ist nicht geschickt, das Geistige mit Geist auszudrücken.«9 Bedeutsam an diesen Ausführungen ist nicht nur die Konnotation von ›Leben‹ und ›Geist‹, die dann in der Phänomenologie den Begriff des Lebens bestimmen wird; bedeutsam ist ebenso die Wendung gegen das Ungenügen der Reflexion, welche die Beziehung des Lebendigen – die Einheit im Unterschied und den Unterschied in der Einheit von Teil und Ganzem des Organismus – nur widersprüchlich zum Ausdruck bringen kann, »weil unmittelbar jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte widersinnig ist«.10 Anders als in der Phänomenologie kann daher nach Hegels damaliger Auffassung – die mit Tendenzen der Lebensphilosophie des 19./20. Jahrhunderts übereinkommt11 – über Leben und Geist nicht begrifflich, sondern nur »in Begeisterung«12 gesprochen werden. Das sogenannte Frankfurter Systemfragment (1800), das am Übergang Hegels nach Jena steht, entwickelt den Begriff des Lebens aus der Perspektive der Reflexion und ist dabei um eine weitergehende Klärung in logisch-systematischer Hinsicht bemüht. Ausgangspunkt des überlieferten Textes ist die Entgegensetzung der Lebendigen untereinander und zum Leben im Ganzen, in dem sie doch verbunden sind, wodurch die Unterscheidung des endlichen und des unendlichen Lebens ins Spiel gebracht wird. Diese Unterscheidung muß jedoch zurückgenommen werden können, soll das Unendliche nicht selbst verendlicht, also einem Endlichen entgegengesetzt werden. Entgegensetzung und Vereinigung, Endliches und Unendliches, Einzelnes und Allgemeines müssen daher zusammengedacht werden. Das unendliche Leben im Gegensatz zum endlichen erscheint uns zunächst als Natur, »ein unendliches

8

Joh 1, 1.4. TWA 1, 373. 10 Ebd., 373. 11 Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. von M. Riedel, Frankfurt/M 1981, 262: »Es war Hegels Verdienst, daß er […] den rastlosen Strom des Geschehens zum Ausdruck zu bringen suchte. Aber es war sein Irrtum, daß diese Anforderung ihm nun unvereinbar erschien mit dem Satz des Widerspruches: unauflösliche Widersprüche entstehen erst, wenn man die Tatsache des Flusses im Leben erklären will.« 12 TWA 1, 372. 9

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Leben von unendlicher Mannigfaltigkeit, unendlicher Entgegensetzung, unendlicher Beziehung; als Vielheit eine unendliche Vielheit von Organisationen, Individuen, als Einheit ein einziges organisiertes getrenntes und vereinigtes Ganzes«.13 Indem sie in den Entgegensetzungen gefangen bleibt, ist die Natur für Hegel indessen »nicht selbst Leben«, sondern nur »ein von der Reflexion […] fixiertes Leben«.14 Das »denkende Leben«, die Vernunft, hebt daher aus den fixierten Entgegensetzungen »das Lebendige« oder ein »allebendiges, allkräftiges, unendliches Leben« heraus, welches es »Gott« nennt.15 Das unendliche Leben könne man jedoch auch »einen Geist nennen«, denn der Geist »ist belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist«.16 Jedoch: »das Leben kann eben nicht als Vereinigung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet« werden; »ich müßte mich ausdrücken, das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung«.17 Konjunktivisch wird diese (vom reflektierenden Ich ausgesprochene) Formel deshalb eingeführt, weil Hegel sie aus reflexionslogischen Gründen für unzureichend hält. Es könne nämlich »von jedem Gesetzten« gezeigt werden, »daß damit, daß etwas gesetzt wird, zugleich ein Anderes nicht gesetzt, ausgeschlossen ist.«18 Die Reflexion gerät damit in einen unendlichen Regreß, denn zu jeder Setzung ist wieder eine Entgegensetzung hinzuzufügen. Das »Fortgetriebenwerden ohne Ruhepunkt« könne nur dadurch »gesteuert werden«, daß die Reflexion das Leben als »Sein außer der Reflexion« anerkenne.19 Dies sei gleichbedeutend mit einer Erhebung der Philosophie zur Religion, die hier an die Stelle der Aufhebung der Entgegensetzungen der Verstandesreflexion tritt. Daß das Setzen einer Bestimmung Anderes – genauer gesagt: alle anderen Bestimmungen – ausschließt, verweist auf Spinoza, genauer gesagt: auf Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza (1785; 21789).20 Jacobi hatte eine eher beiläufige briefliche Äußerung Spinozas, wonach Bestimmtheit Negation sei (determinatio est negatio), zu einem Grundsatz des spinozistischen Systems erhoben.21 Hegel interpretiert dies später so,

13

TWA 1, 420. Ebd. 15 TWA 1, 420 f. 16 TWA 1, 421. 17 TWA 1, 422. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, Stuttgart 2003, 230 f. 21 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, hg. v. K. Hammacher und I.-M. Piske, Hamburg 1998 (Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1), 100. 14

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daß jede Bestimmtheit Negation sei (omnis determinatio est negatio) und schreibt diesem Satz »unendliche Wichtigkeit« zu.22 Demnach sei Bestimmtheit Negation alles Anderen zu dieser Bestimmtheit, das durch eben diese Bestimmtheit ausgeschlossen wird. Um etwas in seiner Bestimmtheit zu denken, müsse es in seiner negativen Beziehung auf Anderes gedacht werden, und diese Beziehung sei wesentlicher Bestandteil der Bestimmtheit selbst. In der Konsequenz dieses Gedankens habe die anfängliche Bestimmtheit die negative Beziehung auf Anderes als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität, womit ihr die Beziehung auf dasjenige wesentlich sei, was sie selbst negiert. Etwas ist also in seiner Bestimmtheit nur mit sich identisch, indem es seine eigene Negation einschließt, oder es ist nur als Widerspruch. Die Reflexionstheorie des Systemfragments verweist demnach bereits auf die Grundlagen des späteren Widerspruchsbegriffs. Ablesbar ist dieser Übergang an der Dialektik des Quantums in der ›Logik‹ des Zweiten Jenaer Systementwurfs, die das Verhältnis des Ganzen und der Teile betrifft, also diejenige Struktur, die auch das ›Leben‹ bestimmt. Das Quantum, so führt Hegel dort aus, »setzt sich demjenigen gleich, was es aus sich ausschließt, und schließt es also in Wahrheit nicht aus […]; es ist im Quantum der absolute Widerspruch, oder die Unendlichkeit gesetzt.«23 Nicht mehr unsere Reflexion setzt hier etwas, wie im Systemfragment, sondern das Quantum selbst: »es ist nicht mehr unsere Reflexion, daß das andere von ihr ausgeschlossen sey, indem sie ihrem Begriffe gemäß ist, sondern diß Ausschliessen ist in ihrem Begriffe selbst«.24 Hiermit sei der Widerspruch der Momente »itzt als Reflexion der einfachen Beziehung in sich selbst, als absolut dialektisches Wesen, als Unendlichkeit gesetzt.«25 Das ›Sein außer der Reflexion‹ ist damit zum In-sich-reflektiert-Sein geworden, womit die Notwendigkeit einer Erhebung über die philosophische Reflexion entfällt und an ihre Stelle die Aufhebung der äußerlichen Verstandesreflexion tritt. Eine Konsequenz dieser veränderten Auffassung ist, daß Hegel die Natur als lebendigen Zusammenhang insofern begreift, als sie das Andere des absoluten Geistes oder lebendigen Gottes selbst ist, der sich selbst erkennen will.26 Damit wird die Natur als »Werden der Existenz des Geistes als Ich« gefaßt und Leben und Selbsterkennen als Reflexion-in-Sich zusammengebracht:

22 23 24 25 26

Vgl. GW 21, 101. GW 7, 15. GW 7, 28. GW 7, 29. GW 7, 187.

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»die Beziehung der Einzelnen Lebendigen, ist allein die Beziehung des Ich, die Beziehung des Erkennens auf ein Erkennen«.27 In der hier skizzierten Entwicklung treten die entscheidenden Momente hervor, die sich dann in der Phänomenologie des Geistes zu einer neuen Konzeption verbinden. Leben als Reflexion-in-Sich und absoluter Widerspruch wird mit Geist und Erkennen und vor allem mit dem Prozeß des Selbsterkennens des Geistes konnotiert. Im Dritten Jenaer Systementwurf scheint dabei bereits auf, daß der Geist geschichtlich zu sich kommt und sich als absoluter Geist erfaßt. In der Phänomenologie gehen diese Momente dann unter der Dominanz des radikalisierten Gedankens der Geschichtlichkeit des Geistes – Geist ist seinem Wesen nach als geschichtlich und Geschichte ihrem Wesen nach als geistig zu denken28 – eine unauflösbare Verbindung ein. Eingeführt wird der Begriff des Lebens in der Phänomenologie im Zusammenhang mit dem Selbstbewußtsein. Im Selbstbewußtsein ist dem Bewußtsein das Wahre nicht mehr etwas anderes als es selbst, womit wir »in das einheimische Reich der Wahrheit« eingetreten sind.29 Das Selbstbewußtsein spaltet sich in zwei Momente, sofern für es »das Anderssein, als ein Sein, oder als unterscheidendes Moment« ist; »aber es ist für es auch die Einheit seiner selbst mit diesem Unterschiede, als zweytes unterschiedenes Moment.«30 In der anfänglichen Bestimmung des Selbstbewußtseins wiederholt sich damit die Struktur der Verbindung und Nichtverbindung, wie sie dem Frankfurter Systemfragment zugrundegelegt worden war. Im Selbstbewußtsein hat das Bewußtsein daher zwei Gegenstände: den unmittelbaren, der für es den Charakter des Negativen hat, und sich selbst als Gegensatz zum ersten, wobei es sich von hier aus als die Bewegung darstellt, »worin dieser Gegensatz aufgehoben, und ihm die Gleichheit seiner selbst mit sich wird.«31 Der erste, negative Gegenstand ist nach Hegel das Leben, denn er ist an sich oder für uns ebenso in sich zurückgegangen wie das Bewußtsein als Selbstbewußtsein. Das Leben selbst bildet einen Kreislauf, in dem es sich in Gestalten entzweit und zu sich zurückkehrt; es ist somit reflektierte Einheit. Ebenso ist das Selbstbewußtsein Leben, welches das Andere durch die Begierde aufheben will, um die Gleichheit mit sich zu realisieren. Dieser Weg – der im absoluten Wissen terminiert – ist von dorther der Weg einer dialektischen Vermittlung von Leben und lebendigem Selbstbewußtsein. Die nächste Struktur, die sich hieraus ergibt, ist die Beziehung des Selbstbewußtseins auf ein anderes 27 28 29 30 31

GW 7, 186. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, Stuttgart 2003, 198. GW 9, 103. GW 9, 104. Ebd.

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Selbstbewußtsein, die Hegel in dem berühmten Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft analysiert. Es ist hier nicht der Ort, Hegels Argumentationsgang im einzelnen nachzuzeichnen. Hinzuweisen ist jedoch darauf, daß mit dem Verhältnis des Selbstbewußtseins zu einem anderen Selbstbewußtsein »schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden« ist: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.«32 Indem das Leben im Horizont des Selbstbewußtseins thematisiert wird, wird es zum Leben des Geistes in der Entwicklung seiner Gestalten als Geschichte des Selbstbewußtseins. Wir sind damit in das zentrale Thema der Phänomenologie des Geistes eingetreten. Leben ist, wie bereits die Vorrede zur Phänomenologie uns belehrt hat, zu thematisieren als ein dialektischer, d. h. auf der Dialektik des Widerspruchs basierter Prozeß. Die Verbindung von Leben, Selbstbewußtsein und Geist, die Hegel dabei eingeht, bedeutet, daß der Geist in seinem innersten Wesen geschichtlich verfaßt, ja selbst der Begriff von Geschichte ist; sie bedeutet weiter, daß er in dieser Geschichte Selbstbezüglichkeit realisiert und insofern auch teleologisch verfaßt ist, weil er seinen Begriff im Wissen seiner selbst erfüllt, wo er sich nicht mehr auf Anderes bezieht; und sie bedeutet schließlich, daß das Leben des Geistes als Freiheitsgeschichte zu verstehen ist, denn frei ist etwas nur, sofern es nicht von Anderem abhängt. Ob der Begriff des Lebens all dies hergibt, was Hegel mit ihm verbindet, dies zu erwägen ist Aufgabe der Vergegenwärtigung der Phänomenologie, wie sie im folgenden ein Stück weit versucht wird.33

32

GW 9, 108. Zur Auseinandersetzung mit dem Begriff des Lebens bei Hegel vgl. auch Das Leben denken, hg. v. A. Arndt u. a., 2 Bde., Berlin 2006.2007 (Hegel-Jahrbuch 2006.2007). 33

Teleologie als Organisationsprinzip Zu Hegels Kritik an Kants (Krypto-)Physikalismus Pirmin Stekeler-Weithofer

1. Vorbemerkung zur ›spekulativen Metaphysik‹ Hegels Angesichts der von Herbert Schnädelbach1 oder Tom Rockmore2 in neueren Artikeln und Büchern massiv vorgebrachten Bedenken gegen eine analytische Rekonstruktion der Philosophie Hegels, wie sie häufig mit Philosophen in Verbindung gebracht wird, die an der University of Pittsburgh lehrten und lehren, nämlich Wilfrid Sellars, Robert Brandom und John McDowell, ist vielleicht eine allgemeine Bemerkung zu dieser Auseinandersetzung angebracht. Erstens finden wir Bemühungen um eine systematische Neuinterpretation der Philosophie Hegels bei vielen Autoren, die erst später, wenn auch keineswegs zufällig, mit den in Pittsburgh diskutierten Ansätzen in eine 1

Cf. Herbert Schnädelbachs Besprechung des Bandes Hegels Erbe in DZPhil 5/2006, 801–820, wo er u. a. feststellt, daß sich meine Übersicht über Hegels Gedankengänge vom Text entferne, während er sich früher über meine ›Entzifferung‹ der einzelnen Sätze Hegels beklagt hatte. Hegel weiß, wie jeder Mathematiker oder analytische Philosoph, daß Formen bzw. Inhalte über Form- bzw. Inhaltsgleichheiten (Isomorphien) verschiedener Ausdrucksformen definiert sind. Man sollte daher nicht ganz so schnell von »Erbschleicherei« (811) reden. Es hängt von unserem Urteilen ab, ob wir bei Interpretation und Interpretiertem wesentliche Differenzen oder bei aller Verschiedenheit der Darstellung wichtige gemeinsame Gehalte erkennen. – Zu meiner Interpretation der Wissenschaft der Logik und der Naturphilosophie siehe Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung. Paderborn 1992; ders.: »Hegels Naturphilosophie. Versuch einer topischen Bestimmung«. Hegel-Studien 36, 2003; ders: »Gehört das Leben in die Logik?«, in: Helmut Schneider (Hrsg.): Sich in Freiheit entlassen. Natur und Idee bei Hegel. (=Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus). Frankfurt/M. 2004, 157–188. 2 Cf. u. a. Tom Rockmore: Hegel, Idealism, and Analytic Philosophy, New Haven/London 2005, 156–164. Zu Lütterfelds Kritik an meinen angeblich trivialisierenden Interpretationen des haltbaren Sinnes von Dialektik (und von Dekonstruktion) vgl. Wilhelm Lütterfelds: Das Erklärungsparadigma der Dialektik. Zur Struktur und Aktualität von Hegels Denkform, Würzburg 2006, 89, 105 und 267. Vgl. ders.: Fichte und Wittgenstein. Der thetische Satz, Stuttgart 1989. Ich versuche, Hegels objektstufig formulierte Reflexionen explizit metastufig zu lesen, nämlich als Aussagen über die Form der Referenz von sprachlichen und nicht-sprachlichen Bezügen. Wenn dabei zum Teil an triviale Wahrheiten erinnert wird, so kommt es doch immer darauf an, ob nicht die Erinnerung selbst das Wichtige ist. Es ist ohnehin nie einfach zu beurteilen, was vielleicht tief, aber noch obskur ist, und wie wichtig für ernste Philosophie die einfache, auch vereinfachende, Darstellung ist.

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Verbindung traten, wie etwa Robert Pippin oder Terry Pinkard, nachdem zuvor auch schon die Arbeiten von J.N. Findlay und Charles Taylor für die weitere Entwicklung entscheidend gewesen waren. Meine eigenen Überlegungen haben sich zunächst direkt aus einer analytischen Interpretation der Wissenschaftsphilosophie Platons, der Logik des Aristoteles und der Kritischen Philosophie Kants entwickelt, also der Philosophen, welchen Hegel am meisten verpflichtet ist. Die unabhängigen Übereinstimmungen meines Zugangs mit den genannten Traditionen werte ich zumindest als Indiz dafür, daß nicht bloß eigene Ideen auf Hegels Texte projiziert werden, wie das häufig unterstellt wird. Zweitens wird oft gesagt, die analytischen Interpretationen berücksichtigten nicht genügend, daß Hegels Philosophie explizitermaßen spekulative Metaphysik und das Thema das Absolute sei. Um das zu einer Kritik zu machen, wäre aber erst einmal zu klären, was bei Hegel Spekulation, was bei ihm und seinen Gewährspersonen Aristoteles und Kant Metaphysik ist, und ob die Frage nach dem Absoluten nicht vielleicht doch gerade die Bedeutung der Rede von einer absoluten Wahrheit zum Thema hat, und zwar in Abhängigkeit von einer absoluten Idee des Guten. Die üblichen negativen Konnotationen, die mit den genannten Wörtern inzwischen verbunden sind, sollte man sich also nicht rhetorisch zunutze machen. Wer den Sprachwandel kennt, wundert sich ja auch nicht, daß etwa in der mittelalterlichen Litanei Maria als niederträchtige Jungfrau apostrophiert wird, weil damit einfach die Demut gemeint ist, oder daß der hohe Mut der heute leider unübersetzbaren aristotelischen megalopsychia geradezu ein Gegenbegriff zu Hochmut ist. Analoges gilt für die Deutung von Hegels Philosophie als ein Idealismus, der angeblich die ganze Welt aus so luftigen Gebilden wie Vorstellungen, Begriffen oder Ideen konstruieren möchte. Viele scheinen an diesem metaphysischen Idealisten Hegel zu verzweifeln, etwa von Theodor Litt oder Martin Heidegger bis Rolf Horstmann, während ich an den zugehörigen Interpretationen zweifle. In den neueren Interpretationsansätzen Kants und des Deutschen Idealismus beginnen wir dagegen allererst zu begreifen, was es heißt zu sagen, daß die Natur als Gegenstand des expliziten Weltwissens der Begriff ist, und daß es ganz richtig ist zu sagen, daß die Idee die wahre Wirklichkeit ist bzw. das Wesen der Wahrheit bestimmt, nämlich als menschliche Lebensform samt ihrer Umwelt. Dabei geht es schon bei Fichte, Schelling und Hegel um den von Heidegger später unter dem Titel »ontologische Differenz« wieder entdeckten und offenbar sehr schwierig klar und deutlich zu artikulierenden Unterschied zwischen einem Sein (und Leben) als Vollzug und einem Sein des gegenständlich bestimmten Seienden. Letzteres ist das, worüber wir in

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Existenzaussagen reden. Das ist dasselbe wie das, was sich im Gebrauch der Kopula »ist« auf der Ausdrucksebene als grammatisches Subjekt (vertreten durch eine Einzelbenennung, einen singular term), auf der semantischen Ebene aber als Objekt (als Einzelgegenstand) einer (einfachen oder komplexen) Eigenschaftsprädikation zeigt. Das zentrale Problem ist dabei die Einsicht in das (relative) Primat eines impliziten oder, wie Karl Bühler so treffend sagt, empraktischen Könnens oder Know-how vor jedem explizit propositional bzw. verbal artikulierten Wissen oder Know-that. Die Doppeldeutigkeit von Metaphysik zeigt sich gerade in der von Kant geleisteten Gegenüberstellung einer transzendenten und einer begriffskritischen Lesart. Man sollte also nicht die falsche Lesart herausgreifen. Diese betreibt eine unbewußte Hypostasierung von Gegenständen unserer Redeweisen, nicht etwa nur der ›mentalen‹ Redeformen, die wir für unsere allgemeinen Reflexionen auf unser eigenes (sprachliches) Tun brauchen. Die richtige Deutung von Metaphysik ist logische oder strukturtheoretische Analyse menschlichen Wissens, das hier, pars pro toto, für die vernünftigen Fähigkeiten des Menschen steht und sich am Ende als koextensional mit dem Erfassen begrifflicher Inhalte herausstellt. Wissen und Begreifen stehen damit immer schon im Kontext eines personalen und als solchem immer schon kooperativen Könnens, und zwar als hinreichend gute Aktualisierungen der Form des menschlichen Lebens. Daher bedeutet der Verzicht auf Metaphysik, im rechten Sinn verstanden, den Verzicht auf Selbstbewußtsein und autonomes Urteil, wie Hegel klar sieht. Eine allgemeine Aufgabe einer strukturtheoretischen Analyse menschlichen Wissens besteht nun darin, überschwängliche Wissensansprüche nicht etwa bloß einer Theologie oder mentalistischen Seelenlehre, sondern auch der empirischen Wissenschaften in ihre jeweiligen Schranken zu verweisen. Ein besonderes Ziel ist ein angemessenes Verständnis der (Rede über die) Freiheit menschlicher Handlungen einerseits, der (Rede über die) Notwendigkeit der Gesetzmäßigkeiten der Natur als Gegenstandbereich unseres Erfahrungswissens andererseits.3 Allerdings ist dazu der transzendentalphilosophische, als solcher in einem weiten Sinn sinn-analytische, Ansatz von Kants kritischer Philosophie zu radikalisieren, und zwar weil man nur dann gravie-

3

Es ist sowohl historisch als auch systematisch abwegig anzunehmen, Fichte, Schelling, Hegel oder irgendeiner der Intellektuellen der deutschen Romantik habe diese Zielsetzungen der kritischen Philosophie Kants aufgegeben. Die komplexen Gründe, warum etwa schon Novalis scheinbar die katholische Sache verteidigt und Schelling, Görres oder Friedrich Schlegel in ihren späten Jahren gewissermaßen fromm geworden sind, sind dann freilich eigens zu untersuchen.

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rende Mißverständnisse vermeiden kann. Die ursprüngliche Einsicht Fichtes betrifft demgemäß das Primat der Vollzugspraxis vor jedem Objektbezug, auch wenn dies in der Rede von einem Ich und Nicht-Ich, Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein noch nicht klar genug gemacht ist. Außerdem helfen hier bloße Thesen nicht weiter; und die Rede von einer Weltanschauung führt in eine dezisionistische Glaubensphilosophie. Das aber war schon das Problem Kants gewesen, der versucht hatte, das uns (d. h. je mir) mögliche Wissen zu beschränken, um dem persönlichen Glauben etwa an eine Freiheit des Willens und Handelns Platz zu machen. Es ist dabei zwar, soweit hat Kant recht, immer kritisch zu beurteilen, welcher Glaube an welche wirklichen Möglichkeiten vernünftig und nicht etwa bloß willkürliches, dogmatisches, Gerede ist. So gesehen geht es bei ihm schon um mehr als bloß subjektive Erkenntniskritik. Es geht um eine Kritik an allgemeinen Glaubensinhalten und Glaubenshaltungen und um ein systematisches Verständnis der allgemeinen Begriffe der Wahrheit und der wirklichen Existenz selbst, nicht bloß um eine Einschränkung unserer menschlichen Erkenntnis. Unglücklicherweise verdirbt Kant alles, indem er die Endlichkeit unseres Wissens dadurch zu charakterisieren versucht, daß er ihr den Gedanken einer »Welt an sich« einerseits, einer »intellektuellen Anschauung« andererseits gegenüberstellt, wie sie (nur) einer ›höheren‹ oder ›unendlichen‹ Intelligenz möglich sein soll, also einem in einer fiktiven Erzählung überzeitlich und überräumlich vorgestellten Gott. Einer solchen ›intellektuellen Anschauung‹ wäre alle Wahrheit an sich ebenso unmittelbar gegenwärtig wie uns endlichen Wesen zunächst nur die unmittelbare Anschauung und dann auch die spontan produzierbaren Sätze bzw. Vorstellungen (Repräsentationen), die sich aber leider immer auch als falsch herausstellen können. Aus der Darstellung Kants entsteht das folgende Problem: Als bloße Erkenntniskritik öffnet sie einem beliebigen Glauben an eine Art Hinterwelt eines vermeintlichen An-Sich der Dinge am Ende doch wieder Tür und Tor, wie das Beispiel von Schopenhauers Willensmetaphysik schlagend zeigt. Der eine glaubt dann an eine göttliche Schöpfung, der andere an einen physikalischen Determinismus, der eine an einen bösen, der andere an eine guten Willen usf. Aber auch der Weg zurück in das vermeintlich kritische Denken Humes ist keine gangbare Option, allen Mehrheitsmeinungen in der englischsprachigen Philosophie bis heute zum Trotz. Denn dessen Sinnesempfindungsempirismus verhindert, erstens, jedes angemessene Verständnis der besonderen kognitiven und begrifflichen Fähigkeiten des Menschen, und wird, zweitens, ironischerweise selbst wieder zum Steigbügelhalter einer bloß subjektiven Glaubensphilosophie: Wir wissen nichts und glauben immer bloß. Das Wort »Dialektik« und die (nicht unironische) Rede von einem sich

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vollbringenden Skeptizismus stehen bei Hegel gewissermaßen für die Einsicht in dieses Problem. Das Problem zeigt sich gerade auch in der teils affirmativen, teils kritischen Rezeption Kants bei Reinhold und Jacobi, Maimon oder Aenesidemus-Schulze, um nur einige zu nennen. Denn das ›dualistische‹ Ergebnis ist in Kants praktischer Philosophie höchst ambivalent: Man darf, so scheint es jedenfalls, wieder auf Gott als Garanten einer Harmonie zwischen dem moralisch Guten und einer umfassenden Eudämonie hoffen, ohne daß man irgend etwas darüber wüßte oder verstünde, worauf man da eigentlich hofft oder woran man da glaubt. Damit kann Kant das zentrale Immanenzprinzip jeder wirklich sinnkritischen Philosophie nicht durchhalten, nach dem wir uns an dem in unserem Leben empirisch Erfahrbaren, wenn auch keineswegs bloß an dem je von mir selbst Wahrgenommenen zu orientieren haben, wenn wir vernünftige Wesen sein wollen. Diesem Immanenzprinzip korrespondiert schon bei Spinoza die zentrale Idee der einen Welt, die aber leider im Empirismus ebenso wenig wie im Naturalismus angemessen begriffen ist. Eben hier steigt Schelling in die Debatte ein, und zwar indem seine ›Naturphilosophie‹ zwischen den verschiedenen Seinsweisen von Dingen, Prozessen, Lebewesen und uns Menschen unterscheidet, und Hegel, indem er zwischen diesen Seinsweisen ›für sich‹ (1), einer abstrakt oder allgemein dargestellten Natur ›an sich‹, also für uns (2), und schließlich einer nicht bloß gegenständlich aufgefaßten Welt ›an und für sich‹ (3) differenziert. Die Bedeutung dieser Denkentwicklung liegt darin, daß unabhängig von allen Problemen der Argumentation im Detail Kants Gesamtergebnis desaströs ist. Kant schwankt zwischen einem (Krypto-)Physikalismus und einem Glauben an ein Jenseits. Und er schwankt, wie jeder Kompatibilismus bis heute, zwischen einem verbalen Glauben an einen (angeblich transzendental begründeten) Kausaldeterminismus (an sich) und einer praktischen Anerkennung eines freien Willens. Da dieser Wille seinerseits in einer bloß intelligiblen Welt ›an sich‹ situiert wird, wird Kants Verwendung des Ausdrucks »An-sich« zum zentralen Problem, da er trotz aller Reden von einem Grenzbegriff am Ende völlig obskur bleibt. Hegel dagegen teilt mit dem Skeptizismus den radikalen Zweifel am Sinn jeder Rede von einer Welt an sich hinter dem Schleier unseres angeblich begrenzten Wissens und Könnens. Aber er sieht zugleich, daß eine bloß erkenntnistheoretische Skepsis wie im Empirismus (Humes) unzureichend ist. Insgesamt ist die Fixierung der Philosophie auf subjektive Gewißheit seit Descartes ganz irreführend. Diese Fixierung ist am Ende verantwortlich dafür, daß bis heute die realen Ideen der Wahrheit und Objektivität und unsere idealen Reden über eine absolute Wahrheit

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unverstanden sind. Insbesondere ist unbegriffen, daß diese Reden insgesamt immanent, sozusagen in ihrem bürgerlichen Sinn zu verstehen sind – obwohl eben darauf gerade auch Wittgenstein aufmerksam gemacht hat.

2. Interne und externe Zweckbestimmung Für ein Verständnis der Argumentationen Hegels besonders schwierig sind nun die zentralen Passagen der Begriffslogik zum Begriff der Idee bzw. zuvor schon zum Mechanismus, Chemismus und besonders zur Teleologie. Um dennoch zu versuchen, sie durchsichtig und in ihrer Signifikanz begreifbar zu machen, beginne ich mit vorgreifenden Thesen: »Mechanismus« ist bei Hegel Titel für das folgende allgemeine Erklärungsformat: Es soll das (allgemeine) Verhältnis zwischen einer causa efficiens im Sinn eines (irgendwie beschriebenen) Anfangszustandes, der mechanischen Ursache, zu einem Endzustand, zur Wirkung, in generischen Gesetzen der Bewegung von Körpern artikuliert werden. Das Erklärungsformat ist dabei selbst schon angepaßt an die Seinsweise der Körperdinge. Genauer gesagt, im Erfolg der Anwendung dieses Erklärungsformats drückt sich die objektive Wirklichkeit der (unbelebten) Körperdinge in ihren relativen Bewegungen zu einander aus. Insoweit ist das Erklärungsformat nicht etwa beliebig von uns ›a priori konstruiert‹. »Chemismus« ist bei Hegel dann Titel für das begriffliche Darstellungsformat von Prozessen, wie wir sie aus dem Bereich der Stoffumwandlungen der unbelebten Natur kennen. »Teleologie« in einem weiten Sinn ist Titel für die Erklärungen von den im Leben eines einzelnen Lebewesens aktualisierten Teilprozessen unter Vorgriff auf die Form des (artgemäßen) Lebens. Als Form ›an und für sich‹ ist diese immer schon repräsentiert durch eine angemessene generische Darstellung des Gattungslebens. Es ist die Lebensform der Art. Die Lebensprozesse selbst, also ihre einzelnen Aktualisierungen, müssen wir dabei, wie schon Aristoteles sieht, immer im Blick auf ihr Ziel, die gute Aktualisierung der Lebensform, darstellen, wenn wir sie denn begrifflich erfassen wollen. Darüber hinaus sind die Geltungs- oder Wahrheitsbedingungen mechanischer und chemischer Erklärungen intentionalen Zwecksetzungen und damit der teleologischen Form des menschlichen Wissens untergeordnet. Das besagt der zunächst dunkle Merksatz: Die Wahrheit des Mechanismus (und Chemismus) ist die Teleologie. In meinem Verständnis artikuliert er nichts anderes als das Prinzip jedes recht verstandenen philosophischen Pragmatismus.

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Von zentraler Bedeutung ist dabei Hegels Einsicht, daß sich der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff (der Physik im Sinne der Wissenschaft der Bewegungen und der Chemie im Sinne der Veränderungen in der unbelebten Natur, dann aber auch der Biologie und Anthropologie im Sinne der Wissenschaft vom Verhalten lebendiger Wesen und dem Handeln von Menschen) nicht von den jeweiligen Darstellungsformen ablösen läßt. Jede abstrakte Gegenüberstellung ›unserer Überzeugungen‹ auf der einen Seite und einer Wirklichkeit an sich auf der anderen Seite ist selbst schon logisch verwirrt. Das ist Hegels Radikalisierung der Einsicht Kants, der nach Hegel immerhin gezeigt hat, daß der Wahrheitsbegriff unserer physikalischen Reden über sich bewegende Dinge immer schon unter ›die Kategorie‹, also das System der Kategorien fällt, welche die Form der entsprechenden Erfahrung bestimmen. Kant hat aber die Provinzialität einer bloß physikalischen Erfahrung nicht als solche erkannt. Denn sonst hätte er nie sagen können, daß jede ›eigentliche‹ (volle, totale, absolute) Erklärung eines phänomenalen Geschehens am Ende physikalische (sogar mechanische) Form annehmen müsse. Daher ist schon für Kant, wie für die Mehrheitsmeinung heutiger Wissenschaftler und Philosophen, alles Geschehen in der Welt als Bewegung von hypostasierten Atomen aufzufassen. Warum aber sollte diese offenbar physikalistische These wahr sein? Kants eigene Feststellung in der Kritik der Urteilskraft, daß wir im Bereich der belebten Natur teleologische Erklärungen brauchen, verweist nun im Grunde selbst schon auf die Tatsache der besonderen Seinsweise lebender Organismen. Diese ist zunächst anzuerkennen, bevor wir versuchen, sie in eine einheitliche Welt der Physik einzubetten. Und auch jede derartige Einbettung kann nur befriedigen, wenn das methodische Prinzip der Rettung der Phänomene befolgt ist. Dieses verbietet jede Infragestellung der realen Erscheinungen. Das wiederum verbietet ihre verbale Verwandlung in einen bloßen Schein. Im Übrigen fordern schon die Chemie und die Elektrodynamik, wie Schelling und Hegel zurecht betonen, andere Erklärungsformungen als die Mechanik, allen späteren ›Reduktionen‹ zum Trotz. Die zentralen Stationen des kritischen Argumentationsgangs lassen sich durch folgende Fragen markieren: Warum sollte es wahr sein, daß wir aufgrund der Beschränktheiten unseres Wissens zu uneigentlichen Erklärungsformen greifen müssen? Könnte es nicht sein, daß sich in diesem ›Müssen‹ gerade die objektive Wirklichkeit, wie sie ist, widerspiegelt? Warum also meinen wir, daß wir etwa über Tiere und uns selbst nur so reden, als ob es eine causa finalis oder ein freies Wollen gäbe? Könnte es nicht vielmehr so sein, daß wir unsere Erklärungsformate immer an die Tatsachen der Welt anzu-

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passen haben, und das faktisch auch tun? Ist also der Kern des Physikalismus eine bloße Utopie, mit ihrem bloßen Sollen als Gegenpart zu einem bloßen Wunsch? Zuzugeben ist allerdings, daß es außerhalb des Reichs menschlicher Handlungen keine Absichten als symbolisch repräsentierte Ziele, Zwecke und Möglichkeiten gibt. Das aber heißt nur, daß wir im Begriff der Teleologie das zielorientierte Verhalten von Tieren und das zweckorientierte Handeln der Menschen angemessen unterscheiden müssen. Die Erklärungsformate des ›Mechanismus‹ für Dingbewegungen und des ›Chemismus‹ für komplexe physiko-chemische und elektromagnetische Prozesse (wie sie für eine methodisch weit über die Mechanik hinaus erweiterte Physik heute längst schon zentral sind) stehen nun in der Tat im Kontrast zu ›Erklärungen‹ der allgemeinen Tatsache freien menschlichen Handelns einerseits, nämlich im Rahmen einer historischen Entwicklungsgeschichte menschlicher Kultur, zu einem verstehenden Erklären einzelner Handlungen aus besonderen Intentionen andererseits. Dazwischen steht das ethologische Erklären des normalen Verhaltens von Lebewesen. Die üblichen Erklärungsansprüche des (›mechanisch-chemischen‹) Physikalismus verhalten sich dazu in dem Sinn totalitär, als sie ohne weiteren Nachweis die prinzipielle Reduzierbarkeit aller Erklärungen auf Erklärungen nach Art der causa efficiens behaupten (bzw. sich wünschen). Die keineswegs sinnkritisch aufgeklärte Verwendung des Wortes »Ursache« (cause) enthält üblicherweise diesen utopischen Wunsch schon in sich, und zwar in der Form eines Glaubens an das ›Prinzip der zureichenden Ursache‹ oder die ›causal connectedness‹ für alles Geschehen. Kant selbst rechtfertigt diesen ›Totalitarismus‹ des Physikalismus, wenn auch in der modifizierten Form eines dualistischen Kompatibilismus: Die eigentlichen Erklärungen der Ereignisse in der Erscheinungswelt der Dinge wären demnach in einer Art idealisierten Physik mit ihrem allgemeinen Kausalprinzip zu geben. Wir Menschen sind leider nicht fähig dazu, diese physikalischen Ursachen total zu erkennen. Kant erlaubt uns aber freundlicherweise, in unserem Reden über Handlungen so zu reden, als ob es außerhalb des Kausalzusammenhanges des gegenständlich Erfahrbaren eine bloß intelligible Welt an sich gebe. In diese plaziert Kant den freien Willen, samt einer etwas merkwürdigen Kausalität aus Freiheit. Hegels Satz, die Zweckbestimmung oder Teleologie habe sich »als die Wahrheit des Mechanismus erwiesen«, hält dagegen, daß alle physikalischen Erklärungen und jede Rede von einer causa efficiens selbst schon als Teil der Idee, und das heißt, als Bestandteil unserer (sozusagen wir-intentional verfaßten) Organisation des Wissens zu verstehen sind. Unsere Erklärungen sind dabei immer nur

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im Hinblick auf ihre guten Orientierungsleistungen als ›wahr‹ zu beurteilen. Hegel fährt unmittelbar fort: »Die Teleologie hat im Allgemeinen das höhere Prinzip, den Begriff in seiner Existenz, der an und für sich das Unendliche und Absolute ist, – ein Prinzip der Freiheit, das seiner Selbstbestimmung schlechthin gewiß, dem äußerlichen Bestimmtwerden des Mechanismus absolut entrissen ist.«4 Ich lese den Satz metastufig. Er drückt eine interne oder innere Zweckbestimmung unseres Tuns sowohl in der Bereitstellung als auch im Gebrauch von Begriffen aus. Das heißt, es geht um die Bereitstellung von generischem kausalen Wissen für entsprechende materialbegriffliche Normalschlüsse oder allgemeiner ›Defaultinferenzen‹. Und es geht um die praktische Beherrschung besonderer Anwendungsbedingungen. Es geht also nicht um eine externe, von außen an ein Verhalten herangetragene Zweckunterstellung, sondern um die immer schon in allen unseren Begriffen und all unserem Wissen ›transzendental‹ bzw. ›präsuppositional‹ enthaltene und daher auch immer zu beachtende Zielbestimmung. Pragmatische Teleologie ist demnach freies Organisationsprinzip unserer Begriffe und unseres Wissens überhaupt, das als äußere (d. h. unser Interesse betreffende) Zweckbestimmung schon in der von uns bestimmten Identität eines Dinges (etwa als Stuhl oder Hammer) enthalten ist, als innere aber zunächst unser eigenes Leben und dann auch den Lebensvollzug anderer Lebewesen selbst formt.5 Die Spontaneität der Begriffe besteht auf der Ebene des Allgemeinen in der gemeinsamen Entwicklung generischen Wissens bzw. materialbegrifflicher Defaultschlüsse, auf der Ebene des Einzelnen in der Verpflichtung zur Beurteilung der dem Einzelfall angemessenen Anwendungen dieser Normalinferenzen.

4

TWA 6, 440. Vgl. dazu TWA 6, 408 f.: »Fürs erste nun ist die Objektivität in ihrer Unmittelbarkeit, deren Momente um der Totalität aller Momente willen in selbständiger Gleichgültigkeit als Objekte außereinander bestehen und in ihrem Verhältnisse die subjektive Einheit des Begriffs nur als innere oder als äußere haben, – der Mechanismus. – Indem in ihm aber zweitens jene Einheit sich als immanentes Gesetz der Objekte selbst zeigt, so wird ihr Verhältnis ihre eigentümliche, durch ihr Gesetz begründete Differenz und eine Beziehung, in welcher ihre bestimmte Selbständigkeit sich aufhebt, – der Chemismus. – Drittens, diese wesentliche Einheit der Objekte ist eben damit als unterschieden von ihrer Selbständigkeit gesetzt, sie ist der subjektive Begriff, aber gesetzt als an und für sich selbst bezogen auf die Objektivität, als Zweck, – die Teleologie. – Indem der Zweck der Begriff ist, der gesetzt ist, als an ihm selbst sich auf die Objektivität zu beziehen und seinen Mangel, subjektiv zu sein, durch sich aufzuheben, so wird die zunächst äußere Zweckmäßigkeit durch die Realisierung des Zwecks zur inneren und zur Idee.« 5

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Die dreifache Freiheit in der Artikulation, Kontrolle und Anwendung generischen Wissens bzw. entsprechender materialer Inferenznormen kann man daher nicht mehr durch naturkausale Erklärungen widerlegen, ohne in einen Argumentationszirkel zu geraten. Denn wer behauptet, er könne das Urteilen und Schließen der anderen irgendwie kausal erklären, muß, wie Hegel das phänomenologische Prinzip ausdrückt, hier und nicht in Rhodus tanzen. Das heißt im besonderen Fall: Seine Erklärung oder Behauptung taugt nur etwas, wenn sie unsere spontanen (d. h. willentlich ausführbaren und unterlaßbaren) Handlungen im Urteilen und Schließen verbessern helfen. Damit begreift Hegel die ›Notwendigkeit‹ der materialbegrifflichen Wahrheiten auf immanente Weise. Sie hängen ab von unseren empraktischen Begriffsentwicklungen. Daß der Begriff ›sich selbst‹ entwickle, besagt dabei nur, daß Einzelentscheidungen oder Einzelurteile nicht ausreichen. Der Begriff ist also eher so etwas wie unsere gemeinsame, der Form nach kooperativ verfaßte, Institution von Wissen und Wissenschaft: Es ist dieses unser generisches Wissen, das alle Richtigkeiten im materialbegrifflichen Schließen und damit begriffliche Inhalte bestimmt. Hegel fährt fort: »Eines der großen Verdienste Kants um die Philosophie besteht in der Unterscheidung, die er zwischen relativer oder äußerer und innerer Zweckmäßigkeit aufgestellt hat; in letzterer hat er den Begriff des Lebens, die Idee, aufgeschlossen und damit die Philosophie, was die Kritik der Vernunft nur unvollkommen, in einer sehr schiefen Wendung und nur negativ tut, positiv über die Reflexionsbestimmungen und die relative Welt der Metaphysik erhoben«.6 In Kants Kritik der Urteilskraft findet Hegel insbesondere auch schon die Unterscheidung zwischen einem relativen oder äußeren Zweck, in dessen Verfolgung wir oder andere Lebewesen irgendwelche Mittel des intentionalen Handelns oder verhaltensmäßigen Tuns einsetzen, und dem ›absoluten‹ oder inneren Zweck eines guten Lebens gemäß der Lebensform selbst, die man beim Menschen als menschliche praxis in einem ganz allgemeinen Sinn (jenseits bloß einzelner Handlungen) zu verstehen hat. Der bei Hegel in allen möglichen Varianten zu findende und hier offenbar Kant zugeschriebene Satz, daß die Idee am Ende das Leben selbst ist,7 ist vor dem Hintergrund zu

6

TWA 6, 440 f. Vgl. auch TWA 6, 468: »So ist die Idee erstlich das Leben; der Begriff, der unterschieden von seiner Objektivität einfach in sich seine Objektivität durchdringt und als Selbstzweck an ihr sein Mittel hat und sie als sein Mittel setzt, aber in diesem Mittel immanent und darin der realisierte mit sich identische Zweck ist.« 7

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verstehen, daß das griechische Wort idea bei Platon für die Idee oder Form des Guten steht, genauer, für die Lebensform einer Gattung oder Art (eidos) von Lebewesen, welche bestimmt, was für ein Exemplar der betreffenden Art ein gutes Leben ist. Beim Menschen gehören am Ende alle Normen des Richtigen und Wahren dazu. Für Hegel ist »der Gegensatz der Teleologie und des Mechanismus zunächst der allgemeinere Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit«.8 Kant stelle die Thesis: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.« der Antithesis: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.« einfach gegenüber. Die Antinomie bestehe daher »in nichts als der assertorischen Behauptung der beiden gegenüberstehenden Sätze.«9 In der dritten Kritik findet Hegel dieselbe Gegenüberstellung bloßer Thesen in der verallgemeinerten Form der Universalität der Erklärungsformen des Physikalismus einerseits, der Anerkennung, daß es schon im Bereich des biologischen und zoologischen Lebens unterhalb der Ebene menschlicher Handlungen und Intentionen Prozesse gibt, die man sinnvoll nur teleologisch beschreiben und erklären kann, andererseits: »Dem Wesen nach kehrt dieselbe Antinomie in der Kritik der teleologischen Urteilskraft als der Gegensatz wieder, daß alle Erzeugung materieller Dinge nach bloß mechanischen Gesetzen geschieht, und daß einige Erzeugung derselben nach solchen Gesetzen nicht möglich ist.«10 8

TWA 6, 441. TWA 6, 441 f. Weiter: »Zum Beweise der Thesis soll nämlich zuerst angenommen werden, es gebe keine andere Kausalität als nach Gesetzen der Natur, d. i. nach der Notwendigkeit des Mechanismus überhaupt, den Chemismus mit eingeschlossen. Dieser Satz widerspreche sich aber darum, weil das Gesetz der Natur gerade darin bestehe, daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache, welche somit eine absolute Spontaneität in sich enthalte, nichts geschehe; – d. h. die der Thesis entgegengesetzte Annahme ist darum widersprechend, weil sie der Thesis widerspricht. Zum Behufe des Beweises der Antithesis solle man setzen, es gebe eine Freiheit als eine besondere Art von Kausalität, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen. Da nun aber ein solches Anfangen einen Zustand voraussetzt, der mit dem vorhergehenden derselben gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, so widerspricht es dem Gesetze der Kausalität, nach welchem allein Einheit der Erfahrung und Erfahrung überhaupt möglich ist; – d. h. die Annahme der Freiheit, die der Antithesis entgegen ist, kann darum nicht gemacht werden, weil sie der Antithesis widerspricht.« 10 Ebd. Weiter: »Die Kantische Auflösung dieser Antinomie ist dieselbige wie die all9

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Dabei kritisiert Hegel in beiden Fällen Kants ›faule‹ Lösungen. Nach der ersten wären zwar eigentlich sowohl die Prozesse und Ergebnisse menschlicher Handlungen, wenn wir nur genügend über die Prämissen und Motive ›des Charakters‹ wüßten, kausal erklärbar und sogar vorhersehbar, aber wir dürfen, wenn es um unser eigenes Handeln geht, dennoch so tun, als gebe es freie und daher verantwortbare Handlungen. Nach der zweiten wäre zwar von einem allwissenden Physiker nicht bloß das Wachsen des Grashalms, sondern es wären auch die zielgerichteten Verhaltungen höherer Tiere erklärbar. Weil aber nicht zu erwarten ist, daß es realiter je einmal einen ›Newton des Grashalms‹ geben wird, erhalten wir von Kant die Ersatzerlaubnis, Lebensprozesse teleologisch unter Vorgriff auf Zwecke darzustellen und damit, so zu tun, als könne man sie in der Form einer causa finalis erklären. Hegel sieht, daß sich in dieser Art der Auflösung des Widerspruchs das Problem nur auf der höheren Ebene wiederholt. Denn man kann und muß jetzt fragen, was denn der reale Sinn dieser Als-Ob-Rede ist. Dennoch findet Hegel einen positiven Punkt: »So ungenügend daher die Kantische Erörterung des teleologischen Prinzips in Ansehung des wesentlichen Gesichtspunkts ist, so ist immer die Stellung bemerkenswert, welche Kant demselben gibt. Indem er es einer reflektierenden Urteilskraft zuschreibt, macht er es zu einem verbindenden Mittelglied zwischen dem Allgemeinen der Vernunft und dem Einzelnen der Anschauung; – er unterscheidet ferner jene reflektierende Urteilskraft von der bestimmenden, welche letztere das Besondere bloß unter das gemeine Auflösung der übrigen: daß nämlich die Vernunft weder den einen noch den anderen Satz beweisen könne, weil wir von [der] Möglichkeit der Dinge nach bloß empirischen Gesetzen der Natur kein bestimmendes Prinzip a priori haben können, – daß daher ferner beide nicht als objektive Sätze, sondern als subjektive Maximen angesehen werden müssen, daß ich einerseits jederzeit über alle Naturereignisse nach dem Prinzip des bloßen Naturmechanismus reflektieren solle, daß aber dies nicht hindere, bei gelegentlicher Veranlassung einigen Naturformen nach einer anderen Maxime, nämlich nach dem Prinzip der Endursachen nachzuspüren, – als ob nun diese zwei Maximen, die übrigens bloß für die menschliche Vernunft nötig sein sollen, nicht in demselben Gegensatze wären, in dem sich jene Sätze befinden. – Es ist, wie vorhin bemerkt, auf diesem ganzen Standpunkte dasjenige nicht untersucht, was allein das philosophische Interesse fordert, nämlich welches von beiden Prinzipien an und für sich Wahrheit habe; für diesen Gesichtspunkt aber macht es keinen Unterschied, ob die Prinzipien als objektive, das heißt hier äußerlich existierende Bestimmungen der Natur, oder als bloße Maximen eines subjektiven Erkennens betrachtet werden sollen; – es ist vielmehr dies ein subjektives, d. h. zufälliges Erkennen, welches auf gelegentliche Veranlassung die eine oder andere Maxime anwendet, je nachdem es sie für gegebene Objekte für passend hält, übrigens [aber] nach der Wahrheit dieser Bestimmungen selbst, sie seien beide Bestimmungen der Objekte oder des Erkennens, nicht fragt.«

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Allgemeine subsumiere. Solches Allgemeine, welches nur subsumierend ist, ist ein Abstraktes, welches erst an einem Anderen, am Besonderen, konkret wird.«11 Um einen Lebensprozeß, der zunächst etwa bloß als eine Art Ereignis beobachtet wird, als solchen zu begreifen, ist immer der passende Begriff, die Lebensform der Art, herauszufinden. Was für das Verhalten eines Lebewesens gilt, gilt in etwas anderer Weise auch für das Tun eines Menschen. Man urteilt etwa, daß es sich um ein Balzverhalten handelt, oder daß der Mensch jemanden treffen will. Die Zweckbestimmung wird so zum Mittelglied zwischen dem Einzelnen der Anschauung und dem Allgemeinen der begreifenden Vernunft. Hegel fährt daher so fort: »Der Zweck dagegen ist das konkrete Allgemeine, das in ihm selbst das Moment der Besonderheit und Äußerlichkeit hat, daher tätig und der Trieb ist, sich von sich selbst abzustoßen.«12 Das ist eine materialbegriffliche Aussage.13 Sie besagt m. E.: Wenn wir in vollem inferentiellen Sinn auf angemessene Weise von Zwecken bzw. Zwecksetzungen sprechen, dann unterscheidet sich dies von der bloßen äußerlichen oder metaphorischen Zuschreibung von Zwecken – wie etwa in den Fällen, in denen Kant von Zwecken in der Natur spricht – darin, daß nur wir Menschen im vollen Sinn Zwecke haben und verfolgen können. Nur wir verfügen über sprach- bzw. symbolvermittelte Begriffe. Damit haben wir in einem gewissen Rahmen auf spontane Weise Zugang zu allgemeinen Möglichkeiten, über die Gegenwart hinaus. Wir können uns nur deswegen in unserem Tun an Zielen orientieren, die sich nicht von selbst in der Gegenwart präsentieren, sondern von uns als Zwecke repräsentierbar sind. Wenn wir daher sagen, eine Person P habe den Zweck Z, dann muß für P auch über eine Repräsentation Z irgendwie gegenwärtig sein. P darf dabei nicht bloß bei der Vorstellung von Z (einem bloßen Wunsch) stehen bleiben. Dazu paßt, was Hegel weiter sagt: »Der Begriff ist als Zweck allerdings ein objektives Urteil, worin die eine Bestimmung das Subjekt, nämlich der konkrete Begriff als durch sich selbst

11

TWA 6, 443. Ebd. 13 Vgl. auch Enz § 204 (TWA 8, 359): »Der Zweck ist der in freie Existenz getretene, für-sich-seiende Begriff, vermittels der Negation der unmittelbaren Objektivität. Er ist als subjektiv bestimmt, indem diese Negation zunächst abstrakt ist und daher vorerst die Objektivität auch nur gegenübersteht.« 12

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bestimmt, die andere aber nicht nur ein Prädikat, sondern die äußerliche Objektivität ist.«14 Das ist Hegels Handlungstheorie in nuce, also in extrem verdichteter und zugleich idiosynkratischer Form. Sie ist m. E. so zu lesen: Nehmen wir an, jemand könne bzw. müsse sich zwischen n verschiedenen möglichen Zwecken Zi entscheiden. Dabei seien ihm die begrifflichen Charakterisierungen der Zielzustände entweder aufgrund äußerer Einflüsse (wie z. B. Werbung) oder aufgrund innerer Einfälle der (von Kant mit Recht zunächst als noch »blind« apostrophierten) Einbildungskraft präsent. Die Entscheidung für den Zweck Zi ist dann »allerdings ein objektives Urteil«, aber eben nicht bloß als Wunsch, d. h. als abstrakte Erklärung, daß der Zweck Zi an sich oder im Prinzip den anderen vorgezogen werde. Vielmehr besteht das Urteil in einem Handeln, das, wie wir schon wissen müssen, normalerweise als Mittel zur Verfolgung des Zwecks taugt, und zwar so gut das eben möglich ist. In dieser Formulierung sind im Grunde schon alle Fälle mit abgedeckt, in denen das Tun scheitern kann und wiederholt werden muß, etwa weil es nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (als expliziter Darstellung einer erfahrenen relativen Häufigkeit) zum Ziel führt. Entsprechendes besagt der Satz: »[der] objektive freie Begriff ist der Zweck.«15 Die Schwierigkeit des Satzes besteht nun darin, daß Hegel die Handlungsintention selbst metaphorisch als Urteil darstellt, in der das Subjekt des Urteils nicht etwa die einzelne Person ist, sondern der konkrete Begriff, also die Zweckbestimmung selbst. Das Prädikat sagt dann nicht, daß der Begriff in der Welt schon erfüllt ist, sondern er ist tätig zu verwirklichen, in die äußerliche Objektivität zu bringen. Heute sagt man dazu, daß sich in Intentionen gegenüber den Konstatierungen die direction of fit umkehrt: Konstatierungen sind wahr, wenn die Welt so ist, wie der Satz sagt. Intentionen werden wahr gemacht, indem man etwas tut, so daß die Zielbeschreibung der Intention auf die entstehende Welt zutrifft. Daher gilt für das intentionale Handeln der Menschen in der Tat, was Hegel im nächsten Satz sagt: »Aber die Zweckbeziehung ist darum nicht ein reflektierendes Urteilen, das die äußerlichen Objekte nur nach einer Einheit betrachtet, als ob [sic!] ein Verstand sie zum Behuf unseres Erkenntnisvermögens gegeben hätte, sondern sie ist das anundfürsichseiende Wahre, das objektiv urteilt und die äußerliche Objektivität absolut bestimmt.«

14 15

TWA 6, 443 f. TWA 6, 436.

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Das heißt, jede bloße Zuschreibungstheorie von Zwecken, Absichten und Intentionen, nach welcher wir das Tun anderer und in scheinbar selbstkritischen und selbstanalytischen, in Wirklichkeit aber partiell verrückten Stunden unser eigenes Tun bloß so betrachten, als ob es bestimmte Zwecke verfolge, aber ›in Wirklichkeit‹ anders über das Tun urteilen, ist von Grund auf begrifflich verwirrt. Denn die Zuschreibung von Zwecken oder eine Rationalisierung eines Tuns post hoc (samt der mit dieser Zuschreibung zusammenhängenden inhaltsbestimmenden Inferenzen) muß selbst schon als intentionale Handlung verstanden werden. Ohne die Inferenzen hätte man dem Tun bloße Wörter (völlig beliebig) zugeschrieben. Das hätte per se noch weniger Sinn als die Rufe eines Papageis. Das zweckorientierte Handeln ist in eben diesem Sinn absolute Voraussetzung unserer Zuschreibungen von Intentionen. – Es folgt ein weiterer zentraler Satz, der weiter mit der Analogisierung von Urteil und Schluß einerseits, Intention und Handlung andererseits arbeitet: »Die Zweckbeziehung ist dadurch mehr als Urteil; sie ist der Schluß des selbständigen freien Begriffs, der sich durch die Objektivität mit sich selbst zusammenschließt.« 16 Das besagt, daß Intentionen oder Absichten zu leeren Wünschen kollabieren, wenn man nicht handelnd die praktischen Konsequenzen zieht, welche mit der jeweiligen Absicht materialbegrifflich und damit normativ verbunden sind. Ich kann z. B. noch so oft anderen oder mir selbst versichern, daß ich die feste Absicht habe, sagen wir, das Rauchen aufzugeben; wenn ich nicht die entsprechenden Schritte einleite, also den entsprechenden Schluß ziehe und die Absicht in die Tat umsetze oder dies wenigstens nach Kräften versuche, dann bleiben das leere Worte. Eben das macht den Begriff der Absicht auch so schwierig, denn es gibt sie nicht ohne die begrifflichen und zeitlichen Strukturmomente des Fassens der Absicht (Urteil) und der Ausführung der Absicht (Schluß). Es ist daher weder so, daß wir Absichten im vollen Sinn schon vor der Ausführung der Handlung einer Person oder uns selbst zusprechen können, noch bloß erst post hoc mit ihr ein faktisch schon geschehenes Tun rationalisieren. Die Analogie zwischen verbalem Schluß und tätigem Schluß weitet Hegel an anderen Stellen so weit aus, daß das Leben selbst zu einem komplexen ›System von Schlüssen‹ wird: Lebewesen führen ihr Leben so, daß sie eine artgemäße Lebensform reproduzieren. Diese ist die Idee, an der ihre Aneignung von Umwelt in einer Art tätiger Selbst-Organisation teleologisch ausge16

TWA 6, 444.

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richtet ist.17 In einer Art Zusammenfassung charakterisiert Hegel den praktischen Schluß einer rein instrumentellen Zweckverfolgung ohne autonome Zweckkritik so: »Indem er selbst noch innerhalb der Sphäre der Objektivität oder der Unmittelbarkeit des totalen Begriffs steht, ist er von der Äußerlichkeit als solcher noch affiziert und hat eine objektive Welt sich gegenüber, auf die er sich bezieht. Nach dieser Seite erscheint die mechanische Kausalität, wozu im allgemeinen auch der Chemismus zu nehmen ist, noch bei dieser Zweckbeziehung, welche die äußerliche ist, aber als ihr untergeordnet, als an und für sich aufgehoben.«18 Das besagt im Wesentlichen: Der Zweck bezieht sich auf reale Verhältnisse in der Welt, von denen manche zu ändern, andere zu verhindern, wieder andere erst noch herzustellen sind. Das Wissen um die mechanische Kausalität, unter Einschluß des Wissens um (chemische) Prozesse, ist der mit ihm verfolgbaren Zweckbeziehung begrifflich untergeordnet und zugleich ›an und für sich aufgehoben‹. D. h. all unser Naturwissen zeigt sich in seinem vollen, nicht bloß verbal-abstrakten, Gehalt (nur) in den erfolgreichen Orientierungen unseres Urteilens, Schließens, Prognostizierens und Handelns. »Was das nähere Verhältnis betrifft, so ist das mechanische Objekt als unmittelbare Totalität gegen sein Bestimmtsein und damit dagegen, ein Bestimmendes zu sein, gleichgültig. Dies äußerliche Bestimmtsein ist nun zur Selbstbestimmung fortgebildet und damit der im Objekte nur innere oder, was dasselbe ist, nur äußere Begriff nunmehr gesetzt, der Zweck ist zunächst eben dieser dem mechanischen äußerliche Begriff selbst. So ist der Zweck auch für den Chemismus das Selbstbestimmende, welches das äußerliche Bestimmtwerden, durch welches er bedingt ist, zur Einheit des Begriffes zurückbringt.« 19

17

Vgl. Enz § 217 (TWA 8, 374): »Das Lebendige ist der Schluß, dessen Momente selbst Systeme und Schlüsse (…) in sich sind, welche aber tätige Schlüsse, Prozesse, und in der subjektiven Einheit des Lebendigen nur ein Prozeß sind. Das Lebendige ist so der Prozeß seines Zusammenschließens mit sich selbst, das sich durch drei Prozesse verläuft.« 18 TWA 6, 444. 19 Ebd. Vgl. auch 439 f.: »Die Teleologie hat sich den Vorwurf des Läppischen deswegen so sehr zugezogen, weil die Zwecke, die sie aufzeigte, wie es sich trifft, bedeutender oder auch geringfügiger sind, und die Zweckbeziehung der Objekte mußte so häufig als eine Spielerei erscheinen, weil diese Beziehung so äußerlich und daher zufällig erscheint. Der Mechanismus dagegen läßt den Bestimmtheiten der Objekte dem Gehalte nach ihren Wert von zufälligen, gegen welche das Objekt gleichgültig ist und die weder für die noch für den subjektiven Verstand ein höheres Gelten haben sollen. Dies Prinzip gibt daher in

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Würden die Kritiker an den analytischen Interpretationen Hegels nur sagen wollen, daß bloße Paraphrasen dieser uns berechtigterweise fremden Ausdrucksweise und eine Fortsetzung der entsprechenden Explikationstradition nirgendwohin führen, so gäbe es gar keinen Dissens. Er entsteht erst in dem Versuch, den Sätzen Sinn zu geben und in den Urteilen darüber, welche Versuche scheitern, bzw. wer dafür verantwortlich ist, Hegels Texte oder ihr Interpret. Hier sagt Hegel:20 Körperdinge (als typische ›mechanische‹ Objekte), ihre Bewegungseigenschaften und dann auch chemischen Eigenschaften sind gerade auch nach unserer Form ihrer Darstellung und Erklärung gleichgültig gegenüber konkreten Zweckverfolgungen. D. h. wir abstrahieren von allen möglichen konkreten Zwecken und beschreiben das Ding und sein Verhalten so, wie es, so möchten wir sagen, an ihm selbst ist. Damit erscheinen uns alle Zweckbestimmungen unseres Wissens über die Dinge und unserer weltbezogenen Begriffe als den Dingen bloß äußerlich, als von uns mehr oder weniger willkürlich an sie herangetragen. Aber das ist eine Art optische Täuschung. Sie beruht auf einer ganz allgemeinen Begriffsver wirrung, die überall dort entsteht, wo man glaubt, man könne über die Gegenstände unmittelbar sprechen, obwohl es die Gegenstände und Aussagen über sie nur auf der Grundlage einer Gleichgültigkeits- oder Äquivalenzbeziehung in unserer Gesamtpraxis des Umgangs mit den Gegenständen selbst bzw. ihrer Repräsentationen gibt. Im Fall von Dingen ist dabei neben ihrem Einsatz als Mittel zum Zweck immer auch eine Gesamtpraxis oder Totalität unseres Umgangs mit mechanischen und chemischen Erklärungen zu betrachten, die sagen, wie sich die Dinge der Natur ›von selbst‹ oder ›frei‹, also ohne unsere handelnden Inter ventionen bewegen. Hegel erklärt daher mit dem besten begriffsanalytischen Recht der Welt, daß man sich selbst taub und blind stellt, wenn man von diesem größeren Kontext einfach absieht, in welchem die mechanischen und chemischen Erklärungen ihren Ort haben seinem Zusammenhange von äußerer Notwendigkeit das Bewußtsein unendlicher Freiheit gegen die Teleologie, welche die Geringfügigkeiten und selbst Verächtlichkeiten ihres Inhalts als etwas Absolutes aufstellt«… – »Der formelle Nachteil, in welchem diese Teleologie zunächst steht, ist, daß sie nur bis zur äußeren Zweckmäßigkeit kommt. Indem der Begriff hierdurch als ein Formelles gesetzt ist, so ist ihr der Inhalt auch ein ihm äußerlich in der Mannigfaltigkeit oder objektiven Welt Gegebenes, – in eben jenen Bestimmtheiten, welche auch Inhalt des Mechanismus, aber als ein Äußerliches, Zufälliges sind. Um dieser Gemeinschaftlichkeit willen macht die Form der Zweckmäßigkeit für sich allein das Wesentliche des Teleologischen aus.« 20 Abweichende Interpretationsvorschläge werden hier nicht diskutiert. Eine solche Diskussion ist wohl nur in einem zweiten Schritt möglich, im Vergleich mit alternativen Möglichkeiten und Entscheidungen. Das ist auch dann so, wenn in der Suchbewegung selbst diese Auseinandersetzung schon hinter uns liegt.

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und begrenzten Sinn erhalten. Die Gesamtpraxis, nicht die Regionalpraxis einer ausdifferenzierten und spezialisierten Teildisziplin der Physik oder Chemie, gibt den physikalischen oder chemischen Aussagen erst ihren vollen Sinn zurück. Das meint die Rede von der Einheit des Begriffes.

3. Vom inferentiellen Begriffsgehalt zur Idee (des Guten) Hegels Reden über den Begriff und die Idee sind notorisch schwierig. Dabei ist das Folgende als eine Art Definition zu lesen: »Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches. Wenn irgend etwas Wahrheit hat, hat es sie durch seine Idee, oder etwas hat nur Wahrheit, insofern es Idee ist.«21 Es wäre, so sagt Hegel selbst, abwegig, das Wort »Idee« hier als bloße Vorstellung zu verstehen.22 Die üblichen Mißverständnisse, nach denen Hegel die ganze Welt aus bloßen Vorstellungen oder Begriffen im klassischen Sinn bloßer Worte deduzieren wolle, stammen daher, daß man Hegels eigene Erläuterungen und Dementis nicht ernst nimmt. Ich lese die Idee als gute Entwicklung unserer Gesamtpraxis des begrifflich kodierten Wissens und Könnens und damit der vernünftigen Lebensform der Menschen. In eben diesem immanenten Sinn ist die Idee das Unbedingte. Um diese Lesart als begründet einzusehen, bedarf es einer kompetenten Rekonstruktion des haltbaren Gehalts von Platons Ideenlehre. Diese ist bekanntlich aus der Verbindung einer Analyse der idealen Formen der Geometrie und der Schlußformen der Logik entstanden. Ihr zufolge ist ein Begriff (eidos) A nicht bloß ein (prädikativer) Ausdruck (logos) zusammen mit einer entsprechenden Extension E (horos), einer Teilmenge (meros) bzw. einer Art (auch eidos) in einer Gattung (genos) von Gegenständen, sondern

21

TWA 6, 462. Vgl. ebd.: »Der Ausdruck Idee ist sonst oft in der Philosophie, wie im gemeinen Leben, auch für Begriff, ja gar für eine bloße Vorstellung gebraucht worden; »ich habe noch keine Idee von diesem Rechtshandel, Gebäude, Gegend«, will weiter nichts ausdrücken als die Vorstellung. Kant hat den Ausdruck Idee wieder dem Vernunftbegriff vindiziert. – Der Vernunftbegriff soll nun nach Kant der Begriff vom Unbedingten, in Ansehung der Erscheinungen aber transzendent sein, d. h. von ihm kein ihm adäquater empirischer Gebrauch gemacht werden können. Die Vernunftbegriffe sollen zum Begreifen, die Verstandesbegriffe zum Verstehen der Wahrnehmungen dienen. – In der Tat aber, wenn die letzteren wirklich Begriffe sind, so sind sie Begriffe, – es wird durch sie begriffen, und ein Verstehen der Wahrnehmungen durch Verstandesbegriffe wird ein Begreifen sein.« 22

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schon ein System generischer, aufgrund ihrer schematischen Form oft auch »abstrakt« genannter Inferenzen. Die einfachste Form einer solchen Inferenz hat die Form: Was ein A ist, ist an sich oder im Allgemeinen ein B. Wenn also ein x ein A ist, dann sollte ›an sich‹, ›kath’auto‹, auch B(x) gelten. Ein Begriff ist daher bei Hegel, wie schon bei Platon, nicht bloß eine Klassifikation von Gegenständen, die durch einen Ausdruck artikuliert ist. Er ist nicht identisch mit Freges Sinn einer entsprechenden Mengenbenennung. Ein Begriff ist vielmehr, ähnlich wie im ›Inferentialismus‹ bei Sellars und Brandom, mit materialen Schlußformen verbunden. Diese werden als allgemeine Default-Normen zusammen mit dem Ausdruck zunächst empraktisch, d. h. implizit in einer Praxis gelernt und im Gebrauch in gewisser Weise a priori unterstellt, bevor sie je explizit verbalisiert werden. Das erkennt Hegel mit Aristoteles, und es erkennen später auch Husserl, Karl Bühler, Heidegger oder Wittgenstein. Zum verständigem Gebrauch von Begriffen müssen wir immer auch noch relativ frei darüber urteilen, welche der generisch in Geltung gesetzten Default-Schlüsse in den je aktualen Fällen sinnvoll anzuwenden ist, welche nicht. So gibt es z. B. zwischen realen (nicht ganz exakten) Ebenen immer noch (kleine) Hohlräume. Und viele Lebewesen können aufgrund zufälliger Deformationen vieles nicht, was sie artgemäß können sollten. Da Hühner schon artgemäß kaum mehr und Pinguine gar nicht fliegen können, bilden sie natürlich eigens auszusondernde Arten oder Gattungen in der Familie der Vögel, so daß der Defaultschluß, daß Vögel fliegen, aufgehoben wird und gewissermaßen nur noch zur kindlichen Entwicklungsphase des Begriffs bzw. unseres Wissens gehört. Jeder Gebrauch von Begriffen enthält einen gewissen inferentiellen Überschuß. Der Begriff ist das Allgemeine. Das ist der Grund dafür, daß wir dazu neigen, Nietzsche zuzustimmen, dem zufolge wir immer bloß so reden, als ob die Gegenstände allgemeine Eigenschaften hätten, die sie aber in Wirklichkeit gar nicht haben. Nietzsche verweist hier auf ein allgemeines Problem, das allerdings anders aufzulösen ist, als er meint. Denn über eine quadratische Figur läßt sich, zum Beispiel, nicht sinnvoll so reden, als ob sie ein Kreis sei, es sei denn, wir interessieren uns nur für topologische Eigenschaften. Praktisch müssen wir vielmehr immer aus dem Gesamtbereich der prima facie in allgemeine Geltung gesetzten Folgerungen mit Urteilskraft eine Art Relevanzfilter anwenden. Das heißt, wir müssen die für den besonderen Einzelfall angemessenen auswählen. Daher ist kompetentes Urteilen und Schließen nie rein schematisch. Und es sind die allgemeinen Aussagen unseres realen Wissens nie als einfache Allaussagen über jeden einzelnen Fall (bei Aristoteles: kat’hekaston) mißzuverstehen. Das Mißverständnis findet sich in der analytischen Philosophie allenthalben, nicht bloß im logischen Empirismus

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Carnaps, sondern auch bei Popper oder Quine. Entsprechende Überlegungen sind offenbar für alle Redeformen relevant, bei denen wir die besonderen Anwendungen von Begriffen auf einzelne Phänomene differenzieren müssen von allgemein normierten Aussagen und Inferenzen, die sich als a priori gelernte, wie man zu sagen geneigt ist, bloß auf abstrakte oder generische Ideen an sich beziehen und deren vernünftige Anwendung im Einzelfall daher immer erfahrene Urteilskraft verlangt. Sinnbestimmende (Inferenz-)Postulate für Begriffe sind aufgrund ihrer Allgemeinheit nie vollständig realisiert und damit nicht einfach in allen Einzelfällen ›wahr‹ oder ›richtig‹. Andererseits können empirische Einzelaussagen über Phänomene samt der entsprechenden Verallgemeinerungen in statistischen Häufigkeitsaussagen bestenfalls näherungsweise als wahr gelten, sofern man – das definiert den besonderen Idealismus Hegels und seine Einsicht in die Idealität des Begrifflichen und des Wissens in der Tradition von Platon und Aristoteles – das Wahre nicht, wie im Empirismus, an bloß subjektiv erfahrenen Einzelerscheinungen mißt, sondern an den in einer allgemeinen Wissenschaft generisch gesetzten idealen Geltungen, zumal nur diese in der Form theoretischer Satzsysteme explizit lehrbar und gemeinsam kontrollierbar sind. Die Differenz zwischen den inferentiell extrem schwachen rein subjektiven und als solche bloß behavioralen Reaktionen auf Sinnesempfindungen (sensations) und einem begrifflichen Erfassen des in der Anschauung (objektiv) Wahrgenommenen besteht daher in einer Unterstellung generischer Inferenznormen, so daß in der menschlichen Wahrnehmung das Rezeptive der Anschauung mit der Spontaneität des Begriffs und d. h. mit dem (immer schon kooperativen) Handlungscharakter des begrifflichen Urteilens und Schließens untrennbar verbunden ist. Dabei orientiert sich unsere Beurteilung des Richtigen oder Wahren an den idealen Formen oder der Idee des gemeinsamen Wissens.23 Der Begriff der absoluten Wahrheit fällt dann mit dem allgemeinen Ziel der Entwicklung des Wissens zusammen, das am Ende in einer vernünftigen Gesamtentwicklung der humanen Lebensform selbst besteht, welche in Erinnerung an Platons oberste Idee des Guten bei Hegel kurz und allgemein als »die Idee« angesprochen wird. Bewußt gemacht werden die materialbegrifflichen Inferenzunterstellungen durch Aussagen, in denen nominalisierte Ausdrücke für Begriffe oder Bedeutungen vorkommen, also in einer Sprachebene der metastufigen Reflexion über Formen oder eben Begriffe, in der wir die impliziten sprachtech23

Vgl. TWA 6, 474: »Die Bestimmungen des Gegensatzes sind die allgemeinen Bestimmungen des Begriffs, denn es ist der Begriff, dem die Entzweiung zukommt; aber die Erfüllung derselben ist die Idee.«

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nischen Formen des begrifflichen Denkens vergegenständlichen und eben dadurch thematisieren. Kritisch entwickelt werden die Unterstellungen in expliziten Setzungen entsprechender Inferenzregeln und der Kontrolle ihrer Tauglichkeit. Das Ergebnis ist dabei immer eine Idealisierung, wie sie als solche aber auch schon in jedem durch den normalen Sprachgebrauch empraktisch geleiteten Schließen enthalten ist. Durch logisch exakte Regelungen einer am Ende immer mathematischen Ideation werden die impliziten Inferenzformen nicht etwa bloß explizit gemacht, sondern der Form nach verändert, und zwar indem man sie sprachintern völlig schematisiert.24 Hegel verallgemeinert und radikalisiert hier die Einsichten in die Rolle der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft aus Kants dritter Kritik, wo Kant, wie Hegel in einem positiven Sinn sagt, erst wahrhaft spekulativ wird. Und das heißt, daß hier die metastufige Erfahrung angesprochen wird, auf deren Grundlage wir mit Urteilskraft den realen Weltbezug der reinen (d. h. rein schematisch gebrauchten) Begriffe und Ideen theoretisch verfaßter Wissenschaft bestimmen und kontrollieren. Der empiristische Skeptizismus lehnt dagegen jeden Gebrauch von reinen Begriffen, Ideen und generischen Gesetzen als ›eigentlich falsch‹ ab und verkennt eben damit den Begriff des immer generischen und idealen Wissens und der Wissenschaft samt jedem sinnvollen, nicht bloß der subjektiven Willkür von Vorstellungen und Meinungen ausgelieferten Begriff der Wahrheit. Damit sehen wir, inwiefern Hegels Argumente gegen die philosophischen Grundanschauungen der vorkantischen Aufklärung, den dogmatischen Materialismus einerseits, den Empirismus und Skeptizismus andererseits, Kants Dualismus und Fichtes Dezisionismus aufheben. Nur wer meint, eine solche Vertiefung der Kritik Kants oder Fichtes sei nicht nötig, wird Hegels Philosophie als Rückfall in voraufklärerische Metaphysik deuten.

4. Idee und Telos Es sollten nun insbesondere unsere inferentiellen Vorgriffe auf das normale Ende von typischen (Lebens-)Prozessen in begrifflichen Darstellungen der (belebten) Natur (etwa nach Art von Sätzen der Art, daß Tiere Nachwuchs

24

Insoweit der Physikalismus unsere mathematischen Erklärungsmodelle maßlos überschätzt und die informale Vernunft ebenso wie die Urteilskraft aus dem vollen Begriff des Wissens ausklammert, gehört er, wie schon der Pythagoräismus der Antike, zur »Kindheit des Philosophierens«.

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bekommen ›möchten‹) nicht zum Anlaß einer Hypostasierung von Absichten in der Natur oder von Plänen eines Schöpfers genommen werden. Andererseits ist das zielgerichtete Verhalten von Lebewesen als Faktum anzuerkennen, obgleich es von einem bewußten, durch Begriffe geleiteten, menschlichen Handeln zu unterscheiden ist, das als solches weit über die bloße awareness im tierischen Verhalten hinausgeht. Damit sind wir wieder bei unserem Thema, der Teleologie als Organisationsprinzip. Dazu betont Hegel, erstens, das Teleologische und Pragmatische in jedem Begriff. Die begriffskonstitutiven Defaultinferenzen sollen über eine (möglichst leicht erlernbare) Urteilskraft (der besonderen Anwendung des Allgemeinen auf Einzelnes) zu guten Orientierungen führen. Das begriffliche Schließen ist dabei immer generisch, in gewissem Sinn also ideal und formal. Zweitens identifizieren wir gerade Lebensprozesse von den Prozessen des Gesamtorganismus und der Entwicklung der Gattung her. Und das tun wir nicht willkürlich, sondern weil Lebensprozesse das Telos der guten Aktualisierung der Form des Lebens nach Art und Gattung gewissermaßen in sich tragen. Insofern jeder generisch identifizierbare Lebensprozeß eine ›causa‹ (›Gerichtssache‹, ›Kernthema‹, ›bestimmende Grundform‹) hat, ist er, anders als bloß ›chemische‹ Prozesse, nicht bloß durch eine causa efficiens bestimmt, sondern durch eine generische Formursache. Diese darf nicht als Wirkursache mißverstanden werden. Es ist vielmehr das normale ›Ziel‹ eines Lebensprozesses, eine Lebensform gut zu aktualisieren.25 Hegel spricht dabei von der Idee als »Einheit des Begriffs und der Objektivität«, womit sie »das Wahre ist«. Er wehrt damit u. a. die Meinung ab, es ginge hier um einen Scheck auf eine reale Zukunft: »… so ist sie [sc. die Idee der Wahrheit und Wirklichkeit, PSW] nicht nur als ein Ziel zu betrachten, dem sich anzunähern sei, das aber selbst immer eine Art von Jenseits bleibe, sondern daß alles Wirkliche nur insofern ist, als es die Idee in sich hat und sie ausdrückt [und das heißt, daß die zugehörige Wahrheitsbedingung einer zunächst idealen Denkmöglichkeit real erfüllt, verwirklicht ist, PSW]. Der Gegenstand, die objektive und subjektive Welt überhaupt sollen mit der Idee nicht bloß kongruieren, sondern sie sind selbst die Kongruenz des Begriffs und der Realität [und zwar im erläuterten Sinn als wirkliche Erfüllung von Wahrheitsbedingungen, PSW]; diejenige Realität, welche dem Begriffe nicht entspricht, ist bloße Erscheinung, das Subjektive, Zufällige, Willkürliche, das nicht die Wahrheit [im 25

Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Michael Thompson, etwa »The Representation of Life«, in: R. Hursthouse, G. Lawrence and W. Quinn eds., Virtues and Reasons, Oxford 1995, 247–296.

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Sinne der Wissenschaft des Wirklichen statt der bloßen Wahrnehmung eines Scheins, PSW] ist. Wenn gesagt wird, es finde sich in der Erfahrung kein Gegenstand, welcher der Idee vollkommen kongruiere, so wird diese als ein subjektiver Maßstab dem Wirklichen gegenübergestellt; was aber ein Wirkliches wahrhaft sein solle, wenn nicht sein Begriff in ihm und [wenn] seine Objektivität diesem Begriffe gar nicht angemessen ist, ist nicht zu sagen; denn es wäre das Nichts. [Das heißt, wenn etwas nicht schon begrifflich gefaßt ist, gibt es überhaupt kein Wissen über es, ja das Wörtchen »es« wird sinnlos, PSW]. Das mechanische und chemische Objekt wie das geistlose Subjekt [als ein bloß animalisches, perzeptives, Subjekt ohne Begriffe, PSW] und der nur des Endlichen, nicht seines Wesens bewußte Geist [wer also nur über Dinge, nicht über sich selbst und die Form seines Dingbezugs etwas weiß, PSW] haben zwar, nach ihrer verschiedenen Natur, ihren Begriff nicht in seiner eigenen freien Form an ihnen existierend.«26 Nur wir Menschen sind selbstbewußte Subjekte, welche etwas über die Form ihres eigenen Lebens wissen können, diese Form also nicht bloß empraktisch aktualisieren. Natürlich bleiben damit noch viele Fragen offen. Warum soll z. B. die Idee nicht bloß Identität des Begriffes und der Objektivität sein, »in welchem der Gegensatz und das Bestehen des Besonderen in seine mit sich identische Negativität aufgelöst und als Gleichheit mit sich selbst ist«, sondern, zweitens »die Beziehung der fürsichseienden Subjektivität des einfachen Begriffs und seiner davon unterschiedenen Objektivität«?27 Die Antwort liegt meines Erachtens gerade darin, daß wir uns die Idee von der Seite der Praxis der Wissenschaft als Entwicklung vorstellen müssen28: als »Trieb, diese Trennung aufzuheben«, von der Seite der Rede über ihren Objektbereich als »das gleichgültige Gesetztsein, das an und für sich nichtige Bestehen.« Hegels idiosynkratische Rede von einer ›Negativität‹ bezieht sich dabei auf die Gegenüberstellung des zunächst ›nichtigen‹ Einzelnen und seiner allgemeinen begrifflichen Bestimmung. Einzeltatsachen sind als solche bloß zufällig bestehende Sachverhalte. Etwas Substantielles über sie wissen können wir nur, wenn wir sie als ein generisches, typisches Geschehen begreifen. Dasselbe gilt für jede Seinsweise ›für sich‹, die immer

26

TWA 6, 464. TWA 6, 467. Es folgt 469: »Drittens erkennt der Geist die Idee als seine absolute Wahrheit, als die Wahrheit, die an und für sich ist; die unendliche Idee, in welcher Erkennen und Tun sich ausgeglichen hat und die das absolute Wissen ihrer selbst ist.« 28 Vgl. TWA 6, 467 f.: »Ob die Idee also gleich ihre Realität in einer Materiatur hat, so ist diese nicht ein abstraktes, gegen den Begriff für sich bestehendes Sein, sondern nur als Werden.« 27

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in ihrer allgemeinen Form zu thematisieren und daher ›an und für sich‹ zu begreifen ist. 5. Das Leben Hegels Projekt ist die logische Analyse eines absolut immanenten und dennoch absoluten Begriffs der Wahrheit. Diese absolute Wahrheit wird als Idee gefaßt, und zwar im Sinne der genuin humanen Lebensform im Ganzen. Diese enthält wesentlich die Orientierung am Begriff, d. h. am System unseres generischen, materialbegrifflichen Wissens, und zwar in der Praxisform der je angemessenen Anwendung dieses Wissens. Die Form dieser Anwendung ist die der bestimmenden Urteilskraft. Hinzu kommt die Entwicklung des Begriffs. Die Form dieser Entwicklung ist die der reflektierenden Urteilskraft. Daher sagt Hegel, daß Kants Philosophie erst in der dritten Kritik wahrhaft spekulativ wird. Am Ende der Logik Hegels steht nicht bloß die Gegenüberstellung der teleologischen gegen die physikalischen und chemischen Erklärungsformen. Vielmehr wird in radikaler Umkehrung üblicher Vorstellungen ein angemessenes Verständnis des Begriffs des Lebens nur im Ausgang unserer eigenen Erfahrungen aus dem Vollzug einer humanen Lebensform möglich. Wir verstehen andere Lebensformen, indem wir differentiell beurteilen lernen, was ihnen sozusagen ›fehlt‹. Für die Teleologie nichtmenschlichen Lebens ergibt sich, daß dieses Leben gewissermaßen in einer zeitlich ausgedehnten Gegenwart stattfindet, so daß die Ziele des Verhaltens und Tuns von Pflanzen und Tieren sozusagen im Verhalten selbst gegenwärtig sind: Die Gegenwart endet, wenn das Ziel erreicht (oder ›vergessen‹) ist. Die Inhalte menschlicher Zwecke lassen sich dagegen als generische Möglichkeiten sprachlich vergegenwärtigen bzw. re-präsentieren. Das ist der Kern der Differenz zwischen einer Teleologie des bloß organischen bzw. animalischen Lebens einerseits, begrifflich bewußter Zweckbestimmungen im individuellen und gemeinsamen intentionalen Handeln andererseits. Die zentrale These ist also, daß wir sowohl die ›mechanischen‹ Bewegungen und die chemischen Prozesse unbelebter Körper als auch das teleologische Verhalten von Lebewesen immer nur aus unserer Perspektive verstehen und erklären können. Daher stimmt, was später auch Heidegger sagt, mit dem Ansatz Hegels ganz überein, nämlich daß »die ontologische Grundverfassung von ›leben‹ nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologe des Daseins aufzurollen«29 sei, auch wenn Oskar Becker gerade dagegen 29

M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen (15. Aufl.) 1979, 94, vgl. auch 246 f.

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protestiert.30 So wie Marx im Sinne Hegels erklärt, daß wir den Affen nur vom Menschen her (und nicht etwa den Menschen vom Affen her) verstehen, begreifen wir die Seinsweise von Tier, Pflanze und anderen Organismen auch nach Heidegger nur über eine volle existenziallogische Reflexion auf basale Formaspekte menschlichen Daseins, nämlich indem wir, negativ, auf die ›Mängel‹ oder besser: offenkundigen Abwesenheiten von manchen dieser Formaspekte bei anderen Lebewesen hinweisen. Das Tier z. B. denkt nicht und kooperiert nicht frei und planvoll mit anderen Tieren, wenn man den Begriff der Kooperation von dem der Verhaltenskoordination angemessen unterscheidet. Die Pflanze bewegt sich kaum und ist ortsgebunden. Von zentraler Bedeutung ist dabei, daß das Primat unserer Erfahrungen und Selbsterfahrungen des Lebens in der Idee, wie sich Hegel ausdrückt, vor den Beobachtungen und Darstellungen des Lebens der Natur, also auch anderer Lebewesen, ein materialbegriffliches oder onto-logisches Primat ist. Ontisch dagegen ordnen wir uns in die Natur ein und erklären das menschliche Leben als ein besonderes natürliches Leben. Diese Erklärungen setzen aber die begriffliche Kenntnis der zu erklärenden Differenzen voraus. Das macht klar, warum (aus der Perspektive der seinslogischen Analyse) tierische Wahrnehmung nur privativ zu rekonstruieren ist: Was die Sensitivität eines Lebewesens ist, verstehen wir nur unter Appell an unsere eigene Sinnlichkeit, über eine Art negative Abstraktion aus unserem vollen Begriff immer schon begrifflich gefaßten Erfahrungswissens. Dieses zerlegen wir in die Teilvermögen des begrifflichen Denkens und des Objektbezugs in der Anschauung, wie John McDowell mit Kant und Hegel klar sieht.31 Hegel fährt fort: »Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt.«32 30

Vgl. O. Becker: Dasein und Dawesen. Philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963, 84. John McDowell: Mind and World, Cambridge/Mass. 1994. – Von dieser logischen Einsicht zu unterscheiden sind die Projekte einer synthetischen Theorie der Wahrnehmung, wie sie etwa in Roboter implementiert sind (von einer automatisierten Wahrnehmungs- und Sprachverarbeitung bis zu Bewegungen) und die evolutionsbiologischen Erzählungen zur Genese der humanen Lebensform. Robert Brandom scheint die Unterschiede dieser Projekte zu unterschätzen. Er liest Hegel am Ende nicht begriffsanalytisch, sondern in einem weichen und vagen Sinn naturalistisch, evolutionstheoretisch. Vgl. Robert Brandom: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discoursive Commitment, Cambridge/Mass. 1994; ders.: Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M. 2001. 32 Enz § 204 (TWA 8, 360). Weiter: »Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriffe moderner Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte.« 31

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»Bedürfnis, Trieb sind die am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck. Sie sind der gefühlte Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjekts selbst stattfindet, und gehen in die Tätigkeit, diese Negation, welche die noch bloße Subjektivität ist, zu negieren. Die Befriedigung stellt den Frieden her zwischen dem Subjekt und Objekt, indem das Objektive, das im noch vorhandenen Widerspruche (dem Bedürfnisse) drüben steht, ebenso nach dieser seiner Einseitigkeit aufgehoben wird, durch die Vereinigung mit dem Subjektiven. (…) Der Trieb ist sozusagen die Gewißheit, daß das Subjektive nur einseitig ist und keine Wahrheit hat, ebensowenig als das Objektive.«33 Das tätige Verhältnis zur Welt ist, so lese ich Hegels Argumentationsgang, bei uns wie schon bei animalischen Lebewesen vermittelt durch einen teleologischen Trieb oder das Organisationsprinzip der Begierde. Nur über die Vermittlung der Erfüllung eines Begehrens in einem unmittelbaren Selbstbewußtein hat »der Gegensatz zwischen seiner Erscheinung und Wahrheit«, wie Hegel sagt,34 Wahrheit. Er meint damit einfach die reale Existenz des Begehrens.35 Dabei kann sich schon ein Tier beim Versuch der Erfüllung eines Begehrens täuschen. Eben daran kann man sehen, wie die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit praktisch fundiert ist. Der praktische Objektbezug ist dabei zunächst an den präsentisch ablaufenden Lebensprozeß gebunden. Daher ist er verbunden mit einem, wie ich zu sagen vorschlage, attentiven Bezug wacher Aufmerksamkeit (vigilant awareness) auf die gegenwärtige Umwelt. Von diesem durch die unmittelbare Begierde vermittelten Weltbezug ist der schon begrifflich vermittelte Wunsch zu unterscheiden (obwohl gerade im Englischen das Wort »desire« notorisch die Unterscheidung zwischen bloßer Begierde, Wunsch und Absicht verwischt). Dabei ist der weite Sinn des unmittelbaren Begehrens von schon repräsentierbaren allgemeinen Erfüllungsbedingungen und ihrer Kontrolle 33

Ebd. Vgl. TWA 3, 139. 35 Mit dem Begehren ist schon an sich eine gewisse Möglichkeit der Erfüllung oder Befriedigung bzw. die Nichterfüllung oder Unbefriedigtheit materialbegrifflich verbunden. Das sind alles relativ unmittelbare Empfindungen und Gefühle. Auf ihrer Grundlage erheben sich, sozusagen, komplexere Erfüllungsbedingungen, die schon begrifflich vermittelt sind. Das gilt schon für propositional gefaßte Wünsche. Die Erfüllung des Wunsches besteht in der Befriedigung seines Inhalts. Dieser aber muß in gewissem Sinn zuvor schon durch symbolische Repräsentation präsentisch gemacht worden sein. Der Vergleich mit eben dieser Repräsentation ist es, nicht das unmittelbare Befriedigungsgefühl, durch den wir die Wunscherfüllung kontrollieren. Dennoch bleibt das Begehren eine Art Grundform jeder Erfüllung, wenn auch im Fall von Wünschen über die Vermittlung der begrifflichen Fassung des Wunschinhalts. 34

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zu unterscheiden, also der längst schon begrifflich vermittelte bloße Wunsch, der zunächst bloß verbale Vorsatz und die Absicht. Dabei ist »die Wahrheit der Absicht nur die Tat selbst«.36 Die Gegenstände bieten sich nicht einfach selbst an, sondern müssen in der Regel bezwungen, wenigstens aufgefunden oder ergriffen werden. Das aber heißt, daß auch die tätige Orientierung im Verhalten, bloß gesteuert durch die unmittelbare Begierde, oft an der Widerständigkeit der Dinge (oder auch der Ungeduld der Begierde) scheitern kann. Nun sind aber die Dinge nicht absolut selbständig, sondern lassen sich verändern. Das bedarf dann aber oft der geplanten Arbeit, die ich allgemein als zweckgerichtete Handlung verstehe und die Hegel explizit »gehemmte Begierde«37 nennt. Während dann aber die Befriedigung der Begierde selbst rein subjektive Empfindung ist, wird die richtige Erfüllung einer ›Absicht‹, eine solche zweckgerichtete Handlung auszuführen, auf komplexe Weise beurteilt. Ein Begehren im Sinne eines Unerfülltheitsgefühls ist schon dann erfüllt, wenn das Unerfülltheitsgefühl faktisch aufhört – unabhängig davon, was die Ursache dafür ist: das Stillen des Hungers durch Essen etwa oder durch einen Schlag auf den Bauch oder durch Verschiebung der Aufmerksamkeit und das Vergessen der Unbefriedigtheit. Es gibt dann noch keinen Unterschied zwischen der richtigen Weise der Erfüllung einer Absicht und dem bloßen Ende einer gewissen Unbefriedigtheit oder Ungesättigtheit wie im Fall der Begierde. Denn ein Begehren ist aufgehoben, die Begierde irgendwie befriedigt, wenn sie nicht mehr da ist. Das geschieht oft, ohne daß auch nur ein vorgängiger Wunsch angemessen erfüllt wäre. Was hier ›angemessen‹ heißt, wird durch den Inhalt des Wunsches bestimmt. Dieser wiederum ist bestimmt durch die Kriterien seiner rechten Erfüllung, durch Erfüllungsund Wahrheitsbedingungen, welche wir zumindest partiell öffentlich und gemeinsam kontrollieren. Daher müssen sich Wünsche, soweit sie bestimmt oder individuiert sind, in der Regel schon sprachlich artikulieren, ihre Erfüllungsform jedenfalls zeigen lassen. Das ist dann auch der tiefe Grund, den später auch Wittgenstein sieht, warum ein bloß subjektiv-intentionalistischer Zugang zur Semantik auf einem Zirkel und einer Illusion aufruht. Eine Bedeutung (meaning) ist nichts Subjektives und entsteht nicht durch eine abstraktive Nominalisierung aus dem Bedeuten (to mean), sondern ist dem Meinen vorausgesetzt, freilich nicht als fixierter Gegenstand, wohl aber als normierte Praxis des gemeinsamen Gebrauchs und des Verstehens, etwa von Worten und Sätzen in Sprech36 37

TWA 3, 130. TWA 3, 153.

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handlungen und im Kontext weiterer individueller und gemeinsamer Handlungen. Ohne diese Praxis gibt es auch für den Sprecher selbst keine Möglichkeit, zwischen der Änderung seiner Absicht im Laufe eines Prozesses und der wirklichen Erfüllung der Absicht zu unterscheiden. Entscheidend bliebe einzig und allein das je präsentische Erfüllungsgefühl. Im Folgenden unterscheidet Hegel die Art der Betrachtung des Lebens aus der Perspektive der Naturwissenschaft als das Leben der Natur und aus der Perspektive der logischen Analyse als das Leben in der Idee: »Das … Leben der Natur [sic!] [ist] das Leben, insofern es in die Äußerlichkeit des Bestehens hinausgeworfen ist, an der unorganischen Natur seine Bedingung hat, und [insofern] wie die Momente der Idee eine Mannigfaltigkeit wirklicher Gestaltungen sind.«38 Das Leben der Natur ist also das, was sich in unserem Beobachtungswissen über das Leben u. a. von Pflanzen, Tieren und Menschen ergibt. »Das Leben in der Idee [sic!] ist ohne solche Voraussetzungen, welche als Gestalten der Wirklichkeit sind; seine Voraussetzung ist der Begriff [sic!], wie er betrachtet worden ist, einerseits als subjektiver [d. h. aus der Perspektive unserer Artikulation von Wissensansprüchen], andererseits als objektiver [d. h. als das, was das Wissen wahr macht, die objektive Wirklichkeit, deren Form dieselbe sein muß wie die des Wissens, wie das ja auch Wittgenstein im Tractatus zeigt]. In der Natur erscheint das Leben als die höchste Stufe, welche von ihrer Äußerlichkeit dadurch erreicht wird, daß sie in sich gegangen ist und sich in der Subjektivität aufhebt.«39 Das Leben in der Idee ist gewissermaßen Ergebnis der Reflexion auf den tätigen Lebensvollzug. Ein solcher ist in gewissem Sinn in jedem Wissen vorausgesetzt und unterstellt. Daher und nur daher gehört, wie Hegel selbst als Antwort auf eine naheliegende Frage erläutert, das ›Leben in der Idee‹ bzw. im Gebrauch von Begriffen in die Logik.40 Heideggers Existenzialanalyse ist 38

TWA 6, 471. Ebd.; eckige Klammern enthalten Kommentare von mir, PSW. 40 Vgl. dazu auch meinen Text »Gehört das Leben in die Logik?«, in: Helmut Schneider (Hrsg.): Sich in Freiheit entlassen. Natur und Idee bei Hegel. Frankfurt/M. 2004 (Peter Lang), 157–188. Zum Begriff der Seele vgl. TWA 6, 475: Das lebendige Individuum »ist erstlich das Leben als Seele, als der Begriff seiner selbst, der in sich vollkommen bestimmt ist, das anfangende, sich selbst bewegende Prinzip.« (…) »…ferner ist diese Seele in ihrer Unmittelbarkeit unmittelbar äußerlich und hat ein objektives Sein an ihr selbst, – die dem Zwecke unterworfene Realität, das unmittelbare Mittel, zunächst die Objektivität als Prädikat des Subjekts, aber fernerhin ist sie auch die Mitte des Schlusses; die Leiblichkeit der Seele ist das, wodurch sie sich mit der äußerlichen Objektivität zusammenschließt. – Die 39

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eben diese Art von Reflexion, ohne daß ihm oder seinen Lesern bekannt zu sein scheint, wie nahe verwandt seine existentiallogische Daseinsanalyse mit den Analysen Hegels ist – was uns angesichts der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Kant und Aristoteles aber am Ende keineswegs verwundern sollte. Im Folgenden geht es dann darum, besondere Aspekte der Logik unserer Rede über das Leben, insbesondere des Status der Teleologie für das Leben in der Idee explizit zu machen: »Da ihm der Begriff immanent ist, so ist die Zweckmäßigkeit des Lebendigen als innere zu fassen; er ist in ihm als bestimmter, von seiner Äußerlichkeit unterschiedener und in seinem Unterscheiden sie durchdringender und mit sich identischer Begriff. Diese Objektivität des Lebendigen ist Organismus; sie ist das Mittel und Werkzeug des Zwecks, vollkommen zweckmäßig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber eben deswegen ist dies Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck, in welchem der subjektive Zweck insofern unmittelbar mit sich selbst zusammengeschlossen ist.«41 Insofern es keine angemessene Darstellung eines Lebensprozesses gibt, der nicht schon inferentielle Vorgriffe auf einen Gesamtprozeß des Lebens des Leiblichkeit hat das Lebendige zunächst als die unmittelbar mit dem Begriff identische Realität; sie hat dieselbe insofern überhaupt von Natur.« 41 TWA 6, 476–477. Weiter: »Nach der Äußerlichkeit des Organismus ist er ein Vielfaches nicht von Teilen, sondern von Gliedern, welche als solche a) nur in der Individualität bestehen; sie sind trennbar, insofern sie äußerliche sind und an dieser Äußerlichkeit gefaßt werden können; aber insofern sie getrennt werden, kehren sie unter die mechanischen und chemischen Verhältnisse der gemeinen Objektivität zurück. b) Ihre Äußerlichkeit ist der negativen Einheit der lebendigen Individualität entgegen; diese ist daher Trieb, das abstrakte Moment der Bestimmtheit des Begriffes als reellen Unterschied zu setzen; indem dieser Unterschied unmittelbar ist, ist er Trieb jedes einzelnen, spezifischen Moments, sich zu produzieren und ebenso seine Besonderheit zur Allgemeinheit zu erheben, die anderen ihm äußerlichen aufzuheben, sich auf ihre Kosten hervorzubringen, aber ebensosehr sich selbst aufzuheben und sich zum Mittel für die anderen zu machen.« Vgl. auch 472: »Das Leben, in seiner Idee nun näher betrachtet, ist an und für sich absolute Allgemeinheit, die Objektivität, welche es an ihm hat, ist vom Begriffe schlechthin durchdrungen, sie hat nur ihn zur Substanz. Was sich als Teil oder nach sonstiger äußerer Reflexion unterscheidet, hat den ganzen Begriff in sich selbst; er ist die darin allgegenwärtige Seele, welche einfache Beziehung auf sich selbst und eins in der Mannigfaltigkeit bleibt, die dem objektiven Sein zukommt. Diese Mannigfaltigkeit hat als die sich äußerliche Objektivität ein gleichgültiges Bestehen, das im Raume und in der Zeit, wenn diese hier schon erwähnt werden könnten, ein ganz verschiedenes und selbständiges Außereinander ist. Aber die Äußerlichkeit ist im Leben zugleich als die einfache Bestimmtheit seines Begriffs; so ist die Seele allgegenwärtig in diese Mannigfaltigkeit ausgegossen und bleibt zugleich schlechthin das einfache Einssein des konkreten Begriffs mit sich selbst«.

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Individuums (im Fall des Lebens von offenbar nicht teilbaren Tieren) und des Lebens der Gattung gibt, ist das Leben selbst und eben nicht bloß unsere zufällige Darstellung als teleologisch organisiert zu begreifen. Diese allgemeine Teleologie ist, wie schon gesagt, von der besonderen eines intentionalen menschlichen Handelns zu unterscheiden. »Am Leben, an dieser Einheit seines Begriffs in der Äußerlichkeit der Objektivität, in der absoluten Vielheit der atomistischen Materie, gehen dem Denken, das sich an die Bestimmungen der Reflexionsverhältnisse und des formalen Begriffes hält, schlechthin alle seine Gedanken aus [und zwar weil, worauf wir uns dabei immer schon appellativ und anaphorisch beziehen, als aus der eigenen Lebenserfahrung bekannt vorausgesetzt werden muß, PSW]; die Allgegenwart des Einfachen in der vielfachen Äußerlichkeit ist für die Reflexion ein absoluter Widerspruch und, insofern sie dieselbe zugleich aus der Wahrnehmung des Lebens auffassen, hiermit die Wirklichkeit dieser Idee zugeben muß, ein unbegreifliches Geheimnis, weil sie den Begriff nicht erfaßt und den Begriff nicht als die Substanz des Lebens.«42 Die Reflexion erfaßt insbesondere nicht, daß alle unsere Begriffe und all unser begrifflich geformtes Wissen unsere praktischen Grunderfahrungen nicht erklären, sondern voraussetzen; und daß sie an die guten Erfahrungen appellieren, die wir mit dem Wissen und den Begriffen machen. Kurz, alles verbale Wissen setzt die praktische Kenntnis des Lebens voraus. Hegel sagt dann noch, inhaltlich, daß es das Ziel des Lebensprozesses sei, seine eigenen materialen Voraussetzungen aufzuheben, sie sich anzueignen und sich zugleich von Kontingenzen dieser Voraussetzungen möglichst unabhängig zu machen. Die Formulierung, daß sich das Leben zum Allgemeinen mache, »das die Einheit seiner selbst und seines Anderen ist«, ist dabei eine eher unpräzise Metapher, auch wenn ganz richtig ist, daß das Leben immer auch als »Prozeß der Gattung« zu verstehen ist, in dem es nicht etwa nur bei uns Menschen, bei uns aber auf bewußte Weise, immer auch darum geht, die »Vereinzelung aufzuheben und sich zu seinem objektiven Dasein als zu sich selbst zu verhalten. Dieser Prozeß ist hiermit einerseits die Rückkehr

42

TWA 6, 472 f. Weiter: »Das einfache Leben ist aber nicht nur allgegenwärtig, sondern schlechthin das Bestehen und die immanente Substanz seiner Objektivität, aber als subjektive Substanz Trieb, und zwar der spezifische Trieb des besonderen Unterschiedes und ebenso wesentlich der eine und allgemeine Trieb des Spezifischen, der diese seine Besonderung in die Einheit zurückführt und darin erhält. Das Leben ist nur als diese negative Einheit seiner Objektivität und Besonderung sich auf sich beziehendes, für sich seiendes Leben, eine Seele.«

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zu seinem Begriffe und die Wiederholung der ersten Diremtion, das Werden einer neuen und der Tod der ersten unmittelbaren Individualität«.43 So wie schon das Leben des einzelnen Lebewesens, in seiner allgemeinen Form und seinem inneren Zweck, über das Individuum selbst hinausweist, so erst recht unser generisches Wissen und seine je aktuale Entwicklung. Daher haben wir zwischen den je heute geltenden Kriterien bzw. Erfüllungen der Bedingungen des Wahren, Wirklichen oder Objektiven und einer diachronen Betrachtung der Entwicklung dieser Kriterien und Erfüllungen zu unterscheiden. Analog steht es auch mit der Erfüllung einzelner Intentionen von Einzelsubjekten im Vergleich zu allgemeinen Zwecken der Gattung, die der Form nach in einem gewissen Grade analog sind zu dem, was wir als Struktur implizit geteilter Absichten im Unterschied zu explizit gemeinsam anerkannten Absichten (shared intentions) kennen. Im Folgenden geht es noch einmal um die Unterscheidung zwischen den Urteilen im zielgerichteten Verhalten und Handeln und den praktischen Schlüssen im Tun selbst, am Ende um die Rolle von Wahrnehmung (Sensibilität) und Begriff als ›Prämissen‹ für das Tun: »Die Totalität des Begriffes, welche der Objektivität zukommt, ist insofern gleichsam nur eine geliehene; die letzte Selbständigkeit, die sie gegen das Subjekt hat, ist jenes Sein, welches seiner Wahrheit nach nur jenes Moment des Begriffes ist, der als voraussetzend in der ersten Bestimmtheit eines an sich seienden Setzens ist, welches noch nicht als Setzen, als die in sich reflektierte Einheit ist. Aus der Idee hervorgegangen ist also die selbständige Objektivität unmittelbares Sein nur als das Prädikat des Urteils der Selbstbestimmung des Begriffs.«44 Hegel spricht hier nur deswegen von Selbstbestimmung des Begriffs, weil im angemessenen Urteil, daß das und das ein P ist und von ihm daher Q zu erwarten ist, das Urteil nicht als meine oder deine Behauptung, sondern als Bestimmung des Begriffes selbst, konkreter gesagt: unseres gemeinsamen Projekts einer vernünftigen Entwicklung von Wissenschaft und der durch sie und unserem technischen Können informierten anderen menschlichen Institutionen zu lesen ist. Das Urteil gehört dabei, wie oben schon gesagt, als Gebrauch schon zum Begriff und ist nicht von ihm zu trennen. »Im Schlusse der äußerlichen Zweckmäßigkeit ist vorhin die erste Prämisse desselben, daß sich der Zweck unmittelbar auf die Objektivität bezieht und 43 44

TWA 6, 473. TWA 6, 475.

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sie zum Mittel macht, so betrachtet worden, daß in ihr zwar der Zweck sich darin gleich bleibt und in sich zurückgegangen ist, aber die Objektivität an ihr selbst sich noch nicht aufgehoben [hat], der Zweck daher in ihr insofern nicht an und für sich ist und dies erst im Schlußsatze wird.«45 Hegels Formulierungen dazu, wie wir in Wahrnehmung und Anschauung begrifflich urteilen, sind sicher obskur. Es geht mir hier nur um eine Skizze der Einsicht, daß wir Menschen Wesen sind, die »vom Begriffe beseelt« sind, also die Welt immer schon begrifflich gegliedert erfahren – was aber nicht etwa heißt, daß wir diese als empraktisch gemeinsame Gliederung immer voll und ganz explizit machen, mit Worten differenzieren könnten. »Die lebendige Objektivität des Individuums aber als solche, da sie vom Begriffe beseelt [ist] und ihn zur Substanz hat, hat auch an ihr zu wesentlichem Unterschiede solche, welche seine Bestimmungen sind, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, die Gestalt, als in welcher sie äußerlich unterschieden sind, ist daher nach denselben eingeteilt oder eingeschnitten (insectum). Sie ist hiermit erstlich Allgemeinheit, das rein nur in sich selbst Erzittern der Lebendigkeit, die Sensibilität. Der Begriff der Allgemeinheit, wie er sich oben ergeben hat, ist die einfache Unmittelbarkeit, welche dies aber nur ist als absolute Negativität in sich. Dieser Begriff des absoluten Unterschiedes, wie seine Negativität in der Einfachheit aufgelöst und sich selbst gleich ist, ist in der Sensibilität zur Anschauung gebracht. Sie ist das Insichsein, nicht als abstrakte Einfachheit, sondern eine unendliche bestimmbare Rezeptivität, welche in ihrer Bestimmtheit nicht ein Mannigfaltiges und Äußerliches wird, sondern schlechthin in sich reflektiert ist.«46 Ohne die hier vorgetragene Betrachtung ist insbesondere Hegels ›Naturphilosophie‹ nicht begreifbar.47 Dort geht es weniger um die Methode der technisch-mathematischen Naturwissenschaften als um eine Verortung unserer begrifflichen Zugänge zur Welt. Es geht um eine Darstellung der Entwick45

TWA 6, 477. TWA 6, 478. 47 Hegels Naturphilosophie mag als gescheitert gelten. Sie ist dennoch als Versuch der Reflexion darauf zu begreifen, wie wir Formen des Denkens in und aus der Naturbetrachtung entwickeln. Es handelt sich um begrifflich-strukturelle Formen der Darstellung, die an dem Realen ein Invariantes gegenüber verschiedenen empirischen Aspekten aus subjektiven Perspektiven festzuhalten erlauben. Wir brauchen und gebrauchen sie dazu, die Natur, diesen sich scheinbar unaufhörlich wandelnden und daher nie faß- und begreifbaren Proteus, zu zwingen, seine Verwandlungen einzustellen (Enz § 244). Ohne sie könnten wir nichts Allgemeines über die Natur sagen und würden damit gar nichts wissen. 46

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Pirmin Stekeler-Weithofer

lung materialbegrifflicher Basisaussagen. So wie es die Aussagen über ideale Formen der Geometrie möglich machen, mißratene Gebilde oder Gestalten zu identifizieren, gibt es immer auch formen- oder typenbestimmende Aussagen in unserer Rede über die Natur und Welt. Auch sie artikulieren einen Kanon inferentieller Basisnormen. Sie sind daher nicht einfach als empirische Berichte darüber zu verstehen, was es so alles gibt, sondern enthalten als eine Art normative Komponente ein Normalfallwissen. Hegel erläutert diese platonisch-aristotelische Idee, in welcher die Ideenlehre zu einer Art Prototypensemantik wird, ex negativo am Beispiel von Mißgeburten: »Um dergleichen Gebilde als mangelhaft, schlecht, mißförmig betrachten zu können, dafür wird ein fester Typus vorausgesetzt, der aber nicht aus der Erfahrung geschöpft werden könnte, denn diese gibt auch jene sogenannten Mißgeburten … an die Hand«.48 Dabei wäre noch viel dazu zu sagen, was es heißt, daß wir diese Normen nicht aus der ›Erfahrung‹ schöpfen, sondern daß »die Idee sich als das setze, was sie an sich ist«.49. Gemeint ist hier nämlich nicht, wie in meiner eigenen Erläuterung oben, eine allgemeine gute Erfahrung von uns allen, sondern, wie zumeist im Gebrauch des englischen Wortes „experience“, die bloß einzelne Wahrnehmung einzelner Individuen, von mir oder dir. Wir bringen also die allgemeine begriffliche Form oder Idee (an sich) und seine Kriterien des Normalen, Guten und Wahren schon mit, wenn wir etwas als etwas wahrnehmen oder verstehen. Schon in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes hatte Hegel das Problem benannt: Einerseits scheinen wir zu untersuchen, was an sich ist. Andererseits gilt: »An dem also, was das Bewußtsein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen. Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber das Seiende oder den Gegenstand, so besteht die Prüfung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. Nennen wir aber das Wesen oder das Ansich des Gegenstandes den Begriff und verstehen dagegen unter dem Gegenstande, ihn als Gegenstand, nämlich wie er für ein anderes ist, so besteht die Prüfung darin, daß wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht.«50

48 49 50

Enz § 250 (TWA 9, 36). Ebd. TWA 3, 77.

Die Evolution der Freiheit Natur, Technik und Geist bei Hegel Volker Gerhardt

1. Die verschlafene Wende. Viele reden von den Lebenswissenschaften. Doch wer betreibt sie eigentlich? Natürlich die Land- und Forstwissenschaften, die Biologen, die Physiologen und die mit ihnen kooperierenden Informatiker. Aber sollte nicht längst eine alle Wissenschaften umfassende Beschäftigung mit dem Leben im Gange sein? War nicht schon vor Jahren von einem neuen »Paradigma« die Rede, das die methodologische Vorherrschaft der Physik ablösen sollte? Davon ist wenig zu spüren. Man sieht zwar, daß sich die junge Wissenschaftsgeschichte mit der etwas älteren Entstehung der Biologie als Fachdisziplin befaßt; man kann mit Erleichterung feststellen, daß der Begriff der Anthropologie wieder verwendet werden darf, und es kann einem nicht entgehen, daß die Politik, wenn sie über Stammzellforschung, Krippenplätze, Bevölkerungswachstum oder über den Klimawandel streitet, mit originären Lebensfragen beschäftigt ist. Gleichwohl stehen die Neurophysiologen, die mit weltanschaulichem Eifer die Freiheit zu bestreiten suchen, noch fest auf dem Boden des physikalistischen Determinismus. Man hätte annehmen sollen, daß sich die Philosophen als erste der proklamierten Wende zu den Lebenswissenschaften stellen. Denn sie haben einen nicht geringen Anteil an der Dogmatisierung der physikalischen Weltsicht und haben zugleich eine große Tradition systematischer Beschäftigung mit dem Leben vorzuweisen. Sie brauchen sich nur auf Aristoteles oder Lukrez, auf Leibniz oder Kant, auf Montaigne, Rousseau oder Nietzsche zu besinnen, um vorzuführen, welche Einsichten lange vor dem historischen Quantensprung der Molekularbiologie zur Verfügung standen. Wenn alles gut geht, machen das Zuckerbrot und die Peitsche der Exzellenz-Initiative möglich, was die eigene Einsicht nicht vermag.1

1

Der Satz wurde im Frühjahr 2007 geschrieben. Im Sommer 2008 sieht es so aus, als habe die in vielem höchst problematische Exzellenzinitiative immerhin den Effekt, daß nun lebenswissenschaftliche Projekte auch unter Beteiligung der Philosophie in Gang kommen. Ob das Rückwirkungen auf die systematische Orientierung des Philosophierens hat, bleibt abzuwarten.

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Volker Gerhardt

2. Die immer noch verkannte »Phänomenologie«. Hätte man sich etwas eher auf die Lebensfragen besonnen, wäre die Verlegenheit, das 200jährige Jubiläum von Hegels Phänomenologie des Geistes zu feiern, vielleicht etwas weniger groß ausgefallen. Denn dieses Buch enthält, was immer es sonst noch für Verdienste hat, eine Theorie des Lebens, genauer: eine Theorie der Wirklichkeit als Prozeß der Wirksamkeit des Geistes, der sich nicht anders als lebendig begreifen kann. Die »Gestalten des Bewußtseins«, die Hegels Phänomenologie zu erfassen sucht, sind bereits als Gestalten Formen des Lebens: Sie sind dies erst recht in ihrem konkreten, d. h. in ihrem lebendigen Vollzug. Was immer sie enthalten, aufnehmen und entäußern, wie immer sie sich bewegen und entwickeln: Alles an ihnen muß als lebendig begriffen werden. Mehr noch: Nur weil der Geist sich in ihnen als lebendig erfährt, vermag er überhaupt von Leben zu sprechen. Die Primärerfahrung des Lebendigen, so tief sie auch in die Empfindung und die ihr zugrunde liegenden organischen Prozesse eingelassen ist, ist die Selbsterfahrung des Bewußtseins. Nur als bewußtes Wesen kann ich von meiner Lebendigkeit wissen. Aber das kann ich nur, weil das Bewußtsein am Leben Anteil hat. Auch wenn, wie Hegel später sagen wird, die Natur eine »Manifestation« des Geistes ist, kann der Geist, selbst der »absolute«, der »unendlich schöpferische Geist« – sowohl in der »Unruhe« als auch in der »lebendigen Einheit« seiner Tätigkeit – nur als lebendig begriffen werden.2 Entsprechend ist auch die »Wissenschaft vom Geiste« nicht nur »wahr«, sondern auch »lebendig, organisch, systematisch«.3 Hegels Phänomenologie kann somit als Versuch gelten, einen Zugang zum Begriff des Lebens zu finden, der das Leben nicht als einen Spezialfall der Natur, sondern als Grunddisposition aller begriffenen Wirklichkeit umfaßt. Leider hat dieses grandiose Werk nicht die Epoche gemacht, die der Autor bei dessen Abschluß vor Augen hatte. Ja, mit Blick auf die dominanten Themen der gegenwärtigen Philosophie steht es nicht gut um die Aktualität des Buches. Hätten nicht drei bedeutende amerikanische Denker den Zusammenhang von Leben, Erfahren und Handeln (Dewey), den Prozeßcharakter der Realität (Whitehead) und deren ganzheitlich-holistische Verfassung

2

Vgl. Enz §§ 378 Zus., 383 u. 384 Zus. (TWA 10; 13, 27, 30 f.) – Mit der Phänomenologie des Geistes eröffnet sich Hegel den Zugang zu seinem System. Was sein erstes Buch leistet, tritt daher im entfalteten System um so deutlicher hervor. Deshalb stütze ich mich im Folgenden stärker auf die Enzyklopädie und die Logik. Die Phänomenologie als die Einleitung ins System bleibt damit stets anwesend. 3 Vgl. Enz § 379 Zus. (TWA 10, 15).

Die Evolution der Freiheit

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(Quine) exponiert, wäre Hegel inzwischen tatsächlich der »tote Hund«, als den ihn Marx gerne obduziert hätte. Wir leugnen natürlich nicht, daß Hegels Philosophie in der spekulativen Natur- und Sprachphilosophie sowie in einigen Spielarten des Pragmatismus eine gewisse Aufmerksamkeit findet. Offenkundig halten auch einige der weniger werdenden Subjektivitätstheoretiker an ihm fest; desgleichen die noch vor kurzem auf strikte Abgrenzung gegenüber dem Leben bedachten Anwälte rein gesellschaftlicher Anerkennung. In den Sachfragen einer Theorie der Person, der Kultur, der Geschichte oder der Werte wird er ebenfalls weiterhin zu Rate gezogen. Gleichwohl ist Hegel, der nach seiner Bedeutung ins Zentrum des Philosophierens gehört, zu einer peripheren Erscheinung geworden. Während Platon, Aristoteles und Kant mit Recht unablässig Erwähnung finden und an Nietzsche überhaupt kein Weg vorbei zu führen scheint, steht Hegel im Abseits. Das spricht natürlich nicht im Geringsten gegen Hegel, wohl aber gegen das Problem- und Geschichtsbewußtsein der Gegenwart. 3. Das Pathos der Freiheit. Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Jena das Manuskript der Phänomenologie zum Abschluß brachte, sah er Napoleon zur Stadt hinaus reiten. Das war am 13. Oktober 1806. Am Tag darauf wird das preußische Heer bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen. Der preußische Traum von der Wiederherstellung des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation unter der Ägide eines Berliner Kaisers ist damit endgültig ausgeträumt. In Hegels Augen aber tut ein ganz anderes Reich sich auf, nämlich das Reich der Freiheit. Napoleon erscheint ihm als der »Weltgeist« oder die »Weltseele zu Pferde«, die sich anschickt, das zu retten, was die Französische Revolution heraufgeführt, doch dann sehr bald gefährdet hat. In Napoleon sieht er den machtvollen Garanten der politischen Freiheit des Individuums, der mit Hilfe von Recht und Gesetz in ganz Europa das realisiert, was 1789 in Paris begonnen wurde. Daran ändern auch die Schließung der Universität in Jena und die der Not gehorchende Übersiedlung nach Bamberg nichts. Als Redakteur der Bamberger Zeitung setzt Hegel sich von 1807 an direkt für die Sache der Freiheit ein. Die im April 1807 am selben Ort erscheinende Phänomenologie hält er nicht zuletzt deshalb für so leicht verständlich, weil er annimmt, die Freiheit, um die es ihm darin geht, stehe jedem vor Augen – auch jenen, denen der »Weltgeist« nicht leibhaftig begegnet ist. 4. Die Epoche der Freiheit. »Freiheit« ist die Losung des Zeitalters, in dem Hegel groß geworden ist. John Locke hatte sie – im Anschluß an eine große Tradition, aber individualrechtlich präzisiert – der Politik zugrunde gelegt,

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mit Rousseau war sie zu einer menschheitlichen Forderung geworden, und Kant konnte zeigen, daß sie der Ursprung aller humanen Leistungen ist, ohne im Widerspruch zur strengen Naturgesetzlichkeit zu stehen. Die Freiheit tritt im »Geist« hervor, den Kant als die »belebende Kraft im Gemüthe« versteht. Damit war nicht nur der Grund für die Erfahrung des Schönen, sondern auch für einen neuen Begriff des Lebens gelegt. Nur vor diesem Hintergrund ist das Freiheitspathos Friedrich Schillers zu verstehen, der seine Ideale bereits im realen Prozeß des Lebens – und damit auch in der Geschichte – wirksam sieht. In diesem Pathos vollzieht bereits der junge Hegel die Wende von der Theologie zur Philosophie, und wir nehmen vorweg, daß sich seine Begeisterung für die Freiheit nie verliert. Aber er ist ein bedächtiger Kopf mit einem enzyklopädischen Blick für die Realität des menschlichen Daseins. Er hat das wechselvolle Schicksal der Freiheit seit ihrer Entdeckung bei den frühen Griechen im Auge; er weiß vom grundstürzenden Einfluß des Christentums, er sieht mit an, wie die Aufklärung nicht nur in den Terror, sondern auch in die Romantik umschlägt, und er hat sich mit der Dynamik der ökonomischen Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft befaßt. Daß man die Freiheit will, daß man sie braucht und daß ihr die Zukunft gehört, ist für ihn keine Frage. Nach allem, was wir heute wissen, hat er darin auch Recht gehabt. Doch sein epochemachender Ehrgeiz ist zu zeigen, warum die Freiheit unumgänglich ist und daß man gar nicht anders kann, als sie zu wollen. Mehr noch: Sein spekulatives Interesse ist auf den Nachweis gerichtet, daß die Freiheit allem zugrunde liegt: »Die Substanz des Geistes«, so sagt er noch in einem späten Zusatz zur Enzyklopädie, »ist die Freiheit«, eine Freiheit, die Hegel in der Tradition der politischen Philosophie als »das Nicht-Abhängigsein von einem Anderen« versteht.4 Das macht nicht nur die Größe, sondern auch die Paradoxie der Aufgabe kenntlich. Das Ganze soll aus etwas entstehen, das in seiner Freiheit unabhängig von einem Anderen ist. Was könnte das Andere sein, wenn alles schon im Ganzen ist? Hegels Antwort, daß einzig der Geist in seiner Freiheit sich selbst – in seiner Selbstbezüglichkeit – auch dieses Andere ist, gibt zu erkennen, daß die Lösung, die sein spekulatives Denken bietet, nicht einfach ist. 5. Ein Vorgang des Lebens. Beim Ausbruch der Französischen Revolution ist Hegel noch keine zwanzig Jahre alt. 1791, im Tübinger Stift, pflanzt er ihr mit seinen Studienfreunden Schelling und Hölderlin einen Freiheitsbaum. 4

Vgl. Enz § 384 Zus. (TWA 10, 31).

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Doch in den nachfolgenden Jahren muß er mit ansehen, wie sich die Freiheit selbst gefährdet. Neben die Schrecken der Revolution treten die laut werdenden Stimmen der Gegenaufklärung, die den Umsturz aus dem Zuviel an Wissen und die Verwirrung aus dem Überfluß an individueller Unabhängigkeit zu erklären suchen. Erneut wird der Glaube als Alternative zum Wissen ins Spiel gebracht. Die Romantik, der vornehmlich ästhetisch motivierte Versuch eines geschichtlichen Einspruchs gegen die Vernunft,5 stellt alles in Frage, was die Menschheit bislang von der Erkenntnis, der Wissenschaft und von der auf Freiheit basierenden individuellen Einsicht erwartet hat. Dem romantischen Klimawandel tritt Hegel in seiner Phänomenologie mit denkbar größtem intellektuellen Aufwand entgegen. Dazu wählt er ein unerhörtes, vollkommen neuartiges Verfahren, von dem er in der Vorrede fünfzig Seiten lang beteuert, daß er dazu in einer Vorrede gar nichts sagen könne. Denn die Methode lasse sich nur in ihrer Anwendung erkennen. Jeder weiß, daß sich dies mit gutem Recht von jedem Verfahren sagen läßt. Wirkliche Kenntnis erlangt man von einer Methode nur, indem man sie praktiziert. Aber in der Philosophie, in der ohnehin alles auf das Selbstdenken gegründet ist, heißt das mehr: Der Leser muß nicht nur selber denken, sondern er hat sich selbst auf eben die Weise zu begreifen, wie sie der Autor am Gegenstand seiner Untersuchung demonstriert. So wie der Geist als durch und durch lebendig vorgeführt wird, so muß sich auch der Philosoph verstehen, wenn er sich auf der Höhe des Geistes bewegen will. Und das geschieht, indem er sich selbst als Teil des Lebens begreift. Es ist eine Trivialität, daß sich der Leser einer »Phänomenologie«, also einer »Erscheinungslehre« des Geistes selbst als ein geistiges Wesen aufzufassen hat. Wenn man weiß, daß Hegel sein ganzes Denken auf die Einsicht und die Freiheit des Einzelnen gründet, kann es auch niemanden überraschen, daß er dem Träger des Geistes die Form des individuellen Bewußtseins gibt, das als »Selbstbewußtsein« zu sich selber finden muß. Diese Tatsache hat die Hegel-Forschung bis zum äußersten ausgereizt, ohne uns Hegel wirklich näher zu bringen. Sie hat das Selbstbewußtsein zu einem Spiegelkabinett im Inneren des Subjekts gemacht, von dem aus es zwar den Abgrund in die unausdenkbaren Tiefen einer bodenlos gewordenen Seele vor sich hat – aber keine Tür ins Freie des gemeinsamen Daseins. Den nahe liegenden Gedanken, das Bewußtsein selbst schon als Öffnung und Offenheit des sich äußernden Individuums anzusehen, hat sie nicht verfolgt. 5

Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. Dazu: Volker Gerhardt: »Auch die Romantik gehört zur Aufklärung. Philosophiekolumne«, in: Merkur, 702, 61. Jahrgang, Stuttgart November 2007, 1049–1055.

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Doch darauf hätte sie kommen müssen, wenn sie die Pointe in Hegels Verfahren ernst genommen hätte, die in nichts anderem als darin besteht, den Geist als etwas Lebendiges anzusehen. Das Lebendige ist selbst dort, wo es sich auf sich selbst bezieht, nur in seinem Verhalten gegenwärtig. Es kann allein in seinem Werden und auch darin nur in seinen Äußerungen begriffen werden. Und so faßt Hegel den Geist als das, was zum Ausdruck kommen und in den »Gestalten des Bewußtseins« zur Darstellung gelangen muß. Der Geist selbst ist eine Gestalt des Lebens. Als Gestalt hat er, wie alles Lebendige, seinen historischen Ort; er entsteht, wächst, reift und vergeht. Er gewinnt seine Form sowohl mit Hilfe als auch auf Kosten anderen Lebens; er hat sich gegen andere Formationen zu behaupten, kann sie vernichten und kann sie sich einverleiben. Er kann sich aber auch selber überwinden und in Anerkennung Anderer das stets gefährdete Niveau eines Gleichgewichts mit den Anderen erreichen. Wie sollte man alles dies verstehen, wenn ein substantiell für sich bestehender reiner Geist oder die bloße Reflexion des Selbstbewußtseins die bewegende Kraft der Geschichte wäre? Es ist vielmehr das Leben selbst, das sich in seiner individuellen Vielfalt, aus sich, gegen sich und mit sich selbst entfaltet, aber in dieser evolutionären Bewegung nur verstanden werden kann, wenn in allen diesen Gestalten etwas ist, das dem Verstehen entgegenkommt. Und eben das ist der Geist, der in den Gestalten des Lebens seine Endlichkeit hat, der jedoch, sofern er sie begreift, notwendig über deren Begrenzungen hinaus sein muß, und folglich gar nicht anders als »unendlich« genannt werden kann. 6. Idealismus der Lebendigkeit. Gegen diese Darstellung scheint zu sprechen, daß Hegel auch dem unbelebten, dem materiellen Sein eine nicht unbedeutende Rolle im System seines Denkens zuweist. Doch auch hier ist es allererst der Geist, der erlaubt, von festen Formen und Grenzen zu sprechen. Ohne Begriff ließen sich keine Stoffe unterscheiden, ja, die Materie löst sich nach Hegels Eindruck sogar den Physikern in etwas Imponderables und Immaterielles auf,6 wenn nicht feste Unterscheidungen gedacht werden könnten. Die aber sind Sache des Geistes. Der Geist prozediert in Unterscheidungen, die rein begrifflich und dennoch Ausdruck seiner impliziten Lebendigkeit sind. Deshalb ist es ihm schlechterdings unmöglich, unabhängig von der Bewegung des Lebens wirksam zu sein. Selbst der absolute Geist ist an die ihn tragende, ihn ausmachende Unruhe des Lebens gebunden. Er verlöre sie erst, wenn man ihn für tot erklärte. Das Leben steht somit am spekulativen 6

Vgl. Enz § 389 (TWA 10, 43).

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Anfang wie am spekulativen Ende der Tätigkeit des Geistes, und die Logik macht bewußt, wie sich das Leben des Geistes vollzieht. Tatsächlich ist Hegels Logik ein Versuch, das Denken selbst als die organische Ordnung des Lebens zur Darstellung zu bringen. Das soll nicht heißen, man könne den Geist und seine Logik zum Gegenstand biologischer Forschung machen. Dennoch hat das, was Hegel zu erfassen sucht, durchaus mit dem zu tun, wovon der Biologe ausgeht, wenn er seinen Gegenstand von dem der Physik oder Chemie unterscheidet. Der Lebenswissenschaftler muß eine Vorstellung von der Einheit des Lebendigen haben, wenn er es als Organismus (oder wenigstens als dessen Teil – als Organ oder Zelle) begreift. Damit unterstellt er eine in sich stimmige Organisation, die als Ganze reagiert, sobald spezifische Reizschwellen überschritten sind. Als dieses Ganze steht der Organismus einer Umwelt gegenüber, von der seine Erhaltung – auch wiederum im Ganzen – abhängig ist. Die Einheitsunterstellung fällt vielen nur deshalb nicht auf, weil sie den Organismus wie eine Tatsache, gleichsam als gegebene Einheit begreifen. So wie sie sich selbst als organisches Ganzes sehen, so fassen sie auch die ihnen gegenüberstehenden Lebewesen als Einheiten auf. Doch auf beiden Seiten liegen begriffliche Leistungen, die mit dem Hinweis auf den Geist den Charakter bloßer Faktizität verlieren. Hegel macht die mit dem Geist verknüpfte, weit reichende begriffliche Unterstellung bewußt, indem er in einer kühnen, für sein ganzes Denken charakteristischen Wendung vom »Idealismus der Lebendigkeit« spricht.7 Die Natur, so heißt es in den Vorlesungen über die Ästhetik, »tut schon als Leben faktisch dasselbe, was die idealistische Philosophie in ihrem geistigen Felde vollbringt«.8 Der Organismus ist im Ganzen von einem Prinzip bestimmt, das sich in allen seinen Vollzügen zeigt, ihnen allen ihren Zweck und damit einen einheitlichen Sinn vermittelt. Damit wirkt der Geist in jeder Gestalt des Lebendigen. Was liegt näher, als ihn in seiner begrifflichen Form selbst nicht nur als Gestalt des Lebens, sondern als Form der Natur zu begreifen? 7. Der Doppelsinn des Sinns. Die Rede vom »Idealismus der Lebendigkeit« entdeckt den Doppelsinn, der in Hegels Rede vom Geist zu beachten ist: Geist ist das, was begreift, und zugleich das einzige, was überhaupt begriffen

7

Dazu: Birgit Recki: »Das Problem des Naturschönen in Hegels Ästhetik. Eine konstruktive Lektüre«, in: dies.: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn 2006, 181–195, 186 ff. 8 TWA 13, 163.

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werden kann. Geist ist das vornehmste Instrument des menschlichen Selbstbewußtseins und zugleich das unverzichtbare Medium, in dem sich etwas der Erkenntnis erschließt. Nur wo beide sich entsprechen, kann »Wissen« entstehen; nur hier ist »Wahrheit« möglich. Weil der Geist nur Geistiges begreift, das selbst nicht anders als allgemein gedacht werden kann, ist in ihm das Selbstbewußtsein des Individuums nicht nur mit dem möglichen Bewußtsein aller Anderen, sondern auch mit dem begriffenen Sachverhalt verbunden. Also ist der Geist das Integral von Wissen und von Wirklichkeit, dessen Leistung aber nicht anders als unter den Bedingungen des Lebens zu verstehen ist. Die vom Leben getragenen, gleichermaßen subjektive wie objektive Doppelfunktion des Geistes kommt für Hegel auch im Begriff des »Sinns« zum Ausdruck: »›Sinn‹ nämlich ist dies wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und so bezieht sich der Sinn einerseits auf das unmittelbare Äußerliche der Existenz, andererseits auf das innere Wesen derselben.«9 Hegels Beobachtung ist dadurch belastet, daß er im angesprochenen Doppelsinn »zwei entgegengesetzte Bedeutungen« ausmachen will. Die gemeinsame Herkunft von Sinnlichkeit und Verstand wird geleugnet. Denn die »Bedeutung« ist nicht das »Andere des Sinnlichen«, sondern dessen Steigerung, die stets auf das Sinnliche angewiesen bleibt. Dem trägt Hegel selber Rechnung, wenn er betont, eine »sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seiten [des Sinnlichen und Sinns] nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff auf«.10 Diese methodologische Vermittlung bliebe selber sinnlos, wenn es nicht ein Fundament in der Sache gäbe. Es liegt in dem alles Sinnliche tragenden Moment der Empfindung und im sachlichen Erfassen der Bedeutung durch

9

TWA 13, 173. Ebd. Ähnlich in: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Berlin 1823, nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, 59 f. (Zur Bedeutung der Hotho-Nachschrift für die Deutung von Hegels System siehe die Einleitung von Annemarie Gethmann-Siefert in ebendiesem Band (XV–XLVI) sowie Erzsébet Rózsa: Versöhnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie, München 2005, 439–459.) – Auf Hegels Anspruch, den organischen Zusammenhang in der Form mit einander verbundener Gegensätze zu denken, gehe ich hier nicht näher ein. Auch in ihm kommt ein Primat der Methode zum Tragen, der die Einheit im Ursprung mißachtet. 10

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das sich erst im Begreifen eines anderen bestätigende Selbstbewußtsein. Empfindung und Selbstbewußtsein aber sind Leistungen des Lebens. 8. Hegels grundlegende Einsicht. Die Bedeutung des Wortes »Dialektik« kann man mit Blick auf Platon oder Kant durch den Gewinn an Einsicht illustrieren, der sich im Hin und Her eines Dialogs einstellen kann. Hegels oft mißbrauchter Begriff der Dialektik hingegen läßt sich angemessen nur im Prozeß einer lebendigen Entwicklung anschaulich machen. Der populäre Dreischritt vom Saatkorn über die Pflanze zur Frucht führt vor Augen, warum zur Entwicklung des Neuen notwendig auch die Zerstörung des Alten gehört. Mit jedem Neuen, das sich bildet, geht Älteres zugrunde. Leben ist das Ineinander von Werden und Vergehen, von Wachstum und Vernichtung. Aufbau und Zerstörung sind, wie jeder Stoffwechsel zu erkennen gibt, ein Geschehen in einem Akt. Für den jungen kunstgeschichtlichen Topos der »kreativen Zerstörung«11 bietet Hegels Dialektik eine ausgereifte Theorie. Wer in der von Hegel geschilderten Evolution des Geistes das lebendige Naturgeschehen nicht aus dem Blick verliert, wird weder den Wechsel noch die Härte und Gewaltsamkeit im intellektuellen Geschehen befremdlich finden. Im Gegensatz der Theorien und Ideen setzt sich der Kampf der lebendigen Mächte fort. Hier gibt es Geburt und Tod, Freund und Feind, Aufstieg und Fall. Und selbst dort, wo eine Epoche (nach Art einer Gattung) eine Weile lang überlegen ist, gelingt ihr das nur im fortgesetzten Widerspruch der Individuen, aus denen sie besteht. Allein das Leben bringt Gestalten hervor; nur das Lebendige kann aus der Zerstörung seiner eigenen Organisationen neue erzeugen, die ihm gleichwohl zugehören. Also muß das Leben als die bewegende Kraft der Geschichte angesehen werden, der Aufklärung und Wissenschaft, Religion und Kunst und natürlich auch die Geschichte der Freiheit zugehören. Das ist Hegels grundlegende Einsicht. Mit ihr stellt er das Denken noch entschiedener als Kant unter den Anspruch der modernen Welt. Aus der Metaphysik wird eine innerweltliche Logik, die alle Erscheinungsformen des Daseins aus einem inneren Bewegungsgesetz zu verstehen sucht. Dieses Gesetz kann einfacher nicht sein, denn es bildet lediglich die elementare Bewegung des Lebens nach: Zunächst behält es etwas »für sich«, gewinnt damit die Voraussetzung, etwas anderes als »an sich« nützlich oder schädlich feststellen zu können, um darauf gegründet etwas »an und für sich« zu 11

Dazu: Horst Bredekamp: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung, Berlin 2000.

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einer auch für Andere geltenden, aus sich heraus wirkenden Wirklichkeit zu bringen. 9. Der Primat des Geistes – inmitten der Natur. Wenn der Sachverhalt so einfach ist, wie ich ihn schildere, warum spricht Hegel dann dem Geist – und nicht dem Leben – die tragende Rolle zu? Die Antwort liegt auf der Hand, auch wenn sie die Phalanx der Hegelkritiker von Marx über Popper und Blumenberg bis hin zu Richard Rorty ins Unrecht setzt: Nur dem Geist kann ein Verständnis der Logik des Lebens zugeschrieben werden. Von der Entwicklung der Natur läßt sich bloß sprechen, soweit man sie erkennt. Und der Mensch kann sich ihr nur stellen, sofern er sie sowohl in den äußeren Formen des Lebens als auch in seinen eigenen Lebensäußerungen begreift. Wenn er aber den Zugang zur Natur und zu sich selbst allein in seinem Selbstbewußtsein findet, hat der Geist den Primat, den man nicht auf die Methode beschränken kann, sondern in der Sache anzuerkennen hat. Wenn daher jemand kommt, der Hegel »vom Kopf auf die Füße« stellen will, der nimmt sich vor, auf die Erkenntnis und mit ihr auf die Wissenschaft, die Aufklärung und die individuelle Einsicht zu verzichten. Vermutlich hat Marx es so nicht gemeint. Mit Sicherheit aber hat er nicht verstanden, daß Hegel mit der Phänomenologie des Geistes die Freiheit vor ihren modernen Widersachern retten wollte. Da sie zum Leben gehört, ist es nur natürlich, daß ihr Feinde erwachsen. Doch das Schicksal ihrer Feinde ist es, eben das in Anspruch zu nehmen, was sie bestreiten, nämlich die Freiheit, die wiederum nur dem Geist verständlich ist. Eine philosophiegeschichtliche Konsequenz dieser Einsicht ist, daß Hegel nicht länger als Widersacher Kants begriffen werden kann. In seiner Dialektik versucht er nicht nur zu zeigen, daß Aufklärung und Vernunftkritik historisch im Recht gewesen sind. Ihm geht es zugleich um den Nachweis, daß auch unter veränderten geschichtlichen Bedingungen nicht auf sie verzichtet werden kann. Eine »Dialektik der Aufklärung« in Hegels Sinn sucht Vernunft und Freiheit jetzt, also mitten in einem sich historisch umwälzenden Leben, zu retten. Mit welchen Mitteln Hegel dies versucht, sollen die nachfolgenden Punkte kenntlich machen. Dazu erinnere ich vorab an Hegels ingeniöse Deutung der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, mache dann eine Bemerkung über die Bedeutung der Logik in seinem System und brauche anschließend nur einen Hinweis auf seine Naturphilosophie zu geben, um deutlich werden zu lassen, wie nahe sich Natur und Geist in seinem Denken sind. Hegel könnte daher durchaus auch im Sinne der modernen Naturwissenschaft von einer »Evolution« des Geistes sprechen, wenn da nicht die von ihm ausdrück-

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lich gemachte, aber von der Naturwissenschaft beiseite geschobene Prämisse wäre, daß wir von der Natur, vom Leben und dessen Entwicklung nur sprechen können, sofern wir sie erkennen. Allein dadurch sind sie an den Primat des Geistes gebunden. Von Kant her könnte man den Geist als eine transzendentale Bedingung der Naturerkenntnis bezeichnen. Das birgt nach Hegel die Gefahr subjektivistischer Deutungen, weil man das Transzendentale dann als eine Bedingung ansehen müßte, die lediglich im Erkennen, Denken und Wissen des Einzelnen zum Tragen kommen. Dabei wird, wie die Geschichte der Kant-Interpretationen zeigt, leicht übersehen, daß der Einzelne sich in seinem Denken immer schon in einem Raum des Wissens bewegt, der sein Denken möglich macht. Das Erkennen gewinnt seine Objektivität allererst in einer Sphäre, der der Einzelne immer schon zugehört, ehe er auch nur seine erste Erfahrung in Begriffen ausbuchstabieren kann. Schließlich hat das Wissen eine Individuen und Kollektive übergreifende Bedeutung, die Hegel in die »Wahrheit« setzt. Tatsächlich kann man sich einer Wahrheit nicht entziehen, es sei denn, durch eine Lüge. Damit regiert sie das Denken und Handeln der einzelnen Wesen, die folglich an den in Wahrheit und Wissen, Erkennen und Denken wirksamen Geist gebunden sind. 10. Die freie Erkenntnis in der Natur. Der zusammenfassenden Darstellung seiner Logik stellt Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften eine Deutung des mosaischen Mythos vom Sündenfall voran. Die Geschichte von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies habe es mit dem »Ursprung und der Bedeutung« des Erkennens zu tun. Deshalb stehe sie »an der Spitze der Logik«.12 Im paradiesischen Zustand der Unschuld erkennt Hegel das »unbefangene Zutrauen« des natürlichen Wesens. Dieses Wesen ist »an sich«, was es ist, und es bewegt sich in seinem als solchem hingenommenen Dasein, noch ohne die Distanz, die erst mit der Erkenntnis eintritt. Tatsächlich bricht mit der Erkenntnis die vertrauensvolle Einbindung in den Lebenskontext auf. Es kommt notwendig zur Entzweiung, denn in der Erkenntnis nimmt das lebendige Wesen bei vollem Bewußtsein etwas »für sich«; es hat ein mit seinem Ich verknüpftes Wissen von dem Apfel, ein Wissen, das es für sich behalten, aber auch äußern kann. Zugleich aber strebt es mit dem Wissen über den Zustand der bloß für es selbst bestehenden Kenntnis hinaus. Denn es liegt in der Logik des Wissens, in Übereinstimmung nicht nur mit dem einzelnen gewußten Gegenstand, sondern mit dem überhaupt Gewußten zu sein. 12

Enz § 24, Zus. 3 (TWA 8, 88).

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Eben darin besteht die Wahrheit, in der das wissende Bewußtsein »an und für sich« mit seiner Welt verbunden ist. Da beide Momente, das trennende und das verbindende, zur logischen Dynamik des Wissens gehören, kann Hegel sagen, daß im Wissen sowohl die Entzweiung als auch die Versöhnung liegen. Das Wissen ist es, »welches die Wunde schlägt und dieselbe auch heilt«.13 Angesichts der inneren Dynamik des Wissens ist es bemerkenswert, daß Hegel die Äußerlichkeit des Anlasses betont: Es die »äußerliche Aufforderung« durch die Schlange, von der die Verführung zum Wissen ausgeht, und es ist die Notwendigkeit der körperlichen Arbeit, die daraus folgt. »Das Tier«, so heißt es, finde »unmittelbar vor, was es zur Befriedigung seiner Bedürfnisse« brauche; der Mensch hingegen verhalte sich »zu den Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse als [zu] einem durch ihn Hervorgebrachten und Gebildeten«. »Auch in dieser Äußerlichkeit«, so fährt Hegel fort, »verhält sich so der Mensch zu sich selbst.«14 11. Wofür die Schlange steht. Die Äußerlichkeit der Arbeit leuchtet sofort ein. Das Wissen erlaubt dem Menschen, in gezielter Weise nach Dingen zu greifen, und da er mit dem Wissen auch weiß, daß er es lassen, vielleicht aber auch auf andere Weise erreichen kann, wird er sich der physischen Mühe bewußt, die mit dem Einsatz des Wissens für ihn folgt. Leider sagt Hegel nicht mit gleicher Deutlichkeit, was im Prozeß der Evolution des Menschen der »äußerlichen Aufforderung« durch die Schlange entsprochen haben könnte. Im Gegenteil: Er verschleift den von ihm selbst hervorgehobenen Punkt und wendet ihn augenblicklich in sein Gegenteil: »In der Tat liegt […]«, so sagt er, »das Eingehen in den Gegensatz, [also] das Erwachen des Bewußtseins im Menschen selbst, und es ist dies die an jedem Menschen sich wiederholende Geschichte.«15 In der weiteren Deutung der biblischen Erzählung geht es Hegel so sehr um die geistige Eigentätigkeit des Menschen, daß er auf den äußeren Anlaß, den die Schlange gegeben hat, gar nicht mehr zurückkommt. Stattdessen betont er das »Göttliche« der Erkenntnis, in welcher der Mensch, nach der Verheißung der Schlange, sein wird »wie Gott«. Im Übrigen liegt alles Gewicht auf der Freiheit des Geistes und dessen Unabhängigkeit von der Natur: »Der Geist soll frei und das, was er ist, durch sich selbst sein. Die Natur ist für den Menschen nur der Ausgangspunkt, den er umbilden soll.«16 13 14 15 16

Ebd. Ebd., 89. Ebd. Ebd., 90.

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Hegels Deutung ist eindrucksvoll. Aber die von ihm selbst betonte Äußerlichkeit der Verführung durch die Schlange läßt die systematisch bedeutsame Frage offen, worin der realgeschichtliche Anlaß der Freiheit besteht. Was fordert die Freiheit des Geistes heraus? Wofür steht die Schlange, wenn wir die Schöpfungsgeschichte mit Hegel zum Leitfaden einer Rekonstruktion der Naturgeschichte des menschlichen Erkennens machen? Da Hegel sich alle Mühe gibt, die von ihm selbst bis an die Schwelle der Artikulation gebrachte Frage zu überspringen, sind wir genötigt, uns selbst an einer Antwort zu versuchen: 12. Das Mittel der Erkenntnis. Schließen wir von der Beschreibung der äußeren Leistung der Arbeit, die als notwendige Folge der Erkenntnis dargestellt wird, auf den von Hegel nur metaphorisch benannten Anlaß der Erkenntnis zurück, kann das evolutionsgeschichtliche Pendant der Schlange nur in einem vergleichbaren Angebot einer offenkundigen Erweiterung seines engen paradiesischen Horizontes liegen. Es muß, nach Hegels Voraussetzung, etwas Äußeres sein, das den Menschen innerlich derart befreit, daß er sich in dem neu gewonnenen Bewegungsraum einem Gott gleich fühlen kann. Aus meiner Sicht kommt nur eines in Frage, das den Charakter einer quantitativen und zugleich qualitativen Erweiterung des menschlichen Horizontes hat, etwas, das, mit Hegels Wort, »äußerlich« ist und zugleich als eine Epoche machende intellektuelle Herausforderung zu begreifen ist. Es ist ein »Mittel«, das den Anstoß zur Erkenntnis gibt und das insofern ursprünglich zwischen Natur und Geist »vermittelt«. Suchen wir nach einem geläufigen Ausdruck für dieses »Mittel«, so bietet sich der Begriff der Technik an, die im Urteil der Intellektuellen bis heute kaum weniger ambivalent bewertet wird, wie einst die Verführungskünste der Schlange. In der Technik haben wir etwas Äußeres, das in seiner Beschaffenheit ganz und gar zur Natur gehört und das dem Menschen bereits in seiner tierischen Existenz vertraut gewesen sein muß. Der Einsatz von Hilfsmitteln und Werkzeugen ist im Tierreich weit verbreitet. Von den Vorfahren des Menschen dürfen wir annehmen, daß ihnen spätestens mit der Zähmung des Feuers vor zweieinhalb Millionen Jahren die Perfektion im Einsatz von Techniken gelungen ist.17 Es könnten somit seine eigenen technischen Fertigkeiten gewesen sein, die seinen Geist geweckt und ihn damit »verführt« haben, über die ihm bis dahin gesetzten Grenzen hinauszugehen. 17

Friedemann Schrenk: »Feuer und Menschwerdung«, in: Feuer, Schriftenreihe Forum, Band 10, Köln 2001, 87–93; ders.: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, München 2003.

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Wäre es so, brauchte man dem Geist nichts von seiner Freiheit zu nehmen und könnte ihm dennoch eine ursprüngliche Beziehung zur Natur attestieren. Er wäre dann die neue Möglichkeiten erschließende Antwort auf den mit und durch den Menschen erreichten Entwicklungsstand der Natur. Hegel gibt eine solche Antwort nicht, zumindest nicht bei der Auslegung der Schöpfungsgeschichte. Hier kommt es ihm, gegen die Logik seiner auf die Parallele zwischen Natur und Geist angelegten Intention, darauf an, die Eigenständigkeit des Geistes im Kontrast zur Natur kenntlich zu machen. Doch damit bleibt er unter dem Niveau seiner dialektischen Rekonstruktion der Geschichte, in die er im weiteren Gang der Enzyklopädie auch die Naturgeschichte einbezieht. 13. Die Technik des Geistes. Für eine Verbindung von Geist und Natur unter dem Anreiz der Technik spricht, daß Hegel nicht nur die Natur, sondern auch den Geist nach Analogie einer Technik verständlich zu machen sucht. Daß die Natur sich nach dem – ja stets technischen – Modell des Mechanismus deuten läßt, bedarf keiner Erwähnung.18 Selbst für das lebendige Geschehen in einem organischen Zusammenhang stehen mit den Termini von Zweck und Mittel Begriffe zur Verfügung, die man unabhängig vom Impuls des menschlichen Willens verwenden kann, solange sie nach Analogie mit einem Werkzeug, das als Mittel zu Zwecken begriffen wird, verstanden werden.19 Kant hat an der technischen Implikation des mechanischen wie des organischen Naturbegriffs keinen Zweifel gelassen und hat ihn in seinen Kulturbegriff übernommen. Alle menschlichen Tätigkeiten stehen unter hypothetischen, d. h. technisch-pragmatischen Imperativen, denen sich lediglich das moralische Handeln nicht unterwirft. Hier, so könnte man im Vorgriff auf Hegel sagen, ist der Geist ganz bei sich selbst. Aber wie stellt Hegel eigentlich die Arbeit des Geistes dar? Wenn er in der Einleitung zur Enzyklopädie von der »äußeren Gestalt der Geschichte« 18

Ich erinnere nur an die Ausführungen über die Physik in den §§ 272 ff. der Enzyklopädie, in denen Hegel zeigt, wie die mechanischen Prozesse dadurch in Gang kommen, daß die »Körper« unter der »Macht der Individualität« stehen, also in einem technischen Vermittlungszusammenhang verbunden sind (TWA 9, 109 ff.). 19 Im Lebendigen »triumphiert« die Individualität (Enz § 337 Zus., TWA 9, 338). Das Einzelne weitet somit seine Verfügung über das Ganze des Organismus aus. Wie weit das Paradigma der technischen Verfügung greift, zeigt die Bemerkung über die Beschränkung des pflanzlichen Daseins: »Die Pflanze ist so die Ohnmacht, ihre Glieder nicht in ihrer Macht zu erhalten.« (Ebd., 341) »Macht« hat nicht nur bei Hegel stets einen technischen Sinn, weil sie selbst das soziale Mittel zu allen möglichen Mitteln ist. Dazu: Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996, 22 ff.

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spricht, und selbst in ihr einen Ausdruck der Ideen der Vernunft zu finden sucht, dann bemüht er einen technischen Vergleich: »Der Werkmeister [sic!] aber dieser Arbeit von Jahrtausenden ist der eine lebendige Geist, dessen denkende Natur es ist, das, was er ist, zu seinem Bewußtsein zu bringen und, indem dies so Gegenstand geworden, zugleich schon darüber erhoben und eine höhere Stufe in sich zu sein.«20 Technisch ist nicht nur die Rede vom »Werkmeister«, sondern auch von dem, was er ermöglicht, wie zum Beispiel den Aufstieg zu einer höheren Stufe. Die Metaphorik von Aufhebung und Vermittlung hat ein offenkundig technisches Moment. Ist dies erst einmal erkannt, läßt sich sogar bei der Methode der Dialektik der technische Charakter des Setzens, Aufhebens und Überbietens nicht verleugnen. Wie könnte Hegel sonst von der »saure[n] Arbeit des Geistes«21 sprechen? Wie anders könnte er in der Phänomenologie die Dialektik der Entfremdung entfalten, in der sich Herr und Knecht wechselseitig als Mittel begreifen? Wie wollte sich in der Rechtsphilosophie die bürgerliche Gesellschaft als »System der Bedürfnisse« fassen lassen, wenn in ihr nicht alle Individuen sich wechselseitig als Zweck und Mittel verstehen, die in dieser Form technisch verbunden sind? Antworten auf diese Fragen finden sich in Hegels Logik, in der das technische Moment organischer »Selbstbestimmung« hervortritt.22 Die Selbstbestimmung ist im realen Prozeß des Lebens auf Glieder, also auf Organe angewiesen, die erst in ihrem einheitlichen Zusammenwirken über den bloßen Mechanismus hinausgehen. Die Einheit des Lebewesens ist somit technisch vermittelt. Dabei geht die Technik des Organischen über die des bloß Mechanischen oder Chemischen hinaus: »Die mechanische oder chemische Technik bietet sich also durch ihren Charakter, äußerlich bestimmt zu sein, von selbst der [organischen] Zweckbeziehung dar […].«23 Die Formulierung macht deutlich, daß es im Übergang zur Organisation des Organismus – und zwar durch die Selbstreferenz lebendiger Systeme – eine Steigerung der Technik gibt. Für den Selbstbegriff des Geistes ist das von erheblicher Bedeutung. 14. Geist als technische Verfügung. In der Logik findet sich der Hinweis auf das »Mittelglied« im formalen Schluß eines Urteils, das, nach Kants Vorbild, die Erschließung einer organischen Einheit ermöglicht. Es ist auch hier eine

20 21 22 23

Enz § 13 (TWA 8, 58). Enz § 19 Zus. 1 (TWA 8, 69). Vgl. das Teleologie-Kapitel in Hegels Logik (TWA 6, 439 f.). TWA 6, 444 f.

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technische Leistung, die »zwischen dem Allgemeinen der Vernunft und dem Einzelnen der Anschauung« – vermittelt.24 Wenn gegen Ende der Logik die Vermittlungsleistung der »Idee des Guten« als eine höchste Form des Geistes zur Darstellung kommt, wiederholt Hegel die Formeln, mit denen er zuvor die Selbstreferenz des Organischen beschrieben hat: Der endliche Zweck gelangt in seiner Realisierung lediglich »bis zum Mittel«, das dem »Schicksale der Endlichkeit« untersteht, in den natürlichen Prozeß der Vermittlung eingelassen zu sein.25 Dem »guten Zweck« traut Hegel hingegen zu, in eine »unmittelbare Beziehung […] auf die Wirklichkeit« zu treten, in der es nicht mehr darum geht, daß sich der Wille der Realität »bemächtigt«.26 Hier also scheint alle Technik überwunden. Der Wille kommt zu einer unvermittelten Übereinstimmung mit sich selbst. Das Problem ist jedoch, daß die Identität des Geistes mit sich selbst auch nur nach dem Vorbild des Lebens gedacht werden kann.27 Und so gelangt der Geist zu seiner spezifischen Lebendigkeit erst in der organischen Technik des Begreifens und Verstehens seiner selbst. Im Geist, so könnte man sagen, wird die Technik universell. Wie weit Hegel in der Enzyklopädie in seinem Vergleich von Geist und Technik zu gehen bereit ist, zeigt die Passage, in der er von der »Instrumentallogik« des empirischen Denkens spricht. Der Ausdruck bezieht sich darauf, daß im empirischen Denken alles als »Mittel« für die Erkenntnis, speziell für die Bildung der Einzelwissenschaften angesehen wird. Es ist dem gegenüber aber keineswegs so, daß Hegel das spekulative Denken von allem Nutzenkalkül freihalten möchte. Er legt im Gegenteil größten Wert auf die Feststellung, daß gerade das »Vortrefflichste«, auf das der Geist in seinem Denken gerichtet ist, zugleich »das Nützlichste« ist.28 Um zu verstehen, was damit gemeint ist, hat man sich die Leistung des Geistes zu vergegenwärtigen: »Die Natur zeigt uns eine unendliche Menge einzelner Gestalten und Erscheinungen. Wir haben das Bedürfnis, in diese Mannigfaltigkeit Einheit zu bringen«.29 Und wie geschieht das? Ich brauche nur zu zitieren: »Wir sehen die Gestirne heute hier und morgen dort; diese Unordnung ist dem Geist ein Unangemessenes, dem er nicht traut; denn er 24

TWA 6, 443. – Dazu treffend: Christoph Hubig: »Macht und Dynamik der Technik – Hegels verborgene Technikphilosophie. Zur Einführung«, in: Rüdiger Bubner/ Walter Mesch (Hg.): Weltgeschichte oder Weltgericht?, Stuttgart 2002, 333–342. 25 TWA 6, 544. 26 TWA 6, 545 f. 27 TWA 6, 549. 28 Enz § 20 Zus. (TWA 8, 76). 29 Enz § 21 Zus. (TWA 8, 77).

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hat den Glauben an eine Ordnung, an eine einfache, konstante und allgemeine Bestimmung.« Und von dieser Bestimmung heißt es wenig später, daß sie ein »herrschendes Allgemeines« sei.30 Im Herrschen, Leisten und Bestimmen ist das Moment der technischen Verfügung offenkundig. Es kann aber in dieser Eigenart nur von einem Wesen erkannt werden, das sich selbst auf die Verfügung versteht, ja, sie im Verstehen mit vollzieht. Deshalb betont Hegel, daß wir es nicht durch »bloße Aufmerksamkeit« erkennen. Dazu gehöre »unsere subjektive Tätigkeit, welche das unmittelbar Vorhandene umgestaltet«, hinzu. Die Leistung des Geistes wird nicht durch Kontemplation erbracht, sondern sie ist eine »vermittels des Nachdenkens bewirkte [!] Umarbeitung [!] des Unmittelbaren«. Durch sie wird das Substantielle »erreicht«31 – und somit, wenn nicht erschaffen, so doch wenigstens errungen. 15. Geist und Wahrheit. Die mit wenigen Hinweisen freigelegte Technizität nicht nur im Verständnis der Natur, sondern auch im Selbstverständnis des Geistes muß hier als Hinweis darauf genügen, wie eng Geist und Natur bei Hegel verbunden sind. Sie wirken nach einem methodisch geordneten Verfahren zusammen. Der technische Fachausdruck dafür lautet »Dialektik«. Dabei ist mir bewußt, daß Hegel einer solchen Klassifikation der Dialektik eher reserviert gegenüber gestanden hätte. Es ist ja nicht zu leugnen, daß er den Ausdruck »Technik« sowie die ihm verwandten Wortformen selten verwendet. Im Werk finden sich nur wenige Bemerkungen, die ausdrücklich auf die »Technik« genannten Leistungen verweisen. Bestimmte Stellen lassen sogar auf eine Tendenz zur Nachordnung der Technik schließen: »Das Technische«, so heißt es in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, »findet sich ein, wenn das Bedürfnis vorhanden ist.«32 Wäre dies alles, was Hegel zur Technik zu sagen hat, würde er seiner eigenen Deutung des Schöpfungsmythos widersprechen. Er geriete auch in Gegensatz zu seiner Theorie der Kunst, in der er das Kunstwerk, dessen technischen Charakter er nicht leugnen kann,33 wesentlich aus dem Geist erklärt, der darin wirkt. Daran macht er den für ihn entscheidenden Unterschied 30

Ebd., 77 f. Ebd., 78 f. 32 TWA 12, 491. 33 Zum Genie gehört »die Leichtigkeit der inneren Produktion und der äußeren technischen Geschicklichkeit« (TWA 13, 369). Mit den »Außenseiten der technischen Ausführung« komme, so heißt es, das Genie »leicht zustande«. »Beide Seiten, die innere Produktion und die [technische] Realisierung, gehen dem Begriff der Kunst gemäß durchweg Hand in Hand.« (TWA 13, 370) 31

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zum Naturprodukt fest34 – obgleich man hinzufügen müßte, daß auch das Naturprodukt auf einer Technik der Natur beruht.35 Sehen wir davon ab, ist es die über das Technische verfügende, freie Tätigkeit des Menschen, die den Geist vermittelt. Nach Hegels eigenem Ansatz muß daher gelten, daß die Technik nicht nur dem Bedürfnis folgt, sondern immer auch selbst in der Lage ist, Bedürfnisse zu steigern und zu erzeugen. Es gibt starke Indizien dafür, daß Hegel selbst dieser Deutung zustimmen müßte: Achten wir nämlich darauf, an welchen Stellen seines Systems das Technische der Sache nach angesprochen und in eine unverzichtbare Stellung gebracht wird, kann er als ein Denker gelten, dem die universell vermittelnde Leistung der Technik so klar gewesen ist wie vor ihm vermutlich nur Leibniz oder Kant. Um dies zu entdecken, braucht man nur den Begriffen nachzugehen, die auf technische Prozesse bezogen sind: Neben dem »Werk« und dem »Werkzeug«, die für die Kunst unverzichtbar sind, stehen »Arbeit«, »Arbeitsteilung« und »Maschine«, die für die Konstitution der Gesellschaft maßgeblich sind. Schließlich hat man den Komplex von »Mittel« und »Zweck«, die nicht nur für den Aufbau des Organischen, sondern auch für die Logik des Geistes entscheidend sind.36 Doch wie dem auch sei: Das unverkennbare technisch angelegte Ineinander von Natur und Geist nötigt Hegel keineswegs, vom Anspruch auf den überlegenen Rang der Erkenntnis abzugehen. Das will ich abschließend deutlich machen, um damit zu verstehen zu geben, wie es, trotz des dialektischen Zusammenwirkens von Natur und Geist, zum philosophischen Vorrang des Geistes kommt: Hegels Distanz zu Kant hat ihren Grund in seinen Bedenken gegen die Kopernikanische Wende der Vernunftkritik. Er befürchtet eine Depotenzierung der Erkenntnis und letztlich die Gefahr des Verzichts auf Wahrheitsansprüche überhaupt. Es ist klar, daß man Kant nicht so verstehen muß; aber offenkundig ist heute längst, daß man Kant so verstehen kann. Die Entwicklung seit Schopenhauer und Nietzsche hat Hegels Befürchtung in vollem Umfang bestätigt. Die »Subjektivierung« des Wissens, seine Reduktion auf

34

Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, a. a. O., 11. Die ambivalente Einschätzung des Naturschönen, die Hegel letztlich in einen Widerspruch zu seiner eigenen Theorie des Kunstschönen geraten läßt, hat Birgit Recki herausgearbeitet: »Das Problem des Naturschönen in Hegels Ästhetik«, a. a. O., 183 ff. 36 Dazu erneut: Hubig: Macht und Dynamik der Technik, 334; ferner: Walter Ch. Zimmerli: »Technik und Zivilisation der Moderne bei Hegel. Hegels verborgener technikphilosophischer Pragmatismus«, in: Bubner/Mesch (Hg.), a. a. O., 343–360; Oswald Schwemmer: »Mittel und Werkzeug. Cassirers Philosophie der Technik und Hegels Reflexion auf die Teleologie im Vergleich«, in: Bubner/Mesch (Hg.), a. a. O., 362–382. 35

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bloßes »Meinen« und seine Verkürzung auf »Orientierung« ist in vollem Gang. Nach Kants eigener Terminologie erkennen wir nicht mehr die Dinge, wie sie an sich selbst sind, sondern nur so, wie sie uns – gemäß der Organisation unserer Sinne und unseres Verstandes – erscheinen. Zumindest diese Terminologie hat eine Relativierung der Erkenntnis zur Folge gehabt, die heute so weit geht, daß Wahrheit bereits als »Fluch« wahrgenommen werden kann.37 Hegel hat die weltanschaulichen Folgen der kritischen Philosophie Kants hellsichtig erkannt und alle seine Anstrengung darauf gerichtet, sie begrifflich abzuwehren. Dazu hat er die Grundkonzeption der transzendentalen Logik aufgenommen, aber sie in ihrer Geltung nicht auf den Menschen eingeschränkt. Zwar ist auch er, wie das Beispiel der Vertreibung aus dem Paradies sichtbar macht, von der Erkenntnis ausgegangen, die Menschen haben können. Aber Hegel läßt von der Unterstellung ab, daß andere Lebewesen eine wie auch immer beschaffene Erkenntnis haben können, die von der Erkenntnis des Menschen verschieden wäre. Somit braucht er nicht, wie es seit Nietzsche üblich geworden ist, jeder Spezies ihre eigene Wahrheit zuzugestehen. Man braucht nicht zu bestreiten, daß andere Lebewesen einen ihnen gemäßen Zugang zu ihren Lebensbedingungen haben; man kann ihnen zugestehen, daß sie ein (wie immer auch geartetes) Bewußtsein davon haben, was ihnen zukommt oder widerspricht. Zweifellos leben sie auch in derselben Realität wie wir. Doch deshalb müssen sie noch keine Erkenntnis haben. Denn zu ihr gehört, nach Hegel wie nach Kant, ein Selbstbewußtsein. 16. Natur und Geist. Für Hegel gibt es nur eine Erkenntnis, nämlich die, die wir haben. In ihr stellt sich uns alles dar, was immer wir als Sache oder Sachverhalt ansprechen können. Also ist, wie er sagt, das Denken die »Wahrheit des Gegenständlichen«. Das Denken fördert zu Tage, was die Dinge sind. Dabei den Unterschied zwischen Dingen für uns oder Dingen an sich zu machen, gibt für ihn gar keinen Sinn. Denn was immer wir denken, denken wir in der Form von Begriffen. Sie kommen mit den Dingen überein. Und die Gesamtheit der Dinge, die wir unter den Titel der Wirklichkeit stellen, entspricht ebenfalls einer Idee der Vernunft. Deshalb kommen Vernunft und Wirklichkeit zur Deckung. Wenn wir darüber hinaus noch die Wahrheit dieser Entsprechung zu denken versuchen, denken wir einen Gedanken, der durch das Denken nicht mehr überboten werden kann. Wir denken das Höchste und Umfassend37

So Hubert Markl: »Der Fluch der Wahrheitsanmaßung«, in: Merkur, 693, 61. Jg., Stuttgart, Februar 2007.

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ste, wobei es auch hier keinen Sinn ergibt, noch einen Unterschied zwischen dem Denken der Menschen und dem (auch immer nur gedachten) Denken eines göttlichen Wesens zu machen. Also kann man auch gleich sagen, daß der Versuch, das Ganze der Wirklichkeit in der uns möglichen Konsequenz zu denken, mit dem Denken des Höchsten zusammenfällt. So gelangt Hegel zur Auszeichnung des Denkens als des Grundes des Wirklichen, denn anders als durch das Denken kann uns Wirkliches nicht vor Augen stehen. Daraus macht er nicht nur die These vom Geist als der »Ursache der Welt«.38 Für ihn folgt daraus auch die spekulative Einsicht, daß Gott die Wahrheit des Ganzen ist.39 Das ist für ihn nur eine Konsequenz des umfassenden Charakters der Wahrheit, sofern in ihr das Ganze der Wirklichkeit zum Ausdruck kommen soll. Das erscheint uns heute ganz phantastisch. Es ist aber nur eine Schlußfolgerung aus der Tatsache, daß sich die Welt in ihrer sachhaltigen Form allein im Denken erschließt. Was immer wir als etwas ansprechen, ist gedacht. Und auf dieses Denken setzen wir mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß wir auch weniger anspruchsvolle Versionen der Logik betreiben können und dabei unterstellen, daß die korrekt ermittelten Aussagen und Schlüsse etwas mit der Realität unseres Daseins zu tun haben. Wenn das so ist, wenn sogar die phantastischen Konstruktionen der Mathematik, die reine Ausgeburten unseres Denkens sind, dazu taugen, die Statik eines Gebäudes, die Flugbahn einer Rakete oder die Informationsverarbeitung eines Computers zu berechnen, erscheint die Annahme Hegels nicht ganz so absurd, wie sie nach der Überzeugung seiner Gegner sein soll. Das Denken, und nur das Denken, erschließt uns die Wirklichkeit, auf die wir uns in unserem Tun verlassen. Insofern ist das Denken »absolut«. Gesetzt, diese in aller Kürze vorgetragene Rekonstruktion der epistemischen Grundposition Hegels besteht zu Recht, erkennen wir nicht nur, daß der Gegensatz zu Kant eigentlich nur noch in der Begrifflichkeit besteht. In der Auszeichnung des Wissens, sofern es Wissenschaft werden kann, stellt auch Kant den Realitätsbezug nicht in Frage. Und nehmen wir den ganzen Kant, wie er sich in den drei Kritiken – mitsamt seiner Geschichts-, Rechtsund Religionsphilosophie – präsentiert, haben wir auch bei ihm die jeweils am Leitfaden einer Technik gedachten wechselseitigen Übergänge von der Natur zur Vernunft und von der Vernunft zur Natur. Viel wichtiger als die Überwindung einer eigentlich nur aus der Zeitgeschichte heraus zu verstehenden Opposition zwischen Hegel und Kant aber 38 39

Enz § 8 (TWA 8, 52). Enz § 19 Zus. I (TWA 8, 68).

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ist der systematische Ertrag, der freilich erst in einer gründlichen Deutung zu erbringen wäre: Er besagt, daß die Priorisierung des Geistes der Ausgangslage der Erkenntnis entspricht. Es ist stets der Geist, der etwas als etwas erkennt. Und es bleibt der Geist, der sich im anderen seiner selbst, also in Natur und Technik, begegnet. Wird aber die unumgängliche, die Philosophie seit ältesten Zeiten begleitende und heute mit präziseren einzelwissenschaftlichen Mitteln zu verfolgende Frage gestellt, woher der Geist kommt und was er mit seinen historischen Leistungen im Kontext von Natur und Geschichte bedeutet, nehmen wir ihm nichts von seiner epistemischen Kraft, wenn wir ihn als Element und Instrument in einem Lebensprozeß beschreiben, der mechanischen und organischen Regeln folgt. Dann ist er Teil der Natur, in der er sich freilich nur auf Grund seiner intelligiblen Leistungen behaupten kann. Man löst den Geist somit nicht auf, wenn man ihn in seiner Stellung in der Natur erklärt; vielmehr ist seine Intelligibilität allererst die Voraussetzung, um ihm überhaupt eine Funktion im Naturgeschehen zuschreiben zu können. Diese Intelligibilität ist es zugleich, in der wir den Grund einer jeden Erkenntnis sehen. In dieser Lage, die, je nach Erkenntnisinteresse, entweder vom Geist oder von der Natur ausgehen muß, ist es sinnlos, überhaupt von einer Alternative zwischen Idealismus und Materialismus zu sprechen. Eine evolutionäre Erklärung kann gar nicht anders als »naturalistisch« sein, solange sie sich an den erkennbaren Sachverhalten orientiert. Andererseits kann eine logische, philosophische oder metaphysische Begründung gar nicht anders als »intellektualistisch« sein, weil sie nach Gründen fragt, in denen der Geist seine Entsprechung findet. Ursachen in der Natur führen uns immer nur auf Ursachen in der Natur. In Gründen hingegen begegnet der Geist sich selbst. Das aber ist eine technische Unterscheidung, die uns in keinen prinzipiellen Gegensatz entläßt und folglich auch nicht in einem metaphysischen Dualismus enden muß.

Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie Ein Rückblick auf Hegels »Phänomenologie des Geistes« Hans-Peter Krüger 1. Das Auseinanderfallen der Hegelschen Geistesphilosophie in den Gegensatz von Historismus und Anthropologie 200 Jahre nach dem Erscheinen von Hegels Phänomenologie des Geistes ist Anlaß genug, sich dem enormen Anspruch dieses Autors erneut zu stellen. Er hat nicht die letzte große philosophische Integration vorgelegt, denkt man etwa an John Dewey in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl aber die letzte große geistesphilosophische Synthese. In der »Vorrede« und am Ende dieser Phänomenologie, im Abschnitt über das »absolute Wissen«, geht sie als die Einleitung in das Programm seines Systems über. Die einheitliche Geiststruktur entäußere sich in Anderes, d. h. in sinnliche Wahrnehmung, Natur als Raum und Geschichte als Zeit, und reflektiere sich darin.1 Bleibe man nicht analytisch bei den Gegensätzen der Reflexion stehen, sondern entfalte man sie reflexiv zu Widersprüchen im Hinblick auf das Ganze, werde die systematische Explikation dieses Ganzen spekulativ möglich.2 Diese Explikation erfolgt dann durch eine Selbstorganisation in der Relationierung von Begriffen, die laut der spekulativen Interpretation im Verständnis des Ganzen von Sätzen in Anspruch genommen werden. Damit würden in der Wissenschaft der Logik Prinzipien formulierbar, deren Durchführung sich im Reichtum der Realphilosophien von Natur und Geist zu bewähren hat, insbesondere auch darin, die Geschichten vom Zufälligen zugunsten des begrifflich Allgemeinen im Fortgang der Weltgeschichte zu befreien. So sehr Hegels Programm bereits die soziokulturellen Voraussetzungen und kulturgeschichtlichen Hintergründe im Ganzen für positives Wissen freilegt, so sehr bleibt es doch am kognitiven Primat der Selbstreferentialität von Wissen im Ganzen orientiert. Seine Phänomenologie reicht dem allgemein gebildeten Bewußtsein seiner Zeit die Leiter, damit es auf dem Wege der Selbsterfahrung die spekulative Systematisierung der letzten Ermöglichungsweisen von Wissen ersteigen kann. Am Ende der Phänomenologie räumt Hegel zwar ein, daß eine historisch »neue Welt und Geistesgestalt« ebenso unbefangen von vorne bei 1 2

Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952 ff., 558. Ebd., 51.

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ihrer Unmittelbarkeit des Lebens anzufangen habe: Aber er erwarte doch – durch »Er-Innerung« und »begriffne Organisation« in der »begriffenen Geschichte« – einen Neuanfang auf einer »höhern Stufe«, so daß die Teilhabe an der Unendlichkeit absoluten Wissens fortgesetzt werden könne, statt als die »Schädelstätte des absoluten Geistes« dem Vergessen anheim gestellt zu werden.3 Diese geistesgeschichtliche Synthese zerbricht in der Generationenfolge nicht nur an der Wirkungsgeschichte des Darwinismus, welche die Problemlage der biologischen und medizinischen Wissenschaften emanzipiert und das allgemeine öffentliche Bewußtsein in den westlichen Ländern verändert hat. Hinzu traten die Autonomisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften oder später Humanwissenschaften und die Krise der Physik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich deutlich in allen Hauptländern des Westens der Kampf der Expertenkulturen um die kulturelle Hegemonie im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein von Nationalstaaten durch, was, hegelianisch gesprochen, die Formen des »objektiven Geistes« verändert hat. Wolf Lepenies hat vom Kampf der drei Kulturen gesprochen, unter Einbeziehung der literarisch-künstlerischen Intelligenz neben der natur- und sozialwissenschaftlichen Intelligenz, um die intellektuelle Vorherrschaft in den westlichen Nationalstaaten, so England, Frankreich und Deutschland.4 Vergißt man nicht die – oft im Stillen arbeitenden – Technikerbauer, die bürokratisch normalisierenden Sozial- und Kulturingenieure und die öffentlichen Medienmacher, kommt man leicht auf fünf bis sieben Subkulturen, die um die Vorherrschaft in der Auslegung des sozialen Seins kämpfen. Die Nationalstaaten kamen zu früh (Spanien, die Niederlande), zu spät (Deutschland, Italien, Polen) oder zur rechten Zeit mit ausreichend kritischer Masse (England, Frankreich), was Imperiengründungen anging, die in Kriegen der Kolonialisierung, des Handels und um die Weltherrschaft ausgefochten wurden. Seit den 1920er Jahren dämmerte, was nach 1945 offenbar war, daß nämlich das Jahrhundert weltgeschichtlich den USA gehören würde. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges konnte kurzzeitig der Eindruck entstehen, als ob man Hegels geistesphilosophische Synthese modifiziert als das »Ende des Menschen« (F. Fukuyama) im Sinne der Vorherrschaft des Westens interpretieren könnte. Der Sieg der Marktwirtschaft, des Rechtsstaates und einer – im Sinne des Christentums und seiner Säkularisierung – 3

Hegel: Phänomenologie des Geistes, a. a. O. 564. Siehe Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/Wien 1985. 4

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sozial ausgleichenden Demokratie waren zumindest im Westen alternativlos geworden. Inzwischen sieht, in der Vielzahl neuer Kriege und Auseinandersetzungen, die Weltgeschichte wieder offener als in einer einfachen Expansion der westlichen Moderne aus. Sie ist auch und gerade in den öffentlichen Medien rückverwiesen an mentale Ressourcen, die Hegel die religiösen, künstlerisch-ästhetischen und philosophisch-wissenschaftlichen Formen des absoluten Geistes genannt hatte. Was im Ganzen an Unbestimmtheit und Unbedingtheit mentaler Hintergrund einer Schädelstätte geworden war, die aus inneren und äußeren Befriedungsgründen besser vergessen blieb, während man Tatsachen schuf, rückt nun doch in den Vordergrund des Streites, da offenbar die christlich säkularisierte Vollendung solcher Tatsachen von Anderen anders wahrgenommen, anders beurteilt und anders bewertet wird. Unter den Splittern einer historisch gescheiterten geistesphilosophischen Synthese waren zwischen den beiden Weltkriegen vor allem zwei Fragmente wirkungsmächtig hervorgetreten, weil sie vieles in einem exklusiven Gegensatz versammeln konnten: entweder Historismus oder Anthropologie. Diese beiden bilden in wandelbarer Terminologie einen verfestigten Gegensatz, der im medialen Bewußtsein nur wenig Rücksicht nimmt auf akademische Feinunzen. Die Entdeckung des Historismus bestand in der geistigen Individualität einer anderen als der eigenen kulturgeschichtlichen Epoche. Die andere Epoche sollte in der ihr eigenen ursprünglichen und unmittelbaren Beziehung zu ihrem Absoluten (L. v. Ranke) verstanden werden. Die tendenzielle Geschlossenheit der Epochen in sich machte sie individuell, sowohl unteilbar in sich als auch in ihrer unverwechselbaren Pointe unvergleichlich mit anderen Epochen. Historismus meint so häufig, gerade den anthropologischen Vergleich verschiedener Kulturen oder Epochen miteinander als zu oberflächlich unterlaufen zu können. Was Hegel den »Weltgeist« geheißen hatte, der in aller historischen Zufälligkeit doch sich – einer ontologischen Logik folgend – durch konkrete Allgemeinheiten hindurch entwickelte, war auf Epochen- oder gar Volksgeister zusammengeschrumpft, die sich in sich organisch differenzieren sollten und zwischen denen sich aber Zufälligkeiten ausbreiten konnten. Während der Historismus primär von oben, d. h. geistig, und von innen her, d. h. im hermeneutischen Selbstverständnis einer Epoche respektive Kultur, ansetzt, rollt die Anthropologie von unten und von außen her ihren Vergleich auf, d. h. von dem Problem der Spezifikation des Menschen im Verhalten der Lebewesen her. In der alten Werteterminologie formuliert liegt also der Gegensatz zwischen von oben und innen gegen von unten und außen. Zudem fiel dieser Gegensatz mit einem weiteren zusammen. Während die Anthropologie die spezifische Bestimmung des Menschen wie alle Erfahrungswissenschaft in Gesetzen positiviere, d. h. methodisch

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und theoretisch reproduzierbar fixiere, weise der Historismus gerade die historische Variabilität und das nicht Reproduzierbare des Menschen nach. So kommt im Historismus die historische Variabilität des Menschen als eines anderen in Stellung gegen die ahistorischen Konstanten des Menschen als desselben in der Anthropologie. Was Hegel »Geist« nannte, nämlich im Anderen bei sich selbst bleiben zu können, und für den sog. subjektiven, objektiven und absoluten Geist verschieden durchführte, ist in den Gegensatz von Historismus oder Anthropologie auseinander gefallen. Friedrich Meinecke bekannte sich in Die Entstehung des Historismus (1936) klar für die Geisteswissenschaften zu der historistischen »Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung.«5 Es ist m. E. richtig, die historistische Gegentendenz zur Erfahrungswissenschaft wie Meinecke als ein weltanschauliches Moment der europäisch westlichen Kultur aufzufassen, denkt man sie im weiten Sinne über die spezifischen Methodenprobleme in den Geschichtswissenschaften hinausgehend. Sie bricht nicht erst seit Vico, Herder und Wilhelm von Humboldt immer wieder phasenweise durch, wie Stephen Toulmin es in seinem Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne (1991) bis ins 20. Jahrhundert gezeigt hat. Man kann ihre Motive in der Gegenwartsphilosophie als erneut wirksam sehen, wenngleich auf je verschiedene Weise, so in Emmanuel Levinas’ existenzhermeneutischer Phänomenologie der Unendlichkeit im Angesichte des Anderen, in Paul Ricoeurs hermeneutischer Phänomenologie des Konfliktes zwischen narrativen Interpretationen oder in Charles Taylors hermeneutischen Epochen-Ontologien der Quellen des Selbst. Aber diese Autoren ringen bereits kritisch mit Heidegger gegen Foucaults machtförmige Diskurspraktiken und deren Brüche. Wie hat der Gegenentwurf zu Heideggers existenzial- und seins-hermeneutischer Wende der Husserlschen Phänomenologie in Plessners Philosophischer Anthropologie ausgesehen?

2. Plessners Projekt einer »Philosophischen Anthropologie« im Unterschied zu »anthropologischen Philosophien« Philosophische Anthropologie zielt auf die Wesenserkenntnis des Menschen im Ganzen seiner physischen, psychischen und mentalen Lebensdimensionen. Aber die erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien können nur 5

F. Meinecke: »Die Entstehung des Historismus« (1936), in: Werke Bd. III, hrsg. v. H. Herzfeld, C. Hinrichs, W. Hofer, München 1965, 2.

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je nach ihren Methoden und Theorien bestimmte Aspekte des Menschen klar machen. Sie differenzieren in Bio- und medizinische Anthropologie, in Sozial- und Kulturanthropologie, in geschichtliche Anthropologie aus. Wie ist jedoch der Zusammenhang zwischen dem Natur-, Sozial- und Kulturwesen Mensch in seiner geschichtlichen Veränderung? Im Hinblick auf diese Frage ist es sicher sinnvoll, in einem ersten Schritt Vorschläge zu unterbreiten, wie transdisziplinär integrativ und generalisierbar der Zusammenhang zwischen den erfahrungswissenschaftlich bestimmten Aspekten begriffen werden kann. Was ist in ihnen gesichert, was fehlt derzeit oder prinzipiell zwischen ihnen, und wie können sie gegenstandsbezogen, methodisch und theoretisch überbrückt werden? Diese Art von Untersuchung kann man eine interdisziplinär generalisierende und in diesem Sinne philosophische Anthropologie, »philosophisch« kleingeschrieben, nennen, die es auch in Plessners Werk gibt. Dann ist eine Subdisziplin der Philosophie für deren Orientierungsfunktion gegenüber den Erfahrungswissenschaften gemeint. Aber diese Subdisziplin hat merkwürdige Rückwirkungen auf die theoretische und praktische Philosophie, von denen diese Subdisziplin nur eine Anwendung sein sollte. Es ist nicht nur so, daß der generalisierbare Zusammenhang zwischen den erfahrungswissenschaftlichen Teilanthropologien dem dualistischen Mainstream der tradierten Philosophien widerspricht. In der – vermeintlich bloßen – Anwendung der theoretischen und praktischen Philosophie auf die erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien werden auch die Voraussetzungen der tradierten Philosophien immer fraglicher. Die erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien nehmen andere Voraussetzungen für sich in Anspruch, als sie die tradierten Philosophien erwarten lassen. Plessner nennt daher in einem zweiten Schritt diese Rückfragen an die Philosophie der Anthropologien seine »Philosophische Anthropologie«, »Philosophisch« dann später groß geschrieben, als selber einer »Neuschöpfung der Philosophie«,6 wie es in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) heißt. Wie ist es zu verstehen, daß die traditionell dualistischen Philosophien selbst angesichts des philosophischen Zusammenhanges der Resultate und Voraussetzungen erfahrungswissenschaftlicher Anthropologien fraglich werden, also einer Neuschöpfung der Philosophie bedürfen? Es ist nicht im Sinne eines Szientismus gedacht, den Plessner lebenslang kritisiert hat, da er als auch Zoologe wußte, wie Erfahrungswissenschaft funktioniert im Unterschied zu den Legitimationsfiguren, um die sich Philosophen – über die 6

H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 1975, 30.

Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie 161

Erfahrungswissenschaft redend – streiten. Plessner nannte, noch über den Szientismus hinausgehend, alle Philosophien, die sich eine anthropologische Wesensdefinition des Menschen zutrauen, »anthropologische Philosophien«. So habe selbst Ernst Cassirer gemeint, den Menschen als das »animal symbolicum« definieren zu können, woraus sich der geschichtlich lebende Mensch als eine funktional bestimmte Kombination der symbolischen Formen ergeben soll.7 Der erste Schritt, einen generalisierbaren Zusammenhang zwischen den erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien herzustellen, mündet oft in eine »anthropologische Philosophie«. Es fehlt dann aber immer noch der zweite Schritt in der »Überwindung des Anthropozentrismus«, die kopernikanische Revolutionierung der ersten kopernikanischen Revolution der Denkungsart. Und Plessner meint mit »Philosophischer Anthropologie« eine solche kopernikanische Revolution in zweiter Potenz.8 Wie ist sie zu verstehen? In gewisser Weise uralt, sokratisch-kantisch, nämlich als die Ermittlung der Grenzen von Geltungsansprüchen im Wissen und Glauben der personalen Lebensführung. Wenn sich unter modernen Bedingungen in der Lebensführung etwas ändert bezüglich des Verhältnisses von Glauben und Wissen, dann durch die Voraussetzungen und Resultate erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnispraktiken. Und wenn von diesen Erkenntnispraktiken noch etwas für die Lebensführung relevant ist, dann sind es deren Anthropologien für das personale Selbstverständnis. Es ist für die Individuen in ihrer Lebensführung nicht beliebig, in welche gesellschaftliche Reproduktion von anthropologischen Voraussetzungen und Resultaten sie geraten, etwa nach welchen Kriterien sie behandelt werden und was sie selber daraus machen können. Plessner gehört zu den ersten, die das entdecken, was später Foucault den anthropologischen Zirkel der Moderne nannte, aus dem auch die humanwissenschaftlichen Praktiken nicht heraus, sondern in den sie immer weiter hineinführen. Es kommt zu einem sich selber tragenden Wettlauf zwischen apriorischen Ermöglichungen und aposteriorischen Realisierungen des Menschseins, von einer transzendental-empirischen Dublette zur nächsten in der Generationenfolge. Was innerhalb einer jeden, hoch spezialisierten 7

Vgl. H. Plessner: »Immer noch Philosophische Anthropologie?« (1963), in: ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/M. 1983, 242 f. 8 Vgl. ebd. 242, 246. Sandkaulen betont problembewußt den ersten Schritt, d. h. Plessners anthropologische Kritik an den dualistisch radikalen Philosophien, ohne den zweiten Schritt, d. h. Plessners philosophische Kritik an sowohl naturalistischen als auch historistischen Anthropologien zu berücksichtigen. B. Sandkaulen: »Helmuth Plessner. Über die ›Logik der Öffentlichkeit‹«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, H. 2 (1994), 270 f.

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Diskurspraktik empirisch klar gemacht werden kann, wird zwischen ihnen quasi transzendental transferiert. Auch die Politik wird, obgleich sie grundsätzlich anders gestaltbar wäre, so Plessner in Macht und menschliche Natur (1931), auf den Legitimationsmodus der Teilhabe am Menschsein umgestellt. Diese Teilhabe wird – je nach historischen Bedingungen – hier und jetzt realpolitisch oder durch die Intensivierung der Freund-Feind-Verhältnisse eingeschränkt und zugleich für in der Zukunft universell realisierbar versprochen.9 Denkt man an die Legitimation jüngster Kriegsführungen oder der Folgen lebenswissenschaftlicher Praktiken, wird man schwerlich die Aktualität des anthropologischen Themas leugnen können. Die Verwirklichung des Humanitätsideals hängt – in ihrer endlosen Zwischenzeit – von der praktischen Handhabe anthropologischer Kriterien ab, nach denen hier und jetzt entschieden wird, was und wer Menschenantlitz trägt. Da das anthropologische Thema in der westlichen Moderne für die alte philosophische Frage nach den Grenzproblemen in der personalen Lebensführung relevant ist, markiert Plessner in der Bezeichnung »Philosophische Anthropologie« im Unterschied zu »anthropologischen Philosophien« die inhaltliche Fokussierung seiner Philosophie gegen das rein prozedurale Leerlaufen in Formen als dem letzten Refugium modernen Philosophierens. Aber wie soll dieses Thema anthropologischer Inhalte doch philosophisch angegangen werden? Was heißt hier theoretisch und methodisch das Philosophische an dieser Anthropologie im Unterschied zu den erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien? Die moderne Naturwissenschaft richtet laut Plessner Fragen an die Natur, und zwar derart methodisch eingerichtet, daß Verhaltensaspekte der Natur als eine Antwort genommen werden können, die theoretisch zu beurteilen ist. Natur wird gleichsam, Kantisch gesprochen, für bestimmte reproduzierbare Situationsarten in den Zeugenstand gerufen, wobei die Scientific Community einen fairen Prozeß der Beweisaufnahme zur Beurteilung verschiedener Hypothesen garantieren muß. Es wird also nicht direkt und aufs Geratewohl von Zufall zu Zufall zugefragt, sondern ein gegenstandsbezogen indirektes und in der Form sozial vermitteltes, nämlich öffentliches Verfahren durchgeführt. Im Falle der Naturwissenschaft wird die Frage so eingerichtet, daß sie nicht nur vom Prinzip her beantwortbar ist, sondern tatsächlich beantwortet werden kann. Als tatsächliche Antwort am Ende zählt, was auf logische Alternativen zugespitzt mit Ja oder Nein beantwortet, dazu 9

H. Plessner: »Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht « (1931), in: ders.: Gesammelte Schriften V, Frankfurt/M. 1981, 189 f., 193 f.

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passend experimentell als Artefakt gemacht und operational in quantifizierbaren Relationen berechnet werden kann. Diese tatsächlichen Beantwortungen dementsprechend eingegrenzter Fragen sind unter bestimmten Bedingungen reproduzierbar, also an deren Einrichtung gebunden soziokulturell transferierbar. Darin bestehe der moderne Zweck der naturwissenschaftlichen Erkenntnispraktik. Aber ein Blick von Kants dritter Kritik zu den biomedizinischen, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zeige, daß erfahrungswissenschaftliche Erkenntnispraktiken auch anders sinnvoll eingerichtet werden können. Erfahrungswissenschaftliche Fragen müssen nicht exklusiv zur Garantie ihrer tatsächlichen Beantwortung geschlossen werden.10 Auch in der Naturwissenschaft gibt es offene, d. h. nicht im Sinne der tatsächlichen Beantwortung entscheidbare Fragen, nämlich solche der Erklärbarkeit und Verstehbarkeit, etwa im Ringen mit der Grundlagenkrise der Physik. Wenngleich erfahrungswissenschaftliche Erkenntnispraktiken nicht auf die Garantie der tatsächlichen Beantwortung ihrer Fragen hin geschlossen werden können, weil ihnen das ihre eigene Forschungszukunft nähme, bleiben sie doch an das Prinzip der Beantwortbarkeit ihrer Fragen gebunden. Sie brauchen dann als Wissenschaft noch immer ein methodisch-theoretisch indirektes Frageverfahren, sollen sie nicht einfach in Genres der Literatur und Kunst, der Darstellung von Alltagsexpression oder in die Selbstbestätigung gemeinschaftlicher Weltanschauungen aufgelöst werden. Vor einem in dieser Hinsicht vergleichbaren Problem stehen alle Lebenswissenschaften, sowohl die bio-medizinischen als auch die soziokulturellen, insofern nämlich ihr Gegenstand lebt, d. h. irgendwie schon sich auf sich bezieht. Soll Lebendigkeit erfahrungswissenschaftlich thematisiert werden, ist die Zirkelgefahr besonders groß, läßt sich doch hier nicht leicht der distanzierende Abstand im Sinne von Experiment und berechenbarer Beobachtbarkeit einrichten. Auch die Untersucher leben, und ihre Spezifikation als Untersucher gilt es, methodisch und theoretisch unterscheidbar zu halten von dem, was ihren Gegenständen laut Aussagen zukommen soll. Man muß mindestens vier Aspekte im Untersuchungsverfahren differenzierbar sichern, um methodenabhängige Ergebnisse theoretisch beurteilen zu können. a) Es ist methodisch ein Zugang zur Lebendigkeit der Phänomene nötig, so daß diese sich von selber zeigen können, also spezifizierbar Spielraum und Spielzeit gewährt bekommen. b) Was sie von sich aus zeigen, muß methodisch kontrollierbar als dieses und nicht als jenes genommen, d. h. verstanden werden. c) Es ist methodisch kontrollierbar nach dem Zusammenhang zwi10

Siehe ebd., 180–182.

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schen der Gebungsweise der Phänomene, sich zu zeigen (a), und ihrer Nehmungsweise, sie so und nicht anders zu verstehen (b), zu fragen. Inwiefern ist dieser Zusammenhang fixiert (z. B. angeboren) oder anderer Interpretation offen, z. B. symbolisch übertragbar? Für die Beantwortung dieser Frage ist es nötig, die Grenzen der Korrelierbarkeit zwischen Gebung und Nehmung der Phänomene zu eruieren. Solche Grenzen treten an für die Korrelierbarkeit kritischen Grenzphänomenen hervor, die Gegeninterpretationen verlangen. d) Eine erfahrungswissenschaftliche Theorie ordnet begrifflich den Phänomenbereich und seine Interpretationsmöglichkeiten nach Erklärungs- und Verstehensrelationen durch. Insofern unter bestimmten Bedingungen Korrelationen reproduzierbar sind, kann erklärt, anderenfalls verstanden werden. Über Modelle werden die Hypothesen so durch die Methoden a) bis c) getestet, daß praktisch Korrekturschleifen im Untersuchungsprozeß entstehen. Selbst wenn man dieses Minimum in lebenswissenschaftlichen Erkenntnispraktiken einrichten könnte, wäre die Aufgabe der Theorie und Methoden in der Philosophie anders anzusetzen. Philosophie kommt weder um die Wesensfrage noch um die Ganzheitsfrage herum, weil sich die personale Lebensführung zwischen Wissen und Glauben nicht von diesen Grenzfragen befreien läßt, auch und gerade in der Moderne nicht. Wie soll dann aber in der Philosophischen Anthropologie als philosophischer Forschung verfahren werden? – Bei Plessner gewiß nicht weniger indirekt und vermittelt als schon in den Erfahrungswissenschaften.11 Das trennt ihn unversöhnlich von allen intuitionistischen Lebensphilosophien irgendwelcher Unmittelbarkeitsbeschwörung (Bergson, Klages). Die Philosophische Anthropologie geht einen anspruchsvollen Umweg, um zum Ziel gelangen zu können. Sie untersucht diejenigen Präsuppositionen, welche aus dem Commonsense stammen, aus den vorwissenschaftlichen Weltauffassungen, und von den erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien verwendet werden. Diese Voraussetzungen sind vage, oft metaphorisch oder reflexiv, aber immerhin historisch in Lebenspraktiken akkumuliert und von in Grenzen gemeinsamer oder übertragbarer Bedeutung. Die Erfahrungswissenschaft beginnt und endet nicht bei Null im radikalen Zweifel an allem, sondern in den Präsuppositionen des Commonsense und in deren Veränderung, nicht Abschaffung. Anders wäre sie selbst in der Generationenfolge nicht mental reproduzierbar, soziokulturell vermittelbar und rekrutierbar. Selbst ihre revolutionärsten Auswirkungen auf den Commonsense, etwa der Darwinismus, führen nicht zu einer vollständigen Ersetzung von Verstand und Vernunft in der Lebensführung 11

Vgl. H. Plessner: Die Stufen …, a. a. O., 78–79.

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aller. Dazu gehören auch die Experten, die in der Frage, was in ihrer Lebensführung im Ganzen wesentlich wird, Laien bleiben. Beispiele für Präsuppositionen aus dem Commonsense, die in den erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien verwendet werden, sind solche Unterscheidungen wie lebendig-nicht lebendig, bewußt-nicht bewußt, selbstbewußt-nicht selbstbewußt, geistig-nicht geistig, natürlich-künstlich, sozial-nicht sozial, kulturell-nicht kulturell, normal-abweichend, mächtigohnmächtig, eigen-anders bzw. fremd, etc. Gewiß schränken die Erfahrungswissenschaften die Commonsense-Präsuppositionen radikal auf diejenigen Bedeutungen und denjenigen Sinn ein, in denen sie erklären und in dem sie verstehen können. Dies bleibt ihnen unbenommen und in ihrer Diskussion. Aber Philosophen können sich für die Differenz zwischen den genannten Präsuppositionen und deren erfahrungswissenschaftlicher Einschränkung interessieren. Diese Differenz erscheint der erfahrungswissenschaftlichen Bestimmung oft als ein luxurierender Überschuß, den man auch mit einem berühmten Rasiermesser wegschneiden könne. Aber ist diese Differenz auch in der personalen Lebenspraxis ersetzbar? – Dies ist eine andere Frage als die, ob auf die Vagheiten und Vorurteile der gesunden Menschenvernunft in der Erfahrungswissenschaft verzichtet werden könne: Sicher kann man das. Und dies ist auch eine andere Frage als die Antwort, die viele andere Philosophien seit Husserl und Wittgenstein zu geben versucht haben: durch die Verteidigung der Lebenswelt oder der Lebensformen. Weder sie, die transzendentale Lebenswelt, noch die Sprachspiele geschichtlich habitualisierter und damit veränderbarer Lebensformen retten den gesunden Menschenverstand als die letzte Urteilsinstanz in der Philosophie. Warum sollte diese Rettung des vermeintlichen Ursprunges besser sein als eine künftige Veränderung des Lebens? Warum wäre es letztlich schlechter, Lebenswelt oder Lebensformen zu verändern? Auf der einen Seite scheitern die avantgardistischen Experimente, die personale Lebenspraxis durch expertenkulturelle Leistungen revolutionär zu ersetzen. So lautete Plessners unfreundliche Botschaft an alle avantgardistischen Revolutionäre, die endlich die Wurzel allen Übels ziehen wollen. Dagegen arbeitet er die individuellen und gesellschaftlichen Grenzen sowohl familiarer als auch rationaler Gemeinschaftsformen heraus, so in den Grenzen der Gemeinschaft (1924). Andererseits macht auch die Konservierung der Lebenswelt oder Lebensformen nicht urteilsfähig. Sie ist nur ein historisches Vor-Urteil über die gemeinschaftliche Unschuld des Ur-Sprunges von Rousseau bis Heidegger. Erst durch die Untersuchung der Differenz zwischen den lebenspraktisch nötigen Präsuppositionen und ihrer erfahrungswissenschaftlichen Verände-

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rung kommen wir doch noch ins Philosophieren. Es geht in Plessners Terminologie um die Differenz zwischen Körperhaben und Leibsein für Personen in ihrer Lebensführung, nicht in der Erkenntnis der Erkenntnis oder in dem Wissen des Wissens. In welcher Hinsicht sind Personen durch ihre Verkörperung mindestens vertretbar, womöglich austauschbar oder sogar ersetzbar und in welcher Hinsicht sind sie dies nicht, d. h. sind sie leibhaftig, oder man könnte mit Austin auch sagen: performativ. Die Philosophische Anthropologie steht mithin vor der Aufgabe, die Differenz zwischen den CommonsensePräsuppositionen und deren Veränderung in den Erkenntnispraktiken der erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien zu untersuchen. Diese Differenz ist ihr, nun philosophisch präzisiertes, nicht mehr anthropologisch vorgegebenes Thema. Welche Dimensionen dieser Präsuppositionen sind als historische Vorurteile zu verabschieden? Und welche Dimensionen dieser Präsuppositionen sind als künftige Ermöglichung personaler Lebenspraxis unverzichtbar? Letztere werden als »Kategorien« in der Philosophischen Anthropologie rekonstruiert, um eine Art »Kategorischen Konjunktiv«12 anzugeben, den auch künftige Experten personal in der Ganzheitlichkeit ihrer Lebensführung als wesentlich in Anspruch nehmen werden. Die Philosophische Anthropologie rekonstruiert kategorial diejenigen Präsuppositionen, die erfahrungswissenschaftliche Anthropologien ermöglichen, ohne in letzteren erklärt und verstanden werden zu können. Sie ordnet ihre kategorialen Differenzen theoretisch, so in der Naturphilosophie als die Differenz zwischen Organisations- und Positionalitätsformen, in der Sozialphilosophie als die Differenz zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionsformen personaler Individuen, in der Kulturphilosophie als die Differenz zwischen dem Spielen in und dem Spielen mit Personenrollen, deren Grenze zwischen dem symbolisch Übertragbarem und dem nicht mehr Spielbarem markiert wird, in der politischen Geschichtsphilosophie als die Differenz zwischen der personalen Zurechenbarkeit und Unzurechenbarkeit von Machtformen angesichts von Ohnmachtformen.

3. Plessners Exzentrierung des Gegensatzes von Historismus oder Anthropologie im Vergleich mit Hegel Wie geht nun Plessner mit dem exklusiven Gegensatz Historismus oder Anthropologie um? Er exzentriert diesen Gegensatz, d. h. er setzt uns aus ihm heraus, so daß dieser Gegensatz als das Zentrum des modernen westli12

Ebd. 116, 216.

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chen Selbstverständnisses fragwürdig wird. Die Exzentrierung ist zwar eine reale Möglichkeit, sein zu können, aber keine notwendige Überwindung oder Aufhebung des Gegensatzes im Hegelschen Sinne. Gleichwohl ist diese Exzentrierung vom Problemniveau her mit einer Hegelschen Aufhebung vergleichbar, da beide antidualistisch entworfen sind, ohne die Errungenschaft der Personalität in einem Rahmen von Welt preiszugeben. Gerade in ihrer Fundierung geht Plessner auf Hegels Phänomenologie zurück, d. h. auf das Ich, welches Wir, und das Wir, welches Ich ist,13 das von Plessner die »Wirform des eigenen Ichs«14 genannt wird. Bei aller Gemeinsamkeit von Hegel und Plessner in der Bejahung der Entfremdung im äußeren und allgemeinen Verhalten gegen den Kult individueller Innerlichkeit ist doch Plessners Fundierungsweise eine andere als Hegels spekulativ-systematische Begründung der Personalität im Weltrahmen. Um dies zu begreifen, muß ich noch einmal auf die vier Aspekte lebenswissenschaftlicher Erkenntnispraktiken zurückkommen, nun aber im Hinblick auf die kategoriale Rekonstruktion der praktisch nötigen Präsuppositionen. Plessner instrumentiert andere Philosophien zu Methoden seines Projekts. Für ihn verwechseln Phänomenologie, Hermeneutik, Dialektik und Transzendentalismus ihre methodischen Errungenschaften mit einer philosophischen Theorie. Eine einzelne Methode ergibt aber noch keine Philosophie. Dadurch entstehe jedesmal ein Zirkel derart, daß die Methode nur aufweise, was ohnehin für theoretisch richtig gehalten werde. Demgegenüber instrumentiert Plessner diese vier Methoden so, daß sie sich gegenseitig korrigieren können, also theoretisch etwas erbringen, was man nicht sowieso schon gewußt hat, als wäre die philosophische Forschung nur zum Schein. Er nennt seine theoretische Umfunktionierung der vier Methoden »die neue Möglichkeit einer Verbindung apriorischer und empirischer Betrachtung nach dem Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen«.15 A) Husserls phänomenologische Methode wird von ihrer theoretischen Antwort, es müsse die transzendentale Subjektivität herauskommen, entkoppelt. Stattdessen wird im (Anschluß an M. Scheler) anders eingeklammert, d. h. zugunsten von faktisch indikatorischen Merkmalen dafür, daß etwas zugleich physisch und psychisch i. w. S. ist. Damit wird der Zugang zu Phänomenen gesichert, die als »lebendige« kandidieren können. B) Die Hermeneutik (von W. Dilthey und G. Misch) wird vom Leben, das schon immer Leben versteht, abgekoppelt, um die Nehmungsweisen dessen, 13 14 15

Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a. a. O. 140, 313 f. H. Plessner: Die Stufen …, a. a. O., 303. H. Plessner: »Macht und menschliche Natur«, a. a. O., 160, 175.

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was sich als Phänomen zeigt, differenzieren zu können. Als Ausgangsdifferenz gilt der Unterschied zwischen Ausdruck (fixiert), Ausdrucksverstehen (von assoziativ bis intelligent erlernt) und Verständnismöglichkeiten,16 die nur über dreistellige (z. B. sprachliche) Symbole mit mentaler Selbstreferenz geändert werden können. Diese Ausgangsunterscheidung wird weiter differenziert in den Verstehensprozeß von musikalisch-künstlerischer, d. h. stimmiger Themeneröffnung über deren sprachliche Präzisierung bis zu ihrer erfahrungswissenschaftlichen Schematisierung, so in Plessners personal funktionaler Einheit der Sinne (1923), einer semiotischen »Ästhesiologie des Geistes«. C) Dialektik wird nicht platonisch oder hegelianisch aufgefaßt, sondern als Untersuchung der Krise in der Zuordnung zwischen der Gebungsweise lebendiger Phänomene (a) und ihrer Nehmungsweise (b). Dialektik deckt dann die Grenzen der Korrelierbarkeit zwischen Phänomenologie und Hermeneutik auf. Daher muß sie methodisch gesehen bei Plessner in die Entdeckung kritischer Phänomene gehen, kann sie nicht im Gespräch (H. G. Gadamer) oder in der spekulativen Rekonstruktion begrifflicher Selbstreferenzen und deren Negationsformen bestehen. Da das Wort »Dialektik« so mißverständlich ist, verwendet es Plessner selten affirmativ.17 Aber eingedenk dessen kann doch seine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens im ungespielten Lachen und Weinen (1941) als bestes Beispiel dafür gelten, wie er dialektische Krisen als methodisch sinnvolle versteht. Die Zuordnungsmöglichkeiten zwischen Ausdruck als der Eröffnung und Handeln als der Antwort in Interaktionen brechen zusammen im Weinen oder gegeneinander hervor im Lachen. Ein nicht minder relevantes Beispiel für die Vergleichbarkeit mit Hegels phänomenologisch-dialektischer Veränderung der Selbst-Erfahrung liegt in Plessners Übergang von der Interpretation der Köhlerschen Experimente mit Schimpansen zur Spezifik des Menschen vor. Natürlich können Schimpansen, dies hat auch die jüngste Verhaltensforschung gezeigt, Werkzeuge herstellen und Zeichenpotentiale erlernen, die dem Niveau von Menschenkindern im 3. Lebensjahr entsprechen. Laut Plessner fehlt ihnen etwas anderes, nämlich der »Sinn für das Negative«, in dem »Geist« anheben kann.18 Schimpansen leben schon sozial und kulturell in

16

Ders.: Die Stufen …, a. a. O., 23. Vgl. jedoch ebd., 115, 305. Der späte Plessner scheint diesen Zusammenhang zu einer dialektischen Phänomenologie, den Sandkaulen zu Recht anmahnt (Anmerkung 8), vergessen zu haben. Siehe ebd. XXIII. Vgl. zur Differenzierung der vielfältigen Bezüge auf Hegels Philosophie H.-P. Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Bd. II: Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001, 293–312. 18 Siehe H. Plessner: Die Stufen …, a. a. O., 270 f., 306–308. 17

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Feldverhalten und mit Dingkonstanten, aber sie können keine Sachverhalte in sinnlich leerem Raum und sinnlich leerer Zeit erwarten. Sie beurteilen nicht das sinnlich Anwesende am symbolischen Kontrast des mental Abwesenden. D) Schließlich befreit Plessner die transzendentale Methode, nach den Ermöglichungsbedingungen wissenschaftlicher Erfahrung zu fragen, doppelt. Sie wird ausgeweitet auf das Problem, nach den Ermöglichungsbedingungen der Lebenserfahrung zu fragen.19 Und sie wird von ihren bisherigen theoretischen Antworten emanzipiert, es müsse das transzendentale Subjekt oder das Sein im Selbstverstehen eines Daseins, das absolute Leben oder der absolute Geist sein. Es gehe minimaler Weise nicht – als letzter wißbarer Ermöglichungsgrund – ohne Personalität im Rahmen von Außen-, Innenund Mit-Welt. Aber wer könnte mehr wißbar als dies erschließen, ohne im Ganzen glauben zu müssen, was freigestellt bleibt?20 Was bedeutet diese Viererkombination aus Phänomenologie, Hermeneutik, Dialektik und transzendentaler Negativität des Absoluten für den Umgang mit dem Gegensatz von Anthropologie und Historismus? Anthropologie wird bei Plessner naturphilosophisch und der Historismus wird geschichtsphilosophisch fundiert, und zwar so, daß beide in ihren Geltungsansprüchen ernst genommen werden. Der Historismus erscheint sich als die größte europäisch-westliche Selbstlosigkeit, insofern er andere Epochen an dem ihnen Eigenen gelten lassen will, was bedeute, auf das eigene Eigene als den Maßstab des fremden Eigenen zu verzichten. Demgegenüber erscheint ihm die Anthropologie als der europäisch-westliche Maßstab, der an die anderen Epochenkulturen angelegt wird. Umgekehrt erscheint der Anthropologie der Historismus als die Projektion des europäisch-westlichen Eigenen auf andere Kulturen und Naturen. Keine andere Kultur und keine Natur legen von sich aus solchen Wert auf die eigene Individualität gegen deren Entfremdung in den Weisen des Allgemeinen und Äußeren. Diese Urteile von Anthropologie und Historismus über sich und den jeweiligen Gegensatz stimmen, wenn man beide, Anthropologie und Historismus, einem indirekten Untersuchungsverfahren aussetzt. Sie stimmen sogar so sehr, daß sie sich nicht ersetzen, nicht einmal das Primat über ihren Gegensatz ausüben können.21 19

Ebd. 30. Vgl. näher zu der Theorie und den Methoden in Plessners Philosophischer Anthropologie meine Kapitel in H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hrsg.): Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006. 21 Vgl. zur »Unentscheidbarkeit des Vorrangs« zwischen geschichtlicher Lebensphilosophie, Anthropologie und Politik, wenn es um die Lebenssituation als »Unbestimmt20

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Plessners naturphilosophische Rekonstruktion derjenigen Präsuppositionen, die naturwissenschaftliche Vergleiche ermöglichen, führt zu dem Unterschied zwischen Organisationsformen (der möglichen Binnendifferenzierung von Organismen) und Positionalitätsformen (ihren Verhaltungsmöglichkeiten zu Medien, in Umwelt oder Welt). Insbesondere der naturanthropologische Tier-Mensch-Vergleich nehme, um Tiere und Menschen als Gegenstände vergleichen zu können, eine »exzentrische Positionalität« in Anspruch. Diese ermögliche Lebensformen von Personen, denen etwas und jemand vor einem Welthorizont begegnen könne. Solche Personen kommen sich von außen als Körper und als in einem Körper seiend vor. Wie ist diese gegensinnige Verhaltungsrichtung (von innen nach außen, von außen nach innen) möglich, ohne in einer Tautologie und in einem Paradox die Untersuchung aufgeben zu müssen? Sie ist insofern möglich, als Personen dafür eine dritte Raumperspektive einnehmen, von der her die Körper-Leib-Differenz gebildet werden kann. Und sie ist insofern verhaltensmöglich, als sie aus einer dritten Zeitperspektive, der der Zukünftigkeit, sich in der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart vorweg sind. Damit wird für anthropologische Vergleiche, insbesondere mit Anthropoiden, eine Bruchstruktur im Verhalten als Ermöglichung beansprucht. Sie besteht aus jeweils drei Relata, die weder vollständig auseinanderfallen noch gänzlich zusammenfallen können. So kann von dem jeweils dritten Relatum her unterschieden werden, nämlich von der Person her zwischen Körper und Leib, von der Zukunft her zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem und von der Welt her zwischen dem Äußeren und Inneren der Körper. Dementsprechend nimmt die Weltstruktur eine dreigliedrige Relation dreigliedriger Relationen an in Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt, die man minimaler Weise praktisch unterstellen müsse, wenn anthropologische Vergleiche leistbar sein sollen. Da diese Relationen noch immer für Lebewesen vollziehbar bleiben müssen und von dem jeweils dritten Relatum her verändert werden können, ist diese Bruchstruktur nicht anders als auf künftige Geschichtlichkeit hin lebbar. Plessner entfaltet den Vollzug dieses Hiatus in drei Verhaltensambivalenzen, der natürlichen Künstlichkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit und des Utopischen (nirgendwo, nirgendwann) zwischen Nichtigkeit und Transzendenz. Solange Personen im Weltrahmen leben, werden die Unterscheidungen zwischen jeweils erstem und zweitem Relatum verschränkt, eben vom jeweils Dritten her. Diese Verschränkung ist eine Ex-Zentrierung der Position, weil die Person, welche die Seiten der Unterscheidung verschränkt, sich insoweit heitsrelation« im Ganzen geht, d. h. nicht in den Grenzen einer autonomisierten Handlungspraxis der Moderne, H. Plessner: »Macht und menschliche Natur«, a. a. O., 218–219.

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außerhalb der Unterscheidung positioniert. Anderenfalls brechen die Verhaltungsambivalenzen auseinander, z. B. in Dualismen des Entweder-Oder, oder sie brechen in sich zusammen, z. B. in Einheitsmythen. Die Person fällt dann mit einer Seite der Unterscheidung gegen die andere Seite derselben zusammen (Frontalstellung), oder sie fällt in die Auflösung der Unterscheidung hinein. Fällt sie mit einer Seite oder der Auflösung der Unterscheidung ineins, handelt es sich um eine Zentrierung der Positionalität. Sie bleibt zentrisch organisierten Lebewesen, zu denen der Mensch als Organismus gehört, nötige Möglichkeit, sein zu können. Die ex-zentrische Positionalität ist weder die vollständige noch zeitlich endgültige Überwindung oder Aufhebung der zentrischen Positionalität, die für zentrisch organisierte und sich zentrisch verhaltende Lebewesen charakteristisch ist. Es macht dann aber immer noch kategorial einen Unterschied, ob bereits ex-zentriertes Verhalten künstlich re-zentriert wird, oder ob gar nicht re-zentriert werden kann, weil nicht ex-zentriert werden kann. Dieses Verhältnis (zwischen Ex- und Rezentrierung im Sich-Positionieren) und seine Verteilung auf die Mitglieder der Gattung Mensch hängt nicht mehr allein von der naturphilosophisch rekonstruierten Ermöglichung im Ganzen ab, sondern von deren historischen Realisierungsbedingungen. Hier ist nur die systematische Pointe Plessners hervorzuheben: Der anthropologische Vergleich von Menschen mit anderen Lebewesen wird von einer exzentrischen Positionalität lebenspraktisch ermöglicht, oder man verbleibt in Tautologie und Paradox, d. h. bricht insofern die Vergleichsleistung in solchen Grenzen ab wie: Tier ist Tier, Mensch ist Mensch. Der Mensch ist Tier und Nicht-Tier. Die exzentrische Positionalität ist aber keine in sich homogene und zeitlose Wesensstruktur des Menschen im Ganzen, sondern eine zeitliche Art und Weise, Positionen ex- und re-zentrieren zu können. Personen können ihre Ex- und Re-Zentrierung anders denn als Menschsein verstehen, was historisch-faktisch ohnehin der Fall war und es erneut werden könnte. Die naturphilosophische Fundierung befreit vom anthropologischen Zirkel. Sie legt frei, was anthropologische Erkenntnis ermöglicht, ohne aus dieser anthropologischen Erkenntnis folgen zu können. Plessners geschichtsphilosophische Fundierung des Historismus führt kategorial zu dem Unterschied zwischen Formen der Macht, d. h. der Zurechenbarkeit des Geschehens auf Menschen, und der Ohnmacht, d. h. der Unzurechenbarkeit desselben auf sie. Dies erscheint auf den ersten Blick wegen der Bezugnahme auf Menschen als eine naive Anthropologie, ist es aber nicht. Es handelt sich um das Resultat der Ernstnahme der historistischen Selbstlosigkeit. Denn was soll die Individuation des anderen Eigenen im Unterschied zum eigenen Eigenen heißen? Dazu muß man methodisch

172

Hans-Peter Krüger

annehmen, daß sich Eigenes doch von sich aus zeigen und verschieden, nämlich als solches angemessen oder unangemessen, genommen werden kann. Dafür müßte man in der Forschung Tests einer quasi dialektischen Krisis in der Zuordnung zwischen phänomenologischem und hermeneutischem Befund organisieren. In der Geschichte wären Kriege und andere Erfahrungen der Negativität solche Krisen, in denen z. B. politisch Freund-Feind-Verhältnisse intensiviert werden können. Es werde dann Welt in eine künstliche Umwelt aufgelöst, d. h. re-zentriert statt ex-zentriert.22 Für die Unterscheidung zwischen eigenem und anderem Eigenem wird demnach einerseits ein Eigenes in Anspruch genommen, das ein Sich im Verhalten, d. h. weder Eigenes oder anderes Eigenes, sondern einfach sich eigen ist, ohne eben darum wissen zu müssen. Andererseits geht es um ein falsch oder richtig zugeschriebenes Eigenes, das sich eigen oder sich anders ist im Vergleich mit anderem Eigenen und Anderem. Im ersten Fall unterstellt man so etwas wie: Leben versteht Leben, insofern es einfach sich ausdrückt (Dilthey). Dieser Ausdruck ist aber im Sinne individualisierender Zuordbarkeit gerade uneigen, weil er bestimmungsarm in der äußeren Oberfläche lebendigen Verhaltens überhaupt angetroffen wird. Davon lenke die Organismusmetapher nach innen im Historismus ab, als ob Leben nicht schon immer nach außen im Ausdrucksverhalten zu Medien und Umwelt bestünde. Im zweiten Fall setzt man Erfahrungen der Negativität voraus, so daß die Zuordnung zwischen Ausdrucksphänomen und seinem Verstehen stimmen oder nicht stimmen kann. Wenn die Zuordbarkeit von eigenem und anderem Eigenen geschichtlich tatsächlich und als solche aufeinander treffen, dann in Handel und Krieg, und nicht in Selbstlosigkeit. Man kommt dann gerade nicht an der Politik vorbei, auch nicht an dem von Carl Schmitt gestellten Problem, daß Politik totalisieren, also mehr sein kann als nur ein autonomer Handlungsbereich unter vielen. Im Historismus steckt großenteils ein idealistisches Projekt von oben, vom Geiste in freier Reflexion her, die sich den Lebewesen und Kämpfen entzieht.23 Aber wird dies der Geschichte, die bedingend ist und bedingt wird, gerecht? Warum hörte sie dann nicht in der Zufälligkeit, in der sie begonnen und zwischen den in sich organischen Kulturen existiert haben soll, auch womöglich wieder einfach auf? Die historistische Selbstlosigkeit enthält nur eine andere Annahme vom Ende der Geschichte, als es von der Anthropo22

Vgl. ebd. 198–200. Dies schließt nicht aus, sondern ein, daß Idealismus in – damit problematische – Politik umgesetzt werden kann. Was den deutsch antiwestlichen Weg in der historistischen Tendenz Europas angeht, stimmt Plessner Ernst Troeltschs Analyse zu. Vgl. ebd. 167 f. 23

Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie 173

logie impliziert wird. Wenn alles historisch relativiert werden kann, warum dann nicht die geschichtliche Zeitlichkeit selber? Wenn man bei dem Motiv der Selbstlosigkeit bleibe, so Plessner, dann müßte man im Historismus konsequenter Weise Mischs Dilthey-Interpretation folgen. Statt das Wesen des Menschen innerhalb einer jeden Kulturepoche definieren zu wollen, müßte man es als offene, mithin in der Beantwortung auch künftig geschichtsbedürftige Frage verstehen. Man müßte also das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen, d. h. ihn als offene Frage, im Untersuchungsverfahren für theoretisch verbindlich nehmen.24 So würde man methodisch frei dazu, phänomenologische und hermeneutische Befunde aus der Geschichte einzuholen, die sich in die künftige Geschichtlichkeit hinein kritisieren können. So könnte es sinnvoll werden, das Wagnis einzugehen, noch Geschichte machen zu wollen, statt im Museum zu enden oder erbaulich auf Ruinen zu schauen. Die systematische Pointe von Plessners geschichtsphilosophischer Fundierung der historischen Forschung besteht demnach in folgendem: Wenn die moderne Hypothese von der historischen Selbsterschaffung des Menschen theoretisch beurteilbar werden möge, dann geht dies nicht ohne methodische Möglichkeiten zu ihrem Scheitern oder ihrer Begrenzung. Die größte Selbstlosigkeit des Menschen bestehe aber darin, nicht nur schon immer ein soziokulturhistorisches Selbstsein, sondern auch »das Andere seiner selbst Sein« zu sein: »so als das Andere seiner selbst auch er selbst ist der Mensch ein Ding, ein Körper, ein Seiender unter Seienden, welches auf der Erde vorkommt, eine Größe der Natur«.25 Wenn Geschichtsforschung das Unvergleichliche ermitteln will, muß sie den anthropologischen Umweg gehen. Anders hätte sie noch nicht einmal Monumente und Dokumente anderer Epochen von doch Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen oder reinen Göttern aufgenommen: »Denn der Begriff des Menschen ist nichts anderes als das ›Mittel‹, durch welches und in welchem jene wertedemokratische Gleichstellung aller Kulturen in ihrer Rückbeziehung auf einen schöpferischen Lebensgrund vollzogen wird.«26 Plessners geschichtsphilosophische Fundierung befreit anthropologisch von dem Zirkel der historistischen Selbsterschaffung.

24 25 26

Vgl. ebd. 190 f. Ebd. 225. Ebd. 186.

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Hans-Peter Krüger

Was lehrt Plessners Umgang mit dem Gegensatz von Anthropologie oder Historismus? Beide haben je von sich und über ihre Gegenseite Vorurteile, die im politisch-ideologischen Kampf verwendet werden können. Es geht dann um die Rezentrierung ihrer Positionen und um die Vorherrschaft dieser Verhaltenszentrierungen in der europäisch-westlichen Moderne, d. h. um Macht. Eine solche Geschichte der Vorherrschaft in der Auslegung des Seins hat Plessner in seinem Buch Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935), ab 1959 bekannt geworden unter dem Titel Die verspätete Nation, vorgelegt. Nimmt man hingegen Anthropologie und Historismus philosophisch als Erkenntnis- und Lebenspraktiken in sich konsequent, könnte man sich aus ihrem exklusiven Gegensatz öffentlich heraussetzen. Beide bilden dann keine Entweder-Oder-Alternative, sondern nehmen sich gegenseitig forschungs- und lebenspraktisch als Ermöglichung in Anspruch. Eine naturphilosophisch fundierte Anthropologie legt den Bruch zwischen den physischen, psychischen und geistigen Verhaltensdimensionen menschlicher Lebewesen frei, dessen Verschränkung nicht anders als durch künftige Geschichtlichkeit ermöglicht werden kann.27 Eine geschichtsphilosophische Fundierung des Historismus deckt seine Inanspruchnahme anthropologischer Präsuppositionen auf, um überhaupt die Zuordnung von eigenem Eigenen und anderem Eigenen in Grenzen ermöglichen zu können. Insoweit entsteht, statt einer Exklusion beider Seiten des Gegensatzes, eine Komplementarität beider Fundierungen für ein westliches Europa, das künftig »entbinden«, d. h. sein lassen kann.28 Sie können sich gegenseitig ergänzen und korrigieren in einem bei Plessner merkwürdig Kantischen, nicht Hegelschen Sinne: Die Übertragung der Bestimmung, Bedingung und Verendlichung auf Unbestimmtheit, Unbedingtheit und Unendlichkeit im Ganzen verwickelt in eine Dialektik des Scheins. Die europäisch-westliche Moderne ist nicht säkularisiert, solange sie historistisch und anthropologisch den Menschen vergottet, d. h. zum Träger positiver Allprädikate macht. Diese Fehlübertragung galt schon Kant als Fanatismus, ob im Namen einer Religion oder im Namen des Atheismus. Plessner kritisiert Hegels System als das selbstmächtige Absolute einer vergangenen Epoche.29 Aber Plessner spielt doch auch zustimmend auf Hegels Phänomenologie an, wenn er von der »im Sinne ihrer Überwindung verwirklichten Skepsis«30 spricht, so in

27

Vgl. H. Plessner: Die Stufen …, a. a. O., 332–341. Vgl. H. Plessner: »Macht und menschliche Natur«, a. a. O., 164, 228–230. 29 Siehe ebd. 223. 30 H. Plessner: »Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie« (1936), in: ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/M. 1983, 41. 28

Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie 175

seiner Groninger Antrittsrede »Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie« (1936). Diese Kritik Plessners an Hegel und jene Anspielung Plessners auf Hegel widersprechen sich nicht. Plessners Philosophische Anthropologie steht nicht mehr wie Hegels Philosophie des Geistes unter dem systematischen Primat der letzten Einheit, um die Begründung von Wissen zu wissen, sondern unter dem Primat einer personalen Lebenspraxis, in welcher Wissensbegründungen weder vollständig und hinreichend noch rechtzeitig erfolgen können. Was Plessner als »Skepsis« anspricht, ist kein erkenntnistheoretischer Zweifel mehr, der nach quasi religiöser Verhaltenssicherheit durch Wissensbegründung verlangt, sondern eine lebenspraktische Skepsis unter pluralen Geistesbedingungen, die zudem ihre physischen und psychischen Existenzbedingungen nie vollständig aufheben können. Daher betont Plessner gegen Hegel die Heterogenität über das Homogene im Heterogenen und die Differenz über die Einheit der Differenz. Die »Hiatusgesetzlichkeit« zwischen den physischen, psychischen und geistigen Dimensionen der conditio humana brauche zwar lebenspraktisch eine Verschränkungsmöglichkeit, d. h. einen Kategorischen Konjunktiv, aber dieser folge keiner geistesphilosophischen Synthese: »Für Hegel ist wohl das Negative, der Mangel, der Schmerz, die Zerstörung eine dem Positiven gleichwertige Macht, aber an ihrer Weltgeborgenheit, Geistnatur rüttelt er nicht. Es gibt bei ihm keine Intermundien, es gibt nicht wie etwa für Leibniz echte Risse, von keiner Welt überbrückte hiatus irrationalis.«31 In der Unbestimmtheitsrelation der personalen Lebensführung im Ganzen nimmt man selbst eine Verschränkungsmöglichkeit in Anspruch, die mißlingen kann.32 Plessner nannte ihr Minimum seit seiner Habilitationsschrift Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (1920) die Wahrung der Würde von Personen. Wer in die Frage nach dem Wesen des Menschen im Ganzen gestellt ist, antwortet auf sie hier und jetzt im Vollzug, ohne sie für jedermann und alle Zeiten schließen zu können. Daher gehe

31

H. Plessner: Die Stufen …, a. a. O., 151. Problemgeschichtlich hebt Sandkaulen zu Recht hervor, daß Plessner die gesellschaftliche Öffentlichkeit gegen die Gemeinschaftsidee stark gemacht hat. B. Sandkaulen: Helmuth Plessner …, a. a. O., 270 f. Daher habe ich in der systematischen Reformulierung auf die Verschränkungsmöglichkeit von Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen für die Personalisierung von Individuen abgehoben. Vgl. H.-P. Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Bd. I: Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999, 4.–6. Kapitel. 32

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Hans-Peter Krüger

man in ihrer Beantwortung hic et nunc eine Verantwortung ein, nämlich für das Primat der Fraglichkeit über die endgültige Bestimmtheit der Antwort. So könne personales Leben doch sinnvoll, eben erneut Aufgabe werden.33

33

Vgl. H. Plessner: »Macht und menschliche Natur«, a. a. O., 187–191.

Sektion III

wissensc haft

Wissenschaft Hans Friedrich Fulda

Wenn genealogisches Denken im Kontext Hegels thematisiert werden soll und dabei exemplarisch Gestalten des Bewußtseins sowie ihre Abhandlung in der Phänomenologie des Geistes zu berücksichtigen sind, darf nach Teilthemen wie ›Erkenntnis‹ und ›Leben‹ die Konzentration auf ›Wissenschaft‹ nicht fehlen. In dieser Sektion müssen Zusammenhänge untersucht werden, die genealogisches Denken mit spezifischen Auffassungsweisen von Wissenschaft verknüpfen. Denn Hegels Phänomenologie war unter anderem auch mit solchen Auffassungsweisen befaßt und trat vor allem mit dem Anspruch auf, selbst Wissenschaft zu sein, nämlich eine »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«1 sowie »Wissenschaft des erscheinenden Wissens«2. Nicht genug damit: Sie wollte ihre Leser zur eigentlichen, nur im Singular wirklichen philosophischen Wissenschaft hinführen. – Welchen der relevanten Zusammenhänge die folgenden Beiträge jeweils ins Auge fassen, kann man leicht ihren durchgängig mit einem »und« formulierten Titeln entnehmen: den Zusammenhang von Wissenschaft und Bildung; denjenigen der einen Wissenschaft (im Kollektivsingular) mit einer Pluralität von Fachwissenschaften; nicht zuletzt aber den von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Es ist auch nicht schwer, die Gesichtspunkte zu entdecken, unter denen es sich empfiehlt, vornehmlich diese drei Sachverhaltskombinationen genealogisch zu reflektieren. Wissenschaft (lateinisch scientia, griechisch epistéme) ist nach ihrer grundlegenden und ältesten Wortbedeutung vorrangig etwas, das eine Person »hat«, wenn es die Wissenschaft gibt: ein habitus, zu welchem sich die Person allemal selbst gebracht haben muß; vielmehr: sie muß dazu gebildet sein und sich gebildet haben. Es bedarf dieser alten Wortbedeutung selbst dann noch, wenn wir Wissenschaft als ein ensemble von Tätigkeiten betrachten, die kollektiv verrichtet werden, oder als ein Gefüge von Institutionen, in welchem man die Tätigkeiten ausübt, oder als die mehr oder weniger standardisierten Praktiken, die im Rahmen dieser Institutionen von einzelnen für sich oder in Gruppen zu betätigen sind; denn all das hat nur Sinn, wenn sich in diesem 1 2

GW 9, 61. GW 9, 434.

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Hans Friedrich Fulda

weitläufigen Betrieb Personen befinden, welche die Wissenschaft innehaben, weil sie entsprechend gebildet sind. Im Kontext genealogischen Denkens von Gestalten des Bewußtseins, unter denen auch solche wissenschaftlichen Bewußtseins vorkommen, wird es darum unumgänglich zu überlegen, wie sich die persönliche Haltung dessen, der Wissenschaft innehat, und die Zuständlichkeit des Betriebs, in welchem er sie »hat« oder wenigstens zu betreiben beansprucht, zu jenem anspruchsvollen, höchst komplexen Prozeß und Prozeßergebnis verhalten, wofür wir den tiefsinnigen deutschen Ausdruck »Bildung« besitzen. Darum steht das Thema ›Wissenschaft und Bildung‹ hier zurecht am Anfang. Die beiden auf seine Abhandlung folgenden Beiträge setzen Kenntnisse von der Phänomenologie Hegels als einer Wissenschaft bereits voraus und haben zur Bedingung, daß die Reihe der in diesem Werk verhandelten Bewußtseinsgestalten als »ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft«3 schon in einem erheblichen Grade, Zustimmung oder Kritik heischend, interpretatorisch zugänglich gemacht ist. In der Verbindung dieser Gesichtspunkte ergeben sich die Themen der anderen beiden Beiträge fast von selbst: Die Hegelische Phänomenologie versteht sich als eine Wissenschaft, die einen durch Bildung ausgezeichneten Bezug zur eigentlichen philosophischen Wissenschaft hat – ja, man kann auch sagen: zur ›Logik‹ oder spekulativen Philosophie4 als der (exemplarischen) Wissenschaft. Schon das provoziert natürlich die Frage: Wie verhält sich diese eine Wissenschaft zu den zahlreichen Wissenschaften, sei’s der Philosophie, sei’s des Betriebs der vielen (insbesondere heutigen) Fachwissenschaften? Und die Frage verschwindet nicht, sondern verlagert sich nur, wenn man (wie es bereits im ersten Beitrag geschieht) Hegels monistisches Programm der einen, eigentlichen und exemplarischen, philosophischen Wissenschaft verwirft. Denn dann will man philosophierenderweise wissen, was uns berechtigt, die vielen Fachdisziplinen der heutigen Forschungsaktivitäten trotz ihrer so enormen Verschiedenartigkeit gleichwohl unter einen Begriff von Wissenschaft überhaupt zu bringen, anstatt die Rede von Wissenschaft nur noch zu einer façon de parler zu erklären oder gar als Schwindel abzutun. So oder so ist mithin ›Die Wissenschaft und die Wissenschaften‹ ein in unserem Kontext unverzichtbares Thema. Ganz ähnlich verhält es sich mit ›Paradigmen in Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte‹, worauf der dritte Beitrag unser Augenmerk lenkt. Von 3 4

GW 9, 56. Vgl. GW 9, 30.

Wissenschaft

181

Anfang an ist ja Bildung im Hegelischen Kontext nicht nur individualgenetisch zu verstehen. Sie findet in der Geschichte des Geistes statt und steht zur Philosophie sowie zu den Fachwissenschaften nicht nur im Verhältnis einer historischen Voraussetzung, der sich beide verdanken, sondern macht auch für beide jeweils einen komplexen kulturgeschichtlichen Prozeß aus, in welchem sich Paradigmen von Philosophie und von Fachwissenschaft sowie von besonderen Fachwissenschaften herausbilden, im Lauf der Zeit einander ablösen, zudem aber über die Grenzen von Philosophie und Fachwissenschaften hinweg Bedeutung füreinander haben. Die Themen der folgenden Beiträge vorausgesetzt ergeben sich auch die Perspektiven ihrer Bearbeitung im Kontext von Wissenschaft und genealogischem Denken aus wenigen Zusatzüberlegungen. Um sich in die Perspektiven zu versetzen – und vorab in die des ersten Beitrags –, beachte man das façettenreiche Bedeutungsspektrum des Ausdrucks »Bildung«. Der Ausdruck ist eine deutsche Spezialität, für die, soweit ich weiß, keine der anderen europäischen Sprachen in einem einzigen Wort ein volles Äquivalent besitzt. Um das Verb »bilden«, sowie »sich bilden« zu übersetzen, von dessen Verwendungsweisen sich das Substantiv »Bildung« herleitet, bedarf es, im Englischen z. B., je nach Kontext der Verben to form, mould, make, make up, create, establish, set up, constitute; grow, develop; educate, cultivate. Aber das ist nicht genug. Mindestens – und sogar zur Hervorhebung einer Grundbedeutung – ist to shape hinzuzunehmen, – nur daß auch damit nicht der elementare Bedeutungsanklang an »Bild« herauskommt, der in »bilden«, »sich bilden« und »Bildung« steckt. Nicht einmal im Lateinischen, aus dem die meisten der zuerst zitierten englischen Verben stammen, ist das der Fall. In diese für die gesamte europäische Kultur wichtigste unter den alten Sprachen, woraus unser »bilden« wohl die Vielzahl seiner Bedeutungen bezogen hat, wäre die den Zusammenhang mit »Bild« und »Gebilde« herstellende Stammbedeutung am ehesten mit fingere zu übersetzen; und von ihm aus haben »bilden« und »Bildung« ihre Ambivalenz. »Fingere« (mit dem zugehörigen figulus, »Töpfer«) ist ja einerseits soviel wie »etwas aus einer formbaren Masse durch deren Formung (paradigmatisch: nach einem inneren Bild davon) gestalten« und »sich ein Bild machen von …«; andererseits bedeutet es aber auch »ein Scheingebilde machen (von …)«, »etwas ersinnen«, »erdichten«, »erlügen« oder »träumen« und »sich einbilden«. Im dafür entscheidenden, aber nur beim deutschen »bilden« und »Bildung« ausdrücklichen Bedeutungsgehalt von »Bild« liegt eben beides: daß das vom Wort Bezeichnete ein wahres, offenbar machendes Bild von etwas sein kann, aber auch ein Scheinbild davon, das in die Irre führt, wenn man nicht auf der Hut ist, und das denjenigen, der sich ihm blindlings überläßt, am Ende sogar sich selbst entfremdet.

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Bei Hegel ist der betreffende kurzerhand der Geist in seiner neuzeitlichen Welt als Gestalt des Bewußtseins.5 Aus der fundamentalen und konstitutiven Bedeutungsambivalenz von »bilden« und »Bildung« ergibt sich die Besonderheit in der Perspektive des Beitrags von Birgit Sandkaulen. In dessen Zentrum nämlich steht die Frage: Was für ein Konzept von Bildung steckt (und wird verfolgt) in demjenigen als Wissenschaft auftretenden Unternehmen (bzw. seiner Wirksamkeit), welches Hegel »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«6, »die Wissenschaft des erscheinenden Wissens«7 und »die Phänomenologie des Geistes«8 genannt hat? Die Frage geht dahin auszumachen, was dieses Konzept au fond auszeichnet im Unterschied zu Programmen, Standards, Idealen von Bildung und überhaupt zu vielerlei Reden von Bildung, wie sie in den Tagesmedien erschallen oder in kulturhistorischen Bibliotheken vergraben sind. Die erwähnte Bedeutungsambivalenz aber bringt in diese Perspektive ihre Dramatik. Sie macht zweifelhaft, ob es sich bei der von Hegels Phänomenologie programmierten, thematisierten und praktizierten Bildung um einen Prozeß handeln kann, der – als Bildung zu etwas – in der angeblich einen, sich durch das eigene Leben des Begriffs organisierenden, philosophischen Wissenschaft ein definitives Ende findet. Ob man aus diesem Zweifel und seiner Explikation die im letzten Abschnitt des Beitrags gezogenen Konsequenzen zu übernehmen hat, sollte der Leser beurteilen. Dem Bedeutungsspektrum von »bilden« und »Bildung« gemäß muß dabei beachtet werden, daß beide Worte nicht nur als Ausdrücke für einstellige Prädikate vorkommen, sondern – neben anderen Möglichkeiten variabler Polyadizität – auch in einer Variante, in der sie für die Prädikate »x bilden zu y« bzw. »x’ Bildung zu y« stehen, und daß der darin bezeichnete Prozeß mit dem Zustandekommen von y abgeschlossen sein muß, wenn es ein korrekt verwendbares Perfekt zu solchem »bilden« gibt und das Substantiv Bildung als Prädikat für das Prozeßresultat (durch das sich etwas »Gebildetes« auszeichnet) nicht ohne erfolgreich herstellbare Referenz der Behauptung ist, in der es wahrheitsgemäß verwendet wird. (Wie sollte, um auf die elementarste Bedeutungssphäre von »bilden zu« bzw. fingere zurückzukommen, ein Töpfer seinen Ton zu einem Gefäß bilden können, wenn mit diesem Gebilde der zu ihm führende Bildungsprozeß nicht zu Ende wäre und

5 6 7 8

Vgl. GW 9, 264 ff. GW 9, 61. GW 9, 434. GW 9, 3.

Wissenschaft

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weitergehende Bildung daran, wenn sie stattfindet, nicht ein anderer Prozeß sein müßte – wenn sie vielmehr derselbe Prozeß sein könnte wie der seiner Bildung, wenngleich in einer weiteren seiner Phasen, hinweg über alles Entstehen, Entstandensein und Vergehen dessen, wozu gebildet wurde? Ich fürchte, wir könnten in diesem Fall nicht einmal mehr gemeinverständlich explizieren, was wir sagen, wenn wir das Wort »Wirklichkeit« in den Mund nehmen, in das ja auch die Bedeutung von »Werk« eingegangen ist.) In der Perspektive der anderen beiden Beiträge ist das hier hervorgehobene Ergebnis, zu dem der erste gelangt, schon vorausgesetzt. Nicht mehr die Genealogie der einen, nach Hegels Überzeugung einzigen voll zur Wissenschaft ausgebildeten Philosophie befindet sich nun im Fokus der Auseinandersetzung, sondern diejenige einer außerhalb der Philosophie stehenden Wissenschaft, wie sie heute ist oder im 19. Jahrhundert war, aber auch von philosophischer Reflexion begleitet wurde und wird. Wie immer es sich mit der Philosophie und ihrem die Neuzeit durchziehenden Programm, sich zur Wissenschaft auszubilden, verhalten mag – wir brauchen nur zu registrieren, wie groß die früh erfahrene Spannung ist, die zwischen der (nach ursprünglichem Verständnis einheitlichen) Wissenschaft, die jemand hat (wenn er sie hat), und der unvermeidlichen Pluralität von Tätigkeiten, Institutionen, Praktiken herrscht, in denen Wissenschaft betrieben wird –, dann sehen wir: Eigens auf ihren Zusammenhang hin befragt werden müssen auch die (wenigstens der Idee nach) eine Wissenschaft und die zahlreichen modernen Wissenschaften – selbst auf die Gefahr der Erkenntnis hin, daß sich diese Pluralität für unsere philosophische oder fachwissenschaftliche Reflexion und historische Feststellung nicht mehr in eine einzige Einheit fügt. Eine des Näheren auf Hegels Phänomenologie oder philosophisches Denken insgesamt eingehende Interpretation ist damit – wie auch im dritten Beitrag – nicht beabsichtigt. Anlaß zu erhellendem Rückbezug auf Hegels phänomenologisch-genealogisches Denken ergibt sich nun jedoch daraus, daß im folgenden nicht alle Fachwissenschaften gleichermaßen auf ihre Verbindung und begriffliche Grundbestimmung hin reflektiert werden, sondern vornehmlich diejenigen, die sich heutzutage mit Phänomenen menschlichen Bewußtseins und Wissens sowie mit deren Erklärung befassen, bzw. – im dritten Beitrag – die während des 19. Jahrhunderts entwickelten, inzwischen auch »Kognitionswissenschaften« genannten Disziplinen in ihrem Verhältnis zur ungefähr gleichzeitigen Philosophie. Für den Beitrag von Olaf Breidbach sind fünf weitere Punkte entscheidend: (1) In der erwähnten Gruppe von Fachdisziplinen ist nach Auffassung des Verfassers heute die Neurophysiologie für die Wissenschaftsreflexion leitend

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geworden – genauer: eine darwinistisch grundierte Hirnforschung. (2) Das Reflexionsinteresse geht nun aber weder darauf, wieder einmal, reduktionistisch, eine Einheitswissenschaft zu propagieren, noch dahin, den Anspruch der alle fachwissenschaftlichen Disziplinen umfassenden Wissenschaft einem trotzigen Pluralismus verstreuter Forschungszweige preiszugeben. (3) Orientierend ist die Hirnforschung vielmehr nur für die Wissenschaftsreflexion, die fachwissenschaftsimmanent oder als extern philosophische so betrieben werden soll, daß sie möglichst genau auf die Fachwissenschaften eingeht und sich den darin weit verbreiteten Naturalismus zu eigen macht. (4) Trotz so großer Distanzierung von Hegel behält dessen genealogisches Denken – nicht nur in der Phänomenologie, sondern selbst in der Wissenschaft der Logik – gewichtige Anregungspotentiale für die Wissenschaftsreflexion und hirnphysiologisch-kognitionswissenschaftliche Forschungsperspektive. (5) Der Rückbezug auf die Phänomenologie soll sogar erlauben, alternativ zu Hegels Monismus der Idee das Modell einer naturalisierten Phänomenologie des Geistes zu entwerfen und zu zeigen, wie sich in diesem Modell ein – »neuro-idealistisches« – Konzept »innerer Logik« neuronaler Strukturen abzeichnet, das mit der naturalisierten Phänomenologie zusammen auf umfassende Historisierung alles Mentalen sowie seines logischen Kerns hinausläuft. Wodurch dieses Modell ermöglicht ist, worin es dem Verfasser zufolge besteht und was seine Nähe zu Hegel auszeichnet, soll hier nicht ausgeplaudert werden. Man sollte es sorgfältiger Lektüre des Beitrags entnehmen. Im Unterschied zum zweiten Beitrag ist der dritte, von Stefano Poggi, explizit wissenschaftshistorisch angelegt. Vorrangig der Epoche zugewandt, in welcher Hegel zuerst gewirkt hat und dann vergessen wurde, nimmt Poggi es gelassen als Selbstverständlichkeit, daß die Fachwissenschaften spätestens in dieser Zeit den Titel »Wissenschaft« für sich alleine reserviert und weitgehend überlassen bekommen haben, soweit die philosophische Reflexion sich nicht ausschließlich in ihren Dienst stellte, so daß sich die Philosophie entsprechend weit von ihnen entfernte und aus der Gemeinschaft mit ihnen ausbürgern ließ. Im Grunde war schon dies eine Angelegenheit einander den Rang streitig machender Paradigmen (hier: von Wissenschaft überhaupt). Vor allem angesichts der historischen Entscheidung dieses Streits und des dadurch eingetretenen Zustandes, in dem wir uns bis heute befinden, während ihn Hegel noch nicht wahrhaben wollte, legt sich im Hinblick auf genealogisches Denken die Frage nahe: Wie verhalten sich innerhalb der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte Paradigmen der einen oder anderen Seite zueinander – also exemplarische oder für exemplarisch gehaltene Ver-

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wirklichungen von Philosophie einerseits und Wissenschaften andererseits? Und: Welche Umbrüche im Wechsel, aber auch in wechselseitiger Rolle von Paradigmen beider Seiten füreinander, haben da stattgefunden (und finden vielleicht typischerweise des öfteren statt)? Welchen interessanten Aufschluß über Wissenschaft und genealogisches Denken kann eine eingehende Beschäftigung damit geben – sei’s im Hinblick auf die Philosophie, sei’s im Hinblick auf die Wissenschaften, nicht zuletzt aber auch in Berücksichtigung von Hegels Phänomenologie? In der Perspektive dieser Fragen kommt es zunächst einmal darauf an, das Paradigmen-Konzept, das der Historie von Fachwissenschaften entstammt, auf die Philosophiegeschichte auszudehnen, um gerade die Wechselbeziehungen zwischen Paradigmen beider Seiten für historisch-genealogische Forschung fruchtbar zu machen. Die Fachwissenschaften, die sich dazu im Rückbezug auf Hegel anbieten, sind fürs 19. Jahrhundert vor allem die Psychologie und Sinnesphysiologie. Der Verfasser zeigt an einigen markanten Beispielen, wie wichtig ihr spannungsvolles Verhältnis zur Philosophie dieser Zeit gewesen ist und wie sehr dies uns Anlaß gibt, unser Standardbild von Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts umzustrukturieren. Nur so treten auch die zahlreichen »arrièrre-pensées« voll zutage, welche die damaligen fachwissenschaftlichen Debatten begleiteten. Deutlicher als bei einer die Philosophie bloß im Verhältnis zu sich selbst betrachtenden Historie kommen Abstammungslinien von Gedanken zum Vorschein, welche auch noch die gegenwärtige Lage der Philosophie mit dem Idealismus unserer klassischen Bildungsepoche über deren Nachleben in den erwähnten Fachwissenschaften verbinden. Nicht zuletzt aber kann so gezeigt werden, daß Hegels Phänomenologie ganz unabhängig von ihrem (wohl eher geringen) Einfluß auf die Fachwissenschaften in einigen Einschätzungen der Gefahren, welche moderne Wissenschaften vom Menschen für dessen Einstellung zur Natur und zu sich selbst mit sich bringen, durch die spätere Entwicklung der Psychologie, während der Hegel gründlich vergessen war, auf eindrucksvolle Weise bestätigt wurde. Mit Hegels stupendem Urteilsvermögen und Reflexionspotential bekannt gemacht durch fachkundige Auskunft eines Spezialisten für Philosophie des 19. Jahrhunderts und Historikers der Kognitionswissenschaften dürfen wir als Leser aller drei Beiträge vielleicht der Hoffnung Raum geben, daß die Phänomenologie des Geistes als Inspirationsquelle zu genealogischem Denken der Wissenschaften und in den Wissenschaften auch künftig nicht versiegen, sondern auf diesem Feld weiterhin dazu beitragen wird, unseren Durst nach Selbsterkenntnis zu löschen.

Wissenschaft und Bildung Zur konzeptionellen Problematik von Hegels »Phänomenologie des Geistes« Birgit Sandkaulen I. Bildungsstandards und Geltungsansprüche genealogischen Denkens Wer gegenwärtig in den sogenannten Bildungsinstitutionen, in Schule und Hochschule also, tätig ist, oder wer auch nur regelmäßig Zeitung liest, kennt den dringenden Ruf nach »Bildungsstandards«. Die Verheißung, die sich an diese Forderung knüpft, ist groß. Bildungsstandards garantieren Orientierung, insofern sie relativ zu den jeweiligen Gruppen diejenige Palette an Kenntnissen und Fähigkeiten definieren, die mindestens erworben und erfolgreich nachgewiesen werden müssen. Argumentiert man so, dann ist klar, daß weder die Formulierung noch die nachweisbare Erfüllung solcher Standards ein Zweck in sich selbst sein kann. Der Logik des Ansatzes entspricht vielmehr, die Definition von Standards auf bestimmte Zielvorstellungen zu beziehen und den verheißenen Orientierungsgewinn somit an eine transparente Zweck-Mittel-Relation zu binden. Springt man aus dieser aktuellen Diskussion um 200 Jahre zurück, dann ist die Versuchung offenbar groß, ein stereotypes Deutungsmuster, nämlich das des Neuhumanismus, zu mobilisieren, um den Kontrast zwischen Damals und Heute zu unterstreichen. Damals, so heißt es dann kritisch, war man um allseitige und vor allem zweckfreie Bildung der Persönlichkeit bemüht, während man sich heute einer totalen Instrumentalisierung der Bildung verschreibt. Damals, so dasselbe Muster noch einmal in umgekehrter Version, lebte man in schöngeistigen Elfenbeintürmen, heute jedoch stellt man sich den harten Anforderungen der Wirklichkeit. Ich halte diese Ausrichtung der Debatte insgesamt für müßig1 – insbesondere aber geht sie an Hegels Konzeption der Phänomenologie vorbei. Denn nicht allein, daß auch Hegel gegen die Formulierung von Mindestbedingungen nichts einzuwenden hat: »Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte« sowie die Fähigkeit zur Strukturierung und Beurtei-

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Vgl. dazu B. Sandkaulen: »Zwischen Schellings Kunst und Hegels Arbeit. Perspektiven der (philosophischen) Bildung«, in: R. Rehn und Chr. Schües (Hg.), Bildungsphilosophie. Grundlagen – Methoden – Perspektiven, Freiburg/Br. 2008, 63–85.

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lung eines Sachverhalts sind der »Anfang der Bildung«,2 und wer über solche Kompetenzen – heute heißen sie »Schlüsselqualifikationen« – nicht verfügt, scheidet aus der von Hegel angestrebten Verständigung von vornherein aus. Wogegen Hegel dann aber vor allem auch nichts hat, ist der Gedanke, Bildung relativ zu einem Ziel zu bestimmen. Von diesem Gedanken zehrt die Inszenierung der Phänomenologie im Ganzen. Deren »Ziel« ist »die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist« (23) – die Voraussetzung hingegen, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen, liefert die »Bildung des Bewußtseins« (61). Nun liegt der Einwand natürlich auf der Hand, daß diese Parallele ganz äußerlich ist. Daß Bildung auch bei Hegel nicht zweckfrei, sondern auf ein Ziel hin orientiert ist, heißt ja nicht, diese Zielstellung selbst plausibel zu finden. Was der Ausdruck »Wissen« oder »Wissenschaft« noch bemänteln mag, wird spätestens dann zum Problem, wenn man dafür das »absolute Wissen« einsetzt, das hier – aber gewiß nicht in den gegenwärtigen Diskussionen – den Fluchtpunkt der Bildung markiert. Tatsächlich will ich die Kompatibilität der Konzepte auch keineswegs behaupten. Die strukturell entscheidende Differenz liegt jedoch nicht, wie es vorschnell scheinen könnte, im Provokationspotential des »absoluten Wissens«, sondern dem voraus im phänomenologischen Ansatz. Als Mittel zum Zweck muß Bildung auch bei Hegel gewissen Standards genügen. Im Kontrast zu gegenwärtig dominierenden Vorstellungen werden sie hier aber nicht als fixe Größen gedacht, die in einem externen Verhältnis sowohl zu denen, die ihr Bemühen an ihnen ausrichten, als auch zur jeweiligen Zielvorgabe stehen. Bei Hegel aktualisieren und konkretisieren sich die Standards der Bildung in einem Prozeß: in einer »ausführliche[n] Geschichte der Bildung des Bewußtseins« (61, Herv. v. Verf.), die das Bewußtsein im Innersten erschüttern und an seinen je gehegten Überzeugungen buchstäblich verzweifeln lassen soll. Nicht nur die extrinsische Auffassung der Bildung, sondern auch ihr vermeintliches Gegenstück, die harmonische Entwicklung der Persönlichkeit also, werden damit strikt unterlaufen. Den Orientierungsgewinn der Bildung an den Durchgang durch Krisenerfahrungen zu binden, bedeutet zugleich weiter, daß auch das Ziel des Prozesses – die Wissenschaft – in den Prozeß integriert wird. In diesem Sinne inszeniert die Phänomenologie des Geistes zwei gegenläufige Bewegungen in einer: Als Darstellung des »erscheinenden« und somit je neu zu korrigierenden Wissens (60) stellt sie zugleich die Zielbestimmung ihres ganzen Unternehmens mit dar, nämlich 2

Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg 1988, 5. Diese Ausgabe wird im folgenden unter Angabe der Seitenzahl im Text zitiert.

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im Modus ihres Werdens – als das »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens« (21). Der absolute Anspruch dieser Wissenschaft ist problematisch, und davon wird noch die Rede sein. Worauf es jedoch in jedem Fall ankommt, ist Hegels These, daß das Wissen seine »Vollendung und Durchsichtigkeit nur durch die Bewegung seines Werdens« erhält (19). Eben dieser Gedanke bringt den zentralen genealogischen Impuls der Phänomenologie zum Ausdruck. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich zugleich, daß die Geschichte der Bildung sich dazu nicht wie ein anderes Motiv verhält, dem dann auch noch Rechnung zu tragen wäre. Vielmehr gewinnt der Grundgedanke der Genealogie im Motiv des Bildungsprozesses nichts Geringeres als seine Operationalisierung. Anders gesagt: Versteht man unter dem Titel »Genealogie« nicht einfach so etwas wie die Hinsicht auf Geschichtlichkeit, sondern ein Konzept, das auf den internen Zusammenhang von Genesis und Geltung reflektiert und demzufolge behauptet, daß die Geltung eines Sachverhalts an die Bedingungen seiner Genesis gebunden ist, dann liegt die Funktion der Bildung darin, diesen Zusammenhang auszuweisen und für das Bewußtsein im Durchgang schmerzhafter Erfahrungen einsichtig zu machen. Die äußere Relation zwischen Mittel und Zweck, zwischen Voraussetzung und Ziel verwandelt sich so in die umfassende Bewegung eines bildenden Werdens, das Voraussetzung der Wissenschaft gerade im Abbau von Voraussetzungen ist. Und damit ist nun vollends klar, worin der substantielle Unterschied zwischen Hegels Konzept und den Bildungsprogrammen der Gegenwart – unter Beachtung ihrer beider Kritik an den Fluchtburgen der Elfenbeintürme – besteht. Entscheidend ist, daß »Bildungsstandards« ihr Versprechen effektiver Orientierung aus einem Geltungsanspruch beziehen, der genau das Irritationspotential ausblendet, das in der Verschränkung von Geltung und Genesis liegt. Dies heißt aber, den Erfahrungszuwachs zu verspielen, der Hegels Entwurf zufolge gerade umgekehrt von Bildung zu sprechen allererst erlaubt. Auf das Wissenschaftskonzept, das dem Ruf nach »Bildungsstandards« zugrunde liegt, komme ich später zurück. Daß es nicht genealogisch verfaßt ist, hat sich schon ergeben. Die interessante Pointe, die darin steckt, gerät aber erst dann in den Blick, wenn man sich zunächst einmal eingehend mit Hegels Bildungsprojekt befaßt, das sonst im Windschatten der philosophischen Auseinandersetzung liegt. Ob man es für eine nicht weiter explikationsbedürftige Selbstverständlichkeit hält, daß die Phänomenologie eine Bildungsgeschichte inszeniert, oder ob man der Meinung ist, daß diese Angelegenheit in pädagogische Hände gehört, ist mir dabei nicht wirklich klar. Wie dem auch sei: Indem ich dem eben skizzierten Gedanken folge, daß Bildung

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der Operator des Hegelschen Genealogiekonzepts ist, ist es mir nicht nur um eine möglichst präzise Analyse dieses fundamentalen Sachverhalts zu tun. Meine These ist darüber hinaus, daß hier eine der Phänomenologie insgesamt inhärente Problematik zum Vorschein kommt, die das Format eines Sprengsatzes hat – und Hegels Ansatz eben deshalb am Ende in die Gegenwart katapultiert. Die Lunte dafür hat Hegel selbst gelegt: in einem Schlüsselstück der Phänomenologie, das den Titel »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« trägt. Um dorthin zu kommen, sind allerdings einige gründliche Erkundungsgänge auf dem Bildungsgelände zu unternehmen.

II. Modelle der Bildung und Hegels Verdikt der Reflexionskultur Mit der Vergewisserung des Kontexts und einem knappen, aber wichtigen Rückblick ist zu beginnen. Die Art und Weise, wie Hegel Bildung und Wissenschaft genealogisch aufeinander bezieht, ist fraglos ein ganz neues Programm. Das heißt aber nicht, daß er die produktive Dynamik der Bildung als erster überhaupt erkannt und freigesetzt hätte. Vielmehr ist Bildung um 1800 eines der zentralen innovativen Konzepte, das die Selbstverständigung der Moderne beflügelt, bis hin zur Gründung neuer Bildungsinstitutionen wie etwa der Berliner Universität. Daß dieser Modernisierungsschub auch gegenwärtig nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat, stellen gerade die laufenden Diskussionen um den Bildungsbegriff unter Beweis. Als maßgeblicher Inspirator der ›Bildungsoffensive‹ ist Herder zu nennen, der das neue Konzept in Umlauf gebracht und auf dem Wege der Darstellung einer umfassenden Bildungsgeschichte der Menschheit seinerseits schon mit einem genealogischen, Geltungsfragen also genetisch durchleuchtenden Denkansatz verbunden hat. Herders Protest gilt dabei der »Mechanik« der Aufklärung, deren Rationalitätsideal die kontextuelle Gebundenheit menschlichen Lebens ignoriert.3 Schiller, Fichte, Friedrich Schlegel und Schelling lassen nicht lange auf sich warten, zumal sich unter nachkantischen Bedingungen das produktive Potential der Bildung offenbar um so mehr aufgedrängt hat. Gegenüber Kants transzendentalphilosophischer Trennung von Genesis und Geltung zeigt sich hier eine Alternative, die, so die allgemeine Überzeugung, den bei Kant vermißten Anschluß an die Erfahrungen konkreten Lebens zurückgewinnen läßt.

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J. G. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt/M. 1967, 74 ff.

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Unter dieser Perspektive baut Fichte die Bildung von Anfang an in den Gesellschaftsentwurf seiner Wissenschaftslehre ein. In der Bestimmung des Gelehrten wird sie als ein umfassender, auf die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung hin angelegter Sozialisationsprozeß gedacht, was Fichte das Modell der intersubjektiven Anerkennung zu entwerfen erlaubt, das üblicherweise allein mit dem Namen Hegels verbunden wird. Schiller und Schelling verleihen der Sache darüber hinaus noch einen eigenen ästhetischen Akzent. Bildung ist hier die Kunst, die in gesellschaftlicher oder auch in wissenschaftlicher Hinsicht Freiräume erschließen und so den produktiven Umgang mit unvorhergesehenen Situationen und Problemen ermöglichen kann.4 Auch das hat mit dem Rückzug in schöngeistige Elfenbeintürme nicht das Geringste zu tun, sondern unterstreicht, daß der Bildungsgedanke eine neue Dimension von Rationalität eröffnet, die die herkömmlichen Rationalitätsmuster abstrakter Ordnungssysteme dezidiert sprengt. Um so erstaunlicher ist, worauf ich an dieser Stelle hinauswill. Wie wenig selbstverständlich, sondern wie explikationsbedürftig Hegels phänomenologisches Bildungsprojekt tatsächlich ist, markiert allem voran nämlich der Befund, daß er diese beachtlichen Vorstöße in Bildungssachen zunächst offenbar überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Das heißt: Quer zur Diskurslage seiner Zeit besteht Hegels Beitrag in den ersten Jenaer Schriften darin, den Ausdruck »Bildung« durchgehend pejorativ zu verwenden. So als brauche man das Stichwort »Bildung« nur auszusprechen, um in den Abgrund unhaltbarer Positionen hineinzuleuchten, werden hier insbesondere Kant, Jacobi und Fichte als maßgebliche Vertreter eines »Systems der Bildung«5 mit beißender Kritik überzogen. Und nicht nur das, denn am Ende von Glauben und Wissen zeigt Hegel sich sogar davon überzeugt, daß dank der von ihm geleisteten vollständigen Darstellung dessen, »was zur Seite der Bildung zu rechnen ist«, das »Bilden« nunmehr auch definitiv »beendigt« sei.6 Im Jahr 1802 also ist mit der Bildung Schluß. Wie kommt Hegel zu dieser seltsamen These? Erklärlich ist dies nur, wenn man notiert, daß er Bildung und Reflexion assoziiert. Woher auch immer er diese Assoziation bezieht, an ihr hängt er hier die ganze negative Semantik des Ausdrucks »Bildung« auf. Die »Systeme der Bildung« sind danach Systematisierungen der grassierenden »Reflexionskultur«, Auswüchse des »gemei-

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Vgl. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen sowie Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, insbes. die Vorlesungen 2, 3 und 6. 5 TWA 2, 293. 6 TWA 2, 431.

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nen Menschenverstandes«,7 der durch das epochale Syndrom der Aufklärung ermutigt sein pseudophilosophisches Haupt erhebt. Hegels wütende Verachtung dieses Reflexionsunwesens ist groß, schließlich gilt sein Interesse dem Leben, dessen Einheit und inneren Zusammenhang ihm zufolge nur die spekulative Kraft der Vernunft begreifen kann. Demgegenüber vertritt Bildung die Standards einer sich progressiv dünkenden, in Wahrheit aber destruktiven Rationalität, die sich ausschließlich auf das Ur-Teilen in fixierten Kategorien versteift und gar nicht merkt, wie sie mit der »Macht der Entzweiung« das Leben von Grund auf zerstört.8 Es besteht kein Zweifel: Wo andere sich zur selben Zeit von der Bildung gerade den Überstieg solch einseitiger Rationalitätssetzungen erhoffen, da legt Hegel sie ganz im Gegenteil auf das Paradigma einer abstrakten Verstandesrationalität fest. Die siegesgewisse Überzeugung jedoch, solch lebensfeindlichem Unwesen der Epoche ein für allemal ein Ende gemacht und in eins mit der Vernichtung der Bildung der »wahren Philosophie« »unmittelbar die äußere Möglichkeit« ihres Auftritts verschafft zu haben,9 hat Hegel in den folgenden Jahren offenbar gründlich eingebüßt.10 Der großangelegte Neuaufriß der Phänomenologie besiegelt das Scheitern des kritischen Projekts. Hier erfährt man deshalb auch, woran der frühere Ansatz krankte, insofern mit der kritischen Abfertigung von Positionen in dem Maße nichts gewonnen ist, wie man so auch nur eine Position unter anderen behauptet und »ein trockenes Versichern […] gerade soviel als ein anderes« gilt (60). Das mag so sein. Verblüffend vor dem skizzierten Hintergrund ist indes, daß eben dieser Neueinsatz bedeutet, das vormals kritische Projekt – ausgerechnet, möchte man sagen – gegen das eines Bildungsprojekts zu vertauschen. Noch kürzlich mit Inbrunst als Wurzel allen Übels disqualifiziert, soll es nunmehr justament die Bildung sein, die auf dem Weg einer strapaziösen, aber im Ganzen fruchtbaren Geschichte zur »wahren Philosophie«, das heißt in den Termini der Phänomenologie, zur »Wissenschaft« führt.

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TWA 2, 298. TWA 2, 22 f. 9 TWA 2, 431. 10 Vgl. dazu B. Sandkaulen: »Das Nichtige in seiner ganzen Länge und Breite. Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie«, in: Glauben und Wissen, hg. v. A. Arndt, K. Baal, H. Ottmann, Hegel-Jahrbuch 2004, 165–173. 8

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III. Bildung und Erinnerung Ich nehme einen neuen Anlauf. Vielleicht handelt es sich hier schlicht und einfach um eine Äquivokation im Gebrauch des Ausdrucks »Bildung«? Die Umwertung des Begriffs zu einem positiv besetzten Konzept hieße dann, daß es sich jetzt eben um ein neues Konzept Hegels handelt, das zudem von zwischenzeitlich unternommenen Lektüren anderer Bildungsmodelle inspiriert worden sein könnte.11 Für diese Überlegung spricht zunächst einmal der Aufriß des Programms, wie es die »Vorrede« der Phänomenologie als ein höchst komplexes und ambitioniertes Unternehmen vor Augen rückt. Das »Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen«, das ist die »Aufgabe«, die allerdings, so fügt Hegel gleich hinzu, »in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen« und somit »das allgemeine Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten« ist (22). Worum es sich bei diesem »Wissen« handelt, stelle ich einstweilen bewußt zurück. Wichtig ist zunächst, daß man es hier nicht nur mit einer Geschichte zu tun hat, vergleichbar etwa dem bei Platon beschriebenen Aufstieg aus der Höhle ins Licht. Auch wenn es nicht völlig abwegig ist, beim Gang von der sinnlichen Gewißheit hin zur Wissenschaft an einen solchen Aufstieg zu denken, ist doch etwas anderes gemeint. Denn bei Hegel handelt es sich um nicht weniger als drei Geschichten, die sich – heuristisch – an drei verschiedene Subjekte adressieren. Auseinanderzuhalten sind erstens die »Geschichte der Bildung der Welt«, die »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte«, deren Subjekt der »Weltgeist«, also der übergreifende Zusammenhang der ganzen kulturellen Entwicklung ist (23); sodann zweitens die Bildungsgeschichte des »besondere[n] Individuum[s]«, insofern es als »unvollständige[r] Geist« eine je »konkrete Gestalt« des historischen Prozesses darstellt, die wie etwa die antike Polis auf die Bühne tritt und dann wieder in die Vergangenheit verschwindet (22); und schließlich drittens die Bildungsgeschichte des zeitgenössischen, sogenannten »natürlichen Bewußtseins«, die ihre Kontur im und aus dem Mitvollzug des Gesamtprozesses gewinnt. Als Autor dieser Darstellung muß Hegel – in der Funktion gewissermaßen eines vierten Subjekts – behaupten, daß er den Überblick über das Ganze streng unter Kontrolle hat. Daß er ihn de facto mit der Ausarbeitung des Geist-Kapitels verloren hat, hat nicht zuletzt mit der Bildung zu tun, und

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Tatsächlich gehe ich davon aus, daß Hegel die zeitgenössischen Diskurse nunmehr sehr genau studiert hat. Allerdings ist es mir dabei nicht um die Frage historischer Einflüsse als vielmehr darum zu tun, wie Hegel solche Anregungen in sein eigenes Programm umgeschmolzen hat. Vgl. dazu im folgenden auch Kap. VI.

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darauf komme ich später zurück. In jedem Fall ist aber das Programm furios. Denn entscheidend ist ja, daß die drei genannten Geschichten nicht etwa parallel und schon gar nicht konsekutiv verlaufen, sondern sich permanent ineinander verschränken. Gegenüber Herder, dessen Einfluß jetzt zweifelsohne zu registrieren ist, und zwar nicht nur im Hinblick auf den großen genealogischen Zusammenhang der Weltgeschichte, sondern auch im Hinblick auf das eigene Recht der jeweils sich ausbildenden Epochen, die bei Hegel dann als »Gestalten des Bewußtseins« und unter der Signatur des Geistes als »Gestalten einer Welt« (290) fungieren: gegenüber Herder also liegt in dieser methodischen Perspektivenverschränkung die Innovation des phänomenologischen Programms. Merkmal dieser Verschränkung ist, daß sich im Prozeß der Bildung die Vergangenheit des Geistes mit seiner Gegenwart zusammenschließen soll. Für das zu bildende Individuum heißt das, nicht wie bei Platon bildlich gesprochen ›nach oben‹ zu schauen, sondern vielmehr zurückzublicken, nämlich aus der Gegenwart heraus in einen Erinnerungsprozeß einzutreten. Schritt für Schritt wird es so mit dem ganzen Reichtum und dem ganzen Widerspruch je ausgebildeter Selbst- und Weltverhältnisse in der Abfolge von Theorien und kulturellen Praktiken konfrontiert, die die ganze Bandbreite erkenntnistheoretischer, moralischer, politischer, ästhetischer und religiöser Überzeugungen und ihnen entsprechender Institutionen umfassen. Und dabei eignet es sich aktuell zu, was die Substanz seiner Gegenwart bestimmt und wohinter es nun, Hegels Intention zufolge, auch nicht mehr zurückfallen kann. Nicht nur die Ignoranz der Gegenwart gegenüber längst gewonnenen Einsichten, sondern selbstverständlich auch so etwas wie historistische oder kulturrelativistische Einstellungen werden damit in einem Zuge abgewehrt. Umgekehrt erfaßt diese bildende Vergegenwärtigung und Aneignung der kulturellen Substanz aber auch diese selbst. Anstatt der äußerliche Vorrat abgelebter oder blind vorhandener Traditionen zu sein, verwirklicht sie sich in diesem Prozeß einer wechselseitigen Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, um in ihm ihr konkretes »Selbstbewußtsein« zu gewinnen (22 ff.).12 Kulturen, so kann man diesen wichtigen Gedanken auch formulieren, unterscheiden sich von natürlichen Gegebenheiten dadurch, daß sie aktiv hervorgebracht und erarbeitet werden und nur in dem Maße Bestand und

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»Die Bildung des Individuums in dieser Rücksicht besteht, von seiner Seite aus betrachtet, darin, daß es dies Vorhandne erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme. Dies ist aber ebensosehr nichts anders, als daß der allgemeine Geist oder die Substanz sich ihr Selbstbewußtsein gibt, oder ihr Werden und Reflexion in sich.« (23)

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Gültigkeit haben, wie sie im Bewußtsein derer, die in ihnen leben, als verbindliche Orientierungsmuster aktualisiert und anerkannt werden. Bis zu diesem Punkt könnte man die Phänomenologie als Paradigma einer Kulturphilosophie lesen, die sachlich und methodologisch nichts an Interesse eingebüßt hat. Allerdings geht Hegel darüber zugleich hinaus. Schließlich soll ja der Zusammenschluß von Gegenwart und Vergangenheit am Ende nichts Geringeres als den absoluten Standpunkt der Wissenschaft realisieren, der nach Hegels Überzeugung längst vorhanden, aber eben nicht als solcher auch verstanden ist. Im Fluchtpunkt der Bildung steht also die Form einer wissentlichen Anerkennung, die die Bewußtseinsgestalten und deren je aktuell gewesene Gegenwart insgesamt übergreift: so etwas wie die Verbindlichkeit einer absoluten Gegenwart also, die ihrerseits vor dem Sturz in die Vergangenheit gefeit sein soll. Mit anderen Worten: Was immer der Inhalt des »absoluten Wissens« ist – den früheren Gedanken, daß es mit dem »Bilden« ein Ende haben soll, hat Hegel durchaus nicht aufgegeben. Er hat ihn jetzt in die genealogische Perspektive überführt.

IV. Der Abschluß der Bildung und die Offenheit von Bildungsprozessen Ich unternehme einen nächsten Schritt. Eine der am nachdrücklichsten an die Phänomenologie gerichteten Fragen ist bekanntlich die, wie sich die in ihr freigesetzte, in die tiefsten Schichten einer wirklichen Geschichte vordringende Dynamik zur Figur des Abschlusses verhält, der am Ende buchstäblich auch »die Zeit tilgt« (524). Aus dem Blickwinkel einer Bildungsgeschichte stellt sich diese Frage nur um so dringlicher. Denn wieso sollten ausgerechnet Bildungsprozesse aufhören? Darin liegen ja gerade der Charme und die Bedeutung des Bildungskonzepts, daß Bildung auf einen kulturellen und persönlichen Überschuß zielt, der sich auf den Gewinn endgültiger Einsichten nicht festlegen läßt. Deshalb läßt sich, was »Bildung« ist, nebenbei bemerkt auch nicht definieren. Tatsächlich stellt Hegels phänomenologische Innovation eine ganz singuläre Option dar. Schon Platon sah hier kein Ende ab, sondern schickte die, die unter Mühen zum Anblick der Sonne vorgedrungen waren, in die Höhle zurück, wo die lebensgefährliche Arbeit überhaupt erst begann. Und ganz zu schweigen erst von den Bildungsentwürfen der Moderne, die, gerade weil sie die Bildung ins Zentrum rücken, die Vorstellung nicht eines Ziels, wohl aber eines erreichbaren Ziels stornieren. So hört bei Herder die Genealogie der Menschheitsgeschichte durchaus nicht auf, die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse findet bei Fichte keinen Abschluß, die ästhetische Erziehung der Gesellschaft bei Schiller ist ein

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Wagestück mit offenem Ausgang, und nicht zufällig schmiedet später auch Humboldt sein universitäres Bildungsprogramm an den Gedanken, daß Wissenschaft der offene Prozeß einer unaufhörlichen »Suche« nach ihr ist.13 Selbst heute, wo man auf »Bildungsstandards« setzt und damit suggeriert, daß Bildung im Moment erfolgreicher Nachweise abgeschlossen sei, wird zumindest die Iteration solcher Abschlüsse in der Idee des »lebenslangen Lernens« propagiert. Daß Hegel alle diese Modelle und Einwürfe mit der Kritik an der »schlechten Unendlichkeit« überziehen würde oder überzogen hat, ist klar. Aber was aus der Perspektive des Systems heraus ein irgendwie begründbarer Vorwurf sein mag, ist es aus der Perspektive der Phänomenologie zunächst einmal nicht, die ja ihrerseits den Standpunkt der Wissenschaft in seinem Werden allererst realisieren soll. Hat Hegel also ein Argument, mit dem er innerhalb des genealogischen Rahmens plausibel machen kann, daß Bildungsprozesse von der Art, wie er selber sie denkt, zugleich doch einen definitiven Abschluß erreichen?

V. Eine Frage der Bildung: Zur Differenz zwischen »Vorrede« und »Einleitung« Allerdings glaubt Hegel im Besitz eines solchen Arguments zu sein. Um das gehörig herauszustellen, nehme ich zuerst noch einen weiteren Faden auf. Bislang habe ich mich vor allem an der »Vorrede« zur Phänomenologie orientiert, die ja erst nach Fertigstellung des ganzen Manuskripts über das Vorhaben informiert. Nur hier aber, und das ist auffallend, spielt das Bildungsmotiv eine konzeptionell gewichtige Rolle, während es in der zuerst verfaßten »Einleitung« nur einmal erwähnt wird. Das spricht für eine veränderte Perspektive, die Hegel im Schreibprozeß gewonnen hat. Wie entscheidend dieser Punkt tatsächlich ist, wird zu besprechen sein. Von Interesse ist im Moment, daß das zunächst formulierte Konzept der »Einleitung« im wesentlichen erkenntnistheoretisch argumentiert und eben deshalb mit der Figur des Abschlusses kein Problem zu haben scheint. Nach dieser Darstellung Hegels ergibt sich die Reihe der »Gestalten des Bewußtseins« daraus, daß das Bewußtsein im Bezug auf einen Gegenstand 13

W. v. Humboldt: »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner / K. Giel, Darmstadt 1982, Band IV, 257 f. Alles beruht darauf, so Humboldt, »das Princip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen«.

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den Anspruch auf wahres Wissen, das heißt auf die Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand erhebt. Daß sich dieser Anspruch immer von neuem als eine Täuschung erweist, subjektives Wissen und objektive Wahrheit also in Wahrheit nicht konkordieren, führt den Ruin der jeweiligen Bewußtseinsgestalt und damit eine neue Konstellation von wiederum unhaltbaren Wissensansprüchen herbei, bis schließlich eine Konstellation von der Art erreicht wird, die die immer schon unterstellte, aber bisher nicht eingelöste Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand wirklich realisiert und den Anspruch des Wissens auf Wahrheit erfüllt. Alle Gegensätze sind überwunden: Eben dies kennzeichnet den Status des »absoluten Wissens«. Damit ist hier offenbar ein dem Prozeß immanentes Kriterium in Anschlag gebracht, das die Abfolge der Bewußtseinsgestalten sowohl zu organisieren als auch zum definitiven Abschluß zu bringen erlaubt. Insofern scheint einiges für diese Konzeption zu sprechen. Jedoch stehen diesem Vorzug mindestens drei gewichtige Nachteile gegenüber. Im Blick auf das Gesamtwerk der Phänomenologie, wie Hegel es dann tatsächlich geschrieben hat, erweist sich die erkenntnistheoretische Fokussierung erstens als wesentlich zu eng. Allerhöchstens deckt sie die ersten Schritte ab, die Hegel dann später auch als einzige unter dem Titel des »subjektiven Geistes« in das Phänomenologie-Kapitel der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften übernommen hat, während sich kulturelle Praktiken und Institutionen so gerade nicht bearbeiten lassen. Damit geht zweitens einher, daß man so auch nicht in die reale Tiefendimension der Geschichte vordringen kann, von deren Berücksichtigung der Genealogieentwurf der Phänomenologie dann jedoch substantiell zehrt. Ein ganz entscheidendes Desiderat betrifft schließlich drittens die Frage, an wen sich das Konzept einer »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« (68) hier eigentlich adressiert. Die jeweiligen Bewußtseinsgestalten gehen an der Unwahrheit ihres Wissens zugrunde. Das ist plausibel, jedoch sucht man dann vergeblich nach einer Instanz, die eine zusehends sich anreichernde Erfahrung über sich und die Welt überhaupt gewinnen könnte. Wörtlich sagt Hegel selber, daß sich ausgerechnet die »Entstehung des neuen Gegenstandes«, der genealogische Witz der ganzen Veranstaltung also, »hinter [dem] Rücken« des Bewußtseins ereignet (67 f.). Die erforderliche Kontinuität und Aneignung des Geschehens wird damit letztlich allein an den Phänomenologen gebunden, was entweder uninteressant ist, da er ja über die Sache längst im Bilde zu sein behauptet, oder aber problematisch ist, insofern das Vorhaben, das Bewußtsein an der langen Leine seiner Gestalten zum Wissen zu führen, ganz unbegründet in der Luft hinge, wenn er selbst dabei auch noch etwas zu lernen hätte.

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Komplementär zu solchen Defiziten rückt nun noch einmal ins Licht, welche Vorzüge die nachträgliche Uminterpretation der Phänomenologie in ein Bildungsprojekt wirklich hat. Nicht allein spannt der Prozeß der Bildung von vornherein einen viel weiteren epistemischen Horizont auf, indem er individuelle, intersubjektive, institutionelle und historische Aspekte miteinander vernetzt. Darüber hinaus erlaubt der Einsatz der Bildung auch, eine Instanz einzuführen, die die Abfolge der Bewußtseinsgestalten übergreift, ohne mit dem Autor Hegel identisch zu sein. Der kontinuierliche Zuwachs an Erfahrung wird so, wie eben gesehen, einem Bewußtsein zugeschrieben, das einen Prozeß der Verinnerlichung, der innerlichen Aneignung und Vergegenwärtigung der jeweiligen »Bildungsstufen« (22) durchläuft. Allerdings war dabei unklar geblieben, wieso das am Ende in eine absolute Gegenwart münden und Bildung damit definitiv aufhören soll.

VI. Vorstellung, Gedanke und Begriff: Die Umwertung der Reflexionskultur Damit komme ich im nächsten Schritt auf den zentralen Punkt zurück. Die Frage war, ob Hegel ein Argument dafür hat, daß Bildung quer zu den Vorstellungen anderer Bildungsmodelle an ein Ende kommt, wobei der Ausdruck »Argument« vielleicht nicht ganz am Platze ist. Die Überlegungen, die ich hier angestellt habe, führt er so ja nicht selber explizit durch, und dementsprechend findet sich die fragliche Auskunft gleichsam unter der Hand. Hegels These lautet, daß Bildung ihr Ende doch selber herbeiführt: ihrer eigenen Logik zufolge nämlich, die auf die Abschaffung ihrer selbst tendiert. Das klingt erstaunlich und ist es auch. Denn natürlich hat Hegel hier kräftig nachgeholfen. Der Schachzug besteht darin, die genannten Vorzüge beider Konzepte stillschweigend miteinander zu verbinden und das Bildungsprojekt nun seinerseits dezidiert auf ein Erkenntnisprojekt zu verpflichten, wobei entscheidend ist, daß es zwei gegenläufige Bewegungen in sich integriert. Einer der prominentesten Sätze der »Vorrede«, daß das »Bekannte überhaupt«, nur »darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt« (25) ist, gewinnt hier sein spezifisches Profil. Denn eben diese Transformation des Bekannten in das Erkannte ist es, die durch die bildende Bewegung des Erinnerns hindurch geleistet werden soll. Das bedeutet, daß sich das Bewußtsein zwar mit der bunten Fülle der Weltgeschichte zu beschäftigen hat, die Hegel in ihrer ganzen Plastizität auf die – zudem noch mit allerhand literarischen Figuren bevölkerte – Bühne bringt. Jedoch wäre es ein gravierendes Mißverständnis, die Vergegenwärti-

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gung dieser bunten Gestalten mit dem Nachvollzug einer großen Erzählung zu verwechseln, die sich das Bewußtsein, aufgeregt und gefesselt von dem, was es da erfährt, mit roten Ohren zu Gemüte führt. Im Gegenteil: Nach Hegels Ankündigung, daß die »Art« solcher Erinnerung »näher zu bestimmen« sei (24), wird das Bewußtsein im ersten Schritt ausdrücklich mit der Erwartung konfrontiert, zu dem, was es als seine Substanz er-innert, ein streng analytisches Verhältnis aufzunehmen. Die Bewegung der Bildung ist die aktive Leistung einer »Analyse«, die bekannte »Vorstellungen« in ihre Elemente zerlegt und so in die Bestimmtheit von »Gedanken« verwandelt (25). Der Prozeß der Vermittlung von Allgemeinem und Einzelnem ist der Vorgang einer Unter-Scheidung, der hinter das Allgemeine ebenso wie hinter das Einzelne in ihrer opaken Unmittelbarkeit zurückgreift, um alle Phänomene der Rasterung eines gedanklichen Ordnungssystems zu unterwerfen. Wer aber diese fundamentale Leistung des Analysierens, der Überführung des unmittelbar Bekannten in eine kategorial vermittelte Erkenntnis erbringt, ist der Verstand, der sich darin als die »verwundersamste und größte oder vielmehr [als] absolute Macht« erweist (25). Quer zu allen anderen Bildungsmodellen wird Bildung auf das Rationalitätsparadigma des Verstandes eingeschworen – was sie vollbringt, ist mit anderen Worten die spezifische Leistung der Reflexion.14 Beinahe wörtlich hatte ich dies so schon einmal formuliert. Was also geht hier vor sich? Tatsächlich kommt mit der »Macht des Verstandes« eben die urteilende »Macht der Entzweiung« erneut zum Vorschein, die Hegel schon

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»Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der wundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht, und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältnis. Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche, ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.« (25 f.) Führt man sich diesen Passus wörtlich vor Augen, wird bereits mit dem ersten, auf die Negativität des Verstandes oder das »reine Ich« fokussierten Schritt um so deutlicher, welch entscheidende Bedeutung der Bildung inzwischen für Hegels gesamtes Projekt zukommt. Offenkundig soll sie das Programm realisieren, demzufolge die Substanz als Subjekt aufzufassen (14), mithin eine systematische Alternative zu Spinozas Philosophie ins Werk zu setzen ist. Insofern dies aber ein dezidiert modernes Programm ist, vermag Hegels anschließende Rückblende, die »diese Erhebung zur Allgemeinheit überhaupt« eher der Situation der Antike als der der Moderne zuschreibt (26), kaum zu überzeugen. Verständlich wird sie nur, wenn man Hegel die Absicht unterstellt, die Aufmerksamkeit nunmehr auf den zweiten BildungsSchritt zu lenken, der in der ausdrücklichen Adresse an die Moderne die Überführung der »Gedanken« in »Begriffe« zu leisten und damit das Projekt Hegels logisch allererst zu vervollständigen hat. Vgl. dazu das Folgende.

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früher im Blick hatte. Und dabei muß er diese Macht jetzt noch nicht einmal umbenennen – schließlich hatte er sie von Anfang an unter den Titel »Bildung« gerückt. Der einzige, aber wesentliche Unterschied ist der, daß das, was früher der kritischen Verachtung preisgegeben war, nunmehr zum Operator der genealogischen Bewegung umgedeutet wird. Die Kritik verwandelt sich so in eine in Superlative sich hineinsteigernde Apotheose der urteilenden Reflexion, die die der Bildung eigene Macht der Trennung, die »ungeheure Macht des Negativen«, nicht mehr als lebensfeindlich verwirft, sondern gerade in ihrer Destruktivität schätzt: als den Motor einer geistigen Bewegung, die sich vor der »Verwüstung« des Todes nicht fürchtet und vielmehr in »der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet (26). Angesichts solcher Rhetorik wirkt die Rede der »Einleitung« von einem »sich vollbringende[n] Skeptizismus« (61) geradezu harmlos. Bildung ist Aufklärung – wenn man will, kann man Hegels Auffassung in diesem Satz zusammenfassen und hat dabei in der Phänomenologie nur die spezifische Umpolung seiner Bedeutung zu beachten, in der die alte Auffassung vom Zerstörungspotential der Reflexion bestätigt, jetzt aber für die eigenen Zwecke umgemünzt wird. Anspruch und Leistung des Verstandes, nur das zu akzeptieren, was sich rational einsichtigen Ordnungsmustern fügt und deshalb immer mit der Setzung von Unterscheidungen einhergeht, werden nun gewürdigt, was Hegels ebenso emphatische wie letztlich irritierende Behauptung einschließt, in der Rücksicht auf den Verstand sein gesamtes Projekt dem common sense verständlich machen zu können (11, 50 ff.).15 Entscheidend ist gleichwohl, und damit komme ich zum zweiten BildungsSchritt, daß diese Rationalität mitnichten das letzte Wort behalten soll. Der Verstand soll auf die einheitsstiftende Vernunft hin überschritten werden: Auch diese Figur ist ja von früher her bekannt. Was aber früher mit dem angeblichen Ende der Bildung zusammenfiel, das wird hier nun zur Aufgabe der Bildung selbst erklärt. Während die »Erhebung zur Allgemeinheit über-

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Die Emphase richtet sich hier (mindestens) gegen Schelling, zu dessen im Medium der intellektuellen Anschauung fundierter Philosophie Hegel insgesamt auf Abstand geht, um sich im Zuge dieser Kritik offenkundig auch von Schellings ästhetischem Verständnis der Bildung zu distanzieren (vgl. dazu den in der Anmerkung 1 genannten Aufsatz). Irritierend ist das Unterfangen, gegenüber Schellings ›esoterischer‹ Identitätsphilosophie auf einer ›exoterischen‹ Philosophie zu bestehen, zugleich in dem Maße, wie ja Hegel selber über den Verstand hinaus zur spekulativen Vernunft vordringen will. Dabei ist nicht allein fraglich, inwieweit er hier auch noch auf das Verständnis des common sense zählen kann. Zu diskutieren ist im folgenden insbesondere, inwieweit diese beabsichtigte Überformung des Verstandes durch die Vernunft überhaupt auf dem Wege der Bildung ausgewiesen werden kann.

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haupt […] nur die eine Seite« der Bildung ist, richtet die »vollendete Bildung« (26, Herv. v. Verf.), wie Hegel wörtlich sagt, in einem zweiten Schritt das ihr eigene Zerstörungspotential gegen sich. So ist sie als buchstäbliche VollEndung ihrer selbst Aufklärung der Aufklärung oder Reflexion der Reflexion. Gegenüber allen früheren Konzepten Hegels und deren bisher betrachteter Umdeutung ist diese Idee der »vollendeten Bildung« die eigentlich neue Idee der Phänomenologie. Und nur wenn man diesen Punkt im Auge hat, kann man Bildung wirklich als den Operator ihres genealogischen Programms bezeichnen. Das Konzept der Genealogie, so hatte ich es früher formuliert, reflektiert auf den Zusammenhang von Genesis und Geltung. Hegels Bildungsprogramm zufolge bedeutet das wie gesehen einerseits, die Aneignung der Substanz in der Herausbildung bestimmter Ordnungssysteme als Resultat einer unverzichtbaren Reflexionsbewegung zu begreifen. Gerade weil aber der Verstand dazu neigt, diese Geschichte seiner Gedanken zu vergessen und die Produkte seiner Tätigkeit als unhintergehbar fixe Größen zu betrachten, ist es andererseits um so wichtiger, »durch das Aufheben der festen bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen und zu begeisten« (27). Die »festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen« – dies ist die eigentlich anstehende »Arbeit« der Bildung (26 f.). In der Tat: Mit Nachdruck adressiert Hegel diese Bildungsarbeit der Verflüssigung der Gedanken an die Welt der Moderne.16 Gerade sie, die sich auf die fraglose Geltung ihrer Rationalitätsstandards versteift, hat es nötig, sich im Gang des Erinnerns einem Verflüssigungsprozeß auszusetzen, der nicht die im Denken gesetzten Unterscheidungen überhaupt, aber deren Fixierung aufhebt. Und dabei werden nur die Kräfte der Negativität mobilisiert, die in der Logik der Bildung je schon am Werke sind. Aus den »reinen Gedanken« werden so »Begriffe«, logische Figuren, die dann keine abstrakten Setzungen 16

Hegels Formulierung, daß die Gedanken »flüssig« werden sollen, legt die Vermutung mehr als nahe, daß er hier ein Motiv Schillers adaptiert, dessen ästhetische Erziehung ihrerseits auf die Welt der Moderne zielt. So soll der »künstliche«, »von Gesetzen einseitig beherrschte oder geistig angespannte Mensch« nach Schillers Idee durch die »schmelzende Schönheit« entspannt und damit aus dem Zustand der Abstraktion befreit werden, in dem er sich »unter dem Zwange von Begriffen befindet« (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Sämtliche Werke, hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert, Band 5, München 1993, 17. Brief, 623 f.). Das Eis der Reflexion wird »flüssig« oder »schmilzt« – und schon bei Schiller geht dies mit dem Gedanken einher, das, was die »Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen« (ebd., 6. Brief, 588). Wie im Falle Schellings ist aber auch im Falle Schillers zu beachten, daß Hegel dieses Motiv zugleich entscheidend verändert, insofern es ihm darauf ankommt, die ästhetische Überbietung des Verstandes durch die Einführung einer logisch-spekulativen Denkform zu ersetzen.

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mehr, sondern nach Hegels Vorstellung »Selbstbewegungen, Kreise« oder »geistige Wesenheiten« sind (27).

VII. Vollendete Bildung Wann immer Hegel von »Kreisen« spricht, darf man sicher sein, daß der Verstand auf dem Wege seiner eigenen Überwindung zur Vernunft gekommen ist. »So ist also die Verständigkeit ein Werden, und als dies Werden ist sie die Vernünftigkeit« (42). Nicht als ein exklusives Sondervermögen, sondern als Negation der Negation begreift die Vernunft den Zusammenhang dessen, was der Verstand als solcher streng voneinander trennt.17 Wenn aber Bildung beides leisten kann, sowohl den Aufbau rationaler Ordnungen als auch deren Verflüssigung im Medium der alle Gegensätze in sich übergreifenden Einheit des »reine[n Begriff[s]« (42), dann gewinnt sie ja offenbar die Einsicht, für die das »absolute Wissen« steht. Und zwar gewinnt sie diese Einsicht nicht erst am Ende des ganzen Weges, wie die »Einleitung« suggeriert, sondern jederzeit auch unterwegs, so daß das »absolute Wissen« am Ende nur die Integration aller je gewonnenen Einsichten ist.18 Scheinen aber so nicht mit Hegels Schachzug, das Bildungsprogramm als ein Erkenntnisprogramm zu präsentieren, alle Probleme gelöst? Wozu könnte es gut sein, jetzt noch einmal auf die unabsehbare Offenheit von Bildungsprozessen zu verweisen, wenn man zeigen kann, daß Bildungsgeschichten wohl verstanden in einen Kreis einmünden? Tatsächlich werde ich das auch gar nicht tun. Ich werde deshalb auch nicht den bekannten Einwand gegen Hegel wiederholen, daß er, gebannt in die 17

Vgl. dazu diesen ganzen Abschnitt der »Vorrede«, in dem Hegel auf die Motive der besprochenen Passagen ausgehend von der »Bedeutung des Verstandes« zurückkommt (41). 18 Dabei weist Hegels Rede von der »Selbstbewegung« der Begriffe natürlich darauf hin, daß die Art dieser je gewonnenen Einsichten zugleich auf den Subtext der Logik hin transparent sein soll, der hinter dem Unternehmen der Phänomenologie in dem Maße steht, wie das Bewußtsein auf den Standpunkt dieser Logik hingeführt werden soll. Daß man jedoch nicht die Jenaer Logik Hegels in diesem Sinne auf die Phänomenologie abbilden kann, gilt nach verschiedentlich unternommenen Versuchen inzwischen als erwiesen (vgl. dazu L. Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. Hegels Philosophie: Kommentare zu den Hauptwerken, Band 1, Frankfurt/M. 2000, 70–79, und W. Jaeschke: HegelHandbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2003, 178). Dieser Befund gewinnt zusätzlich an Brisanz, wenn sich zeigt, daß das phänomenologische Bildungsprojekt zwar die Aufgabe hat, die Lücke zwischen der »Wissenschaft« und ihrer Aneignung durch das Bewußtsein zu schließen, die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgabe aber letztlich nur behaupten kann.

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Figur des »absoluten Wissens«, die zentrale Dimension der Zukunft verschlossen hat. Vielmehr werde ich am Ende meiner Überlegungen auf einen Kreis zurückkommen, wobei es sich allerdings um einen anderen als den hier von Hegel präsentierten Kreis der begrifflichen Selbstbewegung handeln wird. Und dabei werde ich auch die Stärken von Hegels Modell verteidigen, die gegenüber allen anderen Bildungsmodellen darin liegen, daß Bildung von Rationalität nicht freigehalten, aber auch nicht darauf festgelegt wird, sondern daß ihr die Selbstreflexion von Rationalität zugetraut wird. Für eine Bildungstheorie der Moderne ist dies von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Allerdings hat Hegel selbst sein Modell überfordert. Nimmt man diese Überforderung aus der Sache heraus, dann zeigt sich, daß er den Anspruch, auf dem Wege der Bildung zur absoluten Wissenschaft zu gelangen, mit den Mitteln der Bildung gerade nicht einsichtig machen kann.

VIII. Urteile: Die Reflexionskultur des zerrissenen Bewußtseins Grundlage meiner abschließenden Überlegungen ist wie angekündigt das Stück im Geistkapitel der Phänomenologie, das unter dem Titel »Der entfremdete Geist. Die Bildung« die »Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit« verhandelt. Daß Hegel dieses Stück später als die »Einleitung«, aber früher als die »Vorrede« ausgearbeitet hat, ist für den Punkt, den ich hervorheben will, aus sachlichen Gründen entscheidend. In Erinnerung an die zwischen »Einleitung« und »Vorrede« im Blick auf das Bildungsprojekt von mir markierte Differenz heißt dies nämlich, daß Hegel im Moment der Verständigung über den Geist nicht allein seine ursprüngliche Konzeption offenkundig verändert, sondern dabei auch das operative Potential der Bildung selber erst entdeckt hat.19 An einer besonderen Gestalt des Bewußtseins 19

Vgl. zu dieser Veränderung der Konzeption auch Jaeschke (a. a. O., 190), wonach Hegel das Geist-Kapitel ursprünglich als geschichtliche Abfolge von Antike, Mittelalter und Moderne geplant, die Darstellung des Mittelalters in Gestalt der »in das Diesseits und Jenseits zerrissene[n] Welt« (291) dann aber durch die »Welt des sich entfremdeten Geistes« ersetzt hat. Dieser Beobachtung entspricht, daß es im Anschluß an den Abschnitt über die »Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit« zu weiteren Verwerfungen kommt, insofern das Stück über den »Glauben und die reine Einsicht« zurück ins Mittelalter führt, während man mit dem »zerrissenen Bewußtsein« der Bildungswelt längst mitten in der Aufklärung angekommen war. Vgl. zu diesen, bis in den Abschnitt über die »Moralität« hineinreichenden – und nach meiner Lesart durch den Einbau der entfremdeten Welt der Bildung provozierten – Schwierigkeiten auch G.-H.H. Falke: Begriffne Geschichte. Das historische Substrat und die systematische Anordnung der Bewußtseinsgestalten in Hegels Phänomenologie des Geistes, Berlin 1996, 295 ff.

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wird somit nicht unter gewissen einschränkenden Bedingungen exemplifiziert, sondern vielmehr genuin entwickelt, was Bildung ist und was dann bis in wörtliche Übereinstimmungen hinein in die Gesamtprogrammatik der »Vorrede« übernommen wird. Um so mehr fällt allerdings auf, daß es in dieser Entsprechung einen wesentlichen Unterschied gibt, auf den es im folgenden ankommt. Nach dieser Exposition ist klar, daß es mir hier nicht um die inhaltliche Darstellung dieser Welt der Entfremdung in ihren politischen, ökonomischen und ideologischen Verhältnissen, sondern allein um den strukturellen Aspekt der Sache zu tun ist. Ich nenne die zentralen Punkte. Die Welt der Bildung ist erstens die Welt der Moderne, in der der Geist erstmals in ein artikuliertes Verhältnis zu sich selbst tritt und ein volles Bewußtsein seiner selbst gewinnt. Dies bedeutet zweitens, daß sich diese Welt der bewußt vollzogenen Aufhebung aller natürlichen oder traditionsgebundenen Voraussetzungen verdankt. Im Sinne der Identität der bildenden Entäußerung des Individuums mit der »Verwirklichung der Substanz selbst« (325) gilt hier nichts mehr unmittelbar, vielmehr ist jeglicher Geltungsanspruch durch diese Aufhebungsbewegung hindurch vermittelt und muß sich an ihr auch jederzeit ausweisen können. Daraus folgt drittens, daß alle Institutionen dieser Welt ihre Anerkennung aus dem Urteil beziehen, das über sie gefällt wird. Die auf »Gedanken« basierende Leistung des Urteilens (328 f.) – man erinnere sich an die analytische Kompetenz des Verstandes – besteht darin, Unterscheidungen zu treffen und damit eine übersichtliche Ordnung zu stiften, der alle Phänomene unterworfen werden. Hegel unterstreicht, daß diese Ordnungsleistung des Urteilens im Medium der Sprache geschieht, wie überhaupt die Welt der Bildung eine durch und durch sprachlich vermittelte ist. Geltungsansprüche müssen allgemein mitteilbar sein – während das sinnliche Bewußtsein an dieser Aufgabe scheitert, ist dies den Teilnehmern der modernen Bildungswelt völlig klar. Von maßgeblicher Bedeutung ist schließlich viertens, daß die im Urteil etablierte Ordnung in den großen Taumel ihrer Auflösung gerät. Dabei wird sie mitnichten durch eine von außen in sie hereinbrechende Katastrophe zerstört. Im Gegenteil: Sie zerstört sich selbst. Denn genau in dem Maße, wie die Welt der Bildung nichts unmittelbar Gültiges akzeptiert, sondern die Verbindlichkeit ihrer Ordnung einzig und allein im Urteilen stiftet, kann sie ihre Stabilität nicht garantieren. Ihre vermeintlich sicheren Aussagen geraten in Widerspruch zueinander, und es ist schließlich das »zerrissene Bewußtsein«, das diesen Widerspruch artikuliert. Das heißt: Um die »absolute Zerrissenheit«, in die das Urteil sich auflöst, wird in dieser Welt gewußt, und eben das heißt weiter, daß das zerrissene Bewußtsein im Widerspruch und zugleich über ihm steht (341). Insofern es um sein Zerrissensein weiß, behauptet es

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seine Identität im Zerfall von Identität, und das drückt Hegel so aus, daß hier ein identisches Urteil gefällt wird, das zugleich ein unendliches Urteil ist, indem es miteinander unverträgliche Bestimmungen zusammenhält (343).20 Der im Modus der Zerrissenheit seines »Begriffes bewußte Geist« weiß »sich als ein Anderes« (343). Und das ist es nun, worauf ich fünftens hinauswill. In der Welt der Bildung, die über das »zerrissene Bewußtsein« in die Aufklärung und von da in den Umsturz der Französischen Revolution führt, kann Hegel eine Verflüssigung fixer Rationalitätsmuster demonstrieren, die mit den logischen Mitteln des Urteils das Urteil selbst zerstört. Unübersehbar ist weiter, daß diese Verflüssigung, die im unendlichen Urteil mündet, Hegel nachhaltig fasziniert. Nicht allein, daß die Phänomenologie insgesamt das unendliche Urteil in Form der Aussage »Das Sein des Ich ist ein Ding« wie ein Leitfaden durchzieht.21 In der Welt der »reine[n] Bildung«, wie es ausdrücklich heißt (343), wird die Paradoxie dieses Satzes im Wissen um seine Paradoxie auch ausgesprochen, und insofern führt Bildung über das, was nach rationalen Standardkriterien vertretbar ist, auf jeden Fall hinaus. Eben deshalb wird sie »geistreich« genannt (345). Allerdings führt sie auch nicht weiter. Der Aufbau und die Verflüssigung rationaler Ordnungssysteme führt in die Entfremdung und zum Bewußtsein der Entfremdung, aber nicht in diejenige »verwirklichende Bewegung und Begeistung der Momente«, in der die »Entfremdung […] sich selbst entfremde[t]« (326) – nicht dahin also, worauf Hegel im Begriff des »Kreises«, der das Andere in sich aufhebenden Selbstbewegung eigentlich zielt (vgl. nochmals 27).

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Indem die Auflösung der zunächst etablierten Urteilsordnung als Übergang vom Urteil in eine vermittelnde Schlußbewegung inszeniert wird (333 ff.), die ihrerseits im identisch-unendlichen Urteil mündet, fügt sie sich offenkundig nicht der von Hermann Schmitz verzeichneten Typologie, wonach die Phänomenologie an verschiedenen Stellen den Schluß auf das unendliche Urteil folgen läßt und so zwischen den beiden Denkformen Hegels, dem unvermittelten Zusammenstoß der Extreme und ihrer versöhnenden Aufhebung, zu einer »Arbeitsteilung« gelangt (Hegel als Denker der Individualität, Meisenheim/Glan 1957, 142 ff.). Tatsächlich geht Schmitz auf die fragliche Passage nicht ein. Die Problematik dadurch aufzulösen, daß man die Welt der Bildung insgesamt, wie Johannes Heinrichs es tut, als die Bewegung der äußerlichen Reflexion und dementsprechend den hier artikulierten Widerspruch als bloße »Verschiedenheit« präsentiert, ist angesichts der Textlage ebenfalls nicht überzeugend und verdankt sich wohl dem überanstrengten Versuch, die Jenaer Logik unmittelbar in die Phänomenologie einzublenden (Die Logik der ›Phänomenologie des Geistes‹, Bonn 1974, 310–332). 21 Vgl. dazu auch das Resümee im »absoluten Wissen« (518), wo das unmittelbar »Geistlose« dieses Urteils seinem »Begriffe nach« als das »Geistreichste« bezeichnet und damit klarerweise auf die gewonnene Einsicht des gebildeten Bewußtseins bezogen wird.

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Nun mag man einwenden, daß eben dies der Unterschied ist zwischen einer bestimmten Gestalt der Bildung einerseits und dem übergreifenden Bildungsprozeß des Bewußtseins andererseits, das sich erinnernd auf alle Gestalten bezieht und sich dabei seinen eigenen Reim auf die Dinge macht. Gerade dann hätte Hegel in der »Vorrede« jedoch ausweisen müssen, und zwar für das sich bildende Bewußtsein selbst, welcher Schritt hinzukommen muß, um das unendliche Urteil der »reinen Bildung« seinerseits in die Totalverflüssigung des Kreises zu vermitteln. Anders als im Fall des Skeptizismus, dessen Unzulänglichkeit er mit dem Methodenschritt der »bestimmten Negation« begegnet, schweigt Hegel sich über diese Operation indessen aus. Und er tut das im übrigen nicht nur hier, sondern später auch in der Rechtsphilosophie, wo auch nur behauptet, aber nicht expliziert wird, daß Bildung über die Heraus-Bildung der »Verständigkeit« hinaus zum »immanenten Moment des Absoluten« wird.22 Schließlich gibt auch der Gang der Phänomenologie selber an Ort und Stelle keine hinreichende Auskunft. Daß die Welt der Bildung schließlich in der Französischen Revolution im »reine[n] Schrecken des Negativen, das nichts Positives […] hat«, zugrunde geht (392 f.) und Hegel die »absolute Freiheit« daraufhin »aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes« wandern läßt (394), belegt in der Verlegenheit dieser willkürlichen Konstruktion, eine Entwicklung als notwendig ausgeben zu müssen, wofür man letztlich doch nur die Kontingenz der Historie aufbieten kann.23

22

Vgl. RPh §§ 20 und 187, wobei es zugleich bezeichnend ist, daß Hegel den Entfremdungsprozeß der Bildung nunmehr ganz auf den ersten Bildungs-Schritt reduziert, es also schon gar nicht mehr wagt, ihr auch – in Gestalt der »reinen Bildung« – ihre geistreiche Selbstreflexion zuzutrauen. Stattdessen wird sie darauf festgelegt, die »Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit« heraufzuführen, ohne daß dadurch im mindesten klarer würde, wie sie so als »absolute[r] Durchgangspunkt« zur vernünftigen »Substantialität der Sittlichkeit« fungieren können soll. Spuren der früheren Auffassung mag man dann nur noch ex negativo in dem Verdikt erkennen, wonach die politische Gesinnung des Patriotismus gegen eine in bloßem Räsonnement sich gefallende Bildung verwahrt werden muß: »Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete sieht in jedem das Positive.« (RPh § 268, Zusatz) Eine blanke Behauptung bleibt offenkundig auch das. Vgl. dazu auch die hier einschlägigen prekären Äußerungen Hegels über den Status der öffentlichen Meinung (RPh §§ 315 ff.). 23 Dabei gerät Hegel in der Konstruktion dieses Übergangs zudem in die seltsame Lage, in Gestalt der »Moralität« die Überwindung des sich entfremdeten Geistes der Bildung nun ausgerechnet den Positionen Kants und Jacobis zugutezuhalten, die er ja in Glauben und Wissen gerade noch als den Inbegriff der gebildeten Reflexionskultur verurteilt hatte.

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IX. Bildungsprozesse und die Selbstreflexivität der Moderne Bildung führt nicht zur absoluten Wissenschaft. Das setzt zunächst alle anderen Bildungsmodelle ins Recht, die den Zusammenhang von Wissenschaft und Bildung entweder gar nicht oder nur im Sinne der durch Bildung gerade beizubringenden Offenheit eines unabschließbaren Prozesses ins Auge fassen. Und wenn das so ist, dann hat die Phänomenologie ihrerseits ihr Ziel nicht erreicht, den Standpunkt der Wissenschaft im Werden des Wissens für das Bewußtsein begreiflich zu machen. Daß Hegel später andere Zugangswege zur Wissenschaft der Logik wählt, belegt diesen Befund. Genau das gibt mir am Ende aber die Möglichkeit, die Stärken seines Modells von dessen eigenen Ansprüchen abzukoppeln. Bildung, als die Gegenläufigkeit des Aufbaus von Rationalitätsstrukturen und deren Verflüssigung gedacht, trifft, wie Hegels Bildungskapitel zeigt, die komplexe Situation der Moderne einschließlich unserer eigenen Gegenwart im Kern. Seither lassen sich Geltungsansprüche und Bildungsprozesse nicht mehr entkoppeln. Und das schließt – in Erinnerung an den Anfang – ein, daß man sich mit Hegels Modell nun auch bestens erklären kann, was es mit derjenigen Wissenschaft auf sich hat, die »Bildungsstandards« formuliert und dabei den Zusammenhang von Genesis und Geltung verdrängt. Indem sie die Unverzichtbarkeit transparenter Ordnungen vertritt, vertritt sie, mit Hegel gesprochen, die »Macht des Verstandes«. Eben deshalb muß sie nach allem aber auch gewärtig sein, daß die potentielle Auflösung dieser Ordnung in ihre eigene Logik eingeschrieben ist, ohne daß wir über den Metastandpunkt einer spekulativen Wissenschaft verfügen, die solche Konflikte versöhnt. Das läßt zum Schluß die Struktur eines Kreislaufs assoziieren, den Hegel selbst in den Blick genommen, aber im programmatischen Interesse der Einsicht in die Selbstbewegung des Begriffs wohlweislich nicht verfolgt hat. Daß Bildung in der Moderne den Aufbau und die Verflüssigung von Rationalitätsstrukturen leistet, führt danach durchaus nicht in den völligen Untergang – und die zweifelhafte Überwindung – dieser Welt, sondern dazu, daß sie, »wenn nur die vollkommne Durchdringung des Selbstbewußtseins und der Substanz das Resultat wäre«, diesen Prozeß immer wieder neu durchlaufen muß (392).24 Was Hegel einschränkend in den Konjunktiv rückt, trifft de

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Andreas Arndt verdanke ich den Hinweis auf Friedrich Schlegels Entwurf der Bildung als »unendlich zyklischer Progressivität« (vgl. A. Arndt: »Naturgesetze der menschlichen Bildung. Zum geschichtsphilosophischen Programm der Frühromantik bei Friedrich Schlegel«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), 97–105). Ob meine Überlegung mit der Schlegels völlig konform geht, lasse ich einstweilen offen. In jedem

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facto den Nerv der Sache. Der genealogische Zusammenhang, den Bildung repräsentiert, läuft in sich selbst zurück. Wenn man von der Selbstreflexivität der Moderne spricht, dann findet sie hier ihren Ausdruck.

Fall ist die Nähe des zerrissenen Bewußtseins zu frühromantischen Vorstellungen ebenso evident wie der Umstand, daß Hegel sich mit dem Konzept der vollendeten, die Zerrissenheit in die Selbstbewegung des Begriffs vermeintlich aufhebenden Bildung davon zugleich befreien will.

Die Wissenschaft und die Wissenschaften Olaf Breidbach

In einer disziplinär aufgebrochenen Wissensgemeinschaft, die ihre Rationalität nicht mehr im Absoluten verankert, sondern vielmehr in den jeweiligen Methodologien der Einzelsichtweisen ihre Sicherheit findet, wird Wissenschaft nur als eine Struktur- und nicht als eine Konzepteinheit begriffen.1 Wissenschaft ist dann das, was von speziell ausgewiesenen Experten einzelner Wissenschaften ausgeübt wird, und diese Wissenschaftler entsprechen in ihrer Qualifizierung vorab festgestellten Maßstäben und bemessen sich in ihrem Wert nach einer national verbindlichen Honorierungstabelle. Wissenschaft ist demnach als Gewerbe definiert.2 Eine Phänomenologie der Wissenschaften wäre somit sozial- und ggf. auch kulturgeschichtlich zu konturieren. Die Empirisierung der Wissenschaften, ihr sich qua Gegenstandsbereich definierender Handlungs- und Kommunikationsraum ist demnach nicht im klassischen Sinne einer Einheitswissenschaft zu überformen, sondern nur noch in – bezogen auf das Wissen der Wissenschaften – äußerlichen Formen zu ordnen: Das sind Nutzen und Ästhetik.3 Natürlich ist das nicht nur unbefriedigend, sondern widersinnig. Schließlich wäre so das Wissen, nach dem sich die Wissenschaften strukturierten, erst als Technik produktibel und als Kultur kommunikabel. So wäre Wissen selbst epiphänomenal definiert: Der ökonomisch/kulturelle Benefit und nicht der abstrakte Wunsch nach Geltung oder gar Wahrheit eines Wissens wäre dann dessen eigentlicher Wert. Nur führt solch eine Argumentation zu Brüchen. Eine Bewertung von etwas, was sich einer umfassenden Bewertung entzieht, muß dann doch aus einer Partikularperspektive erfolgen. Die Biologen hatten das schon früh erkannt

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Vgl. O. Breidbach: »Wissenschaftsgeschichte«, in: R. Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, 814–834. 2 Vgl. R. v. Bruch, B. Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; R. v. Bruch, H. Trischler: Forschung für den Markt. Geschichte der Fraunhofer-Gesellschaft, München 1999; W. König: Künstler und Strichezieher. Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930, Frankfurt/M. 1999. 3 Vgl. C.P. Snow: The Two Cultures. And A Second Look, Cambridge 1965.

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und ihre Disziplinensicht zum Maßstab erhoben, dem zufolge der Kolonialismus, die Ausbeutung der Arbeiterklassen, die Selektion der Beauties und das Wohlleben der Bankmanager in gleicher Weise biologistisch begründet werden konnte: als evolutiver Benefit der eben je fitteren Existenzen.4 Soziale Karriere oder ökonomischer Erfolg wären nach dieser Lesart dann nur Versuche, die Paarungsattraktivität zu erhöhen.5 Die entsprechenden Aufrufe an das je andere Geschlecht wären implizit formulierte Offerten sozialer und kultureller Akzeptanz – und demonstrierten zugleich schon im Ansatz solcher Vorstellungen eine unsägliche Perspektivverflachung.6 Sehe ich von letzterer ab, wäre solch ein Bild ganz im Sinne einer Phänomenologie des Menschen, die ihre Perspektive nach Maßgabe der jeweils verfügbaren Optiken eingrenzt und nicht etwa ihre Optiken mit der Forderung aufbaut, eine neue Perspektivierung zu erreichen. Insoweit wäre zu eruieren, ob das im vorliegenden Band von Frau Sandkaulen und Herrn Stekeler-Weithofer detailliert dargelegte Denken eines idealistischen Hegel auf den Fiktionen einer eben vorwissenschaftlichen – im Sinne von nicht szientistisch geleiteten Denkform – aufbaut, d. h. vor dem nunmehr methodisch disziplinierten Wissen die Augen verschlossen hielte.7 Zwar sind aus diesem Denken Figuren und Figurationen vermittelt, es sind die Folien und die Raster zu greifen, in denen und mit denen – mit und nach Hegel – gedacht und gedeutet wurde. Dabei erscheint das vormalige Schema einer sich über den Geist sichernden Phänomenologie dessen, was diesem Geist präsentabel ist, zunächst umgedreht:8 Es sind demnach die Dinge, die Physik, die Gene, das Gehirn, die den Geist entstehen lassen, und nicht umgekehrt.9 4

E. Voland, K. Grammer (Hg.): Evolutionary Aesthetics, Berlin/Heidelberg/New York 2003; O. Breidbach: »Warum ich so hübsch und ästhetisch bin und andere Gedanken zu einer evolutionären Ästhetik«, in: C. Gutwald, R. Zons (Hg.): Die Macht der Schönheit, Paderborn/München 2007, 85–113. 5 O. Breidbach, M. Di Bartolo, F. Vercellone: »La seppia e il sublime. Sulla naturalizzatione dell’estetica contemporanea«, in: Estetica, 2004, 5–32. 6 Vgl. aber W. Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt/M. 2003. 7 P. Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992; zur Einführung in die wissenschaftsgeschichtliche Situation vgl.: O. Breidbach, P. Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800, Weimar 2001. 8 M. J. Petry (Hg.): Hegel und die Naturwissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987; M. J. Petry: Hegel and Newtonianism, Dordrecht 1993; W. Neuser: Natur und Begriff. Zur Theorienkonstitution und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel, Stuttgart/Weimar 1995; O. Breidbach, D. von Engelhardt (Hg.): Hegel und die Lebenswissenschaften, Berlin 2002. 9 O. Breidbach: »Was weiß das Hirn?«, in: Journal für Philosophie, der blaue reiter 21 (2006), 50–57.

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Was in solch einer Situation für den am Geist interessierten Philosophen bliebe, ist der Verweis auf die Kontinuität der Vermittlungsfiguren, die Aussage, daß im Gefüge der Tradierungen in den einzelnen Disziplinen, in der Genealogie der Begriffe und Begriffszuweisungen so etwas wie eine historisch entfaltete Bühne für den Auftritt möglicher Aussagen formuliert ist.10 ›Genetisch‹ wäre dabei nicht im Sinne einer Analytik des Präsenten in Bezug auf damit ermöglichte Urteilsfolgen bestimmt. ›Genetisch‹ definierte sich nur die historisch entfaltete und in einer historischen Analyse zu rekonstruierende, sich zusehends auffächernde Wegfolge der diese Begriffe nach ihrer Perspektive durchdeklinierenden Teilsichten.11 Wie aber wäre solch eine Genealogie zu schreiben? Die bloß narrative Erzählung einer Folge von Zuständen selbst ergäbe ja auch für den einzelnen Weg noch keine Perspektivierung, sie rekonstruierte nur die Rasterung, nach der und in der das mögliche Bild auch der einzelnen Disziplinen zu zeichnen wäre. Offeriert wäre somit eine Genealogie als historische Abfolge, die Idee der Vererbungsgemeinschaft einer Kultur, in der zwar Mutationen das Vorgegebene variieren können, in der aber die einzelnen Schritte der Entwicklung in dem Rahmen bleiben, der disziplinär vorgezeichnet ist. Genealogisch vermittelt ist demnach nur die Kontinuität einer Geschichte, die in all ihren Verschiebungen zumindest bei sich bleibt.12 Bestimmt ist solch eine Geschichte aber immer nur in dem Jetzt und Hier und nicht in einer etwaigen Linie, die über einen momentanen Zustand hinaus zu zeichnen wäre. Eine solche ist in der bloßen Akzidentalität der historischen Performanz nicht zu konstruieren. Es bleibt dieser Geschichte nur der Stammbaum als Dokument einer Abfolge, als Registratur der schon vergangenen Schritte von dem vormaligen Jetzt in ein etwaiges Morgen.13 Das aber ist dann Darwinismus. Das heißt, diese Sicht fundiert sich in dem Wissen um eine Geschichte, die zwar als Verlauf, aber nicht in einem möglichen Programm zu beschreiben ist. Solch eine Geschichte ist denn auch ohne Gesetz. Sie ist, und daß sie ist, ist alles, was sie ist. Hegel denkt da anders, ihm steht die Geschichte als Realisation des sich in ihr entfaltenden Geistes immer schon unter einem Gesetz. Ihn interessiert nicht die Akzi10

S. Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, Paderborn/München 2006. 11 O. Breidbach: »Dell’utilità della storia della scienza per una fi losofia della scienza«, in: Intersezioni, Rivista di storia delle idee 3 (dicembre 2003), 501–516. 12 Vgl. R. Koselleck: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts (Cultural Memory in the Present), Stanford 2002. 13 Vgl. O. Breidbach: »Evolutive Entwicklung denken«, in: G. Frank, A. Hallacker, S. Lalla (Hg.): Erzählende Vernunft, Berlin 2006, 139–151.

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dentalität ihres Verlaufs, sondern die Struktur des in dieser Akzidentalität Möglichen. Nicht die Genealogie, sondern die Geschichtlichkeit, in die sich diese Genealogie entäußert, ist zu begreifen.14 Es ist nicht der Verlauf der individuellen Existenzen, jenes Auf und Ab der möglicherweise in Mutationen variierten Zustände, es ist die Struktur des sich derart in Strukturen diversifizierenden Werdens, die Hegel interessiert.15 Dieses Prinzip findet sich nicht in der Akzidentalität eines äußerlichen Verlaufs, sondern in der inneren Bestimmtheit seiner Möglichkeiten. Darin findet sich nach Hegel die Organik eines sich in sein Leben findenden Begriffes.16 Rückgebunden in die Vorstellung eines sich in seinen Bestimmtheiten und eben nicht im Zufälligen findenden Denkens, wird aus dieser vermeintlich so realitätsfremden idealistischen Perspektive dann etwas mit Hand und Fuß. Schließlich erscheint hier etwas – und sei es auch nur ein Begriff – lebendig.17 Denn, was ist mir schon Hand und Fuß, wenn mir die Geschichte in Zufälligkeiten zerrinnt? Was sind die Bestimmungen eines Erlebens, das sich in seiner Geschichtlichkeit bloß verläuft? Es sind dies die Bestimmtheiten eines sich bei sich wissenden Bestimmens, es sind dies die Darstellungen eines sich so in sich sichernden Bestimmens. Es sind dies die Formen, in denen sich ein Denken in sich selbst versichert, und dies sind keine diesem Denken selbst äußerliche Größen. Es ist dies vielmehr eine Selbstgewißheit, die sich in diesem Denken konkret, das heißt in seiner Bestimmtheit als lebendiger Geist, äußert.18 Das heißt nicht, daß es als eine bloß absolute Bestimmtheit firmiert, sondern daß es sich in der Konkretion des sich hier und jetzt in sich bestimmenden Denkens findet. So gesehen ist

14

R. Beuthan (Hg.): Geschichtlichkeit der Vernunft beim Jenaer Hegel, Heidelberg 2006, 57–80. 15 Vgl. H. Kimmerle: »Die Geschichte als das Andere der Gegenwart. Dialektische und differentielle Elemente in der Methodologie der Geschichtswissenschaften«, in: Hegel-Jahrbuch 1983, 69–82; T. Bach: »Leben als Gattungsprozeß. Historisch-systematische Anmerkungen zur Unterscheidung von Pflanze und Tier bei Hegel«, in: W. Neuser, V. Hösle (Hg.): Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus. Festschrift für D. Wandschneider, Würzburg 2004, 175–190. 16 O. Breidbach: Das Organische in Hegels Denken – Studie zur Naturphilosophie und Biologie um 1800, Würzburg 1982. 17 O. Breidbach: »Zur Frage der Notwendigkeit einer Deduktion des Naturalen in der Perspektive der Hegelschen Logik«, in: Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus 17 (2004), 63–86. 18 Vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Hegel-Studien, Beiheft 15, 3. erw. Aufl., Bonn 1995.

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der abstrakt erscheinende Idealismus ein Denk-Realismus. Er verschafft sich selbst Sicherheiten, indem er das Wesen dessen, in dem ich mich in meine Bestimmtheit finde, nicht einfach voraussetzt, sondern in sich bestimmt. Hintergrund dieses Ansatzes ist ein Mißtrauen gegenüber allen Konventionen, Emotionen und Selbstgefälligkeiten eines sich vor sich selbst verstellenden Ichs, Mißtrauen vor den Rollen, in die sich ein Individuum setzt, wenn es sich als Selbst, als in sich bestimmte Person meint bestimmen zu können. Diese Masken eines sich selbst gewissen Ichs fallen in einer Bestimmung, die auch dieses sich in sich setzen wollende Personale in die Geltung setzt, die dieses als Person selbst hat: Diese wird in die Sicherheit seines Denkens gesetzt, die mehr ist als die aus dem Descartesschen Zweifel geborene Einsicht in die Notwendigkeit einer Selbstbestimmung. Diese sich denkende Bestimmtheit kann zwar in ihrer personalen Dimension erlebt werden, ist in dieser Bestimmtheit eines sich selbst Findens jedoch höchstens Folge, aber nie Voraussetzung solcher Bestimmtheit. Insoweit sehen wir eine Bestimmtheit, in der die Logik eines sich in sich bestimmenden Denkens nicht einfach vollzogen, sondern als Phänomen beschrieben ist. Es findet sich der Ansatz einer Phänomenologie des Seins, die dieses in seiner Vielfalt, die Darstellung dessen, was wir meinen phänomenal fassen zu können, auf das reduziert, was es zunächst als Phänomen ist: Denken. Eine eigentliche Phänomenologie, eine Darstellung dessen, was wahrhaft zu erfahren ist, ist demnach dann schlicht eine Phänomenologie des Geistes. Die Kehre dieser in sich bestimmten Phänomenologie ist der Gewinn des vorab benannten Verzichts auf personelle Integrität oder materielle Konturierung. Die Einheit des Denkens ist in der Vielfalt ihrer Bestimmungen auf ein Prinzipiierungsgefüge rückzubinden. So konturiert sich das Einheitliche des möglichen Erfahrens. Als gedacht, als im Geist bestimmt begriffen, ist die Vielfalt der Phänomene in einen in sich bestimmten Raum gesetzt, der nunmehr in seinen Dimensionen abzuzirkeln ist und in seiner Perspektivierung eben so zu beschreiben ist, daß in ihm die Möglichkeit avisiert ist, aus dem Geist, d. h., genauer, aus der Phänomenologie dieses Geistes heraus, das in ihm Bestimmte zu erfassen. Das ist das Hegelsche Programm, das sich dann in seiner zweiten Ableitung zu einer Analyse der Logizität eines derart in sich bestimmten Entwurfes der Welterfassung reduziert und in dieser Logik dann das Leben des Begriffes, das die Phänomenologie noch einfach umschreibt, in seiner in sich zu findenden Bestimmtheit zu beschreiben sucht. So weit geht Hegel; und die Frage ist, inwieweit geht er damit an dem Anspruch und dem Problem einer Moderne vorbei, die diese Läuterung des Wissens aus der Perspektivierung des Wissenden nicht mehr mitträgt, son-

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dern vielmehr in den strukturellen Bestimmtheiten eines disziplinär gesicherten Wissens das abbildet, was sie meint als Realität zu finden: Sie meint ein fragmentiertes, methodisch diversifiziertes und demnach nicht mehr auf ein Prinzip rückzubindendes Erfahren, das sich nicht mehr im Subjekt, dem diese Vielfalt der Erfahrung reflektierenden Moment, sondern in der Objektivität der diese Bestimmung leitenden Phänomene und damit in einer nicht hintergehbaren Vielfalt von Perspektivierungen sichert. Hierin ist zwar das Eine in ein Anderes abzubilden, d. h. übersetzbar, aber es ist eben nicht auf dieses Andere zu reduzieren. Damit ist jedes absolut erscheinende Netz der Erfahrungssicherung zerschnitten.19 Nur müssen wir uns auch fragen, ob der damit reklamierte Riß im Erfahrungsgefüge wirklich so tief geht, daß sich der Außenraum verliert. Schließlich stehen wir vor einer Vielfalt von Perspektivierungen, die uns immer wieder auf Erfahrungen und damit auf ein ihnen jeweils in Aspekten zugängliches Außen verweisen. Die Überblendung dieser verschiedenen uns heute vorgegebenen Erfahrungen erfolgt nun aber auch nicht einfach in Übersetzung der Sprache der einen Wissenschaft in die Sprache der zweiten Wissenschaft. Diese Übersetzung erfolgt vielmehr im Rückverweis auf ein vormaliges Umgehen der verschiedenen Disziplinen mit ihren Gegenständen, das sich in der Abfolge ihrer Exklusionen eben auch als eine Separation von Perspektiven beschreiben läßt. Dabei stand in der Erfahrung ursprünglich ein noch wenig differenziertes gemeinsames Objekt vor Augen, dessen Diversifizierung durch die Entwicklung der verschiedenen, dieses in Blick nehmenden Wissenschaften ermöglicht wurde. Der Blick zurück auf die Genese dieser speziellen Perspektiven benennt insoweit die Klammer, in der das vormalige Erfahren zu sichern und in der es zu bestimmen ist. Die Vielfalt der Perspektiven wird derart in der historischen Analyse nicht ausgeblendet, sondern als Folge einer Erfahrungsdifferenzierung erklärt und zugleich auf die Ansatzpunkte eines ggf. anderen Erfahrens zurückgebunden.20 Die Vielfalt der Wissenschaften, nichts anderes heißt dies, ist das Resultat einer Geschichte des Umganges mit dem Wissen. Die Differenzierung der Wissenschaften reflektiert dabei die Differenzierungen des sich in dieser Wissenschaft abbildenden Realen,

19

O. Breidbach: Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation, Weilerswist 2001. 20 Vgl. T. Bach: »Deutsche und französische Naturlehre um 1800. Identitäten oder Rezeptionsidentitäten.«, in: G.-L. Fink, A. Klinger (Hg.): Identitäten – Erfahrungen und Fiktionen um 1800, Frankfurt/M. u. a. 2004, 259–274; O. Breidbach: »Rezeptionsschichtungen«, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), 233–258.

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des Bezugs- und Verifikationsgrundes jeder möglichen wissenschaftlichen Aussage.21 Drehen wir damit nun aber die kritische Pointierung eines Denkens um, das sich aus dem Absoluten in die relative Bestimmtheit einer empirisch geleiteten Vielfalt von Denkbestimmtheiten hinein übermittelte? Als Ausweg für eine umfassendere Darstellung dessen, was uns leitet, bleibt dann nur die Aussage, daß die Einheit, in der sich demnach das Denken findet, eine nur akzidentelle ist. Das gilt dann insoweit, als die Vielfalt des uns Bestimmenden eben nur nach Maßgabe des uns Möglichen in uns zur Resonanz geführt werden kann. Die vermeintliche Absolutheit der durch uns getragenen Bestimmtheit unserer Weltsicht ist demnach ein Irrtum. Festhalten müssen wir vielmehr, daß unsere Weltsichten nur in der Art, wie sie uns als Teil dieser Welt verfügbar sind, und damit in den Beschränkungen, die uns in dieser Situation auferlegt sind, abzubilden wären. Das können wir dann ganz modern fassen und diesen Geist nicht als ein abstraktes Phänomen, sondern als in dieser Welt selbst erwachsenes Tun begreifen. Geist ist demnach der Ausfluß einer Struktur, die in dieser Welt erwachsen ist, um genau dies leisten zu können: Weltorientierung. Gemeint ist mit dieser Struktur das Gehirn, das als Organ ja nichts anderes fixiert als eine nach Maßgabe der Strukturvorgaben eines Vertebraten mögliche Abbildbarkeit eines Repertoires möglicher Handlungen.22 So kompliziert kann man Evolution umschreiben. Resultat dieser Evolution ist ein Organ, das aufgrund der ihm eigenen, in der Evolution etablierten Zuordnungen in dem Gefüge des Möglichen die konkrete Anweisung entdeckt, nach Vorgabe bestimmter Reize so oder so zu reagieren. Das Hirn ist ein Gewebe, das die Strukturen der Welt und damit das, was wir ihren empirischen Gehalt nennen, auffängt.23 Es funktioniert da gut, wo diese Abbildung derart eindeutig ist, daß sich daraufhin ein Verhalten ausrichten oder überhaupt erst etablieren kann. Damit ist nicht gesagt, daß die-

21

Vgl. R. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, Frankfurt/M. 1984; L. Daston: »Die Akademien und die Einheit der Wissenschaften. Die Disziplinierung der Disziplinen«, in: J. Kocka (Hg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, 61–84; J. Frercks: »Rezeption und Selbstverständnis. Naturlehre/Physik um 1800«, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), 153–184. 22 Vgl. W. Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt 2002; A. Newen, K. Vogeley (Hg.): Selbst und Gehirn. Menschliches Selbstbewußtsein und seine neurobiologischen Grundlagen, Paderborn 2000. 23 O. Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur Neuronalen Ästhetik, Wien/New York 2000.

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ses Hirn in der Zuordnung einer Antwort auf einen Zustand der Außenwelt diese Außenwelt auch so abbildet, wie sie ist. Abgebildet wird dieses Außen immer nur insoweit, als es im Handlungsraum des sich entwickelnden Individuums für das diesem eigene Gefüge möglicher Außenaktivierungen eine Entsprechung gibt. Dabei geschieht dies derart, daß eine Zuordnung von Reiz und Reaktion zu einem wie auch immer gearteten Benefit für das auf den Reiz reagierende Individuum führt, sei es, daß es seinem Freßfeind auszuweichen vermag, sei es, daß es Nahrung wittert, oder sei es, daß es einen Geschlechtspartner identifiziert.24 Dieses Hirn ist nun aber nicht einfach nur Reflex einer Außenwelt, es bildet vielmehr diese Außenwelt nach Maßgabe seiner ihm eigenen Möglichkeiten, seiner Physiologie ab. In der Tat ist die Außenwelt dabei hirnphysiologisch gesehen ein Konstrukt.25 Es sind die inneren Repräsentationen, in denen sich das fängt, was wir das Außen nennen. Die Realität einer Welt – das zeigt der Phantomschmerz ebenso wie ein Traum – ist nur mühsam zu evaluieren. Nicht die eigenen Bilder allein, sondern die Verständigung über die jeweiligen Vorstellungen, sei es in der eigenen Reflexion, sei es im Gefüge der Kommunikation, ist nötig, um sich über Geltung und Wert der einzelnen Vorstellungen ein Bild zu verschaffen. Das Hirn präsentiert nicht einfach ein Spiegelbild einer Außenwelt, es ist kein glatt geschliffener Monolith, der unbeeinflußt von der eigenen Geschichte als Projektionsfläche und memory-board zur Verfügung steht. Das Hirn wird in seinem Gefüge und damit in seiner Funktionalität erfahrungsbedingt verändert. Seine Einstellungen und die darin fixierten Optionen seiner Weltwahrnehmung werden in den ersten Monaten und Jahren seiner Reifung überhaupt erst eingestellt.26 Dabei wird nun nicht einfach eine komplex strukturierte Außenwelt in dem neu erwachsenden Hirn abgedrückt. Dieser Reifungsprozeß ist komplizierter. Das Hirn wird in seiner Reifung durch bestimmte kulturell fixierte Konstanten geführt. Diese vermitteln ihm eine Struktur, in der sich Erfahrungen ordnen und demnach Perspektivierungen disponieren lassen. Wichtig hierzu ist die Sprache, die es erlaubt,

24

D. Dennett: Brainstorms. Philosophical Essays on Mind and Psychology, Cambridge

1981. 25

T. Metzinger: Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation, Paderborn 1993. 26 D. Man-Kit Lam, C.J. Shatz (Hg.): Development of the Visual System, Cambridge 1991; R.O. Wong, A. Chernjavsky, S.J. Smith, C.J. Shatz: »Early functional neural networks in the developing retina«, in: Nature 374 (1995), 716–8; L.C. Katz, C.J. Shatz: »Synaptic activity and the construction of cortical circuits«, in: Science 274 (1996), 1133–1138.

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einzelne Dinge der Umwelt als Einzelheiten zu erfahren, und die zugleich in der Benennung der Einzelheiten das Gefüge aufspannt, in dem diese Dinge zu definieren und in das diese Dinge dann zu ordnen sind. Es sind solche Lern-Sätze des seine Erinnerungen bildenden Kindes, nach denen es seine Erfahrung einstellt und so sein Hirn funktionabel macht.27 Dieses Hirnorgan ist demnach in doppeltem Sinne das Kondensat einer Geschichte. Es ist Resultat einer Naturgeschichte, und als solches kondensiert sich in ihm eine Kulturgeschichte. Welt ist für dieses Hirn so schon auf der Seite der Erfahrungsaufnahme Kulturwelt. Außen ist demnach für dieses Hirn schon auf der Ebene der sensorischen Vermittlung ein kulturell mediiertes Gefüge möglicher Wahrnehmungen. Das empirische Gefüge unvermittelt erscheinender Weltverhaftungen ist demnach schon auf Seite des bloßen Perzipierens als eine Kulturwahrheit enttarnt, in der dann nicht ein objektiv Absolutes, wohl aber die Absolutheit der vormaligen Aussage, daß das Wirkliche der Welterfahrung die Phänomenologie dieses Wahrnehmens selbst ist, in Geltung gesetzt werden kann. Sind wir dann nicht weit weg von einer Phänomenologie des Geistes, in der das Denken in seiner Bedingtheit und nicht etwa die materialen Ursachen seiner Disponiertheit erörtert wurden? Sicher ist die Schädellehre für Hegel eine Anekdote, über die jeder Empirismus in seiner radikalen Konsequenz ad absurdum geführt wird.28 Sicher ist damit die Konkretion einer sich physiologisch begreifenden Existenz geleugnet. Schließlich gewinnt die konsequente Physiologisierung der Erfahrung nicht das Objektive des Außen, sondern das Subjektive einer inneren, d. h. im Geist realisierten Weltrepräsentation: Genauer gesagt, diese Weltrepräsentation ist auch neurophysiologisch kein Reflex, sondern eine Konstruktion.29 Sind wir damit nun letztendlich auf der schiefen Bahn sinnlicher Gewißheit, vor der schon Hegel warnte? Führen wir uns damit in den Strudel einer Eigenbestimmtheit, vor dem uns eben doch nur die Einsicht retten kann, daß nicht die Einheit der Wissenschaft, sondern die Vielfalt der Wissenschaften die Realität einer eben diversifiziert aufzufassenden Welt verbürgt?

27

Vgl. H. Aebli: Über die geistige Entwicklung des Kindes, Frankfurt 1989; J.W. Astington: Wie Kinder das Denken entdecken, München/Basel 2000; E. Stern: »Brain goes to school«, in: Trends in Cognitive Science 9 (2005), 563–565. 28 L. Kordelas: Geist und caput mortuum. Hegels Kritik der Lehre Galls in der ›Phänomenologie des Geistes‹, Würzburg 1998; C. Schalhorn: Hegels enzyklopädischer Begriff von Selbstbewußtsein, Hamburg 2000. 29 O. Breidbach: »Internal Representations – A Prelude for Neurosemantics«, in: The Journal of Mind and Behaviour 20/4 (1999), 403–420.

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Ich denke, wir müssen hier – auch in einer neurophysiologisch geleiteten Sicht – tiefer fassen. Wir gelangen damit kurioserweise zu so etwas wie einem Neuro-Idealismus zweiter Fassung.30 Böse könnte man behaupten: Die jüngste Re-Iteration eines sich schon 1900 vor den Wissenschaften drückenden Ludwig Klages führt in analoger Manier 2007 nicht mehr zum Hand-, sondern zum Kopflesen.31 Daran ist auch etwas – nicht vereinfacht historisch, im Sinne der seinerzeit und auch heute wieder lebendig werdenden Hirnportraits, die eben entgegen dem Hegel’schen Diktum aus den Deformationen dieses Organs auf den Charakter zu schließen suchen,32 wohl vergessend, daß die Deformationen zunächst nur als Formationen zu interpretieren sind. Was ist denn auch dieses Denken, das wir naturalistisch als eine Hirnfunktion verorten? Das Hirn ist ein in seiner eigenen Logik verfangenes Organ, das wir analog repräsentieren, seine Semantik auszuloten suchen und damit Geltungs- und Kontingenzgefüge als hirninterne Verweisstrukturen nicht mehr bloß postulieren, sondern physikalisch beschreiben.33 Es sind dies die Versuche, Geltungszuschreibungen in formaler Fassung der internen Repräsentation als Hirnfunktionen zu erfassen. Es sind dies dann die Wissensfunktionen, die mit der internen Repräsentation in physikalischem Sinne umzugehen suchen, und es sind dies die Versuche einer Modellierung solcher Art von Bedeutungsgeneration im Kontext der evolutionären Robotics.34 Hier wird mit Physik gezeigt, daß anscheinend die prinzipielle Eigenheit eines Hirnes eben darin besteht, sich seinen eigenen, hirnfunktionsbestimmten Phänomenraum aufzubauen; und daß wir in einer Beschreibung dieser internen Abstimmung zunächst über Kontingenzen und eben nicht über Referenzen zu reden haben.35

30

O. Breidbach: »Über die neuronale Ordnung von Welt – Ein Beitrag zur Neuronalen Ästhetik«, in: O. Breidbach, G. Orsi (Hg.): Ästhetik – Hermeneutik – Neurowissenschaften. Heidelberger Gadamer-Symposium des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Münster 2004, 51–66. 31 Vgl. T. Behnke: Naturhermeneutik und physiognomisches Weltbild. Die Naturphilosophie von Ludwig Klages, Regensburg 1999. 32 H.-L. Kröber: »Die Wiederbelebung des ›geborenen Verbrechers‹ – Hirndeuter, Biologismus und die Freiheit des Rechtsbrechers«, in: T. Hillenkamp (Hg): Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden Baden 2006, 63–83. 33 R. Pfeifer, C. Scheier: Understanding Intelligence, Cambridge 1999. 34 S. Nolfi, D. Floreano: Evolutionary Robotics. The Biology, Intelligence, and Technology of Self-Organizing Machines, Cambridge, MA, 2000. 35 G. Rusch, S. J. Schmidt, O. Breidbach: Interne Repräsentationen – Neue Konzepte der Hirnforschung, Frankfurt/M. 1996.

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Die böse Frage von Nagel,36 wie es denn sei, eine Fledermaus zu sein, schlägt insoweit bei eingehenderer Betrachtung zurück. Nagel dachte an das ganz andere Ortungssystem, das dazu führt, daß die Fledermaus ein Weltbild gewinnt (wenn sie überhaupt eines hat), das mit dem unseren zwar in Dekkung zu bringen ist, insofern als es Referenzen im Außen gibt, die wir durch komplizierte Tests als Kontingenzen in einer möglichen Bestimmung des Wahrnehmungsapparates beider Spezies aufzufinden vermögen, das unserem Weltbild aber nicht entspricht. Im Sinne eines naiven Realismus sind wir nun aber in unserem Verhältnis zueinander alle Fledermäuse, insoweit als wir die uns zugängliche Welt eben in den uns je eigenen Verrechnungsstrukturen, Vorstellungsbildern und Erwartungen formulieren. Nur wer mich kennt, der wird mich hier erkennen, schrieb Hegel unter eines seiner Bildnisse. In Blick auf die Physiologie eines selbstreferentiellen Organs ist diese Aussage noch auszuweiten: Bekannt ist das, was im Gefüge der möglichen internen Verweise seinen Platz hat. Definiert ist das, was dann da ist, in seiner Abgrenzung gegen das Andere, was intern positioniert ist. Welt gewinnt ihre Konturen in dieser wechselseitigen Referenz der internen Zuschreibungen. Diese können dann auch in der Vernetzung ihrer Beziehungen auf eine Verhaltenssteuerungsstruktur abgebildet werden, in der sie dann die Interferenzen der internen Repräsentationen efferent machen.37 Das damit induzierte Verhalten wird dann da, wo es funktioniert, diese Efferenzen als effektiv beschreiben und damit die in dieser Efferenz abgebildete Interferenz bestätigen. Es ist nicht das Außenbild, das sich nach innen abbildet, es ist der Innenraum, der sich auf das Außen legt.38 Es ist die Beschreibung der internen Repräsentation, in der sich für uns Welt fängt. So ist denn auch klar, daß diese Welt auch da, wo sie in ihrer Beschreibung inkomplett ist, intern immer ein Ganzes darstellt. Die Welt ist denn auch für ein Kind, das sich seinen Erfahrungsraum sukzessive erschließt, nicht in Bruchstücken präsent.39 Das Kind hat immer seine ganze Welt. Diese wächst mit ihm, aber sie wächst als eine sich mit ihren Vorformen vermittelnde Welt. Auch hier gibt es die Genealogie des

36

T. Nagel: »What is it like to be a bat?«, in: Philosophical Review LXXXIII 4 (1974), 435–450. 37 V. Braitenberg: Das Bild der Welt im Kopf. Eine Naturgeschichte des Geistes, Münster 2004. 38 O. Breidbach: »Neurosemantics«, Neurons and System Theory, in: Theory in Biosciences, 126 (2007), 23–33. 39 B. Inhelder: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, Stuttgart 1971; J. Piaget: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart 1974; E. Stern: Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses im Kindesalter, Lengerich 1998.

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Erfahrens, in der sich insoweit auch die Identität eines dieses Erfahren fundierenden Bewußtseins fassen läßt. Dabei ist es immer das Ganze des in sich bestimmten Denkens, in dem sich die Welt als Welt sicher ist. Insoweit findet sich das Ich denn auch in der Vielfalt seines Erfahrens in seine Sicherheit.40 Es ist jeweils absolut, was sich mir darstellt, insofern als das Gefüge der möglichen Aussage zu einem Zeitpunkt t in sich kontingent und insoweit in sich abgeschlossen ist. Es ist aber nicht absolut in dem Sinne, daß diese so vorliegende Welt in sich und für sich abgeschlossen ist. Es gibt eben keine Metamorphose einer in sich immer einheitlichen Welt, die sich in dem sie erfahrenden Ich und in der Entwicklung eines diese Welt erfassenden Ichs darstellen läßt.41 Hier unterscheidet sich der skizzierte neuronale Platonismus – um es ironisch zu pointieren – von der Sicherheit einer Phänomenologie, die nicht die Funktionalität des Denkens und damit seine Organizität im expliziten Sinne, sondern nur seine abstrakte Bestimmtheit als sich in sich realisierendes Denken vor Augen hat. Insoweit ist das, was ich hier darstelle, auch keinesfalls mehr einfach eine Phänomenologie des Geistes. Beschrieben ist hier eine interne Verweisarchitektur einer Mechanizität, in der sich das realisiert, was Hegel zu umschreiben suchte. Insoweit ist das hier gezeichnete Bild nicht ein Reflex auf höherer Stufe; es ist prinzipiell anders, aber – und dies muß sehr zu denken geben – es operiert schlüssig mit den Beschreibungsfiguren, in denen Hegel seine Logizität des Geistes faßte. Das Modell von Grenze und Entgrenzung, die Idee einer Bestimmung der Einheiten durch ihre wechselseitige Ausgrenzung, das Hegel bis in seine Logik bestimmte, kommt auch in dem hier skizzierten Modell zum Einsatz.42 40

M. Kurthen: Hermeneutische Kognitions-Wissenschaft, Bonn 1994. O. Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006. 42 Vgl. H. F. Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 21975; D. Henrich: »Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in die Wissenschaft der Logik«, in: U. Guzzoni, B. Rang, L. Siep (Hg.): Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx zum 65. Geburtstag, Hamburg 1976, 208–230; D. Henrich: »Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung«, in: D. Henrich (Hg.): Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion. Hegel-Tage Chantilly 1971, Hegel-Studien, Beiheft 18, 203–324; W. Jaeschke: »Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion. Eine Skizze der systematischen Geschichte des Reflexionsbegriffs in Hegels Logik-Entwürfen«, in: Hegel-Studien 13, 85–117; W. Marx: Hegels Theorie logischer Vermittlung. Kritik der dialektischen Begriffskonstruktion in der ›Wissenschaft der Logik‹, StuttgartBad Cannstatt 1972; L.B. Puntel: Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie Hegels, Hegel-Studien, Beiheft 10 (21981); P. Rohs: »Der Grund der Bewegung des Begriffs«, Hegel-Studien, Beiheft 18, 43–62; J. Simon: »Die Bewegung des Begriffs in Hegels Logik«, Hegel-Studien, Beiheft 18, 63–73; R. Wiehl: »Selbstbeziehung und Selbstanwendung dialektischer Kategorien«, Hegel-Studien, Beiheft 18, 83–113. 41

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Es zeigt sich, daß Hegel damit eine Grundbestimmung jedes Formalismus, eine Art formaler Struktur des formalen Denkens expliziert hat. Das offeriert er uns explizit in der Wesenslogik. In der wird dann die Phänomenologie als Phänomenologie des Welt denkenden Geistes beschrieben. Genau dies ist auch in der modernen, auf ihre Historizität verweisenden Phänomenologie des Erfahrens aufzunehmen. Zu fragen wäre, ob dieser Verweis auf ein Innen, den Hegel formulierte, auch in der modernen Situation aufzunehmen ist. Hierzu wäre zu beschreiben, was eine naturalistische Interpretation eines sich in der Welt versichernden Denkens, die eben das Hirn und dessen Funktion zum Maßstab einer eingehenderen Orientierung nimmt, wirklich aussagt. Ich kann das kurz detaillieren. Nervenzellen sind die Kanäle, in denen sich der Informationsfluß im Hirn strukturiert. Sie besitzen eine bestimmte Struktur; d. h. der Informationsfluß im Hirn läuft in einer bestimmten Art und Weise ab. Es gibt bestimmte Ausgänge, vorab festgelegte Überschneidungen und Zielorte, an denen die Information eingelesen, und solche, an denen sie ausgelesen wird. Zwar sind diese Strukturen im Fluß, doch geben sie immer ein Raster vor, in dem sich bestimmte Zuordnungen etablieren. Das ist der Sinn einer so tiefgreifenden Aussage: In the nervous system nerves always path from here to there.43 Natürlich ist das selbstverständlich, natürlich ist das nichts anderes als eine lausige Umschreibung der Aussage, daß das Nervensystem eine Anatomie, und das bedeutet eben eine Struktur, hat. Allerdings trägt die eingehendere Analyse weiter, denn was im Hirn wirklich verdriftet, ist ja nicht Information. Niemand und nichts laufen hier im Innenraum des Schädels mit einem Zettel, einem Brief oder einer kompletten Beschreibung, sei es der Außenwelt oder sei es von sonst etwas, herum. Es gibt im übrigen auch nicht einfach Sender und Empfänger. Es ist eben nicht ein in den Kopf gebundenes world wide web, das wir unser Nervensystem nennen.44 Was diese Nervenzellen im Hirn transportieren, sind Erregungszustände. Dies ist nichts als die einfache Aussage, daß eine Nervenzelle zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv ist. Dabei ist deren Aktivität nicht allein davon abhängig, was in sie übermittelt wurde, eine Nervenzelle hat vielmehr eine Art ›Gedächtnis‹; sie ist aufgrund ihrer Einbindung in vormalige Erregungskreise bis zu einer bestimmten Höhe ›geladen‹.45 Kommt dann noch etwas 43

R.M. Gaze: Formation of Nerve Connections, London 1970. Vgl. V. Braitenberg, A. Schüz: Cortex. Statistics and Geometry of Neuronal Connectivity. 2nd thoroughly revised edition of Anatomy of the Cortex. Statistics and Geometry, Berlin et al. 1991. 45 O. Breidbach: Expeditionen ins Innere des Kopfes – Von Nervenzellen, Geist und Seele, Stuttgart/New York 1993. 44

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an Erregung hinzu, kann ihre Gesamtaktivität zureichen, eine komplette Aktivierung der Erregungsweiterleitungsfunktionen in dieser Nervenzelle zu starten. Ist die Zelle weniger eingebunden gewesen, wird eine gleichartige Erregung sich im physiologischen Antwortverhalten der Zelle schlicht verlaufen. Wie Sie sehen: Von Informationsfluß zu reden, ist angesichts der realen Vorgänge eines physiologischen Apparates mehr als beschönigend. Information ist nicht die Vorgabe, die im Gefüge der Neuronen weitergeleitet wird. Vielmehr wird die Erregung durch das Gefüge der Nervenzellen überhaupt erst konturiert. Die Information ist Resultat dieser endogen bestimmten Bearbeitung eines über ein Sinnesorgan ins Hirn transportierten Erregungszustands eines Sinnesorganes.46 Ich denke, es ist bedeutsam, sich diese Situation sehr eindringlich vor Augen zu führen. Hirnphysiologisch reden wir nicht über die Qualitäten, die Sie meinen als Sinnesdaten abrufbar zu haben. All das, was die Außenwelt auszumachen scheint, Farbqualitäten, Gefühle, Geruch, Raumanschauungen und Stimmungen sind nicht einfach in den Kopf hineingesteckt. Sie werden in ihm produziert. Es ist nicht einfach wie beim Telefon, wo eine Stimme digital zerhackt als binär codierte Erregungsfolge im Netz weitergegeben wird und dann in Umkehrung der digitalen Zerstückelung am anderen Ende der Leitung rekonfiguriert wird. So meinen wir ja dann mit unserem Gegenüber sprechen zu können. Die Regeln der Reizaufnahme sind im Hirn nicht extern vorgegeben, sie werden intern konfiguriert. Der Sprecher – um im Telephonbild zu bleiben –, der uns unsere Welt beschreibt, sitzt im Kopf. Das ist nun ja alles andere als Hegel. Es entspricht aber dessen »Schädelleere«, in der Hegel aufzeigt, welcher Hohlraum sich auftun kann, wenn man die Physiologie zu ernst nimmt.47 Insoweit ist dies dann aber doch in einer gewissen Hinsicht wieder Hegel. Denn was passiert hier? Es werden Signalfolgen nebeneinandergesetzt, die in sich unbestimmt sind. Das Hirn ordnet nun aber im Nebeneinander dieser Signalfolgen bestimmte Erregungsprofile einander zu. Das geschieht nicht durch ein übergeordnetes Verweisen, sondern ist Resultat systemintrinsischer Prozesse, in denen sich bestimmte Zustände definieren, in denen dann solch ein System wie das Hirn energetisch in einem bestimmten Zustand liegt. Von diesen Zuständen gibt es ganze Folgen, die sich zumindest insoweit definieren, als sie sich unterscheiden. 46

K. Holthausen: »Design für ein Gehirn oder Gehirn für ein Design?«, in: G. Rusch et al. (Hg.): Interne Repräsentationen. Neue Konzepte der Hirnforschung, Frankfurt/M. 1996, 92–113; K. Holthausen, O. Breidbach: »Self-organized feature maps and information theory«, in: Network: Computation in Neural Systems 8 (1997), 215–227. 47 Vgl. O. Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Eine Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997.

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Wir grenzen – systemintern – bestimmte Zustände von einander ab, ordnen bestimmte Zustände einander zu. Diese Zuordnungen knüpfen wir immer dichter und erhalten ein Gefüge von Ordnungszuweisungen, das in sich kontingent und in dieser Kontingenz bestimmend ist. Dieses ist unsere Welt. Nun spielt in dieses Zuordnen noch etwas hinein, was nicht hirnintrinsisch zu verstehen ist: Kultur. Sie werden vielleicht lachen, wenn diesen Term ein neurobiologisch Argumentierender in den Mund nimmt. Nur, Kultur umfaßt Handlungsanweisungen, Verhaltensmuster und explizit in Sprache und Stilvorgaben geprägte Normierungen eines Weltwahrnehmungsverhaltens. Sie können an sich selbst sehen, wie weit solche Normierungen tragen. So werden Sie Ihre Photographien immer als reale Wiedergaben einer Welt mit nach Hause nehmen. Es bedarf dann eines Photorealismus in der Kunst, um zu erkennen, daß wir uns mit unseren Photographien auf Bildverkürzungen eingelassen haben, die wir in der Malerei überhaupt nicht akzeptieren.48 Weswegen ein Maler wie Paolo Uccello ja auch so stolz war, seine Darstellung der dritten Dimension auf der Fläche demonstrieren zu können.49 Das, was wir wahrnehmen – und dies hat David Hockney in seinen Polaroids in wunderbarer Weise zum Augenschein gebracht50 –, ist eine Konstruktion. Farben und Formen werden uns kulturell vermittelt. Dabei spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Es ist nicht das Sehen, über das wir unsere Welt erkunden. Die uns erreichenden visuellen Stimuli sind in einem fortwährendem Umbau. Licht und Schatten changieren, die Beleuchtungsintensität wechselt, so daß ein Gegenstand dem Auge in immer neuem physikalischen Gewand erscheint. Dagegen setzt die Sprache einer bekannten Person gleichsam eine Landmarke. Es ist ein immer gleiches »Da ist ein Ball«, das für uns in der frühesten Kindheit ein im wechselnden Licht fortwährend neu konfiguriertes Erregungsspiel verschiedener Wellenlängen vor einem sich immer wieder ändernden, als solchem aber gar nicht begriffenen Hintergrund akustisch markiert und so die Vielfalt der optischen Erscheinungen als Einheit sichert. Die Lautmuster der Sprache formen die Dispositionen, nach denen sich das Auge auszurichten vermag. So kann ein Kind in den fortlaufend wechselnden Details visueller Stimulationen die Konstanten entdecken, die es mit der immer gleichen akustischen Marke assoziiert. So wird für es durch die Sprache das Visuelle strukturiert. Dabei ist – das nur als Nebenbemerkung – in der Tat

48

U. M. Schneede: »Kennzeichen des Fotorealismus«, in: U. M. Schneede (Hg.): Ausst.Kat. Amerikanischer Fotorealismus, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1972, 7–15. 49 E. von Radziewsky: Paolo Uccello. Reiterschlacht, Reinbek 1996. 50 http://www.hockneypictures.com/photos/photos_polaroids.htm.

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das Hirn top down durch die Kultur geformt (und eben nicht vice versa). Zu fassen ist damit die Welt nicht in der Objektivität eines Spiegelbildes, in der sich das Gefüge der einzelnen Daten zwar verzerren kann, ohne damit dann aber die Objektivität des Abbildes in einer ggf. nur nach internen Kriterien gestrickten Verweisstruktur zu verwischen. Zu charakterisieren ist vielmehr ein Innenbild, nach dem ein Außen konfiguriert wird. Zu beschreiben sind damit interne Repräsentationen.51 Das Außen ist nach den Dispositionen dieses Innen zu beschreiben. Das heißt, daß das, was wirklich der Fall ist, das ist, was wir im Kopf haben, und das ist im günstigen Falle: Geist. Nun ist eine derartig reduktionistisch ansetzende Hinführung zu dem, was sich hier dann so vornehm Geist nennt, natürlich noch kein Idealismus. Das Substantiv ›Hegel‹ scheint demnach dann als Label benutzt zu sein, das auf einen entsprechenden Argumentationsbau aufgebracht ist, um anzudeuten, daß in dem so geschnürten Paket ggf. mehr steckt, als es diese Argumentationsfolge in ihrer hier vorgelegten Explikation erkennen läßt, ohne Hegel damit systematisch ernst zu nehmen. Isoliert wurde in dieser Darstellung allerdings – und damit ist dies keine Hegelinterpretation im engeren Sinne – zumindest eine Denkfigur, die aus dem Hegelschen Denken herausgelöst wurde. Zu fragen wäre nun im Kontext einer Hegelinterpretation allerdings zunächst, ob das überhaupt geht, ohne den Ansatz des Denkens von Hegel selbst fundamental zu verletzen. Mein Argument, dies zu versuchen, ist, daß Hegel selbst in seiner Logik danach fragt, wie ein Formalismus als Formalismus zu explizieren ist. Dabei arbeitet er eine Denkfigur heraus, in der im Spiel von Grenze und Entgrenzung die Bestimmung des Unbestimmten nicht durch Vorgabe von Kategorien, sondern in der Entfaltung von Differenz erfolgt. Dieses Modell scheint nun aber einem Realisten, der die Außenwelt meint zum Maßstab nehmen zu können, extrem fremd. Die eingehendere Darstellung zeigt allerdings auf, daß dessen Realismus, denkt er ihn wirklich zu Ende, d. h. dekliniert er ihn auf der Ebene der Resultate der Einzelforschung durch, an sich nicht tragfähig ist. Die Neurowissenschaften selbst verlangen, die naive Idee, daß sich in den Operationen des Gehirns einfach eine Außenwelt abbildet, aufzugeben. Erfahrung auch nur zu beschreiben, scheint nur unter den Bestimmungen der Selbstreferentialität, als Entfaltung einer eigenen Bestimmtheit, möglich. Sinnvoll ist dieses Bestimmen nicht als Setzung interner Maßstäbe, sondern 51

O. Breidbach: »Innere Welten – Interne Repräsentation«, in: A. Schäfer, M. Wimmer (Hg.): Identifikation und Repräsentation. Grenzüberschreitungen, Bd. 2, Opladen 1999, 107–127.

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als ein Ertasten von Referenzen nachzuzeichnen. Dieses Ertasten von Referenzen vollzieht sich im Binnenraum der Repräsentationen, die die Welt darstellen, in der diese sich konfigurieren.52 Dieses Spiel, von innen nach außen zu schreiten und aus der Bestimmung der Differenz eigener Zustände zu erfassen, was an dem bestimmt ist, über das ich rede, ist einem Philosophen Hegelscher Provenienz zutiefst verinnerlicht. Es zeigt sich nun aber, und dies markiert dieser Text, daß solch eine Verinnerlichungsfigur nicht das spezifische Vergnügen einer Subcommunity der Philosophie darstellt, sondern Gemeingut gerade auch einer nicht unbedeutenden Gruppe der Naturwissenschaftler darstellt oder zumindest darstellen sollte. Dadurch, daß diese Naturforschung ihre eigenen methodischen Prämissen oftmals nicht reflektiert, schafft sie sich den Freiraum, das auszuloten, was in ihren Prämissen denkbar ist. Die Möglichkeit, das so Erfaßte direkt praktisch umzusetzen, mag dann zunächst darüber hinwegtäuschen, daß in all den derart gewonnenen Beschreibungen eine Perspektive vorausgesetzt ist, die auch die Erfahrung nach innen verweist. In einer zweiten Stufe der methodischen Sicherung des eigenen Wissens wird dies dann aber präsent und spätestens dann auch genutzt, wenn es darum geht, ein Modell von dem zu erarbeiten, was bisher im Rahmen einer theoretischen Vorgabe bestimmt werden konnte. Dann – das zeigt etwa die evolutionäre Robotics 53– wird das System des aufgrund solcher Prämissen erarbeiteten Wissens ineinander gesetzt und schlicht ausprobiert, ob solch ein Wissen dann auch etwas bewegt. Der Test liegt im Erfolg dieser Bewegung, die damit nicht Realität konstruiert, sondern die Praktikabilität des Konstruktes in seiner Funktion zu erfassen sucht. Dasjenige, was später diese Funktionen besser darstellen kann, wird das so gewonnene Bild einst ersetzen, ohne damit dann die vormalige Wissenschaft negieren zu müssen. Bleibt doch in einer Figuration, in der Hypothesen formuliert werden, klar, daß derartige Systeme nur Konstrukte, abgesichert in dem jeweils Gewußten, sein können. Dabei war es nicht von vornherein zu vermuten, daß ausgerechnet in der Weltsicht der Hirnphysiologen die Idee einer objektivierten Naturanschauung verabschiedet wird; und doch ist es so. Das Hirn operiert nach Maßgabe seiner Physiologie, es bildet die Außenwelt soweit ab, wie es in den Dispositionen seiner Funktion möglich ist, und buchstabiert den Text der Beschreibung dieser Welt in den Formeln der ihm eigenen Physiologie. Dabei

52

O. Breidbach: »Die Innensicht der Weltanschauung. Zum Konzept der internen Repräsentation«, in: H. Belting, D. Kamper, M. Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, 457–466. 53 V. Braitenberg: Vehicles. Experiments in Synthetic Psychology, Cambridge 1984.

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wird durch diese Buchstaben nicht nur die Wortfolge der uns so möglichen Beschreibung, sondern auch die Semantik und damit der Gehalt der uns möglichen Bestimmungen definiert. Es ist hier nur ernst zu nehmen, was wir wissen. Es ist weiterhin ernst zu nehmen, daß wir als Hirnforscher immer auch Biologen sind, die dieses Hirn nicht als vorgegebene Struktur, sondern als Produkt einer Evolution begreifen. Diese Struktur ist demnach Sediment einer über die verschiedenen Selektionsschritte der Evolution erwachsenen Bewährung.54 Dabei ist das Hirn nicht nur Regulator, sondern auch Resultat von Verhaltensprozessen. Damit – und auch dies kann ich hier nur andeuten – ist das Hirn nicht als eine fixe, einmal festgeschriebene Größe und damit als ein gehörig komplizierter Kristall zu beschreiben. Die in Gips oder Silber gegossenen Hirne der vormaligen Großen, die zuletzt von Michael Hagner beschriebenen Hirnportraitierungen, dokumentieren Fehldeutungen.55 Hirne sind nicht die auskristallisierten Formeln einer Weltdeutung und Weltbeschreibung; es sind nicht die objektivierten Supercomputer genialer Existenzen. Es sind dies Organe, die – eingewoben in ein komplexes Kommunikationsgefüge – Eigenbilder zu formulieren erlauben, in denen Eigenwert und Eigenbestimmung des jeweiligen »Organeigners« definiert werden können. Schneide ich solch einen »Computer« auf, so werde ich nirgendwo Welt und auch nirgendwo einen Gedanken entdecken. Dieser Gedanke oder auch eine Weltsicht ist in dieser Struktur nicht abgebildet, sie wurde in dieser Struktur nur formuliert. Die Wahrheit des Denkens in der naturalistischen Färbung reduziert sich auf die Aktivität der Neuronen, wie sie ggf. auch ein Roboter simuliert.56 Es sind Texturen im Hirn genutzt, in denen sich Funktionen abbilden, die genau darum auch mathematisch zu beschreiben sind. Diese Strukturen haben ihre Logik und funktionieren in ihr. Die Logik dieser Funktionen ist insoweit im Nervengewebe nur realisiert, sie ist damit im genealogischen Sinne auch generiert, aber nicht insoweit, als wir nunmehr ausschließlich mit dieser Art von wetware zu tun haben, wenn wir über Denken und Denkprozesse reden. Geist ist vielmehr auch außerneuronal – sei es im Rechner, sei es als mathematische Struktur – abbildbar.57 Insoweit macht denn auch 54

E. Sober: The Nature of Selection. Evolutionary Theory in Philosophical Focus, Cambridge, MA, 1984. 55 M. Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004; vgl. auch O. Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, a. a. O. 56 V. Braitenberg: Gehirngespinste. Neuroanatomie für kybernetisch Interessierte, Heidelberg 1973. 57 S. Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin 1991.

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die Rede von einer außerirdischen (eben nicht an die spezifischen Bedingungen humaner Hirnentwicklung gebundenen) Intelligenz Sinn. Hier ist dann eine Fiktion wie Lems intelligenter Planet Solaris vielleicht der bisher schönste Versuch, Intelligenz anders als in Nervengeweben naturalisiert zu denken:58 Die »Geist«- und Lebensform ›Solaris‹ re-repräsentiert die ihr vorgeführten Objekte, schafft sie damit aber nicht neu, sondern bildet sie in den eigenen Möglichkeiten nach. Dabei sind diese Größen so etwas wie interne Repräsentationen, die nunmehr in der Eigenbestimmtheit von Solaris aber fast bedrückend real wirken und so auch von denen, die Solaris beobachten wollen, als eigene Realität erfahren werden. Diese Beobachter finden in der Welt von Solaris, die ihre eigenen Vorstellungen aufnimmt, eine Gegenwelt, ein Panoptikum der eigenen Träume, in dem sie sich schließlich selbst verirren. Lem spielt hier mit den verschiedenen Ebenen von Realität und Repräsentation und verwischt Traum und Erfahrung, indem er die Objektivierungen eines Geistes als objektivierte Größen darstellt, die einen anderen Geist, der nicht die Kriterien besitzt, zwischen Traum und Realität des ersten zu unterscheiden, verwirren. Die immer perfektere Simulation des Äußeren, mit der Solaris die sie umkreisenden Beobachter in den Wahnsinn treibt, ist ja auch da nicht einfach nur der Abklatsch einer sinnlichen Vorstellung. Das, was die Beobachter selbst zu Versuchskaninchen werden läßt, ist, daß Solaris deren eigene Vorstellungsbilder realisiert, deren Schädelinnenwelt nach außen stülpt. Durch das bloße Abtasten des Anderen werden nun von Solaris deren interne Bestimmungen nach außen gesetzt. So werden deren Vorstellungen lebendig und gewinnen durch ihre Präsenz außerhalb des eigenen Vorstellungsraumes Identität. Im Letzten ist diese räumlich faßbare Realität einer Vorstellung dann auch nichts anderes als der Hyperraum einer Matrix, die in einem neueren Science fiction Film die Analogie Mensch und Maschine in ganz anderer Weise zeichnete. So können wir dann noch einmal mit Nagel fragen, wie es denn ist, sich im eigenen Vorstellungsgefüge gefangen zu denken? Ggf. könnten wir dann – an seinem Bild anknüpfend – formulieren: Untereinander sind auch wir im Nagelschen Sinne Fledermäuse. Gefunden haben wir so eine Phänomenologie, die im Geist der Naturalisierung alles, was für uns Welt ist, als Stottern der Neuronen entzaubert. Solch eine Welt ist dann eine Innere Welt, sie ist eine Vorstellung. Solch eine Welt ist auch in der Diktion der Neurowissenschaften in diesem Sinne nichts als Geist. Wobei dann dieser ›Geist‹ selbst wieder als ein Mechanismus 58

Vgl. die Verfilmung von S. Lems Roman: Solaris, UdSSR 1972, Regie: Andrej Tarkowskij; Buch: Friedrich Gorenstein, Andrej Tarkowskij; Kamera: Wadim Jussow.

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beschrieben wird, der in einer vorgegebenen Struktur einfache Signalfolgen verteilt. Dabei ist solch ein Mechanismus nicht einfach physiologisch aufzulösen. Schließlich ist solch eine Funktionalität nicht bloß neuronal, d. h. ausschließlich in den Funktionsketten der Nervenzellen, umzusetzen. So können wir Teilfunktionen solch eines hirngenerierten Memorierungsgefüges an unsere Sprache oder an externe Geräte auslagern. Dieser Schluß entbehrt nicht der Ironie. Die konsequente Naturalisierung führt zum Geist. Zu Ähnlichkeiten und Risiken lesen Sie bitte tradierte Textteile oder fragen Sie Ihren Philosophen oder Wissenschaftshistoriker. Wo stehen wir damit? Die neue Rationalität einer in Disziplinen gebrochenen empirischen Selbstversicherung ist auf Grund gelaufen. Sie wird aber nun nicht einfach dadurch flott gemacht, daß wir die Motoren auf Rückwärtsgang stellen. Es ist etwas anderes zu probieren, um aus den Untiefen unreflektierter philosophischer Contras herauszulavieren, die in ihren empirischen Bildvernebelungen ja immer wieder dort Land vor Augen führen, wo Abgründe sind, und in den vermeintlichen Tiefen des empirisch Auszulotenden doch oft erschreckend seicht bleiben. Der Kurs, der einzuschlagen ist, bestimmt sich also nicht in der Vorstellung alter Kurseinheitlichkeit, sondern in neuer Einsicht in eine eben veränderte Topographie dessen, was wir Geist nennen. Damit kommen wir dann auch noch einmal zurück zu dem eigentlichen Thema ›Wissenschaft und Wissenschaften‹. Dies bin ich hier nun nicht historisch angegangen. Hier wäre viel zu sagen zu Fehlrezeptionen, Verweisen und Abgrenzungen, denen zufolge die idealistische Philosophie, die sich als konzeptioneller Vorlauf, aber nicht als Gegenlauf zu den Wissenschaften verstand, historisch unkorrekt, aus dem Gefüge der Wissenschaftsdiskussionen herausgenommen wurde.59 Nur wäre hier zu fragen: Wie steht es denn mit dem Hegelschen Versuch einer einheitlichen Wissenschaft, die sich aus der Phänomenologie des Geistes gründet und deren systematisierendes Pendant wir dann in seiner Enzyklopädie des Wissens wiederfinden? Hier ist die Welt als das Wissbare in einen Strukturzusammenhang gebracht, der von der Phänomenologie des Geistes ausgeht. Wir vertrauen nun nicht mehr in die Geschlossenheit eines Denkgebäudes, das in der skizzierten Offenheit einer Weltversicherung, die um die nur relative Sicherung ihrer temporär/ historischen Existenz weiß, verloren ist. Die Hegelsche Vorgabe ist klar. Die Darstellung der Phänomenologie des Geistes gibt die Darstellung des Ereignisraumes, in den sich die speziellen Repräsentationen des Geistigen einblenden. Diese geistige Struktur ist in ihrer Kontingenz Vorgabe für alles Wissen. Die Topographie des Geistes 59

T. Bach, O. Breidbach (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling, Stuttgart 2006.

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ist demnach die Topographie unseres Wissens. Und dessen Repräsentation ist eben nicht einfach die Bibliothek. Wissen ist eben nicht nur die Anhäufung von Information. Wissen ist vielmehr eine immer selbstreferentiell zu fassende Größe. Wissen ist gewichtet und baut auf einem Bewußtsein um sich selbst auf. Ich will hier nicht einmal andeuten, was von der Entwicklung einer modernen KI wir – folgen wir dieser Konzeption eines eben nicht nur informierten Wissens – wegwerfen müssen.60 Im Prinzip haben wir diese Idee aufgenommen. Wir haben sie nur an einer entscheidenden Stelle geschwächt. Der Zustand des Geistes, wie er sich uns darstellt, ist das Resultat einer Entwicklung. Diese begründet ihn nicht, aber sie verstellt ihm auch nichts. Unser Begriff von Entwicklung ist der Begriff eines Darwinisten, demzufolge sich eine Funktion nach eigener Maßgabe etabliert. Sie ist da, weil sie da ist, und sie kann aus ihrem Dasein nichts anderes als ihre momentane Validität darlegen. Das ist so neu, und dies ist ganz anders, als es Hegel denken würde.61 Für ihn fiel eine genetische Betrachtung insoweit aus, als für ihn in ihr keine Begründungen zu erhalten waren. Wohl aber setzte er eine Genealogie des Geistes an, da er in dieser Geschichte die Dimension des Ereignisraumes Geist demonstrieren und ausloten konnte. Die Geistesgeschichte wird – interpretieren wir dies wohlwollend – damit zum Experimentierraum, in dem die Qualität des Geistigen darzustellen und in ihrer Tragfähigkeit zu erläutern ist. Erklärt wird das, was sich dann in diesem Raum ereignet, aus den strukturellen Vorgaben, in denen und mit denen sich Geist etabliert. Diese kritische Pointierung bleibt auch in der neuen Betrachtung erhalten, nur führt sie noch weiter und setzt ein irgendwie anders geartetes Korrektiv solcher Geschichte voraus. Bei Hegel wird in der Organik des Begriffs die Struktur verlebendigt, sie wird dann in der Organik in sich vernetzt und lebt eben aus dieser komplexen Binnenbestimmtheit, in der sich das Begriffliche konstituiert und sichert. Dieses Leben einer in sich rückgeführten, aus sich verweisenden Existenz, in der die Geistesgeschichte als Reifungsprozeß, die Vielfalt der Kulturen als Variationen eines Musters begriffen werden können, ist dem, der nach Darwin Entwicklung denkt, jedoch verschlossen. Für diesen sind alternative Versuche nicht Variationen, sondern parallel zueinander erwachsene Strukturen, deren Gesetzmäßigkeiten nur bedingt – im Verweis auf deren Geschichte – miteinander in Bezug gesetzt werden

60

H. Gardner: The Mind’s New Science. A History of the Cognitive Revolution, New York 1987. 61 O. Breidbach, M.T. Ghiselin: »Evolution and development: Past, present, and future«, in: Theory in Biosciences 125, 2 (2007), 157–171.

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können. Gesehen wird so eine Vielfalt von Alternativen, die nicht durch ein übergeordnetes Prinzip geeint werden können. D. h. dann auch: Die differenten Enkulturationen auch des Nervengewebes führen zu differenten Repräsentationsweisen, die nachzufassen, aber die nur bedingt ineinander zu überführen sind.62 So erzwingt gerade die Naturalisierung eine umfassende Historisierung der Perspektive. Das Resultat ist eine Fragmentierung des Raumes einer einheitlichen Weltrepräsentation. Tradiert werden methodisch eingegrenzte Perspektiven. Gefordert ist demnach, die Augen zu öffnen für eine neue Art der Rationalität, die nicht mehr zweifelsfrei einen Einheitsraum universaler Geltung reklamieren kann, sondern die sich in der historisch eingegrenzten Perspektivierung ihres Ansatzes beschränkt. Genau aus dieser Einschränkung gewinnt sie dann aber zugleich auch eine Position. Nicht mehr auf ein an sich unbestimmtes Außen, sondern auf sich selbst verwiesen, kann eine Betrachtung sich im Moment sichern. Sie kann dies, indem sie den Moment als geworden beschreibt und demnach nicht nur die Aussage x zu einem Zeitpunkt t, sondern die Aussage x in ihrer genealogischen Folge zum Zeitpunkt t beschreibt. Eine Aussage ist demnach nicht einfach in einem Gefüge möglicher Referenzen gesichert. Eine Aussage ist vielmehr in einem historisch gewachsenen Gefüge möglicher Aussagen bestimmt. Deren Genese kann zumindest im Prinzip aufgewiesen werden. So sind dann auch Aussagen paralleler Strukturen im Verweis auf ihre Geschichte miteinander in Bezug zu setzen. Dies kann zum einen dadurch geschehen, daß sich die Phylogenie der verschiedenen Perspektiven in ihrer Abfolge von Einzelschritten aufweisen läßt, oder es kann sein, daß solch eine Phylogenie eben nicht darzustellen ist. Im letzteren Fall kann dann die bloß heuristische Annäherung der beiden Perspektiven bewußt sein, so daß gezielt nach etwaigen Kontrollfunktionen oder etwaigen Ausgleichsoperatoren zu suchen ist.63 In dem Moment aber, in dem eine Partikularperspektive nicht mehr mit absolutem Anspruch auftritt, sondern sich auf ein zögerlich zurückhaltendes Tasten einläßt, in dem sie bestimmt, was ihr sicher sein könnte und wo sie ihre Antworten offenhält – in genau diesem Moment gewinnt sich aus dem tastenden Tun eine Gewißheit, die sie in einem bloß apodiktischen Tun nie hätte gewinnen können. Gefordert wird damit eine eigene Phänomenologie. Beschrieben wird darin nicht nur das Resultat, sondern die Genealogie der Bestimmungsgefüge, in 62

H. Putnam: Representation and Reality, Cambridge 61998. O. Breidbach: »Evolutive Entwicklung denken«, in: G. Frank, A. Hallacker, S. Lalla (Hg.): Erzählende Vernunft, Berlin 2006, 139–151. 63

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denen sich Wirklichkeit abbildet und damit Geltung bestimmt wird. Gefordert ist eine Phänomenologie, die insoweit aus dem Geist in die Geschichte heraustritt, die sie in ihrem Vollzug sehr ernst nimmt, ohne ihr dabei analytische Funktionen zuzuschreiben. Es geht um eine Phänomenologie als Vorspann einer eigentlichen strukturellen Analyse. Die Wissenschaften werden in dieser Phänomenologie als Resultate einer Geistesgeschichte begriffen, ohne daß damit eine neue Einheitswissenschaft gesetzt wird. Wissenschaft im Sinne einer am Absoluten orientierten Universalwissenschaft ist auch unter den Auspizien einer Naturalisierung nicht einfach in der Natur, der Mathematik oder dem Subjekt vorzufinden. Dabei geht diese Phänomenologie nicht auf das Außen, sondern – durchaus in nicht nur oberflächigem Sinne (und zwar in Bezug auf die operativen Strukturen jedes Formalismus) – mit Hegel auf das Innen. Analysiert wird die in eine Vielfalt methodisch differenzierter Aussagenräume gebrochene Rationalität in ihren methodologisch bestimmten Tradierungen. Es gilt, die Vielfältigkeit der Geschichte und der Geschichten im Neben- und Miteinander der Wissenschaftskulturen zu vermitteln. Offeriert wird damit keine Vorgabe für eine diese Detaillierungen bündelnde Universalgeschichte. Eröffnet wird nur ein Raum für mögliche Übersetzungen. Avisiert wird so etwas wie eine historisch fundierte philosophische Relativitätslehre, die nun aber explizit auf eine Weltformel verzichtet und so ihre eigene Struktur gewinnt. Das ist vielleicht zunächst nicht viel, aber dieses Wenige ist sicher.64 Das wiederum ist viel. Gefordert ist das ›Ernst Nehmen‹ der Relativierung. Möglich ist in diesem Bereich eine neue, die Geschichte als Geistesgeschichte ernst nehmende Positionierung. Wobei Geistesgeschichte nicht einfach als eine Ideen- oder Konzeptgeschichte zu schreiben ist. Die hier offerierte Geschichte fragt in viel stärkerem Maße nach den Randbedingungen, nach den strukturellen Konstanten und Varianten in einem Gefüge, das sich in einer historischen Folge eben nicht geradlinig, sondern genealogisch vermittelt. Auch hier ist der Darwinismus ernst zu nehmen. Und das Bild von dessen Geschichte ist nicht die strikte Hierarchie traditioneller Genealogien. Ihr Bild ist vielmehr das Geflecht der jüngst von Horst Bredekamp eindringlich beschriebenen Koralle,65 das in seinen Abfolgen zwar Verzweigungen kennt, aber selbst in diesen nur eine Abfolge zeichnet, deren Darstellung uns vielleicht schon ein wenig davon erkennen läßt, wie sich die interne Repräsentation von Welt und Geltung vermittelt und was dies bedeutet. 64

O. Breidbach: Deutungen, a. a. O. H. Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005. 65

Paradigmen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte Stefano Poggi

§1 Die ursprünglich auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte entstandene Idee eines den jeweiligen Wissens- und Forschungsstand begründenden und bedingenden Paradigmas und die fast unentbehrliche Notwendigkeit eines konsequenten Paradigmenwechsels haben keinen großen Einfluß auf die philosophische Geschichtsschreibung ausgeübt. Hierfür darf man sicherlich einige Vermutungen aufstellen und auch einige teilweise befriedigende Erklärungen vorschlagen. Die Tatsache bleibt dennoch unangetastet: Wir sind höchstens gewohnt, von einem ein bestimmtes philosophisches Milieu charakterisierenden »Denkstil« zu reden. Der philosophische Diskurs unserer Tage ist bereit, von »Denkstilen« zu reden und gewissermaßen auch einen eigenen, spezifischen »Denkstil« zu schildern. Aber der Begriff eines solchen »Denkstils« bleibt von jenem des »Paradigmas« unterschieden. Wir sollten uns jedenfalls nicht auf die Konstatierung des philosophischen Diskurses der Gegenwart beschränken. In dieser Perspektive hat ein echter philosophiegeschichtlicher Ansatz seine guten Gründe, und ich bin der Meinung, daß eine vorsichtige Anwendung des Paradigma-Standpunktes auf die Geschichte der Philosophie fruchtbar sein könnte. Das gilt in erster Linie für das 19. Jahrhundert, d. h. für einen Zeitraum, in dem die Dynamik des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels einer beeindruckenden Beschleunigung unterliegt. Ich werde mich also auf das Verhältnis zwischen den philosophischen Fragestellungen des 19. Jahrhunderts und der Entwicklung der wissenschaftlichen Tätigkeit jener Zeit konzentrieren. Die Erforschung jenes Verhältnisses könnte in der Tat zu einer gründlichen Revision der traditionellen Ansätze zwingen. Ich will mich aber nicht auf die Konstatierung einiger klarer Verbindungen zwischen der philosophischen Debatte und der Entwicklung der Wissenschaften (vor allem der Naturwissenschaften) beschränken. Dem typischen Paradigmenwechsel auf der Ebene der Wissenschaften gesellen sich auf der philosophischen Ebene Änderungen bei, deren Charakter eine weitere und gründlichere Untersuchung verdient. Auf keinen Fall darf man jedenfalls diese Änderungen als Folgen eines philosophieinternen Entwicklungsprozesses oder als einfache Modulationen eines domi-

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nierenden Denkstils betrachten. Diese Änderungen scheinen im Gegenteil einen gewissermaßen paradigmatischen Charakter zu besitzen, in dem Sinne nämlich einer wirklichen Neuorientierung des gesamten begrifflichen Apparates. Es scheint also möglich – wenn nicht notwendig –, das Szenarium des 19. Jahrhunderts aus neueren, umgreifenden Perspektiven zu umreißen. Und in dieser Hinsicht ist es hilfreich, einige interessante – und einfache – Beispiele zu geben. §2 Zuerst zur Bedeutung des Interesses für die im 19. Jahrhundert betriebene Erforschung des Lebendigen. Ich beziehe mich nicht nur auf die auf dem Felde der Entwicklungsgeschichte des darwinschen Evolutionismus geleistete Arbeit. Die historische Forschung hat sich auch auf die Entwicklung der Biologie als Wissenschaft und auf die Herausbildung neuer Forschungsrichtungen bezogen, wie im Fall der Zell-Theorie und der experimentellen Embryologie. Ein spezifisches Interesse hat der Entfaltung und den Veränderungen der Physiologie gegolten. Eine besondere Aufmerksamkeit wurde außerdem der Sinnesphysiologie und in neuerer Zeit auch der Neurophysiologie gewidmet.1 Die Menge der den »Lebenswissenschaften« gewidmeten Studien ist eindrucksvoll. Jedoch hat sich nicht nur diese Forschungsrichtung weiterentwikkelt. Sie wurde begleitet von einer wachsenden Reihe von Untersuchungen im Bereich der so genannten »exakten« Wissenschaften, vor allem der Physik. Das bedeutete auch die Prüfung der Beziehungen zwischen Mathematik und Physik; ferner ist die besondere Bedeutung einer großen Anzahl von Studien über Entwicklung und Präzisierung des Konzepts von Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Die Geschichte der Wissenschaften hat sich auf diese Art mit vielen für die wissenschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts relevanten philosophischen Fragestellungen auseinandergesetzt. Ich meine vor allem die typisch kantischen Probleme der Kausalität, der räum-

1

H. Schlüter: Die Wissenschaft vom Leben zwischen Physik und Metaphysik. Auf der Suche nach dem Newton der Biologie im 19. Jahrhundert, Weinheim 1985; E. Clarke, L.S. Jacyna: Nineteenth century origins of neuroscientific concepts, Berkeley (Ca.) 1987; E. Florey, O. Breidbach (Hrsg.): Das Gehirn. Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, Berlin 1993; O. Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und. 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997; M. Hagner: Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Darmstadt 1997; I. Jahn: Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiografien, Heidelberg 32004.

Paradigmen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte

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lichen und der zeitlichen Anschauung, der strukturellen Eigenschaften der Materie.2 So hat die Wissenschaftsgeschichte beträchtlich dazu beigetragen, einige bedeutende Grenzgebiete zwischen Philosophie und Wissenschaften zu beleuchten. Sie hat entscheidende Elemente geliefert, um zu erfassen, wie die Veränderungen des wissenschaftlichen Naturverständnisses auf die philosophischen Debatten des 19. Jahrhundert einen tiefen Einfluß ausgeübt haben. Daraus ist ein viel bewegteres und interessanteres Bild der Philosophie des 19. Jahrhunderts entstanden. Unter anderem wurde es in der Tat möglich, die Eigenschaften jener »akademisch« ausgerichteten Philosophien schärfer einzugrenzen, die von einer Grundneigung zur systematischen und in einem gewissen Sinne didaktischen Verarbeitung der philosophischen Problemstellung gekennzeichnet sind und in dieser Hinsicht auf der Grundlage einer aufmerksamen Rezeption der Daten aus der wissenschaftlichen Forschung argumentieren. Ich beziehe mich insbesondere auf den stark an der Erkenntnistheorie und an der praktischen Philosophie interessierten Neukantianismus in Deutschland (und auch in Frankreich) sowie auf die assoziationstheoretische Tradition mit ihren erkenntnistheoretischen und logisch-ontologischen Ausrichtungen in England. In erster Linie beziehe ich mich auf die Diskussionen über das a priori und die Kategorien. Es handelt sich dabei um Fragen, die eng an die zentralen Themen der wissenschaftlichen Psychologie anknüpfen. Bei genauerer Betrachtung muß jedoch auch jene Diskussion berücksichtigt werden, welche die Möglichkeit prüft, von Daten der wissenschaftlichen Beobachtung auf derselben Ebene wie von der Reflexion über das »Moralische« und über die Annahme gewisser, die menschlichen Intentionen leitenden »Werte« Gebrauch zu machen. Über die Natur und den Ursprung dieser »Werte« bestehen sehr unterschiedliche und oft widersprüchliche Interpretationen, vor allem über die Vertretbarkeit von wesentlich genetisch-evolutiven Erklärungssätzen. Die Geschichte der Philosophie scheint für solche Fragen kein besonderes Interesse gehabt zu haben. Es ist indessen offensichtlich, daß eine vermehrte Aufmerksamkeit einerseits für die »ideologische« Dimension der Entwicklung und der Rezeption des Darwinismus und andererseits für die Vorgänge, welche die Anfänge der Eth-

2

Y. Elkana: The discovery of the principle of the conservation of energy, London 1974; L. Krüger, L. Daston, M. Heidelberger, M. S. Morgan: The probabilistic revolution, 2 vols, Cambridge (Mass.) 1987; I. Hacking: The taming of chance, Cambridge 1990; K. Caneva: Robert Mayer and the Principle of the Conservation of Energy, Princeton 1993; D. Cahan (Ed.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth Century Science, Berkeley-Los Angeles 1994.

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nologie und der modernen kulturellen Anthropologie geprägt haben, eine klärende Wirkung haben könnte.3

§3 Im Moment gäbe es vielleicht nicht mehr viel anzufügen. Es wurden wohl bereits die notwendigen Empfehlungen an den Historiker der Philosophie des 19. Jahrhunderts gegeben, der ihre Geschichte nicht ohne eine gewisse Nähe zu den Tatsachen aufzeigen möchte. Die Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts sollte keineswegs von der Geschichte der anderen Phasen der Moderne unterschieden werden. Die Philosophiegeschichtsschreibung sollte deswegen all das, was die Wissenschaftsgeschichte hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringen wird, systematisch auf Konsistenz und Relevanz der aufgeworfenen Probleme und der angebotenen Lösungsansätze prüfen. Es empfiehlt sich, diese Perspektive einzunehmen, um das ganze Bild der Philosophie des 19. Jahrhunderts umzustrukturieren, angefangen von der Epoche des »klassischen Idealismus« selbst und den romantischen Ideen, die ja von den Problemen einer Wissenschaft von der Natur tief gezeichnet waren. Das gilt bis hin zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus, zu den Diskussionen, deren Anliegen die Stellungnahme zum Versuch einer »Naturalisierung« der Erkenntnis und vor allem des Denkens ist. Das bedeutet keineswegs ein Stillschweigen der philosophischen Reflexion, eine bewußte Vernachlässigung dieser letzteren. Man muß in vielen Hinsichten anerkennen, daß das Recht der philosophischen Reflexion auf ihre Einzigartigkeit von einer mindestens teilweise dem »klassischen Idealismus« verpflichteten Interpretationslinie der philosophischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts verteidigt wurde. Ich beziehe mich vor allem auf jenen interpretativen Ansatz, welcher die Bedeutung der intentional-expressiven Dynamik hervorgehoben hat, die das erkennende Subjekt mit seinem unbestreitbaren empirischen Gegebensein beim Aufbau einer Wirklichkeit entfaltet, die in der Intersubjektivität des Ausdrucks und der Kommunikation in all ihren Formen verankert ist. Die künstlerische Dimension hat in diesem Ansatz eine Vorrangstellung: Man denke vor allem an die Dichtung als eine direkte Ausdrucksform, welche die vom unvermeidlichen Gebrauch des Ausdrucksmittels verursachte Konditionierung zu vermin3

M. Ash, W. Woodward (Eds.): The Problematic Science. Psychology in the Nineteenth Century Thought, New York 1982; S. Poggi: I sistemi dell’esperienza. Psicologia, logica e teoria della scienza da Kant a Wundt, Bologna 1977.

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dern vermag. Eine (vermeintliche) Radikalität verleitet zur Hervorhebung der vorkategorialen, unmittelbar empathischen Intuition des poetischen Schaffens als eines wesentlich philosophischen »Akts«. Hierin wird die solide Beziehung sichtbar, die zwischen dem Radikalismus vieler Thesen des »klassischen Idealismus« in ihrer traditionellsten romantischen Lesart und dem »postmodernen« Willen zur Ablösung von jeder »berechnenden« Form der Vernunft, zur Überwindung des »Mythos der Technik« in all seinen Formen, besteht. §4 Ausgangs- und eigentlicher Angelpunkt jener Interpretationslinie ist die Annahme eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen der von den Naturwissenschaften und von den »Geisteswissenschaften« geleisteten Arbeit, genauer gesagt die Annahme der unbedingten Einzigartigkeit der Geisteswissenschaften und noch genauer der wesentliche Abstand der Naturwissenschaften von einem wirklich philosophischen Ansatz. Die Geisteswissenschaften wären indessen zu diesem Ansatz fähig, und zwar so sehr, daß schließlich die Philosophie als die »Geisteswissenschaft« schlechthin gelten würde. Auf der einen Seite überwindet die Philosophie jede metaphysische Perspektive als Trachten nach einer »letzten« Begründung; auf der anderen Seite (ich beziehe mich selbstverständlich auf Dilthey) zeigt sie sich als eine Form der Reflexion, die sich selbst die radikale und »natürliche« Annäherung an das eigentliche Wesen einer Erfahrung (der Erlebnisse) bewahrt, in der die Wirklichkeit sich dem erkennenden Subjekt darbietet. Wenn es stimmt, daß die Theoretisierung der Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften die philosophische Diskussion am Ausgang des 19. Jahrhunderts stark im Sinne einer Verteidigung der Besonderheit und der Irreduzibilität des »Wesens« des Menschen geprägt hat, so ist auch ihre frühere Formulierung während der Debatte um Programme und Projekte der Begründung der Psychologie als Wissenschaft überaus bedeutend. Dies macht verständlich, welche arrière-pensées und welche wirklichen Vorhaben die Vorstellung und Theoretisierung jener Unterscheidung begleiten. Zur gleichen Zeit haben sich lebhafte Formen des radikalen Denkens (nicht nur) in der philosophischen Kultur fest etabliert. Diese Formen können als Hinweise auf eine rege Sensibilität gegenüber der Wende gedeutet werden, die gerade von der ungeheuren Entwicklung der Wissenschaften und der daraus resultierenden Säkularisierung des Denkens, der Konzeption des Menschen von seiner Beziehung zur Natur bewirkt zu werden scheint.

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§5 Man soll niemals auf Objektivität verzichten. Die Planung und Programmierung wissenschaftlicher Erkenntnis, gegen die jene »geisteswissenschaftliche« Verteidigungslinie aufgebaut wird, ist jedoch stets von der Überzeugung begleitet, daß die Übernahme von Modellen aus den »rechnenden Wissenschaften« mit großer Vorsicht zu genießen ist. Diese Vorsicht, die keineswegs Ablehnung sein will, ergibt sich aus der wachsenden Überzeugung, daß die biologische Dimension die menschliche Natur weitgehend bestimmt; sie ist jedoch auch von der Überzeugung begleitet, daß es auf jeden Fall wichtig ist, die Besonderheit der Tätigkeit der menschlichen Psyche zu erkennen. Das heißt nicht, daß man sich der Verherrlichung der Irreduzibilität und der Unendlichkeit des »geistigen Lebens« hingeben soll. Vielmehr tritt hier der Wille zu Tage, die Dynamik des Bewußtseins und der Intentionalität unter Berücksichtigung der besonderen Kausalität des freien Handelns als eine Tätigkeit zur Geltung zu bringen, die in der Dimension der Zeitlichkeit angesiedelt ist und scheinbar nicht in die Zeitauffassung der »klassischen« Newtonschen Physik eingepaßt werden kann. Die Lektüre einiger wichtiger Dokumente der Reflexion über Grundlagen und Methoden der wissenschaftlichen Erforschung der Psyche würde genügen. In diesen Texten findet man das deutliche Bewußtsein, daß die rasche Übernahme von reduktionistischen Modellen nicht vertretbar ist. Aus einer solchen Lektüre wird ebenso ersichtlich, daß die Formulierung von Diltheys Programm der »Geisteswissenschaften« eine Art von Gehaltlosigkeit aufzuweisen scheint. Desweiteren enthüllt sich der wesentlich rhetorisch-ideologische Charakter der Voraussetzungen jenes Programms, sobald es mit der argumentativen Linie der zeitgleichen Reflexion über die Grundlagen und die Methoden einer experimentellen Psychologie konfrontiert wird. Man muß sich nicht sonderlich anstrengen, um all das zu begreifen. Es genügt, die Rezension zu lesen, die Hermann Ebbinghaus, einer der scharfsinnigsten Erneuerer der experimentellen Psychologie, 1894 den Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie von Wilhelm Dilthey gewidmet hat. Dilthey hielt es danach für angebracht, sich vornehmlich mit dem »Wesen der Philosophie« zu beschäftigen.4

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H. Ebbinghaus: »Ueber erklärende und beschreibende Psychologie«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane IX (1896), 161–205.

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§6 Auf Grund der dargestellten Beispiele wäre es also sinnvoll, eine vernünftige Erneuerung der üblichen Paradigmen in der philosophischen Geschichtsschreibung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ins Werk zu setzen. Ich beabsichtige keine radikale Erneuerung, und ich bin skeptisch gegenüber jedem Versuch einer »rationalen Rekonstruktion«, mit welcher man eine wirkliche Erklärung der Ideenentwicklung liefern wollte. Aber die zentrale Relevanz einer gründlicheren Erforschung der Beziehung von Philosophie und Wissenschaft bleibt unumstößlich. Ich beziehe mich selbstverständlich nicht nur auf die Naturwissenschaften, sondern auch – und zuförderst – auf die sogenannten Geisteswissenschaften, und zwar aus dem Grunde, daß die begrifflichen Grundlagen dieser letzteren eben in diesem Zeitraum gelegt wurden. In dieser Hinsicht wäre eine Neuorientierung in Richtung der Erforschung der Beziehung von Philosophie und Wissenschaft im Rahmen der Entwicklung einer »wissenschaftlichen« Psychologie sehr reich an Ergebnissen. Viele bedeutende Aspekte der philosophischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts könnten beleuchtet werden. Man sollte sich jedoch nicht auf diesen Zeitraum und auf Europa beschränken. Die Fragen, die so in den Vordergrund geraten, sind in vielen Hinsichten entscheidend: in erster Linie jene nach dem Bewußtsein in allen seinen möglichen Verzweigungen, vor allem aber selbstverständlich die nach dem Selbstbewußtsein. Das ist keine genuin neue Entdeckung, aber sicher die Bestätigung der Fruchtbarkeit einer Forschungslinie, die sich z. B. im Fall William James’ und schon früher in jenem Ludwig Wittgensteins (in Hinsicht auf dessen Beziehungen zur Gestaltpsychologie) als ergiebig erwiesen hat.

§7 Einer solchen Forschungslinie zu folgen, lohnt sich in jeder Hinsicht. Aber es würde sich vielleicht auch lohnen, die Voraussetzungen und die ersten Motive jener Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Psychologie ans Licht zu bringen und womöglich zu präzisieren. Wenn man also einer solchen Linie rückwärts folgt, ist das Zusammentreffen mit Hegel unvermeidlich. Ich beziehe mich dabei selbstverständlich auf die Phänomenologie des Geistes, also auf jenes Werk Hegels, in dem das Problem des Bewußtseins und dessen Beziehungen zum Selbstbewußtsein als das Problem gilt, als das Problem nämlich nicht nur der Arten und Weisen der vom Ich gegenüber

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der Welt eingenommenen Einstellung, sondern auch der Ausformungen und der Entwicklung jener Einstellung im Rahmen einer grundsätzlich genealogischen Auffassung des Bewußtseins. Ich denke hier vor allem an jene Seiten der Phänomenologie des Geistes, wo Hegels darstellende Analyse der verschiedenen Stufen und Ausbildungen des Bewußtseins die wirkliche und tiefe Bedeutung der metaphorischen Gegenüberstellung des Innen und des Außen erwägt, sich also mit den Anschauungen der Physiognomie und Cranioscopie auseinandersetzt.5 Auf jenen Seiten – aber sicher nicht nur auf jenen Seiten – ist der von Hegel eingenommene Standpunkt klar. Hegel – und das, was für die Phänomenologie gilt, gilt auch für den Hegel der Enzyklopädie – hegt die tiefe Überzeugung, daß die rasche und artikulierte Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung einen wachsenden, entscheidenden Einfluß auf die gesamte Auffassung des Menschen und dessen Beziehung zur Natur auszuüben begonnen hat. Hegel – im Einklang mit vielen der führenden Vertreter der sogenannten romantischen Wissenschaft – ist aber gleichzeitig von den potentiell gefährlichen Folgen einer solchen Veränderung in der Auffassung von Natur und Mensch überzeugt. Das bedeutet keineswegs eine zurückhaltende Stellungnahme, in erster Linie für das, was die Einschätzung der Rolle des Bewußtseins in dem gesamten Leben des Individuums betrifft. Wenn das Bewußtsein eine so enge, innige Beziehung zum Leben – zum tierischen Leben – aufweist, ist man gleichzeitig verpflichtet, die spezifischen reaktiven und aktiven Funktionen des Bewußtseins nicht zu vernachlässigen. Mit anderen Worten: Hegel ist sich einer kommenden, tiefgreifenden Veränderung der Auffassung vom Menschen vollkommen bewußt, und zugleich ist er fest überzeugt, man sollte, um diese Veränderung zu verstehen, den wirklichen Schwerpunkt und die echte Hauptfrage dieser letzteren durchsuchen. Und dieser Schwerpunkt, diese Hauptfrage ist eben das Bewußtsein.

§8 Die Ansichten Hegels bestätigen sich eindrucksvoll, wenn man den Gang der Ideen bezüglich einer wissenschaftlichen Begründung der psychologischen Analyse in Betracht zieht. Das gilt selbstverständlich vor allem für Deutschland – genauer, für den deutschsprachigen Raum. Man sollte sich auf die Jahre 1860–1870 konzentrieren, also auf das Programm einer wissenschaft5

Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], neu herausgegeben von H.-F. Wessels u. H. Clairmont, mit einer Einleitung von W. Bonsiepen, Hamburg 2006, 206 ff.

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lichen Begründung der Psychologie, wie es – den Ideen von Fechner und Lotze folgend – von Wundt entworfen und realisiert wurde.6 Eine These gilt als nicht immer klar ausgesprochene Voraussetzung jenes Programms. Die These lautet: Es gibt etwas »Inneres«, eine Seele, deren Innerlichkeit immer unerreichbar bleibt. Das hindert aber keineswegs, daß die Äußerungen einer solchen Innerlichkeit betrachtet und beschrieben werden können, analog den Erscheinungen des »tierischen« Lebens, wo man auf jede Vermutung über die tatsächliche Existenz einer »Lebenskraft« verzichten muß. Das Programm der wissenschaftlichen Psychologie hat seinen Hauptstützpunkt in der Sinnesphysiologie. Aber die Sinnesphysiologie jener Zeit konzentriert sich auf die Erforschung derjenigen Funktionen, die eine sozusagen »direkte« Untersuchung erlauben, d. h. die optischen und akustischen Funktionen. Auf eine umgreifende Untersuchung des gesamten Nervensystems – und das bedeutet vor allem: das Studium des Gehirns – wird praktisch verzichtet, und die Rechte der philosophischen Spekulation scheinen in vielen Hinsichten noch wohlbegründet zu bleiben. Es erübrigt sich fast zu bemerken, daß die Frage nach dem Bewußtsein (und nach dem Selbstbewußtsein) sich wieder als Hauptfrage erweist. Eine Hauptfrage nämlich, deren Lösung – oder deren Unlösbarkeit – in vielen Hinsichten zu einem neuen, hochproblematischen Paradigmenwechsel zu leiten oder zu zwingen scheint: zu dem Paradigmenwechsel, dessen Schwerpunkt sich in der Frage nach dem Unbewußten konturiert.7 §9 Man muß natürlich jede voreilige Verallgemeinerung, jede nur wörtliche Annäherung vermeiden. Aber man kann zugleich nicht umhin, nochmals die eindringliche Dynamik des Hegelschen Denkens hervorzuheben. Es ist in der Tat klar, daß Hegel – eben in dem Maße, in dem er konkret und genealogisch denkt – schon in seinem ersten Hauptwerk die wirklich treibenden Motive eines erneuerten, aber auch zunehmend problematischen Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaften aufzufassen in der Lage ist. Man erinnere sich nur – nochmals, und damit komme ich zum Schluß – an die

6

K. Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Ihre Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg-München 1993. 7 K. Röttgers: »Romantische Psychologie«, in: Psychologie und Geschichte 3 (1991), 24–64; O. Marquardt: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987; S. Poggi: Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica 1780–1830, Bologna 2000.

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Kritik der naiven Verwendung des Begriffspaares Innen-Außen. Nur das Denken setzt den Menschen in Stand, den oberflächlichen Charakter dieser Gegenüberstellung zu erklären. Nur das Denken – und also das wirkliche, vollkommene Bewußtsein, das sich den psychologischen Erklärungsansprüchen immer entzieht – kann das menschliche Leben in seiner prozessualen Ganzheit verstehen. »In der psychologischen Betrachtung« – so schreibt Hegel in der Phänomenologie8 – »sollte die an für sich seiende Wirklichkeit und die bestimmte Individualität aufeinander bezogen werden; hier aber ist die ganze bestimmte Individualität Gegenstand der Beobachtung; und jede Seite seines Gegensatzes ist selbst dies Ganze. Zu dem äußern Ganzen gehört also nicht nur das ursprüngliche Sein, der angeborne Leib, sondern ebenso die Formation desselben, die der Tätigkeit des Innern angehört; er ist die Einheit des ungebildeten und des gebildeten Seins, und die von dem Fürsichsein durchdrungne Wirklichkeit des Individuums. Dieses Ganze, welches die bestimmten ursprünglichen festen Teile, und die Züge, die allein durch das Tun entstehen, in sich faßt, ist, und dies Sein ist Ausdruck des Innern, des als Bewußtsein und Bewegung gesetzten Individuums. […] Der sprechende Mund, die arbeitende Hand, wenn man will auch noch die Beine dazu, sind die verwirklichenden und vollbringenden Organe, welche das Tun als Tun, oder das Innre als solches an ihnen haben; die Äußerlichkeit aber, welche es durch sie gewinnt, ist die Tat, als eine von dem Individuum abgetrennte Wirklichkeit. Sprache und Arbeit sind Äußerungen, worin das Individuum nicht mehr an ihm selbst sich behält und besitzt, sondern das Innre ganz außer sich kommen läßt, und dasselbe Anderem preisgibt«. Diese Worte Hegels könnten nicht nur als provisorischer Schluß gelten. Man könnte vielleicht erwägen, sie als eine immerwährende Mahnung zu akzeptieren.

8

Hegel: Phänomenologie, cit., 207–208. Vgl.: H. Drüe: Psychologie aus dem Begriff. Hegels Persönlichkeitstheorie, Berlin 1976; D. Henrich (Hrsg.): »Hegels philosophische Psychologie«, in: Hegel-Studien, Beiheft 19, Bonn 1979; A. Peperzak: Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philosophie des Geistes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987; L. Eley (Hrsg.): Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; J. Russon: The Self and Its Body in Hegel’s Phenomenology of Spirit, Toronto 1997; R. Brandom: Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge (Mass.) 2002; R. Pippin: The Persistence of Subjectivity, Cambridge 2004; P. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt/M. 2005.

Sektion IV

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Moral Ludwig Siep

Die Phänomenologie des Geistes von 1807 enthält fast alle Inhalte, die Hegel auch in den »Grundlinien« von 1821 und in der Sektion »objektiver Geist« der Enzyklopädie abhandelt. Aber sie kommen in anderer Reihenfolge und anderen Zusammenhängen vor. Und vor allem: Sie sind Inhalte einer »begriffenen Geschichte« des Geistes, die zugleich als eine Folge von Erfahrungen des Bewußtseins auf dem Weg zum absoluten Wissen dargestellt wird. Was bedeutet eine solche Erfahrungsgeschichte mit den Gestalten des sittlichen und moralischen Geistes in der Phänomenologie und was kann sie für die praktische Philosophie heute bedeuten? Die beiden folgenden Vorträge akzentuieren unterschiedliche Perspektiven für diese Fragen. Gemeinsam ist ihnen ein neuer Blick auf die Bedeutung von Erfahrung im praktischen Geist. Die phänomenologische Erfahrung ist weder nur eine Herkunftsgeschichte (Genesis) ohne Geltungsanspruch noch eine decouvrierende Aufdeckung einer »schlechten Herkunft« (Ottmann) als Vorwegnahme Nietzscheanischer Genealogie. Aber sie ist auch nicht im Sinne der Aufklärung eine Bildungsgeschichte der Menschheit als Illustration oder Demonstration der Entwicklung zu dem, was die Gegenwart endgültig über moralische Normen weiß. Sie bedeutet schließlich auch für Hegels Philosophie, wie Pippin hervorhebt, keine bloße Propädeutik (»Leiter«) für eine zeitlose Erkenntnis der Prinzipien des objektiven Geistes auf der Stufe des absoluten Wissens. Für Hegel gibt es keine strikte Trennung zwischen Genesis und Geltung. Die Erfahrungsgeschichte der Phänomenologie ist selber Teil der philosophischen Begründung und damit auch der Geltungsgrundlage von moralischen Kriterien und sittlichen Institutionen. Denn sie bewahrt die Erinnerung an die Umkehrung von Einseitigkeiten und Widersprüchlichkeiten in Formen der Sittlichkeit, des Rechts und des moralischen Bewußtseins – vergangenen, aber teilweise auch noch aktuellen. Aus solchen Widersprüchen der Normensysteme herauszukommen und aus »bewußtseinsverändernden« Erfahrungen zu lernen, ist sicher auch eine Aufgabe der praktischen Philosophie heute. Die Hauptgegensätze dieser Geschichte treten immer wieder auf und stellen sich auch heute in neuer Form: Einerseits braucht ein Gemeinwesen die Unerschütterlichkeit und Verläßlichkeit von Sitten und Normen

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(»Sittlichkeit«) – gerade dann, wenn neue technische Möglichkeiten und eine Vielfalt sich durchdringender Kulturen alte Selbstverständlichkeiten erschüttern. Damit zu vereinbaren ist aber in der Moderne die autonome Moral von Subjekten, die ihren Überzeugungen folgen, notfalls auch – wenn auch nicht, wie Ottmann zu Recht betont, in der Normalität des gewöhnlichen Lebens – ihrem abweichenden Gewissen. Und schließlich machen die modernen Gesellschaften, vielleicht in noch schärferer Form als in der Phänomenologie dargestellt, die Erfahrung des Wandels von Werten, Normen und Institutionen. Das sind nicht nur Erfahrungen mit Normkonflikten, sondern auch mit Normen und Sitten, unter denen die Würde und das Gedeihen der Individuen und Gruppen gelitten haben. Es gibt kaum ein drastischeres Beispiels einer Reihe von Erfahrungen im Zusammenbruch von Institutionen und Normen als die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die gesamte moralische und rechtliche Kultur der Bundesrepublik ist ja eine »bestimmte Negation« der politischen Kultur der NS-Zeit, aber darüber hinaus auch des Scheiterns der Weimarer Republik und des Kaiserreichs. Daß eine solche Synthese von sittlicher Verläßlichkeit, moralischer Autonomie und historischem Wandel die Aufgabe einer modernen Philosophie der Sittlichkeit ist, hat Hegel gesehen. Aber die Lösung, die er in seiner reifen Philosophie der Sittlichkeit, in der Rechtsphilosophie und der Enzyklopädie, gegeben hat, ist doch nicht mehr akzeptabel. Unter anderem deswegen, weil er die verschiedenen Mentalitäten (des sittlichen Vertrauens, der moralischen Reflexion und der interesselosen Formulierung des »Staatswillens«) auf verschiedene soziale Schichten und Funktionen verteilt hat. Selbst Hegels Version eines »Parlamentes«, die Gewerbekammer, erscheint im Wesentlichen als ein »volkspädagogischer« Raum der Vermittlung und Erklärung der vernünftigen Gesetze an die verständigen Schichten der Bevölkerung (Rechtsphilosophie §§ 302, 314). Vielleicht enthalten die Phänomenologie und die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst und der Religion aber noch mehr von der lebendigen Sittlichkeit einer öffentlichen Erfahrungsgeschichte mit »Taten« und Werken. Eine solche Sichtweise schlägt Robert Pippin vor. Dazu muß man die Geschichte der Taten und Werke des Geistes mit dem parallelisieren, was Hegel in der Phänomenologie von der individuellen Handlung sagt: daß sich erst in der öffentlich zugänglichen Tat, die nicht von den Interpretationen der anderen zu trennen ist, das Subjekt in seinen wahren Intentionen und in seinem wahren Charakter zeigt und selbst entdeckt. Wenn die Erfahrungsgeschichte der Phänomenologie als ganze nach diesem Modell verstanden werden kann als eine unabgeschlossene Geschichte der Selbstentdeckung des menschlichen Geistes in seinen sittlichen und ästhetischen Produktionen, wie Pippin vor-

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schlägt, dann wäre sie jedenfalls deutlich »moderner« als die Rechtsphilosophie. Denn deren Öffentlichkeit scheint eher eine Manifestation des objektiv Richtigen als eine Entdeckung nicht-entfremdeter Normen und Institutionen zu sein. Daß die Erfahrungsgeschichte des objektiven Geistes in der Phänomenologie keine bloße Fortschrittsgeschichte im Sinne der Aufklärung ist, sondern Rückfälle, Verengungen und »Vergessen« des schon an komplexeren Verhältnissen Erreichten enthält, ist unbestreitbar. Ob sie im Ganzen nicht doch einen »teleologischen« Charakter der notwendigen Ordnung auf ein Ziel hin hat, nach dessen Erreichen der Geist »die Zeit tilgt« und offene Erfahrungen über grundsätzliche Sitten, Rechte und Institutionen nicht mehr nötig hat – vielmehr allenfalls noch in »Detailfragen« –, war unter den Hegel-Interpreten seit je umstritten. Zwischen der offenen Selbstentdeckungsgeschichte und der teleologischen Vollendung ist aber für die moderne praktische Philosophie auch ein Drittes möglich: Sie könnte mit Hegel an »irreversiblen« Entdeckungen von Normen und Institutionen festhalten, durch die ein unhintergehbar neues Niveau des Bewußtseins erreicht wird. Auch Hegel rechnet dazu etwa die Menschen- und Bürgerrechte, wenngleich er ihren Abwehrcharakter gegen den Staat »unterbelichtet«. Aber die sittliche Verkörperung unaufgebbarer Rechte, vor allem auch von Mitwirkungsrechten, in konkreten Lebensformen, einer politischen »Kultur« oder auch einfachen Gesetzen und Verfahren, könnte einem kulturellen Deutungsspielraum offen bleiben, der unabgeschlossen ist. Hegel fordert ja in der Rechtsphilosophie (§ 259), daß Grundrechte in den alltäglichen Lebensformen einer Nation (»Nationalfreiheiten«) Fleisch und Blut werden müssen – sie gehören »zu jedem Stück Kleidung, das die Individuen tragen, zu jedem Stück Brot, das sie essen«. In modernen Gesellschaften jenseits der homogenen Nationalstaaten, die sich technisch und (multi)kulturell dynamisch entwickeln, kann eine solche Verkörperung kein abgeschlossener Vorgang sein. Sowohl für die Interpretation solcher irreversibler Erfahrungen wie für die Gestaltung neuer kultureller Konkretisierungen könnte der Kunst, vor allem der Literatur, eine große Bedeutung zukommen. Die meisten menschlichen Leidenserfahrungen sind erst durch die Literatur ins allgemeine Bewußtsein gerückt worden. Unterdrückungs- und Entwürdigungserfahrungen, etwa in den Beziehungen der Geschlechter und Rassen, konnten erst durch die Kunst zu kollektiven Gefühlen und Einsichten werden. Ohne das aber wäre es auch nicht zu institutionellen Konsequenzen gekommen. Ähnliches gilt seit Beginn der Industriegesellschaft für das Leiden unter einer völlig technisierten Welt und der Zerstörung von Naturräumen. Auch Erinnerungen an vergessene Potentiale menschlichen Zusammenlebens und kultureller Lei-

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stungen, wie sie alle »Renaissancen« prägen, haben in der Regel die Kunst (manchmal auch die Religion) als Avantgarde und die Philosophie als »nachlaufende« Reflexion benötigt. Aber ist nicht Hegels eigene Renaissance der Sittlichkeit gegenüber der Autonomiemoral Beleg für einen schlechten, antimodernen Klassizismus? Henning Ottmann verteidigt sie gerade angesichts der globalen Welt mit ihren Fernverpflichtungen und der Auflösung kultureller Differenzen als Identifikationsbedingung von Gruppen und Individuen. Er versteht den Primat der Sittlichkeit u. a. als einen in der Normalität des menschlichen Lebens unaufhebbaren Primat der Nahverpflichtungen und -interessen. Die Bande von Familien und Einzelstaaten haben zu Recht den Primat gegenüber der Gleichheit der Ansprüche aller Erdbewohner. Einen solchen berechtigten Vorrang der Nahperspektive des Handelnden (»agent-centered« reasons) gegenüber einer universalen Gleichberechtigung der Ansprüche vertreten auch viele moderne Ethiker. Allerdings ist damit über das Gewicht der Abwägungen noch nicht alles gesagt. Es kann begründet sein, den Notleidenden in der Ferne etwas mehr zu schulden als nur das, was übrig bleibt, wenn die Bedürfnisse der eigenen Umgebung auf einem hohen Niveau sozusagen »gesättigt« sind. Zumal dann, wenn durch diese Sättigung die Schäden und die Benachteiligungen für die »Fernsten« überproportional wachsen, wie etwa bei den Folgen des Klimawandels. Einen begrenzten Vorrang der selbstverständlichen Verbindlichkeiten, vor und außerhalb vertrags- oder diskursethischer Rechtfertigungen, nehmen viele Ethiker heute auch bezüglich der Schonung und Anerkennung von Kulturen und Religionen in pluralistischen Gesellschaften an. Wenn daraus aber nicht ein Rückfall hinter die Erfahrungen der neuzeitlichen Emanzipationsgeschichte werden soll, kommt es wiederum darauf an, wie sich moralische und rechtliche Ansprüche der Individuen zur Anerkennung der Kulturen und Traditionen verhalten. Sicher bedeuten diese »Sitten« für viele Individuen – vor allem für solche, die in ihrer Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit eingeschränkt sind – Orientierung und Stärkung der Selbstachtung. Aber zum einen darf kein Individuum auf bestimmte Gruppenzugehörigkeiten festgelegt werden.1 Zum anderen gibt es eine Basis unhintergehbarer Individualrechte – darunter das, jede kulturelle Zugehörigkeit frei aufgeben zu können –, die nicht den Ansprüchen sittlicher Traditionen untergeordnet werden darf. Auch hier hat Hegel aus der Sicht der Gegenwart eher die Probleme und »Kollisionen« benannt, die eine künftige Normentwicklung erst 1

Darauf hat vor allem Amartya Sen aufmerksam gemacht; s. Amartya Sen: Identity and Violence. The Illusion of Destiny, New York / London 2006.

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zu lösen hätte – im Rahmen einer öffentlichen Selbstentdeckungsgeschichte, aber auf der Basis irreversibler Erfahrungen. Auch wenn wir die Erfahrungsgeschichte der Phänomenologie doch entgegen Hegels Intentionen erst zu öffnen hätten, könnte sie einer jeden künftigen praktischen Philosophie helfen, ihre Aufgaben zu erkennen. Das gilt gerade auch hinsichtlich des Verhältnisses von verläßlichen Sitten und Naherwartungen zu universalen und von jedem autonom zu prüfenden moralischen und rechtlichen Normen.

Der Status der Literatur in Hegels Phänomenologie des Geistes. Über das Leben von Begriffen Robert B. Pippin

I Meine Frage ist einfach und vielleicht nicht von großer Bedeutung: Warum stellt Hegel ans Ende seines aufregendsten und originellsten Werks, der Jenaer Phänomenologie des Geistes, ans Ende eines Kapitels, das den Titel »Das absolute Wissen« trägt, ein Zitat oder vielmehr das signifikant falsche Zitat eines Dichters? (Der Dichter ist Schiller und das Gedicht »Die Freundschaft« von 1782.) Daraus ergeben sich unmittelbar zwei weitere Fragen: Warum beendet Hegel den Text nicht mit seinen eigenen Worten, und warum verwendet er statt dessen Worte eines Dichters? In Kürze werde ich mich den Details im einzelnen zuwenden, aber, wie bereits bemerkt, ist eine solche Untersuchung vielleicht gar nicht der Mühe wert. Manche Autoren, selbst Philosophen (die mit ganz wenigen Ausnahmen nicht gerade für einen erlesenen Stil bekannt sind), zitieren Dichter und andere Schriftsteller gerne, um Aussagen zusammenzufassen oder ein Argument mit einem dramatischen Gestus zu beenden, um ihre Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen oder einfach, um die Bürde einer langwierigen und schwierigen Analyse zu mindern. Es könnte sich also einfach um einen rhetorischen Kunstgriff handeln. Zudem waren die meisten Autoren zu Hegels Zeit häufig so belesen und mit den bedeutenden Schriftstellern so vertraut, daß sie ganz unbefangen aus dem Gedächtnis zitierten, häufig jedoch nachlässig und ungenau. Ein anderes sehr bekanntes, von Hegel verwendetes Dichter-Zitat, auch dieses fehlerhaft, steht in dem Kapitel »Die Lust und die Notwendigkeit«; es handelt sich dabei um vier Zeilen aus Goethes sogenanntem »Faust-Fragment« von 1790, doch auch in diesem Fall sind die Veränderungen philosophisch signifikant. Vielleicht ist aber alles doch nur Nachlässigkeit? Ehe man jedoch die Frage in dieser Weise kurzerhand abtut, sollte man einen Augenblick innehalten. Er zitiert hier nicht zum erstenmal ein literarisches Werk, und daher stellt sich im Zusammenhang mit den Zitaten eine allgemeine und keine besondere Frage. In der Phänomenologie des Geistes finden sich zahlreiche Beispiele für Zitate (neben Schiller gehören Goethe, Sophokles, Diderot und Jacobi dazu), und die Berufung auf sie erscheint kei-

Der Status der Literatur in Hegels Phänomenologie des Geistes

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neswegs als reine Illustration oder Zusammenfassung. Sie gehören als ein Beweismittel besonderer Art zu Hegels Text, der ein ungewöhnliches Thema zum Gegenstand hat – die »Selbsterfahrung des Geistes«. In der Erörterung der Sittlichkeit der Griechen oder des »wahren Geistes« ist die Sophokleische Tragödie nicht bloß die Illustration eines Phänomens, das Hegel interessiert, sondern sie ist das Phänomen selbst, und man kann sich nur schwer vorstellen, daß Hegel sagen könnte, was er über den Zusammenbruch der Autorität sittlicher Normen sagen will, ohne die attische Tragödie ins Zentrum seiner Diskussion zu rücken. (Die Textstellen werfen jedoch die Frage auf, ob ihre Bedeutung – wie es den Anschein hat – darin liegt, daß es sich hier um ästhetische Phänomene handelt, um Werke der Imagination, und nicht um historische oder gesellschaftliche Ereignisse.) Zum anderen handelte es sich um eine außergewöhnliche Epoche für die Entwicklung der deutschen Ästhetik, denkt man an die Positionen Lessings, Novalis’, Schillers, Schlegels und vieler anderer, die bereits vorlagen oder kurz vor ihrer Veröffentlichung standen, und es wäre durchaus ungewöhnlich, wenn sich bei Hegel nicht wenigstens Ansätze einer Theorie zum Verhältnis der Literatur (oder den schönen Künsten im allgemeinen) und der Philosophie finden würden, und es wäre ebenso ungewöhnlich, wenn sich nicht wenigstens einige Elemente einer solchen Theorie bei der Darstellung der Literatur in der Phänomenologie des Geistes auswirken würden. Selbstverständlich wird vieles erst später, in den Vorlesungen über die Ästhetik, die Hegel in den 1820er Jahren viermal vortrug, deutlich formuliert, aber einige Teile finden sich explizit bereits in der Phänomenologie des Geistes, und damit gibt das abschließende Zitat noch mehr Rätsel auf. Ich denke dabei zum Beispiel an die dramatischen Bemerkungen in der Vorrede über die Rolle der Schönheit in Hegels Werk. Der Abschnitt ist so verblüffend, daß ich mir gestatte, ihn hier in voller Länge zu zitieren. »Die Thätigkeit des Scheidens ist die Krafft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht, und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältniß. Aber daß das von seinem Umfange getrennte Accidentelle als solches, das gebundne und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche ein eigenes Daseyn und abgesonderte Freyheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das furchtbarste, und das Todte fest zu halten, das, was die größte Kraft erfodert. [Und nun folgt die entscheidende Bemerkung:] Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil

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er ihr diß zumuthet was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerissenheit sich selbst findet.«1 Diesen Passus könnte man im Einklang mit Hegels Kritik und seinem tiefem Argwohn gegenüber Schlegels Bemühen sehen, die Grenzen zwischen Philosophie und Dichtung zu verwischen, auch im Einklang mit Hegels abweisender Haltung gegenüber denjenigen, die sich zu sehr in dem verlieren, was er als »mythische« Dimensionen der Platonischen Dialoge bezeichnet. Aber im Licht der Phänomenologie des Geistes als ganzer betrachtet, muß man den Passus für eine Übertreibung halten, für zu einseitig. Die »scheidende« Kraft des analytischen Verstehens, harmonische Einheiten wie die des sittlichen Lebens aufzulösen, ja sie zu »zerreißen« und zu töten, wird hier in so hohem Maß gepriesen, daß man sich bei der Fokussierung auf einen isolierten Abschnitt wie diesen nur schwerlich vorstellen kann, wie Hegel je in den Ruf kommen konnte, ein »Versöhnungsphilosoph« zu sein. Wie Adorno scheint er eine vollkommene ‚negative Dialektik’ avant la lettre zu vertreten. Das heißt, daß in derartigen Formulierungen die Möglichkeit der Reintegration, von Aufhebung und Bejahung, nicht so evident ist, wie sie es sein könnte. Klar scheint zu sein, daß es dieser Gegensatz zwischen Schönheit und Verstand ist, der uns letztlich auf den Standpunkt der Vernunft vorbereitet, einen Standpunkt, auf dem die Einseitigkeit und Getrenntheit des Gegensatzes überwunden werden kann. Klar ist auch, daß die Überbetonung dieses Standpunktes korrigiert worden ist, ehe wir das Ende des Werks erreichen, und daß der Umstand, daß das »letzte Wort« dem Dichter überlassen bleibt, großes Vertrauen in dessen Kraft ausdrückt. Und dann ist da noch das Faktum, daß der extreme Gegensatz wie ein psychologisches Drama zwischen Schönheit und Verstand dargestellt wird (das heißt, in einem schönen poetischen Bild), nämlich durch die personifizierte metaphorische Behauptung, die Schönheit »hasse« den Verstand, weil er ihr zumute, was sie nicht vermag. Was aber ist es, was die Schönheit nicht vermag? Und warum mutet der Verstand der Schönheit wie eine tyrannische Figur in einem Drama etwas zu, was sie nicht vermag? Was sind das für Fragen? Wenn wir einfach für einen Augenblick die Sprache des Bildes übernehmen, dann ist das, was die Schönheit nicht vermag, offenbar das »Verweilen beim Negativen«, das Dem-Negativen-in-die-Augen-Schauen, das Ertragen des sich auflösenden Charakters der menschlichen Erfahrung des Menschlichen. (Hier wird die Erinnerung an Novalis’ Behauptung geweckt, daß die 1

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griechische Kunst den Tod und das »Negative« ästhetisiert und unterdrückt habe.) Das sind sonderbare Behauptungen, aber typisch und für Hegels Idealismus in gewisser Weise notwendig, weil Desintegration und Tod von einem ästhetischen Standpunkt aus nicht angemessen verstanden werden können und daher als kontingentes, unüberbrückbares Ereignis, als irrationale Größe erfahren werden. Angesichts der überragenden Bedeutung der ästhetischen Theorien von Kant und Schiller liegt darin jedoch eine wenig überraschende Annahme: Die besondere Funktion der Werke und Dinge der Schönheit besteht im Widerstand gegen die Desintegration und in der Schöpfung von Harmonie und Einheit. Andererseits – und das ist vielleicht von größerer Bedeutung – impliziert der Passus in recht subtiler Weise eine gewisse Beschränktheit seitens des analytischen Verstandes. Verlangt man von der »Schönheit«, etwas zu tun, was sie nicht vermag, ist das doch ein vernünftiger Grund für die Entrüstung der Schönheit und verweist auf den beschränkten Standpunkt des Verstandes, der auch andere Erörterungen Hegels zu diesem Vermögen in seinem übrigen Werk beherrscht (wie seine Kritik der modernen Philosophien der Reflexion (Locke, Kant) und die Gegenüberstellung von Verstand und Vernunft). Hierbei handelt es sich lediglich um Hinweise zur Verbindung zwischen imaginativen, ästhetischen Phänomenen, die Hegel mit einer Art lebendiger Einheit oder dem Widerstand gegen Desintegration verbindet, und den Grenzen des analytischen Verstehens. (Da es heißt, die Schönheit sei kraftlos, egal, um welche Verbindung es geht, wird sie (die Kunst) nicht die Kraft sein, die das, was auseinandergerissen worden ist, zusammenbringt, sie ist aber offensichtlich gut geeignet, solche neuen lebendigen Einheiten zu verkörpern und zu manifestieren, wenn sie sich entwickeln oder in anderer Weise zustandekommen.) Zumindest aber enthalten die Hinweise einige Andeutungen hinsichtlich des Ortes, den die Schönheit (und von nun an will ich mich auf Werke zur Literatur konzentrieren) in einer philosophischen Darstellung wie der Hegels einnimmt, und vielleicht auch hinsichtlich der viel stärkeren Behauptung der Unmöglichkeit, einen Versuch wie den Hegels zu unternehmen, ohne sich zumindest gelegentlich auf literarische Phänomene zu stützen. II Was also unternimmt Hegel in der Phänomenologie des Geistes? Offiziell ist sie die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns«, wie der ursprüngliche Zwischentitel lautet. Erfahrung kann jedoch nicht aus der Außenperspektive oder aus der Sicht einer dritten Person beschrieben werden. Wenn sie uns

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vergegenwärtigt werden soll, muß sie in gewisser Weise vom Standpunkt des erfahrenden Subjekts aus neu inszeniert werden. (Das führt uns schon dicht an unser Thema heran. Eine solche Neu-Inszenierung muß eine Art dramatischer Übung sein; nicht ohne Grund hat man daher die Phänomenologie des Geistes häufig als Bildungsroman bezeichnet.)2 Wir müssen erfahren, »was es heißt«, Geist zu sein. Aber von dieser Erfahrung heißt es auch, sie sei sich entwickelnd. Die Erfahrung selbst gilt als Bildung eines »natürlichen Bewußtseins«, das die Bürde vieler Dualismen trägt (Subjekt und Objekt, das Selbst und die anderen, Individuum und Gemeinschaft, Innen und Außen, Menschliches und Göttliches), bis hin zum Standpunkt des »absoluten Wissens«, das absolut ist, weil es einen Weg gefunden hat, die menschliche Erfahrung zu verstehen (und damit einen Weg des Erfahrens gefunden hat), welche diese Dualismen überwunden hat, ohne sie zusammenfallen zu lassen. Die »Maschine«, die diese Entwicklung vorantreibt, wird abstrakt als »das Negative« beschrieben, poetischer heißt es, sie sei eine Art »Gewalt«, die das Bewußtsein durch sich selbst erleidet, wenn es mit dem elementarsten Problem kämpft – dem Versuch, Selbsterkenntnis zu gewinnen. Solche vertrauten Beschreibungen werfen ein ganzes Bündel von Interpretationsfragen auf, aber es gibt eine allgemeinere Beschreibung von Hegels Anliegen, die uns der Funktion der Literatur näherbringt. Es handelt sich hierbei um einen Passus, der kurz auf die oben zitierte ungewöhnliche Schilderung des Hasses der Schönheit auf den Verstand folgt. »Die Art des Studiums der alten Zeit hat diese Verschiedenheit von dem der neuern, daß jenes die eigentliche Durchbildung des natürlichen Bewußtseyns war. An jedem Theile seines Daseyns sich besonders versuchend und über alles vorkommende philosophirend, erzeugte es sich zu einer durch und durch bethätigten Allgemeinheit. In der neuern Zeit hingegen findet das Individuum die abstracte Form vorbereitet; die Anstrengung sie zu ergreiffen und sich zu eigen zu machen, ist mehr das unvermittelte Hervortreiben des Innern und abgeschnittne Erzeugen des Allgemeinen, als ein Hervorgehen desselben aus dem Concreten und der Mannichfaltigkeit des Daseyns. Itzt besteht darum die Arbeit nicht sosehr darin, das Individuum aus der unmittelbaren sinnlichen Weise zu reinigen und es zur gedachten und denkenden Substanz zu machen, als vielmehr in dem entgegensetzten, durch das Aufheben der festen bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen und zu begeisten.«3 2

Wie zum Beispiel Josiah Royce in: Lectures on Modern Idealism, New Haven 1919, 147–156. 3 GW 9, 28.

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Diese Behauptung zur Verwirklichung und besonders zur »Begeistung« und Belebung/Verwirklichung des Allgemeinen stellt, so vermute ich, einen wertvollen Hinweis dar und ist gleichzeitig eine sehr treffende Charakterisierung der Aufgabe der Phänomenologie des Geistes. Die interessanteste Möglichkeit, dies zu verdeutlichen, ist vom wissenschaftlichen Standpunkt aus etwas riskant. Man müßte dazu nämlich den frühen Hegel zumindest teilweise und vorläufig im Licht des späten lesen. Ich meine damit den Berliner Hegel von 1820 und den Autor der vier Vorlesungsreihen zur Ästhetik (1820, 1823, 1826, 1828). Ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Hegel die wichtigsten Thesen dieser Vorlesungen während der Jenaer Zeit auch nur in Ansätzen formuliert hatte, aber es ist verblüffend, daß eine der Aufgaben, die er der Philosophie schon sehr früh zuweist – die »Belebung/Verwirklichung« von Begriffen oder Normen – in diesen Vorlesungen eine so entscheidende Rolle spielt.4 Vielleicht betrifft die zentrale begriffliche Behauptung in den Ästhetik-Vorlesungen die Frage der Lebendigkeit. Versteht man deren Rolle, so trägt das meiner Meinung nach dazu bei, die Berufung auf die Literatur in der Phänomenologie des Geistes zu erklären. Die Betonung der Lebendigkeit findet sich bereits in den frühen Vorlesungen der 1820er Jahre, setzt sich dann weiter fort und tritt in der Kompilation von Hotho besonders hervor. Und obwohl Hegel Kant seine Referenz erweist, weil dieser anerkannt hatte, daß die Kernfrage für ein Verstehen des ästhetischen Bereichs ein Problem der Reflexion, des Urteilens ist (und nicht bloß »des Sinnlichen« oder des bloßen Gefühls), kann man sagen, daß es die Lebendigkeit und insbesondere die Bedeutung der Lebendigkeit und nicht die Zweckmäßigkeit ohne Zweck oder die Harmonie als solche ist, die den angemessenen Fokus für eine jede philosophische Ästhetik darstellt. Eine typische Erläuterung zum Schönheitsbegriff betont zum Beispiel: »… den Anblick der selbständigen und totalen Lebendigkeit und Freiheit, welche beim Begriffe der Schönheit zugrunde liegt«,5 und es ist für Hegel nicht ungewöhnlich, wenn er bei der Diskussion der einzelnen Künste, besonders der Malerei und Lyrik, feststellt, daß »Lebendigkeit« und »die Freudigkeit des selbständigen Daseins« die wahren Gegenstände der Kunst heißen sollten.6 Einige seiner Aussagen sind sehr weitreichend und sind sowohl im Hinblick auf die Künste als auch im Hinblick auf die Struktur von Hegels System kontrovers. 4

Ich behaupte damit nicht, daß die Berliner Vorlesungen immer in dieser Weise verwendet werden können. Es bestehen auch große Unterschiede. Zum Beispiel in der Antigone-Interpretation. Siehe Allen Speight: Hegel. Literature and the Problem of Agency, Cambridge 2001, 52. 5 TWA 13, 198. 6 TWA 15, 62.

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Die folgenden Textstellen betonen die Bedeutung des vermittelnden Standpunktes, den die Schönen Künste hinsichtlich der menschlichen Erfahrung einnehmen. »Deshalb ist das Sinnliche im Kunstwerk im Vergleich mit dem unmittelbaren Dasein der Naturdinge zum bloßen Schein erhoben, und das Kunstwerk steht in der Mitte zwischen der unmittelbaren Sittlichkeit und dem ideellen Gedanken. Es ist noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein.« 7 Und: »Daher ist ihre [hier meint er die griechische Kunst] Weltanschauung eben die Mitte, in welcher die Schönheit ihr wahres Leben beginnt und ihr heiteres Reich aufschlägt; die Mitte freier Lebendigkeit, die nicht nur unmittelbar und natürlich da ist, sondern aus der geistigen Anschauung erzeugt, durch die Kunst verklärt wird; die Mitte einer Bildung der Reflexion und zugleich einer Reflexionslosigkeit, welche das Individuum weder isoliert, noch aber auch dessen Negativität, Schmerz, Unglück zur positiven Einheit und Versöhnung zurückzubringen vermag.«8 Nun ist im Hegelschen Universum die »Mitte« keine schlechte Position, und Hegel hebt dieses Vermögen der Künste so rühmend hervor, daß man zu überlegen beginnt, was die offizielle Struktur des Systems der Enzyklopädie wohl sein mag. »Das Denken aber hat nur Gedanken zu seinem Resultat; es verflüchtigt die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs, und wenn es auch die wirklichen Dinge in ihrer wesentlichen Besonderheit und ihrem wirklichen Dasein faßt und erkennt, so erhebt es dennoch auch dies Besondere in das allgemeine ideelle Element, in welchem allein das Denken bei sich selber ist … Das Denken ist nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität i m D e n k e n , das poetische Schaffen und Bilden aber eine Versöhnung in der wenn auch nur geistig vorgestellten Form realer Erscheinung selber.« 9 Oder man bedenke den Satz: »In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint.«10

7 8 9 10

TWA 13, 60. TWA 14, 26. TWA 15, 244. TWA 13, 61.

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In der Diskussion der Poesie finden sich sogar zwei Textstellen, die in der Tat sehr weit gehen, wenn sie betonen, daß die ästhetische Dimension nicht bloß Vorbereitung oder Propädeutikum oder Vorstellung ist, sondern für den angemessenen Ausdruck der philosophischen Wissenschaft innerlich unentbehrlich ist, und sie erhellen hierdurch die damit korrespondierende Unentbehrlichkeit der Phänomenologie des Geistes selbst. (Meine These ist hier also, daß die beiden bekannten Kontroversen – über die »Entbehrlichkeit« der Kunst in der Moderne und über die Entbehrlichkeit der Phänomenologie des Geistes für das »System« – eng miteinander verbunden sind.) Bei der Erörterung der Rolle der Dichtung in einem prosaischen Zeitalter, das von Trennungen und Dualismen belastet ist (das heißt, in unserem Zeitalter, das als solches seit der Differenzschrift bestimmt ist) bemerkt er folgendes. »Hier bedarf nun die Poesie einer absichtlicheren Energie, um sich aus der gewohnten Abstraktion des Vorstellens in die konkrete Lebendigkeit einzuarbeiten. Erreicht sie aber dies Ziel, so erlöst sie sich nicht nur von jener Trennung des Denkens, das aufs Allgemeine geht, und der Anschauung und Empfindung, welche das Einzelne auffassen, sondern befreit zugleich diese letzteren Formen sowie deren Stoff und Inhalt aus ihrer bloßen Dienstbarkeit und führt sie der Versöhnung mit dem in sich Allgemeinen siegreich entgegen.«11 Nachdem Hegel an anderer Stelle die »Phantasie des Gemüts« in gewohnter Weise von der Form des Geistes unterschieden hat, die sich mit der »durchgreifenden Allgemeinheit« und dem »notwendigeren Zusammenhange zum freien Selbstbewußtsein«, das heißt, mit der Philosophie befaßt, fährt er folgendermaßen fort: »Umgekehrt jedoch ist diese Form andererseits mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Elemente des Denkens als der bloß ideellen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise, als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung, auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des ganzen Inneren zu haben und zu geben.«12 Ich bin mir sicher, daß die Formulierungen »mit der Abstraktion behaftet« und »nur in dem Elemente des Denkens« nicht nur mich überraschen; sie klingen, als sei die traditionelle Auffassung der Beziehung des Sprechers zum 11 12

TWA 15, 282. TWA 15, 437.

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»absoluten Wissen« – das der Satz auf die Selbstbestimmung des »Denkens« in der Wissenschaft der Logik bezieht – schon an sich selbst einseitig und unvollständig, wenn sie nicht mit dem Ausdruck des Denkens »konkret« zusammengedacht wird. Die Textstellen lassen vermuten, daß viele HegelKommentatoren durch seine Behauptungen zur »Unvollständigkeit« und Voreingenommenheit religiöser und ästhetischer Darstellungen ein Stück weit irregeleitet worden sind, als sei es Hegels Absicht, daß das Bild wie ein einfacher Aufstieg zum Vollendeten und Unendlichen erscheint, der alles hinter sich läßt, was nicht so ist. Selbst auf den ersten Blick ist dies ein nicht-dialektisches und wenig überzeugendes Bild vom »Reich« des absoluten Geistes. Außerdem handelt es sich hierbei um eine entscheidende Frage, die zumindest bis zu Glauben und Wissen zurückreicht und das ganze Hegelsche Projekt wesentlich bestimmt. Das heißt also, die Frage, wie wir die Unentbehrlichkeit ästhetischer Repräsentation bei der Darlegung und Veranschaulichung der Wahrheit des Begriffs verstehen, spielt schon beim frühen Hegel eine wichtige Rolle, wenn er betont, daß Kant von seiner größten Einsicht abgewichen ist, als er eine abstrakte Trennung der Beiträge von Begriff und Anschauung zur Erfahrung vorgenommen hat. Die Textstellen sind bekannt, und das mit Recht. Hegel stellt seine eigene »organische Idee der productiven Einbildungskraft« dem gegenüber, was er als die Idee Kants ansieht: »… das mechanische Verhältniß einer Einheit des Selbstbewußtseyns, die im Gegensatz gegen die empirische Mannichfaltigkeit und für sie bestimmend oder über sie reflectirend ist.«13 Und er fährt fort, daß Kant selbst (in der Deduktion der zweiten Auflage) seine eigenen offiziellen Behauptungen über die Genauigkeit der epistemischen Trennbarkeit zwischen Begriffen und Anschauungen in der Erfahrung unterminiert.14 Wenn man Bemerkungen dieser Art im Licht von Hegels Darstellung der Unentbehrlichkeit ästhetischer Repräsentation bei der Formulierung philosophischer Wahrheit und im Licht seines Beharrens auf der Notwendigkeit, unsere Begriffe zu »begeisten und zu verwirklichen«, in der Phänomenologie des Geistes betrachtet, dann liegt die Vermutung nahe, ein besseres Verständnis Hegels verlange, in seiner Berufung auf Kunst und Literatur sehr viel mehr als die bloße Invokation reicher, lebendiger Beispiele zu sehen und sie klar von einer bloßen Propädeutik zu trennen, die schließlich zum Aufgeben gerade solcher Ausdrucksformen führt. Die gefühlsmäßiger Erfahrung 13 14

GW 4, 343. GW 4, 327.

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inhärente Begrifflichkeit, die sowohl von einer »Bestimmtheit durch den Gedanken« als auch von jeder vermeintlich gefühlsmäßigen Unmittelbarkeit verschieden ist, scheint genauso auf dem Spiel zu stehen, wie die Annahme, leibliche, öffentliche Handlungen enthielten oder manifestierten praktische Intentionen, und wie die »Logik« der Beziehung zwischen diesen Intentionen und Handlungen. Inwiefern könnten die Worte am Ende der Phänomenologie des Geistes zu diesem Problem einen Beitrag leisten?

III Zunächst benötigen wir einige Details aus den letzten Abschnitten des letzten Kapitels. Der in allgemeiner Hinsicht wichtigste Punkt ist, daß die Diskussion in diesen Abschnitten ständig darauf hinweist, wie irreführend es ist, wenn man die Phänomenologie des Geistes mit Hilfe des Wittgensteinschen Bildes versteht, das so oft in den Auseinandersetzungen um dieses Buch heraufbeschworen wird – daß sie eine Leiter sei, die man wegstoßen muß, sobald man sie erklommen hat. Natürlich trifft es zu, daß Hegel selbst dieses Bild verwendet: »Die Wissenschaft von ihrer Seite verlangt vom Selbstbewußtseyn, daß es in diesen Aether sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fodern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche.«15 (Man kann hier bereits erkennen, daß es um das Problem geht, leben zu können, und um das Leben selbst.) Aus den besprochenen Textstellen ergibt sich, daß es ganz falsch wäre, aus diesem Bild zu folgern, man könne eine solche Leiter »wegstoßen«. Das Ergebnis wäre, daß der Standpunkt buchstäblich »zu Boden fällt«, »zusammenbricht«. Ein derartiger Irrtum entspräche dem Gedanken, die Wissenschaft der Logik lieferte so etwas wie ein begriffliches »Fundament« oder läge der wirklichen Struktur der Welt und ihren Erscheinungsformen zugrunde.16 In diesen Abschnitten ist die Sprache ungemein 15

GW 9, 23. (Auch hier findet sich, möchte ich behaupten, wieder derselbe Denkfehler, daß nämlich entweder die Kunst keine relevanten oder wichtigen Wahrheiten darstellen könnte oder daß die vermeintlich »höheren« Wahrheiten der Philosophie vollständig und vollkommen allein in Begriffen ausgedrückt werden könnten, ohne eine »Wirklichkeit« der Begriffe, weil Hegel in den Vorlesungen zur Ästhetik behauptete, die Kunst könne nicht allein die höchsten Wahrheiten des Geistes über sich selbst vermitteln. Aber hierbei handelt es sich eindeutig um einen anderen Gegenstand.) 16

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komprimiert, aber selbst in den abstraktesten Formulierungen spürt man etwas von dem, worauf Hegel hinauswill. Zum Beispiel: »Es muß aus diesem Grunde gesagt werden, daß nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist, oder wie dasselbe auch ausgedrückt wird, was nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges … vorhanden ist. Denn die Erfahrung ist ebendiß, daß der Inhalt – und er ist der Geist – an sich, Substanz und also Gegenstand des Bewußtseyns ist. Diese Substanz aber, die der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als diß sich in sich reflectirende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist.«17 Formelhafter ausgedrückt: »Wie der daseyende Geist nicht reicher ist, als sie [d. h. die Wissenschaft – RP], so ist er in seinem Inhalte auch nicht ärmer.«18 Und in einer fast biblisch anmutenden Textstelle: »Die andere Seite aber seines Werdens [d. h. des Subjekts – RP], die Geschichte, ist das wissende sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäusserte Geist; aber diese Entäusserung ist ebenso die Entäusserung ihrer selbst; das Negative ist das Negative seiner selbst.«19 (Ich verwende hier den Begriff biblisch, weil »Entäußerung« in Luthers Bibelübersetzung der Begriff für »kenosis« ist, und Miller, der englische Übersetzer, hier Entäußerung tatsächlich mit dem transliterierten Wort »kenosis« wiedergibt.20 Auch der religiöse Begriff von Gottes »Entäußerung« in die Welt, nicht als Verlust (begrifflich als Verlust der Bestimmtheit), sondern als Selbstverwirklichung verstanden, spielt für das poetische Ende bei Hegel eine große Rolle. In Verbindung mit den Bemerkungen über Schönheit und Verstand, in Verbindung mit der Betonung von Belebung/Verwirklichung und Begeistung, in Verbindung mit der Rolle, die einer solchen Belebung/Verwirklichung durch die Vorlesungen über Ästhetik zugewiesen wird, bereiten uns diese Formulierungen auf den Schlußpassus vor. Den Zweizeiler, der die Phänomenologie des Geistes beendet, hat Hegel der ersten Version von Schillers Gedicht »Die Freundschaft« von 1782 entnom17

GW 9, 429. GW 9, 432. 19 GW 9, 433. 20 Ich bedanke mich bei Terry Pinkard für einen Austausch in dieser Sache. Pinkards Übersetzung der Phänomenologie wird bald erscheinen. 18

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men. Wie bereits gesagt wurde und wie wir noch genauer sehen werden, hat Hegel das Reimpaar falsch zitiert. Überdies zitiert er es ohne jeden Kontext, da ja das Gedicht als ganzes die Freundschaft zwischen zwei Personen betrifft, die im Gedicht als Beispiel oder Bild sowohl für eine mögliche Aussöhnung zwischen dem »Geisterreich« und dem Körperweltgewühle, als auch zwischen dem isolierten Selbst und einem Anderen dargestellt werden. Hegel richtet bei dem Problem seine Aufmerksamkeit nur auf die Seite des Göttlichen. Ein alles andere umfassender Gedanke des Gedichts, ein Gedanke, der Hegel besonders ansprach, ist, daß Freundschaft so etwas wie eine göttliche Logik in der Welt ausdrückt, derzufolge man sich selbst nur durch die Spiegelung in einem anderen kennt oder liebt (»Nur in dir bestaune ich mich«, Strophe fünf), und daß dies auch auf die Beziehung des göttlichen Schöpfers zu seinen Schöpfungen zutrifft, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß ein Weltenmeister niemanden finden kann, der ihm ebenbürtig ist, der einen wahren Spiegel seiner selbst darstellen könnte, und er sich statt dessen einer »schäumenden« Unendlichkeit gegenübersieht. Liebende Menschen können eine göttliche »süsse Sympathie« für einander empfinden. (Eins der besten Reimpaare ist: »Tote Gruppen sind wir – wenn wir hassen/Götter – wenn wir liebend uns umfassen.«) Hier nun die ursprünglich letzte Strophe von Schillers Gedicht. Freundlos war der grosse Weltenmeister, Fühlte Mangel – darum schuf er Geister, Sel’ge Spiegel seiner Seligkeit! – Fand das höchste Wesen schon kein gleiches, Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches Schäumt ihm – die Unendlichkeit. Hegel zitiert jedoch nur zwei Zeilen: aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit. Diese kurzen Zeilen weisen mehrere Abweichungen vom Original auf, die alle den Effekt haben, Schillers Werk wie einen getreuen Ausdruck von Hegels Theorie erscheinen zu lassen. (i) In den abschließenden Sätzen des Kapitels, unmittelbar vor dem Zitat, bezieht Hegel sich auf den Weltenmeister, als bezöge er sich auf den »absoluten Geist«, und unterstellt, daß ein solches Göttliches das »leblose Einsame« wäre (auch hier findet sich wiederum der Bezug auf die Lebendigkeit), wäre da nicht dieses »Aufschäumen« seiner eigenen Unendlichkeit, die von Hegel als die »Erinnerung« seiner eigenen tatsächlichen Wirklichkeit interpretiert wird. Die zwei Zeilen, die Hegel neu

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formuliert, weisen mit anderen Worten darauf hin, daß in den Erzeugnissen des Geistes befriedigende Selbstanerkennung und offenkundige Selbstzufriedenheit liegen. (ii) und (iii): Der »Kelch des ganzen Seelenreiches« ist zum »Kelche dieses Geisterreiches« geworden. Und (iv) ist »die Unendlichkeit« »seine Unendlichkeit« geworden. Um es noch einmal zu wiederholen: Das Originalzitat weist darauf hin, daß der Mensch in Liebe und Freundschaft Einheit und Trost finden kann, wie ihn jedes göttliche Wesen, so göttlich es auch sein mag, ebenfalls braucht. Hegels Version verlagert aber die Betonung auf das, was mit der Perspektive des »absoluten Geistes« erreicht wird, und auf die Erfahrung des Subjekts von sich selbst in der Unendlichkeit seiner Welt. Auch wenn Schiller an anderer Stelle, in Strophe acht, auf »zahlenlose Geister« verweist, wird dieser Passus dadurch »hegelianisiert«, daß in den letzten Zeilen der Geist die Stelle der Seele einnimmt; er stellt die Frage nach der Erfahrung des Geistes von sich selbst in seinen eigenen Schöpfungen, nach der historischen Errungenschaft nicht entfremdender Praktiken und Institutionen, d. h. des Geisterreiches, und nicht nach »der« Unendlichkeit der unabhängigen (oder wie in Hegels Anthropologie »natürlichen«) Seelenwelt. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein terminologisches Problem. Das Problem enthält eine Antwort auf die natürliche Frage, ob Kunstwerke sich für Hegels Absichten in der Phänomenologie des Geistes in besonderer Weise eignen. Das Reich des Geistes ist das Reich der Erzeugnisse des Geistes und insbesondere der gedanklichen Versuche der Selbsterkenntnis. Der Geist ist paradoxerweise, so heißt es bei Hegel, »ein Resultat seiner selbst«. Er ist, was immer er selbst unter sich versteht, wenn er dazu gelangen kann, sich selbst als in seinen Erzeugnissen ausgedrückt zu verstehen.

IV Das Zitat und Hegels Modifikationen führen zu verschiedenen Problemen, ich möchte aber abschließend hier nur zwei erwähnen. Erstens: Die Textstellen machen uns mit der Art und Weise vertraut, wie Hegel den zentralen Kern seiner Philosophie sehr häufig formuliert und charakterisiert. Dieser Kern ist das Problem der Freiheit oder der Selbstbestimmung des Geistes und dessen, was man unter der wahren »Verwirklichung« der Freiheit versteht. Zum einen besteht das Problem darin, zu verstehen, wie die freie Aktivität, Urteile zu fällen, einen Standpunkt gegenüber den Dingen einzunehmen, den verlangten objektbezogenen Sinn, die Gerichtetheit auf Objekte haben kann, die für ein solches Urteilen notwendig sind. Da gibt es dann auch noch die Frage nach den normativen Beglaubigungen solcher

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Urteile. Wenn sie »frei« gefunden und keine geistigen Ereignisse, die uns widerfahren, sind, wie begründen wir vor uns und den anderen das Erheben solcher Ansprüche? Die Beziehungen zwischen den empirischen und den nicht-empirischen, den ästhetischen und den praktischen Urteilen sind bei dieser Frage alle mit im Spiel. Zweitens: Wenn Hegel die Frage nach dem intentionalen Handeln stellt, sind dieselben Probleme involviert. Wie soll man die Entwicklung und Ausführung von Intentionen verstehen, die allein eine Angelegenheit »innerer reflektiver Überlegung« zu sein scheinen, sowie die »anderen«, die »äußeren« Bewegungen im öffentlichen Raum, die aus solchen Entschlüssen zu erwachsen scheinen? In beiden Fällen reagieren wir auf Einsichten in das, was man glauben und was man tun soll, und das Reagieren auf Einsichten ist in der postkantischen Tradition mit der Ausübung rationalen und daher freien Handelns gleichzusetzen. Das Problem besteht bekanntlich darin, daß wir nicht bloß oder ausschließlich auf Einsichten reagieren. Wir sind den Naturgesetzen bei der Ausübung unserer sinnlichen Vermögen genauso unterworfen wie im Sturm unserer Leidenschaften und Instinkte und wie bei unseren Bewegungen im Raum. Und in beiden Fällen, so legt Hegel häufig nahe, besteht das grundlegende »logische« oder begriffliche Problem darin, die logische oder begriffliche Beziehung zwischen dem »Inneren« und dem »Äußeren« (was man auch als Beziehung zwischen Geist und Welt im Denken und Handeln bezeichnen könnte) richtig zu verstehen, und in beiden Fällen teilt er uns wiederholt mit, daß man diesen Punkt nicht als eine Dualität, sondern als eine Art spekulative Identität auffassen solle. Angesichts solcher Formulierungen klingt jede Zusammenfassung von Hegels Position zur spekulativen Identität genauso metaphorisch und opak wie seine Rede über ein göttliches Wesen, welches das Aufschäumen seiner eigenen Unendlichkeit aus einem Kelch erfährt. Denn er sagt Dinge wie: Die Begriffe und das Mannigfaltige sollte man nicht in der Weise verstehen, als ob die Bildung oder die Anwendung eines Begriffs von einer Norm abhänge, die durch ein exogenes »Materielles« eingeschränkt oder erzwungen oder direkt und unmittelbar geleitet wird. Vielmehr »negiert« der Begriff seinen eigenen separaten oder logisch distinkten Status und »negiert« damit sich selbst oder, wie man vielleicht sogar sagen sollte, »gibt sich seinen eigenen Inhalt«.21 Da diese Formulierungen eine merkwürdige Abhängigkeit von der

21

Im folgenden findet sich eine typische Aussage zur Negation, die für den heutigen Interpreten ebenso provozierend klingen muß wie für die Hörer und ersten Leser damals: »Ich ist nun diese Subjektivität, diese unendliche Beziehung auf sich, aber darin liegt, nämlich in dieser Subjektivität, die negative Beziehung auf sich, die Diremtion, das Un-

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Welt und dem konkreten Handeln bei der »Selbstbestimmung des Denkens« nahelegen, widersetzen sie sich auch weiterhin Interpretationen, die es erlauben würden, daß Hegel bei der Diskussion dieser Fragen heute eine Rolle spielen könnte. Die Formulierungen sind in der Tat so opak, daß man sie nicht einmal als veraltete historische Positionen bezeichnen kann. Was sind das für »Positionen«? Wie auch immer, zumindest für Hegels voll entwickelte Position ist die Bedeutung des poetischen Anspruchs unschwer nachzuweisen. Schillers Gedicht handelt von Freundschaft und an einem Punkt (Strophe acht) von Liebe, und dieses Thema ist nicht nur für die praktische Philosophie der Schriften des jungen Hegel über das Christentum wichtig, sondern es spielt auch eine gewichtige Rolle bei Hegels Versuch, den Kern seiner theoretischen Philosophie, die Wissenschaft der Logik, zu erklären. In seiner Begriffslogik, wo er den »allgemeinen Begriff« erörtert und behauptet »Das Allgemeine ist daher die freye Macht«, beeilt er sich, darauf hinzuweisen, daß man darunter nicht so etwas wie die Ausübung der organisierenden und abstrahierenden Macht des Subjekts über etwas Separates und Widerständiges verstehen soll. (Wie man etwa die Herrschaft eines göttlichen Weltenmeisters auffassen könnte.) Was »anders« als der Begriff ist, kann seine Rolle als das andere nur spielen, wenn es als solches begriffen wurde. Um zu erklären, was er damit meint, schreibt er (gleichsam in Erinnerung an Schillers Gedicht): »Wie es die freye Macht genannt worden, so könnte es auch die freye Liebe und schrankenlose Seeligkeit genannt werden, denn es ist in Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen nur als zu sich selbst; in demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt.«22 Dies ist keine legislative Gewalt in einem poetischen Sinn, die auf einem selbstgenügsamen Thron sitzt und der Welt Gesetze gibt. Die Annahme, daß die Logik der Geist-Welt-Beziehung der »Logik der Liebe« gleicht, bleibt ein seltsames und abstoßendes Bild, aber man erhält einen gewissen Eindruck, wie Hegel die Beziehungen zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der menschlichen Erfahrung verstehen will, wenn sie am Ende im absoluten Wissen ihren angemessenen Ausdruck finden.

terscheiden, das Urtheil. Ich urtheilt, dieß macht dasselbe zum Bewußtsein, stößt sich von sich ab, dieß ist eine logische Bestimmung.« Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, hrsg. von Chr. J. Bauer, Hamburg 2008, GW 25, 417; Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 413 Zus.; vgl. Hegel: The Berlin Phenomenology, transl. M. J. Petry, Dordrecht 1981, 2. 22 GW 12, 35.

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Überdies kehrt Hegel im ganzen letzten Kapitel der Phänomenologie des Geistes immer wieder zu seiner Darstellung der Natur des Handelns zurück, um die Position, die vom absoluten Wissen erreicht wird, zu erklären. In den beiden relevanten Abteilungen der Phänomenologie des Geistes versucht Hegel, die schwerwiegende Begrenztheit der vorausgesetzten modernen Position phänomenologisch aufzuzeigen, und er schlägt im Unterschied dazu vor, nicht auf einzelne, kausal initiierte Phasen einer Handlung und nicht auf die kausal bedingten Ergebnisse eines besonderen Ereignisses zu schauen, sondern Handlungen als den sich entwickelnden und verändernden Ausdruck der Intentionen eines Subjekts in der Zeit anzusehen, die nur in der ausgedehnten Konfrontation und Reaktion im sozialen Raum festgelegt sind.23 Das heißt, Hegel bestreitet, daß der richtige Weg, um die Bestimmtheit einer Handlung festzulegen, um genau zu bestimmen, was es war, das getan worden ist, darin liegt, ausschließlich auf die von einem Subjekt ex ante formulierte Intention zu schauen. Er besteht darauf, daß solche vermeintlichen Intentionen, wenn sie als »wirkliche« Intentionen verstanden werden sollen, von ihrem Ausdruck in der Handlung zeitlich nicht getrennt werden können, daß solche subjektiven Formulierungen und Überlegungen sich im Verlauf der Tat wandeln und es durchaus möglich ist, daß Personen sich über ihre tatsächlichen Intentionen und Motive irren, daß nur an der Tat im öffentlichen, sozialen Raum deutlich wird, woran sich die Person gebunden fühlt und – manchmal – auch warum. Das ist eine Position, die unserer Erwartung widerspricht. Sie bedeutet, daß ein Subjekt häufig nur »aus der Tat erfahren kann«, wie Hegel sagt, was es ist, das es tat, und worum es ihm in der Tat tatsächlich ging, und sie impliziert eine tiefe Abhängigkeit von der Rezeption der Tat in der Gesellschaft, die ihrerseits dazu beiträgt, mit Bestimmtheit festzustellen, was tatsächlich getan wurde. In unserem Zusammenhang macht diese Position aber intuitiv klarer, warum Hegel so häufig auf diese Position verweist, um zu erklären, warum es keine strikte Trennung zwischen einem Begriff und seiner »Verwirklichung« oder »Erfüllung« gibt, warum das Erfassen des begrifflichen Inhalts es erforderlich macht, die Aufmerksamkeit auf die »Flüssigkeit« und die »lebendige Geistigkeit« einer Norm zu richten, was ich als den Kern der in der Phänomenologie des Geistes vertretenen Position bestimmt habe. In den dafür relevanten Teilen der Phänomenologie des Geistes heißt »eine Intention haben« nach Hegel, daß man darum kämpft, diese Intention in einer öffentlichen und öffentlich anfechtbaren Tat auszudrücken, die großer zeitlicher Flüssigkeit und den Aneignungen

23

Cf. Pinkard, etc.

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und Interpretationen anderer unterworfen ist und wodurch das Verständnis für die eigene Absicht stark verändert werden kann.

V Was würde es also heißen, den absoluten Geist nicht als den »großen Weltenmeister« oder einen selbstgenügsamen, aber einsamen »Wesenlenker« zu denken? Ich habe versucht zu zeigen, daß das abschließende Bild der Phänomenologie des Geistes nicht auf eine pantheistische Metaphysik oder eine neuplatonische Auffassung von einem zugrundeliegenden »göttlichen Verstand« oder »kosmischen Geist« verweist, wovon alles Natürliche und Geistige nur ein Ausdruck ist. Hegel verwendet die Bildlichkeit solcher Positionen, um eine radikal andere Sichtweise zur Beziehung zwischen den frei Handelnden und der Welt, in der sich ein solches Handeln verkörpert und ausdrückt, einzuführen, die weder göttlich souverän ist, noch von natürlichen Kräften hierhin und dorthin gezogen oder gestoßen wird. Nur darum geht es in Hegels Philosophie, das ist meine Behauptung. Immer wieder, besonders im letzten Kapitel, kommt er auf die Analogie zur Logik des Handelns zu sprechen, um seinen Standpunkt deutlich zu machen, und das ist sehr verräterisch. Vom Standpunkt einer anfänglichen subjektiven Selbstgewißheit sieht das Handeln wie eine Selbst-Negation aus, eine Verletzung der Reinheit und exklusiven Verfügungsgewalt über die Tat, die als Bedingung dafür gedacht wird, daß ich mich selbst in der Tat sehe, und damit als Bedingung für die Freiheit. Aber Hegel versucht, die enorme Bürde zu beleuchten, die ein solches Selbstverständnis zu tragen hat, er versucht, die Behauptung empirisch plausibel zu machen, daß eine derartige Starrheit schließlich unter einer solchen Bürde »zerbrechen« wird (wie im »Brechen des harten Herzens« in der Moralität)24 und daß ein solches Subjekt letztlich die Negation seiner eigenen reinen Subjektivität als wahre Verwirklichung seiner Subjektivität verstehen wird. Diese Bürde ist nicht allein und nicht einmal vorwiegend eine Sache logisch unvereinbarer Verpflichtungen, und das »Brechen« ist nicht bloß die begriffliche Lösung solcher Unvereinbarkeiten. Eine solche Denkweise würde die Einseitigkeit, deren Gewalt die Phänomenologie des Geistes zu brechen versucht, nur perpetuieren. Aber wenn dies alles zutrifft oder zumindest einleuchtet, was bedeutet das dann für den Status der Literatur in der Phänomenologie des Geistes? Die 24

Hierbei handelt es sich um denselben Absatz, in dem Hegel die Bemerkung macht: »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben.« (GW 9, 360)

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Analogie, die wir hergestellt haben, würde enthalten, daß es eine Begriffsverwirrung sei, die Taten eines Handelnden so anzusehen, als seien sie ein irgendwie verwässerter Ausdruck von etwas rein Intendiertem, daß die wahre Bedeutung des Handelns in der reinen Intention des Handelnden liege, als müsse alles übrige, die tatsächlichen Resultate nämlich, als Ergebnis intervenierender Zufälle angesehen werden. Statt dessen könnte man sagen, wenn sich die Intention im Laufe der Zeit in der Tat entwickle, »erreiche« sie damit den einzig bestimmten Inhalt, den sie haben könnte. Dieser Gedanke ist für Hegel schwer vermittelbar. Er, der Gedanke, setzt voraus, daß sie, die Intention, »in« der komplexen Tat liegt und die Tat selbst den Interpretationen und Reaktionen anderer unterworfen ist, daß die Intention oder das Interesse des Subjekts an der Tat und sein Gefühl dafür nur in der Tat »lebt« und daß wir im Gegensatz dazu fest an den Begriff einer »früheren« Intention gekettet sind, die für die Tat »verantwortlich« ist. Desgleichen sollten auch wir bei Fragen zum bestimmten Inhalt von Normen, die das Denken und Handeln leiten – Normen wie Freiheit, Recht, Schönheit, Liebe oder auch Wahrheit –, nicht sagen, daß die Manifestation solcher Normen in der Dichtung, im Drama, in Skulpturen, der Musik, der Malerei und in Romanen (oder in Politik und Religion) Ausdrucksformen unabhängig davon vertretener Verpflichtungen und daher bloße Illustrationen sind. Nur von solchen repräsentativen Versuchen der Selbsterkenntnis kann man sagen, daß in ihnen die Norm »lebt«. Hegels Schillerzitat (selbst bereits so etwas wie ein Ausdruck von Freundschaft) und seine Modifikationen dienen also in angemessener Weise einem doppelten Zweck. Das Zitat dient als Beweis für die Unentbehrlichkeit der lebendigen, ästhetischen Dimension der Erfahrung in jeder philosophischen Begründung von Normen, als Beweis für die oben angedeutete Theorie des begrifflichen und intentionalen Inhalts, und die Veränderung liefert gleichfalls, so könnte man sagen, einen Beweis, daß die Vollendung und Aufhebung ästhetischer Repräsentation durch die philosophische Reflexion genauso unentbehrlich ist. Das letzte Wort erweist sich somit weder als das Wort Schillers noch als das Wort Hegels allein, sondern es ist durch sein Vorhandensein ein Argument für die Unentbehrlichkeit einer reflektirten und philosophisch begründeten Aufmerksamkeit gegenüber der historischen und lebendigen geistigen Wirklichkeit, ein Argument für jede echte Philosophie, die ihres Namens wert ist.

Die Genealogie der Moral und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit Henning Ottmann

Genealogie der Moral lautet bekanntlich der Titel eines Werkes von Friedrich Nietzsche. Nietzsche leitet darin die Moral aus dem Ressentiment ab, aus Gefühlen der Ohnmacht, aus Haß, Neid und Rache. Daß er selbst auf der Suche war nach einer neuen, einer anderen Form von Moral, auch das ist bekannt. Es ist eine radikalisierte Autonomiemoral, die Autonomie gelöst von ihrer Verbindung mit dem allgemeinen Gesetz, statt dessen individualisiert, Autonomie jedes einzelnen und nur jedes einzelnen. Sittlichkeit ist bei Nietzsche nur noch ein Name für das Alte, das Herkömmliche, das bloß Traditionelle. Er nennt sie eine »soziale Zwangsjacke«.1 Die Menschheit habe diese früher einmal nötig gehabt. Inzwischen benötige sie diese »Zwangsjacke« nicht mehr. Für Nietzsche schließen sich Autonomie und Sittlichkeit aus. Entweder das eine oder das andere. Wir finden, schreibt Nietzsche, »als reifste Frucht an ihrem Baum (am Baum der Sittlichkeit, H. O.) das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ›autonom‹ und ›sittlich‹ schliesst sich aus)«.2 Autonomie und Sittlichkeit stehen bei Nietzsche in einem Konflikt. Beide sind – bei Nietzsche – nicht miteinander versöhnbar. Eine ganz andere Theorie vom Verhältnis von Autonomie und Sittlichkeit hat dagegen Hegel entwickelt. Hegel will bekanntlich Autonomie und Sittlichkeit, Moralität und Sittlichkeit miteinander vereinen. Im folgenden wird demonstriert, daß Hegels Theorie der Nietzsches vorzuziehen ist. Wie Hegel über Moralität und Sittlichkeit denkt, das läßt sich anhand der Schriften des jungen Hegel nur zum Teil erörtern. Die Phänomenologie des Geistes bietet zwar eine Genealogie der Moralität. Sie zeigt deren Entstehung aus der antiken Sittlichkeit. Aber Hegel überführt die Moralität in der Phänomenologie nicht in eine Form von Sittlichkeit, die modernitätsverträglich 1

F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI/2, Berlin 1968, 309. 2 Ebd.

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wäre. In der Phänomenologie läßt Hegel die Moralität in die Gestalt des religiösen Bewußtseins übergehen. Gewissen und Subjektivität werden verwiesen auf das erlösende Wort, durch das die Versöhnung bereits ausgesprochen ist. Der letzte Satz im Kapitel »Moralität« lautet: »der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen«. Erst beim älteren Hegel wird die Moralität in eine eigene Sphäre der Sittlichkeit überführt. Die Phänomenologie bietet eine Genealogie der Moralität, und Genealogien können verschiedene, aber immer nur begrenzte Funktionen erfüllen. Sie können Schulen des Verdachts sein; durch den Nachweis einer fragwürdigen Herkunft kann ein Phänomen kompromittiert werden, Kompromittierung durch Nachweis einer fragwürdigen Herkunft. Diese Form der Genealogie liegt bei Nietzsche oder auch in der marxistischen Ideologiekritik vor: Kompromittierung durch den Herkunftsnachweis aus niederen Sphären, sei es des Trieb- und Seelenlebens, sei es der materiellen Bedingungen der Produktion. Bei Hegel hat die Genealogie eine andere Funktion. Zwar ist auch bei Hegel ein kritisches Element im Spiel: eine kritische Theorie der Herkunft. Sittlichkeit und Moralität sind nicht immer schon gegebene, überhistorische Gestalten des Geistes. Beide haben eine Geschichte. Der Dogmatismus liebt es nicht, auf die Geschichte der Entstehung seiner Dogmen verwiesen zu werden. Die Geschichte ist der Feind des Dogmas, und so ist die Genealogie, da sie eine Geschichte gibt, an sich schon ein antidogmatisches kritisches Geschäft. Diese kritische Funktion der Genealogie ist bei Hegel allerdings keine reine Schule des Verdachts. Sie hat vielmehr auch eine affirmative Komponente, ist immer auch affirmative Theorie: Nachweis der in der geschichtlichen Entwicklung vorhandenen Vernunft. Diese affirmative Seite genealogischen Denkens ist von ebenso großer Bedeutung wie die kritische. Stünde die kritische Funktion allein, würde sich das genealogische Denken dem Vorwurf aussetzen, eine genetic fallacy zu sein. Ein genetischer Trugschluß liegt immer dann vor, wenn schon der Aufweis der Genese genügen soll, um eine Idee zu blamieren. Aber für die Gültigkeit der Gesetze der Wasserverdrängung ist es gleichgültig, ob Archimedes sie beim Baden entdeckt hat. Entweder sind sie richtig oder sie sind es nicht. Im Blick auf die teils kritische, teils affirmative Funktion der Genealogie gibt die Phänomenologie eine Geschichte der Moralität. Diese weist beides auf: deren geschichtliche Begrenztheit auf der einen, deren relative Vernünftigkeit auf der anderen Seite. Die Begrenztheit der Moralität zeigt sich in Hegels Verschwisterung der Moralität mit der »schönen Seele« der Romantiker, die in der Phänomenologie ein Begräbnis erster Klasse erhält.3 Sie zeigt 3

Vgl. E. Hirsch: »Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie des

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sich des weiteren in der Verschwisterung mit der Französischen Revolution, die Hegel unter dem Titel »Die absolute Freiheit und der Schrecken«, behandelt. Hegel deutet die Revolution in diesem Abschnitt der Phänomenologie mit Hilfe Rousseaus, mit Hilfe der Begriffe von Autonomie und volonté générale. Die Begrenztheit des moralischen Standpunktes macht sich schließlich bemerkbar im Phänomen des Bösen und der menschlich begrenzten Möglichkeiten, das Böse zu verzeihen. In der Phänomenologie des Geistes ist die Verzeihung letztlich nur religiös denkbar. Was dies bedeutet, kann man durch einen Vergleich mit der Philosophie Hannah Arendts sofort erkennen. Hannah Arendt hat ihre Philosophie der Verzeihung in Vita activa völlig ohne Religion begründet.4 Die Verzeihung ist bei Arendt zwar das große Heilmittel, das allein in der Lage ist, das durch eine Untat zerstörte Miteinanderhandeln wieder neu zu begründen (Nur das Verzeihen ist in der Lage, die »Unwiderruflichkeit« des Getanen aufzuheben und eine neue Praxis gemeinsamen Handelns zu stiften). Aber bei Hannah Arendt begegnet – etwa in ihrer Analyse des Falles Eichmann – auch das Unverzeihliche, das, was Menschen einander nicht verzeihen können. Und dies ist genau der Ort, an dem Moralität in Religion übergehen kann. Bei Hegel ist die Moralität eine unvollkommene Gestalt des Geistes, zugleich aber eine, die ihr eigenes Recht und ihre eigene Vernunft besitzt. Hegel setzt Moralität im Grunde mit Reflexion und Subjektivität gleich, so daß die Moralität das ganze Recht moderner Vernünftigkeit für sich beanspruchen kann. In Verhältnisse sittlicher Unmittelbarkeit führt bei Hegel kein Weg zurück. Wenn es in der Moderne noch Sittlichkeit geben kann, dann muß sie die Reflexion und die Subjektivität aushalten können. Die Sittlichkeit muß in der Moderne durch die Gefahr ihres Selbstverlustes hindurch. Zwischen Moralität und Sittlichkeit tun sich mehrere Gegensätze auf, derer Hegel sich bewußt ist. Das vorgefundene sittliche versus das selbstgegebene moralische Gesetz; das unmittelbar Geltende versus das Reflektierte; das traditional Gegebene versus das je neu zu Stiftende; das, was gut »für uns« ist, versus das, was gut »für alle« ist. Das sind typische Antithesen, auf die der Gegensatz von Sittlichkeit und Moralität zusteuert. Lassen sich diese Gegensätze miteinander vereinen? Oder müssen sie unversöhnt bleiben? Die Phänomenologie des Geistes zeigt: Auch die Sittlichkeit hat eine Geschichte. Die Sittlichkeit der Antike ist in die Geschichte des Geistes eingeGeistes«, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hrsg.): Materialien zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1973, 245–275. 4 Vgl. H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1976.

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gangen, und sie ist dabei in die Gefahr geraten, sich in den formalen Abstraktionen des römischen Rechts oder in der mittelalterlichen Entgegensetzung von Diesseits und Jenseits zu verlieren, bis sie schließlich in der Aufklärung auf den Universalitätsanspruch der Vernunft und die moderne Gestalt der Moralität stößt. In der Rechtsphilosophie (§ 147 A) läßt Hegel die Sittlichkeit vier Stufen durchlaufen: unmittelbare Einheit von Substanz und Subjekt wie in der Antike, »Glaube« und »Zutrauen« (also eine erste Stufe sich aufgelöst habender Unmittelbarkeit), Reflexion sowie darauf folgend das, was Hegel anstrebt: eine neue Vereinigung von Reflexion und Sittlichkeit.5 Der erste Einbruch der Reflexion in die Sittlichkeit vollzieht sich nach Hegel bereits bei den Griechen: bei Sokrates und bei den Stoikern.6 Die Sittlichkeit der Antike kann diesen Einbruch der Reflexion noch nicht aushalten. Im Falle des Sokrates etwa prallen Ansprüche aufeinander, die wie Sittlichkeit und Reflexion beide berechtigt, aber beide zugleich noch nicht lebbar sind. In der Phänomenologie verweist Hegel auf die Antigone des Sophokles. Auch sie ein Beweis für den in der Antike noch tragischen Konflikt, der durch die Entstehung der Subjektivität und deren Zusammenprall mit der Sittlichkeit entstehen muß. In der Antigone begegnet das Wort »Autonomie« erstmals bezogen auf ein Individuum, nicht auf ein politisches Gebilde.7 Antigone lebt nach »eigenem Gesetz«. Aber das heißt, sie geht auch »nach eigenem Gesetz« zugrunde. Die Autonomie muß – unter den Bedingungen antiker Sittlichkeit – noch eine Entscheidung zum Tode sein. Hegels große Frage war es, ob sich die Tragödie im Sittlichen in der Neuzeit auflösen wird. In seinen jungen Jahren hat er daran – vor allem im Blick auf die Macht der bürgerlichen Gesellschaft – gezweifelt. Sie schien ihm zunächst derart mächtig zu sein, daß er eher an eine »Tragödie im Sittlichen« als an eine Komödie glauben wollte.8 Später war er überzeugt, daß sich die gegensätzlichen Mächte miteinander vereinen lassen. Es gibt für Hegel so etwas wie reflektierte Sittlichkeit, autonomieverträgliche Sittlichkeit, Traditionalität, die nicht unvernünftig ist, sondern den Stand geschichtlich erreichter Vernunft auf ihrer Seite hat. 5

Vgl. L. Siep: »Was heißt ›Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit‹ in Hegels Rechtsphilosophie?« in: ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, 217–239, hier 230. 6 Vgl. die Nachschrift von C. G. Homeyer: »Naturrecht und Staatswissenschaft. Vorlesungsnachschrift 1818/19«, in: K. H. Ilting (Hrsg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Bd. 1, Stuttgart Bad Cannstatt 1973, 227–351, § 74 A. 7 Vgl. Antigone 820 sowie J. v. Ungern-Sternberg: »Entstehung und Inhalt des Begriffs ›Autonomie‹ in der griechischen Antike«, in: R. Battegay/U. Rauchfleisch (Hrsg.): Menschliche Autonomie, Göttingen 1990, 9–24. 8 Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, GW 4, 458.

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Was Hegel an Vermittlung von Moralität und Sittlichkeit vor Augen steht, wird oft abgetan mit Verweis auf die Überschwenglichkeit, mit der Hegel die Gegenwärtigkeit der Vernunft gefeiert haben soll. Die Sperrigkeit des Faktischen und Vorhandenen wird demnach geschönt durch eine unzulässige Verklärung des Bestehenden zum Vernünftigen. Aber was immer Hegel an durchaus Zeitlichem mit den Weihen der Metaphysik und der Vernunft eingesegnet haben mag – es ist nicht prinzipiell unvernünftig, sich der Wirklichkeit mit der Vermutung auf ihre Vernünftigkeit zu nähern. Das jeweils Neue ist nicht eo ipso besser als das Alte. Das Alte muß nicht, aber es kann durchaus das schon Bewährte sein, während das Neue erst einmal zeigen muß, was in ihm steckt. Etwas ist nicht schon dadurch, daß es überhaupt besteht, unvernünftig. Mit Aristoteles und Hegel läßt sich hermeneutischhypoleptisch an die schon vorhandene Vernünftigkeit anknüpfen, und das ist weniger eine überschwengliche Feier vorhandener Unvernunft als vielmehr der Versuch, philosophisch auf dem Teppich zu bleiben, eine Philosophie der Normalität zu entwickeln, in der die Norm – sit venia verbo – aus der Normalität stammt, der Normalitätszustand, nicht der Ausnahmezustand die Regel ist. Hegel will die Moralität in die Sittlichkeit aufheben, und dagegen wird nicht nur die Überschwenglichkeit seiner Vernunftvermutung, sondern oft auch die Absolutheit des Gewissens ausgespielt. Hegel rückt das Gewissen in die Nähe eines Subjektivismus, nahe an die Eitelkeit der Willkür, die Heuchelei, den Probabilismus, die Ironie (RPh § 140). All dies sind Gestalten, in denen das Subjekt sich über die Allgemeinheit des Sittengesetzes hinwegsetzt und nur noch sich selbst genießt. Was wie eine Herabsetzung des Gewissens klingen mag, ist der Ambivalenz dieser inneren Institution aber durchaus angemessen. Hegel ist durchaus bereit, die formale Absolutheit des Gewissens anzuerkennen. Er nennt es »die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins« (RPh § 137 A). Aber das Gewissen kann eben auch, wie es im Mittelalter immer wieder betont worden ist, ein irrendes Gewissen sein. Sich auf das Gewissen zu berufen, kann auch bedeuten, jede weitere Diskussion abzubrechen und sich auf einen Standpunkt zurückzuziehen, der nur noch einem selbst einsichtig ist. Dem Gewissen ist – das ist traditionelle Lehre –, auch wenn es irrt, zu folgen. Aber damit ist, wer seinem Gewissen folgt, nicht eo ipso exkulpiert. Er muß die Folgen seiner irrigen Entscheidung tragen, auch wenn sie eine Gewissensentscheidung gewesen ist. Nach Hegel gehört die Anrufung des Gewissens in Zeiten, in denen die »vorhandene Welt« der Freiheit keinen Raum bietet und man wie ehemals Sokrates oder die Stoiker sich aus der Welt in die Innerlichkeit zurückziehen muß (RPh § 138 A). Das heißt, die Berufung auf das Gewissen allein ist ein Notbe-

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helf, ein notwendiger Notbehelf, aber eben auch einer, der spezifisch ist für Lagen, die normale Lagen nicht sind. Was bei Sokrates noch die Entscheidung eines einzelnen war, wird in der Neuzeit universal. Moralität und Reflexion werden zur Sache des Menschen selbst. Es entsteht eine Spannung zwischen der Menschheitsmoral und den konkreten sittlichen Verpflichtungen, die von Mitgliedern einer Familie und von Bürgern eines Staates zu erfüllen sind. Rousseau war der erste, der darauf aufmerksam gemacht hat, wie schwierig es in der Neuzeit ist, Mensch und Bürger zugleich zu sein. Der Kosmopolitismus galt ihm als eine Flucht vor der Verantwortung des Bürgers. Der Patriotismus wiederum schien ihm in der Gefahr zu schweben, zum Chauvinismus zu entarten. »Mißtraut den Kosmopoliten«, schreibt Rousseau im Émile, »die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie selbst in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tartaren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht.«9 Zwischen universaler Moralität und konkreter Sittlichkeit gibt es keine prästabilierte Harmonie. Die eine ist parteilich, interessiert an dem, was gut für uns ist. Die andere ist unparteilich, will allen Menschen das Gleiche geben, da sie doch alle Menschen sind. Aber was der eigenen Familie und dem eigenen Staat gegeben wird, steht in gleicher Intensität für alle anderen Familien oder Staaten nicht zur Verfügung. Wer wiederum nur den Menschen kennt, der kennt keine eigene Familie und keinen eigenen Staat. Eine Ordnung der Verpflichtungen ist hier nur hierarchisch möglich, indem man entweder die Moralität der Sittlichkeit überordnet oder aber die Sittlichkeit der Moralität (wie dies bei Hegel geschieht). Kann man die Moralität der Sittlichkeit überordnen? Eine Überordnung der Moralität findet sich heute in den Theorien der globalen Gerechtigkeit bei einigen Rawls-Schülern10 oder in der Diskurstheorie von Habermas. Die universale Verpflichtung erhält den Vorrang vor dem Ethos, sei es, daß man die Rawlssche Ursituation auf die Menschheit überträgt, der Mensch dem Menschen sozusagen eins zu eins gegenübertritt, sei es, daß das, was gut für alle ist, dem Ethos einer Gemeinschaft übergeordnet wird.11 Wo dies 9

J.-J. Rousseau: Œuvres complètes, Paris 1959 ff., Bd. IV, 249. Vgl. etwa Ch. Beitz: »Justice and International Relations«, in: Ders./M. Cohen/Th. Scanlon/A. J. Simmons (Hrsg.): International Ethics, Princeton 1985, 282–311; Th. Pogge: »An egalitarian law of peoples«, in: Philosophy and Public Affairs 23 (1994), 195–224; ders.: World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge 2002. 11 Vgl. J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992. 10

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geschieht, kann es Patriotismus nur noch in der Form des »Verfassungspatriotismus« oder überhaupt nicht mehr geben, da man sich schon in einer »postnationalen Konstellation« wähnt. Verfassungspatriotismus ist aber kein Patriotismus im Sinne der traditionellen Liebe zum Eigenen. Er ist es nicht, weil er die Affirmation jener Teile moderner Verfassungen fordert, die wie die Menschenrechte sowieso schon universalistisch und für alle westlichen Verfassungen kennzeichnend sind. Die Überordnung der Moralität über die Sittlichkeit muß scheitern. Sie scheitert daran, daß man von einem Vater nicht verlangen kann, alle Kinder dieser Erde so zu lieben wie die eigenen. Sie scheitert daran, daß man nicht allen Ländern genauso verpflichtet sein kann wie dem eigenen Vaterland. So besehen hat MacIntyres ironische Formulierung, liberale Universalisten seien schlechte Soldaten, eine gewisse Berechtigung.12 Der englische Dissenter William Godwin hat in seinem fire case ein berühmtes Beispiel dafür gegeben, wohin eine konsequent rationalistische Moralität moderner Unparteilichkeit führen kann.13 Sein Beispiel ist der Ausbruch eines Feuers, bei dem nur eine von zwei Personen gerettet werden kann. Welche soll es sein? Bei Godwin steht zur Wahl, ob man Fénelon, den berühmten Verfasser des Telemaque, oder seinen eigenen Vater retten soll. Nach Godwin ist die Entscheidung einfach. Man hat Fénelon zu retten, weil er für das Glück der Menschheit von größerer Bedeutung ist als der eigene Vater. Verallgemeinerung und Unparteilichkeit als Kriterien der Moralität stoßen – wie an diesem Fall zu sehen ist – an die Grenzen der Sittlichkeit. Sittlichkeit ist nicht unparteiisch. Man steht nicht jedem Menschen im Grade gleicher Verpflichtung gegenüber. Angenommen, man hätte die eigene Frau aus dem Feuer gerettet und würde nachher zu ihr sagen: »Oh, das hätte ich für jeden anderen genauso getan!« Vermutlich wäre die Ehefrau nicht ganz glücklich damit.14 Verpflichtungen der Nähe sind stärker als Verpflichtungen der Ferne. Sie sind einem direkt und persönlich aufgegeben, und man kann sich ihnen nicht durch Verweis auf den Menschen entziehen. Es wiegt schwerer, »dem Bruder nicht zu Hilfe zu eilen als einem Fremden«, heißt es bei Aristoteles.15 Die darin ausgesprochene Rangordnung ist durch den neuzeitlichen Universa12

Vgl. A. MacIntyre: »Ist Patriotismus eine Tugend?« in: A. Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus, Frankfurt/New York 1993, 84–102, hier 100. 13 Vgl. W. Godwin: Enquiry concerning political Justice (1793), hrsg. v. I. Kramnick, Harmondsworth 1976, II. c. 2. 14 Vgl. B. Williams: Kritik des Utilitarismus, hrsg. v. W. R. Köhler, Frankfurt/M. 1973, sowie B. Barry: Justice as Impartiality, Oxford 1995, c. 9. 15 Nikomachische Ethik, VII. Buch, 1160 a.

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lismus nicht außer Kraft gesetzt. Wer wie Singer16 fordert, man müsse sich – um der Armen dieser Erde willen – aller Habe entledigen, derer man selber zum Überleben nicht bedürfe, stellt supererogatorische Forderungen. Wer sie erfüllen und ein heiligmäßiges Leben führen will, mag dies tun. Aber hierbei handelt es sich nicht um Pflichten, die man jedermann ansinnen kann. Es bleibt die zweite Möglichkeit: die Überordnung der Sittlichkeit über die Moralität. Hegel versteht dies so, daß die Moralität sowohl anzuerkennen als auch in ihrer Geltung zu beschränken ist. Die Moralität wird in ihrer Universalität anerkannt, sie wird zugleich als abstrakt und für die sittliche Orientierung nicht ausreichend kritisiert. Die Moralität wird zu jener Sphäre geschlagen, die bei Hegel universal ist, das heißt, zur bürgerlichen Gesellschaft. Diese ist bei Hegel bereits tendenziell Weltgesellschaft, und sie ist bei Hegel der Ort des Menschenrechts. Hier hat die Moralität, wie es heißt, »bei aller allgemeinen Veranstaltung … genug zu tun« (RPh § 242). Die Abstraktheit der Gesellschaft liegt darin, daß aus der Perspektive des universalen Rechts und der universalen Moralität der Mensch nur als Mensch betrachtet wird, sei es als Arbeitswesen, sei es als Bedürfniswesen, sei es als Wesen mit gleichen Rechten und Pflichten. Diese Abstraktion läßt sich nach Hegel nur wiedergutmachen, wenn durch Familie und Staat das abstrakte Menschenwesen wieder zu einem Menschen mit Herkunft, mit familiarer, nationaler (vielleicht auch religiöser) Zugehörigkeit wird. Hegels Versuch, die Moralität anzuerkennen, sie zu beschränken und sie mit der Sittlichkeit zu vereinen, kann man am berühmten Paragraphen 209 A der Rechtsphilosophie ablesen: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist …«. Hegel will diese Emanzipation des Menschen – eine Anspielung übrigens auf Gal. 3, 28 – anerkennen. Er will sie aber nicht, wie Marx im Artikel über die Judenfrage, durch die Aufgabe von Religion und Nation erkaufen. Die Reduktion des Menschen auf die abstrakte Null der bürgerlichen Gesellschaft soll vermittelt werden mit dem sittlich konkreten Leben, das der Mensch als Mitglied einer Familie, als Bürger eines Staates oder Mitglied einer Gemeinde führt. Hegel nennt den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft das »Konkretum der Vorstellung« (RPh § 190 A). Diese Wortwahl ist aufschlußreich. Die bürgerliche Gesellschaft kennt demnach nur die »Vorstellung« des Menschen, nicht seinen Begriff. Die bürgerliche Gesellschaft erweist sich bei Hegel als Ort eines universalen Rechts sowie als Ort, in dem die Moralität mit ihrem Universalitäts16

Vgl. P. Singer: »Famine, affluence, and morality«, in: Philosophy and Public Affairs 1 (1972), 229–243.

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anspruch »genug zu tun hat«. Aus dieser Formulierung ist vermutlich eine gewisse Abschätzigkeit herauszuhören. Hegel traut der Moralität nicht zu, die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft beheben zu können. Die bekannten Mängel, wie Hegel sie darstellt – der Gegensatz von arm und reich; die Bildung eines Pöbels; die nur formelle Anerkennung –, das alles wird von der Moralität nur punktuell, nicht aber grundsätzlich überwunden. Die institutionalisierte Sorge der Standesgenossen für einander ist einer subjektiven und zufälligen caritas überlegen. Der Sozialstaat – müßte man im Blick auf die heutige Lage sagen – übertrifft die ad-hoc-caritas des Barmherzigen Samariters. Die Moralität hat nicht nur »genug zu tun«, sie hat viel zu viel zu tun, mehr als sie leisten kann.17 Anders als Kants Entwurf des »Ewigen Friedens« geht die Rechtsphilosophie an ihrem Ende nicht über die Vielzahl der einzelnen Staaten hinaus. Die Sittlichkeit kulminiert innerhalb des Staates in der »Aufopferung« des einzelnen für das Bestehen der Gemeinschaft, in der »höchsten Abstraktion der Freiheit von allen besonderen Zwecken, Besitzen, Genuß und Leben« (RPh §§ 325, 327). Hier ist nun doch von etwas Außerordentlichem die Rede, das Hegel allerdings auf einen Stand, auf den Stand der Tapferkeit, beschränkt. Auf diese Kulmination im Opfer des einzelnen folgt keine Lehre von einer universalen, über die Staaten und Völker übergreifenden Sittlichkeit. Am Ende steht ein formelles Recht und ein bloßes Sollen, ein Kampf der Staaten um Anerkennung, der von keiner übergeordneten Macht geschlichtet wird, es sei denn, daß man die Weltgeschichte als diese Macht betrachtet. Kann die Philosophie im Zeitalter der Globalisierung bei einer solchen Lehre stehen bleiben? Wird nicht im globalen Dorf der Medien der Fernste zum Nächsten? Zeigen nicht die Migrationsströme der neuen Völkerwanderung, daß die Staaten mit den Problemen von Asyl, Einwanderung und Integration konfrontiert sind, d. h. mit dem Anspruch des Menschen, irgendeinen Ort zum Leben zu haben, oder mit dem Anspruch, das eigene sittliche Leben und das Leben fremder Menschen miteinander verträglich machen zu müssen? Das Gewicht universaler Anforderungen wächst. Aber wächst dementsprechend auch das Gewicht universaler Verpflichtungen? Meines Erachtens bleibt die Überordnung der Sittlichkeit bestehen. Was man den eigenen Kindern schuldet, steht für die Kinder dieser Welt nicht in gleicher Weise zur Verfügung. Was ich meiner Gemeinschaft gebe, kann ich nicht zugleich allen anderen Staaten der Erde zukommen lassen. Wo die Welt sich globalisierend immer mehr nivelliert und sich zu McWorld verwandelt, wächst das Recht am Eigenen. Die Antwort liegt nicht in der Zuspitzung zur 17

Vgl. U. Wessels: Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation, Berlin 2002.

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Alternative entweder Moralität oder Sittlichkeit. Die Antwort liegt in einer Stufung der Verpflichtungen, wie sie schon die stoische Oikeiosis-Lehre vorgesehen hat. Man erfülle demnach zunächst die Pflichten der Nähe. Wenn diese erfüllt sind, wende man sich der Welt und dem Menschen zu. So müssen wenigstens wir, die ethischen Normalverbraucher, verfahren. Die umgekehrte Reihenfolge sei denen überlassen, die Vater und Mutter verlassen und die nichts mehr kennen, was ihr Eigenes ist.

Sektion V

p olitik und rechtsgeschichte

Politik und Rechtsgeschichte Volker Gerhardt

Von einer »Aktualität« der Hegelschen Rechtsphilosophie kann schon seit längerem keine Rede mehr sein. Bis in die frühen Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war das anders. Da wurde immerhin noch über »Hegel und die Folgen« gestritten. Karl R. Popper hatte Hegel zusammen mit Platon und Marx als Wegbereiter des Totalitarismus verurteilt. Dagegen wehrten sich nicht nur die Marxisten, die ihn zu den humanistischen Vorläufern ihrer politischen Praxis rechneten, obgleich der politische Hegel dazu nicht im Geringsten taugt. Auch Vertreter des so genannten bürgerlichen Lagers verteidigten den Denker gegen die pauschale Kritik. Sie stellten die eher pragmatische Dimension seiner an Aristoteles anschließenden politischen Konzeption heraus und wiesen nach, daß sich der freiheitliche Impuls des jungen Hegel auch in seinen späten Werken nicht verliert. Unabhängig davon blieb Hegel aktuell, solange die Methode der Dialektik noch Aufschluß für die Theorie und Praxis des politischen Handelns versprach. In diesem Anspruch aber haben sich bis 1989 so gut wie alle selbst widerlegt, die glaubten, ihm zu folgen heiße, seine Dialektik von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Die politische Debatte um Hegel hatte bereits ihr Ende gefunden, als die Rezeption der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls die Bundesrepublik erreichte. Die Aufmerksamkeit galt nun verstärkt dem Prinzipialismus Immanuel Kants und war auf die auch ihn bestimmende liberale Tradition sowie auf die Vertragslehren in der Nachfolge von Hobbes und Locke gerichtet. Dabei ging es alsbald um dieselben Fragen, die sich schon im unmittelbaren historischen Anschluß an Kant und Fichte eingestellt hatten. Der Kommunitarismus wartete denn auch in seiner Kritik an Rawls mit Einwänden auf, die Hegel bereits in seinem Naturrechtsaufsatz entwickelt und im späteren System methodologisch abgesichert hatte. Doch darauf wurde, zumindest in Deutschland, nur beiläufig hingewiesen. Hätte man Hegel ernsthaft ins Spiel gebracht, wäre augenblicklich deutlich geworden, daß der (inzwischen zu Recht vergessene) Kommunitarismus Stimmungen beschwor, wo Hegel Argumente bietet. Dennoch braucht man keine Sorge zu haben, daß Hegels Einsichten verloren gehen könnten. Seine Größe, die durchdringende Kraft seiner Reflexion

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Volker Gerhardt

und die systematische Reichweite seines Denkens bieten Gewähr genug, daß sich seine Einsichten gegen den Zeitgeist behaupten. Schade nur, daß mit dem Rückgang der öffentlichen Aufmerksamkeit die Anlässe schwinden, ihn einem breiten Publikum nahe zu bringen. Zu beklagen ist auch, daß mit dem nachlassenden Interesse die historisch-philologische Beschäftigung mit Hegels Werk zum Erliegen kommt. Im deutschen Sprachraum sind die nachteiligen Folgen offenkundig. Andererseits aber ist nicht zu übersehen, daß die Interpreten nicht nur die vermeintliche Kluft zwischen Aristoteles und Kant überwinden; auch der Abstand zwischen Kant und Hegel erscheint weniger groß als noch vor hundert oder hundertfünfzig Jahren. Die vorherrschende Rechtsphilosophie ist davon leider weniger berührt. Der Aufsatz von Jean-François Kervégan führt vor Augen, was einer Politischen Philosophie entgeht, wenn sie sich wesentlich an den Prämissen orientiert, die durch John Rawls Theorie der Gerechtigkeit gesetzt sind. Die politische Theorie der Gegenwart bewegt sich in Oppositionen, die bei Hegel bereits vermittelt – und insofern überwunden – sind. Sie berät über Dichotomien zwischen Naturrecht und Geschichte, Vernunftrecht und positivem Recht, Rationalität und Faktizität, Ethik und Recht, oder Lebenswelt und System, ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß Hegel hier Verbindungen erkannt hat, die allererst das Feld zwischen den Polen schaffen. Die besondere Leistung des Beitrags von Kervégan besteht darin, kenntlich zu machen, daß Hegel keine der traditionell auf die Seite des Prinzips gestellten grundlegenden Positionen aufgibt, um die Politik als bloße Bewegung unter konkreten Bestimmungen historischer Verhältnisse beschreiben zu können. Vielmehr bleiben die von ihm in der Polemik gegen Kant und Fichte, später gegen Grotius und Hobbes als »abstrakt« kritisierten Ansichten auch bei ihm nach wie vor wirksam. Wie sehr dies der Fall ist, tritt wiederum in Hegels polemischer Abgrenzung gegen von Savigny und Hugo hervor. Am Beispiel der Sklavenfrage gelingt es Kervégan zu zeigen, wie entschieden Hegel selbst eine »abstrakte« Position bezieht, die den Handel mit Menschen unter allen Bedingungen als ein Unrecht erklärt. Der Autor schreibt es »Zweideutigkeiten« in Hegels Schriften zu, daß es allererst einer eindringenden Interpretation bedarf, um kenntlich zu machen, wie unsinnig es ist, Hegel als Gegner allgemeiner Rechtsgrundsätze anzusehen. Es ist vielmehr so, daß auch er von Einsichten ausgeht, die für alle Zeiten und unter allen politischen Bedingungen etwas definitiv als Unrecht begreifen lassen. Aber es sind nicht nur die Zweideutigkeiten: In der von Kervégan vorgeführten Deutung einzelner Textpassagen wird deutlich, daß die größeren Schwierigkeiten für das Verständnis Hegels daraus resultieren,

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die wirksame Durchdringung von Begriff und geschichtlichem Geschehen zu erfassen. Der von Hegel kritisierte Rationalismus bringt in der Tat eine »zu arme Konzeption der Vernunft ins Spiel«, d. h. er sieht nicht, wie sehr sein Prinzip bereits mit den Verhältnissen verbunden ist, denen der natur- oder vernunftrechtliche Rationalist wesentlich nur mit seinen Forderungen begegnet. Wenn Kervégan die »eminente Normativität« in Hegels Rechtsphilosophie herausarbeitet und damit auch zeigt, daß der Anspruch des »Sollens« bei Hegel keineswegs verloren geht, leistet er einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der von Hegel gesuchten konkreten Verbindung von Vernunft und Wirklichkeit. Neben dieser systematischen Klärung bietet der Aufsatz eine verdienstvolle terminologische Sichtung der Titelbegriffe des »Naturrechts«, der »Rechtsphilosophie« und der »philosophischen Rechtslehre«. Daß Recht auch als Ganzes nicht in Opposition zur Geschichte stehen kann, setzt Walter Jaeschke in seiner dichten Abhandlung über die Genealogie des Rechts bei Hegel voraus. Dabei sucht er zunächst zu klären, wie es zur auffälligen Absenz einer ausdrücklichen Rechtsgeschichte bei Hegel kommen konnte. Im Hintergrund scheint auch hier die Abgrenzungslust des Philosophen zu stehen; in diesem Fall ist es das Bedürfnis, im eigenen Denken nicht mit Methodik und Programmatik der Historischen Rechtsschule verwechselt zu werden. In der Sache aber, so Jaeschke, sei an Hegels »Sensibilität« für Fragen der Rechtsgeschichte nicht zu zweifeln; ebensowenig daran, daß Hegels Geschichtsphilosophie die Grundlage auch für eine Darstellung der Rechtsgeschichte bietet. Beides zusammen führe dazu, daß die Rechtsgeschichte ein integraler Bestandteil der Geschichte des Geistes zum Wissen – und damit wesentlich der Geschichte des Selbstbewußtseins – sei. Was unter dieser Prämisse an rechtsgeschichtlichen Einsichten aus Hegels Werk gewonnen (und unter dem prägnanten und profund erläuterten Titel einer »Genealogie des Rechts« vorgetragen) werden kann, wird an drei konzisen geschichtlichen Entwicklungsmomenten vorgeführt, die man sämtlich unter den Begriff des Übergangs von der Natur zum Recht bringen kann. Die Hegelsche Pointe besteht darin, daß es jeweils Schritte zur Ausdrücklichkeit der Rechtssetzung sind, die auch dort, wo sie unter Berufung auf eine göttliche Instanz erfolgen, ein Bewußtsein der Freiheit erfordern. Die Rolle des Wissens, die erst in dieser Rechtsgeschichte möglich werdende Akzeptanz der individuellen Person und ihres Eigentums sowie der Aufbau einer institutionellen Sphäre, die den Individuen mit ihrem Geltungsanspruch von

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Volker Gerhardt

außen entgegentreten kann, sind Epochen auf dem von Jaeschke kurz und dennoch außerordentlich gehaltvoll skizzierten Weg. Es bedarf am Ende keiner besonderen Belege, und auch keines wörtlich beigebrachten Hegel-Zitats, wenn die von Jaeschke schon 1995 vertretene These, die Genealogie des Rechts sei die Genealogie der Freiheit als abkürzende Formel für Hegels Programm in Erinnerung gebracht wird. Das Recht ist ein Moment der Bewußtseinsgeschichte des Menschen – eine These, deren Bedeutung erst dann ihr Gewicht erkennen läst, wenn man sie, wie es bei Jaeschke geschieht, auch in der Umkehrung gelten läßt: »Fundamentale Züge der Bewußtseinsgeschichte – die Genese von Person und Subjekt – lassen sich nicht ohne die Genese und Geschichte des Rechts begreifen.« Gertrude Lübbe-Wolff tritt in ihrem Vortrag gegen das Vergessen an, dem Hegel derzeit auch in weiten Teilen der Jurisprudenz verfallen ist. Da sie nicht allein aus theoretischer Perspektive der forschenden Juristin, sondern zugleich als Richterin am Bundesverfassungsgericht spricht, hat ihre Kritik am rechtstheoretischen Dualismus zwischen Moral und Recht eine besondere Pointe: Aus der Sicht der Theorie wird eine abstrakt gefaßte Dichotomie beklagt und im Licht praktischer Erfahrung in der Rechtssprechung wird mehr Aufmerksamkeit für die vermittelnden Instanzen der Gesellschaft verlangt. Das ist rechtspolitisch von einigem Gewicht. Dabei sind es weniger die einzelnen Institutionen, wie etwa die Gerichte, um die es der Richterin geht. Hegels Verdienst sei es, den allgemeinen Einrichtungen des mitmenschlichen Handelns, der »Sittlichkeit«, eine rechtsbedeutsame Stellung gegeben zu haben. Damit werde klar, daß man »gute Ordnung und wirkliche Tugend nicht von freischwebenden Sollenssätzen zu erwarten hat«. Es gehört zu den auch für die Hegel-Forschung bedeutsamen Passagen des Vortrags, daß die Rolle des Institutionen-Begriffs in der Rechtsphilosophie und der Enzyklopädie herausgearbeitet wird, wobei die semantische Streuung des Begriffs sich als Vorzug erweist. Er erleichtert es der Autorin, den grundsätzlichen Charakter von Hegels »Wende zum Institutionellen« zu exponieren. Sie erkennt ihn in der gleichermaßen theoretischen wie praktischen Anerkennung der in die geschichtlich-gesellschaftliche Praxis eingelassenen, tatsächlich wirksamen Instanzen, die den Individuen nicht nur Halt, sondern auch Antrieb geben. Sie können der moralischen Überforderung Einzelner entgegenwirken, können eine gesinnungsethische Totalopposition (mit den bekannten Terrorfolgen) überwinden helfen und Rückhalt geben, wenn schwierige Aufgaben zu erledigen oder Widerstand zu leisten sind. Schließlich sind sie ein Widerlager gegen die im letzten Teil des Textes

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anschaulich gemachte geschichtliche Versuchung der Deutschen, sich in die Innerlichkeit zurückzuziehen. Die Tendenz zur Innerlichkeit könnte man heute für überwunden halten. Gertrude Lübbe-Wolf erkennt den nach wie vor gegebenen deutschen Hang zur in sich abgeschlossenen Subjektivität aber gerade darin, daß man in der deutschen Gegenwart um Hegels realitätsgesättigtes Denken lieber einen Bogen macht. Um so wichtiger ist die Beschäftigung mit seinem Denken. Mit Hegel hat man gute Gründe, den »Wertepredigten an sozialseinsollende Unternehmer, werdensollende Mütter und besserregierende Politiker« Einhalt zu gebieten.

Genealogie des Rechts Walter Jaeschke

I. Die Absenz der Rechtsgeschichte (1) Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte der Freiheit. Dies ist – leider – kein Hegel-Zitat, allenfalls ein Selbstzitat.1 Man kann sogar zweifeln, ob Hegel ihm zugestimmt hätte. Denn unter all den Themen seines Systems finden sich zwar die Weltgeschichte sowie die Geschichten der Kunst, der Religion und der Philosophie, aber nicht die Geschichte des Rechts. Ihr weist Hegel sogar einen minderen Status zu als den eben genannten Geschichten: In der Rechtsgeschichte sei der Geist nicht bei sich; ihre Bestimmtheiten folgten nicht aus dem Begriff, sondern man nehme sie »von anderswoher«.2 Dennoch bringt der Satz, die Geschichte des Rechts sei die Geschichte der Freiheit, zwei basale rechtsphilosophische Überzeugungen Hegels auf den Punkt: Recht muß sich geschichtlich entwickeln, denn es ist etwas Geistiges, und alles Geistige entwickelt sich geschichtlich. Und: Was sich in der Geschichte des Rechts entwickelt, ist Freiheit. Denn wenn das Recht, mit Hegel, das Dasein der Freiheit ist,3 dann ist die Geschichte des Rechts die Geschichte dieses Daseins der Freiheit oder, kurz, die Geschichte der Freiheit. Doch trotz dieser beiden Einsichten thematisiert Hegel die Rechtsgeschichte nicht eigens. Die Ausführungen der Phänomenologie des Geistes über den »Rechtszustand« können ihr Fehlen nicht ersetzen; sie lassen ihren Mangel eher noch deutlicher spüren; und auch die Grundlinien der Philosophie des Rechts, die Hegel seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen zugrunde gelegt hat, bieten der Geschichte des Rechts keinen Raum. Eher vermitteln sie den Eindruck, sowohl das Recht als auch die durch es geformten Institutionen seien merkwürdig geschichtslos – und dies, obschon die geschichtliche Prägung aller Begriffe der Hegelschen Rechtsphilosophie so offenkundig ist, daß es einiger Anstrengungen bedarf, die Spuren ihrer 1

Siehe vom Verf.: »Die vergessene Geschichte der Freiheit.«, in: Hegel-Jahrbuch 1993/94, Berlin 1995, 65–73. – An diese Abhandlung knüpft die vorliegende an. 2 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Hrsg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1983, Teil 1, 84 (= Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 3; Nachdruck Philosophische Bibliothek Bd. 459). 3 RPh § 30.

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geschichtlichen Herausbildung sorgfältig zu verwischen – als gelte es sicherzustellen, daß die Vernunft, als deren Manifestation der Rechtsbegriff in seinen konkreten Ausformungen nun gelten soll, durch die Entdeckung seiner Herkunft keine Einbuße erleide. Man mag sich auf den Standpunkt stellen, daß Hegel der Geschichte des Rechts völlig zu Recht keinen Ort anweise und die dem entwickelten Rechtsbegriff geschichtlich vorausgehenden Formen des werdenden Rechts mit gutem Grund stillschweigend ausschließe. Diese Position läßt sich jedoch nur dann durchhalten, wenn sie zugleich begründen kann, daß für die Geschichte des Rechts, des ›objektiven Geistes‹, andere Prinzipien gelten als für die Geschichten von Kunst und Religion, die jeweils konstitutive Momente von Ästhetik und Religionsphilosophie bilden. Hegel betont ja mit Emphase, es sei jeweils nur ein Prinzip, ein Geist, der auf seinen geschichtlichen Stufen das gemeinschaftliche Gepräge der Religion, der politischen Verfassung, der Sittlichkeit und des Rechtssystems ausmache.4 Dann aber muß das Recht an der geschichtlichen Entfaltung der anderen Gestalten des Geistes partizipieren und selbst geschichtlich sein. (2) Auf die Frage, warum Hegel der Geschichte des Rechts nicht eine vergleichbare Bedeutung für die Systemform seiner Rechtsphilosophie einräume, lassen sich zwei Antworten geben. Sie befriedigen zwar letztlich beide nicht, doch können sie zum Verständnis beitragen. Die erste erinnert daran, daß die Disziplin, die wir seit den Tagen Hegels als »Rechtsphilosophie« bezeichnen, zuvor unter dem Namen »Naturrecht« firmiert hat – bis hin zu Fichte und strenggenommen bis zum linken Titelblatt von Hegels Grundlinien. Dem Naturrecht aber liegt der Gedanke einer Rechtsgeschichte fern. Fraglos ist auch damals nicht unbekannt, daß das Recht eine Geschichte habe, doch das Naturrecht sucht die Formen des Rechtsbegriffs und seine Geltungsgrundlagen in einer nicht-geschichtlich gedachten Vernunftnatur aufzuweisen. Denn nur auf diese Weise, so scheint es damals, läßt sich das Recht in Form eines ›Systems‹ explizieren, das dem Wissenschaftsideal des Rationalismus genügt.5 Daß die Geschichte des Rechts eine spezifisch wissenschaftsgeschichtliche wie auch eine allgemein bewußtseinsgeschichtliche Relevanz für seine Ausformung habe, wird nicht zum Thema seiner wissenschaftlichen Explikation. Die zweite Antwort auf die Frage nach Hegels sprödem Verhalten gegenüber der Rechtsgeschichte wirkt dem einseitigen Eindruck der ersten entge-

4

GW 18, 196 f. Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium; Christian Wolff: Institutiones iuris naturae et gentium. Halle 1750, in: Wolff: Gesammelte Werke, II. Abteilung, Bd. 26, Hildesheim 1969. 5

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gen, er sei von rechtsgeschichtlichen Überlegungen vielleicht gänzlich unberührt geblieben. Das Rechtsdenken seiner Zeit steht ja nicht allein im Banne des Naturrechts, sondern ebensosehr unter dem Eindruck der Wendung, die die Historische Rechtsschule gegen das schon etwas abgelebte Naturrecht vollzieht: Sie macht die Geschichte des Rechts zu einem beherrschenden Thema. Doch das Verständnis sowohl von Recht als von Geschichte, mit dem sie das Themenfeld »Rechtsgeschichte« besetzt, hält Hegel noch stärker auf Distanz zur Rechtsgeschichte als deren Ignorierung durch das Naturrecht. Den methodologischen Ansatz der historischen Rechtsschule – die Unterscheidung des wahren ›ursprünglichen‹ vom ›abgeleiteten‹ oder ›nachgebildeten‹ Recht6 und das Verstehen des Rechts auf Grund der Rekonstruktion der ursprünglichen Form und seiner Ableitungsgeschichte – lehnt Hegel mit Nachdruck ab,7 da sie seinem Entwicklungsgedanken wie auch seinem Verstehensbegriff strikt zuwiderläuft. Ebenso nachdrücklich verwirft er die rechtspolitischen wie auch die allgemein politischen Konsequenzen, die aus dem Ansatz der Historischen Rechtsschule schon deshalb resultieren, weil ihnen ohnehin der Primat gegenüber der wissenschaftlichen Programmatik zukommt: die Hochschätzung des Ursprünglichen und Gewesenen, die zur Ablehnung moderner Rechtsentwicklung und Gesetzgebung führt und im Extremfall in eine Haltung übergeht, die – wie Marx später formuliert – »die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert«8 (3) In diesem gespannten Verhältnis zur Methodik und Programmatik der Historischen Rechtsschule liegt der Grund für Hegels Distanz zur Rechtsgeschichte. Dennoch ist er sich ihrer zumindest punktuellen Bedeutung für die Geschichte des Selbstbewußtseins wohlbewußt gewesen. In der Phänomenologie skizziert er die Herausbildung des Prinzips der Rechtspersönlichkeit und damit – implizit – den Beginn der Welt des Rechts und auch der Rechtsgeschichte im strikten Sinn: Der Übergang von der »Sittlichkeit« der griechischen Welt in den »Rechtszustand« der römischen vollziehe sich als Schritt von einem sittlichen Gemeinwesen in ein »allgemeines Gemeinwesen«, und während im sittlichen Gemeinwesen der Einzelne nur als »der selbstlose abgeschiedene Geist« gelte, der seine Wirklichkeit nur im allgemeinen Blut der Familie habe, habe das »allgemeine Gemeinwesen« des römischen Rechts-

6

Siehe Joachim Rückert: Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, bes. 335 ff., 111 ff. 7 GW 18, 85. 8 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke (= MEW), Bd. 1, 15. Auflage, Berlin 1988, 380.

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zustands seine »Lebendigkeit« in der »wirklich geltenden Selbstständigkeit des Bewußtseyns«, im Individuum als einzelnem, in der »absoluten Sprödigkeit« der Punktualität des atomen Selbstbewußtseins. Denn dieses »absolut diskrete Selbst« wisse sich nun als das »absolute Wesen«, als das wirklich Geltende, und deshalb werde von diesem »leeren Eins der Person« aus das »Recht der Person« und die Welt des Rechts überhaupt erbaut.9 Diesen bewußtseinsgeschichtlichen Schritt von der Sittlichkeit zum Rechtszustand faßt Hegel – in der für ihn so charakteristischen Ambivalenz – zwar drastisch als eine »Verwüstung«, aber doch zugleich als den epochalen Schritt der Entdeckung der »in der sittlichen Welt nicht vorhandenen Wirklichkeit des Selbsts« – oder mit den Worten der Grundlinien der Philosophie des Rechts: als die Entdeckung »der selbstständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit«.10 (4) Es ließen sich leicht weitere Belege für Hegels Sensibilität in Fragen des Zusammenhangs von Rechts- und Bewußtseinsgeschichte anführen – eine Sensibilität, die mir für seine Zeit wie auch für seine Profession singulär zu sein scheint. Und dennoch: Läge Hegels Beitrag allein in solchen eher beiläufigen Hinweisen auf die bewußtseinsgeschichtliche Relevanz des Rechts, so wäre er vielleicht anregend, aber nicht sonderlich signifikant. Doch Hegel verfügt nicht nur über ein punktuelles Problembewußtsein auf diesem Gebiet: Sein System weist der Geschichte des Rechts zwar keinen spezifischen Ort zu, doch bietet es ein Begriffspotential für die Erörterung rechtsgeschichtlicher Entwicklungen: einen konzeptuellen Rahmen, innerhalb dessen sowohl das Werden rechtsförmlicher Verhältnisse als auch der Übergang von ihnen in den eigentlichen »Rechtszustand« wie auch die hieran anschließende Rechtsgeschichte begriffen werden kann – ob nun im Kontext der ›phänomenologischen‹ Geschichte des Selbstbewußtseins oder der späteren Philosophie des objektiven Geistes. Es mag banal klingen, aber: Eine Philosophie der Rechtsgeschichte setzt notwendig eine Geschichtsphilosophie voraus, nicht anders als eine Philosophie der Kunst- oder der Religionsgeschichte oder eine Geschichte der Philosophie. Eine solche Geschichtsphilosophie mag sich auf implizite Annahmen, vielleicht auf Rudimente von Theorieversatzstücken aus anderem Kontext beschränken – aber sie bildet eine unverzichtbare Grundlage. Auch im Ansatz der Historischen Rechtsschule sind derartige basale Annahmen aufgewiesen worden, die aber, als unausgesprochen und unausgewiesen, selbst von einer sympathetischen Darstellung als »falsche Metaphysik« bezeich9 10

GW 9, 260–264. RPh § 185.

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net worden sind.11 Ich kann hier nicht auf die Frage eingehen, ob Hegels Geschichtsphilosophie nicht vielleicht eine zwar andere, aber ebenfalls »falsche Metaphysik« sei. Unstrittig ist, daß sie einen ausgeformten Teilbereich seines Systems und somit einen Boden für die Erkenntnis auch partieller Geschichten – des Rechts, der Kunst, der Religion – bildet. Und dieser Boden erweist sich im Verlaufe der rechtsgeschichtlichen Analyse als fruchtbar. Denn Hegel begreift Geschichte als Entwicklung des Geistes zum Wissen von sich – eines Geistes, der eben auch das Recht als eine seiner vornehmsten Objektivationen in sich schließt. Insofern umfaßt Hegels Geschichtsphilosophie immer schon – implizit – eine Philosophie der Rechtsgeschichte. – Wegen dieser im System angelegten Affinität verwundert es nicht, daß das heutige akademische Leben zwar eine geradezu inflationäre wissenschaftssystematische Zuordnung von »Philosophie und Rechtsgeschichte« kennt, die aber, rein additiv, beide Bereiche nur neben einander stellt, ohne sie auf einander zu beziehen, während eine »Philosophie der Rechtsgeschichte« unter Berufung auf Hegels Begrifflichkeit konzipiert worden ist.12 Den Erweis ihrer Fruchtbarkeit muß die Untersuchung erbringen, wieweit die Geschichte des als Recht objektivierten Geistes als ein Prozeß begriffen werden kann, der aus Freiheit entspringt und zum Wissen der Freiheit von sich führt – als eine Geschichte der Freiheit.

Intermezzo: Geschichte des Rechts und Genealogie des Rechts (1) Eine Philosophie der Rechtsgeschichte setzt das reiche Material rechtsgeschichtlicher Forschung als ihren Gegenstand voraus und sucht auf seiner Grundlage einen Beitrag zur Erkenntnis des Rechts zu leisten – vielleicht ja auch einen darüber hinausgehenden Beitrag. Sie wird aber gut daran tun, den in rechtsgeschichtlichen Arbeiten auf das römische und – sekundär – 11

Rückert: Savigny, 114; ebd.: »eine kaum entwirrbare Mischung von Weltanschauung, Jurisprudenz und Geschichte«. – Vgl. 117: »Historie wurde ihm [sc. Savigny] zu einer spekulativen Mischung von Sinn und Sein unter dem Namen ›die Geschichte‹.« 12 Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. Die Grundgestalten des Rechtsbegriffs in seiner historischen Entwicklung, Heidelberg 1950. – Dulckeit, selbst ein angesehener Rechtsgeschichtler, dessen Geschichte des Römischen Rechts zahlreiche Auflagen erfahren hat, betont zu Beginn seiner Philosophie der Rechtsgeschichte, daß »die philosophische Denkweise Hegels die Methode und Grundlage der folgenden Erörterungen bildet«; s. 12. – Dulckeit stellt deshalb seinen geschichtlichen Ausführungen ein erstes Kapitel über die »Geschichtsphilosophischen Voraussetzungen« voran, in dem er die in der Philosophie Hegels liegenden Grundlagen einer Philosophie der Rechtsgeschichte aufweist; s. 9–59.

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das germanische Recht verengten Blick zu erweitern; es geht ihr ja um die Erkenntnis der Genese des Rechts überhaupt, nicht um eine einzelne seiner Gestalten. Ihr idealer Referenzpunkt wäre eine Vergleichende Rechtsgeschichte, doch angesichts der immer noch beträchtlichen Lücken in diesem Gebiet der Forschung13 ist Zurückhaltung geboten. Eine Philosophie der Rechtsgeschichte muß aber zumindest einen – langen – Blick auf die Frühgeschichte des Rechts werfen. Für eine Philosophie der Rechtsgeschichte ist die Epoche von besonderem Interesse, die von der rechtsgeschichtlichen Forschung schon deshalb zur bloßen ›Vorgeschichte‹ marginalisiert ist, weil sie noch keinen entwickelten Begriff des Rechts aufweist – also die lange Epoche des werdenden, vorstaatlichen Rechts. Auch für die Geschichte des Rechts bildet die Entstehung der Staaten ja eine wichtige Zäsur – wie Hegel dies ohnehin für die Geschichte überhaupt betont hat.14 (2) Die Schlüsselstellung der Frühgeschichte des Rechts für eine Philosophie der Rechtsgeschichte resultiert aber nicht etwa aus ihrer größeren Nähe zu einem reinen Ursprung, sondern weil sie einen guten Zugriff sowohl auf die systematischen Bedingungen als auch auf die geschichtlichen Voraussetzungen der sukzessiven Ausformung des Rechts gestattet. Die Erörterung dieses Prozesses, in dem das Recht erst zu Recht in unserem Sinne wird, bezeichne ich hier als ›Genealogie des Rechts‹. Nietzsche bestimmt es ja 13

Vor einem halben Jahrhundert hat Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte, 123, der philosophischen Betrachtung der Rechtsgeschichte geraten, »sich zunächst jedenfalls auf das abendländische Recht zu beschränken« und erst danach auf die orientalische Rechtsgeschichte überzugehen – und dies nicht aus einem bornierten Eurozentrismus, sondern um nicht allen Boden unter den Füßen zu verlieren. Inzwischen sind die Voraussetzungen für einen solchen Ausgriff auf außereuropäisches Recht zwar besser geworden, aber sie sind noch nicht hinreichend. 14 GW 18, 191–194, 212. – Daß zu Hegels Zeit für eine Genealogie des Rechts alle wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen gefehlt haben, bedarf keines umständlichen Nachweises. Die ihm vorliegende Rechtsgeschichte – Gustav Hugo: Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Bd. 3, Geschichte des Römischen Rechts. Fünfter, ganz von neuem ausgearbeiteter Versuch, Berlin 1815 – wäre auf diesem Gebiet ein blinder Führer gewesen. Die Frühgeschichte des Rechts ist erst im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts in den Blick der rechtsgeschichtlichen Forschung getreten; später ist ihre Erforschung aus methodologischen Gründen in die Ethnologie ausgewandert, die sich hierdurch zu einer Rechtsethnologie erweitert hat. Und auch heute bildet die Untersuchung der »Frühgeschichte des Rechts« nicht einen selbstverständlichen Bereich der Rechtsgeschichte, sondern ein Spezialgebiet, das unter dem Titel »historische Rechtsanthropologie« Ethnologie, Geschichte und Recht zu vereinigen sucht. – Siehe Uwe Wesel: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten, Frankfurt/M. 1985, 17; ders.: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2001, bes. 48–66.

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als die Aufgabe einer »Genealogie der Moral«, »die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit« doch endlich zu entziffern; analog sei der Gegenstand einer »Genealogie des Rechts«, die »Hieroglyphenschrift der menschlichen Rechts-Vergangenheit« lesen zu lernen.15 Allerdings halte ich eine heute prominente Ansicht für keineswegs entschieden, ja nicht einmal für wahrscheinlich: daß eine derartige Entzifferung, wenn sie nur erst »die Chimäre des Ursprungs« vertreibe und sich als »Analyse der Herkunft« verstehe, notwendiger Weise in der Entdeckung kulminiere, »daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen.« Diese Alternative zwischen einer »Chimäre des Ursprungs«, in der »die Wahrheit und das Sein« ihr Wesen treiben, und der »Äußerlichkeit des Zufälligen« ist selbst eine billige Chimäre und keine seriöse Disjunktion. Zeigte die Genealogie des Rechts wirklich nur die »Einzelheiten und Zufälle der Anfänge«,16 so ließe sich die erstaunliche Homogeneität rechtsgeschichtlicher Entwicklungen in geographisch und zeitlich weit von einander entfernten Kulturen schwerlich erklären. Auch der Moral-Genealoge Nietzsche hat keineswegs nur »Einzelheiten und Zufälle der Anfänge« zu Tage gefördert – im Gegenteil. Und so muß es auch dem heutigen Genealogen freistehen zu prüfen, ob sich die Genealogie des Rechts – bei allem, was sich ihr fraglos als äußerlich und zufällig darstellt – nicht analog zur Geschichte als Genealogie der Freiheit verstehen lasse. (3) Doch auch wenn die Frühgeschichte des Rechts einen bevorzugten Gegenstand seiner Genealogie bildet: Die Entzifferung der »Hieroglyphenschrift der menschlichen Rechts-Vergangenheit«, die Klärung der Bedingungen, denen die geschichtliche Herausbildung des Rechtsbegriffs untersteht, beschränkt sich nicht auf die Frühgeschichte des Rechts, um im Interesse einer exakten Ressortverteilung mit dem Beginn der Römischen Rechtsgeschichte abzubrechen. Sie reicht vielmehr in denjenigen Bereich der Rechtsentwicklung hinein, der traditionell von der rechtsgeschichtlichen Forschung thematisiert wird – auch wenn sich das Werden des Rechts dort unter gewandelten Bedingungen vollzieht. Die Genealogie beschränkt sich deshalb nicht 15

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Vorrede § 7, in: Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, 254. 16 Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, hrsg. und aus dem Französischen und Italienischen übertragen von Walter Seitter. Mit einer Bibliographie der Schriften Foucaults, Frankfurt/M. 1991, 69–90., bes. 72–74.

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auf die bloße Vorgeschichte einer Rechtsgeschichte, die eigentlich erst mit dem Römischen Recht einsetzte; sie untersucht die Genese der Prinzipien, die der Ausformung des Rechts an seinem vorgeschichtlichen Anfang und in seiner weiteren Geschichte zu Grunde liegen.

II. Aspekte einer Genealogie des Rechts Nach diesem Intermezzo zum Begriff der Genealogie des Rechts möchte ich nun drei Aspekte seiner Genese skizzieren – stellvertretend für eine kaum überschaubare Fülle weiterer. Sie sind nicht strikt von einander geschieden, und sie gehorchen jeweils der Bewegung, die Hegel als die Bewegung und als das eigentümliche Wesen des Geistes beschreibt: der Bewegung von der Natur zur Freiheit: »Wo er – sc. der Geist – herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreien.«17 Zugegeben: ›Natur‹ und gar ›Geist‹ – dies klingt heute antiquiert, als Verstoß gegen die ›philosophical correctness‹ unserer Tage. Die Frühgeschichte des Rechts favorisiert ein anderes Modell: »the movement from Status to Contract« – und sie kann es gar nicht oft genug zitieren.18 Doch warum verläuft das Gefälle der Frühgeschichte des Rechts »from Status to Contract«? Einzig deshalb, weil der »Status« als naturgebundener durch die Willenseinigung des »Kontraktes« ersetzt wird – und der Wille ist ein geistiges Prinzip. Der Begriff des Geistes ist zudem weit reicher; er erlaubt es, auch die Entwicklung zu thematisieren, die über den bloßen Vertragsgedanken noch hinaustreibt; schließlich signalisiert der Schritt zum Kontrakt ja nicht das Ende der Rechtsgeschichte. Und deshalb ziehe ich es vor, von einer Bewegung von der Natur zum Geist zu sprechen. (1) »Wo er herkommt, – es ist von der Natur«: Die Genese des Rechts beginnt nicht mit der Sicherung einer Gebietsherrschaft oder mit staatlichen Akten der Rechtssetzung; sie beginnt aber ebensowenig mit den Begriffen, mit denen die philosophisch-systematische Explikation des Rechts zu Hegels Zeit bereits traditionell einsetzt: mit Eigentum und Vertrag. Am Anfang des

17

GW 15, 249. So Henry Maine: Ancient Law, Ende 5. Kapitel: »we may say that the movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract.« – Zitiert etwa bei Wesel: Frühformen des Rechts, 12, 349; Rechtsgeschichte, 66. 18

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Rechts steht vielmehr eine Lebensordnung, die durch natürlich-biologische Gegebenheiten, durch Verwandtschaftsverhältnisse fundiert ist oder doch als hierdurch fundiert gedacht wird: also eine »persönliche Ordnung der Verwandtschafts- oder Stammesorganisation«.19 Sozialgeschichtlich gesehen ist hier die Rede von vorstaatlichen, akephalen Gesellschaften. Über rechtsförmige Strukturen in den noch vorausliegenden Gesellschaften von Jägern und Sammlern ist wenig bekannt, doch über das Recht der segmentären Gesellschaften sind wir inzwischen vergleichsweise gut unterrichtet – wenn auch vor allem durch die ethnologische Erforschung rezenter segmentärer Gesellschaften, bei unterstellter Vergleichbarkeit der ›Rechtsordnung‹ gegenwärtiger und früherer analog strukturierter Gesellschaften. Von einem entwickelten Begriff des Rechts aus mag man einwenden, daß im Blick auf diese vorgeschichtliche Phase noch nicht von ›Recht‹ zu sprechen sei, nicht einmal von Frühformen des Rechts, und daß wirkliches Recht erst in der Anfangsphase der Staatenbildung einsetze, etwa in den Protostaaten Vorderasiens. Ein derartiger Streit würde und wird jedoch nur um Worte geführt. Die natürlich vorgegebene Verwandtschaftsstruktur fungiert ja zweifellos als Ordnungsprinzip, und zudem als ein sehr effizientes: Auf sie gründen sich die diffizilen Heiratsregeln, die großes Gewicht für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens insgesamt erhalten. Diese auf Verwandtschaftsbeziehungen begründete Ordnung ist – ›natürlich!‹ – keineswegs bloß natürlich; auch sie ist an sich ein »Daseyn der Freyheit«, auch wenn sie es noch nicht für die Mitglieder dieser Rechtsordnung ist. Sie wird zwar nicht als Rechtsordnung gedacht, sondern als Naturordnung, doch ihre normierende Kraft liegt nicht in den natürlichen Verhältnissen selber – auch wenn diese so angesehen werden, als ob ihnen per se eine derartige Ordnungsfunktion zukomme. Solche Ordnungsfunktion kann auf einer frühen bewußtseinsgeschichtlichen Stufe nicht auf einen Willensakt begründet werden, sondern nur in ihrer Bindung an das, was als Natürliches erscheint. Und selbst eine hochgradig normative Entscheidung wie die zwischen kognatischen und agnatischen Systemen, also zwischen der Zuordnung der Kinder zur Verwandtschaftslinie beider Eltern oder nur eines Elternteils (entweder patrilinear oder matrilinear) wie auch die Regelung der Wohnverhältnisse – patrilokal oder matrilokal – erscheint unter solchen Bedingungen als ›naturgegeben‹ und unmittelbar verbindlich – trotz vereinzelter Fälle, in denen willentlich Veränderungen vorgenommen werden, etwa eine Lockerung des Inzestverbots durch Beschränkung des betroffenen Personenkreises. Doch eben in dieser Differenz zwischen der Naturgegebenheit, in der die norma19

Wesel: Geschichte des Rechts, 66.

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tiven Prinzipien dem damaligen Menschen erscheinen, und dem, was sie an sich oder für uns – für uns Heutige! – sind, liegt der Ansatzpunkt derjenigen Dialektik, die von der Natur zur Freiheit treibt. »Wo er – sc. der Geist – hingeht, – es ist zu seiner Freyheit«: Ein wichtiger, gleichwohl nur erster Schritt auf dem Wege von der Natur zur Freiheit besteht in der Auflösung dieser, auf Verwandtschaftsstrukturen basierenden Gemeinschaftsordnung. Die Entwicklung »von der persönlichen Ordnung der Verwandtschafts- oder Stammesorganisation zur territorialen und politischen Organisation des Staates« und – damit verbunden – zum Individuum als Rechtspersönlichkeit20 vollzieht sich – und wieder sage ich: ›natürlich!‹ – nicht auf Grund einer Einsicht in die an sich geistige Verfassung der zuvor als natürlich verstandenen Ordnung, sondern im Zuge der Auflösung der segmentären Gesellschaftsstrukturen im Übergang zu den Protostaaten und Staaten, in denen die Menschen ihrer Einbindung in Sippen- und Stammesverhältnisse entnommen sind und zu Individuen werden – also durch den Übergang von der »aggregation of families« zur »collection of individuals«.21 Der Übergang, den Hegel in der Phänomenologie als bewußtseinsgeschichtlichen Übergang vom griechischen »sittlichen Gemeinwesen« zum »allgemeinen Gemeinwesen« des römischen Rechtszustands so eindrucksvoll beschreibt, als Entdeckung des Prinzips »der selbstständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjectiven Freyheit«, muß begriffen werden als ein Prozeß von erheblich größeren, ja epochalen Dimensionen, die mit dem Übergang von segmentären Gesellschaften zu Protostaaten und Staaten vorgegeben sind. In dieser erweiterten Perspektive erhellt auch der Prozeß, den Hegel als Zerstörung der alten Staaten durch die »selbstständige Entwicklung der Besonderheit« beschreibt.22 Hierdurch werden die alten Staaten zerstört, aber sie erzeugen diese sie zerstörende Besonderheit selbst erst aus sich, denn sie ersetzen die traditionellen Gesellschaftsstrukturen, die durch Naturverhältnisse begründet sind, durch Strukturen, die aus Freiheit hervorgegangen sind und deshalb die Reste der Naturbasis frühstaatlicher Gesellschaftsformen weiter aufbrechen. ›Übergang von der Natur zur Freiheit‹: Dies bedeutet ja nicht, daß in diesen neugebildeten Protostaaten oder Staaten in unserem Sinne freiheitliche politische Verhältnisse verwirklicht seien – im Gegenteil, es mag in den auf Naturverhältnissen basierenden und doch zugleich konsensorientierten traditionalen Gesellschaften ›freiheitlicher‹ zugegangen sein als in den staatlich organisierten, in denen das Recht 20 21 22

Ebd., im Anschluß an Henry Maine, Ancient Law. 1861, Reprint London 1977, 74. Maine: Ancient Law, 74. RPh § 185.

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einen zuvor ungekannten massiven Zwangscharakter erhält. ›Übergang zur Freiheit‹ bedeutet vielmehr, daß die neuen Gesellschaftsstrukturen und die ihnen entsprechenden Rechtsverhältnisse aus Freiheit nicht nur hervorgegangen sind (dies ist selbstverständlich), sondern daß sie auch so gewußt werden – wenn auch zunächst nur rudimentär. Darin besteht der »Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit«.23 Diese Überlegungen zur Genese des Rechts haben deshalb keineswegs zum Ziel, die Frühgeschichte des Rechts in Sozialgeschichte aufzulösen. Die Entwicklung zu den frühen Formen von Staatlichkeit kommt ja über die segmentären Gesellschaften nicht wie ein Naturverhängnis, das die Familien und Sippen in Individuen verwandelte, und sie vollzieht sich fraglos auch nicht gemäß der kürzlich vorgetragenen possierlichen Deutung, daß die Männer einer segmentären Gruppierung, die bis dahin immer nur über ihre Frauen geherrscht haben, eines Tages entdecken, daß man ja auch über andere Männer herrschen könne,24 und in der Folge die segmentäre Ordnung im Interesse der Schaffung großer Herrschaftsverbände aufbrechen. Auf der Ebene der empirischen Ursachenforschung müßte man wahrscheinlich wirtschaftsgeschichtlich argumentieren. Doch in jedem Fall setzt die Bildung der frühen Staaten die Auflösbarkeit (vermeintlich) naturbasierter Rechtsverhältnisse und ihre Ersetzbarkeit durch willensbasierte Verhältnisse voraus, und insofern folgt sie der inneren Logik des Übergangs von Natur zu Freiheit. Die neuen Strukturen sind ein Produkt von Macht – aber sie könnten kein Produkt von Macht sein, wenn die naturbasierten Ordnungsstrukturen nicht als solche durchschaut würden, die keineswegs naturgegeben und unveränderbar sind, sondern an sich ebenfalls auf dem Willen beruhen – freilich auf einem Willen, der seine Freiheit noch nicht weiß und sich deshalb zu seiner Realisierung des Umwegs über die Natur bedient. Ich füge meiner Behandlung des ersten Aspekts nur noch die Bemerkung an, daß die Entwicklung von der Natur zur Freiheit, die die innere Logik der Genese des Rechts ausmacht, mit dem Übergang von den frühen Gesellschaftsformen zur Welt der Protostaaten und Staaten keineswegs zum Stillstand kommt. Sie zeigt sich auch gegenwärtig in der Ablösung des Rechts von natürlichen Vorgegebenheiten – im Bedeutungsschwund als natürlich verstandener Einheiten wie der Völker über die Auflösung der Bindung der Staatsangehörigkeit an das »Blut« bis hin zu den jüngsten Umgestaltungen des Eherechts. Die Dynamik dieses Prozesses wird jedoch nirgends und niemals durch eine »Äußerlichkeit des Zufälligen« in Gang gesetzt. Deshalb bedarf es 23 24

GW 18, 153. Wesel: Geschichte des Rechts, 52.

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auch keiner sonderlichen prognostischen Kraft zu der Vorhersage, daß die Entwicklung von der Natur zur Freiheit oder vom Selbstmißverständnis zum Selbstbewußtsein der Freiheit sich fortsetzen werde – wenn auch, wie stets, verzögert durch retardierende Momente und Gegenbewegungen. (2) Unter das Motto ›von der Natur zur Freiheit‹ – von der naturgegebenen Ordnung zur Willensfreiheit – läßt sich auch der Weg stellen, den die – letztlich – rechtserzeugende Instanz geschichtlich durchläuft. Wenn man ihn mit einem – zugegeben – allzu raschen und groben Pinselstrich nachzeichnet, so führt er von der Natur über die Heteronomie zur Autonomie. Doch die Etappen und Ebenen seines Verlaufs von der Natur zum freien Willen bedürfen einer diffizilen Unterscheidung und Nachzeichnung, die ich hier kaum andeuten kann. Das in der ›Natur‹ manifeste Recht wird nicht als ›gesetztes Recht‹ gedacht – also im strengen Sinne nicht als ›objektiviert‹, sondern als ohne Objektivationsprozeß immer schon in ihr liegend. Seine Naturgegebenheit schließt seine ›Setzung‹ aus; ›Physis‹ ist ja der traditionelle Gegenbegriff zu ›Thesis‹. Doch handelt es sich auch bei diesem vermeintlich naturgegebenen Recht ›an sich oder für uns‹ um eine Setzung durch das Selbstbewußtsein, um eine ›Entäußerung‹ an die Natur, da das Selbstbewußtsein noch nicht weiß, daß sein Wille selber die rechtsetzende Instanz ist. Und der Weg, auf dem das Bewußtsein zu dieser Erfahrung gelangt, ist ein langer und noch längst nicht in allen Verzweigungen bis zum Ende gegangener Weg. Deutlicher noch zeigt sich diese Entäußerungsstruktur, wo das Selbstbewußtsein die rechtssetzende Instanz nicht in die Natur, sondern in ein anderes, ein übermenschliches Selbstbewußtsein verlegt – wo also das ›an sich‹ vom Selbstbewußtsein gesetzte Recht ihm entgegentritt als gesetzt durch ein fremdes, ihm entgegenstehendes Selbstbewußtsein, dem es sich unterworfen glaubt. Das Sichwissen des rechtserzeugenden Willens ist nichts Unmittelbares; zu seiner Realisierung bedarf es des umwegig scheinenden und doch gar nicht anders zurückzulegenden Weges der Bewußtseinsgeschichte; es bedarf der Ausbildung einer Entäußerungsstruktur und zugleich ihrer Verdeckung, weil eben in dieser Verdeckung die Bedingung der Wirksamkeit der Projektion liegt. Es handelt sich somit hier nicht um einen wirklichen Wechsel der rechtserzeugenden Instanz, sondern um eine Veränderung im Wissen von ihr, also um eine Differenz im Bewußtsein der Freiheit. Es liegt in der Logik dieser Projektion des Willens in einen ihm entgegenstehenden, höheren Willen, daß ihre Spuren verwischt werden: daß die Instanz, in die die letzte Quelle allen Rechts und aller Verpflichtung – und auch aller Sanktion! – gesetzt wird, durch Sakralisierung der menschlichen Willkür entzogen wird. Durch diesen Akt wird sowohl ihre überlegene Kom-

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petenz zur Rechtssetzung gesichert als auch die Verbindlichkeit der erlassenen Satzungen garantiert. Archaisches Recht ist deshalb immer zugleich, in unterschiedsloser Einheit, sakrales Recht, und die Ablösung des ius vom fas, die Gegenüberstellung von fas und nefas einerseits, ius und iniuria andererseits, wie auch die Unterscheidung göttlichen und menschlichen Rechts und die Möglichkeit eines Konflikts zwischen ihnen sind wichtige Schritte auf dem Wege zur Anerkennung des Willens als des rechtserzeugenden Prinzips – wenn dieser Weg zunächst auch nur zu einer Verdoppelung der Instanzen führt, die sich als ein sehr wirkungsmächtiges, flexibles und deshalb dauerhaftes Institut erweist. Das Naturrecht hat sich bis in seine rationalistische Ausformung von dieser Verdoppelung und deshalb auch vom Prinzip der Heteronomie nicht völlig gelöst; es hat der rechtsetzenden und verpflichtenden Kraft des Willens weniger Vertrauen entgegengebracht als der zum Inbegriff des Gerechten und Mächtigen stilisierten Entäußerungsgestalt eben dieses Willens. Und damit hat es den letzten Schritt zum Selbstbewußtsein der Freiheit verweigert. Doch, nach diesem ›Prolog im Himmel‹, wieder zurück auf die Erde, auf der die eigentliche Geschichte des Willens spielt. Bei seinem Debut in der – antiken – Rechtsgeschichte gilt der Wille weniger als ordnungsstiftend denn als ordnungszerstörend. Er wird noch nicht als rechtserzeugend gedacht, weil er noch nicht als in sich berechtigt gedacht wird. Doch nur das, was als in sich berechtigt gilt, kann Recht erzeugen – und diese Berechtigung wird dem Willen lange vorenthalten. Selbst der Vertrag, der doch für uns vom Willen nicht abgelöst werden kann, wird zunächst nicht als Willenseinigung gefaßt.25 Für das griechische Rechtsdenken etwa bleiben vertragliche Willenseinigungen lange ohne Rechtswirkung; sie sind nicht mit einem klagbaren Erfüllungsanspruch verbunden, und erst »die Erkenntnis der unmittelbaren rechtlichen Bedeutung des Willens als solchen« gibt dem Vertragsgedanken die ihm für unser Rechtsdenken zukommende Bedeutung.26 Geschichtlich gesehen setzt die Erkenntnis des Willens als des rechtserzeugenden Prinzips die Ausbildung der Rechtspersönlichkeit voraus, also einen Prozeß, der weit in den »Rechtszustand« der römischen Welt hineinreicht. Doch auch damit ist erst der Beginn eines Weges markiert, nicht sein Ende. Denn der Gedanke der Rechtspersönlichkeit wird zunächst nach der personenrechtlichen Seite ausgebildet, nach der Seite der Stellung der Person in der Familie und im Staat, der öffentlichen Aufgaben, die ihr in diesem

25 26

Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte, 69. Ebd. 83, 86, 88.

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Umkreis zufallen, während die Ausbildung der Seite des Willens deutlich später erfolgt. Die rechtsgeschichtliche Vertiefung des Willensbegriffs erfordert zu ihrem Komplement die rechtssystematische Durchbildung des Begriffsfeldes ›Handlung‹: der Fragen des Verschuldens, der Zurechnung, der Absicht, des Vorsatzes und damit der objektiven und subjektiven Haftung27 – also die Ausbildung der Begriffe des »inneren Rechts«, die Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts im Kapitel »Moralität« abhandelt. Prägnanz gewinnt der Handlungsbegriff ja erst dort, wo ›Handlung‹ nicht bloß auf objektiv gedachte Vorgänge wie Veräußerung, Leistung oder Unrecht bezogen, sondern als zurechenbare, rechtlich verschuldete Willenshandlung, als verantwortliche Tat und »als Äußerung der Subjektivität, als das Recht des subjektiven Willens begriffen wird.«28 Die Ausbildung dieser Seite der Anerkennung des freien Willens setzt sowohl systematisch als auch geschichtlich die Begriffe des »äußeren Rechts« und damit auch den Begriff der Person voraus – und sie reicht bis weit in die Neuzeit hinein. Vielleicht ist sie ja auch heute noch nicht abgeschlossen. Parallel hierzu vollzieht sich die Ausbildung des Eigentumsrechts. So eng »Person« und »Eigentum« (im Sinne von Individualeigentum) auch und gerade bei Hegel begrifflich verknüpft sind: Zur Realisierung dieses Zusammenhangs bedarf es einer Jahrhunderte, ja Jahrtausende langen Entwicklung. In ihr kommt der Person der sowohl systematische als auch geschichtliche Primat vor dem Eigentum zu: »noch bevor das einzelne Individuum seine Eigentums- und Vermögensrechtsfähigkeit gewinnt, gilt es im Gemeinschaftsleben bereits rechtlich als verantwortlich handelnde freie Persönlichkeit.«29 Die große Spanne in der geschichtlichen Realisierung lockert jedoch nicht den systematischen Zusammenhang beider Begriffe; die Freiheit des Eigentums tritt zur Freiheit des Willens und zur Erkenntnis seiner als des rechtserzeugenden Prinzips nicht äußerlich hinzu, sondern sie ist ein Indiz seiner Verwirklichung. Hegel hat diesen systematisch ebenso engen wie geschichtlich weiten Zusammenhang erkannt und ausgesprochen: Die Freiheit der Person habe schon vor anderthalb Jahrtausenden zu blühen angefangen, doch die Freiheit des Eigentums sei erst »seit gestern, kann man sagen, hier und da als Princip anerkannt worden.« Und so sieht er in der zeitlichen Dis27 28 29

Wesel: Frühformen des Rechts, 346 f. Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte, 97, vgl. 108. Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte, 63 f.

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krepanz ein »Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzuschreiten«.30 Denn die Freiheit des Willens ist erst dort in vollem Umfang realisiert, wo sie in der Freiheit des Eigentums ihr Komplement und ihre Wirklichkeit findet – also ebenfalls erst »seit gestern«. (3) Der Weg von der Natur zur Freiheit ist – drittens – im Blick auf den Geltungsmodus des Rechts als ein Weg von außen nach innen zu charakterisieren – präziser: von ›Wirkformen‹ zum Willensakt. Dieser Aspekt ist eng verbunden mit dem eben angesprochenen zweiten; deshalb berühre ich ihn hier nur kurz. – Auf frühen Stufen der Rechtsgeschichte ist es dem Bewußtsein unerklärlich, wie das Recht aus sich heraus eine Bindungswirkung entfalten könne. Wo dem »Innen« noch nicht die Kraft zugeschrieben wird, Recht zu setzen, wo das Recht noch nicht als durch einen Willensakt gesetzt gilt, sondern als entweder immer schon in der Natur wurzelnd oder als von außen gesetzt, da muß plausibler Weise auch seine Verbindlichkeit durch – für uns! – äußere Umstände begründet und garantiert werden. Rechtsvorgänge werden nur nach ihrer äußeren Objektivität betrachtet und gewertet; eine rechtliche Wirkung kommt nur der formalisierten Rechtshandlung, also einem äußeren Tatbestand zu. Wie das Bewußtsein bei der Identifizierung der rechtsetzenden Instanz zur Projektion greift und das Prinzip, das es noch nicht in sich selber findet, außer sich suchen muß, so muß es auch das Prinzip, das die Geltung des Rechts sichern soll, in die Äußerlichkeit verlegen – in religiöse Rituale oder, weniger feierlich, aber ebenso langfristig wirksam und effizient, in magischzauberische Praktiken, denen es eine direkte, quasi-mechanische Wirkung zuschreibt. Ihre geschichtliche Ablösung erfolgt in einigen Aspekten analog der frühneuzeitlichen Einführung des Kraftbegriffs und der dadurch möglichen Ablösung der Himmelsgeister, denen zuvor die Aufgabe zugefallen ist, die Sphären zu bewegen. Doch während diese Emeritierung der Himmelsgeister im frühen 17. Jahrhundert rasch von statten geht, treten an die Stelle magischer Praktiken zunächst Wirkformen, die die Geltung des Rechts durch seine Verankerung in äußeren Akten und Formen sicherstellen sollen – Wortformeln oder Handlungsriten. Sie gelten als das eigentlich rechtwirkende und geltungsbegründende Moment. Dies betrifft auch solche Vorgänge, die für uns den Charakter von Willenserklärungen haben. Selbst wenn etwa, nach dem bekannten Satz des Gaius, »Omnis enim obligatio vel ex contractu nascitur vel ex delicto«,31 wenn alle Verbindlichkeit entweder 30 31

RPh § 62 Anm. Wesel: Frühformen des Rechts, 345.

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aus einem Vertrag oder aus einem Delikt erwächst, so erwächst sie doch nicht aus dem Faktum der dem Vertrag zu Grunde liegenden Willenseinigung, sondern aus den äußeren Wirkformen, da sie erst die Rechtsgeltung des Kontraktes begründen. Und parallel zur Ausbildung des Begriffs der Rechtspersönlichkeit und seiner Vertiefung durch die subjektive Seite des Rechts, in dem Grade, in dem der Wille als das rechtsetzende und geltungsbegründende Prinzip erkannt wird, wird auch die Geltung des Rechts aus der Äußerlichkeit in die bindende Wirkung des Willens gesetzt; die äußeren Wirkformen treten zurück. Sie verschwinden aber nicht gänzlich; ein flüchtiger Nachhall von ihnen bleibt erhalten im fixierten Wortlaut beim Vollzug von Rechtsakten oder in den Zeremonien von Vertragsunterzeichnungen – aber nun nicht mehr als geltungsbegründendes Moment, sondern nur noch als medienwirksames Dekor.

III. Genealogie des Rechts – Genealogie des Subjekts (1) Die Genealogie des Rechts ist die Genealogie der Freiheit. Vielleicht klingt dieser – von Hegel so nicht ausgesprochene und doch so ganz Hegelsche – Satz jetzt, am Ende meines Vortrags, weniger befremdlich als an seinem Beginn. Ich habe meine anfängliche Aussage über die Geschichte des Rechts als Geschichte der Freiheit hier begrenzen müssen auf die Genealogie des Rechts; es läßt sich aber unschwer zeigen, daß sie für die Rechtsgeschichte überhaupt zutrifft. Natürlich wäre es töricht, sie gleichsam an jeder Gesetzesnovelle verifizieren zu wollen. Doch ist die Rechtsgeschichte voll von Belegen dafür, daß sie als eine Geschichte der Freiheit verstanden werden kann und auch verstanden werden sollte. Ich nenne hier nur die Trennung von Privatrecht und Strafrecht oder die Sphärendifferenzierung von Recht, Moral und Sitte in der Aufklärung oder die Entkoppelung von religiösem Bekenntnis und Bürgerrecht im 19. Jahrhundert – und diese Reihe ließe sich fast beliebig verlängern. Allerdings möchte ich nochmals unterstreichen: Der »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit« liegt nicht darin, daß die Rechtsverhältnisse sich ständig ein Stückchen freiheitlicher gestalten – so wie im Frühling die Welt schöner wird mit jedem Tag. Er liegt vielmehr darin, daß der Wille fortschreitend als eine nicht allein wirklichkeitsgestaltende, sondern rechtsgestaltende Potenz erkannt und anerkannt wird – daß erkannt wird, daß er dem Gesetz nicht bloß unterworfen ist, sondern daß er es selber gibt und daß es sich auch gar nicht anders geben läßt als nur durch ihn selbst, weil alle Normativität allein in ihm ihren Ursprung hat. Daß die ihrer selbst bewußte Freiheit auch

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wieder eine Gestaltungskraft für die Verwirklichung freiheitlicher Verhältnisse freisetzen kann, trifft sicherlich zu – aber dies ist ein weiterer Schritt, und er steht unter anderen Bedingungen. Und es ist leider eben so wahr, daß aus Freiheit massiver Zwang folgen kann. Doch steht auch zu erwarten, daß das Selbstbewußtsein der Freiheit – anders als die sich nicht wissende Freiheit – auf die Abschaffung dieses Zwangs hinarbeiten werde. Und dies scheint mir keine bloße Hoffnung, sondern eine Selbstverständlichkeit zu sein. (2) Hegels Konzeption der Geschichte des Selbstbewußtseins bietet einen konzeptuellen Rahmen für das Begreifen der Genealogie des Rechts und der Rechtsgeschichte überhaupt. Die rechtsgeschichtliche Genese der Person und im weiteren Verlauf die Genese des – in Hegels Sinn – »moralischen« Subjekts ist neben und vor allen anderen Aspekten als ein Ereignis der Bewußtseinsgeschichte zu begreifen. Damit soll der Beitrag der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Alten Welt zur Genealogie des Rechts keineswegs bestritten sein; heute ist die Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte für die Dynamik der Rechtsgeschichte ohnehin unübersehbar. Aber diese gegenwärtigen Entwicklungen stehen auf dem Boden einer – soweit sich erkennen läßt – abgeschlossenen Entwicklung des Subjekts; Hegel hätte gesagt: auf dem Boden des Wissens um die Unendlichkeit des Subjekts. Fraglos vollzieht sich die Genese des Rechts nicht unabhängig von sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen – dies ist trivial. Doch sind diese Entwicklungen selber an einen Rahmen gebunden, der durch subjektivitätstheoretische Voraussetzungen abgesteckt ist. Sie beruhen selber auf Leistungen der Subjektivität, und deshalb werden Person und Subjekt durch sie nicht erst hervorgebracht, sondern sie werden zum Wissen von sich selbst, zu ihrem selbstbewußten Fürsichsein gebracht – zum Wissen dessen, was sie an sich sind. (3) Bisher habe ich die Erschließungskraft bewußtseinsgeschichtlicher Argumente für die Genealogie des Rechts betont: Die Genese des Rechts ist nur dort begriffen, wo sie zumindest zugleich als Moment der Bewußtseinsgeschichte begriffen ist. Doch dieser Satz läßt sich ebenso umkehren – und hierdurch gewinnt er noch an Gewicht: Fundamentale Züge der Bewußtseinsgeschichte – die Genese von Person und Subjekt – lassen sich nicht ohne die Genese und Geschichte des Rechts begreifen. Die Rechtsgeschichte bildet deshalb einen konstitutiven Bereich der Geschichte des Selbstbewußtseins. Die Bewußtseinsgeschichte beginnt ja nicht mit dem Selbstbewußtsein von Person und Subjekt; diese bilden zwar – nach der Seite eines sich selbst zunächst nicht durchsichtigen Ansichseins – die Voraussetzung der Genese des Rechts, aber ihr Selbstbewußtsein ist das Produkt der Rechtsgeschichte. Hierdurch aber wird das Verhältnis von Rechtsgeschichte und

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Bewußtseinsgeschichte asymmetrisch. Eine Rechtsgeschichte, die nicht ausdrücklich bewußtseinsgeschichtlich konzipiert ist, wird zwar – nach Hegels Wort – das Aufzeigen, wie es mit einer Sache vormals gehalten worden, mit ihrem Verstehen verwechseln,32 aber sie wird dennoch die Genese bewußtseinsgeschichtlich relevanter Begriffe wie Person, Subjekt, Wille, Handlung in ihrem Kontext darstellen. Eine Bewußtseinsgeschichte hingegen, die die Rechtsgeschichte nicht integrierte, verfügte nicht einmal über den grundlegenden Begriff der Person, und auch wichtige Züge des Begriffsfeldes ›Subjekt, Wille, Handlung‹ blieben ihr verschlossen. Und deshalb bliebe ihr letztlich auch der Gedanke der Freiheit verschlossen, der doch – mit dem letztem Satz der rechtsphilosophischen Vorlesungen Hegels33 – »ihr Innerstes« ist.

32

GW 18, 85. Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. 1831, Nachschrift David Friedrich Strauß. Edition Ilting Bd. 4, 925. 33

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Analysiert man die modernen politischen Theorien, so ist es vom deskriptiven Standpunkt aus nützlich, in der Weise von Leo Strauss Naturrecht und Historismus einander entgegenzustellen.1 In solcher Hinsicht kann man feststellen, daß diese Lehren (deren erstere sich nach Strauss verdoppelt, indem für ihn das »moderne Naturrecht« einen Verrat an den Prinzipien der klassischen Naturrechtslehre begeht) auf gegensätzlichen theoretischen Prämissen beruhen. Das Naturrecht setzt eine allgemeine und überzeitliche Vernunft voraus, welche die Grundlage der praktischen Philosophie und der ihr unterordneten positiven Fächer, in erster Linie der Rechtswissenschaft, bereitstellt. Der Historismus dagegen nimmt an, das Recht sei (wie übrigens ein jegliches Zivilisationsgebilde) in einer einzelnen (nationalen, sprachlichen, kulturellen, wissenschaftlichen) Tradition verortet, deren immer singulärer Sinnzusammenhang eine hermeneutische Klärungsarbeit voraussetzt. Außerdem ist es in chronologischer Hinsicht üblich und deskriptiv treffend, der Naturrechtsära (17. und 18. Jahrhundert) die Zeit der Geschichte (19. Jahrhundert), und zwar der verschiedenen Strömungen, die unter der Benennung ‚Historismus’ zusammengefaßt sind, nachfolgen zu lassen.2 Doch stößt diese doppelte Unterscheidung sofort auf Schwierigkeiten, wenn man bestimmte Beispiele zu analysieren versucht. Auf chronologischer Ebene hat die naturrechtliche Lehre als Denkfigur und als Forschungs- und Lehrprogramm ihr mutmaßliches Ende lange überlebt.3 Auf theoretischer Ebene ist es manchmal

1

Siehe L. Strauss: Natural Right and History, Chicago 1953, Chapter 1. Siehe dazu die klassischen Werke von E. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, in: Gesammelte Schriften 3, Tübingen 1922, und von F. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, in: Werke 3, Oldenburg 1959, sowie C. Antoni: Dallo storicismo alla sociologia, Firenze 1951. Siehe dazu J. A. Barash: Politiques de l’histoire. L’historicisme comme promesse et comme mythe, Paris 1984, und B. Binoche: Les trois sources des philosophies de l’histoire, Paris 1994. 3 Siehe u. a. J. Schröder und I. Pielemeier: »Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts«, und D. Klippel: »Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: O. Dann/D. Klippel (Hrsg.): Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, Hamburg 1995, 255–269 und 270–292; D. Klip2

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schwierig, naturrechtliche und historische Komponenten einer bestimmten Theorie zu unterscheiden. Die neuere Forschung über den Wortführer der historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, hat beispielsweise die massive Präsenz naturrechtlicher Elemente bei ihm nachgewiesen, die insbesondere dem Einfluß Kants auf ihn zu verdanken sind.4 Wie sein Berliner Kollege und Gegner Savigny gehört Hegel in die Übergangszeit zwischen der Naturrechtsära und der Periode, in welcher der Historismus sich durchgesetzt hat. Diese Tatsache erklärt teilweise, daß die Urteile über sein Werk auf so erstaunliche Weise auseinanderlaufen. Trotz des zweiten, traditionelleren Titels der Grundlinien der Philosophie des Rechts, nämlich Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, haben viele Autoren in der Literatur dieses Werk als Bruch mit den metaphysischen und anthropologischen Voraussetzungen des modernen Naturrechts und als eine Rückkehr zur holistischen, oder wenigstens zur nicht-individualistischen Perspektive des antiken Naturrechts verstanden. J. Ritter z. B. versteht die Lehre der Sittlichkeit als einen Widerruf der individualistischen Voraussetzungen und der vertraglichen Konstruktion der modernen politischen Philosophien. Ohne die entscheidende Rolle des Bruchs mit dem Polismodell für die Ausbildung des Hegelschen Systems zu bestreiten, sieht er im Begriff der Sittlichkeit eine gewisse Rehabilitierung des aristotelischen Begriffs der Natur und deshalb des Nomos.5 Demgegenüber bezeichnen M. Riedel und N. Bobbio die politische Philosophie Hegels als Vollendung und kritische Auflösung des modernen Naturrechts.6 Riedel insbesondere betont, daß die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft die naturrechtliche Trennung von Naturzustand und Gesellschaftszustand ersetzt, obwohl sie deren dualistische Struktur beibehält. In einer völlig anderen Perspektive sieht K.

pel: »Die Historisierung des Naturrechts«, in: J.-F. Kervégan/H. Mohnhaupt (Hrsg.): Recht zwischen Natur und Geschichte, Frankfurt/M. 1997, 103–124. 4 Siehe u. a. W. Wilhelm: »Savignys überpositive Systematik«, in: J. Blühdorn und J. Ritter (Hrsg.): Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1969, 123–136; J. Rückert: Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei F. C. von Savigny, Ebelsbach 1984; D. Nörr: Savignys philosophische Lehrjahre, Frankfurt/ M. 1994. 5 Siehe J. Ritter: »Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik«, in: Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 2003, 281–309. 6 Siehe M. Riedel: »Hegels Kritik des Naturrechts«, in: ders.: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, 170–203. Die These Bobbios steht dem nahe: »Rispetto alla tradizione del diritto naturale, la filosofia giuridica di Hegel è, insieme, dissoluzione e compimento« (»Hegel e il giusnaturalismo«, in: N. Bobbio: Studi Hegeliani, Torino 1981, 3).

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Löwith Hegel als den Initiator der historischen Orientierung des modernen Denkens, welche sich durchgesetzt hat, seitdem man es als möglich betrachtet, die theologischen Voraussetzungen des klassischen Geschichtsdenkens aufzugeben. Indem Hegel die Geschichte und die Natur selbst anhand des spekulativen Begriffs des Geistes denkt, wird er dazu geführt, das christlichaugustinische Verständnis der Geschichte als eschatologischer Heilserwartung zu verweltlichen.7 In dieser Perspektive bricht Hegel mit dem politischen Denken der Antike sowie mit der christlichen Theologie der Erlösung. Die Transformation des Heilsgeschehens in das Weltgeschehen, des jüngsten Gerichts in das Weltgericht, der Vorsehung in die List der Vernunft wären dann die Ergebnisse solcher Verschiebungen, deren allgemeine Bedeutung darin besteht, dem Menschen als Träger des Geistes einen privilegierten Wert zu verleihen.8 Hierin ist Löwith mit Strauss einer Meinung, nach welchem Hegel und Marx die Wendung zum Historismus und Humanismus vollendet haben, die sich im modernen politischen Denken seit Machiavelli und Hobbes nach und nach vollzogen hat; für Strauss, aber nicht für Löwith, ist der Bruch mit der praktischen Philosophie des Altertums, also mit dem Naturrecht von Aristoteles und den Stoikern, der entscheidende Faktor dieser Entwicklung.9 Wie läßt sich diese Meinungsverschiedenheit erklären? Man könnte sie wohl durch die seit Rudolf Haym so oft denunzierte Zweideutigkeit Hegels zu erklären versuchen.10 Andererseits könnte man aber auch der Meinung sein, daß das Gemeinsame dieser Ansichten vielleicht darin liegt, daß sie vorschnell den Topos des Gegensatzes von Natur und Geschichte im modernen Denken akzeptieren. Dann wäre zu fragen, ob die Originalität der politischen Philosophie Hegels nicht darin liegt, daß sie diesen Gegensatz zurückweist, oder ihn wenigstens in einem Kontext verortet, der seine Bedeutung verwandelt.

7

Siehe K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, 61–69. 8 Siehe K. Löwith: »Mensch und Geschichte«, in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 2, 364–368, sowie »Hegels Aufhebung der christlichen Religion«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, 116–166. 9 Siehe L. Strauss: Natural Right and History, zit., chapt. 1; What is political Philosophy?, New York 1959. 10 Siehe R. Haym: Hegel und seine Zeit, 368–371. Übrigens hat die Diskussion zwischen Haym und Rosenkranz (Hegel und seine Zeit, 1844; Apologie Hegels gegen Dr. Haym, 1858; Hegel als deutscher Nationalphilosoph, 1870) den Rahmen der Debatte über die Gesamtbedeutung der Hegelschen Philosophie auf eine erstaunlich dauernde Weise bestimmt. Siehe darüber H. Ottmann: Individuum und Gemeinschaft. Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977, 74–85.

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Die Kritik des modernen Naturrechts: der Akzent der Geschichte Die im Aufsatz »Über die Behandlungsarten des Naturrechts« von Hegel unternommene Kritik des modernen Naturrechts ist bis zu den letzten Berliner Schriften dauerhaft und stabil geblieben, obwohl die Hegelsche Philosophie inzwischen bedeutsame Umwandlungen erfahren hat. Im Aufsatz aus dem Jahre 1802 wird zwar die Kritik der beiden im modernen Naturrecht von Hegel unterschiedenen Hauptströmungen (des »empirischen« Naturrechts von Grotius, Hobbes, Pufendorf und Locke sowie des »formalen« Naturrechts Kants und Fichtes) hauptsächlich vom Standpunkt der Schellingschen Identitätsphilosophie unternommen, wie sie im System des transzendentalen Idealismus und in der Darstellung meines Systems der Philosophie ausgeführt wird. Doch ist der Fall Rousseaus innerhalb dieser generellen Kritik etwas komplexer. Einerseits ist Rousseaus Denken durch die Begriffe, auf die er rekurriert, im modernen Naturrecht verwurzelt; andererseits stützt sich der junge Hegel mit Recht auf ihn, um die moderne Perversion der Sittlichkeit zu denunzieren, welche den Standpunkt des »bourgeois« mit dem des »citoyen« verwechselt und den ersteren implizit bevorzugt. Es handelt sich also bei Rousseau um einen Selbstaufhebungsversuch der Moderne, dessen Scheitern notwendig aus der Unzulänglichkeit seiner Begrifflichkeit folgt. Doch stützt sich Hegel in erster Linie auf ein Verständnis des politischen Bands, das Rousseau selbst im Contrat social erfolglos im Leben zu halten versucht hat. Dank der Kritik gewisser Hauptbegriffe des modernen Naturrechts (in erster Linie der Begriffe »Naturzustand« und »Gesellschaftsvertrag«) wird die Moderne selbst verurteilt, indem sie zu einer Trennung von Politischem und Rechtlich-Ökonomischem, von citoyen und bourgeois und sogar zu einer Umwälzung ihrer klassischen Hierarchie führt. So schreibt Rousseau: »Le vrai sens de ce mot [cité] s’est presque entièrement effacé chez les modernes; la plupart prennent une ville pour une cité et un bourgeois pour un citoyen. Ils ne savent pas que les maisons font la ville, mais que les citoyens font la cité«.11 Im Rahmen einer solchen Kritik des Selbstverständnisses der Moderne beruft sich Hegel im Naturrechtaufsatz und im System der Sittlichkeit (wie schon Rousseau selbst) explizit auf das griechische Ideal der Polissittlichkeit, wie er es dank einer sehr freien Deutung Platons und Aristoteles’ rekonstruiert. Der moderne Mensch ist derjenige, der zugunsten des Privateigentums und des egoistischen Interesses auf 11

Rousseau: Du Contrat social [Contrat] I/6, Oeuvres Complètes [OC] 3, Paris 1964, 361.

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»das, wofür die Griechen den Namen πολιτεύειν hatten, was in und mit und für sein Volk leben, ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben führen ausdrückt,« verzichtet.12 Die absolute (politische) Sittlichkeit bedeutet eine Ablehnung der von der relativen (bürgerlichen) Sittlichkeit verkörperten Privatisierung der Existenz, deren theoretische Gestalt die moderne Naturrechtslehre ausmacht. Bekanntlich hat Hegel auf dieses Modell oder dieses Ideal der Polis, welches den Gedankengang des Naturrechtsaufsatzes leitete, schon bald verzichtet. Dieser Verzicht ist mit dem Schrecken, den Hegel vor den tragischen Folgen der Aktualisierung des Polisideals durch die französische Revolution empfindet, sowie mit der Konstitution seiner eigenen definitiven Philosophie verbunden. Diese Entwicklung ist in den letzten Jenaer Schriften, insbesondere in der Phänomenologie des Geistes spürbar. Aber schon in der »Philosophie des Geistes« von 1805/06 gerät das in den vorhergehenden Jenaer Schriften hochgelobte Modell der »schönen sittlichen Totalität« in eine tiefe Krise. Einerseits wird noch die unmittelbare, als Prinzip der antiken Sittlichkeit geltende Zustimmung der Einzelnen zum politischen Allgemeinen als ein Ideal der Freiheit dargestellt, das »so sehr beneidet worden und wird«.13 Nunmehr ist es nur noch ein Ideal, das die moderne Welt entlassen hat, und diesem Ideal wird nun »das höhere Princip der neuern Zeit, das die Alten, das Plato nicht kannte« entgegengesetzt.14 Hegel stellt fest: »Durch diß Princip ist die aüssre wirkliche Freyheit der Individuen in ihrem unmittelbaren Daseyn verloren; aber ihre innre – die Freyheit des Gedankens erhalten«.15 Von der Phänomenologie des Geistes bis zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts und zur Enzyklopädie wird Hegel immer deutlicher bewußt, daß die Überlegenheit der Moderne darin liegt, daß die Selbstbehauptung der Individualität mit dem Primat des Allgemeinen nicht mehr unvereinbar ist und ohne diese Vermittlung das Bestehen einer sittlich-politischen Gemeinschaft einfach nicht denkbar ist. Diese schon in Frankfurt und Jena unternommene »Vereinigung mit der Zeit«16 verdankt bekanntlich vieles der schottischen »Staatswirtschaft« und politischen Philosophie. 12

TWA 2, 489. GW 8, 262: es handelt sich um die »schöne und glükliche Freyheit der Griechen«. Siehe dazu TWA 3, 264–266. 14 GW 8, 263. 15 GW 8, 263 f. 16 »Systemfragment« (TWA 1, 427). 13

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Solche Umbildung der Grundlagen des sittlich-politischen Denkens Hegels hat hinsichtlich der wiederholten Kritik der modernen Naturrechtslehre eine doppelte Wirkung. Erstens hält Hegel an seiner Kritik der begrifflichen Werkzeuge des Naturrechts, und zwar der »Fiktion des Naturzustandes« und der Thematik des Gesellschaftsvertrags fest; diese Kritik verschärft sich sogar. Hier wird nur die Kritik des Naturzustandes behandelt werden. Hegels Argumentation bezüglich des Naturzustands bleibt im Wesentlichen diejenige, die bereits im Naturrechtsaufsatz entwickelt worden war. Der Naturzustand ist eine Fiktion, doch ist diese Fiktion notwendig, sobald man die individualistischen Prämissen der modernen Naturrechtslehre annimmt. Wenn man sich in einer solchen Perspektive bewegt, dann ist die Hobbessche Fassung der Naturrechtslehre strenger und plausibler als die anderen, da sie die einzige ist, welche die unbedingte Notwendigkeit einer politischen Ordnung begründet.17 Hegel macht sich also das Hobbessche Motto exeundum est e statu naturae eigen, obwohl er es einmal irrtümlich Spinoza zuordnet;18 doch gibt er ihm eine unerhörte Fortsetzung. Wenn der Begriff »Naturzustand« eine relative Triftigkeit behält, dann deshalb, weil er die Negation jeglichen Rechtsverhältnisses veranschaulicht. Der Naturzustand kann nur als das Gegenteil, besser gesagt als das Negative des in Gesellschaft und Staat verkörperten Rechtszustandes gedacht oder »erdichtet« werden: »Das Recht der Natur ist darum das Dasein der Stärke und das Geltendmachen der Gewalt, und ein Naturzustand ein Zustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts, von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus ihm herauszugehen ist. Die Gesellschaft ist dagegen vielmehr der Zustand, in welchem allein das Recht seine Wirklichkeit hat; was zu beschränken und aufzuopfern ist, ist eben die Willkür und Gewalttätigkeit des Naturzustandes«.19 17

Zum Verhältnis Hegel-Hobbes siehe u. a. V. Goldschmidt, »Etat de nature et pacte de soumission chez Hegel«, in: ders: Ecrits 2, Paris 1984, 193–202; L. Siep: »Der Kampf um Anerkennung. Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes«, in: Hegel-Studien 9 (1974), 155– 207; J. Taminiaux: »Commentaire«, in: Naissance de la philosophie hégélienne de l’Etat. Commentaire et traduction de la Realphilosophie d’Iéna, Paris 1984, 133 ss. 18 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, 117. 19 Enz § 502 A. (TWA 10, 311 f.). Diese Stelle ist der einzige Berliner Text, wo das Wort ›Gesellschaft‹ im traditionellen Sinn der societas civilis sive politica, nicht in der neuen Bedeutung benutzt wird, die es ab 1817 bekommt. Diese Merkwürdigkeit erklärt sich wahrscheinlich durch die Tatsache, daß die Redaktion der Stelle relativ früh erfolgt sein wird, also in einem Kontext, in welchem die spätere Unterscheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft nicht explizit gemacht ist. Man findet diese Bemerkung schon in

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Wenn daher der Naturzustand etwas anderes als eine rein ideelle Negation der wirklichen rechtlich-politischen Ordnung ist, wenn er eine faktische Existenz bekommt,20 dann ist diese Existenz eine Verhinderung des sittlichen Lebens, welche beseitigt werden muß. Der Naturzustand kann ohnehin keine normative Bedeutung erhalten, insofern er genau das ist, wodurch jegliche Normativität prinzipiell unmöglich gemacht wird. Der Begriff behält deshalb eine höchstens deskriptive Funktion, indem er die Merkmale der sozial-politischen Wirklichkeit kontrafaktisch offenbart. Nur in solcher Hinsicht rekurriert Hegel auf diese Wendung; dies war aber schon bei Rousseau selbst der Fall, nach welchem man »die Untersuchungen, in die man über diesen Gegenstand eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen [darf], sondern nur für hypothetische und bedingungsweise geltende Schlußfolgerungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen«.21 Es steht also fest, daß die Hegelsche Kritik der Grundbegrifflichkeit der modernen Naturrechtslehre keine Ablehnung des naturrechtlichen, besser gesagt des vernunftrechtlichen Vorhabens impliziert. Zweitens beschränkt Hegel sich aber nicht darauf, die begrifflichen Werkzeuge der modernen Naturrechtslehre zu kritisieren; er bestreitet, wie es aussieht, auch deren Grundabsicht. Das zeigt insbesondere die soeben zitierte Anmerkung zu Paragraph 502 der Berliner Enzyklopädie: »Der Ausdruck Naturrecht, der für die philosophische Rechtslehre gewöhnlich gewesen, enthält die Zweideutigkeit, ob das Recht als ein in unmittelbarer Naturweise vorhandenes oder ob es so gemeint sei, wie es durch die Natur der Sache, d. i. den Begriff, sich bestimme.«22 Üblicherweise versteht man diese Stelle als eine radikale Kritik an der naturrechtlichen Problematik. In der Tat wird aber nur das Vokabular des Natursehr ähnlicher Form in dem im Nürnberger Gymnasium gehaltenen Kurs über »Rechts-, Pflichten- und Religionslehre«, welcher die Staatsgesellschaft und die natürliche Gesellschaft (die Familie) klassischerweise entgegengestellt (TWA 4, 245 f.) und Wort für Wort in der ersten Ausgabe der Enzyklopädie (Enz 1817 § 415). 20 Diese Frage des entweder faktischen oder nur begrifflichen Charakters des Naturzustandes ist eine crux der naturrechtlichen Lehren, sogar der konsequentesten: siehe Hobbes: Leviathan, hrsg. v. McPherson, London 1985, 187–188; Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes [Discours], OC 3, 123 et 132–133. 21 Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. v. H. Meier, UTB/Schöningh, 1990, 71; Discours, OC 3, 132–133. 22 Enz § 502 A. (TWA 10, 311).

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rechts bestritten, und zwar infolge der irrtümlichen Vorstellungen, die es erwecken kann. In diesem Punkt ist der Text der Heidelberger Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft eindeutig. Hegel proklamiert dort nämlich: »Der Name des Naturrechts verdient aufgegeben zu werden und durch die Bennennung ›philosophische Rechtslehre‹ oder, wie es sich auch zeigen wird, Lehre von dem objektiven Geist ersetzt zu werden. Der Ausdruck ›Natur‹ enthält die Zweideutigkeit, daß darunter 1) das Wesen und der Begriff von etwas verstanden wird und 2) die bewußtlose unmittelbare Natur als solche«.23 Obgleich Hegel den Namen ›Naturrecht‹ beseitigt, sieht man also, daß er die Grundabsicht der modernen Naturrechtslehre bestätigt, und zwar: das positive Recht vernünftig zu begründen. Außerdem sind die theoretischen Schwankungen der Naturrechtslehre, so wie ein Begriff wie der des Naturzustandes sie aufzeigt, keineswegs zufällig. In der Tat betrifft der Hauptvorwurf Hegels gegen die moderne Naturrechtslehre nicht ihre Terminologie (sonst würde es genügen, das Wort »Natur« durch das Wort »Vernunft« zu ersetzen, um dieser Theorie volle Geltung zu verleihen), sondern die Mangelhaftigkeit ihres Rationalitätsbegriffs. Die bei Hobbes24 mit voller Konsequenz durchgeführte Herabsetzung der Vernunft zu einer Berechnungsfähigkeit ist die Ursache der irrtümlichen Ansichten der Naturrechtslehre über die Grundlegung des Rechts und der daraus resultierenden falschen Folgerungen, was den Staat betrifft. Falls aber der endgültige Mangel der naturrechtlichen oder vernunftrechtlichen Theorien darin liegt, daß sie über eine unzureichende Konzeption der Vernunft verfügen, dann gehört es sich, anhand eines anderen, »reicheren« Begriffs der Rationalität diese Theorie zu rekonstruieren. Dies führt Hegel dazu, im ersten Paragraphen der Grundlinien die Unterscheidung von Begriff und Idee des Rechts zu formulieren, was das Verständnis sowie die Extension des Wortes tiefgreifend verändert. Von da an wird die als Axiom der Naturrechtslehre geltende Rationalität des Rechts nicht nur durch die zarten deduktiven Konstruktionen des Verstands hervorgerufen; ihr Beweis besteht vielmehr in der Eignung des abstrakten Rechts dazu, sich in einer Reihe konkreter geschichtlicher Gestal-

23

Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (Heidelberg 1817/18) mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19, Nachschrift P. Wannenmann, hrsg. v. C. Becker u. a., Hamburg 1983 (= Hegel. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 1), § 2, 6. 24 Siehe Hobbes: Leviathan, Chapt. 5, 111.

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tungen zu verkörpern.25 Bereits dadurch versteht man, daß in Hegelscher Hinsicht die Rechtsphilosophie notwendig mit einer Moralphilosophie und einer politischen Philosophie verknüpft ist und daß sie sich ebenso notwendig zu einer Philosophie der Geschichte entfaltet; das alles macht insgesamt die Hegelsche Sicht des alten Projekts einer »praktischen Philosophie« aus. Dies kann nicht ohne Folgen für die Beurteilung des Naturrechts bleiben. Sicherlich werden auch bei Autoren wie Kant und Fichte (wenn nicht bei allen Naturrechtslehrern) Recht, Ethik, Politik und Geschichte verknüpft; doch erst Hegel begreift den breiten Prozeß der Weltgeschichte als den Verwirklichungsraum der abstrakten Prinzipien eines latissimo sensu verstandenen Rechts. An diesem Punkt findet eine entscheidende Akzentverschiebung von Natur zu Geschichte statt.

Das Geschichtliche und das Vernünftige: die Normativität des Begriffs Aus dieser Art, das Vernunftrecht zu konzipieren, folgt ein erneuter Zusammenhang desselben mit dem positiven Recht, worin die Geschichtlichkeit nicht des Rechts selbst, sondern seiner Verwirklichung durch gewisse objektive Gestaltungen wie Familie oder bürgerliche Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Die geschichtliche Realisierung an sich ungeschichtlicher Rechtsbestimmungen (wie z. B. die Befreiung des Privateigentums von den feudalen oder nachfeudalen Fesseln) zeigt, daß diese durch die naturrechtlichen Konstruktionen isolierten und verabsolutierten Bestimmungen in der Tat ein »abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen«, sind.26 Daß Hegel, als er den Zusammenhang des natürlichen oder philosophischen Rechts mit dem »geschichtlichen Element im positiven Rechte« darstellt, sich auf Montesquieu beruft, bringt die tiefgreifende Umdeutung ans Licht, die er in der Darstellung der naturrechtlichen Thematik einführen will, ohne doch ihre Grundabsicht zu bestreiten. Die im selben Kontext entwickelte Polemik gegen die historische Rechtschule zeigt dies ganz klar. Die von Hegel in der Nachfolge von Montesquieu verteidigte »wahrhafte historische Ansicht«27 des positiven Rechts steht der vom Historismus 25 26 27

Siehe RPh § 32 (TWA 7, 85). RPh § 3 A. (TWA 7, 35). Ebd.

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bewirkten »Isolierung des Rechts« (so Mommsen)28 entgegen, wobei dieser Historismus auf einem veränderten Weg mit der Naturrechtslehre wieder zusammentrifft. Den Vertretern eines starren Naturrechts, z. B. Wolff, dessen Anmaßung, empirische und kontingente Vorschriften zu demonstrieren, als ob sie Lehrsätze der Geometrie wären, von ihm mehrmals verspottet wird,29 erwidert Hegel durch die Feststellung der unüberwindbaren »Grenze« des »philosophischen Rechts«; dies erlaubt ihm, »die etwaige Vorstellung oder gar Forderung zu beseitigen, als ob durch dessen systematische Entwicklung ein positives Gesetzbuch, d. i. ein solches, wie der wirkliche Staat eines bedarf, herauskommen solle«.30 Es ist unsinnig, aus rein wissenschaftlichen Vernunft- oder Verstandesprinzipien ein bürgerliches Gesetzbuch oder ein Strafrechtsgesetzbuch deduzieren zu wollen. Die wirkliche, spekulative Vernunft weiß hingegen wohl, daß das wirkliche, geschichtlich konkrete Recht einen nicht zu beseitigenden kontingenten, unwissenschaftlichen Teil enthält. Den »historischen« Gegnern des Naturrechts oder der Philosophie nun (in den Grundlinien spielt Gustav Hugo diese reizlose Rolle; wir wissen aber, daß Savigny die wirkliche Zielscheibe der Hegelschen Polemik ist) erwidert Hegel, daß das »philosophische Recht« und das »positive Recht« zwar unterschieden, aber nicht notwendig gegensätzlich oder im Widerspruch sind; ihr Verhältnis ist eher als dasjenige »von Institutionen zu Pandekten« zu verstehen.31 Sicherlich ist die Wendung ungeschickt, sie zeigt Hegels wohl begrenzte Kenntnis des römischen Rechts, eine Begrenztheit, die Hugo in seiner Rezension der Grundlinien mit Nachdruck hervorgehoben hat.32 Sie zielt aber eher darauf, zu zeigen, daß die unvermeidbare Diskrepanz zwischen Historisch-Positivem und Vernünftigem, deren Ursachen in der Hegelschen Definition der Positivität

28

Siehe Yan Thomas: »Mommsen et l’Isolierung du droit«, in: Th. Mommsen: Le droit public romain (1892), De Boccard 1992, t. I, 1–48. 29 »Durch Wolff ist diese Anwendung [der synthetischen Methode] auf alle möglichen Arten von Kenntnissen ausgedehnt worden, die er zur Philosophie und Mathematik zog, – Kenntnisse, die zum Teil ganz analytischer Natur, zum Teil auch einer zufälligen und bloß handwerksmäßigen Art sind« (TWA 6, 538). Dieses Bestreben, die Empirie zu rationalisieren (in der Tat: zu geometrisieren) führt zu einer »Barbarei des Pedantismus«, die zugleich ein »Pedantismus der Barbarei« ist (TWA 20, 263). 30 RPh § 3 A. (TWA 7, 35). 31 Ebd. 32 Siehe G. Hugo: »Rezension der Grundlinien«, in: Göttinger Gelehrte Anzeigen, 61/1821; wiederabgedruckt in Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie, hrsg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 4 Bde., Bd. 1, 378–383, hier 381. (Im folgenden zitiert als »Rechtsphilosophie Ilting [Bandnummer]«)

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des Rechts angegeben sind, ihre prinzipielle Verbindung nicht verdecken soll. Diese Definition lautet: »Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben, und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis desselben, die positive Rechtswissenschaft. b) Dem Inhalte nach erhält dies Recht ein positives Element α) durch den besonderen Nationalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung und den Zusammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturnotwendigkeit angehören; β) durch die Notwendigkeit, daß ein System eines gesetzlichen Rechts die Anwendung des allgemeinen Begriffes auf die besondere von außen sich gebende Beschaffenheit der Gegenstände und Fälle enthalten muß – eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist; γ) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen«.33 Der Hinweis auf den »allgemeinen Begriff« in der Definition des positiven Rechts selbst ist wichtig, weil er den Gedanken hervorruft, das Verhältnis des Vernünftigen zum Positiven oder zum historischen Element des Rechts sei als rationaler Einbildungsprozeß der Positivität, als Dialektik der immanenten Norm und deren zunehmenden Teilverwirklichungen zu verstehen. Es gehört zum abstrakten, ungeschichtlichen Wesen des Vernunftrechts, daß es die geschichtlich bedingten, doch in ihrer Kontingenz selbst notwendigen Ausdrücke seiner eigenen Rationalität auseinander erzeugt und sozusagen der Äußerlichkeit ausliefert. Diese Untrennbarkeit von Positivem und Vernünftigem kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn man den Standpunkt des Vernünftigen, d. h. den Standpunkt der Rechtsphilosophie einnimmt. Gerade das haben die Vertreter des Historismus und schließlich des Rechtspositivismus versäumt. Es ist also durchaus klar, daß die Inanspruchnahme der historisch-positiven Dimension der Rechtsverwirklichung, d. h. des Übergangs des einfachen Begriffs zur Idee des Rechts, kein Bekenntnis Hegels zum Programm der historischen Rechtschule in sich schließt, so wie es in den Schriften Savignys aus den Jahren 1814–1815 dargestellt ist.34 Übrigens strotzen die 33

RPh § 3 (TWA 7, 34). F. C. von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814); »Über den Zweck dieser Zeitschrift«, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 1/1815, 1–12. Diese Texte sind, zusammen mit weiteren Dokumenten der Kodifikationsdebatte, in: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, München 1973, wiederabgedruckt. 34

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Grundlinien und noch häufiger die Heidelberger und Berliner Vorlesungen von kritischen Anspielungen auf die Ansichten Savignys. Hegel greift z. B. in die Diskussion über die Kodifikation ein, die nach der Niederlage Napoleons in Deutschland stattfindet und die dem Historismus Anlaß gibt, sich als kohärente Lehre darzustellen. Hegel tritt entschieden für die These seines Heidelberger Kollegen und Freundes Thibaut ein, die von der ausländischen Besetzung befreiten deutschen Staaten sollten sich mit einem gemeinsamen Zivilgesetzbuch ausstatten, das als Vorarbeit zur künftigen politischen Einigung gelten würde,35 und setzt sich mit der These Savignys auseinander, wonach eine Kodifikation nur unter vom Zustand des Volksgeistes und der Rechtswissenschaft bestimmten, doch im Deutschland von 1814 nicht vorhandenen Bedingungen gelingen kann. Gegen Savigny, der den »Beruf« des deutschen Volkes bestreitet, sich wie das revolutionäre Frankreich dank Bonaparte ein einheitliches und einigendes Zivilgesetzbuch zu geben,36 stellt Hegel in genauer Kontinuität mit Thibauts Argumentation fest: »Einer gebildeten Nation oder dem juristischen Stande in derselben die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen […], wäre einer der größten Schimpfe, der einer Nation oder jenem Stande angetan werden könnte«.37 Es kommt hinzu, daß die Ablehnung der Kodifikation unter dem Vorwand der mangelhaften Reife der Rechtsbildung schädliche Folgen für die Rechtspraxis mit sich bringt. Sie führt nämlich dazu, den Richtern die Aufgabe des Gesetzgebers zu überlassen, wie es in Ländern mit Gewohnheitsrecht der Fall ist: »Englands Landrecht oder gemeines Recht ist bekanntlich in Statuten (förmlichen Gesetzen) und in einem sogenannten ungeschriebenen Gesetze enthalten; dieses ungeschriebene Gesetz ist übrigens ebenso gut geschrieben, und dessen Kenntnis kann und muß durch Lesen allein (der vielen Quartanten, die es ausfüllt) erworben werden. Insbesondere bemerken [die Kenner] den Umstand, daß, da dies ungeschriebene Gesetz in den 35

Thibaut, »Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland« (1814), in: Thibaut und Savigny, zit., insbes. 67, 73. 36 Savigny: Vom Beruf..., in: Thibaut und Savigny, zit., 112, 125 ff., 188 ff. 37 RPh § 211 A. (TWA 7, 363). Die Auseinandersetzung mit Savignys Thesen ist in den Vorlesungen noch schärfer, z. B. in der Vorlesung von 1819/20: »Ein großer Teil derer, die gegen den Code Napoléon geschrieben und geschrien haben, haben wohl gewußt, was ihnen gefährlich ist. Der Code Napoléon enthält jene großen Prinzipien der Freiheit des Eigentums und der Beseitigung alles dessen, was aus der Feudalzeit herrührt« (Hegel: Die Philosophie des Rechts, hg. v. D. Henrich, Frankfurt/M. 1983, 172 f.).

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Dezisionen der Gerichtshöfe und Richter enthalten ist, die Richter damit fortdauernd die Gesetzgeber machen«.38 Was die These betrifft, wonach die Kodifikation die Rechtsentwicklung hemmen würde, wird sie dank der Unterscheidung zwischen ein für allemal festgestellten Prinzipien und einzelnen, mit dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft entwicklungsbedürftigen Vorschriften widerlegt. Die notwendige Rechtsentwicklung wird keineswegs durch die Kodifikation verhindert; sie zwingt im Grunde nur den Gesetzgeber, sein Werk nach und nach zu verbessern: »Ein Gesetzbuch, meint man, werde nie fertig, weil immer neue Fälle zukämen. […] Diese neuen Bestimmungen aber sind nichts als das besondre Detail der allgemeinen Bestimmungen. Dies also ist selbst nichts Neues, sondern immer kleinliche unwichtigere Bestimmungen. Wenn also ein gutes Gesetzbuch geschlossen ist, kommen immer wohl fernere Fälle, aber nicht der Sache nach den Prinzipien entgegen, sondern nur ein weiter particularisirtes. Und der Grund der Entscheidung für diese neuen Particularitäten muß in den schon vorhandenen Prinzipien enthalten sein. […] Ein großer alter Baum verzweigt sich mehr und mehr, ohne deshalb ein neuer Baum zu werden, und thöricht wäre es der neuen Zweige wegen keinen Baum pflanzen zu wollen«.39 Das Recht ist sicherlich innerhalb einer geschichtlichen Bewegung verortet; aus diesem Umstand folgt eine stetige Anpassung und Verfeinerung seiner positiven Vorschriften. Dies aber ist kein treffender Einwand gegen die in allen Hinsichten wünschenswerte Kodifikation des Rechts, noch gegen die naturrechtliche These der Rationalität seiner Grundprinzipien. Jenseits der Frage der Kodifikation und ihrer Zweckmäßigkeit hat die Polemik Hegels gegen die historische Rechtsschule in der Tat auch eine theoretische Bedeutung: Sie betrifft nämlich die Beziehung des Vernunftrechts bzw. des Naturrechts zum positiven Recht und insbesondere die Art, wie Rechtswissenschaft und Philosophie sich zu ihnen verhalten sollen. Bevor er sich in die Polemik gegen Gustav Hugo (indirekt auch gegen

38

RPh § 211 A. (TWA 7, 362–363); dazu Rechtsphilosophie Ilting 4, 535–536. An diesem Punkt enthält die Vorlesung von 1817/18 Formulierungen, die nicht denen der Grundlinien und der späteren Vorlesungen entsprechen. Hegel sagt zum Beispiel: »für die Freiheit und das Recht der Bürger ist eine gute Gerichtsverfassung nötiger als ein neues Gesetzbuch« (Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (Heidelberg 1817/18), zit., § 115, 152), einen Satz, den Savigny gerne unterzeichnet hätte ... 39 Rechtsphilosophie Ilting 3, 657 f.

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Savigny) einläßt, macht Hegel im § 3 der Grundlinien eine Unterscheidung zwischen der »Entwicklung aus historischen Gründen« und der »Entwicklung aus dem Begriffe«.40 Die historische Betrachtungsweise hat zwar »in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst und ihre Würdigung«.41 Betreffs der Rechtsinstitute und der weiteren Gestalten, welche zur Objektivierung der Freiheit beitragen, ist sie aber nicht imstande, eine rationale Rechtfertigung oder, in Kantischer Sprache, eine Deduktion zu liefern; eine solche Rechtfertigung muß sich nämlich auf den Begriff des Rechts gründen, sie ist deshalb die exklusive Sache der »philosophischen Betrachtung«, welche allein fähig ist, eine »an und für sich gültige Rechtfertigung« zu geben.42 Ganz offen pflichtet Hegel hier trotz seiner strengen Kritik der naturrechtlichen »Abstraktionen« einer Art der Beweisführung bei, die grundsätzlich naturrechtlich oder vernunftrechtlich klingt. Eine positiv-rechtliche Vorschrift kann wohl durch die geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung erklärbar sein, und »doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein«; dies gilt insbesondere für »eine Menge der Bestimmungen des römischen Privatrechts, die aus solchen Institutionen als die römische väterliche Gewalt, der römische Ehestand ganz konsequent flossen«, obgleich sie die Vernunft, daher das Recht selbst einfach beleidigten.43 Die Frage, die selbstverständlich an solche Beurteilungen gestellt werden muß, ist die nach den Kriterien, die es erlauben, zwischen vernünftigen und unvernünftigen, zwischen rechtskonformen und rechtswidrigen Rechtsinstituten zu unterscheiden. Die Definition solcher Kriterien setzt offensichtlich einen normativen, nicht einen faktischen oder deskriptiven Begriff des Rechts voraus. Ein solcher normativer Begriff des Rechts wird eben in der Einleitung der Grundlinien erarbeitet. Dort zeigt sich, daß die zuerst im abstrakten Raum der Subjektivität verschlossene Freiheit zur Selbstobjektivierung berufen ist, und zwar »sowohl in dem Sinne, daß sie als das vernünftige System seiner selbst, als in dem Sinne, daß dies unmittelbare Wirklichkeit sei«.44 Daher folgt die normative Definition des Rechts: »Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee«.45

40 41 42 43 44 45

RPh § 3 A. (TWA 7, 35). Ebd. Ebd, 36. Ebd. RPh § 27 (TWA 7, 79). RPh § 29 (TWA 7, 80).

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Diese normative Definition ist in den zahlreichen kritischen Bemerkungen vorausgesetzt, die in der Rechtsphilosophie über »schlechte« positive Rechtsvorschriften (wie die Einschränkungen der Rechtspersönlichkeit46 oder die Arten des Eigentums im römischen Recht oder die Unterscheidung von dominium utile und dominium eminens im feudalen Recht47) oder über ungültige philosophische Argumente (wie die Kantische Revision der Klassifikation der Verträge48 oder die Fichtesche Deutung der vertraglichen Verpflichtung49) gemacht werden. Hegel verwirft zwar die üblichen Formen des Normativismus. Die Analyse der praktischen Idee in der Logik50 und die der moralischen Subjektivität in den Grundlinien zeigen jedoch, daß es für Hegel eine fruchtbare Verwendung der Normativität gibt. Das für das praktische Sollen konstitutive Verhältnis des Subjekts zur Norm darf aber nie vom Boden der Wirklichkeit, d. h. von der institutionalisierten Normativität abgelöst werden, die seine Verwirklichung voraussetzt. Deshalb ist »das objektive System dieser Grundsätze und Pflichten und die Vereinigung des subjektiven Wissens mit demselben […] erst auf dem Standpunkte der Sittlichkeit vorhanden«.51 Anders gesagt sind die rechtlichen und moralischen Normen erst als Normen objektiv begründet, wenn sie zu anerkannten Normen eines politischen Gemeinwesens erhoben werden. Die Berufung auf eine normative Definition des Rechts als der objektiven, institutionalisierten Verwirklichung der Freiheit wirft aber verschiedene Fragen auf. Wie ist sie erstens mit der wiederholten Kritik an einem Sollensdenken vom Typus der praktischen Philosophie Kants oder Fichtes verträglich? Wie soll diese seit der Phänomenologie des Geistes beständige Kritik verstanden werden, wenn man die bei Hegel selbst eindeutige Präsenz präskriptiver Folgerungen (über die Sklaverei oder das Privateigentum) berücksichtigt? So ist es zum Beispiel, obwohl es nicht »als ein bloßes Sollen aufgefaßt« werden soll, doch unbedingt wahr, daß »der Mensch an und für sich nicht zur Skla-

46

Siehe RPh § 40 A. (TWA 7, 99). Siehe RPh § 62 A. (TWA 7, 132 f.). 48 RPh § 40 A. (TWA 7, 99 f.). Siehe Kant: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 10, Akademie-Ausgabe VI, 259 f. 49 RPh § 79 A. (TWA 7, 162 f.,). Der junge Fichte stellt nämlich fest, daß die Verbindlichkeit eines Vertrages erst mit dem Beginn der Leistung der Vertragspartner zustandekommt; siehe Beitrag, Werke VI, 114 f. 50 TWA 6, 541–548. 51 RPh § 137 (TWA 7, 254). 47

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verei bestimmt« ist.52 Mit anderen Worten: Obwohl für Hegel die Ablehnung der Sklaverei im Namen der »natürlichen Freiheit« des Menschen sowie ihre gewöhnlichen Rechtfertigungen einem »formellen Denken« angehören, tritt er doch eindeutig für die erstere Stellungnahme ein; im Unterschied zu der »historische[n] Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft« hat nämlich die Ablehnung der Sklaverei »den Vorzug, den absoluten Ausgangspunkt, aber auch nur den Ausgangspunkt für die Wahrheit zu enthalten«.53 Was das Eigentum betrifft, fällt Hegel ein ebenso eindeutiges Urteil: »Da mir im Eigentum mein Wille als persönlicher, somit als Wille des Einzelnen objektiv wird, so erhält es den Charakter von Privateigentum«.54 Eine solche normative Definition des Eigentums aufgrund des Begriffs der Persönlichkeit erlaubt es im Gegenzug, den gegenüberstehenden, das »privateigentümliche Prinzip« verbannenden Standpunkt zu widerlegen.55 Wie im Fall der Sklaverei widerlegt Hegel die gegensätzlichen Argumente pro et contra; doch hütet er sich davor, die dadurch schlecht gestützten Thesen gleichermaßen abzuweisen. Setzt man voraus, daß Hegel sich nicht grob widerspricht, so muß man annehmen, daß er im Bereich des Rechts wie im Bereich der Moralität die konkrete Normativität des Begriffs und die abstrakten Normen des Verstands oder der Gesinnung unterscheidet. Es gibt in diesem Sinn eine immanente Normativität, nach welcher der allgemeine Begriff des Rechts die Regel seiner historischen positiven Realisierungen ist, und diese Normativität des Begriffs wäre wesentlich von der abstrakten, das geschichtlich-positive Material überspringenden Normativität der SollensPhilosophien unterschieden. Dieser Gedankengang aber setzt sich selbstverständlich dem Verdacht aus, auf willkürlichen Entscheidungen zu beruhen. Ein zweites Problem ist das folgende: Wenn es stimmt, daß jedes Dasein des freien Willens zum Recht lato sensu gehört, worin besteht der Unterschied zwischen diesem breiten, mit dem Begriff des objektiven Geistes zusammentreffenden Verständnis des Rechts und dem »beschränkten juristischen Recht«, d. h. dem Privatrecht oder dessen rationaler Grundlage? Die folgende Stelle ist hierfür lehrreich:

52 53 54 55

RPh § 57 A. (TWA 7, 124). RPh § 57 A. (TWA 7, 123). RPh § 46 (TWA 7, 107 f.). RPh § 46 A. (TWA 7, 108).

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»Diese Realität überhaupt als Dasein des freien Willens ist das Recht, welches nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist«.56 Was für eine Antwort man auch auf die gestellte Frage gibt (es sind nämlich mehrere Möglichkeiten vorhanden), so genießen doch offensichtlich das Eigentumsrecht, welches das Rückgrat des abstrakten Rechts ausmacht, das »Recht« des subjektiven moralischen Willens, das »Recht« der sittlichen Institutionen und, letzten Endes, das »Recht des Weltgeistes«, das »das uneingeschränkt absolute« ist,57 einen unterschiedlichen normativen Status. Diese Frage führt zum Problem der »Ausweitung« des Rechts, das ich an anderer Stelle behandelt habe.58 Hegels Standpunkt legt es nahe, zugleich die Eigenart des abstrakten Rechts, des Rechts im juristischen Sinne, und die Notwendigkeit zu betonen, das gewöhnliche rechtsphilosophische Verständnis des Wortes »Recht« in einem Metabegriff einzuschließen. Dieser Metabegriff des Rechts fällt mit dem des objektiven Geistes als relativ einheitlichen Manifestationsfeldes der Subjektivität in der Objektivität menschlicher Lebenswelt zusammen. Das dritte Problem betrifft direkt unseren Gegenstand, und zwar die Gliederung von Recht, Natur und Geschichte. Die Geschichte ist für Hegel das allgemeine, aber noch äußere Feld, auf welchem die Verwirklichung des abstrakten Rechtsbegriffs, das heißt seine sittlich-politische Objektivierung letzten Endes stattfindet. Durch die Geschichte und in ihr betätigt sich nach und nach, und mit Schwierigkeiten, die Verwirklichung des Vernünftigen. Entgegen dem gewöhnlichen Irrtum, welcher in der Geschichtsphilosophie und in der ziemlich trivialen Idee des »Endes der Geschichte« das letzte Wort Hegels sieht, ist daran zu erinnern, daß der Weltgeist ein nur »äußerlich allgemeiner« Geist ist;59 er ist nämlich der in der Zeit entäußerte absolute Geist, und wir wissen wohl, daß die Zeit zwar das Dasein des Begriffs, aber nur sein Dasein ist.60 Jenseits der Zeit der Geschichte gibt es die Zeit des Begriffs, welche die der Aufhebung der Zeit im absoluten Bei-sich-sein des Denkens als des »absoluten Wissens« ist. Nichts veranschaulicht den in der Vorrede der 56

Enz § 486 (TWA 10, 304). Siehe auch RPh, § 29 (TWA 7, 80). RPh § 30 A. (TWA 7, 84). 58 Siehe Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Handbuch deutscher Idealismus, Stuttgart-Weimar 2005, 201 ff. 59 Enz § 549 (TWA 10, 347). 60 Siehe TWA 3, 584: »Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die Zeit tilgt«. 57

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Phänomenologie des Geistes erwähnten »Ernst, den Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen«61 besser als die Betrachtung der Weltgeschichte, indem sie eine Geschichte der Objektivierung der Freiheit ist. Aber wie kann man im komplizierten Gang der Geschichte eine richtige Unterscheidung machen zwischen dem, was sozusagen im Sinne des Begriffs wirkt, und dem, was den Widerstand der Empirie gegen den Geist oder ganz einfach das eigene Tempo der Geschichte veranschaulicht? Vom Standpunkt des Philosophen gibt es nur eine Geschichte, und zwar die Weltgeschichte als Geschichte der Bewegung der Menschheit zu sich selbst und als endlicher Hinweis auf die absolute Unzeitlichkeit des absoluten Geistes. Wie kann man aber in der Einheit des geschichtlichen Prozesses eine nicht willkürliche Diskriminierung vom Wirklichen und Kontingenten, von Vernünftigem und Unvernünftigem begründen?62 Wie kann man philosophisch das, was historisch und vernünftig ist, und das, was historisch und unvernünftig ist, unterscheiden? Welcher Natur ist eine Vernunft, die gerade das bestehen läßt, was ihr Sichselbstwerden zu verhindern oder zu hemmen scheint? Kurz gesagt, der Standpunkt Hegels setzt eine normative Definition nicht nur des Rechts, sondern der Geschichte selbst voraus. Meine Vermutung ist, daß die Hegelsche Antwort auf solche Fragen, welche den Status eines nicht abstrakten, sondern in der wirklichen Geschichte verorteten Naturrechts betreffen, sich wenigstens zum Teil in der Auffassung dessen befindet, was Hegel manchmal das abstrakte, manchmal das formelle, manchmal das strikte Recht oder sogar einfach das Recht benennt.63

Das Naturrecht Hegels: die normativen Grundlagen des Privatrechts Gemäß den Angaben Hegels selbst wurde bisher implizit angenommen, daß die philosophische Rechtswissenschaft mit dem übereinstimmt, was man klassischerweise Naturrecht (besser gesagt: Vernunftrecht) nennt. Die Rechtsphilosophie Hegels erschöpft sich allerdings nicht in einer bloßen

61

TWA 3, 24. Siehe darüber B. Bourgeois: »Hegel et la déraison historique«, in: Etudes Hégéliennes, Paris 1992, 271–295. 63 Siehe insbesondere RPh § 33 (TWA 7, 87); § 94 A. (TWA 7, 180); Enz 1817 § 401 (GW 13, 224); Enz § 487 (TWA 10, 306). Hegel stellt in der Vorlesung von 1824/25 fest: »Dies ist die Sphäre des formellen Rechts, es ist abstrakt, heißt formell weil der Inhalt den ich mir gebe, zwar mein ist, aber zugleich auch ein äusserliches Ding, nicht frei seinem Gehalte nach ist. Deswegen ist es noch abstraktes Recht, nur Form« (Rechtsphilosophie Ilting 4, 164). 62

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Umbenennung des Naturrechts durch Beseitigung seiner Hauptbegriffe. Wie die Hegelsche Logik angesichts der herkömmlichen Metaphysik, geht es ihr vielmehr darum, dessen Territorium zu besetzen oder dessen Stelle zu übernehmen; es handelt sich mit anderen Worten darum, das Naturrecht zu ersetzen und seine Nachfolge anzutreten. Dies läßt sich noch etwas näher bestimmen. Um den doppelten Titel des Kompendiums von 1820 zu rechtfertigen, erklärt die rechtsphilosophische Vorlesung vom Wintersemester 1824/25, daß der »Name Naturrecht […] der sonst gewöhnliche Name für unsere Wissenschaft« ist.64 Dann betont Hegel, indem er seine Kritik an den naturalistischen Voraussetzungen des herkömmlichen Naturrechts, insbesondere an der These der natürlichen Soziabilität wiederholt, daß »Naturrecht« und »Rechtsphilosophie« ein ähnliches Verhältnis zum positiven Recht haben, und zwar ein Verhältnis der Koordination und der Überordnung. In Bezug auf die Bestimmung der Positivität in Paragraph 3 der Grundlinien erklärt er nun, worin der Unterschied des »empirischen« Naturrechts (um auf die Terminologie des Naturrechtsaufsatzes zu rekurrieren) sowie der eigentlichen Rechtsphilosophie zum positiven Recht besteht. Naturrecht und Rechtsphilosophie (also: spekulative Rechtswissenschaft) beseitigen das dezisionistische Moment, welches das positive Recht als durch Autorität gesetztes Recht notwendig beinhaltet, und beruhen auf den Prinzipien der Selbstbestimmung und der Allgemeinheit: »obgleich [das Naturrecht] empirisch zu Werke geht, die natürlichen Neigungen und Bedürfnisse ganz oder zum Teil zum Grunde legt, so hat es doch dieß mit der Rechtsphilosophie gemein, daß die Quelle, woraus das was recht sei, geschöpft werden soll, ein dem Menschen und jedem Menschen innewohnendes eigenes sei. […] Dieses Gegensatzes ungeachtet haben also beide Rechtsphilosophie und Naturrecht die Quelle gemein, welches ein Inneres sein soll. […] Die positive Rechtswissenschaft hat das geltende Recht zum Inhalte […] hat gesetzliche Autorität vor sich und das Recht muß positiv werden. […] Das Recht, die Gesetze, die bürgerliche Gesetze und die Staatsgesetze müssen positiv werden, aber das Positive steht überhaupt dem Begriff gegenüber, dem eigenen Denken, der eigenen Einsicht, Ueberzeugung, dem Willen. […] Die Gesetze müssen aber positiv sein, denn die Gesetze, Verfassungen sind Bestimmungen im Staate, in der wirklichen Welt, und müssen so die Gestalt von Naturgesetzen haben«.65

64 65

Rechtsphilosophie Ilting 4, 75. Ebd., 81 f.

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In derselben Einleitung der Vorlesung von 1824/25 erklärt Hegel ferner, es bestehe trotz ihrer gemeinsamen Zielsetzung ein Unterschied zwischen dem üblichen Naturrecht und der Rechtsphilosophie, wie sie bei ihm verstanden wird; dieser Unterschied betrifft nicht nur den theoretischen Stil, sondern auch die Ausdehnung der beiden »Wissenschaften«. Die Rechtsphilosophie hat nämlich eine breitere Ausdehnung als das übliche Naturrecht, welches »nicht die Staatswissenschaft enthielt«, die »für sich abgehandelt« wurde.66 Daher erklärt sich der zweite Titel der Grundlinien, der in der Tat der chronologisch betrachtet erste ist: Naturrecht und Staatswissenschaft. Dabei handelt es sich nicht um eine kleine Nuancierung oder um einen sozusagen quantitativen Unterschied. Indem sie anderen wissenschaftlichen Fächern (der Geschichtswissenschaft, der sogenannten »Statistik« und dem positiven Staatsrecht)67 die Erforschung des Staates überläßt, fördert die moderne Naturrechtslehre die von einigen ihrer Befürworter (insbesondere von Wolff ) explizit vertretene These, der Staat sei eine rein konventionelle Institution, die nicht im eigentlichen Naturrecht begründet ist. Das vom trivialen Rousseauismus verbreitete antistaatliche Vorurteil, der seichte Positivismus der Politikwissenschaft (also in der damaligen deutschen Terminologie der sogenannten Kameralwissenschaft oder der Polizeiwissenschaft) und die naturalistischen Voraussetzungen der herrschenden Lehre vom Naturrecht verbinden sich also, um das von den naturrechtlichen Prinzipien beherrschte Privatrecht und das der geschichtlichen Kontingenz und der willkürlichen Macht überlassene öffentliche Recht streng zu trennen. Es steht also fest, daß bei Hegel die Ausdrücke »Rechtsphilosophie« und »philosophisches Recht« zwei unterschiedliche Bedeutungen haben können. Die erste, ausgedehntere Bedeutung schließt das ganze Feld des objektiven Geistes ein; mit anderen Worten beinhaltet sie das Ganze der juristischen, moralischen, sozialen, sittlich-politischen, geschichtlichen Ojektivierungsgestalten der Freiheit. Die zweite, begrenztere Bedeutung der Rechtsphilosophie würde mit dem zusammenfallen, was man in der Moderne üblicherweise unter »Naturrecht« verstanden hat, und zwar eine Menge von über-

66

Ebd., 75. Hegel hat während der Bearbeitung der Reichverfassungsschrift das Neue Teutsche Staatsrecht von Johann Jacob Moser (1766–1782) als Quelle gebraucht; diese riesige Materialsammlung bleibt eine seiner Hauptquellen bei der Vorbereitung seiner Heidelberger und Berliner Vorlesungen (siehe Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (Heidelberg 1817/18), zit., § 125 A., 175). Zur Statistik oder Staatenkunde, die als Vorfahre der politischen Wissenschaft gelten darf und die selbst ein Zweig der Polizeiwissenschaft ist, siehe M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 1, München 1988, 475 f. 67

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positiven Rechtsprinzipien, welche aufgrund gewisser anthropologischer Prämissen durch vernünftige Schlußfolgerung entdeckt werden, wobei der Begriff »Vernunft« selbst mehrdeutig verstanden werden muß. Diese anthropologischen Prämissen des Naturrechts sind selbst veränderlich. Zum Beispiel kann man den Gesellschaftstrieb (die sociabilitas) zu diesen Prinzipien zählen oder nicht. Dann ist es, um einer Zweideutigkeit vorzubeugen, wünschenswert, systematischer als Hegel selbst »Rechtsphilosophie« im weiten Sinne (d. h. die Lehre des objektiven Geistes) und »Naturrecht« stricto sensu zu unterscheiden. Diese Unterscheidung erlaubt es, die Rechtsphilosophie Hegels nicht nur als »eine beispielhafte Aufhebung des modernen Naturrechts«,68 sondern als eine Aufhebung des im strikten Sinne verstandenen Naturrechts überhaupt darzustellen. Die hier vertretene These lautet wie folgt: In der Konstruktion der Lehre vom objektiven Geist oder der »Rechtsphilosophie« ist die Theorie des abstrakten oder formalen Rechts das Gegenstück zum im üblichen Sinne verstandenen »Naturrecht«; sie stellt namentlich die abstrakten, d. h. unter anderem unzeitlichen Voraussetzungen einer sinnvollen sozialen Ordnung dar. Aber das Hegelsche »Naturrecht« (als Lehre des abstrakten Rechts verstanden) ist nicht dazu fähig, eine politische Ordnung zu begründen; deshalb wird in der Darstellung des abstrakten Rechts häufig daran erinnert, daß seine Bestimmungen nicht oder nur indirekt dasjenige betreffen, was im objektiven Geist Sache des Staates ist.69 Aus dieser Problematik, einerseits das Erbe der naturrechtlichen Konstruktionen zu behalten und es andererseits aufzuheben oder zu widerlegen, entsteht ein neuartiges Verhältnis von Natürlichkeit und Geschichtlichkeit, welches die Naturrechtslehren in richtiger Weise zu behandeln nicht imstande waren. Welcher ist in dieser Hinsicht der eigentliche Standpunkt des »abstrakten Rechts«? Seinen inhaltlichen Bestimmungen nach (Recht der Persönlichkeit und der Güter, Vertragsrecht, Recht der Aktionen und Strafrecht) muß es mit dem Privatrecht gleichgesetzt werden, dessen allgemeine Prinzipien aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, d. h. des Begriffs der Person als verallgemeinerter Form des freien Willens, dargestellt werden können. Obzwar Hegel sich manchmal mit technischen Fragen, zum Beispiel mit der Klassifi-

68

B. Bourgeois: »Le droit naturel dans la philosophie de Hegel«, in: Etudes hégéliennes, zit., 178–179. 69 Siehe u. a. RPh § 46 A. (TWA 7, 108; politische Abgrenzung des Privateigentums); RPh § 57 A. (TWA 7, 123; Widerlegung der Unterjochung als Urgestalt des Politischen); RPh § 75 A. (TWA 7, 157 f.; Ablehnung der Verwendung des Vertragmodells auf den Staat).

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zierung der Verträge, beschäftigt (wobei er einfach Kant nachfolgt),70 gehören seine Ausführungen gänzlich zum Naturrecht im üblichen Sinne des Wortes. Zwei Hinweise mögen diese Deutung des »abstrakten Rechts« unterstützen. Der erste Hinweis betrifft die Bedeutung und den Wert jener Abstraktion. Dank des Grundmodells der Besitznahme einer Sache durch eine Person stellt das abstrakte Recht die allgemeine Form, sozusagen das Schema der Objektivierung der Freiheit dar. Die Persönlichkeit ist der formell-allgemeine Ausdruck der freien Subjektivität, wie sie am Schluß der Lehre vom subjektiven Geist auftritt.71 Der Umstand, daß sie die objektivierte Gestalt derselben ist, erklärt den Vorrang der strikten juristischen Dimension der Persönlichkeit in den diesbezüglichen Ausführungen Hegels: Die Persönlichkeit ist fürs erste die Rechtspersönlichkeit, obzwar sie nicht nur das ist. Deshalb ist ihr Hauptmerkmal die Rechtskapazität, d. h. die Fähigkeit, als Rechtssubjekt zu sein und zu handeln. Die Persönlichkeit selbst soll als formelle Bedingung eines prinzipiell unbegrenzten Aneignungsvermögens einer »vorgefundenen Natur« (d. h. der Welt der Dinge) durch einen sich dadurch Realität gebenden Willen verstanden werden:72 Dies könnte als Hegelsche Definition des subjektiven Rechts gelten. Daraus erhellt, daß das Aneignungsvermögen gerade deshalb die Matrize des Naturrechts im Sinne Hegels ausmacht, weil es auf eine rein formelle und ungeschichtliche Weise definiert ist. Die Aneignung von Sachen ist der Akt, wodurch die Person sich sozusagen als konkrete Abstraktion konstituiert. Die ausdrückliche Wiederaufnahme der Hobbesschen Auffassung eines sich als ius in omnia erweiternden Naturrechts zeigt ganz klar, wie weit das Hegelsche Vorhaben mit naturrechtlichem Nachklang beladen ist: »Die Person hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen, welche dadurch die meinige ist, zu ihrem substantiellen Zwecke, da sie einen solchen nicht in sich selbst hat, ihrer Bestimmung und Seele meinen Willen erhält, – absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen«.73 Wie bei Hobbes selbst schließt übrigens die Zurückweisung jeglicher rechtlicher Abgrenzung des subjektiven Grundrechts zur Aneignung keineswegs die Existenz einer solchen Abgrenzung aus; diese Abgrenzung ist nun aber 70

Siehe RPh § 80 (TWA 7, 165–168). Hier wiederholt Hegel im Wesentlichen die Kantische Einteilung der Verträge, obwohl er dessen Rechtsvorstellungen scharf kritisiert. Der Grund dafür ist die Tatsache, daß sie ihm angesichts des »Schlendrians« der Romanisten als eine »vernünftige Einteilung« erscheint (siehe ebd., 165). 71 Siehe RPh § 35 (TWA 7, 93 f.). 72 RPh § 39 (TWA 7, 98). 73 RPh § 44 (TWA 7, 106).

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nicht rechtlicher, sondern sozialer und politischer Natur. Deswegen hat die Abstraktion des abstrakten Rechts keine negative oder herabsetzende Bedeutung. Zwar impliziert sie, daß das Recht von sich aus nicht imstande ist, irgendeine konkrete soziale oder politische Ordnung zu begründen – eine Schlußfolgerung, die dem juridischen Denken der meisten Naturrechtslehren widerspricht –, doch impliziert sie auch, daß unabhängig von jeglichen geschichtlichen Umständen unbedingt gültige Rechtsprinzipien bestehen. Kurz gesagt, die Abstraktion des abstrakten Rechts ist eben dasjenige, das ihm einen normativen Wert verleiht. Der zweite Hinweis, welcher der Hegelschen Behandlung des Rechts eine naturrechtliche Farbe verleiht, ist schon vorhin erwähnt worden: Trotz der Vorbehalte Hegels gegen den (vor allem Kantischen) Normativismus enthält seine Lehre des abstrakten Rechts eine Vielzahl normativer Sätze, welche der Empirie gegenüber die Funktion eines kritischen Maßstabs haben. Dies ist im Fall des Eigentums durchaus klar. Wenn Hegel feststellt: »Im Verhältnisse zu äußerlichen Dingen ist das Vernünftige, daß Ich Eigentum besitze«,74 gewährt er der Rationalität eine normative Kraft. Noch klarer sind die Aussagen über die persönliche Freiheit: Sie wird als Grundkomponente jeglicher rechtlicher Ordnung bestimmt. Doch ist sie nichtsdestoweniger als Ergebnis eines Selbstaneignungsprozesses zu betrachten, dem Hegel die generelle Bezeichnung »Bildung« gibt. Das bedeutet nun, daß die an sich abstrakte und unzeitliche Rechtsordnung auf ontogenetischer wie auf phylogenetischer Ebene als Ergebnis eines Selbstkonstitutionsprozesses der Freiheit betrachtet werden soll: »Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein Natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere«.75 Daß diese Feststellung nicht nur die Ausbildung des Individuums, sondern auch die Bildung des menschlichen Geschlechts betrifft, wie sie hauptsächlich von der Arbeit als konkreter Konstitution der Allgemeinheit76 vermittelt ist, wird in der Anmerkung zum selben Paragraphen 57 der Grundlinien gezeigt. Ihr Thema ist die Sklaverei. Dies gibt Hegel wiederum Anlaß, gegen die in § 3 genannte »historische Ansicht« zu polemisieren. Auf den ersten 74 75 76

RPh § 49 (TWA 7, 112). RPh § 57 (TWA 7, 122). Siehe RPh § 187 A. (TWA 7, 344 f.).

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Blick scheint er die »geschichtliche« (d. h. hier: faktische) Begründung der Sklaverei und der »Herrenschaft«, wie sie zum Beispiel bei Grotius77 auftaucht, und ihre naturrechtliche, auf eine ungeschichtliche Berufung auf die freie Natur des Menschen gestützte Widerlegung gleichermaßen abzuweisen. Die eine wie die andere Stellung sind ebenso einseitige Aspekte einer dem »formellen Denken« angehörigen Antinomie, nämlich der Natur und der Freiheit. Aber die Gleichstellung der beiden Thesen wird zugunsten der zweiten sofort aufgegeben: »Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus«.78 Während die historisierende Begründung der Sklaverei, und daher einer darauf beruhenden absoluten Herrschaft, eine grobe Reduktion des Rechts auf ein Faktum ist, wie Rousseau dies hervorgehoben hat,79 bietet der naturrechtliche Standpunkt »den Vorzug, den absoluten Ausgangspunkt, aber auch nur den Ausgangspunkt für die Wahrheit zu enthalten«.80 Worauf beruht dieser Entschluß? Auf einer hier implizit bleibenden Unterscheidung von Naturzustand und Rechtszustand. Die Sklaverei nämlich – deshalb kann sie nur per factum begründet werden – »gehört in einen Zustand vor dem Rechte«.81 Diese Lage entspricht dem sogenannten Naturzustand, diesen Zustand, aus dem man (nach Hobbes) unbedingt austreten soll: »Der Naturzustand ist der des Unrechts, und da ist es Recht daß der Mensch Sklave ist denn er ist unfrei, ein solcher Zustand ist zu verlassen, schon Hobbes sagt exeundum est ex statu naturae«.82

77

Siehe De Jure Belli ac Pacis: I/3, § 8, Aalen 1993, 101: »Licet homini cuique se in privatam servitutem cui velit addicere […] quidni ergo populo sui juris liceat se uni cuipiam, aut pluribus ita addicere?; »sicut Aristoteles dixit quosdam homines natura esse servos, ita et populi quidam eo sunt ingenio« (103). Der entgegengesetzte Standpunkt (d. h. der Mensch ist von Natur aus frei) ist von Rousseau musterhaft vorgestellt: siehe Contrat I/4, OC 3, 355–358. 78 RPh § 57 A. (TWA 7, 123 f.). 79 »Sa [es handelt sich um Grotius] plus constante manière de raisonner est d’établir toujours le droit par le fait. On pourrait employer une méthode plus conséquente, mais non pas plus favorable aux tyrans« (Contrat I/2, OC 3, 353). 80 RPh § 57 A. (TWA 7, 123). 81 RPh § 57, handschriftliche Notiz (TWA 7, 124). Siehe auch Rechtsphilosophie Ilting 3, 226 f. 82 Rechtsphilosophie Ilting 4, 209. Siehe Hobbes: De Cive, I/§ 14.

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Wie in einem Zusatz der Enzyklopädie festgestellt wird, ist dieses Heraustreten der wirkliche Einsatz des in der Phänomenologie beschriebenen Kampfes um Anerkennung. Hegel sagt nämlich, daß »der Kampf um die Anerkennung in der angegebenen bis zum Äußersten getriebenen Form bloß im Naturzustande, wo die Menschen nur als Einzelne sind, stattfinden kann, dagegen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staate fernbleibt, weil daselbst dasjenige, was das Resultat jenes Kampfes ausmacht, nämlich das Anerkanntsein, bereits vorhanden ist«.83 Das Argument Hegels gegen das »Recht der Sklaverei« enthält jedoch ein Paradox: Um die Verabsolutierung dessen zu bestreiten, was er übrigens als »das notwendige und berechtigte Moment«84 im Übergang vom Unrecht zum Recht betrachtet, und zwar der Gewalt, benutzt er eine ansonsten von ihm verworfene Begrifflichkeit, welche durch ihre philosophische Voraussetzung (die Vorstellung des Menschen als eines »natürlich freien« Wesens) sowie die dadurch implizierte Sicht der Geschichte schlicht falsch ist. Die Erklärung jenes Paradoxons liegt im besonderen Status dessen, was Hegel das abstrakte Recht nennt. Prinzipiell ist das Recht ungeschichtlich; deswegen vermag sein Begriff als Maßstab der geschichtlichen Wirklichkeit benutzt zu werden: Indem man sich auf diesen Begriff stützt, der mit dem des Menschen zusammengehört, darf man von der Sklaverei behaupten, daß sie jederzeit und überall ein »absolutes Unrecht« ist.85 In solcher Hinsicht muß man die Ansicht vertreten, daß die Hegelsche Lehre vom abstrakten Recht die Grundlage einer nicht-naturalistischen Ansicht der Menschenrechte und einer kritischen Rechtsstaatstheorie enthält. Doch hat die Verwirklichung jener Rechtsprinzipien wohl eine Geschichte, welche ganz einfach die Geschichte ist. Sie hat sogar eine Vorgeschichte, welche in einer Art Zeit vor der Zeit mit dem »Kampf um die Anerkennung«, mit der ursprünglichen Dialektik der Gewalt zusammentrifft, deren Ausgang das Recht, der Staat und die Geschichte symbolisch voraussetzen. Hier handelt es sich um die Selbstaufhebung der Natur in die Kultur und der reinen Gewalt der Herrenschaft in die politische Unterordnung der Herrschaft: »Vor den Anfang der wirklichen Geschichte fällt daher einerseits die interesselose, dumpfe Unschuld, andererseits die Tapferkeit des formellen Kampfs des Anerkennens und der Rache«.86 83

Enz § 432 Z. (TWA 10, 221). Siehe die Stelle »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft« (TWA 3, 145–155). 84 Enz § 433 A. (TWA 10, 223). 85 RPh § 57 A. (TWA 7, 123). 86 RPh § 349 A. (TWA 7, 507). Dazu RPh § 57 A. (TWA 7, 124). Eine detaillierte Analyse

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Wenn nämlich die Geschichte eine Geschichte des menschlichen Bewußtwerdens der Freiheit ist und d. h. im weitesten Sinne des Bewußtwerdens des Rechts, so soll alles das, was mit dieser Definition nicht in Einklang steht, in ein Jenseits der wirklichen Geschichte, d. h. in einen »Naturzustand« versetzt werden, der als Gegenstück zum Rechtszustand gilt. Alles das, was mit der normativen Definition der Geschichte und des Rechts radikal unverträglich ist, soll zurückgewiesen werden. Denn die Gewalt, das Unrecht usf. können als konkrete Gestalten der Negativität selbstverständlich nicht aus der Geschichte herausgeworfen werden; wir wissen wohl, wie kritisch Hegel die aufgeklärte Vorstellung eines harmonischen Fortschritts beurteilt! Die zwar überall präsente geschichtliche Gewalt darf jedoch nicht als versöhnungsunfähig, als ein absolut Negatives vorgestellt werden, insofern der Anfang der Geschichte, vielleicht ihre transzendentale Bedingung, die Anerkennung der Menschlichkeit anderer Menschen durch die Menschen ist. Dies bedeutet kein Verschwinden der Gewalttätigkeit und der Herrschaft, doch bietet es die stete Möglichkeit ihrer Bekämpfung. Die normative Funktion des Rechts, welche die positive Seite seiner Abstraktion und seines Formalismus ausmacht, erklärt sich durch ihre singuläre Lage zwischen Natur und Geschichte. Nach Hegel ist das Recht weder in der Geschichte noch außer ihr. Es ist vielmehr ihre immanente Verständlichkeits- und Rationalitätsnorm: Geschichte ist Geschichte der Freiheit, d. h. Verwirklichungsgeschichte der notwendig abstrakten Rechtsprinzipien. Hinsichtlich der Geschichte als Bewußtwerdens des Geistes von seiner Freiheit und als Erhebung dieser Freiheit zur sozial-politischen Natur87 ist das Recht wie eine Natur. Diese Natur aber hat selbst eine Geschichte, in welcher die mit ihrer eigenen Natürlichkeit kämpfende Menschheit von selbst zum wahren, d. h. politischen Ausdruck kommt. Obwohl der Begriff des Rechts unabhängig von dem des Staates ist, ist die Idee des Rechts, welche selbst nichts anderes als die Geschichte seiner Verwirklichung ist, die konkrete Übersetzung der normativen Effizienz jenes Begriffs.

solcher Fragen findet man in: J.-F. Kervégan: Hegel, Carl Schmitt. Le politique entre spéculation et positivité, 2. Auflage, Paris 2005, 213–217. 87 Siehe RPh § 342–343 (TWA 7, 504).

Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie Gertrude Lübbe-Wolff

Herr Gerhardt hat mich eingeladen, etwas über die aktuelle Bedeutung von Hegels Rechtsphilosophie zu sagen. Nichts lieber als das. An der Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie leide ich geradezu, und über das, woran man leidet, spricht man ja gern. Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie zeigt sich mir darin, daß ich öfter an Hegel denken muß, als mir lieb ist. Ich muß so oft an ihn denken, weil in unserer öffentlichen Kultur das Hegelwidrige so präsent ist. Hegel gehört zu den berühmtesten deutschen Philosophen. Aber außerhalb eines engen Kreises von Spezialisten ist seine Philosophie – auch seine Rechtsphilosophie –, wenn überhaupt, dann nur mit einigen aus dem Zusammenhang gerissenen Formeln präsent: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, das Wirkliche als das Vernünftige, der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee.1 Das sind genau die Formeln, die seinen Kritikern, von Paulus über Haym bis Popper, als Munition für Vorwürfe der Affirmation des preußischen Obrigkeitsstaates oder gar der Vordenkerschaft totalitärer Systeme gedient haben.2 In der Wissenschaft hat Hegel viele Verteidiger.3 Aber das

1

S. z. B. TWA 12, 56; RPh Vorrede (TWA 7, 24); RPh § 257 (TWA 7, 398). H.E.G. Paulus’ 1821 in den Heidelberger Jahrbüchern erschienene Rezension der Rechtsphilosophie ist abgedruckt bei M. Riedel (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1975, 53 ff. (s. dort 58 ff.; für einen knappen Überblick über die Frührezeption der Rechtsphilosophie s. W. Jaeschke: Hegel-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2003, 276 ff.); R. Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie, Berlin 1857; K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, 7. Aufl. Tübingen 1992, 35 ff. S. auch H. Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler, Hamburg 1974. 3 S. die Beiträge in J. Stewart (ed.): The Hegel Myths and Legends, Evanston 1996, sowie die am Schluß dieses Bandes aufgeführte Bibliographie, die unterteilt ist nach »Propagators« und »Critics« der Mythen von Hegel als dem Rechtfertiger des Bestehenden als vernünftig, als totalitärem Denker usw. Von den in diesem Band Vertretenen aus jüngerer Zeit z. B. R. Pippin: »Die Verwirklichung der Freiheit. Hegels Theorie und die moderne Welt«, in: ders.: Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt/New York 2005, 71 ff. Eine umfangreiche und in allen Teilen, die ich bei der Vorbereitung dieses Vortrags gelesen habe, hervorragende Darstellung, die in der erwähnten Bibliographie in der Liste der Hegel-Verteidiger nicht aufgeführt ist, ist D. Losurdo: Hegel und das deutsche Erbe, Köln 1989. 2

Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie

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Bild Hegels ist mehr von seinen Kritikern als von ihm selbst geprägt. Das Großartige, Neue und nach wie vor Aktuelle seiner Rechtsphilosophie hat im öffentlichen Bewußtsein keinen Niederschlag gefunden. Worin Hegels Rechtsphilosophie sich von allen ihren Vorläufern unterscheidet, tritt schon im Aufbau der Rechtsphilosophie zutage. Im Zentrum der Natur- und Vernunftrechtslehren hatte seit Grotius eine Dichotomie gestanden, die in der Folgezeit immer häufiger auch die Gliederung der Traktate bestimmte: die Zweiteilung in vollkommene und unvollkommene, erzwingbare und nicht erzwingbare Rechte und Pflichten, Rechtspflichten und Pflichten der christlichen Liebe oder, in heute üblicherer Diktion, in Recht und Ethik oder Recht und Moral. Kants »Metaphysik der Sitten« steht mit ihrer Gliederung in »Rechts-« und »Tugendlehre« in dieser Tradition. Hegel hat diese Tradition beendet, und in der Abweisung des alten Gliederungsprinzips steckt schon der Kern dessen, worauf es ihm ankommt. Historisch hatte die traditionelle dichotomische Unterscheidung wichtige Funktionen: Grotius zielte damit nach dem dreißigjährigen Krieg auf eine Beschränkung der legitimen Kriegsgründe; als gerecht sollte nur noch der Krieg gelten, der zur Durchsetzung erzwingbarer Rechte geführt wurde. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, bei Kant und Hufeland, finden wir sie in den Dienst des liberalen Anliegens gestellt, den Gesetzgeber auf das Feld der kraft Vernunftrechts erzwingbaren Rechte und Pflichten zu beschränken. Eine weitere, kontinuierlich mitlaufende Funktion wird nur verständlich, wenn man bedenkt, daß die Natur- und Vernunftrechtslehren stets und ganz wesentlich auch Auseinandersetzungen mit der biblischen Ethik waren. Das Unternehmen der Natur- und Vernunftrechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts, das weite Feld des Sollens in Erzwingbares und nicht Erzwingbares aufzuteilen, hatte insofern vor allem den Sinn, auch die biblischen Gebote zu unterteilen in solche, die legitimer und notwendiger Gegenstand äußerer Ordnung und äußeren Zwangs waren, und solche, für die es eben beim bloßen Sollen blieb – die nicht nur nicht durch geltendes Recht gestützt, sondern überhaupt von keiner irdischen Macht einforderbar waren. Hier ging es um die Rechtfertigung und den Schutz der bestehenden äußeren Ordnung, vor allem der Ordnung des privaten Eigentums, vor Infragestellungen, die sich auf Gottes Wort beriefen. Die Unterscheidung zwischen erzwingbaren und nicht erzwingbaren Rechten und Pflichten untermauerte, daß man sich auf biblische Anweisungen wie »wer Dich bittet, dem gib«, »verkaufe was Du hast und gib es den Armen« usw., nicht, wie in den Bauernkriegen und immer wieder auch in nachfolgenden Unruhen geschehen, zur Rechtfertigung von Aufstand und gewaltsamer Selbstbedienung berufen konnte, weil

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es sich hier eben nicht um Pflichten von der erzwingbaren Art handelte.4 Die Zweiteilung in erzwingbares Recht und nicht zwangsbewehrte Moral läßt nun aber die äußere Ordnung des Rechts als etwas vor den höheren Ansprüchen der Moral Imperfektes dastehen und die Moral als gegen diese äußere Ordnung Hilfloses. Hier die reale Ordnung des Rechts, die nichts wirklich Sittliches ist, und dort das machtlose leere Sollen, das in den wirklichen Verhältnissen keinen Rückhalt findet. Das ist die Struktur, um deren Aufhebung – nicht nur in den Köpfen, sondern in der Wirklichkeit – es Hegels Rechtsphilosophie zu tun ist. Es geht, kurz gesagt, um die Aufhebung des Schismas von Recht und Moral in einer Ordnung vernünftiger Institutionen. Hegels Rechtsphilosophie ist im Ansatz auch da, wo er sich thematisch auf dem Gebiet traditioneller Tugendlehren bewegt, keine Lehre vom richtigen, sittlichen Verhalten mehr. Sie ist eine Lehre von den sittlichen Institutionen, deren Sittlichkeit, Vernunft und Realisierbarkeit gerade darin liegt, daß sie – nicht im Wege kurzschlüssiger Fiktion, sondern auf eine vermittelte Weise und daher im Großen und Ganzen realiter – Einzel- und Allgemeininteresse in Übereinstimmung bringen und darum auf virtuose Formen der Tugend in der Regel nicht mehr angewiesen sind. In den drei Teilen der »Rechtsphilosophie« – Das Abstrakte Recht, Die Moralität und Die Sittlichkeit – scheint sich auf den beiden ersten Plätzen zwar die alte Zweiteilung wiederzufinden. Tatsächlich handelt es sich aber um etwas ganz anderes. Unter der Überschrift »Moralität« stellt Hegel dem »abstrakten Recht« nicht Pflichten gegenüber, die über die Rechtspflichten hinausreichen, und nicht Tugenden, die auf einer höheren sittlichen Stufe stehen als die bloße Rechtlichkeit, sondern den »moralischen Standpunkt«. Der »moralische Standpunkt« ist der Standpunkt des Subjekts, das beansprucht, nach eigenem Vorsatz zu handeln, mit seinen Handlungen eigene Zwecke zu befriedigen und als gut nur das anzuerkennen, was es selbst als gut eingesehen hat.5 Diesen Anspruch des Subjekts, sich mit seinem Willen und seinen Überzeugungen von dem, was gut und vernünftig ist, zur Geltung zu bringen, den 4

Zu alledem näher: G. Lübbe-Wolff: »Historische Funktionen der Unterscheidung von Recht und Moral«, in: St. Joergensen/J. Pöyhönen/Cs. Varga (Hrsg.): Tradition und Fortschritt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 23, Stuttgart 1985, 43 ff. 5 Zu diesen drei Ansprüchen als Gegenständen der einzelnen Abschnitte des Moralitätsteils und zum Gebrauch des Begriffs »moralischer Standpunkt« in diesem Zusammenhang näher G. Lübbe-Wolff: »Die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Hegels Wegweisung durch das Nadelöhr«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXVIII (1982), 223 (243 f.).

Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie

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Standpunkt der Moralität also, charakterisiert Hegel als berechtigt, aber einseitig, denn auf der anderen Seite bleibt es natürlich dabei, daß das objektiv Vernünftige ganz unabhängig von subjektiven Einsichten feststeht: »Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts, aber durch seine subjektive Bestimmung zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen fest stehen.«6 Da also das Meinen und Wollen des Subjekts und das objektiv Vernünftige gleichermaßen anzuerkennen sind, kommt es darauf an, beides in Übereinstimmung zu bringen. Diese Notwendigkeit führt auf die im dritten Teil abgehandelte Lehre von der Sittlichkeit als der »Identität des Guten und des subjektiven Willens«.7 Und hier finden wir wiederum keinen Pflichtenkatalog, sondern die Darstellung von lauter Institutionen, in deren Zusammenspiel sich die »Einheit des subjektiven und des objektiven an und für sich seienden Guten« ergeben soll, die das Sittliche ausmacht8 – Institutionen, in denen das objektiv Vernünftige mit subjektiver Einsicht anerkannt und getan werden kann und wird. Wogegen er sich damit wendet, zeigt die Systematik der »Rechtsphilosophie« nicht nur in der schon besprochenen Ablösung der früheren Zweiteilung in Rechts- und Morallehre, sondern auch im inneren Aufbau des dritten, des »Sittlichkeit«-Teils der Rechtsphilosophie. Die drei Abschnitte dieses Teils – Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat – sind den consilia evangelica Keuschheit, Armut und Gehorsam entgegengesetzt. Zusammenhängender und deutlicher als im Text der »Rechtsphilosophie« hat Hegel diese Entgegensetzung und ihre Gründe in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen und in der Berliner Enzyklopädie von 1830 erläutert. »Durch das Sicheinführen des göttlichen Geistes in die Wirklichkeit, die Befreiung der Wirklichkeit zu ihm, wird das, was in der Welt Heiligkeit sein soll, durch die Sittlichkeit verdrängt. Statt des Gelübdes der Keuschheit, gilt nun erst die Ehe als das Sittliche und damit als das Höchste in dieser Seite des Menschen die Familie; statt des Gelübdes der Armut … gilt die Tätigkeit des Selbsterwerbs durch Verstand und Fleiß, und die Rechtschaffenheit in diesem Verkehr und Gebrauch des Vermögens, die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft; statt des Gelübdes des Gehorsams gilt der Gehorsam gegen das Gesetz und die gesetzlichen Staatsein6 7 8

RPh § 132 Anm. (TWA 7, 245). Siehe RPh § 141 (TWA 7, 286 f.). RPh § 141 Zusatz (TWA 7, 290).

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richtungen, welcher Gehorsam selbst die wahrhafte Freiheit ist, weil der Staat die eigene, die sich verwirklichende Vernunft ist; die Sittlichkeit im Staate. … Der göttliche Geist muß das Weltliche immanent durchdringen, so ist die Weisheit konkret darin … Jenes konkrete Inwohnen aber sind die angeführten Gestaltungen der Sittlichkeit, die Sittlichkeit der Ehe gegen die Heiligkeit des ehelosen Standes, die Sittlichkeit der Vermögens- und Erwerbstätigkeit gegen die Heiligkeit der Armut und ihres Müßiggangs, die Sittlichkeit des dem Rechte des Staates gewidmeten Gehorsams gegen die Heiligkeit des pflicht- und rechtlosen Gehorsams, der Knechtschaft des Gewissens.«9 In den Formulierungen, mit denen Hegel an dieser Stelle auf den Zusammenhang des Ethischen mit der Wirklichkeit zu sprechen kommt (»Sicheinführen des göttlichen Geistes in die Wirklichkeit, die Befreiung der Wirklichkeit zu ihm«, »Der Göttliche Geist muß das Weltliche immanent durchdringen«), wird deutlich, daß es bei der Ersetzung von Heiligkeitsidealen durch vernünftige Institutionen gerade um diesen Zusammenhang geht – darum, daß das ethisch Gute nicht nur als ein Sollen existiert, das einer als schlecht begriffenen Realität entgegengesetzt wird, sondern daß es Realität gewinnen kann und tatsächlich gewinnt, indem die Wirklichkeit als solche anerkannt und in die Konzeption des ethisch Guten aufgenommen wird als etwas, was sich zum Guten entwickeln, zur Vernunft befreien kann und muß. Die Trias der consilia evangelica präsentiert Hegel als etwas, was Heiligkeit »sein soll«. Sie kann aber nicht Wirklichkeit werden, weil sie wesentliche Realitäten, Bedürfnisse und Antriebe negiert, statt sie zu integrieren. Eben diese Integration, die gemeinverträgliche Einbindung der besonderen, auf das jeweils Eigene gerichteten Antriebe leisten die Institutionen, die Hegel den Heiligkeitsidealen gegenüberstellt, und eben durch dieses Aufnehmen und in-eine-vernünftige-Verfassung-Bringen der Realitäten gewinnen sie selbst Wirklichkeit. Hegel verabschiedet also die traditionelle Dichotomie von Rechts- und Morallehre zugunsten einer Institutionenlehre, und zwar einer Lehre nicht nur von konkreten einzelnen Institutionen – davon konnte man auch in früheren Naturrechtskompendien lesen –, sondern einer Institutionenlehre, die besagt, daß man gute Ordnung und wirkliche Tugend nicht von freischwebenden Sollenssätzen zu erwarten hat, sondern von vernünftigen und als 9

Enz § 552 Anm. (TWA 10, 358 f.). Näher dazu und speziell zur Abweisung des im consilium der Armut angelegten Unsittlichkeitsverdachts gegen Markt und bürgerliches Gewinnstreben durch Hegels Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft s. Lübbe-Wolff (Fn. 5), 223 ff.

Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie

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vernünftig begriffenen Institutionen – Institutionen, deren Vernünftigkeit darin liegt, daß in ihnen Einzel- und Allgemeininteresse in Übereinstimmung gebracht sind. Von den institutionellen Details, die Hegel in seiner Rechtsphilosophie entfaltet, ist selbstverständlich heute Vieles nur noch von historischem Interesse (von großem historischen Interesse allerdings). Vieles davon findet man auf hohem Niveau auch in anderen zeitgenössischen Schriften behandelt, nicht zuletzt in den Denkschriften der preußischen Reformer, zu deren Lageanalysen und praktischen Vorschlägen Hegels philosophische Positionen überraschend viele Parallelen aufweisen.10 Das Aktuelle ist der institutionelle Grundzug, die Wendung vom Moralismus zum Institutionellen im eben erläuterten Sinn. Wenn das Neue und Aktuelle der Hegelschen Rechtsphilosophie hier als Wendung zum Institutionellen charakterisiert wird, dann liegt dem ein weites Verständnis von »Institution« zugrunde. Hegel selbst verwendet in dem Zusammenhang, auf den es hier ankommt, den Ausdruck »Institutionen« häufig, aber nicht immer. Oft spricht er stattdessen auch von sittlichen »Verhältnissen«, von »objektiven Garantien«11 oder »Einrichtungen«,12 wobei meist – aber nicht ausschließlich – Rechtseinrichtungen oder rechtlich konstituierte Einrichtungen und dabei häufig Komplexes, manchmal aber auch nur einzelne gesetzliche Regeln gemeint sind.13 Solche Wechsel in der 10

S. z. B. bezüglich der Verfassungspläne der preußischen Reformer: G. Lübbe-Wolff: »Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im Ersten preußischen Verfassungskampf«, Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 476 ff. Interessant ist es auch, statt eines solchen Quervergleichs zu einem Einzelthema Hegels Rechtsphilosophie in Beziehung zu setzen zu den großen preußischen Reformdenkschriften des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Vergleicht man sie zum Beispiel mit der 1807 verfaßte »Rigaer Denkschrift« des damaligen Geheimen Oberfinanzrats Altenstein (abgedruckt in: G. Winter (Hg.): Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. I, Leipzig 1931, 364 ff.), der später als preußischer Kultusminister Hegels Dienstherr war, so zeigt sich neben einigen Unterschieden – wie z. B. denen, daß Hegel der Verfechter einer Nationalrepräsentation mit beschließenden Kompetenzen war, während Altenstein der Volksrepräsentation nur beratende Funktion einräumen wollte, und daß Hegel für die Beibehaltung gewerblicher Korporationen mit marktzugangsregulierenden Funktionen eintrat, während Altenstein insoweit für Abschaffung plädierte –, vor allem eine überraschende Fülle von sehr ähnlichen, um nicht zu sagen identischen Einschätzungen, die von der Beurteilung der weltgeschichtlichen Rolle Napoleons bis zu Fragen der Verwaltungsorganisation und des öffentlichen Dienstrechts reichen. 11 S. auch (betr. Kammern und Budgetrecht) Enz § 552 Anm. (TWA 10, 360 f.). 12 S. z. B. Zitat Fn. 13. 13 S. z. B. TWA 12, 253: »Was die Einrichtungen der Polizei anbetrifft, so war festgesetzt, daß jeder Ägypter sich zu einer gewissen Zeit bei seinem Vorsteher melden sollte und anzugeben hatte, woher er seinen Lebensunterhalt ziehe; konnte er dieses nicht, so

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Formulierung sind nicht entscheidend. Sie entsprechen dem auch heute noch anzutreffenden Nebeneinander engerer und extensiverer Institutionenbegriffe, wie sie zum Beispiel einerseits der im Verfassungsrecht üblichen Bezeichnung nur eines engen Kreises von Grundrechten als »institutionelle Garantien« zugrunde liegen14 und andererseits der »Neuen Institutionenökonomik«, die als Institutionen ganz allgemein Regeln und Regelsysteme in den Blick nimmt.15 Mit dem, was ich als Wendung zum Institutionellen bezeichne, zielt Hegels Rechtsphilosophie, auch wo sie andere Ausdrücke verwendet, auf Institutionen in einem sehr weiten Sinne. Ausdrücklich als Institutionen bezeichnet oder zu den Institutionen gezählt findet man bei Hegel den Staat und seine Sub-Institutionen,16 ganz allgemein auch »Staatsinstitutionen«,17 die Gesetze18 – die aber noch häufiger in einem Atemzug mit »Institutionen« oder »Einrichtungen« neben diesen genannt werden19 – und das, was durch Gesetze institutionalisiert ist,20 das Erbrecht und konwurde er mit dem Tode bestraft; jedoch ist dieses Gesetz erst spät in der Zeit des Amasis gegeben.« 14 Der heute übliche juristische Sprachgebrauch geht zurück auf Carl Schmitt: »Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung«, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 158, 140 ff.; siehe auch ders., Grundrechte und Grundpflichten, a. a. O. 181 ff. Zur heute üblichen Verwendung G. Lübbe-Wolff: Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, Baden-Baden 1988, 127 ff., m. w. N. 15 D. C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, 3: »Institutionen sind die Spielregeln einer Gesellschaft oder, förmlicher ausgedrückt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion. Dementsprechend gestalten sie die Anreize im zwischenmenschlichen Tausch, sei dieser politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art. Institutioneller Wandel bestimmt die Art und Weise der Entwicklung von Gesellschaften über die Zeit und ist somit der Schlüssel zum Verständnis historischen Wandels.« Etwas anders, aber ebenfalls weit der Institutionenbegriff bei R. Richter/E.G. Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, 3. Aufl. Tübingen 2003, 7. 16 RPh § 219 Anm. (TWA 7, 374): »….daß beim Gesetz und Staate davon die Rede sei, daß ihre Institutionen überhaupt als vernünftig an und für sich notwendig sind und die Form, wie sie entstanden und eingeführt worden …«. 17 Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung, TWA 10, 399 ff., hier 414). 18 RPh § 263 Zusatz (TWA 7, 411): »die Gesetze … sind die Institutionen …«); vgl. auch TWA 12, 203: »Gesetze als Sitten und Einrichtungen …«. 19 RPh § 256 Anm. (TWA 7, 398): »…wodurch der Geist sich in Gesetzen und Institutionen, seinem gedachten Willen, als organische Totalität objektiv und wirklich ist«; RPh § 350 (TWA 7, 507): »In gesetzlichen Bestimmungen und in objektiven Institutionen …«; vgl. auch RPh § 270 Anm. (TWA 7, 418 und 419): »…als der zu bestehenden Unterschieden, Gesetzen und Einrichtungen entwickelte Organismus …«, »… sich den Einrichtungen und Gesetzen fügen …«; TWA 12, 220: »Aus den Gesetzen und Einrichtungen …«. 20 S. noch einmal RPh § 219 Anm. (TWA 7, 374): »….daß beim Gesetz und Staate davon die Rede sei, daß ihre Institutionen überhaupt als vernünftig an und für sich notwen-

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krete Gestaltungen des Erbrechts,21 Geschworenengerichte,22 aber auch die Sonntagsruhe23 und den Ackerbau24 – man könnte also zusammenfassen: alles, was der Mensch an verhaltensprägenden Rahmenbedingungen seiner eigenen Existenz selbst geschaffen hat. Dabei geht es aber nicht nur um die konkreten einzelnen Institutionen, die Hegel in seiner Rechtsphilosophie und in anderen Schriften betrachtet. Hegels Wende zum Institutionellen ist grundsätzlicherer Art. Sie analysiert und bewertet aus einer anderen als der früheren Perspektive. Verglichen mit der früheren, verlagert sie prima facie das Interesse von der moralischen Qualifikation individuellen Verhaltens nach den Maßstäben einer Tugendlehre, für die alles auf die Reinheit des Motivs ankommt, hin zu einer ergebnisorientierteren Betrachtung, die sich mehr für das interessiert, was nach außen in Erscheinung tritt: die gute Ordnung, die Qualität der wirklichen Verhältnisse, das tatsächliche Verhalten. Sie lenkt damit die Aufmerksamkeit zunächst vom Subjektiven auf das Objektive, von Gefühlen und Gestimmtheiten auf das, worin sie verläßliche Grundlagen und einen verläßlichen Rahmen finden. »Die Garantien, nach denen gefragt wird«, heißt es zum Beispiel in der Rechtsphilosophie, »es sei für die Festigkeit der Thronfolge, der fürstlichen Gewalt überhaupt, für Gerechtigkeit, öffentliche Freiheit usf., sind Sicherungen durch Institutionen«.

dig sind und die Form, wie sie entstanden und eingeführt worden …«; in diesen Zusammenhang gehören, als rechtsbasiert und rechtsflankiert, auch die bürgerliche Gesellschaft und ihre Unterverhältnisse, s. z. B. RPh § 270 Anm. (TWA 7, 418 f.): »…entsteht der religiöse Fanatismus, der, wie der politische, alle Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung als beengende, der inneren, der Unendlichkeit des Gemüts unangemessene Schranken und somit Privateigentum, Ehe, die Verhältnisse und Arbeiten der bürgerlichen Gesellschaft usf. als der Liebe und der Freiheit des Gefühls unwürdig verbannt.« (Hervorh. GLW). 21 RPh § 180 Anm (TWA 7, 335 f.): »Die Institution des Erbrechts …« und: »In solchen Institutionen«, d. i. in Regeln und Gestaltungsmöglichkeiten des Erbrechts, die die Kinder ungleich behandeln oder zu behandeln erlauben, »ist, wie in den römischen, das Recht der Ehe … überhaupt verkannt«. 22 Enz § 531 Anm. (TWA 10, 327). 23 Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung, TWA 10, 399 ff., hier 412): »Es ist eine der größten Institutionen, daß im gewöhnlichen bürgerlichen Leben die Zeit verteilt [ist] zwischen Geschäften des Werktags, den Interessen der Not, des äußerlichen Lebens, [wo der] Mensch versenkt [ist] in die endliche Wirklichkeit, – und einem Sonntag, wo der Mensch sich diese Geschäfte abtut, sein Auge von der Erde zum Himmel erhebt, seiner Ewigkeit, Göttlichkeit seines Wesens sich bewußt wird.« 24 TWA 12, 494: »Das wahrhaft Göttliche, Allgemeine ist die Institution des Ackerbaus selbst, der Staat, die Ehe, gesetzliche Einrichtungen …«.

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»Liebe des Volks, Charakter« usw. können, so Hegel, als »subjektive Garantien« angesehen werden, »aber sowie von Verfassung gesprochen wird, ist die Rede nur von objektiven Garantien, den Institutionen …«.25 Noch deutlicher im gleichen Kontext die Zurückweisung des Moralpredigens, wo institutionelle Analyse gefragt wäre, in der Hotho’schen Nachschrift der Rechtsphilosophievorlesung von 1822/23 (es handelt sich um die teilweise wortidentische Parallelstelle zu RPh § 272 Zusatz; die Argumentation ist aber, wie häufig, im Text der Nachschrift plastischer und verständlicher): Wenn exekutive und gesetzgebende Gewalt einander »abstrakt«, d. h. unvermittelt – ohne institutionelle Sicherungen ihres Zusammenhangs und ihrer wechselseitigen Angewiesenheit – gegenüberstehen, »so ist nur ihr Kampf zu erwarten, und abgeschmackt ist es hier die moralische Forderung der Harmonie zu machen. Frömmigkeit und Gefühl kann im Staat nicht das Wirksame und soll es nicht sein. Wirft man die Sache aufs Gemüht, so hat man freilich sich alle Mühe erspart …«.26 Hegels ganze Verachtung für Müheersparnisse dieser Art äußert sich besonders witzig in dem Spott, mit dem er Carl Ludwig von Haller übergießt, den Chefideologen der Restauration, der die Gebote Gottes für in jeder Hinsicht völlig ausreichend und deshalb von Verfassungen und anderen neumodischen Institutionen gar nichts hielt.27 Auf das Billige des »Gerede(s) von Moralität«28 – heute müßte man von Wertegerede sprechen – und auf das demgegenüber Mühsame der Erkenntnis des institutionell Vernünftigen weist Hegel immer wieder hin und bezieht das auch auf das Erkennen des Vernünftigen in den bestehenden Institutionen: »Ungebildete Menschen gefallen sich im Räsonieren und Tadeln, denn Tadel finden ist leicht, schwer aber, das Gute und die innere Notwendigkeit desselben zu kennen. Beginnende Bildung fängt immer mit dem

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RPh § 286 Anm. (TWA 7, 457). Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, hrsg. v. K.-H. Ilting, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 747. 27 RPh Fußnote zu § 258 Anm. (TWA 7, 402 ff.); zu Haller auch RPh § 219 Anm. (TWA 7, 373 f.). 28 Der Ausdruck »Gerede« im Zusammenhang mit Moralkonzeptionen, die das Sollen ohne Rücksicht auf die Bedingungen seiner Realisierung entwickeln, fällt in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bei der Behandlung der kantischen Moralphilosophie: »Der besondere Wille soll dem allgemeinen gemäß sein, diese Einheit wird postuliert; der Mensch soll moralisch sein, es bleibt beim Sollen stehen. Das Resultat ist, daß dieses Ziel nur im unendlichen Progresse zu erreichen sei. Es bleibt daher bei diesem Gerede von Moralität stehen« (TWA 20, 369). 26

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Tadel an, vollendete aber sieht in jedem das Positive. … Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, daß dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur andern Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei«.29 Hier wird deutlich, worum es bei dem Insistieren auf der Notwendigkeit, im Bestehenden das Vernünftige zu erkennen, geht: Um die gehörige Wertschätzung dessen, was bei aller möglichen Unvollkommenheit doch die jeweils gegebenen Institutionen schon leisten, und um die Erkenntnis, daß selbst unsere elementarsten Sicherheiten, die Usancen des elementarsten Wohlverhaltens institutionenabhängig sind und verfallen würden mit dem Verfall oder der Zerstörung der Institutionen, die sie tragen. Nicht daß Hegel darum die jeweils existierenden Institutionen für prinzipiell vernünftig hielte – das Diktum von der Vernünftigkeit des Wirklichen kann in diesem Sinne nur mißdeuten, wer übersieht, daß »Wirklichkeit« bei Hegel ein anspruchsvoller Begriff ist, unter den nicht alles fällt, was existiert (nicht zum Beispiel ein »schlechter Staat«).30 Im Verkennen der Institutionenabhängigkeit all dessen, was als zivilisatorischer Standard einmal erreicht ist, in dem Irrtum, all 29

RPh § 268 Zusatz (TWA 7, 414). Siehe RPh § 270 Zusatz (TWA 7, 428 f.): »… Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird. Insofern diese Einheit nicht vorhanden ist, ist etwas nicht wirklich, wenn auch Existenz angenommen werden dürfte. Ein schlechter Staat ist ein solcher, der bloß existiert; ein kranker Körper existiert auch, aber er hat keine wahrhafte Realität«. S. auch Wissenschaft der Logik, Abschnitt »Die Idee«. Allgemeiner für die Möglichkeit unrechtlicher Institutionen siehe auch RPh § 212 (TWA 7, 364): »so kann das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist«; in der Anmerkung zu diesem Paragraphen wird die »positive Wissenschaft« vom Recht, die einerseits »sowohl die historischen Fortgänge als die Anwendungen und Zerspaltungen der gegebenen Rechtsbestimmungen in alle Einzelheiten aus ihren positiven Datis zu deduzieren und ihre Konsequenz zu zeigen« habe, mit leichter Ironie belehrt, sie dürfe »auf der anderen Seite sich wenigstens nicht absolut verwundern, wenn sie es auch als eine Querfrage für ihre Beschäftigung ansieht, wenn nun gefragt wird, ob denn nach allen diesen Beweisen eine Rechtsbestimmung vernünftig ist«; RPh § 216 Anm. (TWA 7, 369): »Eine Hauptquelle der Verwicklung der Gesetzgebung ist zwar, wenn in die ursprünglichen, ein Unrecht enthaltenden, somit bloß historischen Institutionen mit der Zeit das Vernünftige, an und für sich Rechtliche eindringt …«; Enz § 552 Anm. (TWA 10, 357 f.): »Konsequenterweise ist die katholische Religion so laut als diejenige gepriesen worden und wird noch oft gepriesen, bei welcher allein die Festigkeit der Regierungen gesichert sei, – in der Tat solcher Regierungen, welche mit Institutionen zusammenhängen, die sich auf die Unfreiheit des rechtlich und sittlich frei sein sollenden Geistes, d. h. auf Institutionen des Unrechts und einen Zustand sittlicher Verdorbenheit und Barbarei gründen.« 30

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dies sei selbstverständlich oder beruhe allein auf entsprechender moralischer Gesinnung, und in dem aus solchen Irrtümern erwachsenden Moralismus sogenannter guter Absichten, die sich ohne Vermittlung durch vernünftige Institutionen verwirklichen wollen, sieht Hegel nicht eine bloße Dummheit, sondern eine ganz reale Gefahr: das zerstörerische Potential des Fanatismus. Als das historisch Nächstliegende stand dabei die Jakobinische Schrekkensherrschaft vor Augen. Hegel hebt gerade die Zerstörung der Institutionen, auch derjenigen, die das Volk im Zuge der Revolution selbst geschaffen hatte, als das charakteristische Ergebnis des Jakobinischen Fanatismus hervor.31 Das Potential zu solcher fanatischer Entartung sieht er aber auch am anderen Ende des politischen Spektrums, bei dem schon erwähnten Haller und seinem »Hass« auf andere als die göttlichen Gesetze32 und, ganz auf dieser Linie, allgemein im religiösen Fanatismus: »Von denen, die den Herrn suchen und in ihrer ungebildeten Meinung alles unmittelbar zu haben sich versichern, statt sich die Arbeit aufzulegen, ihre Subjektivität zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Wissen des objektiven Rechts und der Pflicht zu erheben, kann nur Zertrümmerung aller sittlichen Verhältnisse, Albernheit und Abscheulichkeit ausgehen – notwendige Konsequenzen der auf ihrer Form ausschließend bestehenden 31

S. vor allem RPh § 5 Zusatz (TWA 7, 52): »Dahin [d. h. zum Stichwort des »tätigen Fanatismus des politischen und religiösen Lebens«, GLW] gehört z. B. die Schreckenszeit der Französischen Revolution, … der Fanatismus will ein Abstraktes, keine Gliederung: wo sich Unterschiede hervortun, findet er dieses seiner Unbestimmtheit zuwider und hebt sie auf. Deswegen hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört …«. Näher H. Lübbe: »Politischer Avantgardismus oder Fortschritt und Terror«, in: ders.: Im Zug der Zeit, 3. Aufl. Berlin 2003, 137 (142 ff.). Über Hegels Verhältnis zur Französischen Revolution, das ein anderes ist als das zum Jakobinischen Terror, J. Ritter: Hegel und die französische Revolution, Frankfurt/M. 1965. 32 S. Fußnote zu RPh § 258 Anm. (TWA 7, 402 ff.): »Der Unmut des Verfassers könnte für sich etwas Edles haben, indem derselbe sich an den vorhin erwähnten, von Rousseau vornehmlich ausgegangenen falschen Theorien und hauptsächlich an deren versuchter Realisierung« – also an der Jakobinischen Schreckensherrschaft – »entzündet hat. Aber der Herr v. Haller hat sich, um sich zu retten, in ein Gegenteil geworfen, das ein völliger Mangel an Gedanken ist und bei dem deswegen von Gehalt nicht die Rede sein kann, – nämlich in den bittersten Haß gegen alle Gesetze, Gesetzgebung, alles förmlich und gesetzlich bestimmte Recht. Der Haß des Gesetzes, gesetzlich bestimmten Rechts ist das Schiboleth, an dem sich der Fanatismus, der Schwachsinn und die Heuchelei der guten Absichten offenbaren und unfehlbar zu erkennen geben, was sie sind, sie mögen sonst Kleider umnehmen, welche sie wollen. … Das natürliche göttliche Gesetz aber … Die Einpflanzung dieses Gesetzes soll es sein, was Gesetzgebung und Verfassung überflüssig mache. Es wäre merkwürdig zu sehen, wie Herr v. Haller es sich begreiflich macht, daß, dieser Einpflanzung ungeachtet, doch Gesetzgebungen und Verfassungen in die Welt gekommen sind!«

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und sich so gegen die Wirklichkeit und die in Form des Allgemeinen, der Gesetze, vorhandene Wahrheit wendenden Gesinnung der Religion«.33 Die Religionen waren selbst wesentliche Institutionenbildner, und jede Moral hat auch ihre äußere Seite und darin selbst institutionellen Charakter, indem sie auf moralgemäßes Verhalten Anerkennungsprämien und umgekehrt auf Verstöße mindestens die Sanktion des Achtungsverlusts und entsprechend reduzierter Kooperationschancen setzt. Hegel sieht das – aber er sieht auch, daß es sich hier um Institutionen handelt, die nicht mehr genügen. Und vor allem sieht er, daß dieses Ungenügen nicht, wie Modernisierungskritiker zu allen Zeiten lamentiert haben, darauf beruht, daß die Moral leider in Verfall begriffen ist, sondern darauf, daß mit der Komplexität der Gesellschaft der Bedarf an angepaßten und anpassungsfähigen, komplexeren Institutionen steigt. So stellt er fest, »bei einem ganz einfachen Zustande der Gesellschaft« habe der Unterschied zwischen gesetzgebender, regierender und fürstlicher Gewalt »wenig oder keine Bedeutung, wie denn Moses in seiner Gesetzgebung für den Fall, daß das Volk einen König verlange, weiter keine Abänderung der Institutionen, sondern nur für den König das Gebot hinzufügt, daß seine Kavallerie, seine Frauen und sein Gold und Silber nicht zahlreich sein solle«, und bemerkt, »daß bei einem ausgebildeteren Zustande der Gesellschaft, und bei der Entwicklung und dem Freiwerden der Mächte der Besonderheit, die Tugend der Häupter des Staats unzureichend und eine andere Form des vernünftigen Gesetzes als nur die der Gesinnung erforderlich wird«.34 Die von Hegel verächtlich so genannten »Gestaltungen des perennierenden Sollens, in welchen sich der bloß moralische Standpunkt … nur herumtreibt, ohne sie lösen und über das Sollen hinauskommen zu können«,35 sind auf engen Kontakt mit dem Faktischen nicht angewiesen. Es handelt sich ja gerade um das Postulieren von Kontrafaktischem. Die institutionelle Betrachtungsweise ist dagegen realitätsgerichtet.36 Daher hat sie zum Eigen33 34 35 36

RPh § 270 Anm. (TWA 7, 419). RPh § 273 Anm. (TWA 7, 437 f.). RPh § 135 Anm. (TWA 7, 253). Dazu O. Marquardt: »Hegel und das Sollen«, in: Philosophisches Jahrbuch 72

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interesse, zum Streben nach dem eigenen Wohl ein anderes, annehmenderes Verhältnis als die moralfixierte: Während diese sich zu dem, was aus Eigeninteresse geschieht, tendenziell kritisch verhält, jedenfalls keinen ethischen Wert darin sieht, geht es in der institutionellen Perspektive darum, Einzelund Allgemeininteresse, Einzel- und Allgemeinwohl durch wechselseitige Indienstnahme in ein Verhältnis möglichst weitgehender Übereinstimmung und wechselseitiger Steigerung zu bringen. Das Eigeninteresse wird nicht mehr vor allem als dem Wohl anderer und der Allgemeinheit Entgegengesetztes und folglich zu Mißbilligendes, Zurückzudrängendes in den Blick genommen, sondern als zu Respektierendes und als ein Antrieb für Gemeinwohldienliches. Das »Wohl anderer ist nicht an sich mir absolut zum Zweck bestimmt«, notiert Hegel, »denn Ich soll zunächst für mein Wohl sorgen, ebenso die anderen für das ihrige«.37 Seine Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, in der »der besondere Zweck« sich befriedigt, »indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt«38 und so »die subjektive Selbstsucht in einen Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um[schlägt]«,39 ist nicht die erste, die den Deutschen Adam Smiths Analyse der Leistungen von Markt und Wettbewerb nahezubringen versucht hat. Sie ist aber die erste, die das bürgerliche Leben, Arbeiten und Wirtschaften aus der traditionellen Konfrontation mit dem Moralischen herauslöst und es stattdessen als ein Moment des Sittlichen entwickelt – eines Sittlichen, das gerade nicht in der Unterdrückung des individuellen Strebens nach eigenem Wohl und Wohlstand besteht, sondern darin, daß dieses Streben in Einklang mit dem allge-

(1964/65), 103 ff. (106 u. passim). Diese treffende Analyse von Hegels Kritik des leeren Sollens trifft meiner Meinung nach auch den wesentlichen Sinn der systematischen Seite von Hegels Philosophie, indem sie diese als »Vermittlungsforschung« charakterisiert (a. a. O. 110). Die systematische Analyse der wechselseitigen Vermittlungsverhältnisse von Besonderem, Allgemeinem und Einzelnem = Einheit beider (zu den Grundlagen in der Logik näher M. Wolff: »Hegels staatstheoretischer Organizismus«, in: Hegel-Studien 19 (1984), 147 ff.) mag als Methode der Sozialtheorie nichts »beweisen« können, sie ist aber produktiv als Methode des Erkennens und Verdeutlichens von Zusammenhängen. Der Zusammenhang, auf den es Hegel besonders ankam, ist allgemeinverständlich ausgedrückt in RPh § 270 Zusatz (TWA 7, 428 f.): »Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, daß das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert. Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird.« 37 Notizen zu RPh § 126 (TWA 7, 238). 38 RPh § 182 Zusatz (TWA 7, 340). 39 RPh § 199 (TWA 7, 353).

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meinen Wohl seine Befriedigung finden kann.40 Dies unter Bedingungen der Freiheit sicherzustellen, ist auch die Funktion des Staates: »Das besondere Interesse soll wahrhaft nicht beiseite gesetzt oder gar unterdrückt, sondern mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gesetzt werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten wird«.41 »Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen …«.42 Das im Sinne der Reinheit von Vorteilsmotiven »moralische« Handeln und die damit verbundenen Opfer verlieren in der Perspektive, die in der beschriebenen Weise dem besonderen Interesse Berechtigung und Anspruch auf Befriedigung zuspricht, den Status der Selbstzweckhaftigkeit. An die Stelle des ethischen Ideals der Heiligkeit tritt das Ideal einer Gesellschaft, deren Institutionenordnung moralisches Virtuosentum gerade möglichst weitgehend überflüssig macht. Die sittliche Ordnung zeichnet sich dadurch aus, daß man es normalerweise bei der bloßen Rechtschaffenheit, der »einfache[n] Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört«, bewenden lassen kann.43 So teilt zum Beispiel Hegel nicht die damals verbreitete Abneigung dagegen, daß Institutionen der öffentlichen Armenfürsorge der individuellen caritas ihr Betätigungsfeld rauben:

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Näher dazu Lübbe-Wolff (Fn. 538). RPh § 261 Anm. (TWA 7, 409). 42 RPh § 260 Zusatz (TWA 7, 407). Hegel sieht die Notwendigkeit der Setzung eines regulativen Rahmens für Markt und Wettbewerb, der Korrektur von Marktversagen und der sozial motivierten Intervention, die er, weiser als viele Theoretiker und Praktiker des Sozialstaates nach ihm, vor allem als Anpassungshilfe ins Auge faßt: Das besondere Interesse rufe die Handels- und Gewerbefreiheit »gegen die höhere Regulierung an, bedarf aber, je mehr es blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft [ist], um so mehr einer solchen, um zum Allgemeinen zurückgeführt zu werden und um die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in welchem sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern« (RPh § 236 Anm. (TWA 7, 385). Daß Hegel die hier anvisierten Regulierungsaufgaben der Polizei und diese nicht dem Staat, sondern der bürgerlichen Gesellschaft zuordnet, wird verständlicher, wenn man sich verdeutlicht, daß es sich hier vorwiegend um den Bereich des heute so genannten Verwaltungsrechts handelt, das zu Hegels Zeit noch nicht als Materie der Gesetzgebung aufgefaßt wurde. Zu der Funktion des Staates, die Tendenz von Markt und Wettbewerb zur Desorganisation einzufangen, und zu Hegels Organizismus näher M. Wolff (Fn. 36). 43 RPh § 150 (TWA 7, 298). 41

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»Der Mildtätigkeit bleibt noch genug für sich zu tun übrig, und es ist eine falsche Ansicht, wenn sie der Besonderheit des Gemüts und der Zufälligkeit ihrer Gesinnung und Kenntnis diese Abhilfe der Not allein vorbehalten wissen will … Der öffentliche Zustand ist im Gegenteil für um so vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meinung, in Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet ist, zu tun übrigbleibt«.44 Allgemeiner: Die »eigentliche Tugend«, die Hegel ausdrücklich auch als »sittliche Virtuosität« bezeichnet,45 hat »unter einem vorhandenen sittlichen Zustande, dessen Verhältnisse vollständig entwickelt und verwirklicht sind, … nur in außerordentlichen Umständen und Kollisionen jener Verhältnisse ihre Stelle«, und zwar, wie Hegel betont, in »wahrhaften« Kollisionen, nicht in solchen, »wie die moralische Reflexion [sie] … sich allenthalben … erschaffen und sich das Bewußtsein von etwas Besonderem und von gebrachten Opfern geben [kann]. Im ungebildeten Zustande der Gesellschaft und des Gemeinwesens kommt deswegen mehr die Form der Tugend als solcher vor, weil hier das Sittliche und dessen Verwirklichung mehr ein individuelles Belieben und eine eigentümliche geniale Natur des Individuums ist, wie denn die Alten besonders von Herkules die Tugend prädiziert haben«,46 »und wenn man heutzutage nicht so viel von Tugend spricht als sonst, so hat dies seinen Grund darin, daß die Sittlichkeit nicht mehr sosehr die Form eines besonderen Individuums ist«.47 Die Prävalenz des Tugendappells und des Ideals heroischer Aufopferung indiziert danach nicht intakte Sittlichkeit, sondern ist im Gegenteil Erscheinungsform eines von wirklich sittlichen Verhältnissen noch entfernten, ungebildeten Zustandes der Gesellschaft und des Gemeinwesens. Der Fortschritt zur Sittlichkeit ist demgegenüber für Hegel ein Fortschritt in der Entwicklung der Institutionen, in denen der Geist als »die Macht des Vernünftigen«48 eine objektive äußere Existenz und Festigkeit und die individuelle Disposition zu vernünftigem und gemeinwohlverträglichem Handeln erst ihre Grundlage und ihren Halt gewinnt – und damit die Möglichkeit, 44 45 46 47 48

RPh § 242 Anm. (TWA 7, 388 f.). RPh § 150 Zusatz (TWA 7, 300). RPh § 150 Anm. (TWA 7, 299). RPh § 150 Zusatz (TWA 7, 300 f.). RPh § 263 (TWA 7, 410).

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über das »besondere Individuum« hinaus allgemein zu werden.49 Der Fortschritt der Geschichte überhaupt, die Arbeit der Weltgeschichte ist für Hegel dieser Fortschritt zur Sittlichkeit durch Institutionenbildung: Das »Wahre ist der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat«.50 Die Philosophie, die dem »Überschritt des Innern in das Äußere« derartige Bedeutung zumißt, hat gerade mit diesem Kern ihres Anliegens nicht Fuß fassen können. Weiterentwickelt bis zu Phasen vollständiger Dominanz hat sich in Deutschland gerade das, wogegen sie sich wandte: Ein Kult der Innerlichkeit, gestützt auf die Selbstwahrnehmung der Deutschen als intrinsisch ehrlich und gemütvoll, arbeitsam und sittsam (letzteres natürlich vor allem die Frauen), »ideal« gesinnt und treu. Dieses von Anfang an modernisierungskritisch getönte Selbstbild hat sich in Abgrenzung zu den westlichen Nachbarn – im achtzehnten Jahrhundert, 49

RPh § 146 (TWA 7, 294 f.): »Für das Subjekt haben die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten einerseits als Gegenstand das Verhältnis, daß sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit, – eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur.« 50 RPh § 270 Anm. (TWA 7, 419). S. auch RPh § 360 (der Schlußparagraph der Rechtsphilosophie; TWA 7, 512): »Indem in dem harten Kampfe dieser … Reiche das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradiert, das Weltliche dagegen sein abstraktes Fürsichsein zum Gedanken und dem Prinzipe vernünftigen Seins und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet, ist an sich der Gegensatz zur marklosen Gestalt geschwunden; die Gegenwart hat ihre Barbarei und unrechtliche Willkür und die Wahrheit hat ihr Jenseits und ihre zufällige Gewalt abgestreift …« (Hervorh. GLW). In einer Philosophie, die das Wirklichwerden des Vernünftigen vom Fortschritt rechtlicher Institutionenbildung erwartet, ergibt sich die zentrale Bedeutung des Staates aus seiner Rolle als institutionenbildende Meta-Institution. Hegels Position im damaligen Kontext – auch seine entschiedene Zurückweisung der Identifikation von Staat und bürgerlicher Gesellschaft und seine entschiedene Zurückweisung aller Vertragstheorien des Staates – muß dabei auf dem Hintergrund verstanden werden, daß zu seiner Zeit noch umstritten war, ob dem Staat diese Funktion, d. h. auch die volle Dispositionsbefugnis über die überkommenen partikularen Rechte, überhaupt zukam, es sich bei den damaligen Staaten um wirkliche Staaten im Sinne des Hegelschen Staatsbegriffs handelte; dazu näher G. Lübbe-Wolff: »Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie«, in: H.C. Lucas/O. Pöggeler (Hg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart/Bad Cannstatt 1986, 421 (427 ff.); dies.: »Das wohlerworbene Recht als Grenze der Gesetzgebung im neunzehnten Jahrhundert«, in: Zeitschrift der Savigny-Stifung für Rechtsgeschichte 103 (1986), 104

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zum Teil auch noch früher, vor allem Frankreich,51 später zunehmend auch von England – entwickelt. »Ich begreife gar nicht«, läßt Justus Möser in einer seiner Patriotischen Phantasien einen glücklich ins französische Hofleben zurückgekehrten Franzosen an seinen Wirt in Westfalen schreiben, »wie es sich in einem solchen Lande leben läßt, wo die Leute nichts tun als arbeiten, essen, schlafen und sich dabei wohl befinden. … wo es keine Männer zu betriegen, keine Weiber zu verführen, keine Tugend zu kaufen oder zu verkaufen, keine Patrioten zu erhandeln und keine Betrieger zu verehren giebt; kurz, wo die Übertretung aller zehn Gebote Gottes einem so wenig Ansehn als Vergnügen giebt. Nur schade, dass ich nicht daran gedacht habe, ein Geschöpfe Eurer Art mit nach Paris zu nehmen …«.52 Die wirksamste Bestätigung fand die deutsche Selbstwahrnehmung gerade durch eine Französin, Madame de Staël, die mit ihrem Buch »De L’Allemagne« ihren Eindruck von den Deutschen über ganz Europa verbreitete: »Die Deutschen sind im allgemeinen ernsthaft und treu; sie brechen fast nie ihr Wort, und jede Vorspiegelei ist ihnen fremd.« In Sachsen seien die Leute gar derart ehrlich, daß man in Leipzig von einem am Rand der Promenade stehenden Apfelbaum dem Eigentümer, der ein Hinweisschild angebracht hatte, in sechs Jahren nicht einen einzigen Apfel gestohlen habe.53 51

Für noch ältere Wurzeln H. Möller: »Altdeutsch. Ideologie, Stereotyp, Verhalten«, in: Hessische Blätter für Volkskunde, Bd. 57 (1966), 9 ff. Bekannt und beliebt ist bis heute Tacitus’ Beschreibung der Germanen als »ohne Falsch und Trug« (Tacitus: Germania, Dt. Ausgabe Stuttgart 1997, 18). Weniger gern zitiert wurde und wird die Äußerung des Geschichtsschreibers Velleius Paterculus, die Germanen seien »bei äußerster Wildheit ganz durchtrieben und zum Lügen geboren« (Wiedergabe in den erläuternden Anmerkungen a. a. O., 47). 52 Justus Möser: »Patriotische Phantasien«, Nr. XLVI (»Schreiben eines reisenden Franzosen an seinen Wirt in Westfalen«), in: Justus Mösers Sämtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1945, 187 (190; in der Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1970, 111 ff. (113)). Viele andere von Mösers Phantasie-Stücken haben es ebenfalls vor allem mit der Charakterisierung der bodenständigen (in Hegels Worten müßte man sagen: natürlich-sittlichen) deutschen Lebensart im Gegensatz zur frivolen französischen zu tun. 53 Madame de Staël: De l’Allemagne (zuerst 1813), Paris 1968, Bd. 1, 56: »Les Allemands ont en général de la sincérité et de la fidélité; ils ne manquents jamais à leur parole, et la tromperie leur est étrangère.« Für das Wort »tromperie« gibt es keine Übersetzung, die alle Bedeutungsebenen, vom Betrug bis zur Blenderei, einfängt. Die Apfelbaumgeschichte a. a. O. 121. Für die Außenwahrnehmung siehe auch Michelet: Introduction à l’histoire universelle, 1831, 28 ff., der den Deutschen vor allem Gemeinschaftsgeist, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft zuschreibt und in seiner Schilderung der deutschen Verhältnisse allerhand Rückständiges findet, sowie zum in Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert durch Sabine Baring-Gould verbreiteten Bild Deutschlands als eines noch nicht von Industrie und wirtschaftlichem Reichtum verdorbenen Landes, in dem die Kinder gehor-

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Hegel nahm an, die Deutschen seien »mehr denkend«, und eben deshalb redeten sie weniger von der Tugend als die Franzosen.54 Bei Madame de Staël findet man dagegen, ganz auf der Linie der deutschen Romantik, das Gemütvoll-Poetische als Grundzug des deutschen Nationalcharakters hervorgekehrt,55 und wo sie die Deutschen als »philosophique« charakterisiert und auf ihre vorzügliche Fähigkeit im Denken zu sprechen kommt, zielt das nicht auf das, was Hegel unter Denken und Philosophie versteht, sondern auf die Neigung zur »imagination«, die ausgeprägte Fähigkeit, sich denkend in der Tiefe und im Vagen zu verlieren, die fehlende Handlungs- und Praxisorientierung der Deutschen, deren Herrschaftsbereich, in den Worten ihres Dichters Jean Paul, nicht die Erde sei wie bei den Franzosen oder das Meer wie bei den Engländern, sondern die Luft.56 Die weitere Entwicklung der Selbstbildproduktion der Deutschen durch das neunzehnte Jahrhundert und die erste Hälfte des zwanzigsten kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden.57 Mir kommt es nur darauf sam und ordentlich gehalten, die Frauen sparsam, sittsam und folgsam, und die Männer ehrlich und unmaterialistisch seien, J. Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003, 23 f. 54 RPh § 150 Zusatz (TWA 7, 301): »Die Franzosen sind hauptsächlich dasjenige Volk, das am meisten von Tugend spricht, weil bei ihnen das Individuum mehr Sache seiner Eigentümlichkeit und einer natürlichen Weise des Handelns ist. Die Deutschen hingegen sind mehr denkend, und bei ihnen gewinnt derselbe Inhalt die Form der Allgemeinheit«. 55 »…on s’aperçoit aisément de cette vie intime, de cette poésie de l’âme qui charactérise les allemands«, a. a. O. (Anm. 586), 58. 56 A. a. O. (Anm. 586), 57. 57 Die am Ende barbarischen Auswüchse der deutschen Selbststilisierung zu Heroen der Selbstlosigkeit sind heute abgetan und in der Regel gar nicht mehr bekannt, etwa die aggressive Wendung gegen die Ideen von 1789, gegen Pragmatismus und Rationalität, gegen Gewinnstreben und Streben nach Behaglichkeit, gegen den vorteilsuchenden englischen Händlergeist (kurz: gegen alles Westliche), dem Werner Sombart den deutschen Heldengeist entgegensetzt, nämlich »Opfermut, Treue, Arglosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Frömmigkeit, Gehorsam, Güte« (W. Sombart: Händler und Helden, München 1915, 65 und passim. Der moralisch unterfütterte Hass gegen alles Westliche (a. a. O., 55: »Deutsches Denken und deutsches Empfinden äußert sich zunächst einmal in der einmütigen Ablehnung alles dessen, was auch nur von ferne englischem oder insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt.«) zeigt bei Sombart deutlich seine Herkunft aus dem Ressentiment des Verlierers, der den eigenen Pluspunkt nur in seinem besseren Inneren findet (68: »Unser Segen ist es gewesen, daß wir in den Jahrhunderten, in denen die westeuropäischen Nationen zu mächtigen Staatsgebilden sich entfalteten, in der Zeit, in der die äußere Welt verteilt wurde, abseits gestanden haben und daß wir darum, weil wir von aller äußeren Macht abgedrängt waren, die Reiche des inneren Menschen zu erobern frei waren.«). Und schließlich die Lehren von dem »grenzenlos ehrlichen Arier«, von der idealistischen Gesinnung, dem selbstlosen »Aufopferungswille(n)«, der die arische Rasse aus allen anderen heraushebe, und von dem »innerste(n) Wesen« jeder Organisation, das

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an, darauf aufmerksam zu machen, daß dieses Selbstbild zugleich Produkt und verstärkende Folge einer einseitig auf Intrinsisch-Moralisches fixierten Grundeinstellung war. Charakteristische Themen der deutschen Sozialtheorie kreisen um diesen Punkt.58 Wenn man in Deutschland die deutsche »Kultur« verehrte, auf die westliche »Zivilisation« dagegen mit Abneigung oder sogar Ekel blickte –Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« sind dafür das bekannteste Beispiel –, dann ging es nicht nur um die Abwehr undeutscher Aufklärungsideen und undeutscher westlicher Institutionen wie Menschenrechte und Demokratie, sondern auch um den Gegensatz zwischen innengeleiteter Moralität und bloß äußerem und außengeleitetem Verhaltensfirnis.59 Wenn dem im römischen Recht wurzelnden westlichen Modell der »Gesellschaft« die »Gemeinschaft« germanischer Tradition entgegengesetzt wurde, war die Unterscheidung gemeint zwischen dem durch bloßes Interesse geschmiedeten, durch Furcht und äußeren Zwang stabilisierten Zweckbündnis und der durch substantielle Gemeinsamkeiten des Volkstums, der Kultur und/oder Gesinnung innerlich verbundenen Einheit.60 Am Grunde all dessen, am Grunde der deutschen Innerlichkeit liegt die romantische Verweigerung des Einverständnisses mit der modernen Welt,

darauf beruhe »dass der einzelne auf die Vertretung seiner persönlichen Meinung sowohl als seiner Interessen verzichtet und beides zugunsten einer Mehrzahl von Menschen opfert«, in: Hitler: Mein Kampf, München 1938, (in der Reihenfolge der Zitate): 338, 325 f., 326. Es sticht ins Auge, daß das nicht etwa eine Ausgeburt des Hegelianismus ist, sondern im Gegenteil – wie die Jahre finsterster Institutionenvergessenheit, die sich auf diese Lehre gründeten – das absolute Extrem dessen, wogegen Hegels Philosophie sich wendet. 58 Daß die im Folgenden benannten Themen als charakteristische der deutschen Sozialtheorie bezeichnet werden, soll nicht besagen, daß Vergleichbares nicht auch noch in anderen Ländern aufzufinden wäre, die in gleicher Weise wie Deutschland mit dem Prozeß der Modernisierung und daher mit dem »Westlichen« haderten (das slawophile Lob der obschtschina in Rußland zum Beispiel ähnelt, auch in seinen abweisenden Funktionen, dem deutschen Lob der Gemeinschaft). 59 Zu den Wurzeln dieser Unterscheidung bei Kant (»Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußern Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus«) s. Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, 193. 60 Die Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist heute vor allem durch das Werk Ferdinand Tönnies’ bekannt, der entgegen einem verbreiteten Vorurteil nicht zu den schlichten Gemeinschaftsromantikern gehörte. Für den inneren Zusammenhang zwischen den Konfrontationen »Kultur versus Zivilisation« und »Gemeinschaft versus Gesellschaft«, der darin liegt, daß es bei »Kultur« und »Gemeinschaft« gleichermaßen um das nicht Interessengeleitete, nicht durch äußere Zwecke Bestimmte geht, s. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1979, a. a. O. 208 f.

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der Protest gegen gesellschaftliche Differenzierung – vor allem gegen die Freisetzung dessen, was Hegel als die bürgerliche Gesellschaft beschrieben hat – und gegen deren Begleiterscheinungen, als da sind Rationalisierung, Individualisierung, Anonymisierung, Ambivalenzerfahrungen und Verluste an Orientierungssicherheit (in älterer Diktion: gegen Entzweiung, Entzauberung und Entsittlichung). Dem romantischen Ideal der von keiner Entzweiung irritierten Sittlichkeit ist in Hegels Rechtsphilosophie sein Herkunftsplatz angewiesen: Es handelt sich um die »unmittelbare« oder »natürliche« Sittlichkeit des »substantiellen«, des ackerbauenden Standes.61 Hegel hat der Romantik und ihrer beschränkten Vorstellung von Sittlichkeit eine Philosophie entgegengestellt, die die Entwicklung der Gesellschaft nicht von der Verlustseite her begreift, sondern als eine Geschichte des Fortschritts vernünftiger Institutionenbildung – eines Fortschritts, der über archaische Stammes- und bäuerliche Dorfmoralen in der Tat hinausführt, aber nicht im Sinne eines bloßen Verfalls, sondern im Sinne der Steigerung zu einer entwickelteren Form der Sittlichkeit. Gerade in diesem Kern, als Philosophie der Institutionen und einer Kultur des Institutionellen, ist Hegels Philosophie aber nicht »herrschend« geworden oder auch nur zu einer breiten Rezeption gelangt. Es liegt auf der Hand, daß Ideale des reinen Motivs, der Innerlichkeit und der gesinnungs- und gefühlsbasierten Gemeinschaft, wie sie stattdessen in Deutschland so ausgeprägt und über so lange Zeit mit wachsender Intensität gepflegt wurden, nicht zu institutioneller Intelligenz disponieren, eben weil sie frei sind von Reflexion auf die institutionellen Grundlagen dessen, was man an Motiven, Gesinnungen und moralischer Substanz bei sich zu finden meint. Und so muß man in Deutschland nach institutionellen Rückständigkeiten und Rückständigkeiten der Kultur des Institutionellen, also nach Anlässen, an Hegel zu denken, denn auch nicht lange suchen. Sie begegnen einem allenthalben – als Abneigung gegen die Indienstnahme von Eigeninteressen für gute Zwecke,62 als unzureichende Würdigung solcher Interessen,63 als

61

RPh §§ 203, 305 (TWA 7, 355, 474 f.). Man lese etwa Zeitungsberichte über gesellschaftliche Charity-Veranstaltungen oder über amerikanische Spender, die ihrer Universität ein Bibliotheksgebäude finanzieren. Ein mit leichter Häme vorgetragener Hinweis, daß hier nicht bloß Menschenliebe oder Liebe zur Wissenschaft im Spiel sein werden, fehlt in der Regel nicht. Dieser Hinweis ist natürlich auch völlig richtig. Bemerkenswert ist nur, daß er für nötig gehalten und in kritischem Ton vorgetragen wird. 63 So trifft man z. B. in der Integrationspolitik häufig auf die Erwartung, Einwanderer, die die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, sollten dies nicht lebenspraktischer Vor62

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Versäumnis, bei staatlicher Regulierung solche Interessen gebührend, d. h. realistisch, in Rechnung zu stellen,64 und als (sei es treuherzige oder geheuchelte) Abwehraffekte gegen Institutionenbildungen, die den Sinn haben, gefährdeten moralischen Standards einen Rückhalt zu geben. Für dieses letztere Muster nur ein Beispiel: Bei einer Podiumsdiskussion wird über Wirtschaftsethik gesprochen. Auf dem Podium sitzt unter anderem ein Innenminister (damit kein Mißverständnis entsteht: es ist hier nicht vom amtierenden Bundesminister des Innern die Rede). Jemand spricht sich dafür aus, das Problem der Korruption nicht nur als ein Problem des Auslandes, sondern auch als Problem innerhalb Deutschlands ernster zu nehmen als bisher. Auf den von Transparency International erstellten Länderranglisten über Korruptionshäufigkeit nehme Deutschland einen ganz und gar nicht rühmlichen Platz ein. Es seien bessere Vorkehrungen auch gegen Korruption im öffentlichen Dienst notwendig. Dazu der Innenminister: Er glaube nicht an die von Transparency erstellten Listen. Auch nicht an die Notwendigkeit besonderer Vorkehrungen gegen Korruption im öffentlichen Dienst. Vielmehr glaube er an die Ehrlichkeit der Deutschen und besonders an die der deutschen Beamten. Was das Elend schwacher institutioneller Kultur ausmacht, ist hier geradezu karikaturenhaft beisammen: Desinteresse an den Realitäten, um nicht zu sagen Realitätsverleugnung (der Minister mußte auf Rückfrage eingestehen, keine Ahnung zu haben, wie die Transparency-Listen zustande kommen, sich also für seinen Unglauben nur auf den Unwillen zur Kenntnisnahme stützen zu können), und moralische Selbstgefälligkeit, der jeder Sinn für den Zusammenhang zwischen guter Moral und guten Institutionen abgeht. Es handelte sich übrigens nicht um eine Veranstaltung des Deutschen Beamtenbundes. Demselben artikulierten Unverständnis für Institutionelles begegnet man zuverlässig immer da, wo es um institutionelle Absicherung des Korrekten geht. Institutionalisierte Korruptionsvorbeugung in Verwaltung oder Wirtschaft, funktionsfähige Überwachung von Betrieben, die mit Umwelt-

teile wegen, sondern aus vorweggenommenem Patriotismus tun. Vgl. dagegen Hegel, der den Patriotismus der Bürger davon erwartet »daß sie den Staat als ihre Substanz wissen, weil er ihre besonderen Sphären, deren Berechtigung und Autorität wie deren Wohlfahrt, erhält« (RPh § 289 Anm. (TWA 7, 458). 64 Ein Beispiel, das mich besonders frappiert hat: Man macht (im Zuge der Hartz-IVReform) Gesetze, die geringere Sozialbezüge für den Fall vorsehen, daß Verwandte oder Lebensgefährten in einem Haushalt zusammenleben. Wenn sich herausstellt, daß die Leute sich dann doch lieber eine eigene Wohnung suchen, ist man überrascht und schämt sich nicht etwa still für schlechtes, um nicht zu sagen unsittliches Institutionendesign, sondern schimpft über Bürger, die die geltenden Sozialgesetze mißbrauchen.

Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie

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schadstoffen umgehen, Vorkehrungen gegen Abrechnungsbetrug bei Ärzten, was es auch sei: Es geht nicht ab, ohne daß die Betroffenen sich, beleidigt von der Unterstellung, so etwas könne bei ihnen nötig sein, dagegen verwahren, daß man sie unter »Generalverdacht« stellt. Diese Form der Regulierungsabwehr, die man unter der Überschrift »Bei uns genügt die Moral!« zusammenfassen kann, hat Tradition.65 Hegel kannte das und hat es kommentiert in einer Reflexion über den biblischen Spruch »Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben«:66 Es seien »die Menschen oft unwillig darüber, daß solches angeordnet, solches Gesetz gegeben wird, – als ob die Voraussetzung in diesem Anordnen liege, daß sie es nicht tun, unrechtlich usf. seien«.67 Hegel hat besser als andere gewußt, daß Gedanken so wenig wie Institutionen zu jeder Zeit und unter beliebigen Umständen irgendwo eingepflanzt werden und gedeihen können – auch das eine sehr aktuelle Einsicht. Wie steht es da mit seinen eigenen Gedanken? Die deutsche Innerlichkeit hat sich schlecht bewährt. Die Erkenntnis wird immer unvermeidbarer und setzt sich auch immer mehr durch, daß – von der Arbeitslosigkeit über die Kinderlosigkeit bis zur Politikverdrossenheit und deren Gründen – die Probleme, an denen wir laborieren, nicht durch Wertepredigten an sozialseinsollende Unternehmer, werdensollende Mütter und besserregierensollende Politiker, sondern nur durch Anpassung der Institutionenordnung an veränderte Umstände zu kurieren sind. Die Zeit könnte demnach jetzt reif dafür sein, daß Hegel als der Begründer institutionellen Denkens erkannt wird, auf den wir früher hätten hören sollen und von dem man immer noch lernen kann.

65

Im Versammlungshaus der Münsteraner Kramergilde findet man dafür ein schönes Beispiel. Der frühklassizistische Kamin dort trägt den Spruch »Ehr ist Dwang gnog« (Ehre ist Zwang genug). Es soll sich um den Wahlspruch der alten Gilde gehandelt haben (ein Foto ist im Internet zugänglich auf den Seiten des Hauses der Niederlande, http://www. uni-muenster.de/HausDerNiederlande/Allgemeines/korn.html. Der Porsche-Vorstandsvorsitzende Wendelin Wiedeking stellt dazu in einem Buch über die Porsche-Philosophie (Anders ist besser, München 2006, 35 f.) die Überlegung an: «Die Ehre scheint auf Dauer nicht genug Zwang gewesen zu sein, sonst gäbe es heute nicht so dicke Gesetzbücher, die fast jedes Detail regeln. Die Frage ist nur, war es der Verfall der guten Sitten, der den Staat dazu gebracht hat, sich mit Gesetzen und Verordnungen in jede Geschäftsbeziehung einzumischen, um Unternehmen und Kunden Sicherheit zu geben? Oder hat der Staat gar mit seiner ungezügelten Regelungswut das ehrbare Handeln durch juristische Spitzfindigkeit verdrängt?« Vgl. auch J.O. Plassmann: Ehre ist Zwang genug, Berlin 1941, 11. 66 1 Tim 1,9 (4). 67 Notizen zu RPh § 137 (TWA 7, 258).

Personenregister

Adorno, Theodor W. 21, 25, 76 f., 250 Aebli, Hans 216 Aenesidemus s. Schulze, Gottlob Ernst Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum 333 Althof, Daniel 11 Antoni, Carlo 302 Archimedes 267 Arendt, Hannah 268 Aristoteles 103, 107, 120 f., 126, 130, 134 f., 137, 270, 272, 279 f., 303–305, 325 Arndt, Andreas 101, 191, 206 Ash, Mitchell G. 234 Astington, Janet Wilde 216 Auerochs, Bernd 63 Augustinus, Aurelius 304 Austin, John Langshaw 166 Bal, Karol 191 Bach, Thomas 213 Barash, Jeffrey Andrew 302 Baring-Gould, Sabine 344 Barry, Brian 272 Battegay, Raymond 269 Baumeister, Willi 76 Becker, Oskar 125 f. Behnke, Thomas 217 Beitz, Charles R. 217 Belting, Hans 224 Benedikt XVI. 68 Bergson, Henry 164 Beuthan, Ralf 211 Binoche, Bertrand 302 Blühdorn, Jürgen 303

Blumenberg, Hans 144 Bobbio, Noberto 303 Böckh, August 16 Bonaparte, Napoléon 10, 137, 313, 333 Bopp, Franz 16 Bourgeois, Bernard 319, 322 Braitenberg, Vale 218, 220, 224 f. Brandom, Robert 31, 102, 120, 126, 240 Bredekamp, Horst 143, 230 Breidbach, Olaf 183, 208–211, 213 f., 216–221, 223–225, 227–230, 232 Bruch, Rüdiger von 208 Bubner, Rüdiger 11, 58, 60, 64, 68, 150, 152 Bühler, Karl 104, 120 Cahan, David 233 Caneva, Kenneth L. 233 Carnap, Rudolf 121 Cassirer, Ernst 152, 161 Chernjavsky, A. 215 Clarke, Edwin 232 Cohen, Marshall 271 Dahlhaus, Carl 71 Dann, Otto 302 Daston, Lorraine 87 f., 214, 233 Deleuze, Gilles 85 Dennett, Daniel 215 Descartes, René (Cartesius) 22, 106, 212 Dewey, John 136, 156 Di Bartolo, Maurizio 209

352

Personenregister

Diderot, Denis 29, 248 Dilthey, Wilhelm 97, 167, 172 f., 235 f. Dostojewski, Fjodor 84 Drüe, Hermann 240 Dulckeit, Gerhard 288 f., 296 f. Duque, Felix 64 Düsing, Klaus 56, 211 Ebbinghaus, Hermann 236 Eichmann, Adolf 268 Eley, Lothar 240 Elkana, Yehuda 233 Encke, Johann Franz 18 Engelhardt, Dietrich 209 Engels, Friedrich 74, 286 Falke, Gustav-Hans Helge 202 Fechner, Gustav Theodor 239 Fénelon, François 272 Feuerbach, Ludwig 74 Fichte, Johann Gottlieb 14, 21–24, 27–33, 35 f., 38, 40, 45–48, 58, 80, 87, 102–105, 122, 189 f., 194, 279 f., 185, 305, 310, 316 Findlay, John N. 103 Fink, Gonthier-Louis 213 Floreano, Dario 217 Florey, Ernst 232 Forster, Michael N. 57 Foucault, Michel 21, 25, 50, 54, 80–85, 159, 161, 290 Frank, Günter 229 Frank, Manfred 36, 69 Frercks, Jan 214 Fukuyama, Francis 157 Fulda, Hans Friedrich 56 f., 219, 268 Furubotn, Eirik G. 334 Gadamer, Hans-Georg 61, 168, 217 Gardner, Howard 228 Gaze, Raymond M. 220 Gerhardt, Volker 13, 54, 139, 148, 328

Gethmann-Siefert, Annemarie 142 Geuss, Raymond 50 Ghiselin, Michael T. 228 Godwin, William 272 Goethe, Johann Wolfgang 219, 248 Goodman, Nelson 89 Gorenstein, Friedrich 226 Görres, Johann Joseph 104 Graf, Friedrich Wilhelm 61 Grammer, Karl 209 Grimm, Jacob 17 Grotius, Hugo 280, 305, 325, 329 Gutwald, Cathrin 209 Guzzoni, Ute 41, 219 Habermas, Jürgen 271 Hackenesch, Christa 11 Hacking, Ian 21, 25, 80 f., 84–86, 88–90, 233 Hagner, Michael 225, 232 Halfwassen, Jens 95 Hallacker, Anja 210, 229 Haller, Carl Ludwig von 336, 338 Hampe, Michael 25 f. Hansen, Frank-Peter 69 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 28, 104, 249 f. Hardenberg, Karl August von 333 Harnack, Adolf von 15 f., 18 Haym, Rudolf 304, 328 Hegel, Georg Ludwig 14 Heidegger, Martin 85, 103, 120, 125 f., 129, 159, 165 Heidelberger, Michael 233 Heinrichs, Johannes 204 Helmholtz, Hermann von 233 Henrich, Dieter 219, 240, 268, 313 Herder, Johann Gottfried 22, 159, 189, 193 f. Hillenkamp, Thomas 217 Himmelmann, Beatrix 54 Hindrichs, Gunnar 24 f., 60

Personenregister

Hirner, René 76 Hirsch, Emmanuel 267 Hirt, Aloys 17 Hitler, Adolf 328, 436 Hobbes, Thomas 279 f., 304 f., 307– 309, 323, 325 Hockney, David 222 Hölderlin, Friedrich 14, 29, 37 f., 64, 138 Holthausen, Klaus 221 Homeyer, Carl Gustav 269 Honnefelder, Gottfried 14 d’Hondt, Jacques 64 Honneth, Axel 50, 272 Horstmann, Rolf-Peter 41, 56, 60, 103 Hösle, Vittorio 211 Houlgate, Stephen 64 Hubig, Christoph 150, 152 Hufeland, Gottlieb 329 Hugo, Gustav 280, 289, 311, 314 Humboldt, Wilhelm von 17, 159, 195 Hume, David 105 f. Hursthouse, Rosalind 123 Husserl, Edmund 120, 159, 165, 167 Inhelder, Bärbel

218

Jacobi, Friedrich Heinrich 22, 32, 58, 98, 106, 190, 205, 248 Jacyna, Leon S. 232 Jaeschke, Walter 13, 18, 61, 63, 98, 100, 201 f., 219, 281 f., 328 Jahn, Ilse 232 James, William 237 Jamme, Christoph 64 Jean Paul s. Richter, Jean Paul Friedrich Joergensen, Stig 330 Kaderas, Brigitte 208 Kamper, Dietmar 224 Kant, Immanuel 21–23, 27–29, 32,

353

35, 48, 54, 64, 91, 95, 102–106, 108 f., 111–115, 119, 122, 125 f., 130, 135, 137 f., 141, 143–145, 148 f., 152–154, 161–163, 174, 189 f., 205, 232, 234, 248, 251, 253, 256, 274, 279 f., 303, 310, 315 f., 323 f., 329, 336, 346 Katz, L.C. 215 Kiesewetter, Hubert 328 Kimmerle, Heinz 211 Klages, Ludwig 164 Klinger, Andreas 213 Klippel, Diethelm 302 Koch, Robert 87 f. Kocka, Jürgen 214 König, Wolfgang 208 Kordelas, Lambros 216 Koselleck, Reinhart 210 Krämer, Sybille 225 Kramnick, Isaac 272 Kröber, Hans-Ludwig 217 Krüger, Hans-Peter 168 f., 175 Krüger, Lorenz 233 Kuhn, Helmut 67 Kurthen, Martin 219 Lalla, Sebastian 210, 229 Latour, Bruno 21, 88, 90 f. Lawrence, Gavin 123 Legros, Robert 65 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29, 135, 152, 175 Lem, Stanislaw 226 Lepenies, Wolf 157 Lessing, Gotthold Ephraim 249 Levinas, Emmanuel 159 Lindemann, Gesa 169 Litt, Theodor 103 Locke, John 137, 251, 279, 305 Losurdo, Domenico 328 Lotze, Hermann 239 Löwith, Karl 304 Lübbe, Hermann 338, 346

354

Personenregister

Lübbe-Wolff, Gertrude 282 f., 330, 332–334, 338, 341, 343, 346 Lucas, Hans-Christian 343 Lukács, Georg 59 Lukrez (Lucretius Titus Carus) 135 Lütterfels, Wilhelm 102

Nietzsche, Friedrich 50, 54, 120, 135, 137, 148, 152 f., 243, 266 f., 289 f. Nolfi, Stefano 217 North, Douglass Cecil 334 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 28, 104, 249 f.

Machiavelli, Niccolò 304 MacIntyre, Alsdair 272 Maine, Henry 291, 293 Man-Kit Lam, Dominic 215 Mann, Thomas 346 Maria (Mutter Jesu) 103 Markl, Hubert 153 Marquardt, Odo 239, 339 Marx, Karl 21, 25, 73–75, 81, 126, 137, 144, 267, 273, 279, 286, 304 Marx, Werner 55, 219 Mayer, Robert 233 McDowell, John 102, 126 Meinecke, Friedrich 159, 302 Menke, Christoph 60 Menninghaus, Winfried 209 Mesch, Walter 150, 152 Metzinger, Thomas 215 Michelet, Jules 344 Misch, Georg 167 Mohnhaupt, Heinz 303 Möller, Helmut 344 Mommsen, Theodor 311 Montaigne, Michel de 135 Montesquieu, Charles de Secondat 310 Morgan, Mary S. 233 Moser, Johann Jacob 321 Möser, Justus 344 Müller, Ernst 63

Orsi, Giuseppe 217 Ottmann, Henning 191, 243 f., 246, 304

Nagel, Thomas 218, 226 Neuser, Wolfgang 209, 211 Newen, Albert 214 Newton, Isaac 113, 209, 232, 236

Pahl, Sascha 11 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 328 Penzias, Arno 89, 91 Peperzak, Adriaan Theodoor Basilius 240 Petry, Michael John 209 Pfeifer, Rolf 217 Piaget, Jean 218 Pielemeier, Ines 302 Pieper, Josef 67 Pinkard, Terry 103, 158, 263 Pippin, Robert B. 55, 103, 240, 243 f., 328 Plassmann, Josef Otto 349 Platon 29, 55, 65, 95, 103, 112, 119– 121, 134, 137, 143, 168, 192–194, 219, 250, 264, 279, 305 Plessner, Helmuth 159–162, 164–175 Pogge, Thomas 271 Pöggeler, Otto 343 Poggi, Stefano 184, 234, 239 Popper, Karl Raimund 121, 144, 279, 328 Pöyhönen, Juha 330 Pufendorf, Samuel 285, 305 Puntel, Lorenz Bruno 219 Putnam, Hilary 229 Quine, William van Orman Quinn, Warren 123

121, 137

Personenregister

Radziewsky, Elke von 222 Rang, Bernhard 41, 219 Ranke, Leopold von 158 Rauchfleisch, Udo 269 Rawls, John 271, 279 f. Recki, Birgit 141, 152 Rée, Jonathan 84 f. Rehn, Rudolf 186 Reinhard, Karl 66 Reinhold, Karl Leonhard 28 f., 35, 106 Richter, Jean Paul Friedrich 345 Richter, Rudolf 334 Riedel, Manfred 97, 303, 328 Ritter, Heinrich 15 f. Ritter, Joachim 303, 338 Rockmore, Tom 102 Rohs, Peter 219 Rorty, Richard 144 Rosenkranz, Karl 304 Rósza, Erzsébet 142 Röttgers, Kurt 239 Rousseau, Jean-Jacques 135, 138, 165, 268, 271, 305, 308, 321, 325, 338 Royce, Josiah 252 Rückert, Joachim 286, 288, 303 Rusch, Gebhard 217, 221 Russon, John 240 Saar, Martin 50, 54 Sachs-Hombach, Klaus 239 Safranski, Rüdiger 139 Sandkaulen, Birgit 13, 58, 161, 168, 175, 182, 186, 191, 209 Sandkühler, Hans Jörg 318 Savigny, Friedrich Carl von 280, 286, 288, 303, 311–315, 343 f. Scanlon, Thomas Michael 271 Schäfer, Alfred 223 Schalhorn, Christof 216 Scheier, Christian 217 Scheler, Max 167

355

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 14, 21–24, 26–28, 35–38, 48 f., 91, 103 f., 106, 108, 138, 186, 189 f., 199 f., 227, 305 Schiller, Friedrich 64–66, 138, 189 f., 194, 200, 248f., 251, 258–260, 262, 265 Schlegel, Friedrich 28, 104, 189, 206, 249 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 15–18, 72 Schlüter, Hermann 232 Schmidt, Siegfried J. 217 Schmitt, Carl 172, 327, 334 Schmitz, Hermann 204 Schnädelbach, Herbert 102 Schneede, Uwe M. 222 Schneider, Helmut 102 Schopenhauer, Arthur 105, 152 Schrenk, Friedemann 147 Schröder, Jan 302 Schües, Christina 186 Schulz, Martin 224 Schulze, Gottlob Ernst 106 Schüz, Almut 220 Schwemmer, Oswald 152 Seitter, Walter 290 Sellars, Wilfrid 102, 120 Sen, Amartya 246 Shatz, C.J. 215 Siep, Ludwig 41, 61, 201, 219, 269, 307 Simon, Josef 219 Singer, Peter 273 Singer, Wolf 214 Smith, Adam 340 Smith, S. J. 215 Snow, Charles Percy 208 Sober, Elliott 225 Sokrates 161, 269–271 Sombart, Werner 345 Sophokles 248 f., 269

356

Personenregister

Speight, Allen 253 Spinoza, Baruch de 91, 98, 106, 198, 307 Staël, Madame de 344 f. Stekeler-Weithofer, Pirmin 102, 209, 240 Stern, Elsbeth 216, 218 Stewart, Jon 328 Stichweh, Rudolf 214 Stock, Günter 10 Stolleis, Michael 321 Stolzenberg, Jürgen 23 f. Strauss, Leo 302, 304 Tacitus Publius Cornelius 344 Taminiaux, Jacques 64, 307 Tarkowskij, Andrej 226 Taylor, Charles 103, 159 Thibaut, Pasquale 312 f. Thomas, Yan 311 Thompson, Michael 123 Tönnies,Ferdinand 346 Trischler, Helmuth 208 Troeltsch, Ernst 172, 302 Uccello, Paolo 222 Ungern-Sternberg, Jürgen von Varga, Csaba 330 Velleius Paterculus 344 Vercellone, Federico 209

269

Vico, Giambattista 22, 159 Visker, Rudi 50 Vogeley, Karl 214 Voland, Eckart 209 Wagner, Falk 61 Wagner, Hans 52 Weigel, Sigrid 210 Weizsäcker, Carl Friedrich von 91 Weizsäcker, Richard von 14 Wesel, Uwe 289, 291 f., 294, 297 f. Wessels, Ulla 274 Whitehead, Alfred Norton 88, 90 f., 136 Wiedeking, Wendelin 349 Wiehl, Reiner 219 Wilhelm, Walter 303 Williams, Bernard 272 Wilson, Robert Woodrow 89, 91 Wimmer, Michael 223 Winter, Georg 333 Wittgenstein, Ludwig 102, 107, 120, 128 f., 165, 237, 257 Wolff, Christian 51, 285, 311, 321 Wolff, Michael 340 Wong, R. O. L. 215 Woodward, William R. 234 Ziche, Paul 209 Zimmerli, Walther Christoph Zons, Raimar 209

152