'Schuld' im Kontext der Handlungslehre Hegels 9783787322848, 9783787343201

Die philosophische Rede von der Schuld umgreift ein breites Bedeutungsspektrum, von der Existenz- und Religionsphilosoph

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German Pages 471 [474] Year 2012

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'Schuld' im Kontext der Handlungslehre Hegels
 9783787322848, 9783787343201

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 58

HEGEL-STUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 58

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

›SCHULD‹ IM KONTEXT DER HANDLUNGSLEHRE HEGELS

von BRITTA CASPERS

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2283-1 ISBN E-Book 978-3-7873-2284-8

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2011 von der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung ist sie geringfügig gekürzt und überarbeitet worden. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor Dr. Walter Jaeschke dafür, daß er sich auf das Thema der Arbeit eingelassen und den Prozeß ihrer Entstehung kontinuierlich und kritisch betreut hat (auch in Zeiten nicht geringen Arbeitsaufkommens), und zwar auf eine Weise, die mir zugleich den größtmöglichen wissenschaftlichen Freiraum gelassen hat. Darüber hinaus bin ich ihm auch für meine Anstellung am Hegel-Archiv dankbar, wodurch meine Arbeit an der Dissertation allererst eine finanzielle Grundlage erhielt. Weiter gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Johannes Rohbeck für die freundliche Übernahme des Korreferats und seine kritischen Hinweise in Bezug auf Struktur und Methode meiner Arbeit. Außerdem danke ich Herrn Walter Jaeschke sowie Herrn Professor Dr. Ludwig Siep für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der Hegel-Studien-Beihefte. Nicht zuletzt bin ich meinem Mann Christoph zu Dank verpflichtet, der nicht nur gelegentliche Stimmungsschwankungen geduldig ertragen, sondern auch durch kritische Lektüre, vielfache Anregungen und stete Ermutigung entscheidend dazu beigetragen hat, daß die Arbeit in dieser Form fertiggestellt werden konnte. Abschließend danke ich meinen Eltern an dieser Stelle für ihre liebevolle Begleitung in diesem Lebensabschnitt. Bochum, im Januar 2012

BC

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.1 Hegels Konzeption der Handlung als Ausdruck einer ›objektiven Finalität‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Streit um die Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 21

2. Zum Bedeutungswandel der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2.1 Von der objektiven zur subjektiven Schuldauffassung . . . . . . . . . 2.2 Zur Schuldauffassung der antiken Tragödie im Vergleich zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ein Blick in die Geschichte des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 31 44

Exkurs I: Über die Wurzeln der Schuld in der Haftung – Gerhard Dulckeits Philosophie der Rechtsgeschichte . . . . Exkurs II: Schuld und Schulden – Nietzsches Genealogie der Schuld

53 58

3. »Schuld hat erst der für sich freie Wille.« – Zur Herausbildung schuldfähiger Subjektivität in Hegels Lehre vom subjektiven Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Zum Verhältnis von Erkennen und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leiden an der Differenz: das praktische Gefühl . . . . . . . . . . . . . . Zur Genese selbstbestimmten Handelns: Trieb und Willkür . . . . Gewohnheit und Triebökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schuld des für sich freien Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom endlichen und unendlichen Willen: Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 71 75 81 85 91

8

Inhalt

4. Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität 101 4.1 Zum Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität . . . . . . . . . . 4.2 Zur Dialektik der Moralität (GPR §§ 104 bis 114) . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Sphäre des Moralischen als Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Entzweiung des moralischen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 »Die Aufgabe […] ist unendlich.« – ›Das Gute und das Gewissen‹ (GPR §§ 129 bis 138) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zur Bedingung der Möglichkeit moralischer Urteile . . . . . . . . . . 4.5 Das Böse und die Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Über die Schwierigkeit, den Teufel in Gott zu erkennen – Hegel zum Mysterium des Bösen . . . . . . . . . . 4.5.2 Die »erste menschliche Tat« – Hegels Deutung der Sündenfall-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.1 Das Bedürfnis des Geistes nach Selbstgewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Zur Dialektik des ›Sündenfalls‹ . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.3 Schuld als der ›Zustand des Menschen‹ . . . . . . . . 4.5.3 Gestalten des Bösen (GPR § 140) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3.1 Tausend gute Gründe oder: das Wollen des abstrakten Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3.2 Die Ideologie der Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3.3 Das ironische Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Das »radikal Böse« bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Schuld als Bildungsprozeß der Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . .

5. »Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Handlung und Imputation in den Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Handlung als Gestalt elementarer Vernunft . . . . . . . . . 5.1.2 Zur Unterscheidung von ›Tat‹ und ›Handlung‹ oder: Schuld zwischen Freiwilligkeit und Intentionalität . . . . . . . 5.1.3 Die Bestimmungen der Handlung als Grade der Selbstreflexivität des Handlungssubjekts . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Dialektik der Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Imputation der Folgen einer Handlung . . . . . . . . . . . . . . .

104 110 112 115 116 120 129 141 142 146 147 149 154 158 160 162 164 166 174

183 183 184 190 195 205 221

Inhalt

5.2

5.3

5.4

5.5

5.1.6 Noch einmal: Bewußt Intendiertes und unbewußt Realisiertes: Ein Sammelsurium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Zurechnungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Zurechnungsfähigkeit als konstitutives Moment personaler Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Unordnung des individuellen Weltsystems – Hegel über ›Geisteskrankheit‹ und Zurechnungsfähigkeit . . . . . . Handlungstheoretische Aspekte in der Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das »Werden des Geistes als Bewußtsein« . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Tat als Prinzip der Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 »Handeln nach dem innern Gesetze« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungslogische Implikationen in Hegels Philosophie der Weltgeschichte und die Frage nach der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Die »Zeit macht sich ihre Leute« – Handeln aus historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 ›Schuld in der Geschichte‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns« . . . . . . . . . . 5.5.1 Das Gute als Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Einschub: »Die Tugend und der Weltlauf« . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Der »Schluß des Handelns« als Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung des Guten . . . . . . . . . . . .

9

230 237 239 243 249 251 262 274 285 289 299 306 309 314 320

6. Strafe und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

6.1 Hegels Theorie der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Zur ökonomisch-rechtlichen Bedeutung des Wertbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Erscheinungsformen des Unrechts als spezifisch juristische Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Eigentumsdelikt und Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.1 Einschub: Hegels Lehre vom Notrecht . . . . . . . . . 6.1.4 Der Vergeltungszusammenhang von Verbrechen und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Gerechtigkeit und Wertäquivalenz als Momente der Wiedervergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.7 Strafrecht und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329 330 338 342 344 350 360 370 374

10

Inhalt

6.2 Gnade und Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Hegels Begründung des Begnadigungsrechts . . . . . . . . . . . 6.3 Zur strafrechtlichen Rezeption der Handlungslehre Hegels . . . . 6.3.1 Ein hartnäckiges Zerrbild? – Der Handlungsbegriff der ›Hegel-Schule‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.1 Carl Ludwig Michelet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.2 Julius Friedrich Heinrich Abegg . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.3 Albert Friedrich Berner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.4 Christian Reinhold Köstlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der strafrechtliche Handlungsbegriff im 20. Jahrhundert. . . 6.3.2.1 Gustav Radbruch und die ›kausale Handlungslehre‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Hans Welzel und der ›finale Handlungsbegriff‹ . 6.3.2.3 Karl Larenz’ Bestimmung einer ›objektiven Zurechnung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

382 387 397 400 404 409 411 417 421 423 427 432

7. Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445

Der Stein aus der Hand ist des Teufels Sprichwort

1. Einführung »Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.« Franz Kafka

Der Begriff der Schuld stellt nicht allein aus der Sicht Hegels zweifellos das notwendige Komplement der Freiheit des menschlichen Willens dar. Für Hegel ist eines völlig klar: Spricht man dem Menschen seine Schuld an dem ab, was er getan hat, so spricht man ihm zugleich seine Freiheit ab. »Ein höherer Standpunkt dagegen«, so heißt es in einer Nachschrift zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, »ist: den Menschen für schuldig zu machen, wie die alten Tragiker […] Es ist eben das Hohe, daß dem Menschen etwas zugerechnet werden kann«1. ›Freiheit‹ und ›Wille‹ – wobei die Freiheit »Substanz und Bestimmung«2 des Willens ausmacht, »wie die Schwere die Substantialität des Körpers«3 − sind für Hegel aber diejenigen Prinzipien, die den unbedingten Ausgangspunkt nicht allein seiner Rechtsphilosophie4, sondern seiner Geistesphilosophie überhaupt bilden. Vermittelt sind der Wille und die Freiheit über das Denken. Hegel zufolge stellt bereits der Wille in Gestalt der Willkür, in der er seine emphatisch freie Gestalt noch nicht gewonnen hat, das Allgemeine gegenüber den besonderen, noch weitgehend natürlichen Bedingtheiten verpflichteten Neigungen und Bedürfnissen des Subjekts dar. Der ›freie Wille‹ ist dann insofern frei, als er sich als frei denkt und weiß, dieses Wissen zur Grundlage seiner Willensbil-

1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (= GW). Bd. 25,2: G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Herausgegeben von Christoph Johannes Bauer. Nachschriften zu dem Kolleg des Wintersemesters 1827/28 und sekundäre Überlieferung. Hamburg 2011. 909 (= GW 25,2). Ferner heißt es dort: »Die Schuld des Menschen wird also nicht von ihm abgewälzt, wenn er sagt, ich habe diesen Trieb, diese Leidenschaft einmal – ich kann nicht anders; er ist Denkendes, Intelligenz, er hätte ja anders wählen können. Der Mensch ist überhaupt nicht unschuldig; man ehrt den Menschen mehr, wenn man ihn unter der Kategorie der Schuld als der Unschuld betrachtet.« (Ebd. 908) 2 G.W.F. Hegel: Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Herausgegeben von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann. Hamburg 2009. § 4 (= GW 14,1; im Folgenden zitiert als: GPR mit entsprechendem Paragraphen). 3 GPR § 7. 4 Vgl. ebd. § 4.

14

Einführung

dung macht und alle äußeren Bedingungen diesem Zweck – seiner Freiheit − anzupassen versucht. Der ›freie Wille‹ geht daher in die konkrete Gestaltung des ›objektiven Geistes‹, in gesellschaftlich-staatliche Verhältnisse über. − Gerade angesichts einer solch engen Verschränkung der Schuld mit zentralen Begriffen der Hegelschen Philosophie, wie sie hier nur erst angerissen werden kann, ist es aber in hohem Maße verwunderlich, daß dem Begriff der Schuld bislang weder im Zusammenhang seiner Religionsphilosophie, noch seiner Ästhetik noch auch seiner Philosophie des subjektiven und objektiven Geistes die gebührende Aufmerksamkeit (etwa in Gestalt einer Monographie oder eines ihm gewidmeten Sammelbandes) zuteil wurde. Zwar findet er hier und dort am Rande Erwähnung – am ehesten noch im Zusammenhang der Reflexion entweder auf Hegels Lehre von der Handlung in den Grundlinien oder, ebenfalls naheliegend, auf die tragödientheoretischen Aspekte in den Vorlesungen über Ästhetik und in der Phänomenologie des Geistes –, zum systematischen Leitbegriff einer Untersuchung all derjenigen Kontexte, in die er eingebettet ist und die sich gleichermaßen von ihm aus erschließen lassen, konnte er jedoch meines Wissens bislang nicht avancieren. Bevor ich näher auf den Gegenstand dieser Untersuchung eingehe, muß ich noch einmal einen Schritt zurückgehen. Schuld, so wurde eingangs unterstellt, ist als die komplementäre Bestimmung zur Freiheit und zum Willen aufzufassen; sie scheint damit an die Sphäre des Geistigen verwiesen, so daß wir uns zur näheren Bestimmung der Schuld in erster Linie an Hegels Geistesphilosophie zu wenden hätten. So ist zwar in Hegels Wissenschaft der Logik etwa die ›Idee des Guten‹ thematisch, nicht aber das für ihre geistige Objektivität notwendige Korrelat des einzelnen moralischen Gewissens, welches wiederum, um thematisiert werden zu können, die subjektiv geistige Entwicklung durchlaufen haben muß. Der systematische Ort einer Abhandlung über die Schuld, insofern sie konkrete moralische Entscheidungen des Subjekts voraussetzt, kann also nicht die Logik sein, da die Existenz des Geistes nicht als solche ihr Inhalt ist. In der Naturphilosophie kann der Ort einer systematischen Auseinandersetzung mit der Schuld gleichfalls nicht zu suchen sein, da der Inhalt der Naturphilosophie zwar als solcher über die Sphäre des Logischen hinausgeht, die Natur jedoch als unmittelbare Wirklichkeit der Idee – oder als »die Idee in der Form des Andersseins«5 – es ihrer höchsten Möglichkeit nach nur

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G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrissse (1830). Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 1991. § 247 (diese dritte Auflage der Hegelschen Enzyklopädie wird im Folgenden zitiert als: Enzyklopädie mit entsprechender Angabe des Paragraphen; wo nach einer der beiden anderen

Einführung

15

erst zum ›Leben‹ bringt. So bleibt das Tier im Stande der Unschuld. Gegenstand in Bezug auf die Frage nach der Schuld kann also einzig die Geistesphilosophie sein; zunächst ist im Rahmen von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes (und dort genauer im Abschnitt über die ›Psychologie‹) die Genese schuldfähiger Subjektivität im eigentlichen Sinne thematisch, denn erst mit dem praktisch gewordenen Geist, dem Willen, ist im umfassenden Sinne vom Fürsichsein des Geistes die Rede (was im dritten Kapitel der Arbeit untersucht wird). Das zweite Kapitel widmet sich dem historischen Bedeutungswandel, den die Auffassung von Schuld erfahren hat; dies wird aus vornehmlich rechtshistorischer bzw. tragödientheoretischer Perspektive nachvollzogen. Da das Phänomen individueller Schuld aber nicht ohne einen Begriff der (moralischen) Willensäußerung, also der freien Handlung zu entwickeln ist, ist die Objektivität des Geistes als Entwicklung der Freiheit in ihrem Dasein als konstitutiv für alle Rede von Schuld zu berücksichtigen. Demnach tritt folgerichtig erst in der Philosophie des objektiven Geistes der Begriff der Schuld als wesentlicher Inhalt ein, und zwar dort, wo das Subjekt sich in seinem freien Fürsichsein begreift und selbstbestimmt handelt, also in der Sphäre der Moralität. Im dritten Teilstück der Moralität finden wir dann die Schuld des freien Geistes auf eine Weise entwickelt, in welcher zugleich die Bestimmung des Bösen, als eines sich der anerkannten Idee des Guten gegenüber isolierenden Inneren, an die Schuld des moralischen Subjekts in seiner existierenden Einzelheit geknüpft wird. Das einzelne Subjekt wird nicht nur in bestimmten Handlungen schuldig, wie sie ihrer Struktur nach in den ersten beiden Abschnitten des Moralitätskapitels der Grundlinien thematisch sind, sondern trägt schlechthin die »Schuld des Bösen«6. Der Wille muß nach Ansicht Hegels vom bloßen ›Wählen‹ zum konkreten Sich-Beschließen fortschreiten, um wirklicher und nicht bloß möglicher Wille zu sein, und damit sich das Subjekt »als ganzes Subject«7 in der Objektivität gesellschaftlicher Verhältnisse mit sich selbst zusammenschließen kann. Der Wille ist jedoch gleichermaßen als ein Moment der Verwirklichung des Subjekts innerhalb vorgegebener gesellschaftlicher Strukturen zu begreifen, wie diese subjektive Selbstverwirklichung zugleich die allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen hervorbringt. Diese Verwirklichung des Selbsts vor dem Hintergrund natürlich-gesellschaftlicher Bedingungen, auf die es wiederum durch sein Handeln Einfluß nimmt, wird von Hegel im positiven wie im

Auflagen zitiert wird, ist dies gesondert kenntlich gemacht; Hervorhebungen im Original werden in aller Regel von mir getilgt). 6 GPR § 139 Anm. 7 GW 25,2. 907.

16

Einführung

negativen Sinne der Schuld und der Eigenverantwortung des sich auf diese Weise verwirklichenden Subjekts zugerechnet. Denn die Handlung ist ein Ausdruck der subjektiven Selbstbestimmung. Wirft man zum Vergleich etwa einen Blick auf die Schuldanalyse Martin Heideggers oder Karl Jaspers’ als diejenigen Ansätze, die die Begriffsgeschichte der ›Schuld‹ im 20. Jahrhundert wohl am stärksten beeinflußt haben8, so ergibt sich eine dem Schuldbegriff Hegels diametral entgegengesetzte Auffassung von Schuld, die – um es vereinfachend zu formulieren – auf der Behauptung beruht, der Mensch definiere sich über die Schuld an dem, was er nicht getan hat, der Möglichkeit nach aber hätte tun können. Für Hegel indes ist der Bereich der bloßen Möglichkeit für die Bestimmung dessen, was den Willen und den Menschen substantiell ausmacht, im Vergleich zu seinem objektivierten Wesen sekundär oder genauer: nur insofern von Bedeutung, als die Möglichkeit grundsätzlich zur Verwirklichung drängt (als eine Bewegung vom Ansich zum Fürsich). Hegel begreift ›Freiheit‹ in erster Linie in einem positiven Sinne, als die sich in freier Selbstbestimmung verwirklichende Möglichkeit oder als den Selbstentwurf des Menschen innerhalb vorgegebener Strukturen und sozialer ›Rollen‹ und des allem gesellschaftlichen Selbstverhältnis zugrundeliegenden inneren und äußeren Naturverhältnisses, durch welches der Mensch wiederum vor bestimmte Notwendigkeiten und Aufgaben gestellt ist. Die hier vorgelegte Abhandlung über die Frage nach der Schuld, die, wie ich angedeutet habe, wesentlich auf den von Hegel entwickelten Begriff der Handlung bezogen ist (fünftes Kapitel), darf jedoch, was die Sphäre des ›objektiven Geistes‹ betrifft, nicht auf ihre Bedeutung im Kontext von Hegels Theorie (und Kritik) der Moralität reduziert werden (viertes Kapitel). Es muß darüber hinaus danach gefragt werden, welche Bedeutung der Schuld hinsichtlich Hegels Konzeption der ›Sittlichkeit‹ oder der Sphäre gesellschaftlich-staatlicher Verhältnisse zukommt, worunter ich im weitesten Sinne einerseits die Untersuchung der handlungstheoretischen Implikationen in Hegels Philosophie der Weltgeschichte (Kapitel 5.4) und andererseits das Kapitel zu Hegels Theorie der Strafe (Kapitel 6.1) und zum Begnadigungsrecht (Kapitel 6.2) begreife.9 8

Vgl. Eva-Maria Engelen: Schuld. – In: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Christian Bermes und Ulrich Dierse. Hamburg 2010. 291– 311; hier 294. 9 Der Sache nach ergibt sich von hier aus auch die Frage nach den Implikationen der Handlungslehre Hegels für eine Konzeption gesellschaftlicher Praxis im Rahmen seiner Auffassung institutionalisierter Sittlichkeit. Eine solche Betrachtung führt uns allerdings vom Begriff der Handlung und der Schuld fort, so daß sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht angeraten scheint. Dennoch ist es aus meiner Sicht erforderlich, auch Hegels

Einführung

17

Der Begriff der Handlung als der Verwirklichung des subjektiven Willens wird daher in dieser Arbeit in mehrerlei Hinsicht im Sinne eines Schlüsselbegriffs verwandt: Er schließt nicht nur, wie gezeigt werden soll, die grundsätzliche Beschaffenheit, das Wesen des moralischen (d. i: des modernen bürgerlichen) Subjekts auf, sondern von seiner Analyse der Handlung aus erwägt Hegel auch im engeren Sinne rechtstheoretische Fragen. Im letzten Kapitel der Arbeit (6.3) werde ich mich daher mit der Rezeption von Hegels Begriff der Handlung im Kontext der Strafrechtslehre des 19. und des 20. Jahrhunderts befassen. Dazu ist zu sagen, daß sich auch gegenwärtig erstaunlich viele Arbeiten mit einem dezidiert juristischen Interesse und einem entsprechenden Deutungshintergrund mit vielen der hier verhandelten Fragen und Begriffe auseinandersetzen, und daß sich auch die Rezeption der Handlungslehre Hegels im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst einmal auf ein dezidiert juristisches und insbesondere strafrechtliches Interesse zurückführen läßt. (Was mit Blick auf Hegels Theorie der Strafe wohl auch dadurch zu erklären ist, daß Hegels Position diesbezüglich eine fest umrissene und dennoch keineswegs nur abstrakte ist. Zudem läßt sie sich auf wesentliche Begriffe seiner philosophischen Systematik, wie ›Freiheit‹, ,Wille‹ und ›Handlung‹ beziehen, durch die sie gleichermaßen ihr philosophisch-spekulatives Fundament erhält.) Überflüssig zu erwähnen, daß eine jede Forschungsarbeit zu Einschränkungen hinsichtlich des zu untersuchenden Gegenstandes gezwungen ist; so auch diese Arbeit. Einerseits müssen die Werke Hegels vor Erscheinen der Phänomenologie des Geistes ausgeklammert werden (woraus sich zugleich ergibt, daß sich diese Arbeit nicht als ein Beitrag in entwicklungs- oder begriffsgeschichtlicher Perspektive versteht), andererseits müssen auch inhaltliche Abgrenzungen vollzogen werden: Wenngleich verschiedentlich auch auf Hegels Religionsphilosophie Bezug zu nehmen ist, so bietet die vorliegende Arbeit doch keine umfassende oder gar erschöpfende systematische Auseinandersetzung mit ihr. Auch mit Blick auf Hegels Philosophie der Kunst, hinsichtlich derer im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit natür-

Entwurf der Sittlichkeit nicht allein mit Blick auf die politische Handlung im engeren Sinne zu betrachten, sondern gleichfalls unter dem Aspekt einer ›Schuld des Einzelnen für das gesellschaftliche Allgemeine‹. Nach Maßgabe dieser (immer noch sehr weiten) Fragestellung bietet sich dann auch die Möglichkeit, die von Hegel vorgeschlagene Konzeption staatlicher Organisation und die Prozesse einer allgemeinen Entscheidungsfindung (vermittelt über allgemeine politische Bildung, Partizipation und Repräsentation), insbesondere hinsichtlich der Frage des je konkreten Handlungsspielraums Einzelner sowie der je zu übernehmenden Verantwortung für bestimmte Entscheidungen, genauer in den Blick zu nehmen.

18

Einführung

lich in erster Linie an die Tragödientheorie und den Komplex der »dramatischen Handlung« zu denken ist, beschränke ich mich auf einige wesentliche Aspekte, die im Zusammenhang der Untersuchung zum Bedeutungswandel der Schuld und im Rahmen der Erörterung der »sittlichen Handlung« in der Phänomenolgie des Geistes eine Rolle spielen.

1.1 Hegels Konzeption der Handlung als Ausdruck einer ›objektiven Finalität‹ Als ein Ergebnis dieser Arbeit läßt sich die folgende These abstrahieren: Hegel versucht in der im Moralitätskapitel der Grundlinien entfalteten Schuldkonzeption zweierlei Prinzipien miteinander zu vermitteln: das Prinzip der Willensschuld einerseits und das einer Erfolgshaftung andererseits. Beide Schuldauffassungen – wenn man so will: die antike und die christliche − werden im Begriff der Handlung, wie Hegel ihn entfaltet, zu Momenten, die miteinander in ein dialektisches Verhältnis treten. Sie finden sich darin in Gestalt des subjektiven Rechts auf Geltendmachen des eigenen Wissens und Wollens einerseits und des »Rechts der Objectivität der Handlung« andererseits wieder, aufgrund dessen sich die Handlung ebenso in ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem subjektiven Zweck geltend macht, wie sie auf einen personalen Urheber, auf ein Denkendes, zurückverweist und ihm zugerechnet zu werden beansprucht. Noch einmal: Worum es Hegel mit seiner Schuld- und Handlungskonzeption zu tun ist, ist eine Vermittlung der beiden aus Hegels Sicht auf Verstandesreflexion beruhenden und daher abstrakten Auffassungen, denen zufolge die Handlung (und gleichermaßen die Schuld des Handelnden) entweder ausschließlich danach bestimmt wird, was im subjektiven Zweck, in der Gesinnung des Handelnden lag, oder ausschließlich danach, welche objektiven Folgen die Handlung bewirkt hat.10 Die von Hegel vorgeschlagene Schuld-Konzeption der Vermittlung dieser beiden jeweils für sich genommen einseitigen Positionen muß daher einerseits die normative Begründung der vom Handlungssubjekt zu übernehmenden Schuld und Verantwortung für die notwendig mit der Handlung gesetzten Folgen leisten und andererseits dem Grundsatz Rechnung tragen, daß dem Subjekt der Handlung nichts auf die Rechnung geschrieben werden darf, was sich nicht auf die allgemeine Natur seines Zwecks oder seiner Handlung zurückführen läßt. Um diese von Hegel entwickelte Handlungskonzeption näher zu bestimmen, könnte man von der Handlung als Ausdruck einer ›objektiven Finali10

Vgl. GPR § 118 Anm.

Hegels Konzeption der Handlung als Ausdruck einer ›objektiven Finalität‹

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tät‹11 oder einer ›objektiven Intention‹12 sprechen, um sie gegenüber einer Auffassung abzugrenzen, nach welcher die Handlung lediglich als Ausdruck einer bloß ›subjektiven Finalität‹ erscheint. Ein Konzept von Handlung, das sich im Wesentlichen auf die von Hegel kritisierte (verstandesmäßige) Entgegensetzung von subjektivem Zweck und Objektivität stützt und das nicht zugleich die durch die Realisation des Zwecks vollzogene Überwindung seiner bloßen Subjektivität im ausgeführten oder objektivierten Zweck als dem Telos der Handlung in den Blick nimmt, muß aus Hegels Sicht ungenügend sein und kommt zu weiter nichts als zu immer neuen Entgegensetzungen von Subjektivität und Objektivität. Eine auf der Vorstellung von subjektiver Finalität beruhende Handlungstheorie unterschlägt zudem die dialektische Seite, die sich mit der subjektiven Zwecktätigkeit verbindet und die Hegel in seiner Lehre von der Handlung herausarbeitet. Hegel dagegen begreift die zweckgerichtete Tätigkeit im Sinne eines Übergehens von Subjektivität in Objektivität: In der Handlung wird der bloß subjektiv-innerliche Zweck seines Mangels, ein bloß Subjektives zu sein, entkleidet und als objektivierter Zweck gesetzt. Aber in der »Vollführung des Zwecks negire ich [zugleich] das Negative des Objektiven. Ich hebe so den Mangel beider auf, mein Zweck ist objektiv und die Äusserlichkeit ist ihm gemäß, nicht mehr bloß objektiv.«13 Die Handlung als der ausgeführte Zweck ist daher vielmehr als die konkrete Einheit von Subjektivität und Objektivität aufzufassen; in dieser ist jede einseitige Bestimmung, nach welcher der Zweck ein bloß Innerliches sei, überwunden. Wenn ich hier also von Hegels Konzeption der Handlung im Sinne der Manifestation einer ›objektiven Finalität‹ spreche, dann will ich damit auf folgende Grundeinsicht der Hegelschen Handlungslehre hinaus: Der subjek11

Der Rechtsphilosoph und Rechtstheoretiker Arthur Kaufmann entwickelt einen handlungstheoretischen Ansatz, der auf »objektiver Finalität« beruht. (Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. Skizze einer personalen Handlungslehre. – In: Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag am 1. Mai 1965. Herausgegeben von Friedrich Geerds und Wolfgang Naucke. Berlin 1966. 79–117; hier 115. Vgl. dazu auch das Kapitel 5.1.6 der vorliegenden Arbeit.) 12 Damit ist auf Georg Lukács verwiesen, der im Zusammenhang der Begründung einer materialistischen Verantwortungsethik von einer »objektiv-immanenten Intention« spricht (Georg Lukács: Die soziale Verantwortung des Philosophen. – In: Objektive Möglichkeit. Beiträge zu Georg Lukács’ »Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins«. Herausgegeben von Rüdiger Dannemann und Werner Jung. Opladen 1995. 11–29; hier 17). Die Rede von der ›objektiv-immanenten Intention‹ ist dem an Hegel angelehnten Versuch geschuldet, Handeln weder einseitig nur nach Maßgabe der subjektiven Intention noch als bloße Reaktion des Handelnden auf die gegebenen Umstände zu begreifen. 13 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Herausgegeben von Karl-Heinz Ilting. Bd. 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 123 (= Ilting, Bd. 4).

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tiv-allgemeine Zweck entfaltet sich, wo er realisiert wird, auf eine äußerlich allgemeine Weise.14 Es ist demnach von einer Entsprechung des immanent allgemeinen Charakters der Handlung im Element ihrer äußerlichen Entfaltung, also im ›Realzusammenhang‹ auszugehen. Anders formuliert: Der sich in der Handlung realisierende subjektive Zweck muß, wenn er realisiert werden soll, nicht nur subjektive, sondern zugleich ›objektive Finalität‹ in sich enthalten. − Dies ist auch der Grundgedanke, der Hegels Philosophie der ›Weltgeschichte‹ und dem Wirken der von Hegel angeführten ›welthistorischen Individuen‹ zugrundeliegt. Was Hegels Lehre von der Handlung darüber hinaus wesentlich auszeichnet, ist das Ineinander-Umschlagen von Subjektivität in Objektivität und umgekehrt. Und so bleibt zu konstatieren, daß sich mit der Handlung immer auch etwas verwirklicht, was vom Handelnden nicht bewußt intendiert wurde (und vielleicht auch nicht bewußt intendiert werden konnte). Hegels Begriff der Handlung impliziert daher wesentlich, daß sich die vermeintlich subjektiven Momente der Handlung (Vorsatz und Absicht) ebenso wie deren objektive Momente (Ausführung, objektive Gestalt und Folgen) gleichermaßen auf ihre immanente Allgemeinheit zurückführen lassen; wie die subjektiven Momente der Handlung zugleich auf die natürliche und gesellschaftliche Objektivität verweisen, so lassen sich auch die objektiven Momente bis zu einem gewissen Grad auf die sie gestaltende Subjektivität zurückführen. Neben der Begründung der soeben formulierten These soll diese Arbeit im Hinblick auf die hier vertretene Auffassung einen Beitrag zum Problem des systematischen Übergangs von der ›Moralität‹ zur ›Sittlichkeit‹ innerhalb der Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie leisten, der − dieser These gemäß − ohne eine angemessene Rekonstruktion der systematischen Funktion des Handlungsbegriffs nicht hinreichend zu begründen ist. Denn das moralische Subjekt mit seinen in sich reflektierten, besonderen Zwecken kann zu einer Orientierung am ›Guten‹ im Sinne der konkreten Allgemeinheit sittlicher Maßstäbe nur dadurch gelangen, daß es sich in der objektiven Gestalt seiner Handlung auf den von ihm verwirklichten Zweck bezieht – dann erst ist, wie wir später noch sehen werden, im Hegelschen Sinne von einer selbstbestimmten Handlung die Rede – und darin erkennt, daß das Gute an der Subjektivität nicht mehr einen Gegensatz hat.15 Der Übergang vom moralischen Standpunkt zur Sittlichkeit besteht Hegel zufolge somit in der selbstbewußten Identität des Guten und des subjektiven Willens16 – ganz analog 14 15 16

Vgl. GPR § 119 Anm. Vgl. ebd. § 141 Anm. Vgl. ebd. § 142.

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zum Übergang von der Idee des Guten zur ›absoluten Idee‹ in Hegels Lehre vom Begriff. (Mit der »Idee des Guten« in der Logik befaßt sich das Kapitel 5.4.) Die Sphäre der Moralität ist gegenüber dieser selbstbewußten Identität beider also nur erst der Standpunkt der »Forderung« und der »Aufgabe« für das moralische Subjekt, das Gute in der Welt durch sein Handeln zu verwirklichen. Da aber in der Moralität »das Gute und das Subjekt als selbstständig vorgestellt«17 werden, kann diese Aufgabe unter dieser Voraussetzung der Entgegensetzung des subjektiven Willens und des Guten nicht gelöst werden. Wie die eigene Subjektivität als Maßstab zur Bestimmung des Guten aufzugeben ist, damit ein dem Allgemeinen verpflichteter sittlicher Standpunkt erreicht wird, so ist ebenfalls die Auffassung einer gesellschaftlichen Objektivität aufzugeben, die den vernünftigen, den ›guten‹ Zwecken des Individuums entgegenstünde. Auch das »lebendige Gute«, das die Grundlage der Sittlichkeit bildet, kann und muß durch das subjektive Handeln verwirklicht werden18, nun aber auf die Weise, daß das Individuum sich dessen bewußt ist, »an dem sittlichen Seyn seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck«19 zu haben. Folgt man Hegel, so zeichnet sich der Standpunkt der Sittlichkeit in erster Linie dadurch aus, daß sich das Individuum innerhalb der vernünftig-institutionellen Ordnung von Staat und Gesellschaft mit seinen Zwecken zum Teil auf diese bereits entwickelten Vernunftstrukturen bezieht (wodurch diese zugleich erst hervorgebracht werden und einem politisch-historischen Wandel unterworfen sind), innerhalb ihrer sozusagen einen rationalen Handlungsraum findet, und die allgemeinen Zwecke, an denen es praktisch teilhat, in Beziehung zu seinen besonderen Zwecken zu setzen weiß.

1.2 Der Streit um die Willensfreiheit Bekanntermaßen machen sich einige Vertreter der Neurowissenschaften in den letzten Jahren verstärkt daran, die Idee der Willensfreiheit als Fiktion oder (Selbst-)Täuschung zurückzuweisen – mit dem Argument, die Freiheit des menschlichen Willens sei schlechthin unvereinbar mit der inzwischen von ihnen wissenschaftlich nachgewiesenen und jede Entscheidung, jedes menschliche Handeln durchwaltenden Determination durch innere

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Ilting, Bd. 4. 391. Vgl. GPR § 142. Ebd.

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wie äußere natürliche Faktoren.20 So stellt beispielsweise der Neurobiologe Gerhard Roth aufgrund jüngerer Forschungsergebnisse die Behauptung auf, daß »die aktuelle Entscheidung, etwas zu tun, unbewußt erfolgt.«21 Was die Handlungssteuerung im Allgemeinen angeht, stammen, so Roth, wesentliche Anteile aus Teilen des Gehirns, die dem Bewußtsein grundsätzlich unzugänglich sind. Hinzu komme, daß das »Bewertungsgedächtnis« des Menschen, in dem seine »gesamte Lebenserfahrung abgelegt ist«, sein Verhalten determiniere – womit allerdings in der Perspektive der Hirnforschung eine gesellschaftliche Determiniertheit nur insofern gemeint sein kann, als auch die Gesellschaft auf Natur oder natürlich-kausale Prozesse reduziert wird. Das Erleben der Freiheit sei damit zwar real, die Freiheit selbst jedoch nichts weiter als ein kulturelles Konstrukt, denn, so Roth, die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens stellen keineswegs das Resultat bewußter, freiheitlicher Entscheidungen dar, sondern stammen aus den ›Tiefen‹ jener unbewußten Gedächtnisinhalte und den damit verbundenen Gefühlen und Motiven. − Solche Aussagen auf der Basis empirischer Experimente berühren zweifellos in theoretischer wie praktischer Hinsicht den Kern der hier vertretenen Auffassung vom Personsein, zu der die Prinzipien von Schuld und Verantwortung ganz wesentlich gehören. Der immer wieder neu aufflammenden und inzwischen reichlich unübersichtlichen Diskussion zwischen den Neurowissenschaften und der Philosophie − zumeist der analytisch ausgerichteten − werden fortlaufend Einzelstudien und Sammelbände gewidmet.22 Auch wenn diese Debatten im Folgen-

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Einen Überblick über die verschiedenen und dennoch durchaus in ihren Resultaten einstimmigen Äußerungen auf Seiten der Neurowissenschaften gibt Michael Pauen in der Einleitung zu seinem Buch: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt a.M. 2004. 7–12. 21 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M. 1997. 307. Roth bezieht sich in seinen Ausführungen u. a. auf die Versuche des amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet hinsichtlich der Beziehung zwischen dem ›Bereitschaftspotential‹ und dem auf die Körperbewegung bezogenen ›Willensakt‹, aus denen Libet den Schluß zog, daß der Willensentschluß in keinem der Fälle die Ursache der Bewegung, sondern lediglich ein Begleitgefühl für die Handlung, also die willkürliche Körperbewegung, darstellt (vgl. ebd. 307 ff.). 22 Vgl. beispielsweise Kristian Köchy und Dirk Stederoth (Hgg.): Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem. Freiburg/München 2006 und Dieter Sturma (Hg.): Philosophie und Neurowissenschaften. Frankfurt a.M. 2006; Dieter Sturma vertritt diesbezüglich die Ansicht, daß die Suche nach einem neuronalen Korrelat von ›Willensfreiheit‹ grundsätzlich zu nichts führt, denn der Freiheitsbegriff bezieht sich aus seiner Sicht »auf ein kompliziertes System von Verhaltensweisen, nicht auf eine separierbare Ursache.« (Dieter Sturma: Ausdruck von Freiheit. Über Neurowissenschaften und die menschliche Lebens-

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den nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein werden, so sollen doch an dieser Stelle zwei Gesichtspunkte bezüglich des Streits um die Willensfreiheit und um die mit dieser verbundenen Möglichkeit oder Unmöglichkeit individueller Schuld und Verantwortlichkeit für das eigene Handeln hervorgehoben werden, die zumindest indirekt mit Blick auf die folgenden Überlegungen von Interesse sind. Voranschicken werde ich einige Bemerkungen hinsichtlich des Verhältnisses der Hegelschen Position zur Willensfreiheit und der neuerdings artikulierten Auffassungen und mich im Anschluß daran in gebotener Kürze zu dem Thema: ›Schuldstrafrecht und Willensfreiheit‹ äußern. Die Autoren Michael Pauen und Gerhard Roth gehen in ihrer 2008 erschienenen Studie Freiheit, Schuld und Verantwortung23 von nicht näher ausgewiesenen »traditionellen Freiheitsvorstellungen« aus, die sie als Gegenposition zu ihrem eigenen Standpunkt eines »aufgeklärten Naturalismus«24 werten. Aus der Sicht der Autoren zeichnen sich jene ›traditionellen‹ Freiheitsvorstellungen allesamt dadurch aus, daß sie erstens: übereinstimmend davon ausgehen, daß eine Handlung nur dann als frei anzusehen ist, wenn sie in keiner Weise von vorausgehenden Bedingungen determiniert ist, daß sie also die »prinzipielle Unvereinbarkeit von Freiheit und Determination behaupten.«25 (Inkompatibilismus) Der Konzeption von Pauen/Roth gemäß handelt ein Mensch hingegen dann frei, wenn sich seine Handlung auf die persönlichen Präferenzen, Wünsche und Überzeugungen des Handelnden zurückführen läßt.26 Zweitens sind jene ›traditionellen‹ Auffassungen von Willensfreiheit nach Ansicht von Pauen/Roth nicht in der Lage, den freien Willen als das Resultat einer individuellen Entwicklung zu denken, so daß es ausgeschlossen scheint, daß eine Handlung als frei zu betrachten ist, wenn sie sich auf Phasen in der Lebensgeschichte des Handelnden zurückführen läßt, in denen das Individuum noch keine Kontrolle über sein Tun besaß.27 In Bezug auf den ersten von Pauen/Roth genannten Punkt ist indes festzuhalten, daß bereits Hegel mit der Anwendung seiner dialektischen Methode

form. – In: Dieter Sturma (Hg.): Philosophie und Neurowissenschaften. A. a.O. 187–214; hier 206.) Vgl. ferner, ebenfalls aus interdisziplinärer Sicht: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt a.M. 2004. 23 Michael Pauen / Gerhard Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Frankfurt a.M. 2008. 24 Ebd. 15. 25 Ebd. 14. 26 Vgl. ebd. 141 f. 27 Vgl. ebd. 15.

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jede Möglichkeit bloß einseitig auflösender oder inkompatibilistischer Auffassungen für obsolet erklärt: Der ›freie Wille‹, den Hegel begrifflich entfaltet, ist das Resultat freiheitlicher Entscheidungsprozesse vor dem Hintergrund innerer und äußerer Determinationsfaktoren.28 Der Wille befindet sich fortwährend und unaufhebbar in diversen Spannungsverhältnissen. Einerseits bedeutet dies, daß der Mensch durch die jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Erwartungen und Normen ebenso wie durch natürliche Umstände bis zu einem gewissen Grad immer determiniert ist. Andererseits verhält es sich nach Hegel so, daß der menschliche Wille (jedenfalls sofern es sich um den Standpunkt moralischer Selbstbestimmung handelt) stets in einer Beziehung »auf den Begriff als ein Sollen«29 steht, was zugleich eine teleologische Gerichtetheit des Willens bedeutet. Auch das, was Etwas seiner Bestimmung nach ist, hat für dieses eine determinierende Funktion.30 Freiheit umfaßt für Hegel, so ließe sich hier vorläufig formulieren, das jeweilige geistige Selbstverhältnis des Menschen sowie das Verhältnis selbstbestimmter Individuen zueinander wie auch gegenüber dem, was sie in ihrem natürlich-gesellschaftlichen Sein bestimmt. Mit Blick auf die zweite von Pauen/Roth angeführte Behauptung ist darauf hinzuweisen, daß gerade Hegel den für-sich-freien Willen als das Resultat der Entwicklung des subjektiven Geistes versteht.31 Im Grunde also böte 28

Zur naturwissenschaftlichen Bedeutung von ›Determiniertheit‹ vgl. den Aufsatz von Brigitte Falkenburg: Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung. – In: Philosophie und Neurowissenschaften. A. a.O. 43–74. 29 GPR § 113. 30 Vorwegnehmend ist an dieser Stelle an die allem Seienden immanenten Differenz von Sein und Sollen zu erinnern, die eben nicht nur für die von Hegel in seiner »Lehre vom Begriff« im Rahmen der Wissenschaft der Logik entwickelte Urteilslehre von Bedeutung ist, sondern für die Sphäre der Rechtsphilosophie im Allgemeinen und die der Moralität im Besonderen, insofern diese die subjektive Widerspiegelung gesellschaftlicher Normen und Werte darstellt. 31 Zudem ist gegen den von Pauen/Roth vorgeschlagenen Entwurf grundsätzlich der Einwand zu erheben, daß Hegel seinerzeit bereits eine Bezeichnung für den ›natürlichen Willen‹ vorschlägt – auf dessen Reaktionsweisen allein sich die Neurowissenschaften kaprizieren –, dem diejenigen Willensentscheidungen entsprechen, die noch nicht von zu sich selbst gekommener Freiheit des Menschen zeugen: die Willkür. Die Willkür, so führt Hegel aus, ist nur erst der »Wille als der Widerspruch« (GPR § 15 Anm.). Und als solcher ist er von der Gestalt des an und für sich freien Willens zu unterscheiden, der sich, als Resultat objektiv wie subjektiv geistiger Vermittlungsprozesse, denkend und in diesem Sinne frei zu seiner eigenen, wiederum denkend ergriffenen, Bestimmung verhalten kann. Hegel bemerkt in diesem Zusammenhang, ein deterministischer Einwand gegen die Willensfreiheit könne sich allein auf diese Erscheinungsweise des Willens beziehen, in der der Inhalt der Willensbestimmung ein »vorgefundener« und von außen genommener sei. Wovon Pauen/Roth nach eigener Aussage in ihren Betrachtungen hingegen ausgehen, ist ein

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gerade die Hegelsche Philosophie für die philosophische Fundierung eines Versuchs, wie den von Pauen/Roth unternommenen, eine geeignete Ausgangsposition (wenngleich von heute aus sicherlich auf der Basis erheblich erweiterter wissenschaftlich-technologischer Möglichkeiten argumentiert wird), zumal sich auch Hegel der materialistischen Denktradition durchaus nicht grundsätzlich verschließt und, ebenso wie die genannten Autoren, nach einer Möglichkeit der Vermittlung zwischen Freiheit und Determination als der wahren Auffassung der Freiheit des menschlichen Willens sucht.32 Um nun noch kurz auf das bereits angekündigte Verhältnis zwischen Schuldstrafrecht und Willensfreiheit zu sprechen zu kommen: Geltendes (nicht nur deutsches, sondern kontinentaleuropäisches) Strafrecht ist Schuldstrafrecht.33 D. h. der rechtliche Schuldvorwurf basiert auf der Voraussetzung, daß sich der Täter aus freien Stücken für das Unrecht entschieden hat; es spielt nicht allein die Rechtsverletzung eine Rolle, sondern auch die persönliche Schuld, die der Täter auf sich geladen hat. Nicht nur im Rah-

Begriff von »Freiheit in dem Minimalsinn […] [der] Selbstbestimmung« (Freiheit, Schuld und Verantwortung. A. a.O. 29). ›Handlung‹ bezeichnet also zunächst einmal körperliche Aktivitätäten, »die von Personen in der Absicht vollzogen werden, einen bestimmten Zweck zu erreichen. Eine typische Handlung bestünde darin, das Licht im Zimmer anzuschalten oder eine Flasche Wein aus dem Keller zu holen.« (Ebd. 30) Hegel sucht mit seiner Handlungslehre demgegenüber nach einem Modell der moralischen oder sozialen Handlung zur Erklärung dessen, wie es kommt, daß in den immer auch auf besondere Zwecke gerichteten individuellen Handlungen ein Allgemeines zustande kommt – was für Hegel gerade hinsichtlich der gesellschaftlich-ökonomischen Sphäre sowie hinsichtlich der Sphäre der Geschichte von Bedeutung ist. 32 Vgl. dazu: G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes. Herausgegeben von Christoph J. Bauer. Bd 25,1: Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 u. 1825. Hamburg 2008. 215 (= GW 25,1). Hegel würdigt den Materialismus oder Naturalismus gegenüber dem Dualismus schon deswegen, weil »das Bedürfniß des Materialismus […] darin [liegt,] die Einheit zu gewinnen«, allerdings gelangt er aus der Sicht Hegels nicht über seine eigene Voraussetzung hinaus, daß »das unbestimmt Viele überhaupt zur Grundlage gemacht wird.« (Ebd. 216) Hegel kommt es demgegenüber darauf an, deutlich zu machen, daß das »fürsichseiende Viele kein wahrer Gedanken sei«; die Materie gelangt aus sich heraus nicht zu einer Einheit ihrer einzelnen Teile, wodurch sich aus seiner Sicht auch der Materialismus als nicht haltbare Position erweist. Zum ›Materialismus-Streit‹ im 19. Jahrhundert – der sicherlich auch mit Blick auf die oben angesprochene Willensfreiheit-Debatte heutiger Tage interessant ist − vgl. Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke (Hgg.): Der Materialismus-Streit. Bd. 1. Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Hamburg 2007. 33 Einen Überblick über die verschiedenen Positionen hinsichtlich des strafrechtlichen Schuldbegriffs im 20. Jahrhundert bietet Hans-Heinrich Jescheck: Wandlungen des strafrechtlichen Schuldbegriffs in Deutschland und Österreich. – In: Revista Electrónica de Ciencia Penal y Criminología, 05–01 vo (2003), ohne Angabe der Seitenzahl (Internetquelle: http://criminet.ugr.es/recpc).

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men einer vergeltungstheoretischen Begründung der Strafe (wie sie auch von Hegel entwickelt wird), sondern ebenso in den sogenannten ›Vereinigungstheorien‹ − die sich inzwischen im Wesentlichen durchgesetzt haben und auch die aktuelle Rechtsprechung stark prägen − ist die Schuld (im Sinne des berechtigten Schuldvorwurfs) die Legitimation für die Bestrafung des Täters, die ihrerseits voraussetzt, daß er anders hätte handeln können.34 (Was allerdings zunächst einmal noch nicht bedeutet, daß Schuld für sich genommen schon die Verhängung von Strafen rechtfertigt, denn ganz grundsätzlich sind auch andere Reaktionsweisen auf schuldhaftes Unrecht denkbar.) Bei alledem darf aber nicht vergessen werden, daß das Schuldmaß, indem es die Strafbarkeit einer Handlung begründet, zugleich – wie in § 46 Abs. I StGB festgelegt − eine Grenze des staatlichen Strafanspruchs markiert und dem Täter auf diese Weise als Schutz gegen ein Übermaß repressiver Einwirkung von Seiten des Staates dient.35 Der in seinen Ausmaßen kaum noch zu überschauende Streit unter den Vertretern der neuronalen Hirnforschung (nicht selten in Kooperation mit Vertretern anderer Disziplinen der Wissenschaft) hinsichtlich dessen, inwiefern der menschliche Wille frei oder unfrei ist, hat unmittelbare Auswirkungen auch auf die Diskussion innerhalb der Rechtswissenschaft, denn immer häufiger wird das geltende Strafrechtssystem in Frage gestellt und mit einer Auffassung vom Menschen konfrontiert, der zufolge er unfrei ist und aufgrund restloser neuronaler Determiniertheit für sein Tun nicht verantwortlich sein kann.36 Aus naheliegenden Gründen werden solche Vorstöße von Seiten der Hirnforschung von den Vertretern der Rechtswissenschaft nicht immer dankbar aufgenommen.37 Was nun konkrete und zumeist mit dem 34

Das Unrecht stellt die unerläßliche Voraussetzung eines Schuldvorwurfs dar, der sich stets auf das konkret vom Täter verwirklichte tatbestandliche Unrecht beziehen muß. So wird hinsichtlich der Kategorie der Schuld grundsätzlich dreierlei verlangt: 1. Schuldfähigkeit (§§ 19, 20 StGB), 2. potentielle Unrechtseinsicht (§ 17 StGB) und 3. das Fehlen von Entschuldigungsgründen (vgl. § 35 StGB). (Vgl. Marcus Marlie: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit. – In: Zeitschrift für das Juristische Studium 1 (2008). 41–46; hier 43.) 35 Vgl. Michael Pauen: Illusion Freiheit? A. a.O. 230. 36 Vgl. etwa Wolfgang Prinz: Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution. – In: Psychologische Rundschau 55 (2004). 198–206 und Wolf Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. – In: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. A. a.O. 30–65. 37 So spricht etwa der Rechtsphilosoph und Strafrechtswissenschaftler Stephan Stübinger diesbezüglich gar von »Omnipotenzanmaßungen« von Seiten der über die Grenzen ihres Kompetenzbereichs hinausgreifenden Hirnforschung (Das »idealisierte« Strafrecht. Über Freiheit und Wahrheit in der Straftheorie und Strafprozessrechtslehre. Frankfurt a.M. 2008. 342). Was aus der Sicht Stübingers droht, ist die »Naturalisierung des gesamten [menschlichen] Selbstverständnisses, das in Zukunft nur noch einem möglichen empirie-

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Anspruch einer ›humaneren Behandlungsweise‹38 des Delinquenten verbundene Veränderungsvorschläge hinsichtlich der Prinzipien des Strafrechts ebenso wie hinsichtlich des Strafvollzugssystems betrifft, die von Seiten namhafter Vertreter der Neurowissenschaften entwickelt wurden, so laufen sie in aller Regel darauf hinaus, daß das Strafrecht und die Strafmaßnahmen an dem sozialen Zweck der ›Besserung‹ des Täters ausgerichtet sein müßten. Die Neurowissenschaft, so urteilt Stephan Stübinger, scheint mit solchen Forderungen einen zusätzlichen Beitrag zur Stabilisierung jenes Trends zur Erneuerung der täterstrafrechtlichen Perspektive zu leisten, der sich innerhalb der kriminalpolitischen Diskussion generell abzeichnet.39 Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang noch auf diverse Versuche innerhalb der Strafrechtslehre hinzuweisen, das Schuldstrafrecht angesichts einer unterstellten restlosen Determiniertheit des Menschen über eine normative Argumentation zu ›retten‹, so daß Schuld aus der Sicht einiger Rechtstheoretiker letztlich nurmehr als eine »normative Setzung« und »soziale Spielregel«40

gestützten Zuschreibungsmodell unterliegen kann.« (Ebd. 341) Da jedoch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, basierend auf einem naturalistischen Erkenntnisprinzip, im Grunde keineswegs so neu sind, wie gern behauptet wird, so stellt sich die Frage, wieso ihnen gerade jetzt derart viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Die von Stübinger angeführte Erklärung für dieses Phänomen zielt darauf ab, daß sich mit Hilfe der von den Neurowissenschaften angebotenen Fundierung einer deterministischen Weltanschauung zugleich das auf neoliberale Vorstellungen zurückverweisende »allseits grassierende Freiheits- und Verantwortungs-Fieber« (ebd. 346) lindern lasse, das den Individuen derzeit zu schaffen mache. Zugleich ist zu kritisieren, so Stübinger ganz zu Recht, daß durch das Sich-Geltendmachen der Hirnforschung von der unbequemen Tatsache abgelenkt wird, daß zumindest ein Teil der gegebenen gesellschaftlichen Mißstände nicht auf die physiologische Determiniertheit des Menschen, sondern auf eben jene gesellschaftlich-ökonomischen Umstände zurückzuführen ist, deren Analyse und Veränderung auf diese Weise jedoch blockiert wird (vgl. ebd. 346 f.; zur kritischen Auseinandersetzung mit den theoretischen Implikationen neurowissenschaftlicher Ansätze vgl. ebd. 348 ff.). 38 Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 356. 39 Vgl. ebd. 352. Stübinger geht außerdem noch auf weitere Vorschläge und von Seiten der Neurowissenschaften in Aussicht gestellte Hilfestellungen ein (wie z.B. die verbesserten Möglichkeiten im Bereich der Lügendetektion). Darüber hinaus ist aber auch die Feststellung etwaiger neurophysiologisch dechiffrierbarer ›Verbrechensgeneigtheit‹ bestimmter Menschen mit äußerster Vorsicht zu betrachten, insofern sie sich mit der rechtspolitischen Forderung verbinden läßt, einen entsprechend disponierten Menschen, da er eine mutmaßliche Gefahrenquelle darstellt, schon vor der Begehung einer Straftat stillstellen zu wollen. 40 Claus Roxin: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Bd. 1. Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre. München 2006. 868. »Wenn [die] normative Ansprechbarkeit gegeben ist, gehen wir davon aus, ohne dies im Sinne der Willensfreiheit beweisen zu können oder zu wollen, dass der Täter auch die Fähigkeit hat, sich normgemäß zu verhalten und sich schuldig macht, wenn er keine der ihm psychisch prinzipiell zugänglichen Verhaltensal-

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erscheint. Solche normativen Setzungen suchen nun einerseits den Erkenntnissen der Hirnforschung Rechnung zu tragen, andererseits jedoch halten sie an der sozialen Notwendigkeit der (›Fiktion‹ der) Willensfreiheit fest.41 Ob sich auf lange Sicht die Überzeugung wissenschaftlich durchsetzen wird, daß der Mensch in allem, was er tut, von vornherein und restlos determiniert ist und das Strafrecht tatsächlich der Abschaffung zugunsten eines Präventionsund Maßnahmenrechts bedarf, oder ob sich doch letzten Endes diejenigen Konzepte behaupten werden, die in konstruktiver Weise normativ-inhaltliche Kriterien zur Bestimmung zentraler Begriffe wie dem der Handlung, der Schuld und der Zurechenbarkeit – und natürlich dem der Freiheit – liefern können, muß an dieser Stelle offen bleiben. Fest steht jedoch: Die folgende Untersuchung als eine Interpretation von Hegels nicht-reduktionistischer und nicht-inkompatibilistischer, sondern sehr komplexer und auf die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen von menschlichem Handeln bezogene Philosophie der Freiheit fügt sich in die hier einführend erörterten Zusammenhänge ein.

ternativen ergreift.« Diese Argumentation, so Roxin weiter, soll nun sowohl den überzeugten Indeterminsten wie den Deterministen (und den Agnostiker ebensowohl) zufriedenstellen, denn sie vermeidet eben die Unterstellung, »dass der Täter tatsächlich anders handeln konnte – was wir eben nicht wissen können«. Sie fordert lediglich, dass der Täter »bei intakter Steuerungsfähigkeit und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit als frei behandelt wird.« (Ebd.; Hervorhebung im Original. Ein vergleichbares Ziel wie Roxin verfolgt auch Reinhard Merkel in seiner Studie: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. Baden-Baden 2008.) Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei unserer Auffassung von ›Schuld‹ bloß um eine ›normative Setzung‹ handeln kann, so stellt sich doch die Frage, was wenn nicht Freiheit einen Menschen oder eine Gesellschaft dazu befähigen kann, eine solche Setzung vorzunehmen. 41 Vgl. dazu Marcus Marlie: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit. A. a.O. 45. Eine ähnliche Ansicht vertritt Anne-Eva Brauneck: Willensfreiheit. – In: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Kriminalwissenschaftliche Essays zu Ehren von Herbert Jäger. Herausgegeben von Lorenz Böllinger und Rüdiger Lautmann. Frankfurt a.M. 1993. 247–254.

2. Zum Bedeutungswandel der Schuld

2.1 Von der objektiven zur subjektiven Schuldauffassung »Das Recht der subjectiven Freyheit«, so bemerkt Hegel in § 124 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, »macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Alterthums und der modernen Zeit.« Mit der allgemeinen Durchsetzung dieses Rechts der subjektiven Freiheit ist nicht zuletzt ein Wandel innerhalb der Auffassung und der Begründung von individueller Schuld im Laufe des Rechtsdenkens verbunden. So stößt man in der einschlägigen Forschungsliteratur bezüglich dieses Wandels immer wieder auf die Behauptung, daß sich das Strafrecht von einem anfänglich reinen Erfolgsstrafrecht erst allmählich zu dem uns vertrauten Schuldstrafrecht entwickelt habe, was im Hinblick auf den je zugrundeliegenden Schuldbegriff bedeutet, daß dieser sich von einer objektiv aufgefaßten Schuld allmählich zu der Vorstellung einer Willensschuld gewandelt habe. In dem soeben angeführten Zitat zum Wendepunkt zwischen Altertum und Moderne bringt auch Hegel diesen Unterschied zwischen einer antiken und einer modernen Schuldauffassung zum Ausdruck; er spricht davon, daß das »heroische Selbstbewußtseyn« − das Hegel par excellence in der klassischen griechischen Tragödie zum Ausdruck gebracht sieht und das »aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von That und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände«1 fortgegangen ist, sondern die »Schuld im ganzen Umfange der That« übernimmt – von dem Bewußtsein des modernen bürgerlichen Subjekts wesentlich unterschieden sei, das sich als seine Schuld allein dasjenige zuzuschreiben bereit ist, was es im Resultat der Handlung als seinen Vorsatz und seine Absicht wiedererkennt. Wir werden diese Beobachtung Hegels später zum Ausgangspunkt nehmen, um die sich darin manifestierende Entwicklung der Schuldauffassung in groben Zügen nachzuzeichnen. − Nun kann weder eine Dogmengeschichte des Schuldbegriffs, geschweige denn eine umfassende Geschichte des Rechtsdenkens sozusagen im Vorbeigehen entwickelt werden; wir werden uns daher auf einige wesentliche Aspekte zu beschränken haben, anhand derer der genannte Umschlag von einer objektiven zu einer subjektiven Schuldauffassung nach1

GPR § 118 Anm.

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

vollziehbar wird. An Hegel selbst können wir uns in dieser Frage allerdings nicht wenden, da er zwar eine Philosophie, aber keine Geschichte des Rechts als eines »Daseyns des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freyheit«2 ausgearbeitet hat, sondern vielmehr die dem entwickelten Rechtsbegriff geschichtlich vorausgehenden Formen des ›werdenden‹ Rechts von seiner Philosophie des Rechts weitgehend ausschließt.3 Dennoch muß es auch vom Boden der Hegelschen Philosophie als ausgemacht gelten, daß sich das Recht als eine Gestalt des Geistes auf keine andere Weise als nur geschichtlich entwickeln kann.4 Wenngleich es hier nicht darum zu tun sein kann, jene bei Hegel selbst Desiderat gebliebene Philosophie der Rechtsgeschichte nachzuliefern, soll doch im Anschluß an das eben angekündigte Unternehmen einer rechtsgeschichtlichen Betrachtung des Bedeutungswandels, den der Begriff der Schuld erfahren hat, immerhin der Versuch des Rechtsphilosophen Gerhard Dulckeit Erwähnung finden, vom Boden der Hegelschen Philosophie des objektiven Geistes aus eine philosophische Rechtsgeschichte zu entwerfen – allerdings wird auch diese Darstellung in erster Linie dem Interesse an der Entwicklung des Schuldbegriffs geschuldet sein. Dulckeit vertritt nämlich, wie wir sehen werden, die These, daß sich Schuld im Sinne einer einklagbaren Verbindlichkeit und einer rechtlich selbständigen Größe aus den älteren, noch unmittelbaren Haftungsgeschäften entwickelt hat, sich also im weitesten Sinne auf die Sphäre des Äquivalententausches zurückführen läßt (Exkurs I). Im Anschluß daran wird noch ein zweiter Exkurs unternommen, der einen, wenn auch methodisch völlig andersgearteten, aber immerhin im

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Ebd. § 30. Vgl. Walter Jaeschke: Genealogie des Rechts. – In: Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Herausgegeben von Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke. Hamburg 2009. 284–301; hier 284 f. Man mag spekulieren, wieso das so ist; Jaeschkes Überlegungen dazu, warum Hegel der Geschichte des Rechts nicht eine vergleichbare Bedeutung wie der Geschichte der Kunst, der Religion oder der Weltgeschichte zugesteht, zielen zum einen darauf, daß Hegel mit seiner Rechtsphilosophie noch immer (auch) in der Tradition des Naturrechts steht, dem Naturrecht jedoch der Gedanke einer Rechtsgeschichte fern lag, da es die Formen des Rechtsbegriffs gerade auf eine nicht-geschichtlich gedachte Vernunftstruktur bezieht (vgl. ebd. 285). Ein weiterer Grund, den Jaeschke in diesem Zusammenhang anführt, bezieht sich auf Hegels kritische Haltung der Historischen Rechtsschule gegenüber, für die zwar die Geschichte des Rechts zum beherrschenden Thema wird, die sich jedoch an solchen Parametern wie ›ursprünglichen‹ und demgegenüber ›abgeleiteten‹ Rechtsformen orientiert, wobei sich das Verstehen der gegebenen Rechtsstrukturen gerade auf das ›Ursprüngliche‹ richten soll. Ein solches Modell ist freilich mit dem Hegelschen Entwicklungsgedanken auf keine Weise zu vereinbaren (vgl. ebd. 286). 4 Hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Rechtsgeschichte siehe Paragraph 3 der Grundlinien der Philosophie des Rechts. 3

Zur Schuldauffassung der antiken Tragödie im Vergleich zur Moderne

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Resultat durchaus vergleichbaren Versuch darstellt, Antworten auf die Frage nach dem historischen Grund unseres moralischen Begriffs der Schuld zu liefern; gemeint ist Friedrich Nietzsches Entwurf einer Genealogie der Schuld, welche er, wie wir sehen werden, auf den »sehr materiellen Begriff Schulden« zurückführt. Vorab gilt es jedoch genauer zu klären, welche Implikationen sich für Hegel aus dem konstatierten Wendepunkt zwischen Altertum und Moderne hinsichtlich der herrschenden Subjektivitätsauffassung ergeben.

2.2 Zur Schuldauffassung der antiken Tragödie im Vergleich zur Moderne In der von Hegel vorgeschlagenen, dem Geist seiner Zeit Rechnung tragenden Unterscheidung − die, wie bereits gesagt, von der Annahme ausgeht, daß in der frühgriechischen Welt (allerdings nicht nur dort) das Prinzip der Erfolgshaftung dominiert, während sich das moderne Recht dadurch auszeichnet, daß es das subjektive Schuldmoment stärker berücksichtigt – manifestiert sich nicht allein ein ›Paradigmenwechsel‹ hinsichtlich des Rechtsdenkens im Allgemeinen sowie hinsichtlich der Schuldauffassung im Besonderen. Diese Unterscheidung ist für Hegel vielmehr wesentlich einer in sich vertieften Auffassung von Subjektivität geschuldet; sie bezeichnet damit geradezu eine Gelenkstelle innerhalb der philosophischen Konzeption Hegels.5 5

Die hier formulierte These wird jedoch nicht einhellig geteilt; so sieht etwa Uwe Wesel (Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten. Frankfurt a.M. 1985. 346 f.), ganz entgegen der Hegelschen Auffassung, den Grund dafür, warum in vorstaatlichen Gesellschaften (also hier nicht im engeren Sinne bezogen auf das antike Griechenland) das Prinzip der objektiven Erfolgshaftung gilt, keineswegs in der im Vergleich zur Moderne schwächer ausgeprägten moralischen Individualität: »Man hat die Ursache für diesen Unterschied zu unserem Recht lange Zeit darin gesehen, daß in frühen Gesellschaften die Individualität der Menschen noch nicht genügend ausgebildet sei, um Unterscheidungen in der Zurechenbarkeit zu ermöglichen. Entsprechende – moralische – Vorstellungen würden also auch im Recht fehlen. Das ist sicherlich unrichtig. Man weiß um Gut und Böse und kann auch unterscheiden. Und die Einheit von Moral und Recht ist sehr viel größer als bei uns. Die richtige Erklärung ist im sozialen Umfeld der Haftung zu suchen […] Immer wenn wir in unserem Recht mehr auf die Sicherheit des Gefährdeten sehen als auf das persönliche Verschulden des Schädigers, dann gibt es auch bei uns objektive Haftung. Wir nennen sie Gefährdungshaftung […] Tritt [von heutigem Recht aus betrachtet] ein Schaden ein, muß Schadensersatz geleistet werden, ohne daß es auf subjektives Verschulden ankommt. Ähnlich wird in der engen Gemeinschaft früher Gesellschaften die äußere Sicherheit sehr hoch bewertet […] Deshalb ist ihre Haftung weitgehend objektiv.« Zweifellos sollte man das Argument der objektiven Notwendigkeit der materiellen Reproduktion vorstaatlicher Gesellschaften für die Ausbildung von

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An dieser Differenz hängt nicht allein die komplizierte Unterscheidung der zumeist parallel verwendeten Kategorien Subjektivität und Individualität, sondern hier ist wohl sogar der Ausgangspunkt für Hegels Begriff der Moderne zu sehen.6 Nebenbei bemerkt, sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß Hegel selbst unter den Bedingungen jener von ihm bezeichneten Wende innerhalb der Rechtsverhältnisse steht, denn mit der Wende zum 19. Jahrhundert, also gleichsam einer Wende innerhalb der von Hegel bezeichneten Moderne selbst, avanciert die Verschuldensidee zum leitenden Gedanken privatrechtlicher Zurechnung. So bildet sie den Inhalt der wichtigsten Regelungen der drei bedeutendsten Naturrechtsgesetzbücher des 19. Jahrhunderts: des 1794 in Kraft getretenen Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten (ALR), des unter Napoleon im Jahre 1804 verabschiedeten Code Civil sowie des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches für die Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB) von 1811.7 Das Verschulden selbst wurde hier übereinstimmend definiert als moralisch vorwerfbarer Mißbrauch von Willensfreiheit.8 – Es ist insbesondere ein Merkmal Rechtsnormen nicht außer Acht lassen; es scheint jedoch ebenso zweifelhaft, ob Wesels ›Gegenargument‹ (das er nicht explizit an Hegel adressiert) den Hegelschen Gedanken tatsächlich in Frage zu stellen vermag, denn unbestritten ist die Ausdifferenzierung von Rechtsstrukturen aufgrund einer Wandlung auch des Individualitätsverständnisses der jeweiligen Kultur. Nimmt man mit Hegel eine Bewegung von einer an sich seienden subjektiven Freiheit zu einer für sich seienden an, dann bleibt es unbestritten, daß auch frühe Gesellschaften und Rechtskulturen normative Grundsätze und Sitten herausbilden, die bestimmte soziale Funktionen innehaben – darin jedoch kommt die Bewegung vom Ansich zum Fürsich noch nicht zu einem Ende. Im Gegenteil: Hegel behauptet, daß sie in der Gestalt des Sokrates allererst beginnt. Mit Sokrates bricht das Prinzip der Innerlichkeit auf, er setzt sich der bestehenden Ordnung und dem Mythos bereits entgegen; allerdings bricht diese Bewegung bereits in der Person des Sokrates wieder ab, oder genauer: sie wird noch nicht zum herrschenden Prinzip. Daraus erhellt, daß Wesel und Hegel kaum denselben Begriff des Moralischen oder der Moralität zugrundelegen. Moralische Subjektivität ist für Hegel mehr als das bloße (über den Mythos vermittelte) Wissen um Gut und Böse. Was die moralische Individualität für Hegel auszeichnet, ist, zugespitzt formuliert, gerade Ausdruck der Möglichkeit, sich aller geltenden Rechtsnormen und jedem moralischen Prinzip entgegenzusetzen. 6 So sieht es Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. Untersuchungen struktureller Probleme privatrechtlicher Zurechnung. Frankfurt a.M. 1993. 40. 7 Vgl. ebd. 79. 8 Da der Geltungsbereich dieser Definition nicht allein auf das Privat- und Strafrecht beschränkt war, sondern eine übergreifende Grundsatzentscheidung darstellte, liegt es nahe, daß sich hinter derselben eine umfassende theoretische Auseinandersetzung und Rechtfertigung verbirgt. Meder behauptet jedoch, daß sich die Durchsetzung dieses neuen Prinzips mit »verblüffender Selbstverständlichkeit« vollzogen habe (vgl. Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 79 ff.). Gerald Hartung betont dagegen, daß die Rechtshistoriker des 19. Jahr-

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des subjektiven Schuldmoments, nämlich die Eignung der Verschuldensidee zur Rechtfertigung, das im Kontext der Hegelschen Bestimmung von Schuld und Zurechnung eine große Rolle spielt, insofern nämlich das Verschulden einen Grund dafür angibt, warum dem Handelnden nur solche Folgen seines Handelns zugerechnet werden sollen, die innerhalb seines Wissens- und Wollenshorizontes liegen, weshalb das Verschuldensprinzip den Bereich persönlicher Verantwortung gleichermaßen bestimmt wie eingrenzt. Damit ist jedoch noch nicht die Frage geklärt, was Hegel mit dem Begriff Moderne überhaupt verbindet. Folgt man dem Differenzschema innerhalb seiner Philosophie der Weltgeschichte, dann ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen vorstaatlichen, antiken und modernen Gesellschaften darin zu sehen, daß in vorstaatlichen Gesellschaften Einer frei war, in der antiken Polis waren es einige und in der Moderne (d. h. mit der Französischen Revolution) sind alle Menschen − also der Mensch als Mensch − frei9, was sich politisch in der Durchsetzung der allgemeinen Rechtsgleichheit manifestiert. Dieser Wesenszug des modernen Staates impliziert ferner, daß er sich, anders als frühere staatliche Gebilde, dazu in der Lage zeigt, den besonderen Willen in den allgemeinen zu integrieren. »Der Staat«, so heißt es in § 260 der Grundlinien, »ist die Wirklichkeit der concreten Freyheit«, und diese konkrete Freiheit bedeutet wiederum, daß der Mensch als Einzelner, mit samt seinen besonderen Interessen, im Staat die vollständige Anerkennung und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung finden muß. Darin erschöpft sich aber nicht, was Hegel unter ›konkreter‹ Freiheit versteht, denn damit ist vielmehr ebenso ausgesagt, daß die Individuen, indem sie ihre subhunderts (er nennt Niebuhr, Hegel, Savigny, Puchta, Huschke, Mommsen und Mitteis) in einen »lang anhaltenden Streit über das moralische Profil des altrömischen Schuldrechts« verwickelt gewesen seien. Bevor die Positivierung des bürgerlichen Rechts im Gesetzbuch von 1900 in Deutschland ihren Abschluß finden sollte, ging es um die historische Legitimation einzelner Rechtsinstitute. Im Schuldrecht wurden die Weichen gestellt, um differenzierte Fragestellungen der persönlichen und unpersönlichen Verschuldung, der Willenserklärung und Verpflichtung, sowie der Vielfalt möglicher Schuldverhältnisse (Kauf, Tausch, Schenkung, Darlehen, Dienstvertrag etc.) systematisch erfassen zu können. (Vgl. Gerald Hartung: Zur Genealogie des Schuldbegriffs. Friedrich Nietzsche und Max Weber im Vergleich. – In: D. Frede / W. Bartuschat (Hgg.): Archiv für Geschichte der Philosophie. Bd. 76. Berlin 1994. 302–318; hier 307 f.) Es bleibt hinzuzufügen – wiederum in Anlehnung an Stephan Meder –, daß sich bereits mit der Wende zum 20. Jahrhundert, zunächst in privatrechtlicher Hinsicht, erste Tendenzen einer Objektivierung der Zurechnung bemerkbar machten; am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung Meder zufolge im Familienrecht (vgl. Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 83 und 111 f.). 9 Vgl. G.W.F. Hegel: Zur Philosophie der Weltgeschichte. – In: G.W.F. Hegel: Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831). Herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1995. 185 f. (= GW 18).

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jektiven Interessen nach Maßgabe subjektiver Wertvorstellungen verfolgen, »in das Interesse des Allgemeinen theils übergehen, theils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck thätig sind«. Wenn so das Allgemeine von Staat und Gesellschaft und das Besondere in ein wechselseitiges Bedingungsgefüge treten, dann erweist sich der moderne Staat damit zugleich in seiner »ungeheure[n] Stärke und Tiefe«, die darin besteht, daß er sogar noch das Extrem einer sich verselbständigenden Subjektivität vermittels seiner institutionellen Ordnung in die substantielle Einheit mit sich zurückzuführen vermag.10 Der moderne Staat muß also so verfaßt sein, daß er einerseits gegen die sich frei entlassende subjektive Willkür unempfänglich ist, und daß diese sich andererseits »nicht exerziren kann ohne in das System des Staats zu treten, sich nicht befriedigen kann, anders als in dem Prinzip des Staats. Ob sie darin für sich frei sind z. B. durch Einsicht, ist wieder Sache der Individuen selbst.«11 Im Gegensatz zu früheren, noch unausgebildeteren staatlichen Gemeinwesen, die eine in sich geschlossene Gesellschaftsordnung aufweisen, tritt auch noch nicht das Moment selbstbestimmter Willensentscheidung hervor. Da eine »individuelle Spitze« aber für einen jeglichen Staat unabdingbar – »denn alle Handlung und Wirklichkeit hat ihren Anfang und ihre Vollführung in der entschiedenen Einheit eines Anführers«12 –, das Moment der Subjektivität aber zunächst noch nicht hinreichend herausgebildet ist, kann die Verbindlichkeit einer Entscheidung auch noch nicht in der entscheidenden Subjektivität selbst, im »reine[n] Entscheiden« liegen; solche Verbindlichkeit verweist vielmehr auf ein »von außen her bestimmendes Fatum«13. Mit anderen Worten: Das Prinzip der personalen Selbstverantwortung und der Schuld kann sich überhaupt erst dort durchsetzen − und diese im freien Willen gründenden Momente wiederum zu Rechtsprinzipien werden −, wo die »Tiefe des Selbstbewußtseyns« erfaßt ist. Den Anfang dieser »sich wissenden und damit wahrhaften Freyheit« sieht Hegel mit Sokrates gemacht. Und so ist es auch kein Zufall, daß bereits Platon in seiner Politeia das Prinzip der Willensschuld und der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für seinen sittlichen Charakter so stark hervorhebt (worauf gleich noch einmal kurz zurückzukommen ist).

10 11 12 13

Vgl. GPR § 260. Ilting, Bd. 4. 479. GPR § 279 Anm. Ebd.

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»[W]o findet man«, so fragt Ödipus, der sich dem Orakelspruch der Pythia folgend auf die Suche nach dem Mörder des Laios, des ehemaligen Königs von Theben, begibt, »die zeichenlose Spur der alten Schuld?«14 − In der Tat führt ihn die Spur weit in die Vergangenheit zurück, und zwar in seine eigene. Die tragische Verwicklung um Ödipus ist bekannt: Im Verlauf seiner Nachforschungen beginnt er zu begreifen, daß er selbst jenes Übel zu verantworten hat, welches die Stadt Theben und ihre Einwohner heimsucht und dessen Ursache in der nicht gesühnten Schuld des Königsmordes zu suchen ist. Fortgejagt aus Delphi und in dem Versuch, Korinth − die Heimat seiner vermeintlichen Eltern − fortan zu meiden, um seinem Schicksal zu entkommen, flieht er nach Böotien. Doch hier erweist sich einmal mehr die ›Dialektik aller Weissagung‹: Bereits sein Vater Laios, dem prophezeit wurde, sein eigener Sohn würde ihn einst ermorden, hatte vergeblich versucht, seinem Schicksal zu entkommen, indem er den Auftrag gab, für den Tod des Kindes zu sorgen; dennoch findet Laios schließlich durch die Hand des eigenen Sohnes den Tod. Denn an einem Kreuzweg gerät Ödipus in eine Auseinandersetzung mit einem ihm unbekannten Reisenden, den er schließlich im Affekt tötet. Auch Ödipus erfüllt damit die Propheizeiung des delphischen Orakels; er gelangt schließlich nach Theben, wo er – auch dies ist bekannt – das Rätsel der die Stadt Theben bedrohenden Sphinx löst und die soeben zur Witwe gewordene Königin von Theben, Jokaste, zur Frau nimmt. Jahre später bricht abermals das Unheil über die Stadt herein, und eine Abwendung des Übels, so wird prophezeit, gelinge nur dann, wenn der Mörder des ehemaligen Königs von Theben zur Verantwortung gezogen wird: Es reicht also nicht, daß die Weissagung sich erfüllt, sondern sie muß auch ans Licht treten. In der Nachforschung, die nun beginnt, folgt Ödipus jener Spur in die Vergangenheit und sammelt die Aussagen der Zeugen, um auf diese Weise herauszufinden, ob er tatsächlich für die Tat verantwortlich ist. Und schließlich, als alle Indizien gegen ihn sprechen, nimmt er die Schuld am Tod seines leiblichen Vaters sowie sein Schicksal in vollem Umfang auf sich und gesteht: »diesen Fluch/Hat keiner sonst, als ich mir selbst gestiftet«.15 Das heroische Selbstbewußtsein oder die »ungeteilte Individualität«16 ist, wie wir hier am Beispiel des Ödipus gesehen haben, Hegel zufolge aus jener 14

Sophokles: Ödipus der Tyrann, nach der Übersetzung von Friedrich Hölderlin. (In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Herausgegeben von D. E. Sattler. München 2004. Bd. 10. 95–161; hier 99.) 15 Ebd. 126 f. 16 Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 40. In einer Bemerkung innerhalb der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse illustriert Hegel an einem der griechischen Mythologie entlehnten Beispiel, was für ihn das wesentliche Merkmal tragi-

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»Gediegenheit«, ihrer unmittelbaren Einheit mit der sittlichen Substanz, noch nicht in die Reflexion des Unterschiedes zwischen ›Tat‹ und ›Handlung‹ herausgetreten. Tat und Handlung sind demnach durch das Moment der subjektiven Reflexion unterschieden, das sich in der Tat, also der objektiven Seite der Handlung oder der Handlung in ihrem bloß kausalen Zusammenhang betrachtet, nicht gleichermaßen geltend macht wie in der Handlung. Jenes ›heroische Selbstbewußtsein‹ lebt und handelt im unmittelbaren Zusammenhang mit seinem gesamten Wollen, und es rechnet sich daher auch nicht nur die Tat als seine Handlung, d. h. als das von ihm Gewollte und Gewußte, sondern auch die Folgen der Handlung in vollem Umfang zu:17 Die »Tat [des Ödipus] war Vatermord, die Handlung aber nur ein bloßer Kampf, wie es damals Sitte war.«18 Ein anderes Beispiel ist Orest, der »die Gerechtigkeit über seines Vaters Tod zu handhaben hat gegen seine Mutter; dieser Trieb diese Gerechtigkeit auszuführen ist sein Pathos«19. Nach seiner Rachetat verfolgen ihn die Erinnyen seiner Mutter, und Orest gelangt schließlich, dem Wahnsinn nahe, nach Athen, wo seine Tat auf dem Areopag verhandelt wird. Vor Gericht stehen sich die beiden sittlichen Interessen des Schutzes der Mutter vor Unversehrtheit sowie die Forderung nach Gattentreue und der Bestrafung des (Gatten-)Mordes gegenüber. Die Göttin der Stadt, Athene, plädiert zu Gunsten Orests, woraufhin er freigesprochen wird. Aus der Sicht Hegels zeigt sich in diesen Beispielen, daß die »selbständige Gediegenheit und Totalität des heroischen Charakters […] die Schuld nicht teilen [will] und […] von diesem Gegensatze der subjektiven Absichten und der objektiven Tat und ihrer Folgen nichts [weiß], während bei der Verwickscher Schuld ist: Ajax, der »die Rinder und Schaafe der Griechen im Wahnsinn des Zorns, daß er die Waffen Achills nicht erhalten hatte, tödtete«, schob dennoch »nicht die Schuld auf seinen Wahnsinn, als ob er darin ein anderes Wesen gewesen wäre, sondern er nahm die ganze Handlung auf sich als den Thäter und entleibte sich aus Schaam.« (G.W.F. Hegel: Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808–1816). Herausgegeben von Klaus Grotsch. Hamburg 2006. 383 (= GW 10,1). Ajax, wie auch zahlreiche andere tragische Figuren des griechischen Mythos, »hat für das Ganze zu büßen und es wird nicht der Unterschied gemacht, daß er nur eine Seite der That gewußt habe, die anderen aber nicht. Er wird hier dargestellt als ein absolutes Wissen überhaupt, […] oder das, was er thut, wird überhaupt als seine That betrachtet.« (GW 10,1. 383) 17 Hegel erörtert die heroische Schuldvorstellung in dem mit »Die Handlung« überschriebenen Kapitel des ersten Teils der Vorlesungen über die Ästhetik am Beispiel der Ödipus-Geschichte. Vgl. diesbezüglich ferner GPR § 117 Z. 18 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Berlin 1819/1820. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier. Herausgegeben von Emil Angehrn, Martin Bondeli und Hoo Nam Seelmann. Hamburg 2000. 53 (im Folgenden angeführt als: Ringier mit entsprechender Seitenzahl in diesem Band). 19 GW 25,2. 902.

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lung und Verzweigung des heutigen Handelns jeder auf alle anderen rekurriert und die Schuld soweit als möglich von sich zurückschiebt.«20 Das sich mit der Schuld verbindende dramatische Interesse richtet sich Hegel zufolge auf die Handlung, insofern sie als Resultat subjektiver und intersubjektiver Willensentscheidungen (und nicht bloß als Resultat äußerer Umstände) anzusehen ist – und um die Darstellung solcher »wesentlicher Verhältnisse« und »substantieller Ereignisse«21 muß es der dramatischen Poesie zu tun sein. Obgleich sich der tragische Held, indem er sich die Schuld in ›vollem Umfang‹ seiner Tat zurechnet, in den allgemeinen Schicksalszusammenhang eingebettet weiß, leidet er doch keineswegs unschuldig, denn ›unschuldiges‹ oder unverdientes Leiden bedeutet, daß es »ein Leiden [ist,] was an den Menschen kommt, ohne daß es durch seinen Willen gegen ihn in Bewegung gesetzt ist.«22 ›Tun‹ und ›Leiden‹ stehen also wesentlich in einem wechselseitigen Bedingungsgefüge, und wer »schuldig leidet ist als Wille dabei gewesen, daß ihm dieß widerfährt, so ist er nicht unschuldig.« Und erneut betont Hegel: »Es ist die Ehre des Willens daß er nicht unschuldig leidet, sondern durch seinen Willen veranlaßt.«23 Gegenstand des dramatischen Interesses ist demnach allein »die Beziehung eines Willens auf den Willen eines Anderen«; die Antagonisten sind »wesentliche substantielle Willen d. h. berechtigte, sittliche Willen, die ein wesentliches Verhältniß bethätigen, eine Pflicht ausüben.«24 Der tragische Konflikt beruht für Hegel auf der Kollision zweier sittlicher Mächte, deren Exekutoren die handelnden Individuen sind, die in ihrer Handlung zugleich ein anderes sittliches Gebot verletzen (wie wir es eben am Beispiel des Orest sahen). Das eigentlich Dramatische der tragischen Entwicklung besteht für Hegel im »Aussprechen der Individuen in dem Kampf ihrer Interessen und dem Zwiespalt ihrer Charaktere und Leidenschaften.«25 So erfordert die dramatische Entwicklung der Handlung auch die Form des Dialogs, in welchem sich die handelnden Individuen sowohl in ihrer Besonderheit (dem subjektiven ›Pathos‹) wie in dem Substantiellen ihres Pathos (dem objektiven Pathos) gegeneinander aus-

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G.W.F. Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. (= TWA). Bd. 13: Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt a.M. 1970. 247 (= TWA, Bd. 13). 21 Ilting, Bd. 4. 319. 22 Ebd. 318. 23 Ebd. 320. 24 Ebd. 319. 25 G.W.F. Hegel: Ästhetik. Herausgegeben von Friedrich Bassenge. Bd II: Berlin 1985. 525.

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sprechen und zu behaupten suchen. »Die Alten […] wirkten in ihrer Tragödie vornehmlich durch die objektive Seite des Pathos, dem zugleich, soweit die Antike es fordert, auch die menschliche Individualität nicht abgeht.«26 – Anders formuliert: »Der Mensch setzt sich in diesem Pathos ganz aufs Spiel – wir haben keinen rechten deutschen Ausdrukk dafür«27. Die tragischen Helden sind daher auch nicht im eigentlichen Sinne unfrei oder bloße Marionetten einer sittlichen Macht, sie sind vielmehr »durchaus selbstständige freie Individuen, die in dem was sie thuen ganz mit ihrem Willen sind.«28 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang außerdem, daß Hegel ausdrücklich darauf hinweist, daß das Substantielle, das sich im dramatischen Konflikt äußert, stets etwas ist, in dem sich der jeweilige ›Volksgeist‹ oder der ›Nationalcharakter eines Volkes‹ zum Ausdruck bringt (was es jedoch nicht einer zufälligen oder beliebigen Bestimmung aussetzt). Nebenbei bemerkt: Mit diesem Gedanken einer sich selbst auslegenden Bestimmung des Geistes unter spezifischen historischen Umständen ist jede romantische oder romantisierende Forderung und Rückwärtsgewandtheit auch in der Kunst grundsätzlich in Frage zu stellen.29 Die tragische Dimension der Schuld (oder die Schuld ihrer höchsten Möglichkeit nach) beruht auf einem für die Individuen selbst unlösbaren Konflikt; ihre Schuld besteht darin, in der Identifikation mit einer jener substantiellen Mächte die andere zu verletzen – es ist allein die Entgegensetzung zweier noch unvermittelter sittlicher Prinzipien, durch die die Handelnden unweigerlich Schuld auf sich laden müssen.30 Das Tragische an solchen Kon-

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Ebd. 527. GW 25,2. 902. 28 Ilting, Bd. 4. 321. 29 Im Rahmen seiner Vorlesungen über Ästhetik spricht Hegel in diesem Zusammenhang davon, daß, obgleich dem modernen Menschen jener antike Schicksalszusammenhang als eine »Härte« den Individuen und ihrer Rechte gegenüber erscheinen mag, das moralische Individuum oder das moderne bürgerliche Subjekt in seinem »Nur-für-sichEinstehen« auch nur eine »abstrakte Selbständigkeit« gewonnen habe (TWA, Bd. 13. 248). Damit will Hegel jedoch nicht darauf hinaus, daß wir am besten zu jener antiken sittlichen Ordnung zurückkehren sollten, sondern es kann unter den Bedingungen der Moderne für das moralische Subjekt einzig darum gehen, sich mit dem Allgemeinen (das es selbst an sich ist) auf positive Weise zu identifizieren; das geht allerdings aus Hegels Sicht nur über eine vorhergehende Negationsbewegung (vgl. GPR § 106). 30 Ein solcher innerethischer Konflikt ist jedoch nur unter den Bedingungen antiker Sittlichkeit denkbar; unter den Bedingungen moderner Gesellschaften sind aus der Sicht Hegels stattdessen nur noch solcherlei triviale Schicksalstragödien möglich, wie er sie beispielsweise in Gestalt des Trauerspiels Die Schuld (1816) von Adolph Müllner dafür kritisiert, daß darin lediglich der »tragische Untergang aufgespreitzter reiner Schurken und Verbrecher« gezeigt wird. Denn in solchen Bearbeitungen ›tragischer Stoffe‹ sind die In27

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flikten ist, daß es sich um eine Entzweiung innerhalb des Sittlichen selbst und nicht um ein partikuläres Schicksal handelt; in der tragischen Situation steht damit weit mehr auf dem Spiel als individuelles ›Wohl und Wehe‹, nämlich dasjenige, was die Individuen ihrem wesentlichen Sein nach ausmacht und das zugleich identisch ist mit der allgemeinen sittlichen Weltordnung. Die griechische Tragödie entwickelt daher einen Konflikt, der unmittelbar die sittliche Welt selbst betrifft. Diese unmittelbare Betroffenheit kommt in den antiken Tragödienstoffen darin zum Ausdruck, daß sich die Schuld über Generationen fortpflanzt; die »Schuld des Ahnherrn kommt dort auf den Enkel, und ein ganzes Geschlecht duldet für den ersten Verbrecher; das Schicksal der Schuld und des Vergehens erbt sich fort.«31 Der antiken Schuldvorstellung, wie sie von Hegel beschrieben wird, entspricht die Institution der Rache, denn in dieser findet das Moment des Subjektiven, des Vorsätzlichen, das den Täter entschuldigen oder seine Tat rechtfertigen würde, noch keine Berücksichtigung.32 Gerade am Beispiel des tragischen Konflikts, in den Orest verstrickt ist, wird deutlich, daß die Institution der Rache unter den Bedingungen staatlich nicht festgesetzten Rechts ein sittliches Gebot darstellt, das unbedingt zu befolgen ist, mag es den zur Rache Berufenen auch in die größten Gewissensnöte bringen. »Das Aufheben des Verbrechens ist in dieser Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts zunächst Rache, dem Inhalte nach gerecht, insofern sie Wiedervergeltung ist. Aber der Form nach ist sie die Handlung eines subjektiven Willens, der in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen kann und dessen Gerechtigkeit daher überhaupt zufällig […] ist.« Zudem beruht die Rache, anders als gesetzliche Strafe, auf der Subjektivität derer, die sich der geschehenen Tat annehmen »und aus dem Recht ihrer eigenen Brust und Gesinnung heraus das Unrecht an dem Schuldigen rächen.«33 Das Gelten des Sittlichen bleibt, auch wenn es normierende sittliche Gebote gibt, dennoch dem Zufall überlassen. Mit anderen Worten: Der antike Held ist Hegel zufolge, anders als der moderne Mensch, zwar nicht den Zwängen einer vorgegebenen und unabhängig von ihm bestehenden institutionellen staatlichen Gewalt unterworfen (was zugleich erhebliche ethische Entlastungen für den Einzelnen mit sich bringt), er findet sich jedoch als Glied einer familiären, dividuen gerade nicht mehr Repräsentanten der allgemeinen Sittlichkeit (vgl. GPR § 140 Anm.). 31 TWA, Bd. 13. 247. 32 Vgl. Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. Die Grundgestalten des Rechtsbegriffs in seiner historischen Entwicklung. Heidelberg 1950. 73. Vgl. auch GPR § 117 Z. 33 TWA, Bd. 13. 242.

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gemeinschaftlichen oder transzendenten Verkettung, eingebettet in einen substantiellen Zusammenhang, in dem die objektive Sittlichkeit einen Teil des Individuums ausmacht. Dieser schicksalhafte Zug prägt, wie wir gesehen haben, auch die Schuldauffassung der Antike. Gerade am Beispiel des Ödipus wird deutlich, daß der Untergang des tragischen Helden niemals bloße Folge seines eigenen Handelns ist, sondern immer auch als Konsequenz einer Vorherbestimmung erscheint. Der ungeteilten Individualität entspricht also ein Verständnis von Verantwortung, wonach Schuld nicht geteilt, sondern in vollem Umfang zugerechnet wird. In dem Moment also, in dem die Strafe zu einer gesellschaftlichen (oder staatlichen) Angelegenheit erklärt wird, bedarf es auch keiner tragischen Helden mehr, die sich für ihre Lebensführung gegenseitig bestrafen müßten und die diese Strafe dann wiederum als ihr Schicksal anerkennen, damit sich so etwas wie ein ›gerechtes Gleichgewicht‹ im Gesamtgefüge der sittlichen Ordnung immer wieder von neuem herstellen kann.34 Denn man darf nicht vergessen, daß das ›heroische Selbstbewußtsein‹ auch an ein »Heroenzeitalter«35 gebunden ist, in dem die Âreth im Sinne der Griechen den Grund aller Handlung ausmacht, und aufgrund dessen jene heldenhaften Taten mit der gesamten Sittlichkeit gesättigt sind – wodurch die Schuld des Einzelnen zugleich zu einem Bestandteil der sittlichen Welt wird, in der sich die Schuld über Generationen fortschreibt. Wo jedoch die subjektive, in ihrem Sinn noch zu klärende Handlung zum Anknüpfungspunkt juristischer Zurechnung wird und die Schuld des Individuums damit aus jener schicksalhaften Lebensführung herausgelöst ist, kann es kein schuldhaftes Leben im Ganzen mehr geben.36 Mit der Verbreitung des Christentums, genauer: der davon ausgehenden ›Verabsolutierung des Innerlichen‹ vollzieht sich allmählich der Bruch mit jenen antiken Vorstellungen. Der sich im Ausgang vom Christentum erst allmählich politisch manifestierende Gedanke der prinzipiellen Freiheit aller Menschen und die sich daraus ergebende Forderung nach Anerkennung eines ›Rechts der Besonderheit des Subjekts‹, sich durch das eigene Tun befriedigt zu finden37, haben also auch einen wesentlichen Einfluß auf das Verständnis von Schuld. Eine Gestalt dieses Rechts des Subjekts oder auch: dieser Geteiltheit und prinzipiellen Zerrissenheit des Subjekts in sich als besonderes und allgemeines (was damit gemeint ist, wird sich im dritten Kapitel dieser Arbeit zeigen) ist für Hegel die Moralität, welche wiederum

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Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 338. TWA, Bd. 13. 243. Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 338. Vgl. GPR § 124.

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zum Ausgangspunkt für die Bestimmung des Phänomens der Schuld und der Zurechnung wird. So bezeichnet Hegel es als den »höhere[n] moralische[n] Standpunkt […], in der Handlung die Befriedigung zu finden, und nicht bei dem Bruche zwischen dem Selbstbewußtsein des Menschen und der Objektivität der Tat stehenzubleiben […]«38 In der Moderne, in der solche Schicksalszusammenhänge unwiderruflich beseitigt sind, kann die objektiv institutionalisierte Sittlichkeit nicht mehr auf die eben geschilderte Weise von einem Individuum repräsentiert werden und läßt auch keinen Raum mehr für Heroen. Die untergeordnete Stellung des einzelnen Subjekts in ausgebildeten Staaten ist auch dadurch bedingt, daß im modernen Staat das Prinzip der Arbeitsteilung vorherrscht, so daß Staat und Gesellschaft »nicht als konkrete Handlung eines Individuums« erscheinen, oder der subjektiven Willkür überantwortet werden könnten, »sondern die zahllosen Beschäftigungen und Tätigkeiten des Staatslebens müssen einer ebenso zahllosen Menge Handelnder zugewiesen sein.«39 Der rechtliche Verantwortungsbereich des modernen Menschen ist damit erheblich eingeschränkt, er hat sich nur noch vor Recht und Gesetz zu rechtfertigen und gewinnt gerade dadurch jene ›subjektivere Selbständigkeit‹, durch die sich der moderne Mensch gegenüber den griechischen Heroen auszeichnet. Schuld ist damit nicht mehr Ausdruck der Wirksamkeit eines überindividuellen Schicksals, sondern sie besteht in zurechenbaren Handlungen, die, insofern sie einen festgelegten Tatbestand erfüllen, im Hinblick auf Recht und Gesetz vollständig bestimmbar sind. Jenes »Recht der Besonderheit des Subjects«40, das Recht, sich durch eigenes Handeln befriedigt zu finden, ist mit der modernen Vorstellung von Schuld insofern aufs Engste verbunden, als die Voraussetzung für beides darin liegt, daß das moderne Subjekt nicht mehr eine jener sittlichen Mächte der antiken Vorstellungswelt zu verwirklichen sucht, sondern auf seine Zwecke reflektiert und sich in deren Verwirklichung als seiner Selbstverwirklichung als selbstbestimmtes Individuum erfahren will; dies kann es aber nur, wenn es zugleich von der Aufgabe befreit ist, für das »Tun des substantiellen Ganzen«41 einstehen zu müssen: Während jenes ›heroische Individuum‹ allein dadurch ein Bewußtsein von sich erlangen kann, daß es sich in substantieller Einheit mit dem sittlichen Ganzen weiß, definiert sich der moderne Mensch dadurch, daß er sich mit seinen persönlichen Zwecken von den Zwecken der Gesamtheit absondert.

38 39 40 41

Ebd. § 121. TWA, Bd. 13. 241. GPR § 124 Anm. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 337.

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Verlegt man die Schuld in die Innerlichkeit des Menschen und begreift sie im Sinne eines Schuldvorwurfs – wodurch der Erfolg einer Handlung nicht mehr zugleich zwingendes Indiz für die Schuld eines Menschen ist –, dann stellt sich natürlich die Frage, mit welchen wissenschaftlichen oder kriminaljuristischen Methoden Schuld gerichtlich feststellbar ist, denn die Innerlichkeit eines Menschen ist niemals (auf direkte Weise) verfügbar oder einsehbar.42 Außerdem, da die Schuldauffassung unter den Bedingungen der Moderne aufs Engste mit jenem Recht auf subjektive Freiheit verbunden ist, stellt sich noch grundsätzlicher das Problem, wie dieses Recht mit der objektiven, institutionalisierten Sittlichkeit zu vermitteln ist. Mit diesen Fragen eröffnet sich zweifellos ein außerordentlich ›weites Feld‹, und ich kann ihnen hier auch nicht angemessen nachgehen. Ganz allgemein muß man jedoch in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Hegel mit Blick auf die bürgerliche Rechtsprechung zunächst einmal die allgemeine Bekanntmachung des Gesetzes43 sowie die Öffentlichkeit und Mündlichkeit gerichtlicher Verfahren fordert44. Das vom Richter verkündete Urteil, in dem die zurechenbare Handlung nach Maßgabe der durch sie verletzten Gesetzesbestimmung beurteilt und ein Strafmaß festgesetzt wird, soll dem Verurteilten nicht als ein fremdes Recht gegenüberstehen. Im Rahmen seiner ausführlichen Überlegungen hinsichtlich des Gerichts als Institution bürgerlicher Rechtspflege im Allgemeinen und des gerichtlichen Verfahrens im Besonderen kommt Hegel bekanntlich auch auf das Geschworenengericht zu sprechen. Jedes Gerichtsverfahren, das die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu ermitteln hat, besteht Hegel zufolge aus zwei Seiten; die eine hat die Aufgabe, den konkreten Fall unter ein bestimmtes Gesetz zu subsumieren, also ein Strafmaß festzusetzen (Rechtsfrage) und den rechtmäßigen Gang des Verfahrens zu kontrollieren (auch dies ist nicht zuletzt als Ausdruck jenes ›Rechts der Besonderheit‹ zu verstehen). Die andere Seite des gerichtlichen Verfahrens besteht in der Klärung des eigentlichen Tatbestands (Schuldfrage). Das im Schwurgericht praktizierte Verfah-

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Auf diesen Zusammenhang von Schuldauffassung und Beweislehre weist Arthur Kaufmann hin: Da im Strafrecht die Schuld ja nur insoweit relevant werden kann, als sie sich in einem prozeßordnungsmäßigen Beweisverfahren feststellen läßt, muß seiner Ansicht nach bei jedem Vergleich zwischen älteren Rechtsformen und Schuldauffassungen mit modernen auch die simple Tatsache berücksichtigt werden, daß wir »heute in viel weiterem Umfang in der Lage [sind], die innere Einstellung des Täters zu ergründen, als man dies in früheren Zeiten konnte.« (Arthur Kaufmann: Das Schuldprinzip. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung. Heidelberg 1961. 219.) 43 Vgl. GPR § 215. 44 Vgl. ebd. §§ 224 und 228.

Zur Schuldauffassung der antiken Tragödie im Vergleich zur Moderne

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ren zeichnet sich nun gegenüber dem sogenannten Inquisitionsverfahren45 dadurch aus, daß beide Seiten innerhalb des gerichtlichen Verfahrens zwei verschiedenen Kollegien zugeteilt werden; was nun die Klärung des Falles und der Schuldfrage angeht, so fällt sie hier nicht unter die Kompetenz des Richters, sondern obliegt den Geschworenen, die mit Blick auf die Klärung des Tatbestandes auch auf die subjektiven Beweggründe des Täters reflektieren. Sie »sprechen in die Seele des Verbrechers hinein, er ist schuldig oder nicht.«46 Von den Geschworenen ist also die Vermittlung zwischen der subjektiv-unmittelbaren Perspektive des Angeklagten und der des Richters in Bezug auf die Schuld des Täters zu leisten, so daß schließlich ein ›objektives Urteil‹ erzielt wird. Und »objektiv wahr«47 ist das Urteil des Richters dann, wenn sein Urteilsspruch »mit dem Unmittelbaren« des subjektiven Wissens des Beschuldigten übereinstimmt. Im Hinblick auf die je auf ein Verfahren einzuschwörenden Laienrichter spielt nun der Gesichtspunkt der ›Gleichheit‹ eine Rolle, denn es müssen »über diesen Teil des Rechtshandels Männer zu sprechen haben, die mir nicht als Richter gegenüberstehen, sondern solche, die mit mir in gleichen Verhältnissen stehen […] In die besondere Subjektivität finden sich nur Männer hinein, die mir näher stehen. Das Gericht als solches steht meiner Besonderheit immer gegenüber.«48 Um über die Inner-

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Der Hegel-Schüler Eduard Gans unterscheidet in seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen zwischen dem sogenannten akkusatorischen und dem inquisitorischen Gerichtsverfahren, die beide noch einmal vom Geschworenengericht zu unterscheiden sind, dessen begrifflicher und historischer Erläuterung Gans im Vergleich zu Hegel noch erheblich viel mehr Raum gibt. Was nun den Unterschied zwischen dem akkusatorischen und dem inquisitorischen Prozeß angeht, so zeichnet sich ersterer dadurch aus, daß der Verletzte selbst Klage gegen den Schädiger erhebt; er kann klagen, aber es ebensogut unterlassen. Stellt man aber dergestalt das gesamte Verfahren in die Willkür des Verletzten, so wird das Verbrechen Gans zufolge nicht als das begriffen, was es wesentlich ist: Verletzung eines Allgemeinen, nicht eines Besonderen. Der inquisitorische Prozeß hat demgegenüber zum Prinzip, daß die richtende Behörde zugleich die klageerhebende ist, denn jedes Verbrechen wird so angesehen, als sei es gegen den Staat selbst begangen worden. (Vgl. Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Vorlesungen nach G.W.F. Hegel. Herausgegeben und eingeleitet von Johann Braun. Tübingen 2005. 120 (= Ausgabe Braun).) Weiter führt Gans aus, daß das Geschworenengericht in jenen Ländern, in denen das Inquisitionsverfahren praktiziert wird, nicht hat Fuß fassen können, da das Geschworenengericht, anders als der Inquisitionsprozeß, öffentlich ist; in diesem sei zudem die »Freiheit des Angeklagten beschränkter als im akkusatorischen Prozeß« (ebd. 187), denn in jenem tritt der Staat selbst als der Verletzte auf. 46 Ilting, Bd. 4. 581. 47 G.W.F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22. Herausgegeben von Hansgeorg Hoppe. Frankfurt a.M. 2005. 213 (im Folgenden: Hoppe). 48 G.W.F. Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Herausgegeben von Dieter Henrich. Frankfurt a.M. 1983. 185 (im Folgenden: Henrich).

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

lichkeit eines Menschen urteilen zu können, so argumentiert Hegel, muß der Urteilende die objektiven Lebensumstände desjenigen kennen, über den geurteilt werden soll. In diesen Umständen »muß [man] selbst […] gelebt haben, um sich dasselbe zu eigen gemacht zu haben. Man kann sich wohl im Allgemeinen eine Vorstellung von dem Besonderen machen, aber die Wichtigkeit desselben kann man sich nicht so zu eigen machen.«49

2.3 Ein Blick in die Geschichte des Rechts Hegel stellt, wie wir gesehen haben, die Behauptung auf, es habe an jenem ›Wendepunkt‹ zwischen Altertum und Moderne eine Verschiebung von einer ursprünglich objektiven Auffassung von Schuld hin zu einer subjektiven Begründung von Schuld stattgefunden. Wir haben auch gesehen, daß sich aus dieser Veränderung innerhalb des Rechtsverständnisses bestimmte rechtsinstitutionelle oder rechtspolitische Forderungen ergeben, die dieser Veränderung Rechnung tragen − aber eine Überprüfung dieser These von einem solchen Wendepunkt oder einem solchen Bedeutungswandel des Schuldbegriffs anhand rechtshistorischer Quellen und Untersuchungen steht in dieser Arbeit bislang noch aus.50 Und natürlich beginnt die bereits in Ansätzen 49

Henrich 184. Einen weiteren entscheidenden Vorteil des Geschworenengerichts sieht Hegel darin, daß es vom Geständnis des Angeklagten als der Bedingung des Schuldspruchs absieht, was zunächst einmal zur Folge hat, daß der Angeklagte von Seiten des Gerichts nicht physisch oder psychisch unter Druck gesetzt werden kann, um das Geständnis zu erpressen (vgl. Ilting, Bd. 4. 578). Andererseits, so Hegel, gibt das Geständnis des Beschuldigten »die höchste Gewißheit«, so daß im Grunde schwerlich davon zu abstrahieren ist (vgl. ebd.). Wenn also das Geschworenengericht tatsächlich von der unbedingten Forderung des Geständnisses absieht, dann nur unter der Voraussetzung, daß die Jury das Schuldurteil nicht über den Angeklagten hinweg fällt, sondern es ›in seine Seele hineinspricht‹, so daß der Angeklagte seine subjektive Freiheit darin gewahrt sieht. 50 Mit dieser Frage ist eine ganze Reihe rechtsgeschichtlicher Abhandlungen befaßt; hier muß eine Auswahl getroffen werden: Stephan Meder etwa (Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 47 ff.) weist am Beispiel des Begriffs der Hybris das Vordringen des subjektiven Schuldmoments bereits innerhalb des griechischen Kulturkreises nach. Auch Richard Maschke (Die Willenslehre im griechischen Recht. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Interpolationen in den griechischen Rechtsquellen. Darmstadt 1968 (= Reprographischer Nachdruck der 1. Auflage. Berlin 1926, von Kurt Latte posthum herausgegeben) legt die Anfänge des ethischen Schuldbegriffs dar (ebd. 14–22) und widmet sich in der genannten Darstellung ausführlich den Gerichtsreden Antiphons, denen seiner Ansicht nach eine entscheidende Bedeutung innerhalb der Herausbildung der griechischen Willenslehre zukommt (ebd. 69–109), welche dann über Platon und Aristoteles eine weitere Ausdifferenzierung erfährt. Sehr ausführlich wird die Herausbildung des subjektiven Schuldbegriffs von Julius Makarewicz untersucht: Einführung in die Philosophie des Strafrechts auf

Ein Blick in die Geschichte des Rechts

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erzählte Geschichte der Schuld nicht erst mit der griechischen Tragödie, der Hegel in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung beimißt, dennoch werden wir im Rahmen dieser Darstellung den Schuldgedanken in seinen früheren Ausprägungen, etwa bei den Babyloniern, den Ägyptern und im archaischen Recht Israels überspringen müssen.51 – Von einem, wie Hegel es formuliert hatte: Wendepunkt der antiken und modernen Schuldauffassung ist daher auch wohl weniger zu sprechen als von einer (kontinuierlichen) Entwicklung aufgrund einer Vielzahl von Faktoren (es sei denn, man will zugestehen, daß jede Entwicklung grundsätzlich aus Kontinuität und punktueller sprunghafter Veränderung gleichermaßen besteht). Diese Entwicklung soll nun in groben Federstrichen nachgezogen werden, wenngleich wir es hier zweifellos mit − von erheblich kompetenterer Seite − vieldiskutierten und keineswegs immer einhellig beantworteten Fragen zu tun haben, die sich jeder einfachen Schematisierung widersetzen und eine gründliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Quellen erfordern. Der mit dem griechischen Mythos verbundene Schuldgedanke (wie man ihn par excellence im Ödipusmythos ausgedrückt findet) erhält seine charakteristische Gestalt durch den Schicksalsglauben. Bereits im Zusammenhang von Hegels Unterscheidung von antikem und modernem Schuldbegriff hatten wir gesehen, daß der Gedanke einer individuellen Schuld im ›Heroenzeitalter‹ noch nicht ausgebildet war. Überhaupt wird man sagen müssen, daß der griechische Schicksalsglaube ein individuelles und nicht über die Identifikation mit der allgemeinen sittlichen Ordnung vermitteltes Selbstgefühl schwerlich aufkommen ließ, denn ein individuelles Schuldgefühl setzt »Ichbewußtsein und die Bezogenheit einer Tat auf eine durch ihn selbst erzeugte bzw. in sich selbst, dem Ich, liegende Ursache voraus, als welche der Wille aufgefaßt wird.«52 Solange der Wille aber noch nicht als Ausdruck eines solchen Bewußtseins der Selbstursächlichkeit gebildet ist, bleibt es bei der Vorstellung der túch als Ursächlichkeit, also bei der Vorstellung des Zufalls im Sinne des Eingreifens der Götter in das individuelle Schicksal – was, wie wir gesehen haben, bei den tragischen Helden aber gerade nicht dazu führt, die Schuld für ihr Handeln von sich ab- und dem Schicksal zuzuweisen.

entwicklungsgeschichtlicher Grundlage. Stuttgart 1906 (ND Amsterdam 1967) und schließlich, aus anthropologischer Perspektive verfaßt, die Untersuchung von Gustav Nass: Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs. Ein Beitrag der psychologischen Anthropologie zur Evolution des Rechtsdenkens. Neuwied am Rhein/Berlin 1963. 51 Siehe dazu ausführlicher Gustav Nass: Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs. A. a.O. 34–47. 52 Ebd. 49.

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

Die Übergangsepoche von der Heroenzeit bis zum Aufblühen Athens (zwischen dem 6. und dem 5. vorchristlichen Jahrhundert), in der schließlich auch der Übergang von der Privatrache zur öffentlichen Strafe erfolgt, zeigt nachgerade »wie eine seelische Mutation eine Veränderung der Einstellung zum Schuldproblem.«53 Diese veränderte Einstellung hinsichtlich der Schuld findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Gesetzgebung Drakons, mit der ein wichtiger Fortschritt innerhalb des attischen Rechtsdenkens zu verzeichnen ist; Drakon nämlich trifft im Falle von Mord die grundsätzliche Unterscheidung, ob die Tat geplant, überlegt oder in keiner Weise vorsätzlich geschehen ist, was verschiedene Beurteilung und Bestrafung zur Folge hat.54 Jedenfalls herrscht hier bereits nicht mehr das blinde Schicksal; die Schuld am verhängnisvollen Ausgang einer Handlung liegt auch Solon zufolge im Menschen selbst – ein Gedanke, den Platon in seiner Politeia weiterentwickelt. Im zehnten Buch der Politeia (610 a) weist Platon die Auffassung zurück, »die Seele gehe unter einem fremden Übel ohne eigene Schlechtigkeit zugrunde«. Und im Schlußmythos schließlich, der die Erlebnisse des Pamphyliers Er nach seinem Tod im Jenseits schildert, wird deutlich, daß die Entstehung der Schuld in der Seele des Menschen begründet liegt und nicht aus göttlicher Einwirkung abzuleiten sei. Platon stützt diesen Gedanken durch die Erzählung der Wahl des Lebensloses während der Präexistenz der Seele, also vor ihrer Inkorporation, und es heißt: »Des Wählenden ist die Schuld, Gott ist schuldlos!« (617 e) Aristoteles nimmt den Gedanken auf, daß der Mensch grundsätzlich die freie Wahl seiner sittlichen Beschaffenheit hat, und entwickelt ihn − modern gesprochen − handlungstheoretisch weiter. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das dritte Buch der Nikomachischen Ethik, in dem Aristoteles seine Auffassung von Willensfreiheit, Schuld und Verantwortung im Kontext seiner Lehre von Handlung und Zurechnung ausführlich zur Darstellung bringt. Wo also von einer freiwilligen Handlung gesprochen wird (also abgesehen von solchen Situationen, in denen der Mensch Gewalt von außen oder innen erleidet, und nicht vielmehr unverschuldete Unwissenheit vorliegt), fällt das Prinzip der Handlung oder deren Ursprung Aristoteles zufolge einzig in den Menschen, und es obliegt ihm allein, seinen sittlichen Charakter zu bilden. Nachdrücklich betont Aristoteles die Verantwortung, die jeder Mensch dafür trägt, wie er geworden ist. Was wir ›Gewohnheit‹ oder die feste Grundhaltung eines Menschen nennen, ist für Aristoteles das Resultat einer Reihe von Handlungen, deren erste Ursache im Menschen 53 54

Ebd. 51. Vgl. ebd. 50.

Ein Blick in die Geschichte des Rechts

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selbst liegt.55 So ist der Willensentschluß (proaíresiV) für ihn der aufgrund innerer Beratschlagung zustande gekommene Wille. Ein Blick in die Geschichte des Römischen Rechts zeigt, daß Nietzsche − ausgestattet mit »historischem Instinkt« und dem für die Geschichtsschreibung unserer Moralvorstellungen nötigen »zweiten Gesicht« − durchaus auf der richtigen Fährte war, als er sich (wie wir gleich sehen werden) in der Genealogie der Moral um den Nachweis dessen bemühte, daß der ›moralische Hauptbegriff‹ der Schuld, jene »düstre Sache«, seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ›Schulden‹ oder dem ganz urwüchsigen Tauschgeschäft genommen habe. Wenn man zunächst einmal (nur) bis zum römischen Obligationenrecht zurückgeht, dann stellt man fest, dem Begriff der obligatio liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Schuldner dem Gläubiger gegenüber gebunden sei.56 Das ist mitunter wörtlich genommen worden: Das Vollstrekkungsverfahren der legis actio per manus iniectionem sah in der Tat vor, daß der Schuldner, konnte er nicht innerhalb von 30 Tagen nach Verurteilung die geforderte Leistung erbringen, der physischen Gewalt des Gläubigers ausgesetzt war. Die Bezeichnung der Klage rührt daher, daß der Gläubiger den Schuldner vor dem Gerichtsherrn mit seiner Hand erfaßte und dadurch sein Zugriffsrecht zum Ausdruck brachte. Er konnte ihn in Knechtschaft halten, bis der ihm verschriebene Schuldknecht seine Schuld abgearbeitet hatte, oder ihn in die Sklaverei verkaufen. Der Gläubiger durfte seinen Schuldner sogar töten, wenn er ihn vergeblich dreimal öffentlich zur Auslösung angeboten hatte. Eine »Vollstreckung in das Vermögen« des Schuldners ist dem alten Recht zunächst noch unbekannt.57 Im Jahre 326 v. Chr. tritt dann aber eine gemilderte Form der Schuldknechtschaft in Kraft, und gegen Ende der römischen Republik, also im ersten Jahrhundert v. Chr., setzt sich schließlich die »Vollstreckung in das Vermögen« weitgehend durch, nicht selten jedoch in Form des Konkurses, welcher die gesamte Habe des Schuldners umfas55

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon. München 1991; hier Buch III, Kapitel 7. 56 Vgl. dazu auch Detlef Liebs: Römisches Recht. Ein Studienbuch. 4. wiederum verbesserte Auflage. Göttingen 1993; vgl. auch: Wolfgang Kunkel: Römisches Privatrecht. Aufgrund des Werks von Paul Jörs in zweiter Auflage neu bearbeitet. Berlin u. a. 1949. 165 ff. 57 »Roh und unverständlich klingt die Regelung, daß bei mehreren Gläubigern jeder einen Körperteil vom Leichnam des Schuldners soll abschneiden können.« (Wolfgang Kunkel / Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte. 13. überarbeitete Auflage. Köln u. a. 2001. 40.) Die Deutung dieser Rechtspraxis ist allerdings umstritten; sie ist möglicherweise vor dem Hintergrund des Begräbnis- und Ahnenkultes zu verstehen: Weil die Angehörigen sich um ein Begräbnis des Getöteten bemüht haben werden, verschafften sich die Gläubiger so ein letztes Mittel, die Begleichung ihrer Forderungen durch die Sippe des Schuldners zu erreichen (vgl. ebd.).

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

sen konnte. Neben diesem Verfahren blieb jedoch die Personalvollstreckung grundsätzlich möglich. Das römische Zwölftafelgesetz, um 450 v. Chr., stellt eine erste umfassende Aufzeichnung des geltenden römischen Rechts dar. Die Zwölftafeln regeln sowohl Verfahrensrecht wie auch Straf- und Privatrecht, die im frühen Rom noch eine Einheit bildeten. Im Zwölftafelgesetz wurde das Verschulden des Täters in erster Linie am Erfolg seiner Handlung bemessen; so sieht das Gesetz beispielsweise bei Tötungs- und Körperverletzungsdelikten die durch die Talion geregelte bzw. eingeschränkte Rache vor. Allerdings wurde bereits hinsichtlich des Tötungsdelikts zwischen vorsätzlichem und unvorsätzlichem Handeln unterschieden. Hinsichtlich der Differenzierung des subjektiven Tatbestandes wird zunächst das vorsätzliche und überlegte Handeln von einer in sich ununterschiedenen Masse alles nicht-vorsätzlichen Handelns (einschließlich des Handelns im Affekt) abgesondert. Bereits in den Bestimmungen der lex Aquilia (aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammend) sind die Begriffe culpa und dolus belegt. Während culpa im Sinne des Verschuldens generell, aber auch im Sinne des nicht-vorsätzlichen Handelns auftritt, bezeichnet dolus das arglistige Verhalten. Deutlicher noch tritt dann in den Gesetzesvorschriften von Numa (149 v. Chr.) das subjektive Verschuldensmoment hervor; für nicht-dolose Tötungsdelikte ist das Sühneopfer eines Tieres vorgesehen, wobei hier noch eine enge Verbindung zwischen dem römischen Strafrecht und dem Sakralrecht offenbar wird. Gustav Nass spricht davon, daß sich in den Leges Corneliae (82 bis 79 v. Chr.) schließlich sogar insofern eine Änderung der Schuldauffassung manifestiert, als nun ausdrücklich der Wille in den Vordergrund tritt; die sich aus dem rechtswidrigen Verhalten ergebende Schuld vertieft sich hier im Sinne der Willensschuld (der Terminus dolus bezeichnet damit den widerrechtlichen Willen). Diese Änderung vollzieht sich Nass zufolge unter Einfluß der von Aristoteles begründeten und von der Stoa weitergeführten Willensethik.58 Ein ausgeprägtes Interesse an den subjektiven Tatbeständen, gar eine »moralisierende Haltung«59 ist aber wohl erst bei den nachklassischen Interpreten des klassischen Rechts am Werk, und die bedeutendste Rechtskompilation dieser Zeit ist der von Kaiser Justinian in Auftrag gegebene Codex Justinianus, der an die Stelle der Zwölftafelgesetze trat und dem eine umfassende Kenntnis der klassischen römischen Jurisprudenz zu verdanken ist. Dieses Werk trat 534 in Kraft. Es wurde dann mitsamt einer Auswahl der klassischen Rechtsliteratur, der sogenannten Digesten oder Pandekten, und 58 59

Vgl. Gustav Nass: Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs. A. a.O. 58. Wolfgang Kunkel: Römisches Privatrecht. A. a.O. 179.

Ein Blick in die Geschichte des Rechts

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zusammen mit einem amtlichen Anfängerlehrbuch für den Rechtsunterricht zu einem einheitlichen Gesetzgebungswerk zusammengefaßt, das im 16. Jahrhundert − nach der Überarbeitung zunächst durch die Glossatoren in Bologna und später durch die Kommentatoren − unter dem Namen Corpus Iuris Civilis bekannt wurde. In ihrer verallgemeinernden Arbeit an den klassischen Rechtstexten erblickten die Kommentatoren nun im Verschuldensprinzip den Schlüssel für die Deutung des gesamten Haftungsrechts; so erfährt auch der Terminus culpa im Laufe der Zeit eine semantische Begrenzung, wird vom Zufall sowie vom vorsätzlichen Handeln unterschieden und tritt nunmehr in der Bedeutung der Fahrlässigkeit auf. Es sind die Grundgedanken zur Schuldlehre der von der Scholastik beeinflußten Postglossatoren (13. bis 15. Jahrhundert), daß Schuld erstens Willensschuld und zweitens bewußt oder unbewußt pflichtwidriges Verhalten ist; Schuld ist demnach der auf die Pflichtwidrigkeit gerichtete Wille. In den Glossen finden sich Bestimmungen des Delikts, in denen betont wird, daß ohne gesetzliches Verbot auch nicht von einem Delikt gesprochen werden könne, und daß eine Deliktsschuld erst dann gegeben ist, wenn die causa efficiens, also die durch den Menschen bewirkte äußerliche Ursache, zum pflichtwidrigen Wollen und Denken hinzukommt; die Gedankenschuld, die gemäß des kanonischen Rechts als sündiges Begehren strafbar sein sollte, wird daher von den Postglossatoren aus den Rechtsbestimmungen ausgeschlossen.60 Auch werden bereits recht dezidierte Schuldausschließungsgründe angeführt, darunter jugendliches Alter, Geisteskrankheit, Taubstummheit, Trunkenheit (wobei hier Uneinigkeit herrscht), Schlaftrunkenheit oder ein höchster Grad von Affekt. Zugleich erfährt der Dolusbegriff insofern eine Erweiterung, als er nunmehr das »Bewußtsein der Möglichkeit des rechtswidrigen Erfolges« bezeichnet; mit ins Spiel kommt damit das Gefahrenmoment.61 60

Vgl. Gustav Nass: Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs. A. a.O. 64. Vgl. außerdem Woldemar Engelmann: Die Schuldlehre der Postglossatoren und ihre Fortentwicklung: eine historisch-dogmatische Darstellung der kriminellen Schuldlehre der italienischen Juristen des Mittelalters seit Accursius. Aalen 1965. 61 Bei den Postglossatoren ist auch der Ursprung der Lehre vom dolus indirectus zu sehen, welche auf die deutsche Schuldlehre erheblichen Einfluß hatte. Die Bezeichnung des dolus indirectus wird angewandt zur Bestimmung eines nicht allein auf die verursachende Handlung gerichteten Willens, sondern ebenso auf die Folgen dieser Handlung, insofern diese Folgen indirekt gewollt oder schlicht in Kauf genommen wurden. Wenn sich aber nachweisen läßt, daß die reale Möglichkeit der eingetretenen Folge in der Natur einer bestimmten Handlung lag, wird nicht ein fahrlässig herbeigeführtes Handeln, sondern ein doloses zugerechnet. (Vgl. Gustav Nass: Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs. A. a.O. 67 f.) Aus der Sicht Hegels trägt die Bestimmung des dolus indirectus der Erkennt-

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

Im 12. und 13. Jahrhundert, also zugleich mit der wissenschaftlichen Erschließung des römischen Rechts, besonders durch die Rechtsschule von Bologna, erfolgt die Kodifikation des kanonischen Rechts. In diesem Nebeneinander von weltlichem und kirchlichem Recht stehen sich zwei Rechtsauffassungen gegenüber, deren Unterschiedlichkeit insbesondere in der Zurechnungslehre zum Ausdruck kommt. Während das kanonische Recht ganz im Zeichen subjektiver Imputation stand, war das weltliche Recht germanischer Provenienz vom objektiven Imputationsmoment geprägt. In der jeweiligen Einseitigkeit des Imputationsbegriffs waren jedoch beide auf die Dauer wenig praktikabel; eine Vermittlung zwischen dem germanischen und dem kirchlichen Recht wird aber erst im Zuge der verstärkten Rezeption des römischen Rechts durch die Glossatoren und Postglossatoren möglich, durch die es schließlich im Ausgang des 15. Jahrhunderts zur Grundlage eines kontinentaleuropäischen Zivilrechts wird (Ius commune). Auch die sich innerhalb des germanischen Rechts vollziehende Entwicklung der Schuldauffassung muß unter dem Gesichtspunkt eines Herauswachsens aus einer sinnlichen Rechtsauffassung und der sich seit dem 5. Jahrhundert vollziehenden Herausbildung subjektiver Schuldmomente aus anfänglicher reiner Erfolgshaftung betrachtet werden. Das fränkische und karolingische Recht zeigen die zunehmende Berücksichtigung des subjektiven Tatbestands.62 Vom Erfolgshaftungscharakter germanischer Rechtsbestimmungen der frühen Zeit zeugen nicht nur die Überlieferungen der römischen Schriftsteller, sondern auch Heldenepen wie beispielsweise die Sammlung der Eddalieder. Dem objektiven Charakter des Haftungsprinzips, gerade bei den Tötungsdelikten, entsprach insofern das Racheprinzip, als die Rache auf die geschehene Tat als solche und nicht auf den Täter sieht.63 Dieser Rache- oder Bußprozeß erliegt durch die einzelnen Volksrechte der fortschreitenden Ausdifferenzierung.64 Der Unterschied zwischen einer gewoll-

nis Rechnung, daß es »die Natur der endlichen That selbst [ist], solche Absonderungen der Zufälligkeiten zu enthalten.« (GPR § 119 Anm.) 62 Vgl. Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 54. 63 Vgl. ebd. Genaugenommen können, wenn allein die Perspektive der objektiven Schädigung für die rechtliche Bewertung maßgebend ist, auch Tiere und leblose Gegenstände bestraft werden. – Und das Altertum bietet tatsächlich zahlreiche Beispiele dafür, so etwa 2. Mose 21, 28. Noch bei Platon findet sich die Auffassung, die Angehörigen eines Getöteten könnten auch gegenüber Tieren und leblosen Gegenständen als Kläger auftreten; so dürfe das Tier über die Grenze geschafft und jenseits der Grenze getötet werden (vgl. Nomoi 873e). 64 Vgl. dazu: Hans Fehr: Deutsche Rechtsgeschichte. 6., verbesserte Auflage. Berlin 1962. 16 ff.

Ein Blick in die Geschichte des Rechts

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ten und einer ungewollten Tat findet dabei jedoch auch schon im älteren germanischen Recht in gewissem Maße Berücksichtigung, wie etwa bei den sogenannten ›Ungefährwerken‹ (absichtslose Missetaten), bei denen zwar die Möglichkeit einer bösen Absicht von vornherein ausgeschlossen war, die jedoch sowohl die Fahrlässigkeit als auch den Zufall umfaßten. Allerdings mußte in jedem Fall vergolten werden (gemeinhin wird dies unter dem Terminus der altgermanischen ›Zufallshaftung‹ verstanden). Die Tendenz, die sich deutlich bereits im fränkischen Recht abzeichnet, setzt sich in der karolingischen Zeit, also im 8. Jahrhundert, weiter fort. Unter dem Einfluß der christlichen Kirche subjektiviert und verfeinert sich der Verantwortungsgedanke.65 Das kirchliche Recht nun formuliert das zu dem Überwiegen des objektiven Schuld- und Zurechnungsmoments des frühen Rechts konträre Diktum, daß »der Wille für die That zu nehmen sei […] Wo der direkte Wille aufhört, da endet auch die Schuld.«66 Die Grundlage des neuen Kirchenrechts, des sogenannten Ius canonicum – in beabsichtigter Parallele zum Corpus Iuris Civilis seit 1582 auch Corpus Iuris Canonici genannt –, bildet das um das Jahr 1140 vollendete Dekret des Gratian. Den Anstoß zur Abfassung eines geschlossenen Textbestandes, eines Kanons, der von höchster Verbindlichkeit zu sein beansprucht, gibt das aus dem sogenannten Investiturstreit gestärkt hervorgegangene Papsttum. In diesem Werk schlägt sich der »extreme Subjektivismus der christlichen Denkweise«67 in zahlreichen Einzelvorschriften nieder.68 Von hier aus wirkte der Einfluß des

65

Vgl. dazu ausführlicher Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 58–66; zur Bedeutung der mittelalterlichen Kirche und des kanonischen Rechts innerhalb der allgemeinen Rechtsgeschichte vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte. Eine Einführung, 2. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Köln u. a. 2005. 130 ff. Mit Blick auf das mittelalterliche Rechtsdenken in Deutschland (man denke etwa an den Sachsenspiegel) muß noch erwähnt werden, daß sich im Zuge des Vordringens der öffentlichen Strafe auch allmählich der Gedanke des Schadensersatzes gegenüber dem der Strafe emanzipiert; dies wird deutlich an der je verschiedenen Funktion von Buße und Wergeld: während das Bußgeld als Strafgeld fungiert, dient das Wergeld dem tatsächlichen Schadensersatz. Außerdem zeigt der Sachsenspiegel bereits die Unterscheidung zwischen der absichtlichen Rechtsverletzung und der versehentlichen Schädigung (was nicht impliziert, daß Schuld von Zufall eindeutig abgegrenzt würde). Vgl. ebd. 107. 66 Albert Friedrich Berner: Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre. Frankfurt a.M. 1968 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1843). 288 ff. 67 Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 60. 68 Seinen wohl bedeutendsten Beitrag für die moderne Privatrechtswissenschaft hat das mittelalterliche Kirchenrecht dadurch geleistet, daß es von der römischen Einteilung in klagbare und klaglose Vertragstypen ebenso abgerückt ist, wie von dem im Justinianischen Recht geltenden Grundsatz, daß die bestimmte Leistung eines Vertrages erst dann einklagbar wird, wenn zum consensus der Vertragspartner die Form der Stipula-

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

subjektiven Prinzips innerhalb der Rechtsprechung über die Rezeption des römischen Rechts und die Kodifikation der Naturrechtsgesetzbücher der Aufklärung hinaus fort. Im Vergleich zur Antike zeigt das christliche Zeitalter ein gesteigertes Bedürfnis nach Seelenergründung; mit diesem verstärkten Interesse der Kirche wie des christlich sozialisierten Menschen an Introspektion und Psychologie bringt man gewöhnlich den Namen Augustinus in Verbindung, an dessen Confessionen der Zusammenhang zwischen Selbstbeobachtung und Schuldbewußtsein sinnfällig wird. Es hängt aber sicherlich auch aufs engste mit der christlichen Vorstellung von der Heilsgeschichte zusammen. So mag aus der Erwartung des Jüngsten Gerichts der Gedanke entsprungen sein, daß vor dem Richterstuhl Gottes eines Tages ein Jeder persönlich für seine Taten Rechenschaft wird ablegen müssen. Erst durch ihre Bezogenheit auf das einstige Heilsgeschehen konnten sich Schuld und Verantwortung in theologische Begriffe transformieren. Die Idee der Willensfreiheit als Bedingung der Möglichkeit, schuldig werden zu können, ist in diesem Zusammenhang konstitutiv. So heißt es bei Augustinus: »Nun aber ist die Sünde so sehr ein freigewollt Böses, daß man schlechterdings von Sünde nicht reden könnte, wenn sie nicht frei gewollt wäre.«69 Da die Sünde ein unbezweifelbares Faktum ist, wie Augustinus schreibt, so sei nicht daran zu zweifeln, »daß die Seelen freie Willensentscheidung haben.« Sündiges Handeln hat seinen Grund also einzig in der Selbstverantwortlichkeit des Handelnden und kann von ihm nicht abgewälzt werden. – Ebenso konstitutiv wie die Begründung der Willensfreiheit, in der die Bedingung der Möglichkeit von Schuld überhaupt liegt, ist auch die Wirkungsgeschichte der alttestamentlichen Sündenfallerzählung und die Entwicklung der Erbsündenlehre durch Augustinus. Vergleicht man die Individualitätskonzeption, die sich durch die christliche Lehre etabliert, mit der hellenistisch-römischen (wie Hegel es auch tut), so ist wiederum mit Augustinus gewissermaßen ein Kulminationspunkt erreicht, an dem der homo novus als der homo interior, welcher den Rückzug in sich selbst ange-

tion hinzukommt. Dem Kirchenrecht gemäß heißt es nunmehr: Pacta sunt servanda: Jede Vereinbarung soll ohne Rücksicht auf die Form als verbindlich gelten. Vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte. A. a.O. 131. (Infolge des Satzes pacta sunt servanda kam letztlich das Prinzip der Formfreiheit bei Vertragsschluß zum Durchbruch, von dem auch das BGB ausgeht, wobei allerdings auch zu erwähnen ist, daß sich in der jüngsten Vergangenheit, im Zuge des modernen Verbraucherschutzes, auch wieder eine Vielzahl neuer Formvorschriften herausgebildet hat.) 69 Augustinus: De vera religione/Über die wahre Religion. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Wilhelm Thimme. Nachwort von Kurt Flasch. Stuttgart 1983. 45 (XIV. 27). (Diese Schrift wurde um das Jahr 390 verfaßt.)

Exkurs I: Über die Wurzeln der Schuld in der Haftung

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treten hat, dem homo exterior, welcher an die Welt gebunden ist, gegenübertritt.70 Mit der Vorstellung des innerlich gewordenen Menschen ist zugleich insofern eine nicht delegierbare Forderung an den Einzelnen artikuliert, als dieser sich in seiner Innerlichkeit allererst zu verwirklichen hat.

exkurs i: Über die Wurzeln der Schuld in der Haftung − Gerhard Dulckeits Philosophie der Rechtsgeschichte Gerhard Dulckeits Versuch, eine philosophische Rechtsgeschichte zu entwerfen, dem wir uns nun zuwenden, wird von der angesprochenen Leerstelle aus nachvollziehbar, die mit Hegels Philosophie des Rechts überhaupt erst spürbar wird, denn Hegel selbst hat, wie wir gesehen haben, der Geschichte des Rechts keinen Ort innerhalb seines Systems angewiesen. Diese Lücke nun versucht Gerhard Dulckeit mit seiner im Jahr 1950 vorgelegten Philosophie der Rechtsgeschichte zu schließen; seine Untersuchung trägt daher auch deutliche Spuren einer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Logik und Rechtsphilosophie. Da sich Dulckeit in dieser Schrift auch mit der historischen Ausdifferenzierung des Schuldverständnisses befaßt, ist sein Ansatz im Zusammenhang der hier zu erörternden Fragen von Interesse. Gerhard Dulckeit verfolgt erklärtermaßen im Ausgang von Hegel das Ziel, die allgemeinen rechtsgeschichtlichen Entwicklungsprinzipien und damit die der wirklichen Rechtsgestaltung immanenten ›idealen Formen‹ im Rahmen einer skizzenhaften historischen Untersuchung aufzuzeigen.71 Mit diesem Programm sieht sich Dulckeit Hegels Methode einer »dialektischspekulative[n] Vernunft der metaphysischen Philosophie«72 verpflichtet, die er nun also im Rahmen einer rechtsgeschichtlichen Ausarbeitung fruchtbar zu machen sucht; eine Methode, mit deren Hilfe das Denken, so Dulckeit, seine sämtlichen ›Vorstufen‹ und ›Formen‹ erfassen könne. Die Aufgabe des Systems einer metaphysischen Logik bestehe nun darin, die Entfaltung des Begriffs zu seinen einzelnen Momenten und zum Ganzen seiner selbst darzustellen. Dabei geht es ihm um den Nachweis der »Begrifflichkeit der

70

Vgl. Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 67. Zur Weiterentwicklung dieser Gedanken (insbesondere der Erbsündenlehre) vgl. Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Zusammengefaßt, eingeleitet und erläutert von Joseph Bernhart. Zweiter Band: Die sittliche Weltordnung. Stuttgart 1954 (vgl. die 81. Untersuchung). 71 Vgl. Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. A. a.O. 7. 72 Ebd. 17.

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

wirklichen Welt«73. Die selbst wesentlich begrifflich strukturierte Welt kann das logische Wesen eines Begriffsmoments nun angemessener oder weniger angemessen verwirklichen. So hat die begriffliche Entwicklung des Systems die Momente der Wirklichkeit zunächst in ihrer noch abstrakten Gestalt zu erfassen; sie ist jedoch, so betont Dulckeit, nicht im Sinne einer ›wirklichkeitsfernen Konstruktion‹ oder eines bloßen Begriffsschemas aufzufassen, welches den historischen Gestalten übergestülpt würde, vielmehr führt sie ihrem Anspruch nach gerade zur Wirklichkeit als ihrem Ausgangs- wie Endpunkt hin und hat sich an dieser zu bewähren. Wiederum in enger systematischer Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie beschreibt Dulckeit die Entwicklung des Rechts als eine sich in drei Stufen vollziehende: Die erste bezeichnet er als die des äußeren, die zweite als die des inneren Rechts und die beide vorherigen integrierende dritte Stufe als die der Sittlichkeit. Die erste bezeichnet die logische Abstraktion vom ganzen Begriff des Rechts.74 Im äußeren Recht »herrscht der Geist einer dem Menschen völlig äußerlich gewordenen Objektivität«. Gegenstand der rechtlichen Beurteilung sind zwar die Willensäußerungen der Rechtspersonen, diese aber lediglich in Gestalt von Eigentumsergreifung, Eigentumsveräußerung und Unrecht, d. h. bloß von ihrer objektiven Seite her betrachtet. Die Gestalt, die das Verschuldensprinzip unter den Bedingungen eines solchen Rechtsverständnisses annimmt, ist als ›Erfolgshaftung‹ zu bezeichnen, denn es kommt hier Dulckeit zufolge einstweilen nur auf das Ergebnis des Handelns an, nicht auf seine inneren Beweggründe; und für den verursachten Schaden muß gehaftet werden. Und so tritt auch der Begriff der Verantwortlichkeit des Handelnden zunächst ausschließlich in den Formen »einer schrankenlosen Veranlassungshaftung«75 auf. Das innere Recht zeichnet sich durch das ›Zugleich‹ von Äußerlichkeit und Innerlichkeit aus und ist in diesem Sinne als die Negation des bloß die Objektivität der Rechtshandlung berücksichtigenden äußeren Rechts zu verstehen. Aus seinem äußeren Dasein geht der Wille in die Innerlichkeit der Rechtsperson zurück und wird in diesem Prozeß der ›Erinnerung‹ zum Rechtssubjekt; diesem erscheint »[a]lles Recht […] ausschließlich als Ergebnis, als Verkörperung oder Dasein des handelnden subjektiven Willens.«76 Es ist unschwer zu erkennen, daß Dulckeit mit dieser Darstellung die von Hegel vorgeschlagene Struktur des objektiven Geistes übernimmt. So nennt er

73 74 75 76

Ebd. 30. Vgl. ebd. 57. Ebd. 91. Ebd. 58.

Exkurs I: Über die Wurzeln der Schuld in der Haftung

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denn auch als Momente der sich im ›inneren Recht‹ herausbildenden moralischen Subjektivität in erster Linie die Handlung, dazugehörend den Vorsatz und die Absicht. Dulckeit übernimmt sogar den kritischen Gehalt der Hegelschen Bestimmung der Moralität: »Das im Verhältnis zum Begriff des Rechts als des objektiven Daseins der Freiheit negative Grundprinzip dieser Stufe liegt somit in der schrankenlosen Subjektivität und der […] Selbstherrlichkeit des Willens und des Gewissens.«77 Aus dieser Erkenntnis ergibt sich für Dulckeit zugleich eine maßgebliche Einschränkung des Rechts der Subjektivität mit Blick etwa auf die gerichtliche Zurechnung, denn auch im Recht der Handlung könne der reine Subjektivismus des moralischen Prinzips, da er der Allgemeinheit und Objektivität des Rechts von vornherein widerstreite, niemals die ausschließliche Grundlage für die Zurechnung bilden und auf diese Weise zum Maßstab für Recht oder Unrecht erklärt werden. Zunächst wird auch das innere Willensmoment der Handlung nur in seiner tatsächlichen, äußerlich-kausalen Gegebenheit festgestellt, aber bereits dies zeugt Dulckeit zufolge von der Lösung des Rechtsbewußtseins von urtümlichen, magisch-zauberischen Vorstellungen und Rechtspraktiken, denn das Prinzip der Handlung liegt damit bereits im Willen, wenn dieser sich auch zunächst nur in der kausalen Verursachung eines Ereignisses manifestiert. Die Feststellung der Bedeutung der Innerlichkeit als Beweggrund der Handlung führt schon früh zu der Binnendifferenzierung von freiwilligen (vorsätzlichen) und unwillentlichen (fahrlässigen oder zufälligen) Handlungen und unterwirft das Willenswerk einer strengeren rechtlichen Beurteilung. Bereits im Skolion des Simonides, vor allem aber bei Demokrit, der eine eigene Pflichtenlehre aufstellt, treten erste Anzeichen einer Schuldform hervor, die wir heute mit dem Begriff der Fahrlässigkeit umschreiben.78 Das Prädikat der Fahrlässigkeit tragen bei Aristoteles solche rechtswidrigen Handlungen, bei denen die Unkenntnis des Täters auf Fahrlässigkeit beruht, d. h. bei denen das nicht erkannte Moment erfahrungsgemäß jedoch zu erwarten gewesen wäre und daher leicht hätte erkannt werden können.

77

Ebd. Wenngleich auch Hegel es so darstellt, daß die moralische Subjektivität stets Gefahr läuft, ihren eigenen Standpunkt der Besonderheit zu verabsolutieren und gegen das Allgemeine geltend zu machen, so ist doch dieses Extremwerden meiner Ansicht nach keineswegs als das »Grundprinzip« dieser Stufe zu betrachten. Die für sich seiende Besonderheit des moralischen Standpunkts ist nur ein Moment innerhalb des Verhältnisses, in dem sich das moralische Subjekt findet, insofern es seinem Ansichsein nach mit dem Allgemeinen identisch ist (vgl. GPR § 106). Die prozeßhafte Entwicklung, die es durchmacht (sofern es sich ihr nicht verschließt), bringt Hegel zufolge das Resultat hervor, daß sich das moralische Subjekt mit dem Allgemeinen identisch weiß. 78 Vgl. Richard Maschke: Die Willenslehre im griechischen Recht. A. a.O. 23 ff.

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

Aristoteles hat den Versuch gemacht, die Zurechnung auch dieser fahrlässigen Handlungen auf das von ihm statuierte allgemeine Zurechnungsprinzip von Handlungen generell zurückzuführen.79 Für Dulckeit stellt es sich so dar, daß mit der »Verschuldenslehre des Aristoteles« das Recht der Subjektivität seinen »endgültigen Einzug in das Rechtsdenken nimmt.«80 Die dritte Stufe der von Dulckeit dargelegten Rechtsentwicklung bezeichnet die ›Sittlichkeit‹; hier entwickelt sich der Rechtsbegriff in den verschiedenen sozialen Verhältnissen, von der Familie über die Formen des gesellschaftlich-wirtschaftlichen und beruflichen Zusammenlebens bis zum Staat zu einer wahren sittlichen Wirklichkeit. Diese hier skizzierte Rechtsentwicklung, oder genauer: die Entwicklung des Rechtsbegriffs gilt es für Dulckeit mit historischem ›Material‹ anzufüllen, damit sich die immanente begriffliche (notwendige) Entwicklung des Rechts auf diese Weise an der historisch zu rekonstruierenden Rechtswirklichkeit (und vice versa) bewähren kann. Vorstaatliche Gesellschaften gelten ihm als »Gestaltungen des erst werdenden Rechtsbegriffs«81, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß der Begriff des Rechts selbst, nicht nur seine Verwirklichung – von der er ohnehin nicht zu trennen ist –, als in sich geschichtlich verfaßt gedacht werden muß. Bestimmte Momente des Begriffs treten zwar erst im Laufe ihrer Entwicklung deutlich hervor, sind jedoch in frühen Stadien der Entwicklung bereits vorhanden. Als ein Beispiel dafür führt Dulckeit die erst auf der Stufe des inneren Rechts deutlich hervortretende Reflexion auf das konkrete menschliche Verhalten an, welches innerhalb der Gestalten des werdenden Rechts wie im äußeren Recht noch nicht als Handlung im Sinne einer bewußten Willensäußerung gelte und zunächst bloß von der objektiven Seite betrachtet werde, unter der Perspektive also, was durch die Handlung verursacht wurde. Der damit verbundene, alle urtümlichen Rechtsordnungen beherrschende Formalismus gehe auf eine Praxis von magischen Wirkformen zurück.82 Der Rechtsformalismus ist demnach der Annahme geschuldet, daß der Wille nur

79

Vgl. Richard Loening: Die Zurechnungslehre des Aristoteles. Hildesheim 1967. 271. (Zu Aristoteles’ Bestimmung der Fahrlässigkeit vgl. auch Abschnitt 13 im angegebenen Band.) Allerdings konstatiert Loening, daß dieser Versuch, auch die fahrlässige Handlung unter die freiwilligen und damit unter das Prinzip der Zurechnung willentlicher Handlungen überhaupt zu subsumieren, nachgerade mißlingen muß, und er gelangt zu dem Schluß: »Jedenfalls aber hat Aristoteles […] durch Hereinziehung der Fahrlässigkeit in den Kreis seiner Erörterungen lediglich dem Rechte seiner Zeit und seines Volks auf Kosten seines ethischen Systems ein Zugeständnis gemacht.« (Ebd. 273) 80 Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. A. a.O. 127. 81 Ebd. 60. 82 Vgl. ebd. 72 f.

Exkurs I: Über die Wurzeln der Schuld in der Haftung

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unter Vermittlung und Benutzung bestimmter Formeln und Handlungen, die nicht zwangsläufig religiöser oder ritueller Natur sein müssen, tatsächlich auf die Außenwelt einzuwirken im Stande ist. Dulckeit setzt den Ausgang der von ihm dargestellten Entwicklung bei hoheitlich-sakral geprägten Lebensformen an, die eine Herrschaftsgewalt über die dem Verbande angehörenden Personen wie über das üblicherweise als »Gemeineigen« bezeichnete Vermögensgut ausüben; von diesen ausgehend untersucht er die frühe Bedeutung der Institutionen des Eigentums, des Vertrages und der Schuld.83 Da das Eigentum in vorstaatlichen Strukturen noch nicht ein allgemein anerkanntes Eigentum unter rechtlich festgesetzten Bedingungen darstellt, ist auch der Vertrag zunächst im Sinne einer tatsächlichen Übergabe der Sache zu verstehen, die dem Empfänger zwar den Besitz, nicht aber ein allgemein anerkanntes Recht daran verschaffen kann.84 Jeder tatsächlichen Besitzübertragung muß demnach Dulckeit zufolge ein sogenannter »schuldbegründender« Vertrag, d. h. eine Vereinbarung beider Parteien, vorausgegangen sein. Der »begrifflich entscheidende rechtliche Inhalt eines jeden tatsächlichen vertraglichen Vorgangs«, also die beiderseitige Willensbekundung, tritt jedoch in frühen Kulturen noch nicht erkennbar zu Tage, sondern verbirgt sich zunächst hinter der bloßen Erfüllung des Vereinbarten. Systematisch betrachtet, verhält es sich so, daß erst in dem Moment, in dem die ›schuldrechtliche Beredung‹ eine rechtlich anerkannte und damit einklagbare Verbindlichkeit erzeugt, der Schuldvertrag zu einem Vertrag im eigentlichen Sinne wird. Dulckeit konstatiert, daß sich die rechtlich verfolgbare Vertragsschuld historisch-genetisch aus den älteren Haftungsgeschäften entwickelt hat und daß sich die unmittelbare Verpflichtung des haftenden Schuldners im Laufe der Zeit zu einer relativ selbständigen rechtlichen Größe herausbildet.85 Mit anderen Worten: Während die Haftung als bloße Sachübertragung zu bezeichnen ist, geht die Schuld erst dort genetisch aus dem Haftungsgeschäft hervor, wo eine vertragliche Basis dafür geschaffen ist, daß der Gläubiger die Leistung auf rechtlichem Wege einklagen kann. Auf diese Weise löst sich die Schuld jedoch bereits weitgehend von der sachlichen Bindung; »übereignet wird damit als Haftungsobjekt zur Sicherung der Schuldverpflichtung gewissermaßen die Leistung selbst.«86 Schuld setzt demnach die rechtliche Anerkennung der Verpflichtung voraus, woraus sich wiederum die Verpflichtung zur Haftung aus der Schuld ergibt.

83 84 85 86

Vgl. ebd. 61 ff. Vgl. ebd. 69. Vgl. ebd. 82 f. Ebd. 83. Zur Zeit des klassischen römischen Rechts war bereits das Wort debitum

58

Zum Bedeutungswandel der Schuld

Damit ist deutlich, daß ein Gestaltenwandel des Rechts dort einsetzt, wo die Handlung »ihren Begriff als zurechenbare, d. h. rechtlich verschuldete Willenshandlung hervorzukehren beginnt.«87 Im Kontext der Frage nach der Rechtshandlung taucht in der Rechtsgeschichte die Frage nach der Zurechnung als eigentliches Problem auf. Die Handlungsfähigkeit des Menschen, formal mit der Eigentums- und Vertragsfähigkeit der Rechtsperson gegeben, wird erst wirklich, wenn sie sich zur persönlichen Zurechnungsfähigkeit und damit zur Verantwortungsfähigkeit entwickelt hat. Anders formuliert: Die Entwicklung des rechtlichen Handlungsbegriffs bedeutet damit praktisch gesehen die Begrenzung der Zurechenbarkeit auf die vorsätzliche Handlung. Der Abschluß der Entwicklung zur vollständigen Ausbreitung der rechtlichen Freiheit wie auch ihre begriffliche Durchdringung durch die Rechtswissenschaft gehört jedoch erst dem Naturrecht der Neuzeit an. Was Dulckeit in seiner Studie nachzuvollziehen versucht, ist diejenige Bewegung, in welcher sich der freie Wille zum Rechtsprinzip entwickelt oder genauer: wie sich der sich zunächst an der naturgegebenen Ordnung orientierende Wille schließlich selbst als rechtserzeugende Instanz begreift (was natürlich zugleich das Hervorbringen objektiver Rechtsverhältnisse erfordert, die sich diesem Prinzip verpflichtet sehen).88

exkurs ii: Schuld und Schulden − Nietzsches Genealogie der Schuld Nimmt man, wie soeben vor dem Hintergrund des rechtsphilosophischen Ansatzes von Gerhard Dulckeit geschehen, die Entwicklung von einer materiellen zu einer ideellen Auffassung von Schuld an (wobei man nicht vergessen darf, daß der Wille gezwungen ist, sich zu (ent-)äußern und nicht in der subjektiven Innerlichkeit verbleiben kann), dann ist der nächste Schritt die Frage, ob nicht auch die Schuld im moralischen Sinne – verstanden als noch weiter fortgeschrittene Innerlichkeit des Willens − letztlich auf materielle Schuldverhältnisse zurückverweist. Das genealogische Verfahren Friedgebräuchlich, was die reine Leistungspflicht bezeichnete. Vgl. dazu Wolfgang Kunkel: Römisches Privatrecht. A. a.O. 87 Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. A. a.O. 96. 88 Auch Walter Jaeschke befaßt sich mit dieser Entwicklung des Willens zum sich selbst erkennenden Rechtsprinzip und spricht in diesem Zusammenhang von »einer Bewegung von der Natur zum Geist«, was genauer die Bewegung »von der naturgegebenen Ordnung zur Willensfreiheit« bezeichnet. Zwar legt Jaeschke in diesem Zusammenhang seiner Überlegungen zur Genese des Rechts nicht besonderes Gewicht auf die Herausbil-

Exkurs II: Schuld und Schulden – Nietzsches Genealogie der Schuld

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rich Nietzsches, welches hier ergänzend zu dem von Dulckeit entwickelten Ansatz kurz dargestellt werden soll, verfolgt in diesem Sinne das Ziel, die lange und »schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit«89 zu dechiffrieren. Mit einer solchen Genealogie ist für Nietzsche das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis hinsichtlich der eigenen moralischen Wertvorstellungen verbunden.90 Die längste Zeit in der Geschichte des Menschen, so konstatiert Nietzsche in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral, sei nicht deswegen gestraft worden, »weil man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei: − vielmehr […] aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt«91. Erst all-

dung des subjektiven Verschuldensprinzips, aber es ist deutlich, daß die von ihm formulierte These gleichsam den ›theoretischen Überbau‹ zu der oben von mir unter Rekurs auf Gerhard Dulckeit herausgearbeiteten Behauptung darstellt. (Vgl. Walter Jaeschke: Genealogie des Rechts. A. a.O. 291 und 295.) 89 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. – In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a. 1980. 254 (Vorrede, § 7). 90 »Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehen, dass wir eines Tags uns fänden? […] Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müss e n uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ›Jeder ist sich selbst der Fernste‹, – für uns sind wir keine Erkennenden‹…« Und dennoch: »[M]it der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens […]«. (Ebd. Vorrede, §§ 1 und 2.) Auch Jan Assmann fragt im Rahmen seiner Überlegungen zur »Geburt der Geschichte aus dem Geist des Rechts« nach der »Genealogie der Schuld«. Seine These lautet: »Geschichtserinnerung, wie sie im Alten Orient [im zweiten Jahrtausend v. Chr.] entsteht, hängt mit jener Form von Schuld und Schuldbewußtsein zusammen, wie sie sich an den Bruch von Eiden und Verträgen knüpft.« Diese Eide sind jedoch heilig, da sie bei den Göttern beschworen wurden und verbürgen daher eine unverbrüchliche Verbindlichkeit. Vertragsbruch, auch auf zwischenstaatlicher Ebene, »wird zum Urmodell der Sünde.« Worum es Assmann in diesem Zusammenhang aber eigentlich geht, ist die Begründung seiner These, daß Geschichte ursprünglich »eine Funktion der ›iustitia connectiva‹ ist; erst die Konstitution einer Sphäre der Bindung und Verbindlichkeit ermöglicht die Rekonstruktion von Vergangenheit, auf der Gedächtnis und Geschichte beruhen. (Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2005. 255 ff. Die These, daß das Prinzip einer konnektiven Gerechtigkeit oder das Schema eines ›Tun-Ergehen-Zusammenhangs‹ insofern als ein Generator von Geschichte zu bezeichnen ist, als es Struktur und Linearität in die Ereignisse bringt, begründet Assmann ausführlich in seinem Aufsatz: Recht und Gerechtigkeit als Generatoren von Geschichte. – In: Rüdiger Bubner und Walter Mesch (Hgg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? (Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999). Stuttgart 2001. 296–311.) 91 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. A. a.O. 298.

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Zum Bedeutungswandel der Schuld

mählich habe sich hier der Gedanke der Verhältnismäßigkeit zwischen Strafe und Vergehen herausgebildet, und diese Idee der Äquivalenz führt Nietzsche auf das Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner zurück. Auch das »Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, […] hat […] seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist […,] aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe […] übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen.«92 Verweist ›Schuld‹ seiner Grundbedeutung nach also auf ein Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, d. h. auf ein Vertragsverhältnis, dann tritt darin ein strukturelles Element des Schuldbegriffs hervor, das auch für 92

Ebd. 306. Nietzsche ist nicht der einzige, der die Einsicht formuliert, der moralische Schuldbegriff entstamme einer der ökonomischen Notwendigkeit folgenden rechtlichen Bestimmung von Schuld. Auch für Giorgio Agamben sind die Begriffe ›Schuld‹ und ›Verantwortung‹ als genuin juristische aufzufassen. (Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Frankfurt a.M. 2003. 18 ff.) Ethik, Politik und Religion konnten sich seiner Ansicht nach nur dadurch definieren, daß sie der »juristischen Art von Verantwortung den Boden entrissen.« (Ebd. 18) »Die Übernahme von Verantwortung ist […] eine genuin juristische und nicht ethische Geste. Sie ist nicht Ausdruck von etwas Edlem oder Großartigem, sondern bedeutet – in einer Rechtsauffassung, in der die Rechtsverbindlichkeit noch mit dem Körper des Verantwortlichen verknüpft ist – schlicht das Sich-Verpfänden, die ob-ligatio, das Sich-in-Gefangenschaft-Begeben, um die Erfüllung einer Schuld sicherzustellen.« (Ebd. 19) Derselbe Befund ergibt sich, wenn man sich den griechischen Text der Vaterunser-Bitte in Matthäus 6, 12 vorlegt. In der Bitte: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« steht im Griechischen für die zu vergebende ›Schuld‹ das Substantiv tó Ôfeílhma, was die Schuldigkeit oder die Pflicht, in erster Linie aber die materielle Schuld und damit finanzielle Schulden bezeichnet. Ursprünglich gemeint sind mit dieser Bitte im Neuen Testament also die zu erlassenden Schulden, wie auch der Bittende im Falle eines Falles seinen Schuldnern deren Schulden zu erlassen gelobt. Es wäre zu untersuchen, ob und wenn ja, inwiefern die bis zur Zerstörung des zweiten Tempels praktizierte jüdische (und später auch christliche) Tradition des sogenannten Jobel-Jahrs (vgl. 3. Mose 25, 8), in dem alle Schulden erlassen und Güter ohne Entschädigung wieder an ihre vormaligen Besitzer übereignet wurden, mit dieser Bitte im Zusammenhang steht.

Exkurs II: Schuld und Schulden – Nietzsches Genealogie der Schuld

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Nietzsches Überlegungen entscheidend ist: Die Frage nach der Schuld beinhaltet die Frage nach der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung. Schuld bezeichnet damit ein Austauschverhältnis; dieses fordert die Bestimmung des Verhältnisses über einen quantifizierbaren Wert. Es ist demnach der Äquivalenzgedanke, so Nietzsche weiter, welcher der Bestimmung zugrundelag, daß der Gläubiger dem Schuldner alle Arten von physischer und psychischer Gewalt habe antun dürfen, die der Größe der Schuld angemessen schien; daß also an die Stelle des tatsächlichen Ausgleichs (in Gestalt von Geld, Besitz, Land) das Wohlgefühl des Gläubigers im Schmerz und Leiden des Schuldners als Rückzahlung der Schuld und deren Ausgleich habe treten können: Leiden als Ausgleichung von ›Schulden‹.93 Kurz gesagt: Für Nietzsche liegt die Voraussetzung der Moralisierung der Rechtsverhältnisse, die selbst eine Vermischung juristischer und religiöser Begrifflichkeit sei, in der allmählichen Monopolisierung von Gewalt.94 Führt man die Herkunft moralisch-rechtlicher Begriffe wie Schuld, Zurechnung oder Verantwortung auf Tauschverhältnisse zurück, so schließt sich sogleich die Frage an, wie die privatrechtliche Idee der Verpflichtung, also der materielle Begriff von Schuld, zu seinen vielfachen Symbolisierungen in religiösen, moralischen und philosophischen Kontexten gelangen konnte, so daß auch all jene als ›Gläubiger‹ auftreten können, denen gegenüber irgend eine Verpflichtung entstanden ist. Sogar so, daß schließlich auch überpersönliche Kräfte in der Funktion des ›Gläubigers‹ auftreten können, die sich zu solchen Symbolisierungen des Austauschverhältnisses eignen, wie die Natur, die Ahnen einer bestimmten sozialen Gemeinschaft, das Vaterland oder jedwede, den individuellen Lebensbereich des Menschen transzendierende Instanz.95 − Das Problem hat sich an dieser Stelle nun zwar erschlossen, eine abschließende Klärung und umfassende Darstellung wird die vorliegende Arbeit jedoch schuldig bleiben müssen. Es sei lediglich auf ein frühes Beispiel für eine solche Symbolisierungsleistung verwiesen, das sich etwa bei den sogenannten Jäger- und Pflanzerkulturen findet, bei denen sich der Gedanke einer ›natürlichen Verschuldung‹ findet, insofern sie sich selbst als Teil der Natur verstanden, der gegenüber bereits durch die bloße Kontinuität lebendigen Daseins Verbindlichkeiten entstanden. Allein der zur Bestreitung des Lebensunterhalts unvermeidliche Verbrauch natürlicher

93

Vgl. Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral. A. a.O. 300. »Hier […] ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung ›Schuld und Leid‹ zuerst eingehäkelt worden.« (Ebd.) 94 Vgl. Gerald Hartung: Zur Genealogie des Schuldbegriffs. A. a.O. 314. 95 Vgl. Stephan Meder: Schuld, Zufall, Risiko. A. a.O. 108.

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Ressourcen begründete Schuld, die zu begleichen war, indem gewisse Gegenleistungen erbracht wurden, wie beispielsweise Menschen- oder Tieropfer, welche bei fortschreitender Zivilisation durch unblutige Symbolisierungen ersetzt werden konnten.96 Es muß jedoch nicht die Natur sein, der gegenüber eine Verpflichtung der Lebenden besteht – so rekurriert etwa Nietzsche zur Erklärung der Übertragung und Entmaterialisierung des ursprünglich ökonomischen Schuldverständnisses auf die religiösen Kultpraktiken früher Sozialgemeinschaften auf die Idee der Verpflichtung der Lebenden gegenüber ihren Ahnen, also auf die Konstruktion eines Generationenvertrags.97 Somit lassen sich im Ausgang von der bezeichneten tauschrechtlichen Begründung des Schuldbegriffs zwei grundsätzliche Dimensionen von Schuldverhältnissen ableiten: Erstens diejenige, die ich hier einmal als Schuld im Sinne von ›in der Schuld von jemandem stehen‹ bezeichnen will, und die von der Leistung ausgeht, die der Gläubiger bereits erbracht hat und in welcher das Maß für die Verpflichtung des Schuldners liegt, und eine zweite Bedeutungsdimension, der zufolge Schuld im Sinne eines zu leistenden Ausgleichs für die Verletzung oder den Schaden, den der Gläubiger durch den auf diese Weise zum Schuldner gewordenen erlitten hat. Beide Dimensionen der Bedeutung sind, da sie auf dem Gedanken der Äquivalenz beruhen, miteinander verwandt.

96

Vgl. ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang Nietzsches Genealogie des Schuldgefühls in seiner Genealogie der Moral. A. a.O. 318 ff. Und ferner G. Kimmerle: Die Aporie der Wahrheit. Anmerkungen zu Nietzsches Genealogie der Moral. Tübingen 1983. 130. Das schlechte Gewissen wie das Schuldgefühl sind für Nietzsche »das Ergebnis der Rationalisierung von Herrschaft und der Irrationalisierung der Religiosität, gemessen an dem ihr zugrunde liegenden juristischen Musterbild (Darlehensvertrag).« (Gerald Hartung: Zur Genealogie des Schuldbegriffs. A. a.O. 316.) 97

3. »Schuld hat erst der für sich freie Wille.« – Zur Herausbildung schuldfähiger Subjektivität in Hegels Lehre vom subjektiven Geist

Nachdem wir uns im vorangegangenen Kapitel, wenn auch nur skizzenhaft, mit dem Bedeutungswandel befaßt haben, den der Begriff der Schuld in seiner langen Geschichte erfahren hat − und damit im weitesten Sinne auch mit den geistesgeschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit der Herausbildung des moralischen Standpunkts (im Sinne des geistigen Prinzips einer insichgehenden und sich in sich vertiefenden Subjektivität) −, wird im Folgenden danach zu fragen sein, welche Entwicklung der von Hegel so bezeichnete ›subjektive Geist‹, eingebettet in diese allgemeine Geschichte des Geistes, aus der Sicht Hegels zu durchlaufen hat, um tatsächlich ›schuldfähig‹ sein zu können. Für Hegel ist es der freie Wille, der sich in der Welt, genauer: im Recht und in der staatlichen Ordnung als seiner ›zweiten Natur‹ objektiviert, sich ein »Reich der verwirklichten Freyheit«1 schafft. Dieser Prozeß der Selbstmanifestation des Willens hat zugleich die Freiheit des Willens zu seiner Voraussetzung, da die Freiheit den Begriff und die Substantialität des Willens schlechthin ausmacht »wie die Schwere die Substantialität des Körpers.«2 Ein gänzlich unfreier Wille ist damit also für Hegel gar nicht denkbar (und ebensowenig eine Freiheit, die unabhängig vom sie vollbringenden Subjekt wäre); der Wille als zielgerichtete geistige Tätigkeit ist schlechthin frei. Geht man nun aber mit Hegel weiter davon aus, daß jene Selbstmanifestation des Willens ihn allererst zu einem wirklichen und damit auch erst wirklich freien Willen macht, dann ist zwar kein ›unfreier‹ Wille denkbar, wohl aber ein erst ›an sich freier‹ Wille, also ein Wille, der sich in seiner Freiheit noch nicht vollkommen begriffen hat. Die Freiheit des Willens ihrem Ansich nach liegt also der Bewegung der Verwirklichung des Willens zugrunde. Damit ist dem ›an sich freien Willen‹ aber zugleich sein Telos eingeschrieben, seine nur dem Begriff nach gegebene Freiheit in das Wissen seiner selbst aufzunehmen. Und Hegel expliziert in seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechts die Bestimmungen des Vernünftigen wie des Geistigen überhaupt mit der tätigen Subjektivität als dem »Praktische[n] im Geistigen«, d. h. der Wille ist »das Denken als sich übersetzend ins Dasein«.3 (Zu den sich daraus erge1 2 3

GPR § 4. Ebd. § 7. Ilting, Bd. 4. 102.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

benden Implikationen hinsichtlich des Verhältnisses von Denken und Wollen kommen wir gleich.) Der Geist kann demnach nur als prozessierendes Tätigsein im Sinne des »Setzen[s] eines Andern«4 sowie der Rückkehr aus diesem Anderssein in sich selbst begriffen werden. Diese Tätigkeit des Geistes, in welcher er sich selbst bestimmt, besteht Hegel zufolge in erster Linie in der prozeßhaften Befreiung seiner selbst von seiner Gebundenheit an die Natur und seiner natürlichen Triebhaftigkeit, in die er zunächst versenkt ist. Den ›subjektiven Geist‹ bestimmt Hegel als eine bestimmte Form der Beziehung des Geistes auf sich selbst und innerhalb seiner selbst. Der subjektive Geist beschreibt genauer jenen Prozeß des Geistes, »daß das, was sein Begriff ist, für ihn wird und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein«5. Die Sphäre des objektiven Geistes zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß der Geist seine ihm entsprechende Realität in einer von ihm selbst hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt findet; eine Welt, in welcher »die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist«6. In seiner »absoluten Wahrheit« wiederum ist der Geist erst dann, wenn er seine Objektivität und seine Idealität oder seinen Begriff von sich zur Einheit zu bringen weiß. In der Welt des absoluten Geistes hat der Geist daher einerseits seine objektive Realität als Wissen von sich selbst, andererseits ist der Gegenstand, von dem der Geist weiß, nichts anderes als sein eigener Begriff.7 Der absolute Geist bezeichnet damit die Selbstbezüglichkeit des Geistes in der Objektivität der von ihm hervorgebrachten Verhältnisse und in dem Wissen von sich selbst. Zwar beziehe ich mich in meiner systematischen Rekonstruktion dieser Entwicklung von nur ansichseiender (oder nur der Möglichkeit nach gegebener) Freiheit hin zu einem sich vollbringenden Bewußtsein der Freiheit des Geistes vornehmlich auf den letzten Teil der enzyklopädischen Darstellung der Philosophie des subjektiven Geistes, also auf Hegels Ausführungen zum praktischen Geist − sowie auf die entsprechenden Paragraphen der Einleitung in die Grundlinien8 −, dennoch muß man sagen, daß allen drei Teilen der Lehre vom subjektiven Geist (›Anthropologie‹, ›Phänomenologie‹

4

GW 25,1. 16. Enzyklopädie § 385. 6 Ebd. 7 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart/Weimar 2003. 352. 8 Grundlage ist dabei zum einen die dritte Auflage der Enzyklopädie und zum andern die Nachschriften zu den Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, die sich auf die erste (Hotho und Griesheim in GW 25,1) bzw. auf die zweite Auflage der Enzyklopädie (Stolzenberg, Erdmann und Walter in GW 25,2) beziehen. 5

»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

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und ›Psychologie‹) gleichermaßen die Aufgabe zukommt, diese Entwicklung einer begreifenden Selbsterkenntnis des Geistes in seiner Notwendigkeit, oder die »Arbeit der sich erzeugenden Selbstvergewisserung«9 darzustellen. Hegels Philosophie des subjektiven Geistes zeigt als ganze den Prozeß der Überwindung oder der Selbstaufhebung der bloßen Endlichkeit des Geistes. Als endlicher ist der Geist bestimmt, insofern er zwar nicht mehr einen ihm äußerlichen Gegenstand, aber sehr wohl eine noch unmittelbare Bestimmtheit in sich hat; die Endlichkeit des Geistes besteht darin, daß »das Wissen das An- und Fürsichsein seiner Vernunft nicht erfaßt« oder darin, daß sich die Vernunft noch nicht zur »vollen Manifestation im Wissen gebracht hat.«10 Noch einmal anders formuliert: Im endlichen Geist hat sich das Wissen »von einem Allgemeinen […], das ebenso objectiv als subjectiv ist«, noch nicht manifestieren können; der endliche Geist ist jedoch für Hegel sehr wohl »ein Moment des Processes des ewigen Geistes«11. Man könnte daher auch sagen: Die Philosophie des subjektiven Geistes stellt die Aneignung des Begriffs des Geistes durch den subjektiven Geist dar.12 Hegels Philosophie des subjekti9

So Hermann Drüe in seinem Beitrag über die Philosophie des Geistes in dem Band: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß von H. Drüe, A. Gethmann-Siefert, C. Hackenesch, W. Jaeschke, W. Neuser, H. Schnädelbach. Frankfurt a.M. 2000. 210. 10 Enzyklopädie § 441. 11 GW 25,1. 118 f. 12 Vgl. Rolf-Peter Horstmann: Subjektiver Geist und Moralität. Zur systematischen Stellung der Philosophie des subjektiven Geistes. – In: Dieter Henrich (Hg.): Hegels philosophische Psychologie. Bonn 1979. 191–199; hier 197. Horstmann vertritt in diesem Aufsatz die These, daß Hegel mit seiner Philosophie des subjektiven Geistes die Bedingungen schafft, um seine Theorie der Moralität und die in ihr formulierte Kritik an der ›Wirklichkeit‹ der subjektiven Freiheit abzusichern (vgl. ebd. 192). Was Hegel in seiner Philosophie vom subjektiven Geist intendiere, sei zum einen die Einlösung des durch den Geistbegriff vorgegebenen »formalen Freiheitspostulat[s] für jede Form des Geistes« − so auch für den subjektiven Geist − und zum andern die theoretische Fundierung seiner ursprünglich im Rahmen einer Theorie der Sittlichkeit entwickelten Lehre von der Moralität und der »dieser Lehre eigentümliche[n] Bestreitung der ›Realität‹ der Freiheit des handelnden Subjekts« (ebd. 198). Um diese Bestimmung im Rahmen seiner Theorie der Moralität durchhalten zu können, so Horstmann weiter, legt Hegel also im Rahmen seiner Philosophie des subjektiven Geistes dar, daß das Subjekt ›Freiheit‹ im Sinne des Bei-sich-Seins im Anderen nur für die Sphäre des theoretischen, nicht aber des praktischen Geistes beanspruchen könne (vgl. ebd.). Horstmanns Behauptung kulminiert in der Kritik, daß diese Kluft, die Hegel zwischen dem erkennenden und dem wollenden Subjekt errichte, ihn zur Annahme zweier von einander verschiedener Begriffe von Subjektivität führe, denn Subjektivität »kann […] dann nicht mehr die Funktion übernehmen, identische Grundlage aller Bestimmungen des einzelnen Individuums qua Subjekt zu sein. Dies jedoch legt die Frage nahe, wie weit Hegel nicht durch diese Lösung genau dem von ihm selbst ursprünglich als Grundübel aller ›Reflexionsphilosophie‹ geächteten Dualismus im Begriff des Subjekts

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

ven Geistes übernimmt damit die Funktion der Sicherung der (verhältnismäßigen) subjektiven Freiheitsbestimmung. Hegel macht deutlich, daß der endliche Geist – aufgrund der angegebenen Struktur geistiger Tätigkeit überhaupt – in sich selbst einen Widerspruch darstellt. Und zwar deswegen, weil der Geist aus Hegels Sicht wesentlich als jener Prozeß zu verstehen ist, die Schranke des Natürlichen und Endlichen aufzuheben. »Es ist der unendliche Geist selber, der sich als Seele wie als Bewußtsein sich selber voraussetzt und dadurch verendlicht, aber ebenso diese selbstgemachte Voraussetzung, diese Endlichkeit […] als aufgehoben setzt.«13 Wie das Bewußtsein die ihm unmittelbar vorangegangene Stufe, also die natürliche Seele, zu seinem Gegenstand

verfällt« (ebd. 198 f.). Horstmanns These scheint mir indes nicht haltbar zu sein, denn sie führt die Konsequenz mit sich, daß die gesamte Sphäre des ›praktischen Geistes‹, in der der Geist als Wille in die Wirklichkeit tritt, von der Bewegung, die sich im subjektiven Geist als ganzem vollzieht, abgetrennt wäre. Es ist sicher richtig, daß der Wille zunächst in Gestalt der Unmittelbarkeit gegeben ist und nicht bereits von der Freiheit anheben kann, wie sie sich die ›Intelligenz‹ erworben hat (vgl. Enzyklopädie § 468, in dem Hegel vom Denken als dem »freie[n] Begriff« spricht). Aber die vom praktischen Geist vollbrachte Bewegung zielt darauf, seine Unmittelbarkeit zu überwinden und sich selbst ›zum Denken zu erheben‹; obgleich die Freiheit des Willens das Resultat dieser Bewegung ist, setzt sie zugleich den Willen in seiner Freiheit voraus. Im übrigen hängt Horstmanns These sicherlich davon ab, welches Verständnis von Hegels Theorie der Moralität der Leser mitbringt; begreift man sie in erster Linie oder gar ausschließlich als eine Kritik an den mit dem ›Recht der Subjektivität‹ verbundenen Ansprüchen moralischer Subjektivität, oder bloß als Entlarvung des Scheins subjektiver Freiheit, dann ist solche ›Unfreiheit‹ der moralischen Subjektivität allerdings mit jener in seiner Philosophie des subjektiven Geistes dargestellten Befreiungs- und Emanzipationsbewegung des subjektiven Geistes schwerlich in Einklang zu bringen. Begreift man Hegels Theorie der Moralität aber im Sinne einer Kritik im ursprünglichen Wortsinne der Unterscheidung, dann ist Hegels Auskunft hinsichtlich der Grenzen des Rechts jener moralischen Subjektivität auch nur die eine Seite dieser Theorie. Was Hegel meiner Ansicht nach im Moralitätskapitel der Grundlinien zur spekulativen Entfaltung bringt, ist die ihre eigene, bloße Subjektivität transzendierende Subjektivität (was ich im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich darstelle). – Diese Bewegung einer Aufhebung bloßer Subjektivität spricht ihr die Freiheit und Selbstbestimmung aber gerade nicht ab, denn wäre sie nicht in gewissem Sinne frei, wäre sie auch nicht in der Lage, ihre eigene Entwicklung hin zum ›sittlichen Subjekt‹, wenn man so will, zu durchlaufen und abzuschließen. Die moralische Subjektivität vollbringt sich selbst, und das kann sie nur, weil und insofern sie sich im Handeln objektiviert. Was allerdings auch noch ganz deutlich gegen die von Horstmann hier vorgebrachte These spricht, ist Hegels – in seinen Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes explizit herausgearbeitete – Grundlegung der Bedingung der Möglichkeit von Schuld. Denn diese Möglichkeit (die sich ebensogut als Notwendigkeit bezeichnen läßt) ergibt sich erst an einem bestimmten Punkt innerhalb der Bewegung des Geistes von anfänglich nur erst ›an sich seiender‹ zu ›für sich seiender‹ und schließlich zur ›wirklich für sich seienden‹ Freiheit des Geistes im Praktischen. 13 Enzyklopädie § 441 Z.

Zum Verhältnis von Erkennen und Wollen

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macht, so macht der Geist das Bewußtsein zu seinem Gegenstand.14 Dies bedeutet, daß die für das Bewußtsein nur an sich gegebene »Idealität des Ich mit seinem Andern« vom Geist für sich gesetzt wird, d. h., wie wir eben schon sahen, daß der Geist eine doppelte Bestimmtheit hat, nämlich daß sein Inhalt sowohl das Seiende wie das Seinige ist. Mit anderen Worten: der Inhalt ist sowohl der ansichseiende (insofern ist er ›Gegenstand‹ des Geistes), als auch und zugleich ein vom Geist Hervorgebrachtes und damit »Produkt seiner Freiheit«15. Die Sphäre des Geistes ist somit diejenige, in welcher »als Ziel ein absolutes Fürsichsein der Subjektivität eröffnet [wird], [welche] im Sichbeziehen auf ein Anderssein sich nur noch auf sich selbst bezieht.«16 Hegel zufolge bezieht sich der Geist nicht mehr, wie es das Bewußtsein noch tat, auf äußerliche Voraussetzungen, sondern »fängt […] nur von seinem eigenen Sein an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen.«17 Die Realität des Geistes ist sein Wissen, und die Vernunft ist die Realisierung und Aneignung dieses Wissens18: Nachdem sich die Intelligenz als theoretische den äußerlichen Inhalt angeeignet hat und damit gleichsam den Schlußstein des theoretischen Geistes bildet, geht der Geist in der Sphäre des Praktischen dazu über, die »Subjektivität seiner Innerlichkeit«19 in von ihm selbst gesetzte praktische Bestimmungen zu überführen und dadurch zu objektivieren.

3.1 Zum Verhältnis von Erkennen und Wollen Der theoretische Geist in seiner noch unmittelbaren Form »findet sich bestimmt«20; solches ›Sich-bestimmt-Finden‹ oder der Formunterschied zwischen dem Geist und seinem ›Gegenstand‹ ist jedoch im Grunde nichts weiter als ein Schein, und die Tätigkeit des theoretischen Geistes richtet sich darauf, diesen Schein zu widerlegen.21 Im Denken als der der Intelligenz ent14

Vgl. ebd. § 443. Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. – In: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989. Herausgegeben von Franz Hespe und Burkhard Tuschling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. 107–133; hier 121. 16 Ebd. 17 Enzyklopädie § 440. 18 Vgl. ebd. § 441. 19 So Hermann Drüe über die Philosophie des Geistes in dem Band: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). A. a.O. 271. 20 Enzyklopädie § 445. 21 »Das zunächst als ein ihm [d. i. dem Geist] Fremdes Erschienene erweist sich in wachsenden Klarheitsstufen als spezifisch sein Anderes, das doch ihm selbst zugehört. Die 15

68

»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

sprechenden Tätigkeit weiß sie, daß sie sich ausschließlich zu ihren eigenen Produkten verhält, d. h. daß »für sie der Inhalt durch sie bestimmt ist.«22 Die Intelligenz ist damit »an ihr selbst das Allgemeine« und »der Gedanke ist die Sache«23. Der Stoff, der zunächst lediglich die unmittelbare Bestimmtheit bedeutete, erhält durch die Formen des Denkens »die Wahrheit seines Seins«; durch das Denken also gewinnt der Gegenstand seine Objektivität, in der er der Objektivität, die das Denken selbst ist, entspricht. Die Intelligenz, welche im Prozeß des Denkens die ihr vermeintlich noch gegenüberstehende Unmittelbarkeit aufgehoben hat24, hat sich auf diese Weise zum »freien Begriff«25 gebildet. Das Denken ist nunmehr nicht mehr nur der Form nach, sondern ebenso dem Inhalt nach frei, und die Intelligenz weiß sich in dieser Bewegung schließlich als »das Bestimmende des Inhalts, der ebenso der ihrige, als er als seiend bestimmt ist«. Das praktische Moment tritt demnach nicht erst nachträglich dem theoretischen Erkennen hinzu, sondern wohnt bereits dem Wissen selber inne – ebenso wie umgekehrt dem Willen das theoretische Moment des Erkennens.26 Folgerichtig macht Hegel an dieser Stelle27 deutlich, daß sich die Intelligenz, insofern sie sich − sowohl dem Inhalt als der Form nach − als das Bestimmende der Objektivität erkennt, zum Willen weiterentwickelt; sie »vergegenständlicht sich […] in praktischen Handlungen in einer höherstufigen Weise.«28 Und obgleich für Hegel weder ein nichtdenkender noch ein ›unfreier‹ Wille denkbar ist, muß sich der Wille doch seinerseits erst zum Denken erheben, und diesen Weg rekonstruiert Hegel im Abschnitt über den ›praktischen Geist‹; dieser Weg soll nun im Weiteren expliziert werden. Allein als Wille vermag der Geist in die Wirklichkeit zu treten. Die Idee des Geistes erhält Realität einzig dadurch, daß er seine Bestimmungen äußert und sich zum objektiven Geist macht. Bei sich selbst oder: frei ist der Geist nur dann, wenn er sich realisiert. Der Geist als Wille »weiß sich als sich in sich beschließend und sich aus sich erfüllend«; es macht den Begriff Stadien innerhalb der Anschauung und Vorstellung sind insbesondere Stadien der Selbstbewußtwerdung des Geistes in bezug auf den ihm immanenten Gehalt; sein Sichvertiefen in den Gegenstand erweist sich als ein Sichvertiefen in sich selbst.« Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. A. a.O. 123. 22 Enzyklopädie § 468. 23 Ebd. § 465. 24 Vgl. ebd. § 467. 25 Ebd. § 468. 26 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 360. 27 Vgl. Enzyklopädie § 469. 28 Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. A. a.O. 125.

Zum Verhältnis von Erkennen und Wollen

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des Willens aus, daß er »bei sich, frei überhaupt«29 ist. Während der theoretische Geist, wie wir gesehen haben, eine Bewegung der Subjektivierung vollzieht, vollbringt der praktische subjektive Geist vorrangig eine Bewegung der Objektivierung, insofern er seine Bestimmungen aus sich realisiert; eine Bewegung, in welcher er schließlich die »Partikularität und Willkür der Strebensrichtung überwindet.«30 Wenn Hegel also davon spricht, daß der Wille das »erfüllte Fürsichsein«31 ist, dann ist damit zum Ausdruck gebracht, daß der praktische Geist zwar bereits die erfüllte, der Intelligenz immanente denkende Selbstbeziehung voraussetzt, diese denkende Selbstbeziehung jedoch für sich erst wiedererlangen muß, um sich in seiner wahrhaften Gestalt als ›wirklicher freier Wille‹ bewähren zu können.32 Der Wille hat demnach seinerseits den Weg zu nehmen, sich zum objektiven Geist zu machen, dies aber bedeutet für Hegel: »sich zum denkenden Willen zu erheben«33. Anders formuliert: Die Freiheit gehört dem Willen zunächst nur formell an; daß dieser Begriff auch tatsächlich für ihn wird, erfordert, daß sich der Wille zum Denken erhebt, denn dieser »Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken« – was, wie aus dem Gesagten erhellt, nicht bedeutet, daß der Geist nur auf theoretische Weise frei sein kann, sondern der Wille muß den denkend erfaßten Begriff seiner selbst realisieren. Der praktische Geist nimmt dabei im Vergleich zum theoretischen den umgekehrten Ausgangspunkt ein; er fängt nicht beim scheinbar selbständigen Objekt an, wie es die Intelligenz tut, die aus dem Gegenstand in sich geht, sich in sich erinnert, um ihre Innerlichkeit schließlich als das Objektive zu begreifen34. Der Wille hingegen ist intentional darauf gerichtet, seine noch mit der Subjektivität behaftete Innerlichkeit zu objektivieren, so daß er schließlich »seine Einzelheit abarbeitet«35. Erst hinsichtlich der selbstbestimmten Äußerung des Willens läßt sich davon sprechen, daß der Geist im eigentlichen Sinne frei ist. Damit erhebt sich an dieser Stelle jedoch die Frage, ob der Wille gegenüber dem theoretischen Erkennen zugleich das Unbeschränkte sei.36 In der von Griesheim überliefer29 30

Enzyklopädie § 469. Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. A. a.O.

126. 31

Enzyklopädie § 469. Vgl. Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. A. a.O. 128 f. 33 Enzyklopädie § 469. 34 Vgl. ebd. § 469 Z. 35 Ebd. 36 Mit Blick auf den Begriff der praktischen Freiheit in einem allgemeinen Sinne ist an dieser Stelle eine Beobachtung Walter Jaeschkes zu ergänzen. »Hegel [wendet] sich gegen Kants Freiheitsbegriff, insofern auch bei Kant – wie in der Naturrechtstradition bis zurück 32

70

»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

ten Vorlesungsnachschrift über Hegels Philosophie des subjektiven Geistes heißt es in diesem Zusammenhang: »Fichte behauptet fälschlich der Geist als Wissen sei endlich, als Willen frei, es ist gerade umgekehrt als Intelligenz ist er frei, als praktischer Geist macht er sich endlich, macht sich zur einzelnen Wirklichkeit, die ein Anderes gegen sich hat. Der Gedanke ergeht sich in sich, hingegen der Wille […] hat ein Anderes gegen sich […] das ihm Widerstand leistet.«37 Hegel macht deutlich, daß erst der Wille als denkender bewußt handelt und sich ebensowohl auf die objektiven Verhältnisse bezieht, wie er in seiner Zwecksetzung durch sie bestimmt wird. Wo er dagegen nur seine partikulären Bedürfnisse zu befriedigen sucht, da gelangt er auch nur bis zum Genuß seiner selbst38, verwirklicht sich jedoch nicht als freier Wille im Verhältnis zu anderen freien Willen. Aus dem im Weiteren darzustellenden Entwicklungsgang des praktischen Geistes ergibt sich zugleich die Einteilung der Abhandlung über den praktischen Geist: Zunächst erscheint der Geist, wie auf jeder Stufe, in der Form der Unmittelbarkeit; er hat unmittelbar einzelne Inhalte und fühlt sich zwar als objektiv bestimmend, entbehrt allerdings noch des wahrhaft objektiven Inhalts und ist daher auch erst an sich frei (praktisches Gefühl). Erst in Gestalt des Triebes geht der Wille tatsächlich dazu fort, seine innerliche Bestimmtheit als eine solche zu setzen, die verwirklicht werden soll. Der Wille auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen und triebhaft gesetzten Bestimmungen zu wählen, ist die Willkür. Erst der »wirkliche freie Wille« hat alle Einseitigkeit und Beschränktheit seiner praktischen Zwecke überwunden; er hat nunmehr allgemeine Bestimmungen zu seinem Zweck, was daraus resultiert, daß er sich selber denkt.39

zu Hobbes – Freiheit als eine ursprünglich vorhandene und schrankenlose, etwa in einem ›Naturzustand‹ vorgestellte Qualität des Willens gedacht wird, die erst nachträglich, beim Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand, eingeschränkt würde. Ein solcher Begriff einer zunächst schrankenlosen Freiheit ist für Hegel jedoch nichts als eine unwahre Abstraktion – und zudem mit bedenklichen Nebenwirkungen, weil sie das rechtlich geregelte menschliche Zusammenleben als einen defizienten Zustand erscheinen läßt. Hegel hingegen denkt Freiheit stets als das Verhältnis freier Willen zu einander«. (Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 369.) 37 GW 25,1. 491. 38 Vgl. Enzyklopädie § 469 Z. 39 Vgl. ebd. § 481.

Leiden an der Differenz: das praktische Gefühl

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3.2 Leiden an der Differenz: das praktische Gefühl Das praktische Gefühl, so führt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes aus, ist die unmittelbare Weise der Selbstbestimmung des einzelnen Geistes, welcher innerlich sich selbst bestimmend »findet«40. Der praktische Geist auf dieser Stufe der Unmittelbarkeit ist jedoch nicht mehr reine Unmittelbarkeit, sondern »einfache beziehung auf sich«41. Der Geist findet sich in einem Sein, welches ein von ihm selbst Hervorzubringendes ist; d. h. auch die Unmittelbarkeit gefühlter Willensbestimmungen ist nicht eine bloß vorgefundene, sondern eine von ihm selbst gesetzte. Sie »ist also ein Dasein, aber ein dasein durch Freiheit«42. Das praktische Gefühl ist demnach das »erste Wissen« seiner im Innern gesetzten Bestimmungen; es ist das »Wissen daß es das Seinige ist«43 und damit die elementarste − und daher abstrakteste − Form der Selbstbestimmung. Der Inhalt dieser natürlichen Bestimmungen ist auf dieser Stufe der Entwicklung des Willens weiter noch nicht bestimmbar als nur erst in Bezug auf das subjektive Gefühl. Damit sich das Gefühl in seinem objektiven Gehalt erweisen kann, muß der Geist diesen Inhalt objektivieren; d. h. dieser Inhalt in seiner »Wahrhaftigkeit« erschließt sich nicht in äußerer Reflexion, sondern einzig in seiner objektivierten Gestalt, in welcher es die Form subjektiver Unmittelbarkeit abgestreift hat. Als ein wesentliches Charakteristikum des praktischen Gefühls gibt Hegel ein »gedoppeltes Sollen« an, welchem der Wille hier unterworfen ist: Insofern er noch unmittelbarer Wille ist, ergibt sich erstens der Widerspruch zwischen der unmittelbar in ihm gesetzten Bestimmtheit (dem Zustand) und dem Dasein. Zweitens aber ergibt sich für das praktische Gefühl ein Sollen dadurch, daß die noch sinnlich-unmittelbare Willensbestimmung am Begriff des Willens gemessen oder »in die Allgemeinheit des Denkens erhoben« wird.44 Diese Allgemeinheit des Denkens ist daher »an sich das Sollen« gegen jene unmittelbare Form der Selbstbestimmung. Durch dieses zweifache Sol-

40

GW 25,1. 532. GW 25,2. 887. 42 Ebd. 43 GW 25,1. 533. 44 Enzyklopädie § 470. Auch für die Sphäre des Moralischen als eines Reflexionsverhältnisses besteht ein gedoppeltes Sollen insofern, als auch der moralische Wille »noch nicht als identisch mit dem Begriffe des Willens gesetzt ist«; so ist die Sphäre der Moralität als ganze wiederum nur erst der Standpunkt »der Differenz, Endlichkeit und Erscheinung des Willens.« (GPR § 108) 41

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

len ist zugleich die Dynamik vorgegeben, aufgrund derer sich der Wille von seiner ansichseienden zur fürsichseienden Freiheit entwickelt.45 Als Beispiele für das praktische Gefühl nennt Hegel Schmerz, Scham und (die dem Schuldgefühl verwandte) Reue; alle diese Gefühle sind für Hegel einzig dadurch zu erklären, daß eine konkrete Bestimmung auf ein Sollen als Maßstab bezogen wird – gemeint ist also das Sollen in jenem eben angeführten zweiten Sinne −, anhand dessen sie beurteilt wird. D. h. diese Gefühle zeichnen sich dadurch aus, daß es sich in ihnen immer schon um »ein implizit urteilendes Wissen handeln muß, also eines das Denken erfordert, und nicht nur um ein anthropologisches oder phänomenologisches Affiziertsein«46. Insbesondere solche Gefühle wie Reue oder Scham verweisen auf ihre Grundlage im Sittlichen als einem An-und-für-sich-Bestimmten.47 Es sind Gefühle, die das Subjekt nicht schlechthin erleidet, sondern deren Hervorgehen dessen vielleicht unbewußte, aber doch willentliche Tätigkeit miteinschließt; sie bedürfen der implizit oder explizit vollzogenen Einsicht in sittliche Zusammenhänge.48 In dieser Diskrepanz zwischen dem Selbstgefühl des natürlichen Willens und der ihm äußerlichen Bestimmtheit sieht Hegel zugleich die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt, also der alten Theodizee-Frage: Das Übel (das sich hier auf das malum physicum beschränkt) ist auf diesem Standpunkt die Unangemessenheit des Seins und des Sollens; das Leiden an der Differenz zwischen den unmittelbaren subjektiven Bedürfnissen und der Beschaffenheit der Welt. In diesem Leiden drücken sich die unendlich mannigfachen praktischen Bedürfnisse, Zwecke und im weitesten 45

Aus der Sicht von Adriaan Peperzak stellt Hegel in seiner Philosophie des subjektiven Geistes eine Fundamentalethik dar. ›Fundamentalethik‹ deswegen, weil die Entwicklung des subjektiven Geistes Peperzak zufolge in einer bloß abstrakten Freiheit gipfelt. (Adriaan Peperzak: Zur Hegelschen Ethik. – In: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Herausgegeben von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart 1982. 103–131; hier 130.) Peperzak will die hier diskutierte doppelte Sollensstruktur als eine Kritik Hegels an der praktischen Philosophie Kants verstanden wissen, da Kant nur eine Dimension des Sollens anerkenne, und diese gehe vom Vernunftgesetz aus; Hegel hingegen stelle mit seinem Hinweis auf jene doppelte Sollensstruktur die Forderung auf, daß die Verwirklichung des vernünftigen, freien Willens »in allen praktischen Sphären, also auch im Gefühl, Trieb etc. vollzogen werde«. (So kommentiert Dirk Stederoth Peperzaks Behauptung: Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar. Berlin 2001. 388.) 46 Jens Rometsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes. Würzburg 2007. 234. 47 Vgl. Enzyklopädie § 472 Z. 48 Vgl. Jens Rometsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. A. a.O. 235.

Leiden an der Differenz: das praktische Gefühl

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Sinne auch die ›Weltanschauungen‹ der Menschen aus, denen die Sphäre der Objektivität (unversöhnlich) gegenübersteht. Diese macht sich gegen all die partikulären Ansichten und Bedürfnisse − aus Hegels Sicht auch durchaus nicht zu Unrecht – geltend und stellt ihnen gegenüber das Allgemeine dar; so betrachtet, sind es dann jene zufälligen Bedürfnisse und subjektiven Forderungen selbst, die für sich genommen das Übel darstellen, welches sie beklagen. Der Grund für das so verstandene Übel in der Welt ist also für Hegel der alles Geistige durchwaltende Widerspruch, die dem Geist innewohnende Negativität, die ein Sollen hervorbringt, an dem das Subjekt leidet und den es tätig immer wieder aufs Neue zu überwinden sucht – wobei deutlich wird, daß ›Tun‹ und ›Leiden‹ in einer notwendigen Beziehung stehen. Dieses ›Leiden an der Differenz‹ – verstanden als das Sollen im vorhin erwähnten erstgenannten Sinne − soll das Subjekt jedoch, insofern es Geist ist, nicht einfach über sich ergehen lassen, sondern es soll und kann den Widerspruch ertragen; d. h. es kann ihn in sich in gewisser Weise zu einem Ausgleich bringen. Anders formuliert: Wer an dem Urteil, der Differenz, dem Sollen und der Negativität als dem Letzten festhält, gelangt nicht zu der Erkenntnis, daß allem Verhältnis von Sein und Sollen letztlich die (in sich differente) Einheit des Begriffs zugrundeliegt – und alle Wirklichkeit ist für Hegel (was an dieser Stelle nur antizipiert werden kann) begrifflich verfaßt.49 Das praktische Gefühl – in welchem der Wille als »in seiner innerlichen Natur bestimmte Einzelnheit«50 erscheint − urteilt in erster Linie anhand der Parameter des Angenehmen und Unangenehmen, welche für ihn das Kriterium dessen darstellen, inwiefern das von außen an ihn kommende Bestimmtsein mit seinem, durch seine eigene Natur gesetzten Bestimmtsein übereinstimmt, wobei letzteres die Bedeutung dessen hat, was sein soll.51 Aber nicht jedes praktische Gefühl läßt sich auf die sinnliche Unmittelbarkeit zurückführen. Das Gefühl, und hier wird Hegels Kritik an solchen Positionen deutlich, in denen dieses als der letzte und höchste Standpunkt behauptet wird52, vermag vielmehr jeden beliebigen Inhalt in sich aufzuneh49

Übrigens ist mit Blick auf das oben Gesagte an einen Aphorismus Franz Kafkas zu erinnern, in dem es heißt: »Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.« Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Max Brod. Frankfurt a.M. 1993. 39 (aus der von Brod so bezeichneten Aphorismensammlung Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, Nr. 97). 50 Enzyklopädie § 471. 51 Vgl. ebd. § 472 Z. 52 So polemisiert Hegel in der Vorrede zu den Grundlinien etwa gegen Fries, dem He-

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

men, so auch Inhalte, die der Anschauung, der Vorstellung oder dem Denken entspringen. Mit aller Entschiedenheit weist Hegel aufgrund der Gleichgültigkeit der Form des Gefühls gegenüber seinem Inhalt auch jeden Versuch zurück, die allgemeine Bestimmung von Recht und Pflicht dem ›Gefühl‹ oder dem ›Herzen‹ zu überantworten. Wenngleich der Inhalt auch ein allgemeiner und vernünftiger sein mag, so wird er doch durch die Form des Gefühls gerade seiner Allgemeinheit beraubt; und wenngleich das Gefühl die »unmittelbare, gleichsam präsenteste Form [ist], in der sich das Subjekt zu einem gegebenen Inhalte verhält«53, so ist es doch im Vergleich zu der Komplexität rein gedachter Inhalte defizitär. Im Gegenteil wird das Gefühl erst dadurch, daß es gebildet oder kultiviert und sein Inhalt gedacht und in der Form des Urteils ausgedrückt wird, zur Objektivität erhoben; zu solcher Objektivität erhoben kann es dann wieder zum Inhalt eines Gefühls werden. Insofern das Gefühl einen gedachten Inhalt hat, der mit der Objektivität von Recht und Sitte als den »Selbstbestimmungen des Geistes in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit«54 übereinstimmt, haben wir es mit einem »gute[n] praktischen Gefühl«55 und einem entsprechend guten Willen zu tun. In der Nachschrift Stolzenberg heißt es in diesem Zusammenhang: »Der Mensch handelt nicht nach Instinct, er muß wissen, was er will, muß ein bewußtsein davon haben, und nur so in dieser Form der Allgemeinheit ist das Herz ein reines.«56 Das »böse Herz« dagegen »ist eben das, was mir eigenthümlich ist in der Unterschiedenheit von der Objectivität des Willens.«57 Außerdem betont Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes in diesem Zusammenhang, daß die Objektivierung jener praktischen Gefühle in einem besonnenen Maß einer ohnehin zirkulären Introspektion unbedingt vorzuziehen sei; weder solle man versuchen, einem anderen Menschen ›in sein Herz zu sehen‹, noch solle der Mensch dies selbst tun, denn: »Dieses sich ins Herz sehn macht verrükkt.«58 Denn es gibt kein Inneres, das sich als ein solches unabhängig von seiner Äußerung bestimmen ließe. Hegel sagt damit also keineswegs, daß das Gefühl in praktisch-ethischer Hinsicht keine Rolle spielt, sondern es ist im Gegenteil dem Menschen natürgel vorwirft, er wolle die Prinzipien von Recht und Sittlichkeit dem »Brey des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung« entnehmen. Eine solche Position kann nur ein abstraktes Sollen etablieren, das der subjektiven Zufälligkeit und Willkür verhaftet bleibt (vgl. GW 14,1. 10). 53 Enzyklopädie § 447 Anm. 54 Ebd. § 471 Anm. 55 Ebd. 56 GW 25,2. 895. 57 Ebd. 898. 58 Ebd. 899.

Zur Genese selbstbestimmten Handelns: Trieb und Willkür

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lich, zunächst in der Form des unmittelbaren Selbstgefühls auf einen gegebenen Inhalt zu reagieren – aber das Gefühl ist stets nach Maßgabe des objektiven Inhalts zu beurteilen, den es auf seine Weise zum Ausdruck bringt. Und nur indem sich im Gefühl oder im Selbstgefühl gedachte, objektiv gute Inhalte artikulieren, schließt sich der Mensch mit sich selbst und mit anderen zusammen, denn das Gefühl als bloß partikulärer und in die Subjektivität des Fühlenden eingeschlossener Inhalt vereinzelt den Menschen. Und ein ›wirklicher freier Wille‹, wie Hegel ihn am Ende seiner Lehre vom subjektiven Geist entfaltet, muß auch sein Selbstgefühl auf diese Weise gebildet haben, denn sonst bleibt ihm immer ein nicht überwundener Rest unmittelbarer Bestimmtheit und damit Unfreiheit. Oder anders formuliert: Für Hegel ist es keine Option, daß das Gefühl gegen den Verstand ausgespielt wird oder umgekehrt – genauso wenig, wie Hegel zufolge Wille und Erkennen auf zwei strikt voneinander zu trennende Vermögen (ein voluntatives und ein intellektuelles) zurückzuführen sein können, sondern in jedem psychischen Akt als wechselseitig aufeinander bezogene Momente gedacht werden müssen. Das Prinzip, »mit Abscheu zu thun was die Pflicht gebeut«59, kann (jedenfalls auf längere Dauer) dem Menschen weder genügen noch ihm zuzumuten sein; es ist vielmehr Ausdruck bloß abstrakter Reflexion, welche die Entgegensetzung zwischen allgemein gedachtem Inhalt (Pflicht) und dem, was das Subjekt für sich selbst fordert, nicht zu überwinden vermag. Worauf es für Hegel also ankommt, ist der Nachweis dessen, daß »im Menschen nur Eine Vernunft, im Gefühl, Wollen und Denken ist.«60 Gegen das Allgemeine festgehalten, erscheint ein besonderer Inhalt für Hegel dagegen als das Böse.

3.3 Zur Genese selbstbestimmten Handelns: Trieb und Willkür Der seinen Trieben und Neigungen folgende natürliche Wille ist »praktische[s] Sollen« und als solches »reelles Urteil«61. Letzteres ist so zu verstehen, daß die Unmittelbarkeit des Gefühls für die Selbstbestimmung des Willens eine Negation darstellt; diese Unmittelbarkeit macht daher die bloße Subjektivität des Willens aus, welche überwunden bzw. aufgehoben werden muß, wo der Wille, seinem Begriff gemäß, für sich frei sein will.62 Dies mag zunächst paradox erscheinen: Der Wille muß seine Subjektivität überwinden, um »für

59 60 61 62

GPR § 124 Anm. Enzyklopädie § 471 Anm. Ebd. § 473. Vgl. GW 25,1. 537.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

sich identisch«63 zu sein. Subjektivität ist hier folglich im Sinne einer Einseitigkeit aufzufassen, die als Gegensatz zur Sphäre der Objektivität vorgestellt wird und in der der Wille gerade nicht bei sich und frei ist. Die Objektivität, durch welche das Subjekt hier affiziert wird, ist zunächst einmal noch nicht durch das Subjekt selbst geschweige denn objektiv gesetzt. Der natürliche Wille ist noch unmittelbar identisch mit seiner durch ein Äußeres gegebenen Bestimmtheit, welche er in Übereinstimmung zu seinem Gefühl bringen will; es geht demnach hier um nichts mehr als um die »abstrakte Zusammenstimmung mit meinem subjektiven Gefühl«64 nach Maßgabe der Parameter des Unangenehmen oder Angenehmen. Der natürliche Wille ist demnach »unfreie Notwendigkeit«65, wenngleich die ihn bestimmenden Triebe durchaus die vernünftige Natur des Geistes zu ihrer substantiellen Grundlage haben. Aber insofern der Wille auch dort, wo er sich noch durch objektive Bedingungen bestimmt findet, intelligenter Wille ist – und die Intelligenz sich selbst als das Allgemeine und ihren Gedanken als die Sache weiß66 –, muß er dazu fortschreiten, die Objektivität als ein Moment seiner Selbstbestimmung zu setzen; dies leisten nun die Triebe. Denn der Trieb ist eine »immanente Bestimmung die auch objektiv sein soll«67; er ist immanentes oder sich selbst vollbringendes Drängen auf die Veränderung des äußerlichen Daseins gemäß der inneren Bestimmtheit des Subjekts. Wenngleich die Triebe zweifellos dem subjektiven, einzelnen Willen angehören und sowohl ihr Drängen als auch die Weise ihrer Befriedigung mit Zufälligkeit behaftet sind (und in der ›Leidenschaft‹ als ein solcher partikulärer Inhalt erscheinen, in den der Geist vollkommen versenkt ist), hebt Hegel doch mit allem Nachdruck ihre Vernunftstruktur hervor. Der Ansatz, den Hegel wählt, setzt damit nicht den Trieb als eine selbständige Naturbestimmtheit und damit als das ganz Andere des Geistes voraus – wie die Natur überhaupt für Hegel nicht ein dem Geist Entgegengesetztes ist, sondern immer dasjenige, zu welchem der Geist in einem Vermittlungsverhältnis steht. Die Triebe sind für Hegel ein Moment der »wollenden Intelligenz«68, durch welche sie ihrer subjektiven Willensbestimmung selbst Objektivität zu verleihen imstande ist.69 Die formelle Vernünftigkeit der Triebe besteht 63

Ebd. Ebd. 536. 65 Enzyklopädie § 474. 66 Vgl. ebd. § 465. 67 Ebd. 68 Ebd. § 473 Z. 69 Insofern ist der Trieb auch von der Begierde zu unterscheiden, denn diese, da sie dem Standpunkt des Selbstbewußtseins angehört, vermag den Gegensatz zwischen Sub64

Zur Genese selbstbestimmten Handelns: Trieb und Willkür

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genauer darin, »allgemeiner Trieb« zu sein; darin, daß in ihnen nicht nur ein subjektives oder vereinzeltes Bedürfnis sich geltend macht, sondern daß sie an sich selbst die Tätigkeit des Subjekts darstellen, die Subjektivität des Triebes dadurch aufzuheben, daß sie befriedigt werden. Trieb und Leidenschaft sind damit die »Lebendigkeit des Subjekts«, »nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist.«70 Auf dieser Ebene elementarer Triebbefriedigung geht es also bereits − wie auch später, in Hegels Lehre von der Handlung, die er im Moralitätskapitel der Grundlinien entfaltet – darum, daß sich das Individuum, das sein konkretes Bedürfnis zu einem praktischen Zweck macht und verwirklicht, sich in der Objektivität seines Tuns mit sich zusammenschließt und sich dadurch (am Leben) erhält. Die den Trieben innewohnende Vernunftstruktur erschließt sich daher auch nicht in äußerlicher Reflexion auf den Trieb als solchen, denn in solcher Reflexion ist er vielmehr als selbständig vorausgesetzt, wodurch zugleich der Schein einer Entgegensetzung natürlicher Triebe und rationaler Willensbestimmungen erzeugt wird. Die immanente Vernunft natürlicher Neigungen und Triebe kann sich Hegel zufolge vielmehr einzig in der »immanente[n] Reflexion des Geistes selbst«71 erweisen, in welcher die Triebe als Momente selbstbestimmter Zwecktätigkeit betrachtet werden. In dieser selbstbestimmten und hier noch ganz elementaren Zwecktätigkeit werden die besonderen Bedürfnisse des Individuums für dasselbe und damit zu seinem Gegenstand und Zweck. Die Vernunft erscheint an den Trieben erst dann, wenn ihr Inhalt nicht nur natürlicherweise gegeben, sondern auch vom Geist selbst gewollt, gefordert und verwirklicht wird.72 »Diese Objektivierung ist es denn, welche ihren Gehalt, sowie ihr Verhältnis zueinander, überhaupt ihre Wahrheit aufzeigt«73. Und ihre wahrhafte Objektivierung erhalten sie erst dort, wo sie als Inhalte von Selbstbestimmung zu »notwendige[n] Verhältnisse[n], Rechte[n] und Pflichte[n]« entwickelt sind.74 jektivität und Objektivität in Hegels Augen noch nicht zu überwinden. Die Begierde ist gegenüber dem Trieb lediglich »etwas Einzelnes und sucht nur das Einzelne zu einer einzelnen, augenblicklichen Befriedigung.« (Enzyklopädie § 473 Z) Der Trieb hingegen geht von dem aufgehobenen Gegensatz zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven aus und umfaßt eine Reihe von Befriedigungen, die auf ein Ganzes oder Allgemeines ausgerichtet sind (vgl. ebd.). 70 Enzyklopädie § 475 Anm. 71 Ebd. § 474 Anm. 72 Vgl. Adriaan Peperzak: Zur Hegelschen Ethik. A. a.O. 129. 73 Enzyklopädie § 474 Anm. 74 Insofern ist aus Hegels Sicht die Entweder-Oder-Frage, ob die Triebe und Leidenschaften von Natur aus gut oder böse seien, nur Ausdruck abstrakter Rationalität. Denn da sich in ihnen auf dieser Stufe der Entwicklung des Geistes nur erst das »lebendige

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

Hegel bestimmt das Subjekt in diesem Zusammenhang als »die Tätigkeit der Befriedigung der Triebe«75 im Sinne der Übersetzung des Zwecks aus seiner Subjektivität in die Objektivität; indem die natürliche Bestimmtheit vom Subjekt in und von ihm selbst als seine eigene gesetzt wird, verwandelt sie sich in einen praktischen Zweck. Ist dieser zur Ausführung gelangt, schließt sich das Subjekt in der seinem Zweck gemäßen Objektivität mit sich selbst zusammen. Es ist das »Interesse« des Subjekts, sich in seiner subjektiven Einzelheit im Resultat seiner Handlung zu finden. Es ist auffallend, daß Hegel die Handlung in diesem Zusammenhang in einem doppelten Sinne bestimmt: Sie bezeichnet nämlich einerseits den subjektiven Zweck und andererseits die zweckmäßige Tätigkeit.76 Die Handlung wird hier von Hegel also nicht allein im Sinne der Übersetzung subjektiver Zwecke in die Objektivität aufgefaßt, sondern als Handlung gilt ihm vielmehr bereits der Akt individueller Selbstbestimmung des Willens, das zur Tätigkeit drängende Zwecksetzen im Innern. (So ist ja auch der ›Vorsatz‹, allerdings im Sinne elementarer Zwecktätigkeit, bereits ein konstitutives Moment der moralischen Handlung.) Allein auf diese Weise ist auch zu erklären, warum Hegel die Tätigkeit der Befriedigung der Bedürfnisse abhandelt, bevor er die Bedeutung des reflektierenden Willens und der Willkür darlegt.77 Wenn es auch den Anschein haben mag, daß jener reflektierende Wille eben gerade nicht tätig, sondern nur wählend ist und daß er sich zwar zu einer Mehrzahl von Trieben und natürlichen Neigungen verhält und unter ihnen die zu befriedigende auswählt, sich aber nicht auch schon entschließt, macht Hegel doch entgegen einer solchen Auffassung von einer passiven Art willentlicher Tätigkeit der Reflexion und der Wahl deutlich, daß auch die spezifische Form der TätigInteresse« des Subjekts artikuliert, sind sie in ihrem allgemeinen Gehalt noch gar nicht bestimmbar. Und so heißt es: »Die Neigungen und Triebe sind im Ganzen gut, denn sie sind gegründet in der Natur des Geistes, ebenso sind sie böse, weil sie noch nicht durch den denkenden Geist zu wahrhaften Bestimmungen erhoben sind. Der Mensch ist von Natur böse, denn als natürlich zu sein ist das Geistlose, dieß ist das was dem Geiste auf das Höchste zuwider ist, was seine höchste Sünde ist, so ist der Mensch von Natur böse, das ist sein höchstes Verbrechen nur ein Natürliches, nicht durch seine Freiheit Bestimmtes, ein Geistiges zu sein.« (GW 25,1. 538) Für Hegel ist es nichts weiter als ein Ausdruck »heuchlerische[r] Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht.« (Enzyklopädie § 474 Anm.) Insofern bemerkt er, daß die Alternative, ob man den Menschen für von Natur aus gut oder schlecht hält, wiederum auf den Standpunkt subjektiver Willkür verweist (vgl. GPR § 18). Da Triebe und Leidenschaften Hegel zufolge jedoch an sich vernünftig sind, lassen sie sich auch in eine vernünftige Rechts- und Pflichtenlehre integrieren. 75 Enzyklopädie § 475. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. ebd. § 476.

Zur Genese selbstbestimmten Handelns: Trieb und Willkür

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keit des reflektierenden Willens als eine ›Handlung‹ zu verstehen ist, und zwar insofern, als durch die Reflexion in sich − als wesentliches Merkmal der ›Willkür‹ – im Innern des Subjekts bereits ein Akt der Objektivierung und des bewußten Setzens des subjektiv-besonderen Inhalts stattfindet. Abermals zeigt sich, wie unauflösbar das Denken und der Wille aus der Sicht Hegels aufeinander bezogen sind.78 Dieser Akt der inneren Objektivierung zunächst natürlich-besonderer Inhalte vollzieht sich auf folgende Weise: Indem der Wille unter den auf Befriedigung drängenden Trieben seine Wahl trifft, ist die Besonderheit der Triebe nicht mehr eine unmittelbare für ihn. Indem der Wille auf sie reflektiert, stellt er sich »als einfache Subjektivität des Denkens über deren mannigfaltigen Inhalt«79. Indem der Wille dann tatsächlich wählt, setzt er eine unmittelbare Besonderheit in Gestalt des Triebes als die seinige.80 In solcher Wahl schließt sich der Wille zugleich zur Wirklichkeit auf. Der Wille als Willkür, der zwischen noch weitgehend natürlichen Willensbestimmungen wählt, ist nunmehr »für sich frei«, da er sich gegen seine eigene Besonderheit negativ verhält. Damit trägt die Willkür – wenngleich sie aus Hegels Sicht, wie wir gleich sehen werden, keineswegs als die höchste Form der Willensfreiheit aufzufassen ist – doch ein wesentliches Merkmal des Geistes überhaupt, nämlich die negative Selbstbezüglichkeit. Daher ist in der Willkür beides enthalten: Abstraktion von allem Inhalt und zugleich Abhängigkeit von dem gegebenen Inhalt oder Stoff.81 Wenngleich sich die Willkür auf diese Weise also »zur Wirklichkeit beschließt«82, ist der Inhalt ihrer Bestimmungen doch subjektiv und zufällig. Die Willkür ist demnach der Standpunkt

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Während ich dazu neige, einen umfassenden Willkür-Begriff zugrundezulegen, dessen eines Moment das Reflektieren des Willens auf seine natürlichen Bestimmungen und dessen anderes Moment der Akt des Wählens und Entschließens darstellt, stellt Dirk Stederoth in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, Hegel bringe in den hier diskutierten Paragraphen der Enzyklopädie gleich zwei »Willkür-Stellungen« in Anschlag; der »untere Rand« bezeichne den ›reflektierenden Willen‹, der noch vornehmlich im Sinne »reiner Willkür« aufzufassen sei, da der reflektierende Wille in seiner Wahl noch in keiner Weise gerichtet sei. Erst die »bestimmte Willkür« unterliege in ihrer Wahl der Vorstellung der Glückseligkeit. Damit sei sie jedoch in gewisser Weise auch nicht mehr als ›Willkür‹ aufzufassen, denn sie richtet sich ja auf einen allgemeinen Zweck; mit der Sphäre der objektiven Vernunft verglichen, behält sie ihre Charakteristik als Willkür allerdings, denn sie entbehrt zweifellos objektiv-allgemeiner Bestimmungen. (Vgl. Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. A. a.O. 390 f.) 79 Enzyklopädie § 476. 80 Vgl. ebd. § 477. 81 Vgl. Ilting, Bd. 4. 131. 82 Enzyklopädie § 478.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

der Reflexion, der »Vermischung von Freiheit und Unfreiheit.«83 Die sich in der Willkür manifestierende Reflexion ist ebenso nur erst »formelle Allgemeinheit und Einheit des Selbstbewußtseyns«, sie ist »abstracte Gewißheit des Willens von seiner Freyheit«84, aber sie ist noch nicht der Wille in seiner Wahrheit als dasjenige, was sich selbst, also ein Geistiges, zum Inhalt und Zweck hat. Die Willkür ist daher auch nur »formale Selbstthätigkeit«, da sie zwar das »formelle Element der freyen Selbstbestimmung« in sich enthält, sich jedoch nur auf einen unmittelbar vorgefundenen, natürlichen Inhalt bezieht. Das Manko, das dem Willen als Willkür anhaftet, ist demnach nicht, daß er unter bestimmten Determinanten nach Maßgabe noch zu klärender Kriterien wählt (denn in dieser Wahl verhält er sich denkend) und schließlich eine von ihnen als seine innere Bestimmtheit, seinen Zweck setzt (denn dies ist Manifestation seiner Selbstbestimmung qua Denken), sondern es ist der spezifische Inhalt dessen, was den Willen hier bestimmt, insofern dieser der Sphäre der Natürlichkeit verhaftet bleibt. Der Willkür wohnt also der Widerspruch inne, daß sich der Wille nur in einem Besonderen verwirklichen kann, über welches er der Form nach (welche negative Selbstbezüglichkeit ist) jedoch bereits hinaus ist. Es ist die »Dialektik der Triebe und Neigungen«, daß sie sich gegenseitig stören und die Befriedigung des einen Triebes die Aufopferung des anderen erfordert. Die Befriedigung der Triebe ist daher unmittelbar ebenso keine; die Folge ist eine ›schlechte Unendlichkeit‹ der Triebbefriedigung. Dem denkenden Willen kann dies freilich nicht genügen, er sucht nach einer allgemeinen Weise der Befriedigung. Der Widerspruch, der hier noch das wesentliche Merkmal des Willens ist, ist also der Widerspruch des Willens mit seiner eigenen Bestimmung; dieser Widerspruch wird solange nicht zu einer Auflösung gebracht, wie sich der Wille in seinen Objektivationen nicht vollständig wiedererkennt. Insofern ist an dieser Stelle auf die enge Verwandtschaft zwischen dieser Stufe des Willens als Willkür (und damit als Selbstwiderspruch des Willens) und der Sphäre der Moralität im objektiven Geist hinzuweisen, denn beide stellen die Sphäre der Reflexion dar, die notwendig in den Widerspruch und zugleich über ihn hinaus treibt. Das moralische Subjekt muß die Erfahrung machen, daß es sich von seinen subjektiven Bestimmungen in dem Moment, in dem es sie als objektive setzt, insofern entfremdet, als sie zu einem Bestandteil der Objektivität werden. Es versucht also, einen spezifischen Teil aus der Objektivität seiner Handlung heraus zu reflektieren, den es in Übereinstimmung mit seinem Vorsatz und seiner Absicht weiß; das, was es als seinen Zweck auf eine für es 83 84

Ilting, Bd. 4. 131. GPR § 15 Anm.

Gewohnheit und Triebökonomie

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befriedigende Weise objektiviert, macht den Wert aus, den die Handlung für das Subjekt hat. Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß sich der Wille in Gestalt der Willkür lediglich als zwischen seinen entweder physisch bedingten (natürlicher Wille) oder zwischen anderen unmittelbar gegebenen Bestimmungen wählend zeigt; da er auf diese Weise aber dem Inhalt nach seinen natürlichen oder auf andere Weise gegebenen Bestimmungen noch weitgehend verpflichtet bleibt, kann Willensfreiheit in einem emphatischen Sinne auf dieser Stufe der Entwicklung des Willens – obgleich er hier durchaus schon ›für sich frei‹ ist − noch nicht gegeben sein.85 Was ›wahr‹ ist, ist nichts weiter als daß sich der zunächst reflektierende und dann wählende Wille als das Bestimmende auch des Inhalts glaubt. Der Wille ist jedoch für Hegel erst dort vollgültig wirklicher und freier Wille, wo er seine Bestimmungen idealisiert, d. h. dort, wo er in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr aus der ihm fremden Bestimmung in sich selbst ist.86

3.4 Gewohnheit und Triebökonomie Zunächst erwächst aus dem genannten Widerspruch des Willens als Willkür, daß der Wille als denkender seine Verwirklichung nur in einer sinnlichen Besonderheit erlangt, die Vorstellung einer allgemeinen Weise der Triebbefriedigung. Mit solch einer allgemeinen Vorstellung der Triebbefriedigung als einem Ganzen verbindet Hegel auch die Forderung nach einer vernunftgemäßen »Reinigung der Triebe«87. In der Hierarchisierung und Ordnung der Triebe auf eine allgemeine Vorstellung hin werden sie von ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit befreit »und auf ihr substantielles Wesen zurückgeführt«, oder sie werden dadurch in die ihnen immanente Allgemeinheit erhoben, daß sich das Subjekt ihrer denkend bemächtigt, wobei es sich hier um das »im Willen sich durchsetzende Denken«88 handelt. Jene Forderung nach einer ›Reinigung der Triebe‹ bleibt jedoch solange unbestimmt, wie

85

Vgl. ebd. Vgl. ebd. § 7 Anm. Diese Reduktion der Freiheit auf Willkür kritisiert Hegel in der Einleitung zu den Grundlinien: Die Freiheit des Willens von ihrer bloß formellen Seite der Willkür aus betrachtet, ist die »Freiheit in aller Reflexionsphilosophie, wie in der Kantischen und dann der Friesischen vollendeten Verseichtigung der Kantischen […]«; diese ist für Hegel lediglich »formale Selbstthätigkeit« (GPR § 15 Anm.) im oben angesprochenen Sinne. 87 GPR § 19. 88 Ebd. § 21 Anm. 86

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

die Triebe in ihrer Selbständigkeit gegeneinander und als prinzipiell unvernünftig betrachtet werden. Für Hegel sind sie jedoch, wie bereits erwähnt, vielmehr als »das vernünftige System der Willensbestimmung« aufzufassen; diese Ableitung der Triebe aus dem Begriff der Freiheit oder ihre Systematisierung mit Blick auf den Willen ist Hegel zufolge »der Inhalt der Wissenschaft des Rechts.«89 Die »Wahrheit der besonderen Befriedigungen«, so fährt er an der vorhin genannten Stelle der Enzyklopädie fort, »ist die allgemeine [Weise der Befriedigung], die der denkende Wille als Glückseligkeit sich zum Zwecke macht.«90 Diese Forderung nach einer allgemeinen Weise der Triebbefriedigung kann sich aber überhaupt nur deswegen artikulieren, weil der Geist hinsichtlich der Befreiung von seiner Natürlichkeit nunmehr so weit fortgeschritten ist, daß er nicht mehr vollkommen abhängig von ihr ist, sondern vielmehr dazu übergeht, die Befriedigung seiner partikulären Bedürfnisse im Rahmen einer individuellen ökonomischen Struktur zu bewerkstelligen (um schließlich auf gesellschaftlicher Ebene wiederum zur Organisation eines ›Systems der Bedürfnisse‹ zu gelangen). Im Zusammenhang der vorliegenden Fragestellung, wie sich im Ausgang von Hegels Wissenschaft vom subjektiven Geist die Genese einer schuldfähigen Subjektivität beschreiben läßt, kommt dem Moment der Gewohnheit – die Hegel als eine anthropologische Bestimmung behandelt − hinsichtlich der seelisch-geistigen Tätigkeit der Distanznahme gegenüber den eigenen natürlichen Trieben und Bedürfnissen eine wesentliche Bedeutung zu. Denn in der Gewohnheit setzt sich »das Selbst« oder die Seele – die in ihrer untrennbaren Beziehung auf die Leiblichkeit der Gegenstand der Hegelschen ›Anthropologie‹ ist − als »für sich seiende Allgemeinheit«. Die Seele »bricht« hier mit ihrer Leiblichkeit, indem sie sich als »einfaches Sein«91 von dieser unterscheidet und »als ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit ist, wie sie in ihrem ansichseienden Begriff nur die Substanz derselben als solche war.«92 Das durch Wiederholung der Gefühlsbestimmungen und der damit verbundenen Erfahrung gesetzte Sein der Seele stellt gegenüber dem Natürlich-Besonderen, welches durch Gewohnheit in der Form der seelischen Einfachheit oder Idealität gesetzt wird, eine abstrakte Allgemeinheit dar. Die Gewohnheit leistet in dem hier darzustellenden Prozeß der Befreiung der Seele aus der Versunkenheit in die ihr eigene Natur ein Doppeltes: er-

89 90 91 92

Ebd. § 19. Enzyklopädie § 478. Ebd. § 409. Ebd.

Gewohnheit und Triebökonomie

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stens negiert sie die unmittelbare Empfindung hinsichtlich der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse durch ›Wiederholung‹, setzt diese Empfindung darin zugleich als gleichgültig, und zweitens hängt damit zusammen, daß Triebe und Begierden durch die gewohnheitsmäßige Befriedigung abgestumpft werden, wodurch sich das Subjekt auf vernünftige Weise von ihnen zu befreien lernt.93 Die Seele hat den Inhalt auf diese Weise in Besitz genommen und verhält sich auf eine Weise zu ihm, daß sie »in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist«. D. h. die Seele unterscheidet sich nicht bewußt von ihren natürlichen Bestimmungen, sondern bewegt sich in ihnen »empfindungs- und bewußtlos«94. Allerdings hat auch die Gewohnheit einen dialektischen Effekt: So ist es einerseits die »Gewohnheit des Lebens, welche den Tod herbeiführt oder, wenn ganz abstrakt, der Tod selbst«. Und zugleich ist die Gewohnheit als »zweite Natur« des Geistes – die von der Seele oder dem »Naturgeist«95 gesetzte Unmittelbarkeit − »der Existenz aller Geistigkeit im individuellen Subjekte das Wesentlichste, damit das Subjekt als konkrete Unmittelbarkeit, als seelische Idealität sei, damit der Inhalt, religiöser, moralischer usf., ihm als diesem Selbst, ihm als dieser Seele angehöre, weder in ihm bloß an sich (als Anlage), noch als vorübergehende Empfindung oder Vorstellung, noch als abstrakte, von Tun und Wirklichkeit abgeschiedene Innerlichkeit, sondern in seinem Sein sei.«96 Obgleich der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, macht sie ihn doch andererseits, so führt Hegel in seinen Vorlesungen zum subjektiven Geist aus, »zu ihrem Sklaven«97, d. h. – und bereits Aristoteles behandelt dieses Problem – einerseits ist er also nicht mehr in das konkrete Bedürfnis versenkt, andererseits prägen sich in der Gewohnheit (meist unbewußt und daher schlecht kontrollierbar) Verhaltensmuster und Denkhaltungen aus, die sein Handeln zweifellos determinieren.98 Hegel stellt jenen Bildungsprozeß der Seele von der Seite seiner Notwendigkeit dar, denn gelingt dieser Prozeß fortschreitender Gewöhnung und 93

Vgl. ebd. § 410 Anm. Ebd. § 410. 95 Ebd. § 387. 96 Ebd. § 410 Anm. 97 Ebd. § 410 Z. 98 Aristoteles unterscheidet in diesem Zusammenhang zweierlei: Während der Mensch über die Handlung von Anfang bis Ende Herr sei, da er von den einzelnen Stadien der Handlung ein Wissen habe, lasse eine einmal erworbene ›feste Grundhaltung‹ stets nur diejenigen Akte zu, aus denen sie sich herangebildet habe. Gleichwohl sei der Mensch Herr über den Ursprung jener gewohnheitsmäßig eingeübten Haltung; sie sind damit für Aristoteles etwas Freiwilliges, obgleich sie das Handeln determinieren. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Buch III, Kapitel 8. 94

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

Ökonomisierung der Triebe und ihrer Befriedigung nicht, so fällt die Seele in den Zustand der Verrücktheit, welche einen Widerspruch zwischen systematisierter Totalität und nicht einzuordnender Bestimmtheit darstellt.99 Dieser Prozeß − innerhalb dessen sich fortlaufend Triebe artikulieren, nach Befriedigung verlangen und Befriedigung erfahren, in der sich wiederum das Selbstgefühl des Individuums einstellt − gehört zunächst noch mehr »dem Lebendigen überhaupt an, nicht dem Geistigen.«100 Das Selbstgefühl stellt sich jedoch nicht allein über die Befriedigung eines vereinzelten Triebbedürfnisses her, sondern ist in der Erfahrung der fühlenden Subjektivität, die »Totalität alles Inhalts« zu sein, begründet. Weiter erhält auch die momentane Befriedigung physischer Bedürfnisse insofern eine Seite der Innerlichkeit, als jede Bedürfnisbefriedigung, nachdem sie zum ersten Mal stattgefunden hat, in der Erinnerung des Subjekts fortwirkt, durch die das Subjekt sich von dem Inhalt distanziert, durch den es affiziert wird. So verhält sich der Mensch in der Gewohnheit nicht mehr zu dem konkreten Inhalt, sondern vielmehr zu sich selbst.101 Aus dem bisher Gesagten erhellt, daß es Hegel sowohl in seiner Entwicklung der Bestimmungen des subjektiven Geistes, als auch im Übergang zum objektiven Geist, hinsichtlich der Moralität und der Sittlichkeit mit ihrer Pflichtenlehre, darum zu tun ist, das Individuum in seiner Einheit von Sinnen- und Vernunftwesen zu begründen. Daher läßt sich auch der Schluß ableiten, daß es Hegel hier weder um die Forderung nach Triebunterdrükkung oder einer asketischen Überwindung der Triebe, noch um eine Sublimierung der Triebe geht, sondern um ein physisch wie psychisch ausgeglichenes Verhältnis zwischen Bedürfnissen und ihrer jeweiligen Befriedigung. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Seele und Leib ist die Voraussetzung dafür, daß die Seele in ihrem Körper frei sein kann.102 Der Trieb als ein

99

Vgl. GW 25,1. 359 und 373 ff. Siehe dazu den Abschnitt 5.2.2 dieser Arbeit, in dem ich das Phänomen der Geisteskrankheit bzw. der seelischen Erkrankung aus der Sicht Hegels und mit Blick auf das Problem der Zurechnungsfähigkeit darstelle. 100 GW 25,1. 361. 101 Bei aller Kritik, die Hermann Drüe an Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, v. a. an dessen Bestimmung der sogenannten Geisteskrankheiten übt, würdigt er doch dessen systematische Behandlung der Gewohnheit. Dabei sei Hegels Urteil immer noch zuzustimmen, daß die Gewohnheit wenig erforscht sei. Positiv hervorzuheben ist also Drüe zufolge, daß der Mensch vermittels »ökonomischer Ritualisierung seine Fähigkeiten auf Neues richten kann, daß sie den seelischen Haushalt stabilisiert, daß sie insbesondere beim Bewegungslernen fundamental ist.« (Hermann Drüe: Die Philosophie des Geistes. – In: Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). A. a.O. 245.) 102 Vgl. Enzyklopädie § 410 Z.

Die Schuld des für sich freien Willens

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»Moment der Idee der Lebendigkeit«103 fordert sein Recht, welches ihm in einem festzulegenden Maß zuteil werden muß.

3.5 Die Schuld des für sich freien Willens In der Einleitung zu den Grundlinien weist Hegel den freien Willen als das Prinzip des Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit sowie als den Ausgangspunkt aller Abhandlung über das Recht aus.104 Das Rechtssystem ist damit das »Reich der verwirklichten Freyheit« − eine Welt des Geistes, die er aus sich selbst hervorgebracht hat und in der sich der je gewonnene Begriff von Freiheit manifestiert. In diesem Zusammenhang kritisiert Hegel im Übrigen einerseits auch solche Strategien zur Begründung der Freiheit des Willens, in denen der Wille als eine »Vorstellung« vorausgesetzt wird, um aus dieser ›Vorstellung‹ eine Definition des freien Willens abzuleiten.105 Andererseits weist Hegel auch das Verfahren der damaligen ›empirischen Psychologie‹ zurück, der gemäß aus den verschiedenen Erscheinungen und Empfindungen des Bewußtseins − wie etwa Reue oder das Gefühl der Schuld – der ›Beweis‹ für die Existenz des ›freien Willens‹ geführt werde.106 Nicht minder deutlich und mit Blick auf Fichte weist Hegel darüber hinaus auch den Versuch zu103

GW 25,1. 370. Vgl. GPR § 4. 105 Vgl. ebd. § 4 Anm. 106 Vgl. ebd. In der Einleitung zur enzyklopädischen Darstellung der Philosophie des Geistes distanziert sich Hegel einerseits von der sogenannten ›Pneumatologie‹ oder der ›rationellen Psychologie‹ und andererseits von der oben angesprochenen ›empirischen Psychologie‹ (vgl. Enzyklopädie § 378). Erstere, so wird in den ›Zusätzen‹ zu § 378 erläutert, betrachte den Geist nach Maßgabe abstrakt allgemeiner Bestimmungen, sie beschäftige sich »mit dem vermeintlich erscheinungslosen Wesen« oder dem »Ansich des Geistes«. Rationelle Psychologie bediene sich also bloßer Verstandeskategorien und behandle den Geist dabei »als ein Ding«, dessen Kategorien als ruhende aufgefaßt würden. Der Geist, so hält Hegel dieser Ansicht entgegen, ist aber kein Ding; er ist nicht »ein Ruhendes, sondern vielmehr das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit, das Negieren oder die Idealität aller festen Verstandesbestimmungen«. Gegen ein nur in äußerlicher Beziehung auf den Körper stehendes »Seelending« begründet Hegel auf spekulative Weise die Einheit von Leib und Seele. Was nun zum anderen die ›empirische Psychologie‹ angeht, so zielt Hegels Kritik darauf ab, daß auch sie es nicht zur Erkenntnis der »konkret allgemeinen Natur« des Geistes bringt, da sie den Geist in seine besonderen Vermögen zerlegt, so daß er als ein »bloße[s] Aggregat von selbständigen Kräften« erscheine. Die rationelle und die empirische Psychologie stellen damit für Hegel die beiden Extreme einer einseitigen Betrachtung des Geistes dar: Während erstere ein abstrakt Allgemeines zugrundelege, so letztere das für sich selbständige Einzelne; aufgrund dieses Mangels der Form ist die Konsequenz in beiden Fällen die »Entgeistigung des Inhalts«. 104

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

rück, die Freiheit des Willens bloß als eine ›Tatsache des Bewußtseins‹ aufzufassen, die nicht weiter deduziert werden, sondern nur unmittelbar ergriffen, also geglaubt werden könne. Für Hegel hingegen kann der Ausgangspunkt zur Begründung der Freiheit des Willens kein empirisches Phänomen sein, vielmehr ist der Maßstab der Erkenntnis eines Gegenstandes für ihn einzig dessen Begriff. Nur durch begriffliche Deduktion ist der Nachweis der Notwendigkeit eines Begriffs (wie dem des Willens) zu erbringen, und »der Gang, als Resultat, geworden zu seyn«, ist sein eigentlicher »Beweis und Deduction«107. Die Freiheit ist es, welche die »Substanz und Bestimmung« des Willens ausmacht, und der freie Wille verwirklicht sich im allgemeinen Rechtssystem. Sehen wir nun näher, wodurch sich der freie Wille für Hegel auszeichnet.108 »Schuld hat erst der für sich freie Wille«109 – so heißt es emphatisch in der Nachschrift Kehler zu Hegels Vorlesung über die Philosophie des Geistes. Und ›für sich‹ frei ist der Wille Hegel zufolge erst dann, wenn er sich als ›denkende Allgemeinheit‹ der Besonderheit seiner natürlichen Triebe und Neigungen gegenüber verhält: Der Wille als Willkür (der, wie gezeigt, noch der Wille in Gestalt des nicht aufgelösten Widerspruchs ist) ist, wie es in der Enzyklopädie heißt, bereits »für sich frei«110, weil er sich als die Negativität seines nur unmittelbaren Selbstbestimmens in sich reflektiert. Diese Reflexion in sich – die dennoch dem natürlichen Inhalt verpflichtet bleibt −, zu der das Subjekt sich nunmehr fortgebildet hat, ist für Hegel als die Bedingung der Möglichkeit der Schuld anzusehen. Die Allgemeinheit des Denkens oder die sich auf die Triebe beziehende Reflexion bringt zunächst einmal die nur »formelle Allgemeinheit an diesen Stoff«111 und verwandelt ihn sich insofern an, als sie ihn zu einem gedachten Inhalt macht; dieser Prozeß kommt für Hegel, wie wir gesehen haben, einer ›Reinigung der Triebe‹ gleich. Der »an und für sich seyende Wille« hingegen hat in seiner »reinen Allgemeinheit«112 nur noch sich selbst, den Begriff seiner eigenen Freiheit, zu seinem Gegenstand. In solch einer ›reinen Allgemeinheit‹ ist sowohl diejenige Unmittelbarkeit der Natürlichkeit aufgehoben, die in den natürlichen Bestimmtheiten selbst liegt, als auch diejenige, die von der der Natürlichkeit noch weitgehend verpflichteten Reflexion hervorgebracht wird. 107

GPR § 2 Anm. Zu diesem scheinbaren Paradox innerhalb der Hegelschen Argumentation, von einer ›Notwendigkeit des freien Willens‹ zu sprechen vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 370. 109 GW 25,1. 538. 110 Enzyklopädie § 478. 111 GPR § 20. 112 Ebd. § 21 Anm. 108

Die Schuld des für sich freien Willens

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Nach dem Gesagten liegt es zwar auf der Hand, ist aber dennoch noch einmal zu betonen: Der Wille ist nur dann für sich frei, wenn er einen bestimmten Prozeß durchläuft bzw. durchlaufen hat; der Mensch ist nicht mit einem angeborenen für sich freien Willen ausgestattet, oder: er hat zunächst einen nur seinem Begriff nach oder nur an sich freien Willen, welcher die Grundlage und den Ausgangspunkt seiner Entwicklung darstellt. Der Wille ist demnach für Hegel nicht als »vorausgesetztes Subject, oder Substrat« zu begreifen; er ist nicht ›fertig‹, hat seine Entwicklung nicht eher abgeschlossen, bis er sich aus sich selbst bestimmt hat.113 Die Rede von der Freiheit des Willens als Selbstbestimmung impliziert darüber hinaus, und dies ist ein wichtiger Punkt, ganz wesentlich sowohl das Moment des Sich-Bestimmens als auch das des Aufhebens oder der »Idealität dieses Bestimmens«. Nur in dieser Bewegung ist der Wille »sich in sich vermittelnde Thätigkeit und Rückkehr in sich.«114 Das Ich auf dem Standpunkt der Willkür hat damit grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu einem bestimmten Inhalt ebenso wie zu jedem beliebigen anderen zu entschließen; es kann seine Wahl, bis es in seinem Beschließen in Wirklichkeit tritt, jederzeit widerrufen. – Insofern der Wille seine Bestimmungen in sich selbst setzt und zugleich in der Lage ist, von ihnen zu abstrahieren − da sie zunächst nur als Möglichkeit für ihn sind −, ist der Wille Hegel zufolge nicht vollständig determiniert oder determinierbar durch äußere oder innere Einflußfaktoren, sondern verhält sich insofern in einer doppelten Weise seinen (inneren wie äußeren) Bestimmungsgründen gegenüber frei, als er sich als dasjenige weiß, was sich den Inhalt selbst gibt (sich einen Zweck setzt) und zugleich als dasjenige, was von diesem Inhalt zu abstrahieren in der Lage ist. Dem freien Willen, dies sei hier nebenbei bemerkt, muß eine Sphäre äußerer oder objektiver Freiheit entsprechen, d. h. zunächst einmal, daß der Mensch als freie Rechtsperson anerkannt sein muß (woraus sich für Hegel die Implikation ergibt, daß er Eigentum erwerben können muß). Dies allein macht seine Freiheit aber nicht aus, denn der Mensch ist nur frei, insofern er sich als frei weiß und sich im Denken und Wollen auf seine eigene wie die Freiheit Aller richten kann. Dieser Selbstbezug ist also wiederum ein praktischer; zum einen deswegen, weil sich der Mensch seiner eigenen Freiheit nur handelnd bewußt werden kann, und zum andern, weil sein zweckrationales oder vernünftiges Handeln allgemeine Strukturen erfordert, innerhalb derer er seine vernünftigen Zwecke auch realisieren kann.

113 114

Vgl. ebd. § 7 Anm. Ebd. § 7 Anm.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

Was den Willen in seiner Freiheit ausmacht, so sollte deutlich geworden sein, ist, daß er einerseits grundsätzlich über die Freiheit verfügt, von einer jeglichen Bestimmung zu abstrahieren – Hegel bestimmt diese »Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke« auch als »das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich«, als die »schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraction«115 −, was jedoch für sich genommen nichts weiter ist als »die negative oder die Freyheit des Verstandes.« Es ist dies die »Freyheit der Leere«, die, absolut gesetzt, abstrakte Negation bleibt und dort, wo sie sich zu verwirklichen sucht, im Politischen wie im Religiösen zum Fanatismus und zur Zerstörung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führt.116 Was den Willen andererseits aber gleichermaßen ausmacht, ist die Fähigkeit des Setzens einer Bestimmtheit als Inhalt und Gegenstand, sei dieser nun ein natürlich gegebener oder der Sphäre des Geistes angehörig. Durch dieses »Setzen seiner selbst als eines bestimmten tritt Ich in das Daseyn überhaupt; − das absolute Moment der Endlichkeit oder Besonderung des Ich.«117 Dieses Sich-Bestimmen ist damit zugleich das Aufheben der ersten, nur abstrakten Freiheit oder Negativität, denn die abstrakte Negation ist für sich genommen nicht die Unendlichkeit des Willens. Diese erfordert vielmehr, daß sich der Wille zu seiner Einzelheit bestimmt. D. h. der Wille, welcher frei ist, bleibt in der konkreten Selbstbestimmung doch gleichgültig gegen diese Bestimmtheit; er weiß sie »als die seinige und ideelle, als eine bloße Möglichkeit, durch die [das Ich] nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt.«118 Der freie Wille ist also ein Wille, der sich selbst in seinem Wollen reflektiert. Sobald also der zunächst wählende Wille, der als ein solcher schon als Allgemeines den Trieben gegenübersteht, in seinem Entschluß in die Wirklichkeit tritt, setzt er sich selbst einen Zweck und gibt sich darin diesen bestimmten Inhalt als Inhalt seiner Subjektivität. In der Nachschrift Stolzenberg heißt es in diesem Zusammenhang: »erst der Entschluß macht die Wirklichkeit – Die andere Form der Äußerlichkeit, was sich auf das Verhältniß des bewußt115

Ebd. § 5. Vgl. ebd. § 5 Anm. 117 Ebd. In diesem Zusammenhang weist Hegel zugleich die Fichtesche Konzeption der Wissenschaftslehre von 1794/95 zurück, wonach, wie Hegel kritisiert, »dieses abstracte Ich für sich das Wahre seyn soll, und daß darum ferner die Beschränkung, − das Negative überhaupt, sey es als eine gegebene, äußere Schranke oder als eigene Thätigkeit des Ich – (im zweyten Satze) hinzukommt.« Hegel ist es, wie wir oben schon gesehen haben, mit seiner spekulativen Methode hingegen darum zu tun, das ›Ich‹ vor dem Hintergrund seiner immanenten Negativität aufzufassen, um auf diese Weise letztendlich den »Dualismus der Unendlichkeit und Endlichkeit« (GPR § 6 Anm.) überhaupt zu überwinden. 118 GPR § 7. 116

Die Schuld des für sich freien Willens

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seins bezieht, ist daß er die andre Seite der Objectivität mit sich vereinigt.« Im Entschluß des Menschen liegt zugleich der Grund seiner Schuld, denn diese »wird […] nicht von ihm abgewälzt, wenn er sagt, ich habe diesen Trieb, diese Leidenschaft einmal – ich kann nicht anders; er ist ein Denkendes, Intelligenz, er hätte ja anders wählen können.«119 Der Trieb ist für sich genommen nur ein Besonderes; soll er befriedigt werden, muß er durch den konkreten Entschluß vom Subjekt zu dem Seinigen gemacht, also in die Allgemeinheit des Denkens erhoben werden. Auch in der Nachschrift Erdmann heißt es: »Der Mensch hat es gewollt, ist schuldig, oder aber er muß sich zu einem Thier bekennen und dann so behandelt werden.«120 In der Nachschrift Walter ist in diesem Zusammenhang auch die Rede von der Zurechnung von Schuld: »Deswegen in alter Tragödie höherer Standpunkt, die Individuen für schuldig zu nehmen, und nicht diese Commiseration beim Verführtwerden, daß es nicht zuzurechnen sei. Daß zugerechnet werden kann, ist das Hohe der Intelligenz.«121 Aus der sehr grundsätzlichen Bestimmung des Menschen als eines Denkenden zieht Hegel, wiederum gemäß der uns überlieferten Vorlesungsnachschriften, die – bereits in der Einführung zu dieser Arbeit angesprochene − Konsequenz: »Der Mensch ist überhaupt nicht unschuldig; man ehrt den Menschen mehr, wenn man ihn unter der Kategorie der Schuld als der Unschuld betrachtet.«122 Dieser Standpunkt des für sich freien Willens setzt jedoch einen Willen voraus, der nur erst einen besonderen, noch keinen »absolute[n] Inhalt«123, wie das objektive Recht oder die Sittlichkeit hat. Er ist demnach zwar für sich, nicht aber an und für sich freier Wille, d. h. er verbleibt auf der Ebene der Willkür. »Der wahrhaft freie Wille«, mit dem wir uns im Folgenden noch beschäftigen werden, »will nichts als seine Freiheit.«124 Das vom so verstandenen freien Willen initiierte Handeln, so muß man dann folgern, kann daher auch den Anspruch erheben, allgemein als rechtgemäß oder als sittlich anerkannt zu werden, so wie es auf der anderen Seite ein allgemein bindendes Recht nur geben kann, weil dem Willen diese Allgemeinheit sowie die Möglichkeit, das Allgemeine zu wollen und tätig zu verwirklichen, immanent ist. Wenn es also heißt: ›Schuld hat erst der für sich freie Wille‹, dann läßt sich diese Aussage in gewisser Hinsicht ebensogut so verstehen: ›Schuld hat nur der für sich freie Wille‹. Begreift man ›Schuld‹ als bewußtes Wollen und 119 120 121 122 123 124

GW 25,2. 908. Ebd. Ebd. 909. Ebd. 908. Ebd. 909. Ebd.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

Verwirklichen der subjektiven Besonderheit gegen das gewußte Allgemeine, dann muß man folgern, daß der nur an sich freie Wille deswegen noch nicht schuldig werden kann, weil er noch nicht in die Reflexion seiner natürlichen Besonderheit herausgetreten ist; er ist noch nicht imputabel, weil er nur erst Ausdruck ›unfreier Notwendigkeit‹ ist. Und der an und für sich seiende Wille, oder der ›wahrhaft freie Wille‹, wie es eben hieß, kann in dieser Perspektive nicht mehr schuldig werden, da auch er einer Notwendigkeit folgt, genauer: der am Begriff seiner selbst gewonnenen Einsicht in die Notwendigkeit, die Freiheit auf eine allgemeine Weise zu realisieren; er folgt also einer sittlichen Notwendigkeit, wenn man so will.125 Der Mensch in seiner existierenden Einzelheit ist nun freilich niemals ›an und für sich seiender Wille‹, sondern er ist endlicher Wille, der mehr oder minder konsequent mehr oder minder vernünftige, sittliche Zwecke verfolgen kann − aber er bleibt der Sphäre der Natur ebenso verpflichtet (selbst, wenn er sie in eine ›zweite Natur‹ transformiert) wie der gesellschaftlichen Konvention und dem Recht, die ihrerseits nicht nur, aber auch als Determinanten menschlichen Verhaltens zu begreifen sind. Der an und für sich seiende Wille kann daher vom einzelnen Menschen auch niemals vollständig repräsentiert werden, aber er kann sich in den gesellschaftlich-sittlichen Verhältnissen manifestieren. Der Mensch in seiner existierenden Einzelheit ist ein ›willkürliches‹ Wesen und in der Willkür als der Sphäre formeller Freiheit ist der Mensch »nur als subjektiver und zufälliger Wille wirklich.«126 Gleichwohl kann die so gefaßte Endlichkeit des Menschen Hegel zufolge auf keine Weise das Zentrum der Philosophie ausmachen; es gilt daher, den »absoluten Vermittlungsprozeß«, welcher der Geist ist, zu begreifen, und das bedeutet, »keine Endlichkeit, auch nicht die des eigenen Seins, als ein Absolutum mehr anzuerkennen.«127

125

Diese Konsequenz hat etwa der Hegel-Schüler Albert Friedrich Berner aus der Hegelschen Einteilung gezogen; für Berner ist die Willkür die Stufe bloß formeller Freiheit, welche im Rahmen seiner Imputationslehre die entscheidende Rolle spielt. Der an und für sich seiende Wille, so führt Berner aus, ist der Möglichkeit der ›Wahl‹ enthoben, denn er folgt der ›sittlichen Notwendigkeit‹; er ist damit zwar – anders als der nur erst an sich freie Wille – durchaus zurechnungsfähig, aber zugleich keiner Untat fähig. (Ausführlicher wird Berners Imputationslehre in Kapitel 6.3.1.3 dargestellt.) 126 Enzyklopädie § 478. 127 So Christa Hackenesch in ihrem Beitrag: Die Wissenschaft der Logik in dem bereits angeführten Kommentarband: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). A. a.O. 114.

Vom endlichen und unendlichen Willen: Zusammenfassung und Ausblick

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3.6 Vom endlichen und unendlichen Willen: Zusammenfassung und Ausblick Der natürliche Wille stellt für Hegel, wie wir gesehen haben, den Ausgangspunkt des prozeßhaft sich befreienden Willens dar, der sich damit aus seiner nur dem Ansichsein nach gegebenen Freiheit zu demjenigen Standpunkt fortbildet, auf dem er »für sich [ist] was er an sich ist.«128 Der natürliche Wille wendet sozusagen seine Freiheit auf einen Stoff an, der dieser Form noch nicht entspricht. Er gelangt daher auch in seinen Zwecksetzungen wie in den Realisierungen seines Zwecks lediglich zu einem »Abstractum« seiner Freiheit, oder – wie es im ›Zusatz‹ zu Paragraph 469 der Enzyklopädie heißt – nur zum »Genuß« seiner selbst, nicht aber zur Objektivierung vernünftiger Zwecke; der Wille ist so »in sich endlicher Wille«129 Der natürliche Trieb, dem der endliche Wille hier noch weitgehend verpflichtet bleibt, hat − als die »einfache Richtung seiner Bestimmtheit«130 − das Maß nicht in sich selbst, und die rationale Entscheidung, welcher Trieb ein höheres Maß an Befriedigung verspricht, bleibt der subjektiven Willkür überlassen. Die abstraktallgemeine Vorstellung von der Glückseligkeit übernimmt nun die Funktion eines Maßes für die Triebbefriedigung; die Glückseligkeit ist diejenige Vorstellung, an der sich der reflektierende Wille orientieren kann. Da diese Vorstellung aber Hegel zufolge wiederum nur subjektiv und abstrakt ist, drückt sich in ihr auch lediglich eine angestrebte, nicht aber eine wirkliche Allgemeinheit aus, denn der natürliche Trieb ist ein Partikuläres und ganz an die individuelle Befindlichkeit gebunden. Die Glückseligkeit, welche den gegebenen Inhalt nach Maßgabe einer bloß »formelle[n] Allgemeinheit« ordnet, bleibt also dem subjektiven Gefühl verpflichtet, damit liegt der affirmative Gehalt der Glückseligkeit in den Trieben selbst.131 In § 20 der Grundlinien hingegen betont Hegel in diesem Zusammenhang den »absolute[n] Werth der Bildung«, der darin zu sehen ist, daß die sich auf die Triebe beziehende Reflexion, welche die einzelnen Triebe miteinander und nach Maßgabe eines

128

GPR § 10. Ebd. § 11. »Die Wahl liegt daher in der Unbestimmtheit des Ich, und in der Bestimmtheit eines Inhalts. Der Wille ist also [um] dieses Inhalts willen nicht frei, obgleich er die Seite der Unendlichkeit formell an sich hat; ihm entspricht keiner dieser Inhalte: in keinem hat er wahrhaft sich selbst.« Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl Heinz Ilting. Dritter Band: Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von H.G. Hotho 1822/23. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 133. (= Ilting, Bd. 3) 130 GPR § 17. 131 Vgl. Enzyklopädie § 479. 129

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

»Ganzen der Befriedigung« (Glückseligkeit) miteinander vergleicht, trotz ihres dem Natürlichen Verhaftetseins ein Moment darstellt, durch welches sich schließlich die »Allgemeinheit des Denkens« hervortreibt. Die in der Reflexion erzielte nur erst formelle Allgemeinheit, die ihre Bestimmtheit und Schranke an dem unmittelbar gegebenen Inhalt findet, muß zur sich selbst bestimmenden Allgemeinheit erhoben werden.132 Diese sich selbst bestimmende Allgemeinheit wird hier auch schlechthin als der »Wille« oder die »Freiheit« bezeichnet. Obgleich Hegel an dieser Stelle der Grundlinien nicht darauf eingeht, wie sich der Wille in seiner ›reinen Allgemeinheit‹ zum Gegenstand seiner Selbstbestimmung werden kann, so erhellt doch aus der von mir vorgeschlagenen Rekapitulation desjenigen Weges, den der Wille im Dienste seiner ›Befreiung‹ aus verschiedenen Formen der Unmittelbarkeit zurücklegen muß, daß dies nur vermittels der Objektivierung selbstbestimmter Inhalte und durch Reflexion auf das willentlich Hervorgebrachte möglich ist. Die Objektivierung des Willens oder das Erreichen einer Form von Freiheit, in der er sich der Freiheit als seiner eigenen Bestimmung bewußt ist, kann sich allein dadurch vollziehen, daß er als beschließender Wille in die Wirklichkeit tritt; auch dieses Beschließen im Sinne elementarer Zwecktätigkeit ist zunächst ein nur abstrakter Modus der Selbstbestimmung, denn der Inhalt ist hier noch nicht »das Werk seiner Freyheit.«133 »Im Willen«, so schreibt Hegel, »beginnt […] die eigene Endlichkeit der Intelligenz, und nur dadurch, daß der Wille sich zum Denken wieder erhebt, und seinen Zwecken die immanente Allgemeinheit gibt, hebt er den Unterschied der Form und des Inhalts auf und macht sich zum objectiven, unendlichen Willen.«134 Mit anderen Worten: »wahre Freiheit des Wollens [ist] […] bedingt durch das die praktische Einsicht ermöglichende reine Denken.«135 Den dabei naheliegen-

132

Vgl. GPR § 21. Ebd. § 13. 134 Ebd. § 13 Anm. 135 Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. A. a.O. 133. Edith Düsing vertritt in diesem Aufsatz die These, daß Hegel hinsichtlich des Verhältnisses von Intelligenz und Wille von einem »Primat des Denkens« ausgeht – und zwar im Unterschied zu Fichte, der in seiner Wissenschaftslehre von 1794/95 von einem »Primat des Willens« (ebd. 108) ausgeht. Düsing bestreitet damit aber keineswegs die innere Wechselbeziehung zwischen Intelligenz und Wille, die aus ihrer Sicht sogar die »leitende Idee« (ebd. 120) innerhalb der Hegelschen Philosophie des subjektiven Geistes darstellt. Sie will vielmehr darauf hinaus, daß das Denken das innerste Zentrum des systematischen Zusammenhangs aller Tätigkeitsweisen des Geistes bildet. Im Denken kommt, so Düsing mit Recht, der Geist zu sich selbst – und daher wird aus ihrer Sicht auch der Wille von Hegel in seiner notwendigen Relation zum Denken bestimmt (vgl. ebd. 122). Was sie 133

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den Gedanken, daß der endliche Wille im Vergleich zu jenem ›unendlichen‹ gänzlich unfrei ist, weist Hegel jedoch zurück, indem er den Willen in seiner Endlichkeit als ein Moment des unendlichen Selbstbezugs des denkenden Subjekts begreift; so ist die denkende Vernunft, insofern sie Wille ist, »dieß, sich zur Endlichkeit zu entschließen.«136 Für die denkende Vernunft oder die Intelligenz ist es notwendig, sich einen bestimmten Inhalt zu geben; durch das »Beschließen setzt der Wille sich als Willen eines bestimmten Individuums und als sich hinaus gegen Anderes unterscheidenden.«137 Die Intelligenz verhält sich daher auch praktisch auf eine allgemeine Weise, aber diese ist zunächst nur formell, denn der Stoff ist erst in seiner Unmittelbarkeit gesetzt. Die Mitte zwischen dem nur ›an sich freien‹ und dem ›an und für sich freien Willen‹ bildet demnach der ›für sich freie‹ oder deliberative Wille. Abermals betont Hegel in der Einleitung der Grundlinien, daß die wirkliche Freiheit des Willens keineswegs mit der ›gewöhnlichen Vorstellung‹ zu verwechseln sei, wonach behauptet wird, Freiheit bestehe darin, tun und lassen zu können, was man wolle.138 Im Gegenteil vertritt er die Ansicht, daß sich der Mensch, wo er sich nur insofern als frei begreift, als er tun und lassen zu können glaubt, was ihm beliebt, gänzlich dem Spiel des Zufalls überantwortet. Der Mensch, der sich in seiner Willkür für frei hält, verfehlt sich selbst. Oder, wie es sinngemäß in der Nachschrift Hotho zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie des Rechts heißt: auf dem Standpunkt der Willkür gelangt der Mensch über die bloße Möglichkeit nicht hinaus. Der Inhalt willkürlicher Entscheidungen ist »als besondrer Inhalt mir nicht angemessen, ist also getrennt von mir, und nur ein Mögliches der Meinige zu sein, so wie ich die Möglichkeit bin, mich mit ihm zusammenzuschließen.«139 Aber: »So lebt jeder Mensch; er beschließt, aber den Inhalt giebt ihm die Welt, seine Zeit. Die Willkür ist dieß sich überhaupt zu irgendeinem gegebenen Inhalt zu entschließen.«140 Damit ist dann auch klar, wieso die Sphäre der Moralität als Moment des objektiven Geistes und als Stufe der Reflexion zugleich der Standpunkt der Willkür ist, denn auch das moralische Subjekt verhält sich zu ihm mehr oder minder unmittelbar gegebenen Inhalten, wenngleich diese also unter dem ›Primat des Denkens‹ versteht, ist, daß »der Wille integrierter Bestandteil und aufgehobenes Moment in der Vollendung des denkenden Selbstverhältnisses des Ich« (ebd. 132) ist. 136 GPR § 13 Anm. 137 Ebd. § 13. 138 Vgl. ebd. § 15 Anm. 139 Ilting, Bd. 3. 133. 140 Ebd. 138.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

auch objektiver Natur sind (wie Recht und Sitte). Oder anders formuliert: Die Moralität des einzelnen Subjekts ist die Reflexionsform objektiv-sittlicher Gehalte, und die Weise jener Reflexion, in der sich diesen gegenüber subjektive Wertvorstellungen geltend machen, ist noch sehr stark affektbesetzt. Der für sich freie Wille oder die Willkür wird von Hegel, wie wir gesehen haben, mit der Möglichkeit des Schuldigwerdens verbunden. Schuld hat also der für sich freie Wille nicht deswegen, weil er gänzlich frei von aller Determiniertheit entscheidet und handelt, sondern zum einen – existentiell betrachtet – wird der Mensch zwangsläufig schuldig, weil er stark durch natürliche oder gesellschaftliche Determinanten bestimmt ist, auf die er in seiner Besonderheit reflektiert und denen gegenüber er seine Besonderheit geltend zu machen geneigt und mitunter angewiesen ist. Zum andern ist an den Menschen hier – eben weil er nicht reines Naturwesen, sondern Geist ist – der Anspruch gemacht, daß er sich auf selbstbestimmte Weise zu dem verhält, was ihn bestimmt; der Mensch aufgrund seiner für sich seienden Freiheit ist der Adressat rechtlicher und moralischer Normen. Und bereits dort, wo der Mensch bestimmte (innere wie äußere, natürliche wie gesellschaftliche) Einflußfaktoren als seine Entscheidungen determinierend erfährt, setzt er sich als frei voraus; das Naturverhältnis − da der Geist selbst dieses Naturverhältnis ist − wird er als Einzelner niemals vollständig überwinden können. Die Sphäre der Willkür ist daher gerade mit Blick auf den Bereich menschlichen Handelns von größter Bedeutung, denn in aller Regel ist die Willkür der Modus des Handelns (was sich u. a. in Hegels Philosophie der Weltgeschichte zeigt). Dies bedeutet allerdings keineswegs, daß die einzelnen Handlungen nicht dennoch auf die Verwirklichung von Vernunftzwekken gerichtet sein können. Die einzige Möglichkeit, die Hegel für den modernen Menschen vorsieht, seine nur willkürliche Freiheit immerhin partiell abzustreifen, ist nicht etwa darin zu sehen, daß das Subjekt den Blick auf sein innerstes Selbst richtet, um seine praktische Vernunft aus sich zu schöpfen, sondern diese Möglichkeit ist für Hegel einzig in der aktiven Teilhabe der Einzelnen an der institutionalisierten, allgemeinen Sittlichkeit und gesellschaftlichen Praxis gegeben, die wiederum auf praktische Weise vom Subjekt anerkannt werden muß, wenn sie Geltung beanspruchen will. Hier sind nun sicherlich verschiedene Grade solcher Anerkennung und aktiven Teilhabe am Allgemeinen von Seiten des Einzelnen zu unterscheiden; nicht umsonst betont Hegel im Rahmen seiner Konzeption von Sittlichkeit das Moment der ›Rechtschaffenheit‹ − im Sinne eines recht verstandenen ›Patriotismus‹141 −, das dem Einzelnen die Orien141

Vgl. etwa GPR §§ 150, 268 Anm. und 296.

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tierung für sein Handeln weitgehend institutionell vorgibt und wodurch der Spielraum für willkürliches Handeln zugleich eingeschränkt wird. Im emphatischen Sinne frei verhält sich der Mensch objektiven Inhalten wie Recht und Pflicht gegenüber, insofern er ihre Notwendigkeit aus Freiheit selbst einsieht und will; damit ist der Inhalt nicht mehr nur vorgegeben, sondern wird, wie im rechtschaffenen Verhalten auch, zugleich durch das denkende, sittliche Subjekt tätig hervorgebracht. Auf dem Verständnis von Freiheit, aufgrund dessen sich der Einzelne immerhin zur Rechtschaffenheit bestimmen kann, beruht Hegels Konzeption des modernen Staates wie des Rechts überhaupt.142 Zugleich stellt diese Gestalt des Willens nicht ein bloßes Sollen dar, sondern geht vielmehr, wie wir gesehen haben, aus dem Prozeß des Geistes mit Notwendigkeit hervor. Mit dem hier Gesagten hat sich allerdings darüber hinaus Hegels Bestimmung des ›unendlichen‹ oder des ›wahrhaften‹ Willens ergeben: Was der Wille will, ist identisch mit dem, was er seinem Begriff nach ist; der unendliche Wille ist der »das ganz Allgemeine, die Freiheit«143 wollende Wille. Indem der Wille sich selbst will, ist er Idee im Sinne der Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand des Wollens. Die Stufe des an und für sich seienden Willens bestimmt Hegel in § 22 der Grundlinien als »wahrhaft unendlich«, eben weil sein Gegenstand, auf den er sich in der Allgemeinheit des Denkens bezieht, nur noch er selbst ist. Da ihm auf diese Weise nicht mehr ein Anderes ›Schranke‹ seiner Selbstbestimmung und Freiheit ist, ist der Wille auch nicht mehr bloße Möglichkeit, sondern das »Wirklich-Unendliche«. In dieser Sphäre eines rein gedachten Wollens sind die Notwendigkeit der Natur sowie die auf Natur bezogene Weise der Reflexion aufgehoben. Es liegt daher nahe, daß Hegel mit jenem ›an und für sich seienden Willen‹ auf die Sphäre des ›absoluten Geistes‹ vorausverweist, denn auch die Sphäre des ›objektiven Geistes‹ zeichnet sich dadurch aus, daß der Geist die innere und äußere Natur zu seiner Voraussetzung, zu seinem Gegenstand144 (im Sinne einer ›vergesellschafteten‹ Natur) und zu verarbeiten hat, auch wenn dies auf der Basis einer allgemeinen geistigen

142

»Das Recht der Individuen für ihre subjective Bestimmung zur Freyheit hat darin, daß sie der sittlichen Wirklichkeit angehören, seine Erfüllung, indem die Gewißheit ihrer Freyheit in solcher Objectivität ihre Wahrheit hat, und sie im Sittlichen ihr eigenes Wesen, ihre innere Allgemeinheit wirklich besitzen.« (GPR § 153) 143 Vgl. Ilting, Bd. 3. 150. 144 Vgl. Ludwig Siep: Hegel über Moralität und Wirklichkeit. Prolegomena zu einer Auseinandersetzung zwischen Hegel und der Realismusdebatte der modernen Metaethik. – In: Ludwig Siep: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. Aufsätze 1997– 2009. München 2010. 211–228; hier 211.

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

Selbstbezüglichkeit in den Bereichen von Politik und Geschichte geschieht und innerhalb eines »System[s] der Freiheits-Bestimmungen«145. In der Enzyklopädie dritter Auflage bildet der gesonderte Abschnitt »Der freie Geist« (§§ 481 und 482) die Schnittstelle zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist; systematisch stellt jener ›wirkliche freie Wille‹ die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes dar. Wann aber ist der Wille ›wirklich‹? − Bereits der Wille als Willkür, so haben wir gesehen, ist Hegel zufolge »für sich frei«146, aber der Willkür entspricht eine nur subjektive und zufällige Wirklichkeit, denn die Willkür als natürlicher Wille verwirklicht sich in der Befriedigung besonderer Triebe und Neigungen. Zunächst befriedigt der Wille also seine mannigfachen Bedürfnisse, aber in der Befriedigung des einen opfert er die des anderen auf; der Genuß bietet ihm noch nicht die ihm angemessene Objektivierung seines Zwecks. Erst im bestehenden, d. h. ausgeführten und objektiven Zweck kann der Wille zur »Wahrheit seiner Selbstbestimmung«147 gelangen. In dieser Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand ist der Wille schließlich wirklich. Der Geist als praktischer ist wirklich nur insofern er sich in dem von ihm Hervorgebrachten erkennt, insofern er weiß, daß die Objektivität seines Zweckes seine Objektivität ist. Wirklich frei ist der Wille erst dann, wenn er sich in der Objektivität seines Tuns als frei anschaut und weiß. Dies setzt allerdings voraus, daß er seine zu realisierenden Bestimmungen aus sich selbst schöpft oder in sich setzt und nicht bloß als äußere aufnimmt. Wenn Hegel also in der Systematik der Enzyklopädie die Stufe des ›wirklichen freien Willens‹ im Übergang zur Sphäre des objektiven Geistes etabliert, dann ist dies so zu verstehen, daß der Wille − obgleich hier noch als subjektiver gefaßt – sowohl zu innerlicher als auch zu äußerlicher Selbstbestimmung gelangt ist. Er hat seine Inhalte nicht nur in sich selbst objektiviert (indem er sie als gedachte Bestimmungen in sich setzt), sondern sie auch äußerlich als objektive gesetzt und sich in dieser von ihm hervorgebrachten Objektivität erkannt. Der ›wirklich freie Wille‹ ist damit diejenige Gestalt des endlichen Willens, welche an sich selbst die »Tätigkeit ist, sie [d. i. die Idee der Freiheit] zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt als Dasein, welches als Dasein der Idee Wirklichkeit ist, zu setzen, − objektiver Geist.«148 Die Freiheit des Geistes, die sich nunmehr herausgebildet hat, ist ihrerseits die zu realisierende Grundlage objektiver Freiheit; sie ist zunächst das »Prinzip des Geistes und Herzens«, welches sich »zur

145 146 147 148

Enzyklopädie § 484. Ebd. § 478. Ebd. § 480. Ebd. § 482.

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Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt, zur rechtlichen, sittlichen, religiösen, wie wissenschaftlichen Wirklichkeit.«149 Sobald aber die Freiheit »zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet«150 wird, erhält sie die Form der Notwendigkeit. Auch die Tätigkeit des einzelnen Willens − mag er sich in seiner substantiellen Einheit mit dem »vernünftigen Willen«151 begreifen oder nicht −, insofern sie die Tätigkeit der Entwicklung der Idee der Freiheit im angezeigten Sinne ist, folgt damit einer Notwendigkeit. Die Wirklichkeit des Willens impliziert demnach zweierlei: Erstens die erreichte höhere Stufe der Selbstwerdung, auf welcher die Subjektivität frei für sich wird und in der Zwecksetzung zugleich in ein Verhältnis der Distanz zu ihren Bedürfnissen und Interessen tritt. Der vom Willen zurückgelegte Weg führte über die konkrete Triebbefriedigung, welche den Willensentschluß und die Verwirklichung des Zwecks erforderlich machte; insofern ist die Wirklichkeit des subjektiven Willens das Resultat der Philosophie des subjektiven Geistes. Und nur an den wirklichen Willen des Subjekts sind Schuldfähigkeit und Verantwortlichkeit der Person zu binden. Im Moment des Entschlusses und des intentionalen Tuns liegt die moralische Freiheit des Menschen begründet.152 Zweitens ist die Wirklichkeit des subjektiven Willens das Medium der zu objektivierenden Freiheit konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse, und die Freiheit als eine wirkliche die erst zu leistende Aufgabe des Willens; die Sphäre des subjektiven Geistes ist damit verlassen. Denn wirklich ist der Wille nach Hegel nur dann, wenn sein äußerliches Dasein seiner Innerlichkeit entspricht.153 Erst in solcher von ihm selbst her-

149

Ebd. § 482 Anm. Ebd. § 484. 151 Ebd. § 485. 152 So Johan Vilhelm Snellman (1806–1881); Snellman ist einer der Schüler Hegels, dessen Wirkungsfeld in erster Linie Finnland war. Er verfaßte 1841 in Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels seinen Versuch einer speculativen Entwicklung der Idee der Persönlichkeit (neu herausgegeben von Reijo Wilenius unter dem Titel: Die Persönlichkeit. Sankt Augustin 1981. 86), in dem er unter der Überschrift des sich realisierenden Geistes auch das Phänomen des freien Willens und des Bösen behandelt. Der Entschluß zur Befriedigung der Triebe, so heißt es dort, ist die »eigene freie That« des Geistes. »Allein sie [d. i. die Triebe] haben doch einen positiven Gehalt und zeigen sich ihrem Inhalte nach als in das Thun des Geistes aufgehoben. In diesem Sinne wird ihre Befriedigung zu einer freien geistigen Thätigkeit, die zu der von dem Geiste gesetzten zweiten Natur gehört.« Das oben thematisierte Verhältnis von freiem Willen und Willkür erläutert Snellman in dem Sinne, daß die Unfreiheit der Willkür der Wirklichkeit des freien Willens keinen Eintrag mehr tue, wenn erst einmal der Nachweis erbracht wurde, daß aller bestimmter Inhalt des Wissens und Wollens ein vom Geist gesetzter sei, d. h. »dass der Prozess der Bildung nur sein eigenes Thun ist, so ist auch die Freiheit des Willens gesichert.« (Ebd. 89.) 153 Vgl. Ilting, Bd. 3. 154. 150

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»Schuld hat erst der für sich freie Wille.«

vorgebrachten objektiven Wirklichkeit ist der Geist sich zugleich schlechthin gegenwärtig (wobei man sich erneut fragen könnte, ob solche ›schlechthinnige Gegenwart‹ nicht doch eher ein Kennzeichen des absoluten Geistes darstellt). Doch auch in der Sphäre des objektiven Geistes bezieht sich der Geist – bewußt oder unbewußt − in seiner rationalen Zwecktätigkeit auf von ihm Hervorgebrachtes und damit auf sich selbst. Oder anders formuliert: Die schlechte Unendlichkeit der subjektiven Reflexion und der Willkür hat sich zu dem sich selbst begreifenden Gedanken fort entwickelt; frei ist, wer sich denkend auf sich selbst bezieht.154 Der individuelle Wille ist frei, wenn er sich mit dem allgemeinen Willen identisch weiß. Das könnte er jedoch nicht, wenn er nicht immer schon an sich allgemeiner Wille, nicht immer schon an sich frei wäre.155 Mit anderen Worten: Die Substanz des einzelnen Willens ist seine Allgemeinheit und nicht ein partikulärer Inhalt. Er kann nur frei sein, »wenn er sich auf die reale Freiheit aller bezieht.«156 Dieser Gedanke, der sich am Ende des subjektiven Geistes ergeben hat, steht hinter der Hegelschen Staatskonzeption und ließe sich ebenso auch von der anderen Seite aus formulieren: Das Allgemeine will im Individuum seine eigene Freiheit verwirklicht wissen. Auf diese bewußte Gestalt von Freiheit, welche sich an den Schranken der natürlichen und damit unfreien Individualität abgearbeitet hat, zielte die Ausbildung der immer konkreter werdenden Fähigkeiten des Menschen, wie sie Hegel aus der »immanenten Dialektik des sich selbst noch unangemessenen ›Begriffs‹ entwickelt hat.«157 Damit steht der freie Wille, wo er noch auf der Grundlage des subjektiven Geistes expliziert wird, auf der Stufe der Abstraktion; es bedarf seiner Verwirklichung innerhalb sittlicher Verhältnisse und der ihnen gemäßen Institutionen. Das erste ist also, daß er seine Freiheit, seinen Begriff will; das zweite ist, diese Freiheit, die er gewonnen hat, als eine Welt, eine geistige Wirklichkeit zu organisieren.158 Indem

154

In diesem Sinne auch Iring Fetscher: Hegels Lehre vom Menschen. Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970. 201. 155 »Die Gesellschaft denkt in uns – wir aber ›denken‹ nur in der – gesellschaftlichen – Sprache. Einzelwesen und Gemeinwesen durchdringen sich unentwirrbar, und nur in dieser Durchdringung ist der Mensch wirklich und konkret.« (Iring Fetscher: Hegels Lehre vom Menschen. A. a.O. 225.) 156 Ebd. 202. 157 Ebd. 158 »Freiheit bedeutet nach der phänomenologischen Entwicklung des subjektiven Geistes Freiheit von natürlicher Bestimmtheit […], reiner Selbstbezug der Einzelheit, der zugleich abstrakte, unterschiedslose Allgemeinheit ist – und Freiheit auch vom Gegensatz zum Anderen, vom Ausschließen- und Herrschen-Wollen. Das nennt Hegel ›reelle Allgemeinheit‹, das jedes ›im freyen Andern sich anerkannt weiß, und dieß weiß, insofern

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er dies aber tut, handelt er in aller Regel willkürlich und reflektiert auf das Allgemeine der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse vor dem Hintergrund seiner Besonderheit – damit jedoch wird der Mensch unausweichlich schuldig.

es das andere anerkennt und es frey weiß‹.« (Ludwig Siep: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹. – In: Hegels Philosophie des Rechts. A. a.O. 255–276; hier: 258.)

4. Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität »Too much too much morality/ can drive to criminality« (aus dem Lied Promiscuity von Manu Chao)

Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Entwicklung des subjektiven Geistes hinsichtlich der Herausbildung der schuldfähigen Subjektivität rekonstruiert wurde und sich der Geist − insofern er sich als praktischer erfahren hat − als Wille hervorgebracht hat, haben wir uns nunmehr der von Hegel entfalteten Sphäre des ›objektiven Geistes‹, also seiner Rechtsphilosophie zuzuwenden.1 Der Boden des Rechts, darüber erhalten wir in der Einleitung zu den Grundlinien Auskunft, ist »überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frey ist, so daß die Freyheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freyheit«2 darstellt. Eine Gestalt des objektiven Geistes ist die Moralität, die für Hegel als das Resultat der Entwicklung in Ansehung der inneren Begriffsbestimmtheit des Willens zu begreifen ist, der sich vom Standpunkt nur erst abstrakt-rechtlicher Freiheit (der Freiheitssphäre der ›Person‹ als Träger rechtlicher Ansprüche und Pflichten) zur »Selbstbestimmung der Subjectivität« fortgebildet hat.3 Das ›Moralische‹ – wie es von Hegel nicht als 1

Dies wird im Wesentlichen unter Bezug auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts und weniger anhand der entsprechenden Durchführung in der dritten Auflage der Enzyklopädie geschehen, wenngleich man die Ansicht vertreten kann, daß die Rechtsphilosophie darin ihre »letzte, prägnanteste Gestalt« erhalten hat. (So sieht es jedenfalls Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003. 196.) Aber die Ausführlichkeit und systematische Tiefe, in der sich Hegel in den Grundlinien seinem Gegenstand widmet, und die durch die überlieferten Vorlesungsnachschriften seiner Schüler noch potenziert wird, ist hier meiner Ansicht nach ausschlaggebend. 2 GPR § 4. 3 Ebd. § 104 Anm. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, oder genauer in seinen Ausführungen über die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis identifiziert Hegel diesen Standpunkt der Subjektivität und der Moralität mit dem »allgemeinste[n] Standpunkt unserer Zeit«, der aufgrund seiner »Anerkennung der menschlichen Freiheit« zu würdigen sei. »Das Weitere ist denn«, so heißt es weiter, »daß dieses Prinzip der Freiheit des Geistes, das abstrakt ist, wieder zur reinen Objektivität komme, daß nicht alles, was mir einfällt, in mir aufsteigt, mir geoffenbart wird, darum schon das Wahre ist, sondern daß es gereinigt wird und seine wahrhafte Objektivität erhält.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. Hamburg 1986. 174–178 (= Hegel: Vorlesungen, Bd. 9). In der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt es in diesem Zusammenhang: »Die bürgerliche Freiheit beruht auf der Unendlichkeit des Willens als eines absolut zu respektierenden. Der ganze

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

das dem ›Unmoralischen‹ Entgegengesetzte, sondern viel grundsätzlicher als jener Bereich der »Selbstbestimmung der Subjectivität«4, aufgefaßt wird – wird jedoch mit einer ganz besonderen Dignität versehen; es ist »der hohe Standpunkt der modernen Welt«5, auf dem der Mensch in seiner Subjektivität allererst zu Geltung und Recht gelangt.6 Gegenstand einer systematipolitische Zustand gestaltet sich nach jenem Prinzip. In der Weltgeschichte also ist das der Anfang der Philosophie, wo freie Völker aufgetreten sind. Dies ist erst geschehen im griechischen Volk, im Abendland. Im Morgenland geht die Subjektivität des Bewußtseins nur auf; erst im Abendland geht der Geist nieder in sich selbst […] Es ist so nicht bloß ein relativer Morgen und ein relativer Abend, sondern es ist ein wesentlicher Weltunterschied.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie. Herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1993. 94.) 4 GPR § 104 Anm. 5 Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Freiburg u. a. 1993. 168. Kobusch vertritt in diesem Buch mit Blick auf Hegels Rechtsphilosophie die These, daß diese unter dem Vorzeichen der modernen Zeit die alte, nämlich naturrechtliche Tradition der Metaphysik der Freiheit fortführe (vgl. ebd. 160). Mehr noch: »Mit Hegels Interpretation dieses traditionellen Terminus« − gemeint ist der des esse morale − »beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Metaphysik der Freiheit« (ebd. 165). Diese Behauptung ist in erster Linie auf die immanente Korrektur zu beziehen, die Hegel aus der Sicht des Verfassers an der traditionell naturrechtlichen Auffassung des esse morale vornimmt. Kobusch zufolge geht es Hegel nämlich um den Aufweis dessen, daß das esse morale in dieser Tradition bloß einseitig aufgefaßt wird; gegen diese Einseitigkeit bezieht Hegel, so Kobusch zu Recht, auch die objektiven Gestalten der Freiheit, die die subjektiven, moralischen Akte erst ermöglichen, in den »Gegenstandsbereich der Metaphysik der Freiheit« (ebd. 167) mit ein. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem »sittlichen Sein«, das für Hegel die Sphäre der verwirklichten und institutionell vermittelten Freiheit darstellt, gelangt Kobusch schließlich zu einer weiteren These: Hegel, so Kobusch, legt den »erste[n] Entwurf eines Begriffs der kommunikativen Freiheit« vor (ebd. 170 f.), der seinerseits im Wesentlichen auf einem Begriff des Rechts im Sinne einer wechselseitigen Anerkennungsbeziehung basiere. Auch hinsichtlich der Folgerung, die der Verfasser aus dieser Beobachtung zieht, ist ihm zuzustimmen: Eingedenk dieses Arguments lassen sich all diejenigen Behauptungen mit Entschiedenheit zurückweisen, die der Hegelschen Rechtsphilosophie ihren intersubjektiven Charakter absprechen wollen. 6 Sofern sich das Prinzip der Moralität und der individuellen Freiheit auf allgemeine Weise, d. h. in der Einrichtung bestimmter Rechtsinstitutionen durchgesetzt hat, wird es zu einem nicht mehr relativen, sondern unhintergehbaren geistigen Prinzip; diese Entwicklung der Moralität vollzieht sich im Rahmen der allgemeinen Weltgeschichte. Eine Frage, die Hegel im Zusammenhang seiner philosophischen Weltgeschichte umtreibt, ist die, welchen Wert und welche Dignität die Sphäre der Moralität angesichts der Entwicklung der allgemeinen Weltgeschichte für sich beanspruchen kann. Dazu sagt Hegel zweierlei: Erstens ist die Sphäre der Geschichte nicht der Ort, an dem der Mensch auf seine Vorstellungen von individuellem Glück pochen könnte. Zweitens bemerkt er dazu, daß die Moralität, die Sphäre der »concentrirten Innigkeit« (GW 18. 170) des Menschen, als dasjenige, wodurch er selbst »unendlichen Werth« besitzt, vom »lauten Lärm der Welt-

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schen Erörterung der Moralität aus dieser Perspektive ist der »homo moralis, der schuldige Mensch«7, und das Sein seiner Freiheit ist die Handlung oder der moralische Akt. Mit der Rede von moralischer Freiheit ist demnach wesentlich die im moralischen Subjekt selbst gesetzte Widersprüchlichkeit zwischen der »Vernunft des Willens«8, verstanden als dasjenige, was den Willen substantiell bedingt, und dem konkreten Dasein, auf welches hin gehandelt werden muß, verbunden; mit der Bewegung nach Innen, der ›Reflexion in sich‹, nimmt das moralische Subjekt gleichsam das Allgemeine in sich hinein, wodurch im selben Moment eine Spannung zwischen dem subjektiv Allgemeinen und dem objektiv Allgemeinen erzeugt wird; eine Spannung, die auf dieser Stufe der Entwicklung des Willens jedoch nicht gelöst werden kann. In diesem Zusammenhang ist zum einen daran zu erinnern, daß die hier darzustellende Sphäre der Moralität mit der Stufe der »Phänomenologie des Geistes« innerhalb der Hegelschen Lehre vom subjektiven Geist dasjenige gemeinsam hat, daß beide mit wesenslogischen Kategorien erfaßt werden; so stellt die ›Reflexion (in sich)‹ eine ganz wesentliche Kategorie der Hegelschen Wesenslogik dar. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Reflexion die Bewegung des Werdens und Übergehens darstellt, die dennoch in sich selbst bleibt. Das Wesen ist demnach das »durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Sein«9. In Analogie zum ›Wesen‹ muß auch die (moralische) Subjektivität so aufgefaßt werden, daß sie sich von sich selbst abstößt, in den Unterschied und das Anderssein tritt und den in dieser Bewegung erzeugten Widerspruch aufhebt und in die Einheit mit sich zurückführt.10 Nur in solch einer konstitutiven Spannung, in der in der Eingeschichte und den nicht nur aüsserlichen und zeitlichen Veränderungen, sondern auch denjenigen, welche die absolute Nothwendigkeit des Freyheitsbegriffs selbst mit sich bringt« (ebd.), unangetastet bleibt. Diese Auskunft Hegels ist wohl in dem bereits angezeigten Sinne zu verstehen, daß ein geistiges Prinzip, das sich auf allgemeine Weise durchgesetzt hat und damit zu einem neuen welthistorischen Prinzip geworden ist – wie das in der Autonomie des menschlichen Willens gründende Recht des subjektiven Willens –, zum normativen Maßstab gesellschaftlicher Verhältnisse wird. Dieses Prinzip bleibt aber auch insofern vom weltgeschichtlichen Geschehen ›unangetastet‹, als es im sich vollbringenden Vernunftzweck gleichsam aufgehoben ist. Mit demselben Recht läßt sich daher behaupten, daß das Prinzip der Moralität, insofern es eine Gestalt des (objektiven) Geistes und damit ein sich geschichtlich entwickelndes ist, keineswegs »unangetastet« bleibt vom weltgeschichtlichen Geschehen, sondern sich in der Weltgeschichte überhaupt erst durchsetzt. 7 Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. A. a.O. 166. 8 Enzyklopädie § 503. 9 Ebd. § 112. 10 Christa Hackenesch, die sich mit der Bedeutung des Begriffs Reflexion im Hinblick auf Hegels Lehre vom Wesen in der Logik befaßt hat, hat ihn u. a. auch in Beziehung zu

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heit des Selbstbewußtseins gehaltenen »Selbstspaltung der Reflexion«11, gilt der Mensch als jenes freie Wesen, das durch seine eigenen Entschlüsse und Handlungen − im Wissen um den Unterschied von Gut und Böse − schuldig wird. Seine Entschlüsse sind dabei allerdings ebenso offen für das Gute wie sie offen sind für das Böse; denn die Sphäre der Moralität bezeichnet noch nicht ein Wollen, das sich aus sich heraus an feste, allgemeingültige Kriterien für seine Urteile und Handlungen zu binden weiß, sondern diejenige Sphäre, in welcher sich der Mensch einzig seinen innersten Überzeugungen, deren Allgemeinheitscharakter er zugleich in Wort und Tat behauptet, verpflichtet glaubt.

4.1 Zum Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität Wir müssen uns kurz über den Standpunkt des abstrakten Rechts im Vergleich zu dem der Moralität verständigen: Das abstrakte Recht als die erste und unmittelbare Stufe der Entwicklung des Geistes in seinem objektiven Selbstverhältnis basiert auf einer Gestalt von subjektiver Freiheit, die über das objektive Dasein des Willens in einer Sache (Eigentum) vermittelt und an die Form des Vertrages als gemeinsame willentliche Übereinkunft von Rechtspersonen gebunden ist.12 Zwar ist auch das Verhältnis zu Sachen in dieser Sphäre des Rechts wesentlich über das Verhältnis zu Personen und deren Willen vermittelt13, dennoch ist das sich im Vertrag niederschlagende Verunserem ›gewöhnlichen‹ Verständnis von ›Reflexion‹ gesetzt; sie differenziert diesbezüglich zwischen zweierlei Bedeutungsebenen dieses Begriffs: »‹Reflektiert‹ nennen wir einen Menschen, der zwischen sich und seine Welt [die] Differenz des Denkens gesetzt hat, der in seiner Welt nicht einfach ›aufgeht‹. Darüber hinaus aber ist Reflexion als das Signum der Moderne überhaupt bestimmt worden: als die Selbstgewißheit des Menschen, der sich als Subjekt, als Grund einer ihm gegenüberstehenden Welt begreift und als den souveränen Autor ihrer Bestimmtheit.« (Christa Hackenesch in dem Beitrag zur Wissenschaft der Logik in dem Kommentarband: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). A. a.O. 110.) Zu Recht erinnert Hackenesch daran, daß es Hegel dagegen letztlich um eine »Reflexion der Reflexion« zu tun sei, also um Form und Methode einer Reflexion, die ihr eigenes Tun zum Gegenstand hat. Die Grenzen der Reflexion, die Hegel als die des Verstandes identifiziere, habe die Reflexion auf diese Weise selbst aufzuheben. Damit ist die Vernunft das »Sichbegreifen des Verstandes in seinem Tun« (ebd.). 11 Ock-Kyoung Kim: Art.: »Reflexionsbestimmung«. – In: Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers und Lu de Vos (Hgg.): Hegel-Lexikon. Darmstadt 2006. 384–386; hier 385. 12 Auf Hegels Begründung des Begriffs der Person sowie auf den daraus abgeleiteten Begriff des Eigentums wird im Kontext der einleitenden Überlegungen hinsichtlich seiner Konzeption der Strafe Bezug genommen (vgl. Kapitel 6.1). 13 Vgl. Henrich 69.

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hältnis subjektiver Willen zueinander insofern als ein negatives zu bezeichnen, als sich dieses in erster Linie durch das besondere Interesse auszeichnet, »mein Eigenthum, (dem Werthe nach) zu behalten und dem Andern das Seinige zu lassen.«14 Der Standpunkt des abstrakten Rechts läßt sich entsprechend in dem Rechtsgebot ausdrücken, den anderen Menschen hinsichtlich dieser formal-rechtlichen Grundlage seines Personseins zu respektieren.15 An das Personsein des Individuums ist aber nicht nur die Forderung der Anerkennung des Anderen als Rechtsperson geknüpft – was im Zusammenhang von Hegels Begründung der Strafe durchaus von wesentlicher Bedeutung ist −, sondern ebenso diejenige an das jeweilige Individuum, das sich als Rechtsperson begreift, sich als »freyes Ich zum Gegenstande und Zwecke«16 zu machen. Denn die Persönlichkeit fängt Hegel zufolge erst da an, wo das Subjekt »ein Selbstbewußtseyn von sich als vollkommen abstractem Ich« gewonnen hat, »in welchem alle concrete Beschränktheit und Gültigkeit negirt und ungültig ist.«17 Was die Person wesentlich ausmacht, ist ihre Fähigkeit, sich selbst durch das Denken zur »einfache[n] Unendlichkeit« und zu einem »mit sich rein identischen Gegenstand« (›Ich‹) zu erheben. Im Abschnitt über die Moralität hingegen geht es um mehr als um den Menschen in seinem Status als Rechtsperson in ihrer nur erst abstrakt-allgemeinen Freiheit; in der Perspektive der Moralität erscheint der Mensch als wollendes und gemäß seinen eigenen Bestimmungen – und damit gegenüber einer gesellschaftlichen Objektivität und ihren an den Einzelnen gerichteten normativen Erwartungen − handelndes Subjekt.18 In der enzyklopädischen Darstellung (1830) jenes Übergehens vom abstrakten Recht zur Moralität hebt Hegel die entscheidende Spannung zwischen diesen beiden Seinsweisen des Willens hervor. Der moralische Wille, so heißt es in Paragraph 502 der Enzyklopädie, sei in sich selbst vernünftiger, daseiender Wille.19 Dieser

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GPR § 113. Vgl. ebd. § 36. 16 Ebd. § 35. 17 Ebd. § 35 Anm. 18 Pirmin Stekeler-Weithofer kommentiert in diesem Zusammenhang: »Sprechen wir über die Person, so tun wir dies in der abstrakten Kategorie des Ansichseins. Das [moralische] Subjekt konkretisiert die Person in seinem Fürsichsein.« Und weiter führt StekelerWeithofer aus, daß Hegel das »konkrete personale Individuum in seinem An-und-fürsich-Sein als zusammengewachsen versteht aus den allgemeinen Praxisformen, an denen es teilzunehmen gelernt hat, und den einzelnen Urteilen und Entscheidungen, die es trifft. Das moralisch Gute steht dann auch nicht als nie wirklich erreichbares Ideal dem realen Entscheiden gegenüber, sondern wird immanent begriffen«. (Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Auto15

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vernünftige, in sich reflektierte Wille enthält »die Willensbestimmtheit überhaupt als Dasein in ihm als die seinige, unterschieden von dem Dasein der Freiheit in einer äußerlichen Sache«20. Wie wir noch genauer sehen werden, besteht die Freiheit, die mit dem Standpunkt des Moralischen verbunden ist, darin, daß all das, wozu sich das Subjekt willentlich entschließt, ein ausschließlich in ihm selbst und durch es selbst Gesetztes ist; in dieser Weise selbstbestimmt folgt es nicht fremden Inhalten, sondern eigenen Maximen und Interessen. Diese moralische Freiheit des Individuums bedarf indes einer ganz spezifischen Äußerungsweise, und die »tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung«21. Diejenige Gestalt der Objektivität, deren Voraussetzungen in seinem Wissen und Willen gelegen haben und die das moralische Subjekt zunächst einmal einzig anzuerkennen bereit ist, ist also die Handlung.22 Diese Bemerkung darf nun allerdings nicht in der Weise mißverstanden werden, als erreiche das moralische Subjekt zuerst den Standpunkt moralischer Freiheit, um sich anschließend daran zu machen, seine selbstgesetzten Zwecke zu realisieren. Vielmehr kann es sich hier vielmehr nur um eine tätig erwirkte Freiheit handeln, die selbst wieder dem alle einzelnen Handlungen des Subjekts übergreifenden Zweck dient, sich den Freiraum für selbstbestimmtes Handeln zu erhalten oder diesen zu erweitern. Das in diesem moralischen Sinne freie Individuum ist Hegel zufolge das aus der Negation der Negation, also das aus der Negation der Rechtsverletzung als einer Negation des Rechts in seiner Allgemeinheit hervorgehende Resultat historischer Rechtsentwicklung. Gemäß der von Hegel, im Kontext seiner Darstellung des abstrakten Rechts, vorgenommenen Analyse der Bestimmungen von Unrecht und Verbrechen23, zeigt sich im Unrecht der Wille im Widerspruch mit sich selbst, nomie. Frankfurt a.M. 2005. 351 f.) 19 An dieser Stelle der Enzyklopädie fügt Hegel eine Anmerkung ein, in der er auf die Frage reflektiert, worin das Recht, faßt man es im Sinne der freiheitlichen Verwirklichung geistiger Bestimmungen auf, seine Geltung habe. Das Naturrecht (vor-neuzeitlicher Tradition), so Hegels Kritik, habe Recht als eine Naturbestimmung aufgefaßt, in der Tat sei es jedoch nirgend anders als in der »freie[n] Persönlichkeit« und der Selbstbestimmung gegründet. Das Recht der Natur bestehe im Geltendmachen der Gewalt, und insofern stimmt Hegel Kant darin zu, daß über den Naturzustand nichts Besseres gesagt werden kann, als daß unbedingt über ihn hinauszugehen ist, da er ein Zustand der Abhängigkeit und Unfreiheit des Menschen ist (daher das Gebot: Exeundum est e statu naturae). 20 Enzyklopädie § 503. 21 Ebd. 22 »Nur eine Handlung, an der das moralische Subjekt Schuld hat, kann moralisch sein; Schuld kann das moralische Subjekt nur haben, wenn die Wirklichkeit vernünftig ist, d. h. sie muss einsichtig sein, sodass das Handlungsresultat mit dem vorhergehenden Handlungsvorsatz übereinstimmt.« (Paul Cobben: Art.: »Moralität«. – In: Paul Cobben, Paul

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fortgegangen zur immanenten Unterscheidung »des allgemeinen an sich und des einzelnen für sich gegen jenen seyenden«24 Willens. Aus diesem Widerspruch erwächst die Forderung nach einer diesen Gegensatz versöhnenden Gerechtigkeit, deren unmittelbare, also nicht durch das Allgemeine selbst vermittelte Erscheinungsweise der Vergeltung von Unrecht die Rache ist. Obgleich sie ihrem Inhalt nach gerecht ist, ist sie für Hegel doch der Form nach nichts weiter als die Tat des subjektiven Willens, der die Rechtsverletzung nach Maßgabe eigener Betroffenheit vergilt (wozu er nach älteren Rechtsvorstellungen unter bestimmten Umständen aber durchaus verpflichtet ist). Damit erreicht die Rache aber gerade nicht das, was sie intendiert, nämlich das Recht in seiner Geltung wiederherzustellen und gerecht zu vergelten, sondern stellt eine neue Rechtsverletzung dar: Der Widerspruch zwischen dem einzelnen Willen und dem Allgemeinen schreibt sich so fort, und die Rache »verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort.«25 – Wie auch die Schuld für ein Vergehen nicht allein derjenige zu tragen hat, der es begangen hat, sondern sich von Generation zu Generation fortpflanzt, wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen haben. Gerade am Beispiel der Rache zeigt sich aber strukturell die Mangelhaftigkeit eines bloß abstrakt gefaßten Rechts, wie sich übrigens auch die Mangelhaftigkeit des moralischen Standpunkts darin zeigt, daß die Entwicklung der einer Sphäre je zugehörigen Begriffe jeweils unendliche Prozesse in Gang setzt, die von jener »schlechten Unendlichkeit« sind, die immer dann hervortritt, wenn sich endliche Bestimmungen unvermittelt gegenübertreten.26 Es ergibt sich aus diesem Widerspruch des sich fortschreibenden Unrechts für Hegel die Forderung eines besonderen, subjektiven Willens, der als dieser besondere zugleich das Allgemeine will und der als Negation der bloß abstrakt-allgemeinen Geltung des Rechts entgegentritt und mit dem zugleich die Instanz einer strafenden Gerechtigkeit in den Blick tritt.27 Mit der im Kontext der Sphäre des abstrakten Rechts erörterten Rechtsverletzung als der versuchten Aufhebung des geltenden Rechts durch den subjektiven Willen, als einer Gestalt der Entgegensetzung von allgemeinem (an sich seienden) und einzelnem (für sich seienden) Willen, ist also die NotCruysberghs, Peter Jonkers und Lu de Vos (Hgg.): Hegel-Lexikon. A. a.O. 324–328; hier 327.) 23 Vgl. GPR §§ 84 bis 102. 24 Ebd. § 104. 25 Ebd. § 102. 26 Vgl. Maria Moneti: Die Rechte des Subjekts und die Aporien der Moralität. – In: Geschichtsphilosophie und Ethik. Herausgegeben von Domenico Losurdo. Frankfurt a.M. 1995. 277–291; hier 283.

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wendigkeit verbunden, das verletzte Recht in seiner Geltung wiederherzustellen. So bestimmt Hegel die Strafe in diesem Sinne als Wiedervergeltung, als – ihrem Begriff nach – Verletzung der Verletzung; als die Negation der im Unrecht gesetzten Negation des Rechts. Die Strafe hat jedoch Hegel zufolge ihre qualitativen und quantitativen Bestimmungen am Maßstab des Wertes der subjektiv gewollten Rechtsverletzung zu gewinnen, was sie aus Hegels Sicht von dem altertümlichen ius talionis unterscheidet, welches dem Prinzip der Herstellung spezifischer Gleichheit folgt.28 Die (gegen den subjektiven Willen) durchgesetzte Wiederherstellung des Rechts in seiner allgemeinen Geltung, findet zwar im Rahmen sich historisch herausbildender Institutionen statt, muß jedoch von Individuen im Namen und Interesse des Rechts erwirkt werden; daher muß sich aus Hegels Sicht auch im Individuum selbst ein Korrelat dieser allgemeinen geschichtlichen Entwicklung auffinden lassen: Das Recht und seine Geltung müssen zugleich ein subjektives Interesse darstellen. Im moralischen Selbstbewußtsein manifestiert sich daher Hegel zufolge »ebenso zugleich die fortgebildete innere Begriffsbestimmtheit des Willens.«29 Das abstrakte Recht oder: die abstrakte Realität des Begriffs des Rechts, in der sich die Momente des Begriffs voneinander trennen und eine scheinbar unabhängige Existenz gewinnen30, wird demnach aufgrund einer begrifflichen Notwendigkeit über sich hinausgetrieben. »Dieser Begriff der Moralität aber ist nicht nur ein Gefordertes, sondern in dieser Bewegung [in welcher der an sich seiende Wille durch Aufheben seines Gegensatzes in sich zurückkehrt, BC] selbst hervorgegangen.«31 Auf der Stufe der Moralität läßt der Wille das Allgemeine des Willens, das sich im allgemeinen Rechtszustand Dasein verleiht, nicht einfach hinter sich, sondern strebt danach, sich mit dem allgemeinen Willen identisch zu setzen – genaugenommen vollzieht sich hier der dialektische Prozeß, innerhalb dessen das Subjekt zunächst das Allgemeine negiert (d. h. sich ihm entgegensetzt und es in sich reflektiert), um sich schließlich (in der Reflexion auf das eigene Handeln) als mit ihm identisch zu begreifen.32 (Auf diesen Prozeß des moralischen Standpunkts wird noch zurückzukommen sein.) Fassen wir diesen Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität noch ein27

Vgl. GPR § 103. Vgl. ebd. § 101 sowie den Abschnitt 6.1.5 in dieser Arbeit. 29 GPR § 104. 30 Vgl. Ludwig Siep: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹. A. a.O. 268. 31 GPR §§ 103 und 104. 32 Vgl. Christoph Jermann: Die Moralität. – In: Ders. (Hg.): Anspruch und Leistung von 28

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mal zusammen: Durch die vom ansichseienden Willen vollzogene Aufhebung der Rechtsverletzung, verstanden als die Negation des ansichseienden Willens durch den einzelnen, fürsichseienden Willen, kehrt jener schließlich in sich zurück und ist damit »für sich und wirklich geworden«33. Daß der allgemeine Wille, wie es eben hieß: in sich zurückgekehrt ist, bedeutet für Hegel nichts anderes, als daß er in den einzelnen Individuen zu einem Bewußtsein seiner selbst gelangt ist. Indem sich der ansichseiende Wille also nunmehr zur »sich auf sich beziehende[n] Negativität« bestimmt hat, macht die »so für sich unendliche Subjectivität der Freyheit […] das Prinzip des moralischen Standpunkts aus.«34 Indem der allgemeine Wille den Widerspruch aufhebt, der sich durch die rechtsverletzende Handlung zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Willen ergeben hatte, begreift dieser sich damit als allgemeiner Wille in seinem Dasein35, oder – wie es an der bereits genannten Stelle in der Enzyklopädie (§ 502) heißt: – der subjektive Wille ist nunmehr zum »Dasein des vernünftigen Willens« gereift. Mit der hiermit begrifflich erreichten Stufe einer ›strafenden Gerechtigkeit‹ in dem angezeigten Sinne leitet Hegel jedoch gerade nicht direkt zum Staat oder zur bürgerlichen Rechtspflege über, sondern zur Moralität, die ihrerseits eben die Sphäre einer Subjektivität bezeichnet, die in ihrer Besonderheit dazu fähig ist, das Allgemeine in die eigene Willensbestimmung aufzunehmen oder es der subjektiv-willkürlichen Willensbestimmung unterzuordnen. So bezeichnet die Sphäre des Moralischen, welches dem »Princip der Besonderheit«36 verpflichtet ist, das eine Moment dieses Gegensatzes, da es ebensowohl identisch ist mit dem Allgemeinen, wie es auch von diesem unterschieden ist. Aus Hegels Sicht kann es daher auch nur als vollkommen verfehlt betrachtet werden, das Moment der Besonderheit innerhalb der moralischen Subjektivität als gegen das Allgemeine selbständig zu denken, und so die Entgegensetzung beider gegeneinander zu fixieren. − Die systematische Entwicklung der angedeuteten Spannung, die zwischen den beiden genannten Momenten von Subjektivität und Allgemeinheit besteht, wird allerdings zeigen, daß auf der Stufe der Moralität die Wirklichkeit des Rechts als eines allgemein und um seiner selbst willen anerkannten und damit geltenden Rechts eben gerade noch nicht garantiert werden kann.37

Hegels Rechtsphilosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 101–144; hier 104. 33 GPR § 104. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd. § 104. 36 Ebd. § 124 Anm. 37 Ludwig Siep zufolge ist es als eine Neuerung gegenüber den Jenaer Schriften Hegels

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4.2 Zur Dialektik der Moralität (GPR §§ 104 bis 114) Wenden wir uns nach diesen einführenden Überlegungen der näheren Bestimmung der Sphäre der Moralität zu. Moralische Subjektivität, wie sie von Hegel zu Beginn des hier zu diskutierenden Kapitels der Grundlinien bestimmt wird38, kommt insofern einer allgemeinen Bestimmung von Subjektivität überhaupt gleich, als sie die bewußte Selbstbestimmung des Willens bezeichnet; sie ist damit zugleich die Sigle für das unter den Bedingungen der modernen, also bürgerlichen Gesellschaft verbürgte Recht des subjektiven Willens, sich selbst in allem zu finden, was er tut.39 Hinsichtlich des Aufbaus des Moralitätskapitels ist zunächst im wesentlichen soviel zu sagen: Nach einer einleitenden Passage, die den allgemeinen Standpunkt des Moralischen als das nicht unmittelbar dem Unrecht oder dem Unmoralischen Entgegengesetzte vorstellt, sondern die umfassende Bedingung der Möglichkeit sowohl des moralisch guten wie schlechten Handelns in der »Subjectivität des Willens«40 verortet, wird zunächst in den Paragraphen 113 bis 118 die moralische Handlung als Ausdruck des einzelnen subjektiven Willens eingeführt, deren wesentliche Bestimmung das von Hegel in Anspruch genommene »Recht der Besonderheit des Subjekts« oder der subjektiven Freiheit als der Identität des Willens mit sich ist.41 Die Handanzusehen, daß »aus der Selbstaufhebung des Verbrechens nicht die ›absolute Sittlichkeit‹ des Staates, der Macht über Leben und Tod der Einzelnen […], hervorgeht, sondern der Übergang zu einem subjektiven und zugleich die Besonderheit des einzelnen Subjekts, seine Distanz zum vernünftig Allgemeinen, negierenden Willen gemacht wird: zur Moralität.« (Ludwig Siep: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹. A. a.O. 270.) 38 Vgl. GPR §§ 105 bis 112. 39 Christian Iber ordnet daher auch mit Recht die Sphäre der Moralität als der »Sittlichkeit des bourgeois oder des Privatmenschen« der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu, da sich der bourgeois an solchen moralischen Kategorien wie dem Wohl (in erster Linie dem eigenen) orientiert. Weiter hat der Privatmensch die Möglichkeit, sich caritativ zu betätigen und nach Maßgabe seiner subjektiven Auffassung vom Wohl seinen Mitmenschen ›Gutes‹ zu tun. Beide Sphären, die der Moralität und die des von Hegel so bezeichneten ›Systems der Bedürfnisse‹, sind Iber zufolge durch das Recht der Freiheit des einzelnen Subjekts miteinander verbunden. »Moralisch ist ein Freiheitsverständnis, demzufolge sich der normativ auf Allgemeinheit ausgerichtete Wille des einzelnen Subjekts mit seinen Absichten und Vorhaben identifiziert, weil er in ihnen den authentischen Ausdruck seiner selbst hat.« (Christian Iber: Hat Moralität in Hegels Konzeption der Sittlichkeit eine Chance? – In: Hegels politische Philosophie. Hegel-Jahrbuch. Berlin 2008. 130 ff.; hier 130.) Zutreffend konstatiert Iber, daß das Allgemeine der Moralität nur ein subjektives, ein partikuläres Allgemeines ist, welches aus der moralischen Subjektivität hervorgeht, ohne zugleich ihre substantielle Grundlage zu sein. 40 GPR § 108 Anm.

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lung – nur soviel ist an dieser Stelle bereits vorwegzunehmen − enthält eine dreifache Bestimmung. Sie ist erstens »von mir in ihrer Äußerlichkeit als die meinige gewußt«, zweitens steht sie, von ihrer allgemeinen Natur her begriffen, in wesentlicher »Beziehung auf den Begriff als ein Sollen« und drittens auf den Willen anderer.42 Die Handlung, die im ersten Durchgang (§§ 113 bis 118) hinsichtlich ihrer Bestimmungen ›Vorsatz‹ und ›Schuld‹ thematisch ist, wird im Abschnitt »Die Absicht und das Wohl« unter der Perspektive der mit der Handlung verbundenen subjektiv-allgemeinen Absicht und nach Maßgabe des ›Wohles‹ untersucht; das Wohl verstanden als Inbegriff des Wertes, den eine Handlung für den Handelnden hat und als höchste moralische Kategorie zur Bewertung der Handlung in Ansehung der durch sie ermöglichten subjektiven Befriedigung.43 Im Anschluß an die Darlegung des Rechts des Subjekts, sich »in seiner Handlung befriedigt« zu finden und »zur Anschauung seiner als dieses Besondern«44 zu gelangen, leitet Hegel über zu dem Recht des moralischen Subjekts auf das Wissen um das Gute und um das, was es als seine Pflicht anerkennen soll. Denn das Gute als das »Wesen des Willens in seiner Substantialität und Allgemeinheit«45 ist dem Menschen »schlechthin nur im Denken und durch das Denken« gegeben. Diese Freiheit des subjektiven Willens, etwas nur dann anzuerkennen, insofern es »das Seinige« ist und er »darin sich als subjectives ist«46, ist daher zum einen auf die Handlung in ihrer Äußerlichkeit zu beziehen und zum andern auf den inneren Gehalt der Handlung (die subjektive Auffassung vom Guten, die sich im intendierten Erfolg der Handlung Ausdruck verschafft). Dieses Recht auf Einsicht in das Gute beinhaltet demnach den offenbaren Bezug auf das Gute in seinem allgemeinen Sinn und gleichwohl aus der gebrochenen Perspektive des moralischen Subjekts; aus diesem Verhältnis des subjektiven Willens zum Guten als einem für ihn substantiellen Gehalt leiten sich die ›Pflicht‹ und das ›Gewissen‹ her, und erst dieser wesentliche oder – im Gegensatz zu den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels – materielle Bezug des moralischen Subjekts auf das Gute in seiner allgemeinen Form ermöglicht das moralische Werturteil. Im Folgenden wird Hegels Theorie der Moralität unter den folgenden drei Gesichtspunkten zu betrachten sein: Erstens wird zu fragen sein, was Hegel unter dem »Prozeß« der Moralität versteht, zweitens wird uns der Begriff

41 42 43 44 45

Vgl. ebd. § 110. Vgl. ebd. § 113. Vgl. ebd. §§ 119 bis 128. Henrich 95. GPR § 132 Anm.

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der Selbstbestimmung als eines wesentlichen Moments des subjektiven Willens beschäftigen und drittens der für die Moralität konstitutive Verhältnischarakter von moralischem Selbstbewußtsein und Allgemeinem.

4.2.1 Die Sphäre des Moralischen als Prozeß Auf eine erste, aber umfassende Charakterisierung dessen, was ›das Moralische‹ auch im systematischen Zusammenhang des Ganzen der Hegelschen Rechtsphilosophie bedeutet, oder auf das Telos, das dieser zweiten Sphäre innerhalb des objektiven Geistes innewohnt, stoßen wir in § 106 der Grundlinien. Die Moralität stellt für Hegel die »reale Seite des Begriffs der Freyheit« dar; diese Freiheit muß sich jedoch realisieren, und das geschieht prozeßhaft: Der »Prozeß dieser Sphäre ist, den zunächst nur für sich seyenden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seyenden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben, und ihn für sich als identisch mit dem an sich seyenden Willen zu setzen.«47 Wenn sich der subjektive Wille mit dem Allgemeinen auf diese Weise identisch setzen, sich mit ihm identifizieren kann, muß er − davon geht Hegel plausibler Weise aus − seinem Ansichsein nach auch als identisch mit dem allgemeinen Willen aufgefaßt werden. Diese ihm immanente Allgemeinheit muß er jedoch als eine bewußte setzen, er muß sie in sein Selbstbewußtsein aufnehmen; erst wenn dies gelungen ist, ist im eigentlichen Sinne nicht mehr von einem moralischen, sondern einem sittlichen Selbstbewußtsein die Rede. Am Ende des Prozesses, den das moralische Subjekt durchläuft – jedenfalls, sofern es seinen eigenen Konstituierungsprozeß nicht unvollendet abbricht und sich in seinen subjektiven Überzeugungen ›einhaust‹ − steht also die Selbstbestimmung des subjektiven Willens »zum ebenso objectiven hiemit wahrhaft concreten«48 Willen; man könnte in diesem Zusammenhang also – wie auch mit Blick auf den dargestellten Prozeß des subjektiven Geistes – von einer »willensmäßige[n] Selbstaneignung«49 46

Ebd. § 107. Ebd. § 106 Anm. 48 Ebd. 49 Ludwig Siep: Hegel über Moralität und Wirklichkeit. A. a.O. 217. Diese ›willensmäßige Selbstaneignung‹ des moralischen Subjekts wird von Siep in erster Linie kritisch aufgefaßt; er bringt damit zwar zunächst einmal den Umstand zum Ausdruck, daß sich das subjektive Bewußtsein in seinem Handeln auf Zwecke und Gründe richtet und in diesem Sinne selbstbestimmt ist, Siep gibt dieser Form moralischer Selbstbestimmung aber zugleich die kritische Wendung, daß diese Selbstbestimmung für das moralische Subjekt mit dem Interesse verbunden ist, die Prinzipien eines für alle gültigen Handelns aus dem 47

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sprechen. – Es ist dieser Prozeß, der seinerseits auf der dialektischen Struktur des subjektiven Willens beruht, den ich als einen Bildungsprozeß bezeichne. Und weil dieser Bildungsprozeß über die Äußerung des moralischen Willens (Handlung) vermittelt ist, setzt er insofern zugleich das Sich-Fremdwerden des subjektiven Willens in der Objektivität seines Tuns voraus, als dieser in Gestalt des ausgeführten Zwecks mit dem Willen anderer Subjekte in ein Verhältnis tritt, die das Getane beurteilen und interpretieren und der Handlung – wiederum aufgrund eigener moralischer Ansichten − einen allgemeinen Sinn zuschreiben. »Die Ausführung meines Zwecks«, so heißt es bei Hegel weiter, hat »diese Identität meines und anderer Willen in sich«50. Die Objektivität des ausgeführten subjektiven Zwecks impliziert daher einerseits, daß der Zweck in seiner Objektivität dem Subjekt als der seinige bewußt ist, daß er »meine Subjectivität für mich enthalte«51, wodurch die Beziehung auf Äußeres im selben Moment zur Selbstbeziehung wird.52 Andererseits enthält der ausgeführte Zweck aber eben nicht nur die Subjektivität des Handelnden, sondern zugleich die »Objectivität des Begriffes«53 sowie die Beziehung auf den Willen Anderer in sich54; der ausgeführte Zweck wird damit zu einem Moment der Objektivität selbst. Einerseits kritisiert Hegel mit seiner Bestimmung der Moralität verstanden als Prozeß, der von einer nur ansichseienden Identität mit dem Allgemeinen zu einer bewußten Identität mit demselben führt, die Behauptung, ›wahre‹ Freiheit erschöpfe sich in dem Standpunkt bloßer Willkür, in deren Besitz sich der Mensch zwar für frei halten mag, es aber dem Hegelschen Verständnis nach keineswegs ist.55 Das moralische Subjekt bewegt sich immer schon eigenen Inneren zu schöpfen (vgl. ebd.). Die »Logik dieser Subjektivierung führt aber […] zunächst zum ›Wirklichkeitsverlust‹«, was sich in den Extremgestalten einer sich absolut setzenden Subjektivität, dem Bösen, Ausdruck verschafft. ›Unwirklich‹ ist das moralische Individuum insofern es »reines Postulieren« ist (ebd. 218). Oder anders formuliert: Das moralische Individuum hat Wirklichkeit einzig durch seine Teilhabe an der sozialen Wirklichkeit des objektiven Geistes; abgetrennt von dieser entbehrt es der Bestimmung von Wirklichkeit im eigentlichen Sinne (vgl. ebd. 219). 50 GPR § 112. 51 Ebd. § 110. 52 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 382. 53 GPR § 111. 54 Vgl. ebd. § 112. 55 Ich verweise an dieser Stelle auf den Abschnitt 3.3 der vorliegenden Arbeit, in dem ich mich näher mit dem Begriff der Willkür befasse. Hier sei nur soviel gesagt: Die Moralität, die im Ganzen der Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie die Sphäre der Reflexion bezeichnet (vgl. GPR § 114), entspricht dem in der Einleitung zu den Grundlinien entwikkelten Begriff der Willkür im Sinne des Willens in Gestalt des Selbstwiderspruchs (vgl. GPR § 15 Anm.), der die reflektierende »Mitte« bildet zwischen dem Willen als bloß durch die natürlichen Triebe bestimmt, und dem »an und für sich freien Willen«. Vgl. dazu auch

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in teils vorgegebenen, teils von ihm hervorgebrachten Strukturen der Sittlichkeit und der institutionellen Ordnung, zugleich aber, so betont Hegel, strebt es aus sich heraus nach objektiven Inhalten, die nicht allein durch es selbst gesetzt sind, sondern die auf institutionell vermittelten, objektiven ethischen Kriterien beruhen. Gleichwohl, so Hegels grundlegender Einwand diese Sphäre subjektiver Freiheit betreffend, ist es auf dem Standpunkt der Moralität unmöglich, zu tatsächlich objektiven und allgemein-verbindlichen Inhalten zu gelangen. Diese Einseitigkeit hat für Hegel zur Folge, daß die Sphäre der Moralität – ebenso wie die des abstrakten Rechts – in die synthetisierende Einheit des sittlichen Seins überführt werden muß. Erst wenn die subjektive Freiheit mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen kann, kann sie ihre – von Hegel allerdings auch wieder eingeschränkte − Funktion eines kritischen Korrektivs wahrnehmen. Darüber hinaus aber scheint es Hegel mit seiner Bestimmung der Moralität im Sinne eines Prozesses um mehr zu gehen als nur um dies. Das Festhalten an einer moralischen Willkürfreiheit, das sich auf Kosten der objektiven Seite der Freiheit geltend zu machen sucht, wird dem nicht gerecht, wonach das moralische Subjekt von sich aus im Grunde strebt und was es der Möglichkeit oder seinem Ansichsein nach immer schon ist, nämlich in sich Allgemeines. (So daß ein Verharren in der Sphäre der Moralität eine Entfremdung des Subjekts von dem bedeutet, was es seinem Wesen nach ist.) Die von Hegel kritisierte Auffassung, in welcher Willkürfreiheit (entsprechend der Sphäre der Moralität) mit ›wahrer‹ Freiheit verwechselt wird − die seiner Ansicht nach allein in der Vernunftstruktur staatlicher Ordnung zu etablieren und zu garantieren ist −, legt einen falschen oder wenigstens unzureichenden Begriff von (moralischer) Subjektivität zugrunde, dem gemäß es ihr genügen könnte, Gebrauch von solcher Willkürfreiheit zu machen, sich rein zufällig für das Gute und gegen das Böse zu entschließen und sich in ihrem Wollen nicht an einen ›festen‹ und objektiven Inhalt binden zu müssen, der ihm mehr gilt als die Auskunft des eigenen Gewissens. Die auf das subjektive Gewissen reduzierte Subjektivität auf der Entwicklungsstufe moderner Moralität wird ihr Hegel zufolge aber nicht gerecht, beschneidet sie vielmehr um das ihr Wesentliche; denn moralische Subjektivität, die sich selbst in den Prozeß moralischer Reflexion entläßt, stellt an sich selbst die Bewegung dar, sich mit dem Allgemeinen zu identifizieren. Der unmittelbare Selbstwiderspruch, der mit der sich selbst absolut setzenden Subjektivität verbunden ist, tritt Hegel zufolge nirgends deutlicher hervor als auf dem Standpunkt des moralischen Gewissens, denn das Gewissen ist dem »Urtheil unterworfen, ob es wahrhaft ist oder nicht, und seine Berufung nur auf sein Selbst ist unmittelbar dem entgegen, was es seyn will, die Regel einer vernünftigen, an und für sich gültigen allgemei-

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nen Handlungsweise.«56 Gleichwohl – und das ist sozusagen die Crux an der Sphäre der Moralität – kann das moralische Subjekt, wo es sich nicht bewußt von sich abstößt, in all seinem Streben nicht zu jenen objektiven Inhalten gelangen. Dies gelingt nach Hegel einzig den sittlichen Institutionen, die als »vom substantiellen Willen gewollte Gestalten gegenüber willkürlichen Einfällen unabhängig«57 sind. Gegenüber dem Bereich des abstrakten Rechts und dem der Moralität als denjenigen Sphären, in denen die Einzelheit und die Besonderheit »ihre unmittelbare und reflectirte Realität haben, ist der Geist [der sittlichen Institutionen] als ihre in sie scheinende objective Allgemeinheit, als die Macht des Vernünftigen in der Nothwendigkeit«58 anzusehen. 4.2.2 Selbstbestimmung Die aus der Sphäre nur erst abstrakter und äußerlicher Freiheit in Gestalt des Eigentums in sich selbst zurückgehende Subjektivität und »sich auf sich beziehende Negativität«59 ist das wesentliche Moment subjektiver Freiheit, die ihrerseits, wie gesagt, das Prinzip des moralischen Standpunkts ausmacht. Subjektive Freiheit setzt die grundsätzliche (subjektive wie objektive) Möglichkeit der konkreten Selbstbestimmung des Subjekts voraus. Dieses Insichgehen des Subjekts jedoch, das sich nunmehr real- wie bewußtseinsgeschichtlich ergeben hat, stellt eine unumkehrbare Entwicklung dar und begründet seinerseits konkrete Rechtsansprüche des Subjekts. Die moralische Reflexion des sich selbst bestimmenden Subjekts geht aber zugleich mit einem Akt der Entzweiung von Einzelnem und Allgemeinem einher. Anders formuliert: Die Moraltheorie als der systematische Ort der Entfaltung des Prinzips der Subjektivität als eines in sich selbst dialektisch verfaßten Moments innerhalb der umfassenden dialektischen Selbst-Verwirklichung des Geistes muß selbst als ein Resultat historischer Entwicklungen begriffen werden, das erst mit der Französischen Revolution zum zentralen Aspekt gesellschaftlicher Theorie und praktischer Auseinandersetzung geworden ist.

Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. A. a.O. 167. 56 GPR § 137 Anm. 57 Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. A. a.O. 169. In diesem Sinne spricht Kobusch davon, daß das Gelten »die den Institutionen, dem Sittlichen überhaupt als einem Geistigen eigene Seinsweise ist.« (Ebd.) Und er begreift dies Gelten mit Recht als das Anerkanntsein durch den substantiellen Willen« und nicht in dem Sinne, wie es im südwestdeutschen Neukantianismus aufgefaßt wird, nämlich als einen Bereich, der vom Denken und Wollen des Einzelnen losgelöst ist. 58 GPR § 263.

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Der soeben angesprochene Prozeß des moralischen Standpunkts impliziert ferner, daß das Subjekt dasjenige, was es für gut oder richtig hält, zu seinem »wahrhafte[n] Begriff«60 macht und als ein Objektives setzt. Auch die Selbstbestimmung vollzieht sich dialektisch: Die innerlich gefaßte Willensbestimmung, die tätig verwirklicht werden soll, ist durch das moralische Subjekt in ihm selbst gesetzt; es bestimmt sich zu einem besonderen Inhalt, der ihm jedoch zugleich eine Schranke darstellt, denn es handelt sich dabei ja zunächst um eine lediglich subjektive teleologische Setzung, die erst verwirklicht werden soll; insofern ist die Selbstbestimmung des moralischen Subjekts hier, vor aller Verwirklichung des subjektiven Zwecks, noch defizitär. Durch diese subjektiv-innerliche Setzung eines bestimmten Willensinhalts erfährt sich das Subjekt also zunächst einmal gerade nicht als frei, sondern findet seine Grenze an einer Objektivität, die seinem Zweck gegenübersteht oder ihm sogar widerstreitet. Die Subjektivität muß also dazu übergehen, diesen Mangel der nur innerlichen Selbstbestimmung abzulegen und das Innerliche äußerlich, als ein unmittelbares Dasein zu realisieren. Die »einfache Identität des Willens mit sich in dieser Entgegensetzung« ist der sich in beiden Formen gleichbleibende Inhalt: der Zweck, der aus der Form der Subjektivität in die der Objektivität überführt wird.61 Den Inhalt solcher moralischen Selbstbestimmung begreift Hegel einerseits als ein Besonderes, andererseits aber entspringt er dem in sich reflektierten und »mit sich identischen und allgemeinen Willen«62 des moralischen Subjekts und steht daher notwendig in einem Bezug auf allgemeine Normen und allgemein anerkannte Praxisformen, mit denen der subjektive Zweck übereinstimmen, aber ebenso von ihnen abweichen kann.

4.2.3 Entzweiung des moralischen Subjekts Um noch einmal auf den bereits erwähnten und die Dynamik der Moralität bedingenden Unterschied zwischen dem einzelnen, fürsichseienden und dem allgemeinen Willen zu sprechen zu kommen, so liegt in diesem aus der Sicht Hegels zunächst einmal der Grund dafür, daß der subjektive Wille zu Beginn des angesprochenen Prozesses der Moralität als »abstract, beschränkt und formell«63 erscheint. Der moralische Standpunkt als diejenige Bewußt-

59 60 61 62

Ebd. § 104. Ebd. § 107 Anm. Vgl. ebd. § 109. Ebd. § 111.

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seinsform, in welcher sich das selbstbewußte moralische Subjekt aufgrund seiner eigensten weltanschaulichen Überzeugungen – entweder kritisch oder affirmativ – auf die sittliche Struktur und die tradierte ethische Ordnung der jeweiligen Gesellschaft bezieht, erweist sich so näher als der Standpunkt des Verhältnisses, des Sollens und der Forderung, die sich in der subjektiven Innerlichkeit selbst widerspiegeln: »In dem moralischen Zweck den das Subjekt für sich hat und haben muß ist es allerdings nöthig daß der Mensch auf seine Partikularität hält und sie mit dem vergleicht was der substantielle Mensch fordert.«64 Was Hegel hier, der Überlieferung nach, beschreibt, ist die Spannung zwischen der bloßen Befolgung oder Anwendung von Regeln des positiv gesetzten Rechts oder impliziter Normen einer je konkreten Sitte auf der einen Seite und einem in gewisser Hinsicht also als notwendig erachteten Urteilen und Handeln aus eigener Einsicht und in selbstbestimmter Setzung bzw. Bewertung von Normen oder Regeln durch das handelnde Subjekt auf der anderen Seite.65 Die Sphäre der Moralität zeichnet sich aber, zugespitzt, durch den Anspruch aus, daß das Individuum die moralischen Gebote als innerliche, als Selbstverpflichtungen, anerkennen soll, wodurch sich umso deutlicher zeigt, daß in solchen Akten »ein gewisses Entzweireißen der Persönlichkeit [geschieht]: Das verinnerlichte moralische oder ethische Gebot soll sich aus eigenem Wollen, aus eigener Kraft des betreffenden Menschen verwirklichen, indem es jene Widerstände besiegt, die die Affekte, Vorurteile etc. desselben Menschen ihm entgegenstellen.«66 Sich als Subjekt zu denken bedeutet, sich als denkendes, unendliches und freies Wesen zu denken, sich selbst − in Ermangelung einer unmittelbar und allgemein verbindlichen sittlichen Ordnung, wie sie das Kennzeichen der griechischen Antike ist − einen objektiven Inhalt geben zu müssen und sich »gleichzeitig […] in eine Art Endlichkeit zu schicken, die aus dem Gegensatz und dem Bruch mit der Zirkularität der konkreten Individuen und ihrer ethischen Welt herrührt.«67 Es besteht eine grundsätzliche Spannung zwischen dem, was das Subjekt für sich verlangt, und dem, was die Objektivität als rationale Forderung und entgegenstehendes Recht geltend macht.68 Die Aufgabe des Moralitätskapitels der Grundlinien muß demnach darin bestehen, die Rechte und Ansprüche des Subjekts vor dem Hintergrund eines am Allgemeinen orientierten Standpunkts zu prüfen, da sie, wo sie uneingeschränkt anerkannt sind, jede stabile Gesellschafts- und Rechtsordnung unterminieren. 63 64 65 66 67

Ebd. § 108. GW 25,1. 155. Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. A. a.O. 338. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. 2. Berlin und Weimar 1987. 554 f. Maria Moneti: Die Rechte des Subjekts und die Aporien der Moralität. A. a.O. 284.

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Diese prinzipielle Zerrissenheit des moralischen Subjekts, was seine eigene Setzung und Bewertung geltender Normen anbetrifft69, schreibt sich, wie wir im Zusammenhang mit der Darstellung von Hegels Lehre von der Handlung noch deutlich sehen werden, im Handeln fort. Diese Zerrissenheit macht sich geltend in der dialektischen Spannung zwischen der prinzipiellen Notwendigkeit, innerhalb von endlichen und den Handelnden determinierenden Strukturen agieren zu müssen und sich darin dem Gesetz der Objektivität preisgeben zu müssen einerseits und den sich aus dem unendlichen Selbstbezug des denkenden Menschen und seiner Vernunftallgemeinheit ableitenden Geltungsansprüchen andererseits. Denn in eben jener Vernunftallgemeinheit sieht Hegel einerseits die subjektive Freiheit des modernen Menschen und sein Recht auf Befriedigung durch selbstbestimmte Zwecksetzung begründet − zugleich ist der Mensch aufgrund seiner Eigenschaft einer Vernunftallgemeinheit aber andererseits auch der Adressat rechtlicher und sittlicher Erwartungen. Das moralische Subjekt kann sich daher auch nicht in sich verschließen, ohne daß es selbst – in einer schönen Formulierung von Gabriel Amengual – »zerbricht in seinem Inneren.«70 Moralische Subjektivität verlangt und strebt von sich aus nach einem, nicht willkürlich durch sie selbst gesetzten objektiven Inhalt.71 Ihren Ausdruck findet diese der Subjektivität

68

Vgl. ebd. Diese die Moderne kennzeichnende grundsätzliche Zerrissenheit, die Hegel bereits in frühen Schriften diagnostiziert, bringt das Bedürfnis der Philosophie als allgemeines Bedürfnis der Zeit hervor. Der Philosophie kommt demnach die Aufgabe zu, die festgewordenen Gegensätze von Subjektivität und Objektivität wieder flüssig zu machen und ihre ursprüngliche Identität begrifflich nachzuvollziehen. (Vgl. G.W.F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801). – In: G.W.F. Hegel: Jenaer kritische Schriften. Herausgegeben von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler. Hamburg 1968. 14 (=GW 4). Die Erfahrung der Zerrissenheit, die Erfahrung, »daß ich mir durch Reflexion, Denken, nicht selbst helfen kann (überhaupt nicht auf mir stehe, ist das Bedürfnis der Religion überhaupt) und doch absolutes Verlangen nach etwas Festem, wirft mich von dem Denken über sie zurück und führt mich auf das Festhalten an dem Inhalt, der so substantiell und gediegen in sich ist in der Gestalt, wie er gegeben ist.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung in die Philosophie der Religion. Der Begriff der Religion. Neu herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1993. 155 f.) Zugleich wird in Hegels Entfaltung der Sphäre des objektiven Geistes aber deutlich, daß die Religion für die moderne Gesellschaft nicht mehr das Mittel sein kann, diesen Bruch zu heilen; diese Funktion übernimmt in ethisch-politischer Hinsicht nunmehr (weitgehend) die institutionalisierte Sittlichkeit. 70 Gabriel Amengual: Subjektivität in der Rechtsphilosophie Hegels. – In: Subjektivität und Anerkennung. Herausgegeben von Barbara Merker, Georg Mohr und Michael Quante. Paderborn 2004. 195–212; hier 210. 71 Hinsichtlich der hier beschriebenen immanenten Allgemeinheit der Subjektivität heißt es in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion, daß der »Charakter der 69

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innewohnende Natur der Allgemeinheit par excellence in der Handlung − denn dort, wo das Subjekt mit seiner Handlung scheinbar bloß besondere Zwecke verfolgt, markiert die Handlung oder die Objektivität des ausgeführten Zwecks den Umschlagspunkt der unmittelbaren Subjektivität in die »allgemeine Subjectivität«72, in diejenige Form von Subjektivität also, die sich in der Objektivität zu erhalten vermag.73 Der Staat schließlich, insofern er für Hegel die »Wirklichkeit der konkreten Freiheit«74 darstellt, gewinnt seine Legitimation und sein Bestehen durch die ihm zugrundeliegende wechselseitige Anerkennung von Einzelnem und Allgemeinem: Wie das Individuum einerseits in seiner Besonderheit anerkannt ist − und diese vornehmlich in der Sphäre der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft geltend macht, in der seine besonderen Interessen gleichwohl auf ökonomische Weise mit dem gesellschaftlichen Interesse wiederum vermittelt sind −, so ist andererseits an den Einzelnen der Anspruch einer politischen Gesinnung gemacht, die ihm gestattet, »theils mit Wissen und Willen dasselbe [das Staatswesen] und zwar als [seinen] eigenen substantiellen Geist an[zu]erkennen und für dasselbe als [seinen] Endzweck thätig«75 zu sein. Wenn wir sagen, die Pointe von Hegels Bestimmung der Moralität sei darin zu sehen, daß die immanente Logik der moralischen Subjektivität gerade darin liegt, daß sie sich in das Allgemeine hineinzubilden sucht, dann ist eine Gestalt dieses Bildungsprozesses das Gewissen als ein Versuch, »in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht

Person, des Subjekts« eben darin besteht, »seine Isolierung und Abgesondertheit aufzugeben. Sittlichkeit, Liebe ist eben dies, seine Besonderheit […] aufzugeben, sie zur Allgemeinheit zu erweitern […]. Das Wahre der Persönlichkeit ist eben dies, sie durch das Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften. Hamburg 1983 ff. (=Vorlesungen). Bd. 5: Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. Die vollendete Religion. Neu herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1984. 211 (=Hegel: Vorlesungen, Bd. 5). 72 GPR § 112 Anm. 73 Auch für Joachim Ritter stellt es sich so dar, daß die wechselseitige Durchdringung von Besonderem und Allgemeinem in der Rechtsphilosophie »inhaltlich und konkret in dem Übergang von dem moralischen Willen zu seiner Äußerung als Handlung […] begründet« ist, insofern die Handlung der Prozeß ist, den subjektiven Zweck in die Objektivität zu übersetzen. Darüber hinaus macht Ritter deutlich, daß Hegel im Begriff der Handlung den für die aristotelische Politik und Ethik grundlegenden Begriff der Praxis aufgreife, denn für Aristoteles gelte das individuelle Handeln als ein Bestandteil der allgemeinen ethischen Ordnung. (Vgl. Joachim Ritter: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik. – In: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a.M. 1969. 281–309; hier 302 ff; Ritter bezieht sich in seinen Ausführungen auf die Nikomachische Ethik, 1103 a 19 ff.) 74 GPR § 260.

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und Pflicht ist«, verbunden mit der Behauptung, »daß was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist.«76 Bevor wir im folgenden Abschnitt gleich zum dritten Teil des Moralitätskapitels übergehen (»Das Gute und das Gewissen«) – da Hegel in den beiden vorangehenden Abschnitten des Kapitels »Der Vorsatz und die Schuld« und »Die Absicht und das Wohl« im Wesentlichen seine Theorie der Handlung ausarbeitet, mit der wir uns in Kapitel IV ausführlich beschäftigen werden – will ich an die drei Seiten des »Recht[s] des moralischen Willens« erinnern, in deren Rekapitulation zugleich noch einmal die Einteilung des Moralitätskapitels hinsichtlich der jeweiligen Schlüsselbegriffe einer jeden Sphäre deutlich wird77: Der ›Vorsatz‹ bezeichnet nach Hegel zunächst einmal das abstrakte oder formelle Recht des moralischen Willens, den Inhalt der ausgeführten Handlung als den von ihm selbstbestimmt gesetzten wiederzuerkennen. Was den besonderen Inhalt der Handlung seiner Innerlichkeit nach betrifft, so drückt er sich zum einen in der ›Absicht‹ des Handlungssubjekts aus und zum andern entspricht dieser Inhalt als der besondere Zweck einer subjektiven Auffassung vom ›Wohl‹. Drittens schließlich steht dieser partikuläre Zweck in Beziehung auf das Gute als ›absoluten Zweck‹, der sich in dieser Sphäre moralischer Reflexion allerdings seines Charakters der bloß subjektiven Allgemeinheit noch nicht entkleidet hat, und der sich von daher wiederum entweder als das Böse oder als das Gewissen darstellt; mit der Frage, wie sich jener ›absolute Zweck‹ des Guten in das Böse verwandeln kann, werden wir uns nun befassen.

4.3 »Die Aufgabe […] ist unendlich.« − ›Das Gute und das Gewissen‹ (GPR §§ 129 bis 138) Der Begriff der Moralität hegelscher Prägung umfaßt, wie deutlich geworden sein sollte, sowohl »das Recht als auch die Grenzen dieses Rechts einer Weltaneignung mit subjektiv-moralischen Gründen.«78 Zwar spricht Hegel der Kantischen Philosophie das Verdienst zu, den absoluten Ausgangspunkt einer Bestimmung des Willens »durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie«79 gewiesen zu haben und die Vernunftautonomie des Willens als 75

Ebd. Ebd. § 137. 77 Vgl. ebd. § 114. 78 Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. – In: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus. Herausgegeben von Vittorio Hösle. Hamburg 1989. 56–76; hier 56. 76

»Die Aufgabe […] ist unendlich.« – ›Das Gute und das Gewissen‹

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den alleinigen Grund der Pflicht herausgestellt zu haben (wobei die Pflicht derjenige Zweck des moralischen Willens ist, der zugleich allgemeines Gesetz zu sein beansprucht; ein Gesetz also, das sich der einzelne Wille selbst gibt).80 Dennoch bemüht er sich zugleich um den Nachweis dessen, daß wir um seiner eigenen Voraussetzungen willen über diesen Standpunkt der Moralität hinaus müssen. Hegel will jedoch mit seiner Moraltheorie, die vorwiegend im Sinne der Kritik an einer rigoristischen Moral aufzufassen ist, nicht »die Freiheitsidee hinter der moralischen Einstellung von Kant unterlaufen, sondern deren Momente von Unfreiheit.«81 Ein Moment solcher Unfreiheit des moralischen Standpunkts ist die Forderung nach einem unbedingten pflichtgemäßen Verhalten, dessen Maßstab allerdings aus Hegels Sicht nicht auf objektive Kriterien zurückgreifen kann, sondern – wie wir gesehen haben − auf der Verallgemeinerung subjektiver Überzeugungen beruht. Was von der Moral als Selbstübereinstimmung, als Überzeugungstreue oder gar individuelle Authentizität behauptet wird, erweist sich für Hegel letztendlich als bestimmungsloser Formalismus.82 Die Idee des Guten und deren Widerspiegelung im und durch das Subjekt ist der Gegenstand des nun zu besprechenden dritten Abschnitts des Moralitätskapitels (»Das Gute und das Gewissen«); die Idee des Guten stellt für Hegel die »Einheit des Begriffs des Willens und des besondern Willens« dar. Das Gute ist also die »realisirte Freyheit« und der »absolute Endzweck der Welt«83 und es impliziert damit die Verwirklichung der Freiheit für alle Menschen gleichermaßen; denn das Wohl ist hier nicht im Sinne des Wohls des Einzelnen aufzufassen, sondern als allgemeines. Damit das ›Wohl‹ in diesem Sinne allgemeine Kategorie sein kann, muß es mit dem Prinzip des Rechts, 79

GPR § 135 Anm. Vgl. Christian Iber: Hat Moralität in Hegels Konzeption der Sittlichkeit eine Chance? A. a.O. 132. 81 Tobias Blanke: Das Böse in der politischen Theorie. Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen. Bielefeld 2006. 97. 82 In diesem Zusammenhang von Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Moralbegründung vgl. auch Hegels Ausführungen zur »gesetzprüfenden Vernunft« in der Phänomenologie des Geistes (G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Neu herausgegeben von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen. Hamburg 2006. 281–287; im Folgenden angeführt unter der Sigle: PhG mit entsprechender Seitenangabe). Im Kontext der von Hegel in § 135 der Grundlinien vorgetragenen Kritik am Formalismus des Kantischen Pflichtbegriffs siehe auch Andreas Wildt: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart 1982. 84 ff. (Wildt argumentiert allerdings in der Intention, Hegels Kritik an der Kantischen Moralphilosophie zurückzuweisen.) Vgl. ferner Allen W. Wood: Hegel’s Critique of Morality (§§ 129 – 141). – In: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Herausgegeben von Ludwig Siep. Berlin 1997. 147–166. 80

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dem zufolge alle Menschen gleichermaßen in ihrer Freiheit, also in ihrem Status als Rechtspersonen anerkannt sind, zu einer Einheit zusammengeschlossen werden.84 Denn wie das Wohl nicht das Gute in sich enthalten kann ohne das Recht, so kann auch das Recht nicht das Gute sein ohne das Wohl; vernünftig ist aus der Sicht Hegels (gegenüber Kant) die Forderung: fiat justitia allein dann, wenn sie nicht pereat mundus zur Folge hat.85 In dieser Einheit des allgemeinen Willens mit dem besonderen sind das Wohl und die Subjektivität des Wissens sowie das abstrakte Recht, also die bloß seiende Rechtsgrundlage, als selbständige Momente aufgehoben; ihrem Wesen nach, so macht Hegel deutlich, sind sie beide in der wahrhaften Auffassung vom Guten enthalten und müssen es auch sein, wenn sich die Freiheit tatsächlich in den sittlichen Institutionen einer Gesellschaft manifestieren können und nicht abstrakt bleiben soll. Als institutionalisierte Freiheit muß sie durch die einzelnen Individuen als Träger der gesellschaftlichen Praxis und der objektiven Sittlichkeit verwirklicht werden. Bereits der von Hegel gleich zu Beginn dieses Abschnitts über das Gute und das Gewissen ins Auge gefaßte Zielpunkt seiner Argumentation, nämlich die Einsicht, daß das Gute »als die Nothwendigkeit wirklich zu seyn durch den besondern Willen und zugleich als die Substanz desselben«86 zu bestimmen ist, enthält in sich bereits die vor allem im Schlußteil dieses Abschnitts formulierte Kritik Hegels an solchen Auffassungen des Guten, denen zufolge die Verwirklichung des Guten nicht ein konstitutives Begriffsmoment ausmacht.87 Denn für Hegel steht fest, daß eine gute Handlung nur dann gut ist,

83

GPR § 129. Vgl. ebd. § 130. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd. 87 Insofern also zum Verständnis des Moralitätskapitels von der von Hegel angeführten Frage auszugehen ist, wie das Gute zu verwirklichen ist (das sich Hegels Idee des Guten gemäß verwirklichen muß), bildet diese auch eine Klammer um den gesamten dritten Abschnitt des Kapitels, inklusive der Erörterung derjenigen Gestalten von Subjektivität, die in das Extrem der Verabsolutierung des eigenen Standpunkts umschlagen (§§ 139 und 140). Insofern kann die von Christoph Jermann behauptete »Zweiteiligkeit« dieses Abschnitts nicht so zu verstehen sein, als ob diese beiden Teile, die aus der Sicht von Jermann einmal eine »Erläuterung der positiven Relation von Gutem und Gewissen« bieten und einmal dieselbe Thematik aus negativer Perspektive (das Böse) darstellen, nicht von vornherein aufs Engste zusammengehörten. (Vgl. Christoph Jermann: Die Moralität. A. a.O. 120.) Sie sind vielmehr zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zerteilt man aber das Moralitätskapitel, wie Jermann vorschlägt, in zwei vollkommen voneinander verschiedene Betrachtungsweisen, wobei die negative die positive ablöst, dann ergibt sich die Schwierigkeit der Begründung eines Übergangs in die Sphäre der Sittlichkeit. – Dies ist allerdings ein Thema, das uns am Ende des vorliegenden Kapitels beschäftigen wird und daher vor84

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wenn sie von allgemeinem Nutzen ist, wenn sie etwas Gutes hervorbringt. »Eine gute Handlung, die nicht nützlich ist, ist keine Handlung, hat keine Wirklichkeit. Das Unnützliche an sich des Guten ist die Abstraktion desselben als einer Nichtwirklichkeit. Man darf nicht nur, sondern muß auch das Bewußtsein der Nützlichkeit haben«.88 Das im Sinne der Idee begriffene Gute, so fährt Hegel in § 130 der Grundlinien fort, hat das »absolute Recht« sowohl gegenüber bloß besonderen Zwekken als auch gegenüber abstrakten Rechtsbestimmungen – ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an Hegels Begründung des Notrechts89 −, insofern sie dem Guten als dem konkret Allgemeinen entgegenstehen.90 Hegel erkennt demnach ein allgemeines Wohl an, das seinem Begriff nach mit dem Recht zu vermitteln sein muß, und das »nicht nur auf die Verallgemeinerung des Subjekts zurückgeführt wird, sondern als objektiv-seinsollendes Wohl gedacht wird«91. Für den subjektiven Willen stellt das Gute in seiner allgemeinen Form nicht einen Inhalt unter vielen möglichen, sondern das schlechthin Wesentliche und Verpflichtende dar; es ist »der Wille in seiner Wahrheit«92. Folglich ist der subjektive Wille an dieser seiner Bestimmung zu messen; er unterliegt demnach dem Urteil, inwiefern er »in seiner Einsicht und Absicht demselben gemäß ist.«93 Das für ihn schlechthin Substantielle des Guten in seinem allgemeinen Charakter bleibt jedoch für ihn – ganz analog zur Darstellung der Idee des Guten in der Wissenschaft der Logik94 −

erst zu suspendieren ist. 88 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt a.M. 1971. 280 (= TWA, Bd. 19). Diese Bemerkungen Hegels finden sich im Zusammenhang mit seiner Darstellung der stoischen Ethik. Was er an ihr kritisiert, ist weniger deren Bestimmung von Tugend im Sinne eines ›der Natur gemäßen Lebens‹ als vielmehr die Unterbestimmtheit dessen, was es heißen soll, vernünftig, also der Natur gemäß, zu leben. »Das Allgemeine im Handeln muß die letzte Bestimmung sein; das ist richtig. Dieses Allgemeine ist nicht abstrakt, sondern das Allgemeine in diesem Verhältnisse.« Auch hinsichtlich der Auffassung, daß das Gute in äußerliche Existenz treten und seine Bewährung an den objektiven Verhältnissen finden müsse, pflichtet Hegel den Stoikern bei. 89 Vgl. GPR 127. Siehe dazu auch den Abschnitt 6.1.3.1 in dieser Arbeit. 90 Nach Maßgabe einer wiederum höheren Ebene der Allgemeinheit als sie das Gute (verstanden als das partikuläre Gute eines bestimmten Staates, in dem Freiheit bis zu einem bestimmten Grad institutionell etabliert und damit verwirklicht ist) darstellt, spricht Hegel im Zusammenhang seiner philosophischen Weltgeschichte von dem »absoluten Recht« des ›Weltgeistes‹ gegenüber denjenigen Formen der Verwirklichung allgemeiner Freiheit, die hinter die in dieser Hinsicht maßgebende Gesellschaftsform zurückfallen (vgl. GPR § 345). 91 Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. A. a.O. 68. 92 GPR § 132. 93 Ebd. § 131.

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solange ein jenseitiges, bis er seine Forderung aufgibt, aus sich selbst heraus bestimmen zu wollen, was das Gute ist und diese Vorstellung gegen die vorgegebenen sittlichen Strukturen und Praxisformen eigenmächtig durchsetzen zu wollen. Wie eben bereits erwähnt, ist das moralische Subjekt, insofern es selbstbestimmt seine Zwecke verfolgt und sich aus der allgemeinen Geltung des Rechts in sich selbst reflektiert, in seiner Vernunftallgemeinheit zugleich auch der Adressat rechtlicher Bestimmungen. Das moralische Subjekt zeichnet sich so in erster Linie dadurch aus, daß es der Imputation fähig ist. Das von Hegel konstatierte ›Recht des subjektiven Willens‹ macht sich in dem Anspruch des moralischen Subjekts geltend, allein dasjenige als gut anzuerkennen, was es selbst als gut oder richtig einsieht, womit allerdings zunächst einmal das Wissen um das Rechtmäßige und das Unrechtmäßige angesprochen ist (Unrechtsbewußtsein), welches Hegel in § 132 der Grundlinien behandelt. Die Zurechnung anhand des Kriteriums des potentiellen Unrechtsbewußtseins stellt – ebenso wie die Strafe für schuldhaftes Unrecht – gleichermaßen ein Recht des subjektiven Willens dar (im Sinne des Schutzes des Einzelnen gegenüber ungerechtfertigten Schuldvorwürfen) wie es seine Pflicht zur Rechtfertigung seines Handelns darstellt. D. h. das moralische Subjekt muß an der Möglichkeit seines Wissens um das Gute (oder das Gesetzliche und Ungesetzliche) gemessen werden. Nur aufgrund der potentiellen Kenntnis in Bezug auf den rechtlichen Charakter seiner Handlung ist diese ihm im subjektiven Sinne als seine Schuld zuzurechnen. Es sollte noch bemerkt werden, daß wir hier, im dritten Teil des Moralitätskapitels, in der Sphäre der ›materiellen‹ oder moralischen Zurechnungsfähigkeit angelangt sind, wohingegen in den beiden vorausgegangenen Abschnitten des Kapitels formale Aspekte der Zurechnung im Vordergrund standen; zwar enthalten auch Vorsatz und Absicht einen inhaltlich bestimmbaren Zweck, aber eine im eigentlichen Sinne moralische Qualifizierung einer Handlung kann erst unter der Zuhilfenahme der objektiven Bestimmung des Guten (respektive des Bösen) erfolgen.95

94

Vgl. Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die subjektive Logik (1816). Herausgegeben von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. Hamburg 1981. 232 f. (= GW 12) sowie den Abschnitt 5.5 der vorliegenden Arbeit. 95 Vgl. Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. A. a.O. 68. Auch Stephan Stübinger vertritt die Ansicht, daß in diesem dritten Abschnitt des Moralitätskapitels von Hegel die Bedingungen für eine materielle Zurechnung der Schuld im eigentlich moralischen Sinne erarbeitet werden, nachdem die beiden vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels die Zurechnung in formeller Hinsicht zu bestimmen suchten. Der materielle Grund der Schuld, so Stübinger, liege nunmehr in der Isolierung einer sich schlecht-

»Die Aufgabe […] ist unendlich.« – ›Das Gute und das Gewissen‹

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Das Substantielle seines Wesens erfährt der subjektive Wille im Gedanken der Pflicht; die bloß subjektive Bestimmung dessen, was unter Pflicht zu verstehen ist, gelangt jedoch – so bekanntlich Hegels an der Kantischen Begründung von Pflicht geübte Kritik − zu nichts mehr als zu einem Begriff der Pflicht im Sinne einer »allgemeinen abstracten Wesentlichkeit«96. Aufgrund der Unmöglichkeit, konkrete Kriterien der Pflichterfüllung zu gewähren, gerät diese Forderung hier nurmehr zum ›leeren Formalismus‹ und zu der Versicherung, die Pflicht müsse um der Pflicht willen getan werden (Kantisch formuliert: lediglich aus Achtung vor dem Sittengesetz). Was bleibt, ist lediglich die bloß formelle Identität der widerspruchsfreien Verallgemeinerung der subjektiven Maxime, was für Hegel bekanntlich als der ausschlaggebende Mangel der praktischen Philosophie Kants anzusehen ist (auch wenn er den Kantischen Grundsatz, daß die wahrhafte Auffassung der Pflicht nur in Übereinstimmung mit der praktischen Vernunft sein kann, durchaus teilt). Das Problem, das Hegel hier sieht, besteht jedoch darin, daß Kant davon ausgeht, daß den Maximen bereits bestimmte Pflichten zugrundeliegen, so daß der Handelnde die Allgemeinheit eines besonderen Gehalts bereits voraussetzt, wenn er sich daran macht, diesen besonderen Gehalt anhand eines methodischen Reflexions- und Universalisierungsverfahrens, dem Kategorischen Imperativ, zu prüfen.97 Es ist jene Bestimmungslosigkeit des Guten und der Pflicht in nur subjektiver Perspektive und daher der Mangel an bestimmten Regeln und Grundsätzen für konkrete Handlungsentscheidungen, die das moralische Subjekt zur Gewissensentscheidung nötigen.98 In Entsprechung zur Idee des Guten ist die »Idee des Gewissens« die Einheit von subjektivem Wissen und geltendem Recht99; das »wahrhafte Gewissen« vermag sich daher auf »feste Grundsätze« zu stützen, indem es den Kreis seiner objektiven Pflichten um seiner selbst und der allgemeinen sittlichen Strukturen willen in seine subjektive Zwecksetzung aufnimmt. Als wahrhaftes und nicht bloß moralisches Gewissen folgt es der Autorität »allgemeiner, gedachter Bestimmungen«, die es entweder seinerseits als gut und richtig einsieht (›Einsicht in die Notwen-

hin absolut setzenden Subjektivität. So gelangt Stübinger folgerichtig zu der Einschätzung: »Mit dem Schuldbegriff«, der hier eine begriffliche Vertiefung im Sinne des »materiellen Schuldhabens« erfährt, »wird demnach gerade der Subjektivität Rechnung getragen.« (Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 333 f.) 96 GPR § 133. 97 Vgl. Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. A. a.O. 68 f. 98 Aus geistesgeschichtlicher Perspektive (weniger jedoch mit Blick auf Hegel) interessant ist die Studie von Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a.M./Leipzig 1991.

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

digkeit‹), oder denen es aus anderen Gründen folgt; insofern es ihnen aber folgt, hat es sie jedenfalls als die seinigen gesetzt und anerkannt und verhält sich damit ihnen gegenüber frei. So verstanden ist das Gewissen »der heilige, unantastbare Ort des Menschen, […] die Freiheit als Praedikat, das an und für sich Seiende, nichts Heterogenes kommt hinein, es ist […] das Wissen des Guten.«100 Das Gewissen zeigt grundsätzlich dieselbe Ambivalenz seiner Bestimmung wie die zwar tautologische doch (der Form nach) vernunftgemäße Bestimmung der Pflicht vom Standpunkt der Moralität; aus dieser Perspektive betrachtet ist das Gewissen dem Hegel-Schüler Eduard Gans zufolge »allmächtig«, sobald es aber aus sich heraustritt, »ergreift es die Zustände der äußeren Welt. Für die Welt ist die Moral nicht das Höchste.«101 Es ist »die praktische Vernunft«, »der Geist der bei sich ist, der sich auf das Praktische bezieht, auf die Sphäre der Handlung.«102 Die Widersprüchlichkeit des Gewissens als »diese tiefste innerliche Einsamkeit mit sich«103, macht sich darin geltend, daß es in sich sowohl das Wissen um das Gute als auch die absolute Negativität beherbergt; daß es sowohl jenen »innerste[n] Punkt des Geistigen Lebens« als auch die »Macht über das Gute«104 darstellt. Zu jener ›Macht über das Gute‹ und zum »Meister über das Gesetz und die Sache« erhebt sich das Gewissen, insofern es in seiner formellen Subjektivität verharrt; das Gewissen kennt keinen absoluten Inhalt, der vor ihm ohne Rechtfertigung bestehen oder den es nicht innerhalb seiner selbst zum bloßen Schein herabsetzen könnte. Es ist für Hegel, »insofern [es] diese Dialektik [ist], die urtheilende d. h. ursprünglich theilende Macht, die alles zerlegt, besondert. Wir geben beim Urtheil den Dingen ein besonderes Praedikat, zerlegen das was eins war in Unterschiedenes in sich, das Urtheil ist so das Unterscheiden, Besondern.«105 Im Urteil erweist sich die Subjektivität daher einerseits als das »Aufheben der Bestimmungen«, wie es sich andererseits als die »bestimmende Macht«106 zeigt und einer Sache oder einer Handlung bestimmte Prädikate (etwa: gut oder schlecht/böse) zuschreibt, die es zugleich als allgemein gültig behauptet. Eben deswegen spricht sich Hegel unumwunden dafür aus, daß das Gewissen in seiner eigentümlichen Form 99

Vgl. GPR § 137. Ilting, Bd. 4. 361. 101 Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 136. 102 Ilting, Bd. 4. 361. 103 GPR § 136 Z. 104 Ilting, Bd. 4. 365. 105 Ebd. 364. 100

»Die Aufgabe […] ist unendlich.« – ›Das Gute und das Gewissen‹

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als subjektives Gewissen vom Staat nicht anerkannt werden kann, vor allem nicht dort, wo es sich gegen das Allgemeine geltend zu machen sucht.107 Zusammenfassend läßt sich sagen: Es geht dem moralischen Standpunkt zwar anfänglich darum, die Wahrheit und Wirklichkeit des Selbstbewußtseins in seiner höchsten Vollendung darzustellen. Eine solche Erfüllung kann aber nur erreicht werden, wenn die Gesinnung ihren Zweck in einer ihr entsprechenden Tat realisiert. Das Gewissen, in der grundsätzlichen Verlegenheit, aus sich heraus allgemeine Maßstäbe des Wahren und Rechten aufzustellen, hat sich daher vielmehr selbst dem Urteil zu unterwerfen, ob es ›wahrhaft‹ ist oder nicht; aus sich selbst kann es dies auf keine Weise entscheiden, insofern »seine Berufung nur auf sich Selbst […] unmittelbar dem entgegen [ist], was es seyn will, [nämlich] die Regel einer vernünftigen, an und für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise.«108 Indem es alle objektiven Inhalte in solch einer »absoluten«, also ausschließlich auf sich selbst bezogenen Reflexion109 in sich zu negieren weiß, steht es Hegel zufolge unmittelbar auf dem Sprung, ins Böse umzuschlagen.110 Das Gute und das Böse haben insofern »ein und dieselbe Quelle, das Innerste des Guten ist auch das Innerste des Bösen.«111 In dieser Hinsicht ist die Gefahr also recht groß, daß das morali106

Ebd. 365. Vgl. GPR § 137 Anm. Die scharfe Ablehnung Hegels hinsichtlich der Forderung einer Anerkennung des subjektiven Gewissens durch den Staat – die deutlicher noch in der Vorrede zu den Grundlinien zum Ausdruck kommt (vgl. GW 14,1. 9) − verweist wohl auf die allgemeinen Erfahrungen im Zusammenhang der tiefgreifenden Spannungen zwischen Reform- und Restaurationsbestrebungen, durch die Preußen gekennzeichnet ist, als Hegel 1818 anläßlich seiner Berufung dorthin kommt. Er wird insbesondere die gesinnungsethisch motivierte bzw. gerechtfertigte Ermordung August Kotzebues durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand im Sinn gehabt haben. (Siehe dazu Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 42–44; ausdrücklich und beispielhaft erwähnt Eduard Gans die Ermordung Kotzebues durch Sand in seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen: Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 135.) 108 GPR § 137 Anm. Auch Kant begreift das Gewissen als einen Ausdruck praktischer Vernunft, meint damit aber eben nicht, wie Hegel, eine handlungsorientierende Funktion, sondern die dem Menschen »seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft.« (Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1997. 531.) Das Gewissen hat Kant zufolge die Aufgabe des Vergleichs zwischen einer subjektiven Maxime und »meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft«. D. h. Kant betrachtet das Gewissen von vornherein nur als eine Instanz zur Prüfung der Übereinstimmung einer subjektiven Maxime mit der subjektimmanenten praktischen Vernunft, welche gar nicht auf die Bestimmung eines Objekts oder einer Handlungsweise ihrer objektiven Seite nach zielt. (Vgl. dazu ebenfalls Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. A. a.O. 70 f.) 109 Vgl. GPR § 138 Anm. 110 Vgl. dazu auch Francesca Menegoni: Die Frage nach dem Ursprung des Bösen bei Hegel. – In: Subjektivität und Anerkennung. A. a.O. 228–242, insbesondere 229. 107

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sche Räsonieren und die aus ihr hervorgegangene Absicht sich schlechthin in ihr Gegenteil verkehren. Das geschieht, dem Erfolg nach, immer dann, wenn das anfänglich intendierte Gute der eigenen Absicht durch unbesonnenes, d. h. nicht an der jeweiligen bestimmten Situation geprüftes, oder uneinsichtiges Handeln ins Böse verkehrt wird. Doch es sind nicht bloß die möglichen Folgen moralischen Handelns, sondern »die Art des ins isolierte Subjekt versenkten, abstrakten und zumeist nur formell reflektierten, moralischen Gedankens, die Position der ›reinen Gesinnung‹«112, aufgrund derer grundsätzlich Skepsis gegenüber jeglichem Berufen auf den eigenen moralischen Standpunkt angeraten erscheint. Denn immerhin versteht sich das moralische Wissen, im Unterschied zu allgemein-sittlichen Erwägungen, gerade losgelöst von oder im Widerspruch zur vorhandenen Wirklichkeit, an welcher es seine subjektiven Bestimmungen zu setzen versucht – wodurch zugleich die Gefahr gegeben ist, im Vergleich zur eigenen moralisch guten Absicht die konkreten Folgen des Handelns zu ignorieren und sie weniger der (Begrenztheit der) eigenen praktischen Vernunft, als vielmehr der Welt in ihrer Unangemessenheit gegenüber dem subjektiv guten Zweck zuzuschreiben. Die moralische Weltanschauung kann sich demnach ihrer eigenen Position nach Inhalt und Struktur keineswegs sicher sein113; zudem läuft der von Hegel dargelegte Standpunkt einer Moral der ›reinen Gesinnung‹ letztlich auf die Ohnmacht des bloßen Sollens hinaus.114 – Mit jener »Schuld seines Bösen«, die das einzelne Subjekt als solches schlechthin zu tragen hat, sowie mit Hegels in § 140 der Grundlinien ausgeführten Phänomenologie des Bösen werden wir uns erst im übernächsten Abschnitt beschäftigen; vorerst gilt es, die Struktur jenes moralischen Urteils − als dessen Instanz sich das Gewissen gezeigt hat − genauer zu betrachten.

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Ilting, Bd. 4. 365. In enger Bindung des Bösen an die Reflexion im angezeigten Sinne spricht Eduard Gans davon, das Böse finde seinen Grund allein in der moralischen Selbstbestimmung des Menschen, wohingegen das Gute dasjenige sei, was ich »sowohl in mir als auch äußerlich«, nämlich in den vorhandenen sittlichen Verhältnissen, finde. Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 135. 112 Jürgen-Eckardt Pleines: Begreifendes Denken. Vier Studien zu Hegel. Hildesheim u. a. 1990. 46. 113 Vgl. ebd. 46 f. Pleines gelangt aufgrund dieser Überlegungen zu einer Alternative zu der von ihm in ihre Grenzen verwiesenen moralischen Weltanschauung, die er als »Weltweisheit« oder »Klugheit« (im Sinne der Aristotelischen φρονήσις) bezeichnet und die aus seiner Sicht eher dazu angetan ist, das Handeln der Menschen, unter Einschluß der diesem zugrundeliegenden Maximen wie den Handlungsfolgen, »vernünftig und sachgerecht« zu leiten.

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4.4 Zur Bedingung der Möglichkeit moralischer Urteile Mit seiner Gegenüberstellung von ›Moralität‹ und ›Sittlichkeit‹ trifft Hegel nicht zuletzt die terminologische Unterscheidung zwischen zwei ethischen Kategorien oder »praktisch relevanten Urteilsformen«115 im Sinne eines Urteilens und eines entsprechenden Handelns, das sich einerseits am vorgegebenen Ethos, an den Institutionen und den allgemein üblichen Praxisformen orientiert (Sittlichkeit) und das andererseits die »selbstbewußte moralische Beurteilung dieses Rahmens durch den je Einzelnen«116 bezeichnet. Als Kriterien des moralischen Urteils führt Stekeler-Weithofer zunächst an, daß es »subjektiv, reflektierend, metastufig«117 und daß moralische Kritik in der Regel mit dem Anspruch verbunden sei, traditionelle ethische Orientierungen eigenständig zu verbessern. Darüber hinaus habe die moralische Kritik – insofern sie auf »willkürlicher Urteilsfreiheit«118 beruht und sich in subjektiven Versicherungen Ausdruck verschafft – stets mit einer Gegenkritik zu rechnen, mit einer in die ›schlechte Unendlichkeit‹ führenden »Kritikkritik.«119 Die beiden genannten Formen des moralischen und des sittlichen Urteils werden uns im Folgenden ihrer Struktur nach beschäftigen; um diese Darstellung aber gleich vorab mit einer These zu verbinden: Es soll gezeigt werden, daß das moralische Urteil dem ›assertorischen‹ bzw. dem ›problematischen‹ Urteil entspricht, wie sie von Hegel in seiner Lehre vom Begriff bestimmt werden. Dem ›apodiktischen‹ Urteil hingegen, so wird zu zeigen sein, entspricht dieser These zufolge das an der tradierten Ordnung, an allgemeinen, gedachten Bestimmungen orientierte und in diesem Sinne ›sittliche‹ Urteil. Da es Hegel mit seiner Logik bekanntermaßen nicht um die Entfaltung abstrakter Denkformen, sondern um die immanente Entwicklung von Formbestimmungen zu tun ist, in denen der Inhalt selbst als »Funktion einer Form in ihrer jeweiligen Bestimmtheit«120 gewußt wird, ist auch die von ihm im 114

Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. A. a.O. 337. Ebd. 116 Ebd. Theo Kobusch merkt in diesem Zusammenhang Folgendes an: Wenngleich die Unterscheidung zwischen der ›Willkür‹ und der ›Freiheit‹ im emphatischen Sinne – und die mit dieser Unterscheidung gesetzte Differenzierung zwischen ›Moralität‹ und ›Sittlichkeit‹ − auch nicht direkt auf Hegel zurückgeht, so wird sie doch in Hegels Rechtsphilosophie zum ersten Mal zur Geltung gebracht und zur theoretischen Grundlage einer philosophischen Theorie der Freiheit gemacht. Vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. A. a.O. 161. 117 Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. A. a.O. 338. 118 Ebd. 350. 119 Ebd. 338. 120 Thomas Sören Hoffmann: Hegels Urteilstafel. – In: Dialektische Logik. Hegels Wis115

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Abschnitt über die subjektive Logik entfaltete Urteilslehre nicht im Sinne einer Rekonstruktion bloß subjektiver Denkoperationen gedacht. Hegels Darstellung gemäß ist das Urteil als immanente Bestimmung alles Seienden aufzufassen und daher auch nicht unter Zugrundelegung einer bloß auf äußerliche Weise verfahrenden subjektiven Urteilskraft zu begreifen, welche gleichsam neben das Ding tritt und diesem bestimmte Merkmale zuschreibt. Das Urteil weist stets die Struktur auf, daß einem Subjekt ein Prädikat zugeschrieben wird, durch welches das Subjekt bestimmt wird. Das Urteil ist daher auch grundsätzlich vom bloßen ›Satz‹ zu unterscheiden, dessen Elemente sich gerade nicht wie Begriffsbestimmungen zueinander verhalten. Von Hegel allerdings wird das Urteil, wie gesagt, als das Bestimmen des Begriffs durch sich selbst aufgefaßt, als ›ursprüngliche Teilung des ursprünglich Einen‹, was seinerseits auf die dem Urteil zugrundeliegende Einheit des Begriffs und seiner Momente verweist.121 So spricht sich Hegel zufolge in der Kopula des Urteils − dem ›ist‹ −, durch welche Subjekt und Prädikat aufeinander bezogen werden, die dialektische Einheit des Begriffs selbst aus, die der Grund dafür ist, daß der Begriff in seiner Entäußerung mit sich selbst identisch sein kann. Das Einzelne und das Allgemeine sind als die Momente des Begriffs eben solche – und zwar gemäß des Unterschiedes, den der Begriff in sich selbst enthält – aufeinander zu beziehende Bestimmtheiten, die nicht voneinander isoliert werden können.122 Das Urteil ist demnach zunächst in dem allgemeinen Sinne aufzufassen, in dem »alle Dinge […] ein Urteil« sind.123 So läßt sich vom Ding beides gleichermaßen sagen: Wie es Einzelnes ist, welches im Grunde allgemeiner Natur ist, so ist es ebenso ein Allgemeines, das vereinzelt ist. – Und anders als auf diese Weise in Einzelnes und Allgemeines gebrochen und zugleich identisch, kann der Begriff nicht existieren.124 senschaft der Logik und ihre realphilosophischen Wirklichkeitsweisen. Gedenkschrift für Franz Ungler. Herausgegeben von Max Gottschlich und Michael Wladika. Würzburg 2005. 72–89; hier 73. 121 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 244. 122 Vgl. Enzyklopädie § 166. 123 Ebd. § 167. »Das Urteil ist die abstrakte Teilung der Welt. Dadurch daß etwas ein Urteil ist, ist es nicht ein Wahres; Subjekt und Objekt werden beide nicht als identisch gesetzt, sondern nur das eine als ein Allgemeines und das andere als ein Besonderes. In jedem Satz liegt eine Unwahrheit.« Hegel: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von F.A. Good. Herausgegeben von Karen Gloy. Hamburg 1992. 147 (=Hegel: Vorlesungen, Bd. 11). 124 Auch in seiner Lehre vom subjektiven Geist befaßt Hegel sich mit dem Urteil (vgl. Enzyklopädie § 467), allerdings nicht in der logisch-ontologischen Perspektive, daß jedes

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Nach dieser recht kurzen Einführung werde ich mich in meiner Darstellung, der Ankündigung gemäß, auf das »Urtheil des Begriffs« konzentrieren (und nicht alle zwölf Urteilsformen untersuchen), mit dem zugleich der Zielpunkt der Hegelschen Urteilslehre erreicht ist. Denn am Ende der Urteilslehre schließt sich der Kreis, den diese zu durchlaufen hat: Sie kommt vom Begriff, der sich zunächst in seine anschauliche, unmittelbare Einzelheit verliert, und erreicht am Ende dieses Durchgangs erneut den Begriff als einzelnen, jedoch als »konkretes System des Selbsts.«125 Das Resultat der Urteilsbewegung als der immanenten Unterscheidung und dem Bestimmen des Begriffs126, welche in den Schluß mündet, leistet den logischen Übergang zum zweiten Abschnitt der subjektiven Logik, zur Objektivität. Das Urteil des Begriffs schließlich hebt sich von den drei vorangegangenen Urteilsformen dadurch deutlich ab, daß es das eigentlich »objective« Urteil und damit den eigentlichen Ort einer »wahrhafte[n] Beurtheilung«127 gegenüber seinen noch abstrakten Vorgängern darstellt. Die noch ganz basale Form des Urteils – das ›Urteil des Daseins‹128 − gelangt nämlich nicht über eine Aussage wie: ›die Rose ist rot‹ hinaus, und selbst das ›Urteil der Notwendigkeit‹129 faßt zwar den Gegenstand in seiner objektiven Allgemeinheit, ist aber noch nicht in der Lage, die Beziehung zwischen Gegenstand und Begriff auszudrücken.130 Doch auch das Urteil des Begriffs scheint nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein, insofern Hegel einräumt, es sei »hier […] der Begriff, das Subjective, welches am Urtheil wieder hervortritt«131 – dies Ding an sich selbst ein Urteil darstellt, sondern im Zusammenhang des theoretischen Geistes. Im Denken, so Hegel, weiß sich die Intelligenz selbst als die »Natur der Sache«; sie weiß um die Einheit von Denken und Sein. Hegel unterscheidet drei verschiedene Stufen des Denkens; die zweite ist durch das Urteilen charakterisiert: »Das zweite Moment des reinen Denkens ist das Urteilen. Die Intelligenz, welche als Verstand die verschiedenen, in der konkreten Einzelheit des Verstandes unmittelbar vereinten abstrakten Bestimmungen auseinanderreißt und vom Gegenstande abtrennt, geht notwendig zunächst dazu fort, den Gegenstand auf diese allgemeinen Denkbestimmungen zu beziehen, ihn somit […] als einen objektiven Zusammenhang, als eine Totalität zu betrachten.« Auf diesem Standpunkt werde jedoch der Inhalt noch als ein Gegebenes aufgefaßt (vgl. Enzyklopädie § 467 Z). In seinen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes bestimmt Hegel das Urteil näher als diejenige Erklärung, die den Gegenstand in seinem allgemeinen Zusammenhang zu begreifen versucht; es basiert auf der Erkenntnis notwendiger Zusammenhänge: »Diese Erklärung ist ein Urtheil; man hat einzelne Fälle, und man erkennt die beziehung derselben auf ihr Gesetz oder auf ihre Gattung.« (GW 25,2. 878) 125 Thomas Sören Hoffmann: Hegels Urteilstafel. A. a.O. 87. 126 Vgl. Enzyklopädie § 165 Anm. 127 GW 12. 84. 128 Vgl. ebd. 59 ff. 129 Vgl. ebd. 77 ff. 130 Vgl. ebd. 84.

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subjektive Moment sei jedoch nicht bloß als eine äußere Weise der Reflexion, als »zufälliges Denken« aufzufassen, vielmehr liege erst im Urteil des Begriffs der Begriff »in seiner Bestimmtheit als Begriff« zugrunde. Erst hier also ist die Beziehung des Gegenstandes auf den Begriff gesetzt, wodurch zugleich eine Beziehung des Sollens zwischen beiden entsteht: der Gegenstand kann dem Begriff angemessen sein, er kann seine Bestimmung aber ebensogut verfehlen. So drücken die Prädikate: gut, schlecht, schön, wahr, richtig etc. aus, daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen, entweder in Übereinstimmung mit diesem oder in Abweichung von demselben ist. In diesen Prädikaten geht das Allgemeine in das Einzelne ein, d. h. ›gut‹ als Prädikat des Begriffsurteils ist hier ein normatives Prädikat, mit dessen Verwendung es nicht mehr in erster Linie um die Bestimmung dessen zu tun ist, wie oder was etwas ist, vielmehr setzt ein solches Prädikat das zugehörige Subjekt in ein Verhältnis zu dem, was es seinem Begriff nach ist.132 Das normative Prädikat drückt zudem nicht mehr nur die subjektive Nützlichkeit eines Gegenstandes aus, ebenso wie ein Prädikat wie ›vollkommen‹ nicht mehr nur eine abstrakte Norm zum Ausdruck bringt.133 Das Urteil des Begriffs, das Hegel zufolge in den drei Formen des assertorischen, des problematischen und schließlich des apodiktischen Urteils erscheint, ist zunächst unmittelbar; als ›assertorisches‹ Urteil ist der Begriff lediglich als »das Sollen der Realität«134 gesetzt; das Subjekt ist konkretes Einzelnes (diese Handlung, dieses Haus) und das Prädikat drückt die Beziehung seiner Wirklichkeit, seiner konkreten Beschaffenheit auf diesen seinen Begriff aus, d. h. der Inhalt des Prädikats ist nichts anderes als die Beziehung des Subjekts auf den Begriff (›diese Handlung ist gut‹).135 In diesem Urteil ist der Sachverhalt ausgedrückt, daß sich die allgemeine Natur des Subjekts als selbständiger Begriff gesetzt hat, was zugleich bedeutet, daß das Subjekt etwas sein soll. Diese Form des Begriffsurteils umspannt daher die Sphäre der Besonderheit. Das assertorische Urteil entspricht jedoch, anders als das apodiktische, einer Seinsweise des Begriffs, die sich durch die Entzweiung in die beiden Begriffsmomente von konkretem Dasein und allgemeiner Bestimmung charakterisieren läßt. Jedes Ding, insofern es endlich ist, ist in seine äußerliche Existenz – in welcher der Begriff eine selbständige Existenz erlangt − und seine allgemeine Natur oder Gattung gebrochen:

131

Ebd. Vgl. Friedrike Schick: Die Urteilslehre. – In: Wissenschaft der Logik. Herausgegeben von Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick. Berlin 2002. 203–224; hier 219. 133 Vgl. Thomas Sören Hoffmann: Hegels Urteilstafel. A. a.O. 87. 134 Ebd. 132

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Beide sind zwar an ein und demselben Ding gesetzt, aber sie verhalten sich auch als gleichgültig zueinander, wodurch die Möglichkeit gegeben ist, daß die äußerliche Existenz dem Begriff unangemessen ist. Dem assertorischen Urteil fehlt noch die »beziehende Einheit« in Gestalt des gesetzten Begriffs, daher bleibt ihm nichts, als sich auf die »bloße Versicherung über Vernunft, Wissen, Denken etc.« zu stützen; daß etwas gut, richtig, falsch oder wie auch immer erscheint, hat seinen Grund in einem »äussern Dritten«136, d. h. in der subjektiven Beurteilung. Es ist damit also zwar eine Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat gesetzt, deren Grund liegt jedoch einzig im Akt des subjektiven Versicherns. Hinzukommt, daß das subjektive Versichern, mag es auch noch so emphatisch sein, unweigerlich »in unendliche Wiederholungen« führt.137 Da das assertorische Urteil also derjenige »Fall eines Werturteils«138 ist, das als unmittelbares noch unbegründet ist, unterliegt es seiner Form nach auch der Negation. Das ›problematische‹ Urteil als die zweite Form des Begriffsurteils zieht aus der inneren Unbegründetheit und Inkonsistenz des assertorischen Urteils gewissermaßen die Konsequenz, indem es von der assertorischen Beurteilung zurücktritt und in eins die »Relativität des Vergleichs und sein allgemeines Kriterium – die wirkliche Beschaffenheit der Sache«139 dagegen anführt, indem es seinerseits zum Ausdruck bringt, daß ein Einzelnes gut oder schlecht sein kann, je nachdem, wie es beschaffen ist: So erweist sich das problematische Urteil im Grunde als die Wahrheit des assertorischen Urteils oder als die »Disjunktion in zwei Urteile, die formell beide zutreffen können«140 – es entspricht also der von Stekeler-Weithofer so bezeichneten »Kritikkritik«. Der Grund für diese Beliebigkeit oder Zufälligkeit ist die auch hier noch nicht überwundene Äußerlichkeit der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, die ihren Grund in der »Unmittelbarkeit des Subjects«141 findet. Die Negativität des Problematischen liegt mithin in der Unmittelbarkeit des Subjekts, aufgrund derer es als in sich selbst unterschieden in seine Allgemeinheit und sein Sollen erscheint; diese Beschaffenheit

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Vgl. GW 12. 85. Ebd. 85. 137 In der Enzyklopädie schließt Hegel an diese Einsicht seine Kritik an der seinerzeit recht populären Glaubensphilosophie an, durch welche das Prinzip des unmittelbaren Wissens und Glaubens in der Philosophie gleichsam salonfähig gemacht worden sei (vgl. § 178 Anm.). 138 Klaus Hartmann: Hegels Logik. Herausgegeben von Olaf Müller. Berlin/New York 1999. 327. Der Wert eines Dinges ist Hartmann zufolge seine »allgemeine Natur«. 139 Friedrike Schick: Die Urteilslehre. A. a.O. 220. 140 Thomas Sören Hoffmann: Hegels Urteilstafel. A. a.O. 88. 136

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ist der Grund dafür, daß es in seinem konkreten Dasein seinem Begriff entspricht oder nicht. Mit dieser Teilung, die am problematischen Urteil bereits deutlich wird, ist »der Weg zu einer engeren Einheit von Subjekt und Prädikat schon eröffnet: ›Das Haus oder ein Haus ist gut […], je nachdem es beschaffen ist‹.«142 Entscheidend an dieser Stelle, da Hegel zur letzten und höchsten Urteilsform − dem apodiktischen Urteil − überleitet, ist der sich in sich vertiefende Begriff von Subjektivität, denn es ist die Subjektivität selbst, die in diesem Urteil problematisch wird. Die beiden Seiten des Subjekts sind demnach sein Begriff und seine Beschaffeneit.143 Der Begriff ist das »in sich gegangene allgemeine Wesen einer Sache, ihre negative Einheit mit sich selbst«; ebenso ist eine Sache jedoch »wesentlich zufällig« und hat eine spezifische äußerliche Beschaffenheit, die ihren Begriff zunächst einmal nichts angeht; die »Sache selbst ist eben diß, daß ihr Begriff als die negative Einheit seiner selbst, seine Allgemeinheit negirt, und in die Aeusserlichkeit der Einzelnheit sich heraussetzt.«144 Das apodiktische Urteil zeichnet sich also Hegel zufolge eben dadurch aus, daß es das Subjekt in dieser Gedoppeltheit setzt und dadurch auch das Prädikat auf beide Seiten des Subjekts bezieht. Der formale Ausdruck dieses Urteils ist also in unserem Falle: ›die Handlung, so und so beschaffen, ist gut‹. Mit anderen Worten: Das apodiktische Urteil bringt erstens zum Ausdruck, was das Ding sein soll (Allgemeinheit) und zweitens seine konkrete Beschaffenheit; diese wiederum enthält den Grund dafür, warum der Sache genau dieses Prädikat des Begriffsurteils zukommt und damit zugleich das Urteil darüber, ob das Subjekt seinem Begriff entspricht oder nicht.145 Daher ist erst im apodiktischen Urteil die »wirkliche Konkordanz von Sollen und Sein«146 erreicht: »Dieses Urtheil ist nun wahrhaft objectiv; oder es ist die Wahrheit des Urtheils überhaupt.«147 Es hat sich damit zugleich der Widerspruch des Urteils aufgehoben, der darin bestand, daß vermittels der einheitstiftenden Kopula eine Beziehung Selbständiger hergestellt wurde. Die nunmehr im Urteil selbst gesetzte wesentliche Beziehung von Subjekt und Prädikat ist nicht mehr nur indiziert, sondern inhaltlich ausgefüllt. Subjekt und Prädikat verhalten sich gleichermaßen als Selbständige wie als Unselbständige zueinander: Ihre Selbständigkeit gegeneinander wahren sie insofern, als der Begriff gegenüber dem Einzelnen die Gattungs141 142 143 144 145 146

GW 12. 86. Klaus Hartmann: Hegels Logik. A. a.O. 328. Vgl. GW 12. 87. Ebd. Vgl. ebd. 87 f. Thomas Sören Hoffmann: Hegels Urteilstafel. A. a.O. 88.

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allgemeinheit darstellt, und das Einzelne in sich auch solche Modifikationen der Art enthalten kann, die in seiner allgemeinen Begriffsbestimmung nicht enthalten sind. Als Unselbständige hingegen verhalten sie sich gegeneinander insofern, als der Begriff, wie gesagt, gar nicht anders als in solcher Vereinzelung existieren kann.148 Subjekt und Prädikat sind jeweils zur konkreten Allgemeinheit geworden; dies bedeutet ferner, daß das Prädikat (etwa ›gut‹ oder ›richtig‹) nicht mehr als nur abstrakter, von außen an die Sache herangetragener Maßstab begriffen werden kann, sondern die im Prädikat gesetzte Allgemeinheit vielmehr die sachlogische Entsprechung, also die wirkliche Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, darstellt. Das Prädikat, der Wertmaßstab ist immer ein allgemeiner, insofern ihm gleichermaßen ein Sollen zugrundeliegt, wie es dem konkreten Dasein entspricht; ebenso enthält das Subjekt beide Momente in unmittelbarer Einheit »als die Sache«: Sollen und Sein sind damit in »absolute[r] Beziehung« aufeinander, und erst diese Beziehung, die im Begriff einer Sache gründet, »macht das Wirkliche zu einer Sache.«149 Und dies ist das »absolute Urtheil über alle Wirklichkeit«: daß alles Seiende »in sich gebrochen ist in [sein] Sollen und [sein] Seyn«.150 In der Kopula, die in den vorangegangenen Urteilsformen abstrakt war und nur die unmittelbare Beziehung zwischen dem Subjekt und der Allgemeinheit ausgedrückt hat, bringt nunmehr also die begriffsnotwendige Beziehung zwischen beiden zum Ausdruck. Formal läßt sich daher bereits im apodiktischen Urteil die Struktur des Schlusses in der Gestalt zweier Extreme und eines Verbindungsgliedes aufweisen, und auch inhaltlich ist der Fortgang zum Schluß notwendig geworden. Denn der Schluß »ist die Weise, wie die abstrakte Einheit der Sache mit ihrer inhaltlichen Allgemeinheit zur Deckung gebracht wird.«151 Nach dieser Darstellung der Urteilsformen des Begriffs steht indes die Klärung der Frage noch aus, in welchem Zusammenhang dies nun mit den moraltheoretischen Überlegungen Hegels beziehungsweise mit ethischen Überlegungen im Allgemeinen steht. Hegel selbst gibt Hinweise darauf, welche Urteilsform mit Blick auf moralische (oder ethische) Beurteilungen von menschlichen Handlungen, gesellschaftlichen Gegebenheiten oder Zuständen überhaupt in Betracht kommt. So zeuge etwa das einfache, posi147

GW 12. 88. Vgl. Friedrike Schick: Die Urteilslehre. A. a.O. 221 f. 149 GW 12. 88. 150 Ebd. 151 Friedrike Schick: Die Urteilslehre. A. a.O. 222. Dem logischen Schluß erst kommt die »Form des Beweisens« zu, und insofern, so Schick weiter, ist auch erst mit Hilfe eines Schlusses die Begründung dafür anzugeben, warum ein Gegenstand seinem Begriff ent148

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tive Daseinsurteil (›die Rose ist rot‹), mit dem einem Ding eine bestimmte Eigenschaft beigelegt wird, von nicht eben großer Urteilskraft.152 Werturteile, die auf einer komplexen Analyse der Verhältnisse beruhen, können nicht aufgrund von Daseinsbestimmungen gefällt werden. Das moralische Urteil hingegen, in dem die Angemessenheit oder Unangemessenheit des bezeichneten Gegenstandes im Verhältnis zum Begriff oder zu seiner Bestimmung, zum Ausdruck gebracht werden soll, muß sich sowohl auf die allgemeine Bestimmung der Sache als auch auf ihre konkrete Beschaffenheit beziehen und dies ermöglicht einzig das Urteil des Begriffs. Wie dargestellt, macht Hegel bereits in den einleitenden Passagen des Moralitätskapitels in den Grundlinien auf die prinzipielle Einseitigkeit und den Formalismus des moralischen Standpunkts und der darauf basierenden Urteile aufmerksam. Das Moralische, so wurde gezeigt, ist der Standpunkt des Verhältnisses und des bloßen Sollens. Das Gute, das den moralischen Zweck der handelnden Individuen ausmacht, fällt ihrer bloß subjektiven Bestimmung anheim und ist damit ein bloß Sein-sollendes, nicht aber ein Wirkliches in dem Sinne, daß es sich in gesellschaftlich-sittlichen Institutionen freiheitlich verwirklicht hätte und so den gemeinsamen Zweck Aller ausmachte. Die bereits zu Beginn dieses Abschnitts formulierte These lautete: Das Urteil, wie es der moralischen Subjektivität auf diesem Standpunkt ihrer sittlichen Bildung entspricht, ist das assertorische bzw. das problematische Urteil. Das apodiktische Urteil hingegen entspricht derjenigen Urteilsform, wie sie erst dem sittlichen Menschen möglich ist, der von der Durchsetzung seiner besonderen Vorstellungen vom Guten abzusehen gelernt hat.153 Diese spricht oder nicht entspricht. 152 Vgl. GW 12. 84. 153 Im Sinne der Unterscheidung zwischen dem moralischen und dem sittlichen Urteil argumentiert auch Jürgen-Eckardt Pleines (Begreifendes Denken. A. a.O. 11 ff.). Pleines begreift unter dem moralischen Urteil jenen reflexiven Denkakt, der sich aufgrund der »Entfremdung zwischen subjektivem Wollen und objektiver Forderung« (ebd. 14) als notwendige Ergänzung oder als Ersatz für eine (partiell) brüchig gewordene Lebenswelt versteht. Das ›sittliche Urteil‹ bezieht Pleines, anders als von mir oben vorgeschlagen, auf den Standpunkt der noch unreflektierten Sittlichkeit der Antike (vgl. ebd. 11). Unmöglich ist es aus Pleines Sicht jedoch, bei dem Berufen auf die eigene oder öffentliche Moral stehenzubleiben, da diese nicht die letzte Schiedsinstanz praktischer Philosophie darstellen könne. Jedoch stelle sich das moralische Räsonieren immer dann mit einer gewissen Notwendigkeit ein, wenn die herrschende Sitte oder das geltende Recht keine hinreichende Handlungsorientierung mehr zu leisten imstande sind. Die Aufgabe der moralischen Reflexion bestehe darin, nach dem Verlust solcher unmittelbaren Identifikation, durch eigenes Nachdenken oder durch intersubjektive Verständigung jenes »Gemeinsame des Wissens und Wollens aufzudecken« (ebd. 14), das künftig und allgemein verbindlich als Handlungsorientierung dienen soll. Das moralische Urteil ist demnach aus der

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Behauptung muß hier nun, das Gesagte zusammenfassend, begründet werden. Das assertorische Urteil beruht Hegel zufolge, wie dargelegt, auf einem Akt äußerlich-subjektiver Reflexion. Es ist das am meisten der Unmittelbarkeit verhaftete der drei Begriffsurteile; es ist eben diese bloß äußerliche Weise der Reflexion, der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, aufgrund derer es der Zufälligkeit überlassen ist, ob mit dem Subjekt eine allgemeine Beziehung auf den Begriff gesetzt ist, denn die das Subjekt und das Prädikat verbindende Kopula des assertorischen Urteils vermag noch nicht jene ›beziehende Einheit‹ zwischen beiden herzustellen. Als unmittelbares ist es noch unbegründet; das bloße Versichern führt, wie wir gesehen haben, Hegel zufolge in »unendliche Wiederholungen«, unterliegt aber dennoch der Negation. D. h. das assertorische Urteil geht in sein Gegenteil über, das mit demselben Recht objektive Gültigkeit für sich beanspruchen kann oder eben nicht. In auffallender Ähnlichkeit zu dieser logischen Bestimmung des assertorischen Urteils charakterisiert Hegel die moralische Subjektivität, was besonders sinnfällig in seiner bereits erörterten dialektischen Bestimmung des Gewissens zutage tritt. »Was im wahrhaften Gewissen nicht unterschieden ist, ist aber unterscheidbar, und es ist die bestimmende Subjectivität des Wissens und Wollens, welche sich von dem wahrhaften Inhalte trennen, sich für sich setzen und denselben zu einer Form und Schein herabsetzen kann.«154 In entsprechender Weise sind im assertorischen Urteil die konkrete Beschaffenheit eines Gegenstandes und sein allgemeiner Begriff »in die Form von Extremen entzweyt, denen der Begriff selbst als gesetzte, sie beziehende Einheit noch fehlt.«155 Um nun noch kurz an einem Beispiel zu verdeutlichen, wie Hegels Urteilslehre vor dem Hintergrund eines dizidiert ethisch-gesellschaftskritischen Interesses aufgenommen wurde, erinnere ich an den theoretischen Ansatz von Herbert Marcuse und dessen Versuch einer Begründung von »Werturteilen«, wie er sie für seine theoretische Ausformulierung einer »kritischen Theorie« als unabdingbar ansah. Der systematische Ausgangspunkt Marcuses ist dabei also Hegels soeben erläuterter Gedanke der ursprünglichen Gebrochenheit

Sicht Pleines’ ein ebenso notwendiges wie ein zu überwindendes: Notwendig gefordert in Situationen, in denen etwa die herrschende Sitte den gewandelten Lebensverhältnissen, den gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen, begleitet von einem kulturellen, politischen und religiösen Wandel, nicht mehr Rechnung zu tragen imstande ist und zu überwinden, insofern er stets Gefahr läuft, die eigenen Überzeugungen zu verabsolutieren und sie gegen das auf das Allgemeine bezogene Denken geltend zu machen. 154 GW 12. 84.

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eines jeden existierenden Dinges in sein Sein und sein Sollen.156 Marcuses in seinem Buch Der Eindimensionale Mensch artikulierte Forderung nach einem »widerspruchsvolle[n], zweidimensionale[n] Denkstil«157 verweist zweifellos auf die dialektische Methode Hegels. Nur eine solche zweidimensionale Bestimmung von Wirklichkeit kann Marcuse zufolge imstande sein, die kapitalistisch geprägte und von einer tiefen Widersprüchlichkeit gezeichnete Gesellschaft unserer Tage angemessen kritisch zu erfassen. Von besonderer Bedeutung ist für Marcuses Auffassung von kritischer Theorie, wie er sie in seiner Auseinandersetzung mit Hegel in seinem Buch Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit darlegt, eben jener Abschnitt über das Urteil des Begriffs in Hegels Wissenschaft der Logik. Aus der Sicht von Marcuse begreift das dialektische Denken die Spannung zwischen ›ist‹ und ›sollte sein‹ zunächst als einen ontologischen Sachverhalt, welcher also der Struktur des Seins selbst zukommt; die theoretische Erkenntnis dieses Seinszustandes intendiert dann jedoch eine konkrete Praxis.158 Für Marcuse stellt Hegels Urteilslehre die »erste ontologische Urteilstheorie« dar, in welcher die »absolute Differenz«159 des Seins deutlich hervortrete. Ferner stellt Marcuse in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, daß Hegel den Begriff des Sollens aus der »geschichtslosen Sphäre der kantischen Pflichtethik« auf dem Boden des konkreten gesellschaftlichen Geschehens verortet habe.160 Das kritische Potential von Hegels Urteilslehre ist nun genauer darin zu sehen, daß jedes »echte Urteil […] die absolute Differenz des Seins im Blick« hat: »es entwirft ein einzelnes Seiendes auf sein Sein, eine Wirklichkeit auf ihren Begriff.«161 Das Daseiende wird an seinem Begriff gemessen, nach der Maßgabe eines Sollens als Maßstab für das Seiende, woraus immerhin dies erhellt: bei diesem Sein als einem Sollen kann es sich nicht um eine »jenseits des Seienden aufgerichtete Norm«162 handeln, sondern nur um eine Einheit von Sein und Sollen, die »zwar nie einfach da ist […], aber als der ›vermit-

155

Ebd. 85. Vgl. dazu auch Christoph J. Bauer: Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹ – mit Hegel zum ›Wesen des Menschen‹. Herbert Marcuses Interpretation der Hegelschen Urteilslehre. – In: Hegel in der neueren Philosophie. Herausgegeben von Thomas Wyrwich. Hamburg 2011. 317–345. 157 Herbert Marcuse: Der Eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (zuerst 1964). Springe 2004. 148. 158 Vgl. Christoph J. Bauer: Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹. A. a.O. 320. 159 Herbert Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1968. 141. 160 Vgl. ebd. 65. 161 Ebd. 143 f. 156

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telnde Grund‹ in der Differenz ›zwischen der Einzelnheit des Wirklichen und zwischen seiner Allgemeinheit‹ ständig gegenwärtig ist«.163 Marcuse geht es also, um es noch einmal deutlich zu machen, in seiner Forderung nach einer ›kritischen Theorie‹ um eine grundsätzliche Methodenreflexion von Wissenschaften und Philosophie im Zusammenhang mit der Frage nach der Beschaffenheit allen (gesellschaftlichen) Seins, das für ihn nicht tiefer als in seiner grundsätzlichen Gebrochenheit in Sein und Sollen, oder in seine Beschaffenheit und seinen Begriff, bestimmt werden kann. Da es der Begriff selbst ist, der nicht anders als in der Vereinzelung existieren kann, sind Marcuse zufolge Erkenntnismethoden gefordert, die sich an dieser grundsätzlich widersprüchlichen Beschaffenheit allen Seins orientieren; das entsprechende Urteil kann aufgrund des bisher Erörterten also allein das apodiktische sein. Der hier erwähnte Bezug Marcuses auf Hegels Urteilslehre diente lediglich dem Nachweis der Relevanz der Hegelschen Philosophie mit Blick auf eine Begründung von ethischen ›Werturteilen‹164 und hinsichtlich einer Begründung von Gesellschaftskritik, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht vor dem Hintergrund abstrakter und subjektiver Weltverbesse162

Ebd. 147. Ebd. Christoph Bauer geht in dem soeben angeführten Aufsatz der Frage nach, wieso gerade dieser Abschnitt der Hegelschen Logik für Marcuses eigene ›kritische Theorie‹ von so großer Bedeutung ist. Bauer nennt in diesem Zusammenhang zwei Argumente dafür; erstens gewinne Marcuse an der Hegelschen Philosophie die entscheidenden Argumente gegenüber jenen Wissenschaftstheorien, die er unter dem Begriff ›Positivismus‹ zusammenfaßt (Marcuse spricht von einer Gemeinsamkeit der Ansätze Comtes, Stahls und Schellings). Hegels Philosophie sei demgegenüber als eine »negative« anzusehen, denn sie verwerfe jegliche widervernünftige Wirklichkeit und enthalte daher das »Prinzip der Revolution«. Marcuse sieht im Positivismus demnach in erster Linie eine politische Theorie, durch die gesellschaftliche oder politische Zustände oder die bestehende Ordnung wie Tatsachen ›fixiert‹ werden. Ein weiterer, mit dem ersten im Zusammenhang stehender Aspekt ist die von Marcuse im Eindimensionalen Menschen kritisch hervorgehobene Orientierung der Philosophie an den Naturwissenschaften als einem Modell für Exaktheit und Sicherheit. Paradigmatisch nennt Marcuse die Sprachphilosophie Wittgensteins als einen Ausdruck der Unterwerfung unter die Herrschaft der etablierten Tatsachen; Werte, da sie auf dem Wege mathematisch exakter wissenschaftlicher Methoden nicht beschreibbar sind, werden Marcuse zufolge zunehmend in den Bereich des Subjektiven verlegt. Demgegenüber ist es Marcuse darum zu tun, Institutionen, Werte und Zielsetzungen der jeweiligen Gesellschaft in ihrer Bedeutung und mit kritischem Impuls angemessen zu erfassen. Dazu seien jedoch die mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaften nicht in der Lage, da es ihnen nicht möglich sei, die Negativität des Sollens, aufgrund derer ein jedes Ding in sich gebrochen sei, zu erfassen. (Vgl. Christoph J. Bauer: Mit Hegel gegen den ›Positivismus‹. A. a.O. 335 ff.) 164 Die hier dargestellten Positionen Marcuses verweisen auf den sogenannten ›Positivismusstreit‹, der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen den Vertretern des sogenannten Kritischen Realismus (etwa Popper und Albert) und denen der Kriti163

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rungsvorstellungen beurteilt, sondern die vielmehr die konkrete Analyse des objektiven Handlungsspielraums bestimmter Veränderungen sowie eine gesellschaftliche Diskussion um das Worum-Willen derselben erfordert. Im Zusammenhang der Frage, welche Dignität dem moralischen Urteil im angezeigten Sinne mit Blick auf Gesellschaftskritik tatsächlich zukommen kann, sollte noch daran erinnert werden, daß Hegel bekanntlich sowohl in den Grundlinien selbst als auch in seinen Vorlesungen immer wieder betont, daß das Vernünftige je schon in einem bestimmten Sinne wirklich und das Wirkliche vernünftig ist165; die Wirklichkeit gesellschaftlicher Praxis, so könnte man sagen, ist damit immer schon als das Resultat einer allgemeinen Entwicklung des Geistes anzusehen und als solches auch vom subjektiven Veränderungswillen grundsätzlich erst einmal anzuerkennen (tut er dies nicht, so kann er auch seinen eigenen Handlungsspielraum nicht bestimmen). Mit diesem Hinweis (dem berühmt-berüchtigten ›Doppelsatz‹) deutet Hegel aber zugleich auf die Notwendigkeit »empraktische[r] Anerkennungen gegen bloß einzelne Urteile von aufklärerischen Kritikern.«166 Das in einem kritischen Verfahren zu bestimmende ›Vernünftige‹ an den je wirklichen Strukturen bezeichnet dann den Grad, inwiefern sie dem (wiederum in Auseinandersetzung mit den konkreten Verhältnissen zu bestimmenden) Begriff der Sache entsprechen. Die mit der Herausbildung vernünftiger Urteilskriterien korrespondierende Vertiefung des Begriffs von Freiheit, die Hegel zufolge jeder kritischen Reflexion auf die politischen Verhältnisse zugrundeliegen muß, kann sich demnach auch nicht unabhängig von der realen Verwirklichung freiheitlicher Bestimmungen in den politischen Institutionen des Staates vollziehen. Die Erarbeitung der Bedingungen für eine allgemeine Durchsetzung freiheitlicher Strukturen in der sozialen Wirklichkeit selbst und das Fortschreiten im ›Bewußtsein der Freiheit‹ machen ein unauflösbares Bedingungsgefüge aus: Nur in der sich vollziehenden Reflexion, also in dem Wissen des Geistes von sich selbst, besteht die Freiheit, die ihren Ausdruck in der Selbstbestimmung findet und sich in den politischen Institutionen des Staates manifestiert. Durch diese Reflexion auf die allgemeinen Verhältnisse anhand des ihnen inhärenten Verhältnisses von Sein und Sollen, wird zugleich eine bestimmte Tendenz oder Gerichtetheit hervorgebracht, in der sich jeder erreichte Ist-Zustand in der Reflexion wiederherstellt, erweitert und schließlich neu bestimmt.167 Anders formuliert: Die schen Theorie (Adorno und Habermas) geführt wurde. 165 Vgl. GW 14,1. 14. 166 Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. A. a.O. 340. 167 Vgl. Hans Heinz Holz: Das Zeitalter der Weltgeschichte. – In: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie. Herausgegeben von Hans Heinz Holz und Domenico

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bestimmende und in sich teleologisch verfaßte Reflexion auf Bestehendes impliziert einen idealen Horizont dessen, was möglich ist, auf den hin der jeweilige gesellschaftliche Zustand auf den Begriff gebracht, geprüft und wieder überschritten wird.

4.5 Das Böse und die Schuld Das Selbstbewußtsein in der »Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens, ist eben so sehr die Möglichkeit, das an und für sich allgemeine, als die Willkühr die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Principe zu machen, und sie durch Handeln zu realisiren – böse zu seyn.«168 Das Böse bedeutet also zum einen das Wollen der eigenen Besonderheit gegenüber und in Entgegensetzung zum Allgemeinen von Recht, Moral und Sitte, »gegen die ganze Welt«169. Der gute Wille umgekehrt, jedenfalls sofern er sich verwirklicht, verhält sich »seinem wahrhaften Begriffe […] gemäß.« (Was bedeutet, daß jener ›gute Wille‹ einen gedachten Begriff seiner selbst gewonnen haben muß.) Und weiter: »Das Subject hat also als Object ein dem Begriff Gemäßes und Nichtgemäßes. Das Gute ist das Gemäße, das Ungemäße das Böse.«170 – Was zugleich die oben formulierte These bestätigt, daß das ›sittliche Urteil‹ (im Unterschied zum moralischen) seiner Struktur nach dem apodiktischen Urteil entspricht. Das Böse ist also der Punkt, an dem die Entwicklung der negativen Potenz des subjektiven Gewissens an seiner äußersten Spitze angelangt ist. Dieses Wollen der eigenen Besonderheit ist jedoch für sich selbst noch nicht das Böse, insofern dies dem Hegelschen Verständnis nach impliziert, daß es durch Handeln verwirklicht wird. Was das Böse ist und wie es definiert wird, steht demnach immer in Relation sowohl zum zu klärenden Begriff des Menschen als auch zu der jeweiligen Ordnung, gegen die verstoßen wird171 (wobei solche Re-

Losurdo. Heft 1. Bonn 1993. 13–37; hier 23. 168 GPR § 139. 169 Ringier 74. 170 Ilting, Bd. 3. 439. 171 »Ein Mensch, welcher handeln will, der muß ›böse‹ sein (d. h. ein böser Mann), d. h. ein solcher, welcher vieles aufopfern, knicken will und verletzen.« (Ringier 74 f.) Auf den hier angesprochenen Zusammenhang einer Betrachtung des Bösen mit Hegels Lehre von der Handlung im Allgemeinen bezogen, ist dies so zu verstehen, daß die Handlung stets – wie wir noch sehen werden – auf der Voraussetzung beruht, daß das Subjekt seine Besonderheit in gewisser Weise, mehr oder weniger bewußt, gegen das Allgemeine richtet und richten muß, dessen Bestimmungen es aufzuheben und stattdessen seine eigenen zu

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lationalität freilich nicht mit Relativismus zu verwechseln ist); fest steht für Hegel, wie wir bereits gesehen haben, daß »die Moralität und das Böse«, also das moralisch gute Wollen und das Wollen der subjektiven Besonderheit, ihren gemeinsamen Grund in der »für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben«172. Das Gute und das Böse berühren sich in dem »Punkt der höchste[n] Abstraktion, diese[r] spekulative[n] Spitze.«173 Umgekehrt gilt: Nur der Mensch, insofern er auch böse sein kann (die Freiheit zum Bösen hat), kann gut sein. Denn gut sein setzt das Wissen um Gut und Böse, also die Entscheidungsfreiheit zwischen beiden voraus. So sind Gut und Böse schlechthin untrennbar auf einander bezogen, denn der Wille steht niemals nur in positivem Verhältnis zu sich selbst.174

4.5.1 Über die Schwierigkeit, den Teufel in Gott zu erkennen – Hegel zum Mysterium des Bösen Aus dem oben Gesagten rührt Hegel zufolge auch die Schwierigkeit, mit der sich die theologische Frage nach dem Ursprung des Bösen konfrontiert sieht, denn diese hat den »näheren Sinn, wie kommt in das Positive das Negative hinein?«175 »Die Schwierigkeit in den Fragen über den Ursprung des Guten«, so heißt es in der Nachschrift Griesheim, »gründet sich darauf, daß wir das absolut Wahre, bestimmter Gott, erkennen als das Gute und zugleich als die Macht das Gute zu verwirklichen, die unbeschränkt ist, […] in der Vorstellung von Gott haben wir durchaus nur Affirmatives, […] das Böse ist aber dagegen das Negative.«176 Eine Bestimmung des Guten, in welcher dieses rein affirmativ aufgefaßt wird, scheidet aber für Hegel ebenso aus, wie die bloß privative Bestimmung des Bösen, denn zwischen beiden Bestimmungen läßt sich dialektisch nicht vermitteln. Da Hegel aber ebenso die Möglichkeit zweier selbständiger Prinzipien ausschließt, ist für ihn eine Beantwortung der Frage zum Ursprung des Guten auch nur dadurch möglich, daß das Gute oder die Positivität an sich selbst als dynamisch und prozeßhaft aufgefaßt wird, als Tätigkeit und Unterscheidung ihrer von sich selbst.177 Stellt man die setzen versucht. 172 GPR § 139 Anm. 173 Ringier 74. 174 Vgl. Ilting, Bd. 3. 439. 175 GPR § 139 Z. 176 Ilting, Bd. 4. 367. 177 Weiter expliziert Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion auch seine Behauptung von der Notwendigkeit des Bösen, oder genauer: des Unterschie-

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Frage nach dem Ursprung des Bösen auf eine Weise, daß sie die Implikation der Selbständigkeit beider gegeneinander enthält, so ist die Frage aus der Sicht Hegels nicht nur falsch gestellt, sondern schlicht unmöglich zu beantworten. Setzt man jedoch den »konkreten Begriff«, also die Einheit des Guten und des Bösen voraus − wobei »das Gute selbst das Substantielle bleiben soll«178, das Böse also nicht zugleich als ein Affirmatives bestimmt wird −, so ist nach der gemeinsamen Wurzel beider zu suchen, und diese kann für Hegel einzig im »Mysterium, d.i. in dem Speculativen der Freyheit«179 zu suchen sein. Denn in der Reflexion, »in der Freiheit, in der Gewißheit seiner selbst, in der unendlichen Subjektivität, da ist beides identisch, sie ist die Quelle des Einen wie des Anderen.«180 Während jene Erkenntnisvermögen von Sinnlichkeit und Verstand, die an endliche Bestimmungen gebunden sind, in ihrem Versuch, den Ursprung des Bösen zu ergründen, in den einmal festgelegten Unterschieden verharren, vermag das spekulative Denken diese Unterschiede »als sich wesentlich einschließende und auf sich selbst beziehende«181 zu begreifen. Hegel zufolge liegt die Notwendigkeit des Bösen (im Sinne eines Reflexionsphänomens) – und damit der Schuld − als einem Phänomen der Freiheit darin begründet, daß sich der Wille von seiner Natürlichkeit losmachen, diese in die Innerlichkeit seines Geistes aufnehmen, »gegen sie innerlich seyn«182 und sie idealisieren muß. Denn die noch nicht abgestreifte Natürlichkeit des Willens ist an sich selbst der Widerspruch, in dem sich der Geist befindet, als »mit sich unverträglich in jenem Gegensatz«183. In dieser Perspektive erscheint der in sich gegangene Geist oder die Besonderheit des Willens, als der Gegensatz gegen die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit, und damit als notwendige Stufe der Emanzipation. Der Mensch, sofern er ›in sich

des, der sich für den Menschen in dem Wissen um Gut und Böse ausdrückt, unter Zugrundelegung seines Begriffs vom Geist. Daß Gott, insofern er Geist ist, »dies Urteil […], die Erschaffung der Welt, des subjektiven Geistes, für den er Gegenstand ist«, vollbringt, ist durchaus nicht zufällig oder im Sinne des Abfallens und des Mangels zu deuten, sondern liegt im Wesen des Geistes selbst begründet. »Der Geist ist absolutes Manifestieren; sein Manifestieren ist Setzen der Bestimmung und Sein für anderes. Manifestieren heißt Schaffen eines anderen, und zwar des subjektiven Geistes, für den das Absolute ist.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion. Herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1983. 275 f.) 178 Ilting, Bd. 4. 369. 179 GPR § 139 Anm. 180 Ebd. 181 Francesca Menegoni: Die Frage nach dem Ursprung des Bösen bei Hegel. A. a.O. 239. 182 GPR § 139 Anm.

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gegangener Geist‹ ist, kann sich ebenso zum Bösen bestimmen, indem er an seiner Besonderheit gegen das Allgemeine festhält. Tut er das, so wird er im selben Moment ebenso schuldig an sich selbst, insofern er an der von ihm verletzten Allgemeinheit teilhat; er verletzt in diesem Moment also auch das ihm inhärente »inner[e] Objective«, das Gute, welches im Moment seiner Reflexion in sich, im Moment seiner Loslösung aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang, dem erkennenden Bewußtsein als Möglichkeit offenbar wird. Verschließt er sich dieser Allgemeinheit, die sich ihm in der Reflexion zugleich eröffnet, »so ist diese Innerlichkeit des Willens böse.«184 Insofern der Mensch also bei seiner in sich gehenden Reflexion stehenbleibt, und sich gegen seinen (vermeintlichen) Gegensatz, gegen das Allgemeine, zu behaupten sucht, ist er böse; er ist es auch, wenn er die Natürlichkeit seiner Triebe und Bedürfnisse zur maßgeblichen Bestimmung seiner Willensbildung macht. Das Böse, insofern es eine Emanzipationsbewegung voraussetzt, ist damit jedoch ebenso notwendig − denn es indiziert das Innerlichwerden des Menschen und bezeugt insofern seine Geistnatur –, wie es ein zu überwindendes Übel darstellt. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen ist für Hegel grundsätzlich als ein Indikator für die mit der Moderne einsetzende Vertiefung des Geistes in sich selbst anzusehen, die darin ihren Ausdruck findet, daß »der Gedanke überhaupt zu diesem einfachen Gegensatz des Guten und Bösen gekommen«185 ist und auf diese Weise erst in seiner begrifflichen Allgemeinheit aufgefaßt werden kann. Der Geist der Moderne, so Hegel, »ist deshalb tiefer, weil er diese Frage gemacht hat, die Tiefe heißt die Gegensätze, Unterschiede in ihrer ganz allgemeinen Weise auffassen, das Tiefste des Geistes ist die Subjektivität«.186 Die Frage nach Gut und Böse und die damit einhergehende Selbst-Reflexion des Geistes ist daher als ein Ausdruck seines »innerste[n] Insichsein[s]« aufzufassen, das ihn dazu forttreibt, sich »die reine Gewißheit seiner selbst zum Bewußtsein zu bringen«187. Wie wir bereits gesehen haben, ist es das moderne Recht des subjektiven Willens, die »Kenntnis vom Unterschiede des Guten und Bösen überhaupt« zu besitzen und geltend zu machen, was konkret bedeutet, daß er ein Recht darauf hat, an den allgemeinen Strukturen nur dasjenige anzuerkennen, was er selbst nach Maßgabe seiner persönlichen Überzeugung für gut hält. Diesem Grundsatz gemäß, der bestimmte bildungspolitische Voraussetzungen als erfüllt voraussetzt, stel-

183 184 185 186

Ebd. Ebd. Ilting, Bd. 4. 366. Ebd.

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len die allgemeinen Bestimmungen dann auch nicht bloß äußerliche Gesetze und Vorschriften einer dem Subjekt fremden Autorität dar, vielmehr sollen diese Bestimmungen den Grund ihrer Anerkennung im Einzelnen finden, »in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht«188. Haben aber die eigenste moralische Überzeugung des Menschen und sein Wissen um Gut und Böse ihr verbrieftes Recht, dann muß diese Erkenntnis dem Menschen auch möglich sein; der Gegensatz von Gut und Böse ist, wie gesagt, einzig im denkenden Bewußtsein vorhanden und kann auf keine Weise an eine dem Menschen transzendente Sphäre verwiesen werden. Und das Denken, so führt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aus, setzt ebenso den Unterschied zwischen Gut und Böse und damit die Forderung an das Subjekt, das Gute zu seiner wesentlichen Willensbestimmung zu machen, wie es zugleich in sich die »Heilung des Übels«189, also die Möglichkeit für den Willen enthält, das objektiv Gute zu seinem Zweck zu machen. Es bleibt durchaus nicht dem Zufall überlassen, ob dieser Unterschied als solcher gesetzt wird oder nicht, vielmehr »muß [der Mensch] dazu kommen, wenn er nicht Tier bleibt.«190 Der Mensch muß vom Baum der Erkenntnis brechen, sonst ist er kein Mensch. Es macht damit den »Grundcharakter des Menschen«191 aus, um den Unterschied zwischen Gut und Böse zu wissen. Insofern das innerlich gewordene Subjekt, das diese ›Entzweiung‹ in sich vollzogen und nunmehr den bestimmten Unterschied von Gut und Böse »vor sich hat und in ihm ist«, trägt es »schlechthin die Schuld seines Bösen«; die Möglichkeit des Schuldigwerdens ist insofern mit dem Menschsein aufs engste verknüpft. Der Mensch ist für Hegel sowohl »von Natur« (an sich), als auch »durch seine Reflexion in sich«192 böse. Im Falle des letzteren hält er bewußt an seiner Vereinzelung fest, was wiederum als eine ›Sünde‹ gegen seine innerste Natur oder seine Bestimmung aufzufassen ist, die für Hegel nur darin bestehen kann, sich »für sich als identisch mit dem an sich seyenden oder allgemeinen Willen«193 zu setzen. Jene ›Schuld des Bösen‹ ist daher untrennbar mit dem einzelnen, existierenden Subjekt verbunden; das Böse als das »Thun, das Wollen des Subjekts selbst, ist so ganz seine Schuld, das Seinige, dessen das sich auf dieser Spitze festhält. […] Schuldhaben tritt erst in

187 188 189 190 191 192

Ebd. 367. Enzyklopädie § 503 Anm. Hegel: Vorlesungen, Bd. 9. 8. Ebd. 7. Ebd. GPR § 139 Anm.

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der Trennung ein und kommt dem zu das auf der Trennung beharrt.«194 Die Schuld des Bösen wird durch die subjektivitätskonstitutive Bedeutung, die es aus der Sicht Hegels erlangt, nicht zu einer »äussere[n] Nothwendigkeit«, das Böse als ein Phänomen der Freiheit und des Geistes gehört vielmehr ganz dem »Eigensein der Individuen«195 an. Bevor wir uns der von Hegel in § 140 der Grundlinien ausgearbeiteten Abhandlung über die Gestalten des Bösen im Einzelnen zuwenden, soll im nun folgenden Abschnitt jenes Phänomen der ›Entzweiung‹ des Geistes von seiner zunächst in jeder Hinsicht unmittelbaren Seinsweise etwas genauer betrachtet werden; in diesem Zusammenhang wird dann auch danach zu fragen sein, wie der Begriff der Sünde (im Vergleich zu dem der Schuld) bei Hegel konnotiert ist.

4.5.2 Die »erste menschliche Tat« – Hegels Deutung der Sündenfall-Erzählung »Dieses Gefühl: ›hier ankere ich nicht‹ – und gleich die wogende, tragende Flut um sich zu fühlen!« Franz Kafka

Um Hegels Auffassung der Schuld und die ihr zugrundeliegende Entzweiung des Menschen von jeder Form der Unmittelbarkeit angemessen nachvollziehen zu können, müssen wir uns nun seiner Interpretation oder genauer: seiner spekulativen Aufnahme der Sündenfall-Erzählung in der biblischen »Genesis« (Kapitel 3) zuwenden, die sich an verschiedenen Stellen seines Werks findet (wobei ich mich hier − abgesehen von einem Seitenblick auf die Phänomenologie des Geistes − auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion beschränke). Daß Hegel immer wieder auf diese biblische Erzählung Bezug nimmt, läßt sich dem Augenschein nach zunächst einmal darauf zurückführen, daß er anhand ihrer die Begriffe ›Sünde‹ und ›Schuld‹ zu illustrieren vermag; vor allem aber zieht dieser Mythos wohl deswegen Hegels fortwährendes Interesse auf sich, weil er als und in der Form des Mythos zugleich die Emanzipation vom Mythos thematisiert.196 Obgleich dieser 193

Ebd. § 106 Anm. Ilting, Bd. 4. 369 f. 195 Ebd. 370. 196 Vgl. Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs. Berlin/New York 1977. 64. »In der begreifenden Aneignung der religiösen Tradition vom Sündenfall thematisiert die vernünftige Subjektivität, die sich derart begreifend realisiert, ihre eigene Ermöglichung und Genesis.« 194

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traditionelle Text der begrifflich entwickelten Form entbehrt, versucht Hegel dennoch, seinen in die Vorstellung eingehüllten spekulativen Gehalt durch die versinnbildlichende und daher dem Begriff und dessen immanenter Entwicklung nicht angemessene Darstellung hindurch freizulegen.197 Das begreifende Denken steht also vor der Aufgabe, die Mangelhaftigkeit der Form, genauer: die in der Vorstellung als der Form des Mythos unterschiedenen Momente, in einen notwendigen, inneren Vernunftzusammenhang zu bringen und sie wiederum als Momente des Ganzen zu deuten. Nur auf diese Weise läßt sich die mit der Vorstellung verbundene Äußerlichkeit des Inhalts zum Begriff, also zum sich selbst bestimmenden Denken erheben.198

4.5.2.1 Das Bedürfnis des Geistes nach Selbstgewißheit Bevor auf Hegels Auseinandersetzung mit der Erzählung vom Sündenfall genauer eingegangen werden kann, muß daran erinnert werden, daß Hegel im dritten Teil der Philosophie der Religion (genauer: im Abschnitt über die »vollendete Religion«) die Stufe jener Selbstbewußtwerdung des Menschen, die sich u. a. in der plötzlichen Erkenntnis von Gut und Böse manifestiert, auf das im subjektiven Geist selbst vorhandene Bedürfnis zurückführt, »die absolute Wahrheit zu wissen.«199 Einerseits ist damit die Voraussetzung getroffen, der Mensch befinde sich, wo er dieses Bedürfnis in sich verspürt, noch im Zustand der ›Unwahrheit‹; er kann aber, weil er Hegels Auffassung gemäß Geist ist, diese Unwahrheit für sich nicht als das Letzte anerkennen. Damit ist jedoch dieser Zustand der Unwahrheit nicht nur zugleich einer, der überwunden werden soll, sondern einer, der vielmehr in gewisser Weise immer schon überwunden ist. In diesem Bedürfnis drückt sich demnach für Hegel zugleich die eigentliche Bestimmung des Menschen aus, sich zur Erkenntnis dieser ›Wahrheit‹, zur Selbsterkenntnis, zu erheben und sich in seinem Tun selbst zum Zweck zu machen; mit anderen Wor-

(Ebd.) 197 Eine weitere Bezugnahme Hegels auf den »mosaischen Mythus vom Sündenfall« findet sich im ›Zusatz‹ zu § 24 des Vorbegriffs zur Logik in der Enzyklopädie. Hier erläutert Hegel, es sei durchaus angemessen, diese Lehre »an der Spitze der Logik« zu betrachten, da diese es mit dem Erkennen zu tun habe, es sich aber im Mythos vom Sündenfall ebenso »um das Erkennen, um dessen Ursprung und Bedeutung« handele. In diesem Zusammenhang verdeutlicht Hegel, daß es eben jenes, in das Bild vom Sündenfall gekleidete, sich dennoch immerfort ereignende Geschehen des »Erwachen[s] des Bewußtseins im Menschen« ist, wodurch sich das geistige vom bloß natürlichen Leben unterscheidet. 198 Vgl. Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 33 f.

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ten: die Erfahrung der ›Schranke‹ impliziert zugleich das Hinaussein über dieselbe. Die Unwahrheit, so erläutert Hegel näher, ist die »Entzweiung«, in der sich der Mensch selbst zum Widerspruch wird. »Die Bestimmung ist diese, daß die Entzweiung überhaupt im Subjekt ist, daß das Subjekt böse ist, daß es die Entzweiung in sich ist, der Widerspruch, nicht das Auseinanderfallende, sondern das zugleich sich Zusammenhaltende. Erst dadurch ist es entzweit, ist der Widerspruch in sich selbst.«200 Spricht man aber von der Bestimmung des Menschen, sich aus solcher Unwahrheit zu befreien, dann kommt es wesentlich darauf an, »daß es nicht nur eine Betrachtung ist, die wir [d.i. die spekulative Philosophie, BC] machen, sondern daß der Mensch dieses Wissen von sich selbst habe, wie er beschaffen, was seine Bestimmung ist«201. Nun kann freilich allein unter der Voraussetzung einer ursprünglichen Einheit sinnvoll von einer Entzweiung des Subjekts in sich selbst, von Gott und der Natur (oder der Welt) gesprochen werden. Das angesprochene, aus Hegels Sicht moderne Phänomen der ›Vertiefung des Geistes in sich selbst‹, das Bedürfnis des Geistes nach Gewißheit seiner selbst (im Sinne der Reflexion wie der praktischen Vergewisserung), hat in der Entzweiung seinen Grund. Im Rahmen dieser Selbstvergewisserung hat der Geist auch die Frage zu klären, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Nun ist mit Blick auf die hier zu betrachtende Bestimmung des Menschen mit einigem Recht von zwei Komplementärmythen, dem Mythos vom edlen und dem vom schlechten Naturmenschen, zu sprechen, wobei ersterer auf Rousseau und letzterer auf Hobbes zu beziehen ist.202 Beide Naturzustands-Konstruktionen sind jeweils Teil einer Argumentation, die zu belegen sucht, warum der Mensch den Naturzustand verlassen und zur Gründung und Anerkennung einer staatlichen Ordnung fortschreiten muß. Indes gibt die Vorstellung, der 199

Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 220. Ebd. 201 Ebd. 221. 202 So Tobias Blanke (Das Böse in der politischen Theorie. A. a.O. 147). Für Hobbes gilt im reinen Naturzustand, daß im Überlebenskampf jeder ein Recht auf alles (und damit genaugenommen auf gar nichts) hat. Dies und eine natürliche Neigung der Menschen, anderen zu eigenem Vorteil Schaden zuzufügen, läßt den Naturzustand bei Hobbes zu einem Krieg aller gegen alle werden. Mit der Staatengründung leisten die Menschen wechselseitig Verzicht auf das ius in omnia et omnes, was letztendlich der Verhinderung des Bürgerkriegs dienen soll. Auch bei Rousseau sei es »unbedingtes Gesetz« (ebd. 153), daß aus dem Naturzustand auszubrechen ist, denn dieser könne der menschlichen Freiheit auf Dauer nicht Genüge leisten. Zwar waren Rousseau zufolge in den guten Zeiten des Naturzustandes alle Menschen gleich und frei, doch müsse durch den Gesellschaftsvertrag diese ursprüngliche Einheit auf höherer Stufe wiederhergestellt werden. Beide, Rousseau und Hobbes, fragen nach einer möglichen Identität von Freiheit und Herrschaft und stützen 200

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Mensch sei von Natur aus gut, spekulativ betrachtet wenig her, denn wenn der Mensch das von Natur aus Unentzweite ist, dann kann er auch keinerlei Bedürfnis nach Versöhnung seiner inneren Widersprüche entwickeln. Mit der zweiten Auffassungsweise, die besagt: der Mensch ist von Natur aus böse oder: im Zustand der Entzweiung, kommt indes die spekulative Betrachtung in Gang. (Der Standpunkt des inneren Entzweitseins des Menschen ist im übrigen Hegel zufolge auch der Ausgangspunkt der christlichen Religion.) Aber Hegel formuliert den Satz in seinem Sinne um: Der Mensch, wie er unmittelbar ist, ist böse, d. h. er soll nicht so bleiben, wie er unmittelbar ist; »er soll über diese Unmittelbarkeit hinausgehen: Das ist der Begriff des Geistes.«203 Der Geist, weil er Geist ist, muß »in die Unterscheidung, das Urteil, das Gericht seiner und des Natürlichen kommen«204.

4.5.2.2 Zur Dialektik des ›Sündenfalls‹ Der Mensch, so heißt es sinngemäß in der biblischen Erzählung vom Sündenfall, der sich von der Schlange hat verleiten lassen, − wider das Verbot Gottes − vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, sei zwar zur Erkenntnis des Guten und Bösen gelangt und dadurch in der Tat Gott in dieser Hinsicht gleich, im selben Moment jedoch böse geworden.205 (Womit aus traditionell christlicher Perspektive die Ansicht verbunden ist, daß der Sündenfall nicht hätte passieren dürfen.) Das Zerreißen der paradiesischen Einheit zwischen dem Menschen, der Natur und Gott vollzieht sich im Erwachen des Bewußtseins, in einem Akt der Selbstbewußtwerdung; das Ich wird sich zugleich als ein anderes gewahr (und nur indem es sich auf sich als ein anderes bezieht, kann es seiner selbst bewußt werden). Genau genommen haben wir es jedoch mit einer Entzweiung aus ursprünglicher Einheit in dreifacher Weise zu tun und die als Entfremdung erfahrene Entzweiung des Menschen aus unmittelbarer Einheit zeigt sich in jeder dieser Erscheinungsweisen als ein ambivalentes Phänomen. So ist erstens die Entzweiung des Menschen von sich selbst einerseits als ein Zusichselberkommen, als errungene Freiheit aufzufassen; das Ich besitzt sich, indem es sich weiß. Andererseits jedoch erfährt sich der Mensch in seinem Anderssein (was sich in der

sich zu ihrer Begründung auf das Vertragsmodell (vgl. ebd. 153 ff.). 203 Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 222. 204 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion. Herausgegeben von Walter Jaeschke. Hamburg 1985. 425 (= Hegel: Vorlesungen, Bd. 4).

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

biblischen Erzählung sinnbildlich im Gefühl der Scham ausdrückt, die mit der Reflexion erwacht).206 Zweitens trägt auch die Entfremdung von der Natur solche Ambivalenz in sich, insofern sich auch die Natur dem Menschen nunmehr als ein Anderes darstellt; nach dem Fall sieht er sich gezwungen, die Fremdheit und Selbständigkeit der Natur durch Arbeit immer wieder aufs Neue zu überwinden und sie sich anzueignen. In der Arbeit zeigt sich also beides: der Mensch erscheint auf praktische Weise als ein solcher, der »sich zu dem machen muß, was er ist«207, aber ebenso zeigt die Notwendigkeit der arbeitenden Naturaneignung den Menschen in seiner ganzen Bedürftigkeit und Abhängigkeit von der Natur. Die im Rahmen der Erzählung in der biblischen »Genesis« genannten, von Gott angesichts des Ungehorsams von Adam und Eva verhängten Strafen, die nicht nur sie, sondern das gesamte Menschengeschlecht treffen, sind, wie wir noch sehen werden, im spekulativen Sinn als im Entzweiungsgeschehen des Falles selbst gesetzte Momente zu begreifen. Die Entfremdung gegenüber Gott schließlich drückt sich darin aus, daß dem Menschen mit dem Durchbruch des reflektierten Wissens um Gut und Böse das Gute als durch göttliches Gesetz gefordert erscheint. Diese Entzweiung, das Heraustreten des Menschen aus der Unmittelbarkeit, die Trennung des Individuums von seinem substantiellen Wesen, ist so einerseits als das Böse aufzufassen, denn in dieser Entzweiung ist zugleich der Unterschied zwischen Gut und Böse gesetzt – ein im Bewußtsein gesetzter Unterschied, der in der biblischen Erzählung, wie gesagt, bereits als das Böse selbst betrachtet wird (was seinen sinnbildlichen Ausdruck darin findet, daß Adam von der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis isst). Dem Ich, das sich auf diese Weise selbst Gegenstand wird, steht Alles gegenüber, so auch die Einheit mit Gott; diese ist jetzt das Gute, von dem es weiß und von dem es sich zugleich unterscheidet. Indem das Gute auf diese Weise zum Gegenstand der Reflexion wird, scheint mit einem Male der Gegensatz desselben auf.208 Was Hegel also in seiner dialektischen Aufnahme der Sündenfall-Erzählung zum Ausdruck bringen will, ist seine Auffassung von der ›Menschwerdung des Menschen‹, die auf jener innersten Negativität des Geistes basiert, aufgrund derer sich der Mensch zunächst einmal selbst fremd werden muß:

205

So wird es auch von Hegel dargestellt (vgl. Hegel: Vorlesungen, Bd. 4. 425). Vgl. Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 56. »Das entzweite Verhältnis zu sich selbst ist durch die Ambivalenz von Freiheit und Verletzlichkeit des inneren Menschen charakterisiert.« 207 Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 227. 206

Das Böse und die Schuld

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Der Mensch ist nicht frei, solange er sich nicht ergriffen hat und solange er nicht aus der konkreten Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Gut und Böse, also (in diesem Minimalverständnis) selbstbestimmt handelt. Der Verstoß gegen das Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, markiert den Übergang von der »unbewußten Existenz des vormenschlichen Lebens zum Niveau des Menschen«209. Gegen das Gebot der Autorität zu handeln, wird damit zum »erste[n] Akt der Freiheit«, zur »erste[n] menschliche[n] Tat.«210 Nebenbei bemerkt: Wenn der Mensch auch, insofern er Mensch ist, um den prinzipiellen Unterschied von Gut und Böse weiß – und in diesem Sinne die Schuld als eine wesentliche Bestimmung des Menschen anzusehen ist −, so ist doch zweifellos die Ausbildung der Formen von Moralität und Sittlichkeit an die Geschichte und damit an die allgemeine Entwicklung des Geistes verwiesen.211 Die Erkenntnis des Unterschiedes von Gut und Böse ist demnach Ausdruck einer Absonderung vom Guten in seiner unmittelbaren Gestalt und bedeutet zugleich für den Menschen den Verlust seiner Unschuld. Auch wenn es banal klingen mag: Der Verlust der Unschuld im ›Sündenfall‹ ist die absolute Bedingung der Möglichkeit für den Menschen, gut oder böse sein: Schuld haben zu können. Hegels Begriff der Sünde steht damit für die soeben geschilderte Entzweiung des Menschen aus der ursprünglichen Einheit. Der Begriff der Sünde gewinnt für Hegel Bedeutung allein insofern, als damit ein Moment innerhalb der Selbsterzeugung des Selbstbewußtseins angezeigt ist. ›Sünde‹ tritt daher auch einzig auf dem Weg der rückblickenden Vergewisserung des Geistes hinsichtlich seiner selbst hervor. Da die Sünde gleichbedeutend ist mit der besagten Reflexion, welche sich in der Erkenntnis des Guten und Bösen Ausdruck verschafft, hat sie auch an dem Doppelcharakter teil, der bereits für den ›Fall‹ des Menschen aus der Unmittelbarkeit konstatiert wurde; die Sünde ist (wie das Böse) zugleich notwendig, wie sie − als Standpunkt der Trennung des Menschen von seinem substantiellen Wesen − auch das notwendig nicht sein Sollende, das zu Überwindende darstellt. »Der Sündenbegriff thematisiert die Krise des menschlichen Wesens. […] Er weist auf das Krisenhafte in der menschlichen Identitätsfindung. Seine Dialektik läßt 208

Vgl. Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 53. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. Frankfurt a.M. 1980. 33 (ursprünglich 1941 in New York erschienen unter dem Titel: Escape from Freedom). Mit dieser Tat der Entzweiung ist der Mensch, Fromm zufolge, zwar »frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitzt noch nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren.« (Hervorhebungen im Original.) 210 Ebd. 211 Vgl. Christoph J. Bauer: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck.« Geschichts209

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

sich daher nicht abgelöst von der Teleologie des Geistbegriffes denken.«212 − Wenngleich diese Trennung innerhalb der Entwicklung des Geistes durchaus notwendig ist, ist es doch zugleich keineswegs zwingend erforderlich, das Böse als eine notwendige Durchgangsstufe des Geistes anzusehen. Denn, wie Hegel auch in der Rechtsphilosophie hinreichend deutlich macht: Das Böse wie das Gute haben zwar ihren Ursprung im Willen, damit ist der Wille jedoch nicht an sich selbst das Böse. Böse ist vielmehr das willentliche Beharren auf der Natürlichkeit, der damit die Bestimmung des unfreien Willens erhält (wäre dies nicht ein Widerspruch in sich), oder das Beharren auf der Trennung zwischen dem eigenen subjektiven Standpunkt und dem des Allgemeinen.213 Das Verbleiben im Zustand der Unschuld ist aus der Sicht Hegels für den Menschen keine Option, vielmehr interpretiert er die Unschuld als ein Moment des Ansichseins, das der Geist sich, seinem bewußten Werden, voraussetzt.214 Die Folgerung liegt auf der Hand: Unschuld gibt es immer nur als aufgehobene, und das Paradies ist »eo ipso ein verlorenes«215: Die Vorstellung vom Paradies als einer unmittelbaren und harmonischen Seinsweise des Menschen und deren Verbannung in einen der Vergangenheit angehörenden und unwiederbringlichen Zustand läßt »die wesentliche Wahrheit des Geistes als etwas Vergangenes«216 erscheinen. Das Ansich des Geistes, seine substantielle Bestimmung, in die er zunächst eingehüllt ist und aus der er notwenphilosophie bei Hegel und Droysen. Hamburg 2001. 289 f. 212 Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 66. 213 Ich stimme also Heimo Hofmeister zu, der diese These von der Notwendigkeit der Trennung, nicht jedoch der des Bösen als eines solchen vertritt (Heimo Hofmeister: Eritis sicut Deus. Hegels Interpretation des Sündenfallberichtes. – In: Dialektische Logik. Hegels Wissenschaft der Logik und ihre realphilosophischen Wirklichkeitsweisen. A. a.O. 226–238; hier 227 und 230 f.). Lu de Vos spricht im Hinblick auf das Böse von einer »zweiten Entzweiung«, die demnach nicht einfach identisch ist mit dem Akt der Erkenntnis von Gut und Böse, welcher als die erste Entzweiung bezeichnet werden kann. (Art.: »Das Gute«. – In: Hegel-Lexikon. A. a.O. 252.) 214 So erscheint auch der Versuch Ringlebens, den Begriff der Unschuld (wie auch den der Sünde und des Bösen) in die Logik der Subjektivität oder genauer: in die Konstitutionsproblematik von Selbstbewußtsein einzubeziehen, durchaus plausibel. Begreift man, wie Ringleben interpretierend verdeutlicht, Subjektivität als einen »konstitutive[n] Rückstoß« und damit als dasjenige, was sich selbst voraussetzt (Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 46 f.), dann ist Unschuld als ein Moment des Ansich zu interpretieren, das nur in Folge der Selbstunterscheidung, der Entzweiung, überhaupt ins Bewußtsein treten kann. »Der gewissermaßen ›feste‹ Punkt von Unschuld wird Anlaß zu seiner dialektischen Verflüssigung auf dem Wege der Integration in den eigentümlichen Zusammenhang von Selbstkonstruktion, d. h. Subjektivität. […] Der Begriff Unschuld ist selber Selbstaufhebung, Subjektivität.« (Ebd. 47 f.) 215 Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 48.

Das Böse und die Schuld

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dig heraustreten muß, darf nicht als ein der Zeit nach fixierter anfänglicher Zustand betrachtet werden, der von der folgenden Entwicklung abgeschieden wäre, sondern als als ein Moment des dialektischen Prozesses, den der Geist zu durchlaufen hat. Zwar muß der Mensch Hegel zufolge »zur Versöhnung kommen«217 − diese ist das »innere Telos des menschlichen Geistes«218 −, sie kann aber einzig im Sinne der Rückkehr des Geistes aus der Entzweiung in sich gedacht werden. Demnach muß dieser Zustand, gerade weil er verloren ist, als ein Moment innerhalb der Geschichte des Geistes betrachtet werden, das erst von einem späteren Wissensstand aus als ein Zustand von Unmittelbarkeit rekonstruierbar ist – wodurch natürlich zugleich jede Forderung nach einer Rückkehr in eine ursprünglich ›unschuldige‹ Seinsweise des Menschen zurückgewiesen ist (man denke an Rousseau). Die Einheit des endlichen Geistes mit dem Unendlichen kann daher nicht am Anfang der Entwicklung stehen, sondern muß als Resultat der sich über die Entfremdung vollziehende Selbstverständigung des Geistes begriffen werden. Der Sündenfall, die ursprüngliche Entzweiung, ist damit nichts anderes als »der Vollzug der im Unschuldsgedanken angelegten Dialektik.«219 Was hier mit Blick auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion gesagt wurde, erhält in der Phänomenologie des Geistes (im dritten Abschnitt des Religionskapitels) eine perspektivisch leicht veränderte Gestalt: Hegel befaßt sich im Abschnitt über die »offenbare Religion« mit den zentralen Dogmen der christlichen Religion, wie der Offenbarung und der Menschwerdung Gottes, aber auch – was wichtig für den hier diskutierten Zusammenhang ist: − mit dem Dogma von der Entfremdung der Welt von Gott, dem »Abfall« der Engel und der Menschen ins Böse und schließlich mit der christlichen Vorstellung von der Erlösung aus diesem Zustand durch Gottes Heilstat, die es für Hegel von der Vorstellung in das begriffliche Denken zu überführen gilt.220 Wie das »ewige Wesen sich als die Bewegung in seinem Anderssein sich selbst gleich zu sein darstellt«221 und so die Welt als sein Anderes ›erschafft‹, so muß sich auch das »einzelne Selbst« ein Anderes werden. Denn so, wie es unmittelbar gesetzt ist, »ist es noch nicht Geist für sich […], es kann unschuldig, aber nicht wohl gut genannt werden.« Es muß, zunächst in die »Mannigfaltigkeit seines Bewußtseins zerstreut«, in sich 216

Ebd. 44. Hegel: Vorlesungen, Bd. 4. 427. 218 Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 46. 219 Ebd. 52. 220 Vgl. dazu Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels »Differenzschrift« und zur »Phänomenologie des Geistes«. Frankfurt a.M. 2000. 234–244. 217

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

gehen. Es initiiert das Umschlagen in den Gedanken; aus der Sinnlichkeit, in der es gleichsam außer sich war, setzt es diesen zunächst äußerlichen Inhalt als einen innerlichen. (Dieser Prozeß des Insichgehens des Geistes, der sich hier nur in Gestalt einer Abbreviatur findet, wird von Hegel bekanntlich in seiner Lehre vom subjektiven Geist in aller Ausführlichkeit entfaltet.) Der Mensch fällt aus der »Form der Sichselbstgleichheit«222 unmittelbar in die Entgegensetzung: Er wird sich selbst ungleich und »das Böse [erscheint] als das erste Dasein des in sich gegangenen Bewußtseins«. Einerseits ist dieses Bewußtsein »wesentlich nur das Böse« – und hier zeigt sich also die eben angesprochene perspektivische Veränderung, die ebenso wiederum im eigentlichen Sinne keine ist, denn –, andererseits ist dieses Böse immer nur im Verhältnis gegen »das gute Bewußtsein« vorhanden und es tritt mit dem Bösen als dem Insichsein des Geistes zugleich »das Gute in die Wirklichkeit […] und [erscheint] als ein daseiendes Selbstbewußtsein«. Damit ist das Böse, »die Selbstbehauptung gegen das Ganze«223, als ein Moment des Geistes stets in Relation zu seiner Entgegensetzung, dem Guten. Das Gute und das Böse bezeichnen daher zwei Aspekte der Selbstreflexion: das Böse erscheint als das entzweiende »insichseiende Fürsichsein« und das Gute als »das selbstlose Einfache«224; beide treten zu einer Einheit Differenter zusammen; sie sind demnach ebensosehr dasselbe wie sie auch verschieden sind. »Nicht das eine oder das andre hat Wahrheit, sondern eben ihre Bewegung«225 – und diese Bewegung der Reflexion, die ihre Momente in der Einheit hält, ist der Geist.

4.5.2.3 Schuld als der ›Zustand des Menschen‹ Kehren wir nun nach diesem kurzen Exkurs in die Phänomenologie des Geistes wieder zu Hegels Deutung der Sündenfall-Erzählung in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion zurück. Es war gesagt worden, daß die Erkenntnis des Gegensatzes von Gut und Böse die Bedingung der Möglichkeit für den Menschen dafür darstellt, gut oder böse sein zu können. Die Behauptung: Der Mensch ist von Natur böse, ist demnach nur dann einsichtig, wenn das natürliche Sein des Menschen nicht nur als ein ihm unangemessenes, sondern als ihm ganz und gar widersprechendes und zugleich durch ihn

221 222 223 224

PhG 503. Ebd. 504. Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 241. PhG 508.

Das Böse und die Schuld

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selbst gesetztes begriffen wird (gleichsam im Sinne der Versündigung an der eigenen Bestimmung). Der Mensch ist jedoch niemals bloßes Naturwesen; da er Geist ist, ist er immer schon als das Verhältnis von Natur und Geist und als die Einheit dieses Verhältnisses bestimmt, d. h. seine Natürlichkeit ist immer vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses zu sehen, wodurch auch sie zu einer primär geistigen Bestimmung wird. Wäre es anders, könnte es dem Menschen nicht zu seiner Schuld angerechnet werden, wenn er sich bloß seiner natürlichen Bestimmung gemäß, d. h. als einzelner, selbstsüchtiger Wille verhält, der seiner Triebe lebt und böse ist. Da sich, wie gesagt, der Geist nur aufgrund der Negation des Unmittelbaren (und der Rückkehr aus dieser Negation) vollbringen kann, ist die Unschuld nicht Geist, sondern im eigentlichen Sinne der Widerspruch zwischen geistiger Form und natürlichem Inhalt. ›Unschuld‹ bezeichnet einerseits eine Seinsweise des Menschen in unmittelbarer Einheit mit Gott und Natur − der Mensch »mit dem Auge des Geistes im Mittelpunkte der Natur«226 –, andererseits jedoch zeichnet sie sich durch den Mangel an Freiheit und Fürsichsein des Geistes aus. Der Zustand der Unschuld bedeutet daher auch nichts weiter, als daß »für den Menschen nichts Gutes und nichts Böses ist; er ist der Zustand des Tiers; Paradies […] ist eigentlich erst ein Tiergarten«227. Der Mensch muß sich aber zu einem sittlichen Wesen machen und in den Zustand der Zurechnungsfähigkeit treten, er muß in sich die »Fähigkeit zur Schuld« erlangen, denn Schuld, so erläutert Hegel, »heißt im allgemeinen ›Zurechnung‹«. Diese wiederum setzt voraus, daß der Mensch mit Wissen und Willen dessen, was Recht ist, handelt; daß er imstande ist, sein Tun und Lassen in normativer Selbstverantwortung wie in der Verantwortung der Folgen seines Handelns zu gestalten. Gut und Böse, so sollte im Verlauf der obigen Darstellung deutlich geworden sein, schließen einander nicht aus, sondern treten allein in der Beziehung eines Gegensatzes ins menschliche Bewußtsein; sie sind daher in notwendi225

Ebd. 509. In seinen Vorlesungen über Naturphilosophie (Nachschrift Griesheim) heißt es in diesem Zusammenhang: »Dieß ist das, was man ursprünglich Stand der Unschuld nennt, Leben im Paradiese, ein Zustand worin der Mensch identisch mit der Natur ist, worin er mit dem Auge des Geistes im Mittelpunkte der Natur steht. Der Mangel dieser Identität des Geistes und der Natur, ist der Stand der Entzweiung, der Sündenfall.« Im Sündenfall nämlich tritt der Mensch, wie wir oben gesehen haben, aus jener »ursprünglich göttliche[n] Anschauung« hinaus und wird »endlicher Geist«, für den die Natur nunmehr »ein anderes« ist. (Philosophie der Natur vorgetragen vom Professor Hegel im Winterhalbenjahre 1823/24. Iter u. IIter Theil. Nachgeschrieben von v. Griesheim. Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hegel-Nachlaß. Ms. Germ. 4°. 542 u. 543; im Manuskript auf Seite 21. Künftig wird diese Nachschrift angeführt als: Nachschrift Griesheim.) 226

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

ger und wechselseitiger Bezogenheit aufeinander zu denken. Nur insofern beide in der bewußtseinsmäßigen Einheit des Selbstbewußtseins verankert sind, kann der Mensch, der das Bewußtsein dieses Widerspruchs in sich hat, »den unendlichen Schmerz über sich selbst« in dieser Entzweiung erfahren. Dieser Schmerz verstanden als die »Negativität im Affirmativen«228 ist Ausdruck dessen, daß sich der Mensch im Gegensatz zu seiner Bestimmung befindet, die für ihn ein Sollen darstellt; der Mensch soll ja nicht allein um den Unterschied von Gut und Böse wissen, sondern er soll das Gute verwirklichen, was allerdings erst in dem Moment zu einer Forderung wird, da der Mensch sozusagen ›aus der Ordnung fällt‹ − was uns wiederum an die mit der Moderne verbundene Sphäre der Moralität verweist, in der der Mensch versucht und versuchen muß, sich als einzelnem Subjekt einen objektiv verbindlichen ethischen Inhalt zu geben. Im Zusammenhang der soeben kurz angesprochenen Darstellung jener Entzweiung in der Phänomenologie spricht Hegel davon, daß der Mensch, insofern er den Gegensatz von Gut und Böse in sich noch nicht zur Auflösung gebracht hat, der »synthetische Boden ihres Daseins und Kampfs«229 sei. Im Schmerz als dem Signum der »unendlichen Kraft der Einheit« des Subjekts, das diesen Widerspruch auszuhalten vermag, drücken sich zugleich das Bedürfnis wie das Bewußtsein der Aussöhnung des Gegensatzes aus, »daß nicht dieser, sondern vielmehr dies die Wahrheit ist, durch die Negation des Gegensatzes die Einheit zu erreichen.«230 Der mit der Unschuld gesetzte Widerspruch treibt zu seiner Lösung, deren eines Moment das Heraustreten aus der Unschuld und deren anderes Moment das Gewinnen einer geisthaften Einheit des endlichen Geistes und des Guten bildet.231 Eine solche Versöhnung (wie sie nach Hegel in allen Formen des ›absoluten Geistes‹, nicht allein in der Sphäre der Religion, intendiert ist) entspringt einem Bedürfnis des Subjekts selbst, insofern es sich als entzweites und unversöhntes erfahren hat. Im Subjekt, in dessen »innere[m] Geist«, liegen sowohl das Bedürfnis als auch die »absolute Möglichkeit«232 dieser Aussöhnung. Da das Böse ebenso notwendig nicht sein, d. h. überwunden und aufgehoben werden soll, muß die Möglichkeit zur Aufhebung im Menschen selbst liegen und die Tätigkeit der Aufhebung dieses Widerspruchs von ihm ausgehen und kann nicht an eine ihm transzendente Instanz verwiesen werden.233 »Sofern aber das 227 228 229 230 231 232

Hegel: Vorlesungen, Bd. 4. 423 f. Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 229. PhG 505. Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 233. Vgl. Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. 41. Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 259.

Das Böse und die Schuld

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Böse im Menschen aufkommt, wenn er Böses tut« − was mit einer gewissen Notwendigkeit der Fall ist, da er gar nicht anders kann, als handelnd auch seine Besonderheit gegen ein Allgemeines geltend zu machen −, »so ist das zugleich als ein an sich Nichtiges vorhanden, über das der Geist mächtig ist,

233

Heimo Hofmeister ist anderer Ansicht, er behauptet: »Das Denken, in dem auch die Heilung des Bösen liegt, ist hier unterschieden von dem Denken des Menschen. Es ist das göttliche Denken […].« Und er führt zur Begründung seiner These an: »Weil Gott nur zu sich selbst sprach: ›Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner‹, so kann es auch nur sein (nämlich Gottes) Wissen sein, ›daß unter diesem Adam der zweite Adam, Christus verstanden ist‹.« Der Mensch, auf sich gestellt, verharre in der Entzweiung, die Versöhnung könne daher auch einzig durch Gott herbeigeführt werden. »Für den Menschen bleibt das letzte Gefühl des Schmerzes über sich.« Hofmeister will, unter unbestimmtem Bezug auf die Enzyklopädie, darauf hinaus, daß die Philosophie letztendlich nichts anderes zu sein bestimmt ist als die ›Magd der Religion‹. Die Philosophie sei der Religion gegenüber keineswegs selbständig, denn sie sei angewiesen auf den Inhalt der Religion, dem sie sich »unterordnet«; ebenso unmöglich sei die Philosophie imstande, die »menschliche Selbsterlösung des Geistes durch sich selbst« zu bewirken. Ohne dies zu begründen – möglicherweise glaubt der Verfasser in seiner »frommen Vornehmigkeit sich des Beweisens ohnehin entübrigt« (Enzyklopädie § 573 Anm.) –, behauptet Hofmeister, daß Hegel darin »irrt«, wenn er annimmt, »daß die Philosophie diesen Inhalt der Religion im Unterschied zur Religion zu begreifen vermöge, wogegen diese ihn nur vorstellt.« (Eritis sicut Deus. A. a.O. 237 f.) Es bleibt demnach bei Hofmeister völlig offen, mit welcher Begründung die von Hegel vorgeschlagene Abfolge der Gestalten des absoluten Geistes zurückzuweisen sein sollte. Was nun die soeben angeführte Aussage Hegels in der Enzyklopädie betrifft: »Dieser Standpunkt der Entzweiung ist demnächst gleichfalls aufzuheben, und der Geist soll durch sich zur Einigkeit zurückkehren. Diese Einigkeit ist dann eine geistige, und das Prinzip jener Zurückführung liegt im Denken selbst. Dieses ist es, welches die Wunde schlägt und dieselbe auch heilt« (Enzyklopädie § 24, 3. Zusatz), so muß man zweifellos davon ausgehen, daß eine jede Möglichkeit der Vermittlung oder der ›Versöhnung‹ im menschlichen Denken und einzig dort begründet ist, denn ein anderes gibt es für Hegel nicht. Und selbst wenn der Mensch eine solche Versöhnung mit Gott als einen Akt der Gnade erführe, müsste die absolute Bedingung dafür, daß er imstande ist, die Gnade anzunehmen, im menschlichen Geist selbst liegen. Die Gnade, so der Überlieferung von Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie durch Griesheim zufolge, dürfe gerade nicht als ein dem Menschen Äußeres vorgestellt werden. Der »Inhalt der Gnade Gottes ist kein bloß äusserer, er drückt die Natur des Geistes selbst aus, der Geist der sich selbst betrachtet, findet sich in dem was so an ihn kommt.« (Ebd. 376) Diese von Hofmeister hier behauptete Trennung zwischen dem endlichen und dem unendlichen Geist führt geradewegs auf die von Hegel vehement zurückgewiesene Vorstellung einer verstandesmäßig verfaßten ›schlechten Unendlichkeit‹, die noch auf dem Gegensatz gegen das Endliche beruht. Hegel legt dagegen in der Einleitung zu seiner Philosophie des subjektiven Geistes ausführlich dar, daß der Geist nur in seiner Tätigkeit der Vermittlung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit angemessen begriffen werden kann. Das ›Ich‹ als der mit dem Bewußtsein gesetzten »einfachen Einheit«, enthält beides gleichermaßen in sich: die Unbestimmtheit (Unendlichkeit) sowie die Bestimmtheit (Endlichkeit). »Ich bin die reine Unendlichkeit selbst, aller Inhalt aber ist eine Grenze, ich bin darin begrenzt, es ist dieser Inhalt nicht zugleich ein Anderes, er schließt den anderen aus […]. Es ist also der Widerspruch daß

158

Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

so daß der Geist die Macht hat, das Böse ungeschehen zu machen.«234 Diese Wendung, der Geist könne das Geschehene im Geist ungeschehen machen, begegnet indes auch in der Rechtsphilosophie und verweist dort auf das dem Souverän zukommende Gnadenrecht. Im Kontext der Religionsphilosophie begreift Hegel darunter dagegen auch solche psychologischen Phänomene wie Reue oder Buße, in denen der Mensch »die Wahrheit gegen sein Böses anerkennt und das Gute will«. »Die Reue, die Buße hat diesen Sinn, daß durch die Erhebung des Menschen zur Wahrheit, die er nun will, das Verbrechen ausgelöscht und dadurch, daß er die Wahrheit gegen sein Böses anerkennt und das Gute will, d.i. durch die Reue das Böse nichtig gemacht werde.«235 Das entscheidende Moment ist hier für Hegel das Wissen darum, daß das Böse an und für sich überwunden ist. – Die Frage nach dem von Hegel geprägten Begriff der Versöhnung ist indes ein Thema für sich, das im Rahmen der vorliegenden Fragestellung nur gestreift werden konnte.236

4.5.3 Gestalten des Bösen (GPR § 140) Hegels Abhandlung zur Reihe der Gestalten des Bösen in § 140 der Grundlinien − die allesamt als Entfremdungserscheinungen des Bewußtseins anzusehen sind237 – widmet sich weniger der Frage nach einem wie auch immer zu bestimmenden überzeitlichen oder transzendentalen Prinzip des Bösen, sondern vielmehr der nach der konkreten Beziehung des subjektivistischen Standpunkts zum Geist seiner Zeit im Allgemeinen. Was Hegel in erster Linie interessiert, sind jene Formen eines entfremdeten moralischen Bewußtseins, wie sie »in einer gebildeten Zeit ein Interesse haben.«238 Als entfremdet gilt der Geist Hegel zufolge insofern, als er eitel und selbstgefällig am »Endlichen, gegen das Wahre«239 festhält. Der Geist hat also hier ein falsches Bewußtsein seiner selbst, indem er das Endliche für das Absolute nimmt und

Ich das Unendliche bin und doch als endlich gesetzt bin.« (GW 25,1. 169 f.) 234 Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 259. 235 Ebd. 236 Vgl. dazu Joachim Ringleben: Hegels Theorie der Sünde. A. a.O. Hier bes. das Kapitel 6 über »Sünde und Versöhnung« (192–244). 237 In der Nachschrift Hotho heißt es: »Dem Menschen ist das Böse nichts unbefangenes, denn sein Begriff ist die Vernünftigkeit, und deshalb hat er ein Wissen des Bösen als des Negativen seines Begriffs.« (Ilting, Bd. 3. 454) Diejenigen dagegen, welche ganz ohne böses Gewissen handeln, »betrögen so den Teufel da sie ganz böse sind, nicht die Reue, keine Halbheit in sich haben.« (Ilting, Bd. 4. 374) 238 Ilting, Bd. 4. 371.

Das Böse und die Schuld

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nicht als das, was es ist, nämlich »schlechthin nur ein Übergehen und Übersichhinausgehen«; als ein Moment innerhalb der unendlichen Selbstbezüglichkeit des menschlichen Geistes. Das Böse ist demnach die »höchste Vertiefung« des Geistes in seine Subjektivität; diese Vertiefung ist der »innerste Widerspruch«240 des Geistes mit sich selbst. Hegel diskutiert in § 140 der Grundlinien nicht die Gestalten eines ›unbefangenen Bösen‹, sondern ausschließlich jene Erscheinungsweisen des Bösen, die der subjektiven Reflexion entspringen und die das Subjekt in Rechtfertigungszwang bringen. Das Böse in seinen mannigfachen Facetten bringt jeweils die subjektive Fixierung innerhalb einer Entgegensetzung zum Ausdruck.241 Genauer geht es um die Form, zu welcher das Böse »in unserer Zeit und zwar durch die Philosophie […] gediehen ist«242, also jene Gestalt der Subjektivität, die das Böse für das Gute auszugeben versucht. Eine solche Verkehrung von Gutem in Böses kann zum einen in der Absicht geschehen, andere zu täuschen (Heuchelei), und zum andern in der Absicht, »für sich selbst« das Gute in Böses zu pervertieren (Ironie) – dies sind die Extreme, zwischen denen Hegel seine Untersuchung des Bösen aufspannt −, wobei letztere in der »sich als das Absolute behauptenden Subjectivität«243 ihren Grund findet. Dieser Umschlagspunkt von subjektiver Freiheit in bloßen Subjektivismus und Unfreiheit, welcher im willkürlichen Geltendmachen der Subjektivität gegen die bestehenden Verhältnisse besteht – und aus Hegels Sicht seinen Ausdruck in der Kantischen Bestimmung von Moralität im Sinne der Aufforderung an den einzelnen Willen findet, sich am Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der eigenen Maximen zu orientieren –, ist 239

Enzyklopädie § 386 Anm. Ebd. 241 Am Rande sollte bemerkt werden, daß Hegel unter Bezug auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles zwischen zweierlei Arten von Unwissenheit unterscheidet (wobei die eine partiell entschuldigt, die andere keinesfalls). Einmal ist eine Art der Unwissenheit gemeint, die sich auf die äußeren Umstände des Handelns bezieht (oük eÎd¾V) und aufgrund derer die Handlung für Aristoteles insgesamt als ›unfreiwillig‹ zu bezeichnen und dem Handelnden nicht zurechenbar ist. (Umgekehrt entspricht das Wissen der äußeren Umstände und der darauf gerichtete Zweck dem, was nach Hegel als ›Vorsatz‹ zu bezeichnen ist (vgl. GPR § 117)). Die andere Form der Unwissenheit besteht für Aristoteles in einer schuldhaften Form des Nichtwissens (Âgnovn) oder des Ignorierens der objektiven Pflicht; wenn in diesem Sinne unwissend gehandelt wird, so ist dies dem Menschen auch als seine Schuld zuzurechnen. Die Voraussetzung, die Aristoteles hier trifft und der Hegel sich in seinen Überlegungen anschließt, ist, daß die Erkenntnis des Guten und des Bösen, ebenso wie die Handlung selbst, einem Willensakt entspringt. So heißt es bei Aristoteles diesbezüglich, die »Unwissenheit in der Entscheidung ist nicht Ursache der Unfreiwilligkeit, sondern der Schlechtigkeit« (Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1110 b 31). 242 GPR § 140 Anm. 240

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

nun aus Hegels Perspektive als ein (Rückfall ins) Unrecht zu bezeichnen.244 Denn Kants Idee einer jederzeit möglichen Universalisierung der Maximen des Handelns, welche eine Erkenntnisregel des Guten garantieren soll, stellt zugleich vor unlösbare Schwierigkeiten hinsichtlich der Beurteilung konkreter Handlungsentscheidungen und führt das Resultat mit sich, sich einzig auf das subjektive Urteil verlassen zu können. Die absolute Möglichkeit der Verkehrung des Guten in Böses, welche in die Verfügungsgewalt der moralischen Subjektivität fällt − die absolute Möglichkeit dessen, daß das Gute zu einem bloßen Schein herabgesetzt werden kann − liegt einzig in der Abstraktheit des Begriffs des Guten begründet: Wenn das Gute unbestimmt bleibt und lediglich in der Bedeutung eines »Affirmativen«, eines Zweckhaften, genommen wird, dann erscheint jeder handlungsleitende Zweck als ein Gutes oder: als ein Gut, das mit der Handlung angestrebt wird.245 Mit anderen Worten: Fehlen objektive Kriterien, dann kann jeder beliebige Inhalt vom moralischen Subjekt als unbedingte Pflicht behauptet und vor ihm selbst wie vor anderen gerechtfertigt werden.

4.5.3.1 Tausend gute Gründe: Das Wollen des abstrakten Guten Wo geheuchelt wird, da tritt dem bösen Handeln die Unwahrheit hinzu, daß das Böse gegenüber anderen als gut behauptet wird; dies setzt zugleich voraus, daß hier in vollem Bewußtsein böse gehandelt wurde. Die Heuchelei enthält die drei Momente in sich, erstens: das Wissen des »wahrhaften Allgemeinen« (sei es nur im Gefühl oder in der deutlichen Erkenntnis), zweitens: das Wollen des dem Allgemeinen widersprechenden Besonderen und drittens: das vergleichende Wissen beider Momente. Indem der Heuchler nun wider besseres Wissen sein böses Tun als eine gute Tat behauptet, vollbringt er das »Kunststück des Betrugs für andere«246. Eine eigene Gestalt der Heuchelei, die Hegel nennt, ist der Probabilismus, welcher die Verkehrung vom Bösen ins Gute auf eine andere Weise versucht: Vom probabilistischen Standpunkt aus betrachtet gelten alle Handlungen als rechtmäßig und durchaus in moralischem Sinne gut, für die nur überhaupt irgend ein guter Grund anzuführen ist (beispielsweise die »Autorität eines Theologen«) − gleichgültig, wie viele andere gute Gründe diesem auch widerstreiten mögen. Weil aber für den Probabilismus gilt, daß Gründe für Handlungen immerhin proba243 244 245

Ebd. Gabriel Amengual: Subjektivität in der Rechtsphilosophie Hegels. A. a.O. 200. Vgl. Ilting, Bd. 4. 372.

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bel sein müssen, verbleibt auch in ihm eine Spur von Objektivität. Es soll also zwar ein Grund für das Handeln und die Rechtfertigung des Handelns angeführt werden, was aber als probabel gilt, darüber befindet allein die moralische Subjektivität; »die Seite wodurch Belieben und Willkühr über gut und böse zum Entscheidenden gemacht wird« (was sie freilich nicht zuzugestehen bereit ist). In erster Linie dient ein solcher ›guter Grund‹, der zur Rechtfertigung einer Handlung angeführt wird, aber natürlich der eigenen Gewissensberuhigung. Eine jede Handlung setzt eine konkrete Absicht des Handlungssubjekts voraus; diese Absicht ist aus der Sicht des Handelnden ein Gutes, ein erstrebenswertes Gut. In der Verlegenheit, dem abstrakt Guten einen Inhalt beilegen, oder genauer: einen bestimmten Inhalt unter ein Allgemeines subsumieren zu müssen, um konkrete Entscheidungen prüfen oder rechtfertigen zu können, füllt das Subjekt diese an sich selbst unbestimmte Vorstellung vom Guten mit seiner subjektiven Überzeugung. Die subjektive Bestimmung des Guten ist daher nichts anderes als die Absicht, »das von mir gewußte Gute«247. Die so bestimmte Absicht ist jedoch nicht allein handlungsleitend, sondern – woran Hegel noch größeren Anstoß zu nehmen scheint − sie dient vom Standpunkt einer solchen Auffassung auch der nachträglichen Rechtfertigung der Handlung durch das Handlungssubjekt (oder durch Andere). Wie Hegel aufdeckt, führt diese Ansicht die Konsequenz mit sich, »daß es eigentlich keinen Bösen gebe, denn er will das Böse nicht um des Bösen willen, d. i. nicht das rein-negative als solches«248. Und allein darauf reduziert sich das Gute in dieser Hinsicht: auf ein Positives, »etwas, das in irgend einer Rücksicht gilt«249. Das Böse ist nichts anderes als: das Gute lediglich in seiner abstrakten oder subjektivistischen Form zu wollen, wodurch die Bestimmung des Guten ganz in die subjektive Willkür gelegt ist. Von den Verteidigern einer solchen Auffassung moralischer Autonomie − die sich letztlich hinter der Devise verschanzt: Der Zweck heiligt die Mittel – wird daher aus Hegels Sicht die »subjective Meynung« im Vergleich zu den bereits genannten Erscheinungsweisen des Bösen (des Handelns mit bösem Gewissen, der Heuchelei und des Probabilismus) »endlich ausdrücklich als die Regel des Rechts und der Pflicht ausgesprochen«250. Die Folge dieser rein subjektivistischen Begründung des ›sittlichen‹ Wertes einer Handlung liegt für Hegel auf der Hand: die vollständige Negation des Unterschieds von Gut und Böse und

246 247 248 249

GPR § 140 Anm. Ebd. Ebd. Ebd.

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»alle[r] wirklichen Pflichten«251. Das Böse ist der gute Wille selbst, der für sich die Deutungshoheit über Gut und Böse in Anspruch nimmt.

4.5.3.2 Die Ideologie der Authentizität Was Hegel in seiner Abhandlung über die Erscheinungsformen des Bösen, die ihren Grund in der Reflexion des moralischen Subjekts finden, unter dem Gliederungsabschnitt e) innerhalb der langen Anmerkung zu § 140 ausführt, scheint weniger eine Charakteristik des Bösen selbst, als vielmehr die einer aus Hegels Sicht nihilistischen Moralphilosophie. Nihilistisch ist diese Ansicht deswegen, weil sie die prinzipielle »Erkennbarkeit des Wahren«, damit auch das »Wahre des wollenden Geistes, seine Vernünftigkeit, insofern er sich verwirklicht«, leugnet – wobei die Erkennbarkeit des wahrhaft Sittlichen für Hegel zweifellos nur aufgrund der Teilhabe an der gesellschaftlichen Praxis und der allgemeinen sittlichen Ordnung möglich ist. Wenn das Wahre an und für sich nicht erkennbar ist, dann obliegt es der subjektiven Willkür, Gut und Böse zu definieren (in dem Wissen darum, daß dies nicht objektive Bestimmungen sein können). Recht und Pflicht im Sinne allgemeinverbindlicher Maßstäbe lösen sich in die »eigenthümliche Weltansicht des Individuums und seine besondere Ueberzeugung« auf. In dieser »Degradation«, in welche die philosophische Ethik damit herabgesunken sei, werde zugleich die »absolute Forderung« preisgegeben, daß der Mensch keine unrechten Handlungen begehen, diese ihm jedoch, wo er sie begangen hat, zugerechnet werden müssen.252 Denn wenn »das gute Herz, die gute Absicht und die subjective Ueberzeugung für das erklärt wird, was den Handlungen ihren Werth gebe, so giebt es […] überhaupt kein Böses mehr, denn was einer thut, weiß er durch die Reflexion der guten Absichten und Bewegungsgründe zu etwas Gutem zu machen«.253 Der Maßstab dafür, 250

Ebd. Ebd. 252 Vgl. ebd. 253 Ebd. Hegel zitiert an dieser Stelle seiner Überlegungen aus einem Brief Jacobis an den Grafen Holmer von 1800, in dem sich Jacobi über die Konversion Stollbergs zum Katholizismus äußert. Wenngleich Jacobi im Bewußtsein der Zeit als ein Vertreter eines solchen »Rückgang[s] in die Unmittelbarkeit der Subjektivität« (Walter Jaeschke: HegelHandbuch. A. a.O. 384) wahrgenommen wurde, warnt Jacobi doch hier mit aller Entschiedenheit vor den Folgen einer solchen Begründung des Guten aus der bloßen Subjektivität, die sich gegen die für sich bestehende Sittlichkeit geltend macht. (GPR § 140 Anm.) Nebenbei bemerkt: Einer derjenigen, die in Jacobi einen Verteidiger der Auffassung sahen, daß das subjektive Gewissen der alleinige Maßstab zur moralisch-rechtlichen Qualifizierung einer Handlung darstelle, ist der Hegel-Schüler Eduard Gans. Vgl. Eduard Gans: 251

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ob eine Handlung aus subjektiver Perspektive als gut gilt, ist damit nunmehr die Entscheidung, inwiefern der Mensch in seinem Handeln seiner moralischen Überzeugung treu geblieben sei, inwiefern er, wie wir heute sagen würden: authentisch gehandelt hat. Wenn die letzte Entscheidung darüber, was Recht und Pflicht ist, von der herrschenden moralphilosophischen Lehre der subjektiven Willkür übertragen wird, dann wird schließlich auch die Idee des Gesetzes selbst ausgehöhlt und sinkt zu einem »leeren Wort«254 herab. Die subjektive Überzeugung tritt als Macht gegenüber dem Gesetz als einer »Autorität von Jahrtausenden« auf − gegenüber einer Autorität, die eine Unzahl individueller Überzeugungen in sich begreift. Es ist also nicht nur die nahezu epische Breite, in der Hegel hier seine Kritik an dieser bloß auf die subjektive Überzeugung abstellenden Rechtsbegründung vorträgt, und die Widersprüche, in welche diese sich unweigerlich verstrickt, die dazu Anlaß geben, uns Hegels Argumentation an dieser Stelle gründlich zu vergegenwärtigen; es ist vor allem die soeben angesprochene, von Hegel offen benannte Konsequenz jener Auffassung, die für ihn darin besteht, daß letztlich das auf dem Vorwurf der Schuld beruhende Strafrecht obsolet wird. Und dies aus zweierlei Gründen: Zunächst muß sich die bloß auf subjektiver Meinung basierende Beurteilung einer Handlung aus der Sicht des Handelnden als ebenso zufällig darstellen. Das Gesetz, das keine innere Bindekraft besitzt, kann dem Verbrecher daher auch nicht sein Recht widerfahren lassen, was Hegel zum unbedingten Ausgangspunkt seiner Konzeption von Strafe macht.255 Vielmehr wird die »Gerechtigkeit« in Gestalt staatlich verhängter Strafe als das objektive Äquivalent seiner Handlung zu der Erfahrung verkehrt, »mich nur von einer äußern Gewalt behandelt zu meynen.«256 Diese hier angeführten Bemerkungen Hegels sind nun freilich nicht so zu verstehen, als fordere er unter Berufung auf eine äußere Autorität die unmittelbare Unterordnung des Einzelnen unter das allgemein verbindliche Gesetz. Hegel wird im Gegenteil nicht müde zu betonen, daß seine Auffassung von Sittlichkeit und einem dem Gesetz angemessenen Verhalten die sittliche Bildung und Einsicht des Einzelnen in die allgemeinen Bestimmungen, kurz: dessen sittliche Emanzipation fordert, aufgrund derer allein er sich in seinem subjektiven Recht auf Selbstbestimmung respektiert sehen kann. Aus Hegels Sicht ist der Grundsatz, daß eine Handlung nur unter der Bedingung für moralisch gut zu halten ist, daß sie der innersten Überzeugung des Individuums entspringt und damit einen authentischen Ausdruck Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 135. 254 GPR § 140 Anm. 255 Vgl. ebd. § 100.

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des Subjekts darstellt, schon deswegen zurückzuweisen, weil die Vorstellung von Authentizität auf ein falsches, entfremdetes Bewußtsein verweist, das sich allein auf sich selbst beziehen und dadurch ›rein‹ erhalten zu können glaubt, damit aber letztendlich nur in einen unendlichen Regreß der Selbstbespiegelung gerät (man denke an die Gestalt der ›schönen Seele‹, wie Hegel sie in der Phänomenologie des Geistes schildert).

4.5.3.3 Das ironische Bewußtsein Die letzte und höchste Form, in welcher sich die moralische Subjektivität erfaßt – und zugleich, wie wir sehen werden, vollkommen verfehlt – ist die ironische Haltung der Welt und aller objektiven Inhalte gegenüber, die sich nicht in erster Linie als moralphilosophisches, sondern als ästhetisches Phänomen zeigt.257 Der Sache nach, insofern sich das Subjekt zum »Meister über

256

Ebd. § 140 Anm. Von seiner Kritik an der romantischen Auffassung der Ironie will Hegel ausdrücklich Platon, Fichte sowie seinen verstorbenen Berliner Kollegen Karl Wilhelm Ferdinand Solger ausgenommen wissen. Zwar widmet Hegel auch Solger einige kritische Bemerkungen (in der langen Fußnote zum § 140), der sich seinerseits in einer Rezension mit August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur auseinander gesetzt hatte. Und zwar weist Hegel in aller Entschiedenheit Solgers Auffassung zurück, daß »das Höchste […] für unser Handeln nur in begrenzter endlicher Gestaltung« vorhanden und letztlich dem Menschen nicht erkennbar sei (was überhaupt eins der zentralen Themen der langen Anmerkung zu § 140 ist). Aber er betont zugleich, daß Solger damit nicht grundsätzlich eine objektive Wahrheit oder ›das Höchste‹ selbst zu leugnen trachte, sondern es (lediglich) in der »unmittelbare[n] Gegenwart des Göttlichen« verorte, wo es dem Menschen aus eigenem Bestreben allerdings nicht zugänglich ist. Hegel – und das scheint mir durchaus wesentlich mit Blick auf seine Rechtsphilosophie im Ganzen − betont in diesem Zusammenhang gegen Solger und alle, die das Gegenteil behaupten, daß das Sittliche einzig in den Handlungen der Menschen konkrete Gestalt gewinnen könne, was jedoch für Hegel gerade nicht bedeutet, daß ›das Sittliche‹, das ›Höchste‹ durch die prinzipielle Endlichkeit ihrer Ausführung, also durch die Form der Handlung an sich selbst verendlicht würde. Das Sittliche ist »wesentlich als Wirklichkeit und Handlung, diß ist sehr verschieden davon, daß es ein endlicher Zweck sey; die Gestaltung, die Form des Endlichen, benimmt dem Inhalt, dem Sittlichen nichts von seiner Substantialität und der Unendlichkeit, die es in sich selbst hat.« (Ebd.; vgl. auch GPR § 142) Dies setzt allerdings voraus, daß die Individuen für ihre Handlungen, in denen sie auf mehr oder minder bewußte Weise Vernunftzwecke realisieren, einen rationalen Handlungsraum benötigen, der für Hegel einzig in den sittlichen Institutionen von Staat und Gesellschaft zu finden ist. Die Handlung ist also nicht allein ihrem Begriff nach zu untersuchen, sondern ist darüber hinaus in Hegels Konzeption einer gesellschaftlichen Praxis zu überführen, wie sie aus seiner Konzeption von ›Sittlichkeit‹ abzuleiten ist (auch wenn dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geschehen kann). Nebenbei bemerkt: Als herausragendes 257

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das Gesetz und die Sache«258 macht, ist diese Position aus der Darstellung der vorangegangenen Gestalten des Bösen bekannt; neu ist jedoch der von Hegel betonte obgleich sittlich aufgeklärte Charakter dieser Haltung eines Subjekts, welches sich dennoch als die letzte Instanz der Entscheidung über Gut und Böse weiß, wie es um das »Sittlich-objective« von Recht und Gesetz weiß, dieses aber nicht in seinem verpflichtenden Charakter für sich anerkennt. Aus Hegels Sicht ist damit die ›äußerste Spitze‹ eines ins Böse umschlagenden Subjektivismus erreicht. So begreift und genießt sich das ironische Bewußtsein in der vollkommenen Unbestimmtheit seines Ich, in dem es nach Belieben »das Höchste untergehen« lassen kann. Das ironische Bewußtsein erhebt sich daher nicht nur gegen andere moralische Individuen, sondern gegen das Allgemeine selbst − und dies im vollen Bewußtsein seines Unrechts. Im Sinne der soeben besprochenen moralischen Haltung der Authentizität müßte man hier ergänzen, daß das ironische Bewußtsein auf vollkommene Weise mit sich übereinstimmt, wenn es auch zugleich als in sich zutiefst gespalten oder als das »in sich ganz allgemeine Böse« erscheint – da es um das Gute weiß und es zugleich in Wort und Tat negiert −; es ist die einsamste und höchste Spitze, im Widerspruch mit dem Ganzen. Es geht also um den ironischen Prozeß des Nichtens objektiver Gehalte, weil sich das einzelne Subjekt nur auf diese Weise als ›das Absolute‹ setzen kann. In diesem ironischen Spiel setzt es sich jedoch am Ende selbst aufs Spiel: in der Negation jedes verbindlichen, objektiven oder ›wahrhaften‹ Inhalts muß es letztlich auch die eigenen Überzeugungen in Zweifel ziehen. In der Negation der allgemeinen sittlichen Wirklichkeit kann es nicht »zum Dasein gelangen« und muß letztlich – um an dieser Stelle Hegels Charakterisierung jener ›schönen Seele‹259 in der Phänomenologie des Geistes aufzugreifen, auf die er an dieser Stelle der Grundlinien selbst verweist − »in sehnsüchtiger Schwindsucht«260 zerfließen. Auch die ›schöne Seele‹ also, wenngleich sie als Ausdruck des Versuchs zu verstehen ist, das Böse in der Welt und in sich selbst zu überwinden, erweist sich doch, gerade aufgrund ihrer Untätigkeit, nunmehr als eine Gestalt des ironischen Bewußtseins und damit für Hegel gerade als das Böse.

Beispiel ironischer Darstellung hat Eduard Gans Friedrich Schlegels Lucinde im Sinn: Die Ironie ist »die irre Stimmung der Kunst am Anfang des 19. Jahrhunderts. In der Lucinde von Friedrich Schlegel ist der Sittlichkeit Hohn gesprochen, weil nach der [eigenen subjektiven] Überzeugung gehandelt wird, ebenso im gestiefelten Kater von Tieck. In der Kunst wurde das Gewissen als geltend aufgestellt.« (Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 136.) 258 GPR § 140 Anm. 259 Vgl. dazu das Kapitel 5.2.3 der vorliegenden Arbeit.

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Auf Hegels Kritik an der praktischen Philosophie Kants oder genauer auf seine Zweifel am praktischen Nutzen des von Kant formulierten ›Kategorischen Imperativs‹ − anhand dessen der sittliche Wert einer Handlung vom Subjekt selbst ermittelt werden können soll − wurde bereits kurz eingegangen. Mit diesen wenigen und dazu recht kritischen Worten kann und soll die Moralphilosophie Kants hier aber freilich nicht abgetan werden; so soll vielmehr im Folgenden an einige wesentliche Einsichten Kants − mit Blick in erster Linie auf seine allgemeine Bestimmung des Bösen und der Schuld – erinnert werden.

4.5.4 Das »radikal Böse« bei Kant Der Begriff des Bösen ist neben dem Begriff des höchsten Gutes der Angelpunkt von Kants ›Religion der praktischen Vernunft‹ (Höffe), die er im Dialektikkapitel der Kritik der praktischen Vernunft und in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft entwickelt (auf letztere, und zwar im Wesentlichen auf den ersten Teil dieser Schrift, werde ich mich im Folgenden konzentrieren). Schon der Titel des ersten Teils der Religionsschrift formuliert die These von der »Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur«; ein Titel, mit dem Kant die christliche Lehre von der Erbsünde aufgreift. Das Böse im Sinne einer ererbten Prädisposition oder gar einer Prädetermination, das allen einzelnen Handlungen vorausgeht, findet sich demnach nicht nur bei diesem oder jenem Menschen, sondern gehört der menschlichen Gattung an. Gleichwohl entspringt es nicht einer genetischen Anlage, sondern muß der Sphäre der Freiheit des Menschen und seiner Selbsterzeugung zugerechnet werden.261 Kants Theorie vom radikal Bösen ist daher auch mit seiner Lehre vom Menschen als eines endlichen Vernunftwesens eng verbunden, denn die Freiheit des Menschen, der nicht von Natur aus reine (praktische) Vernunft darstellt, schließt nicht allein die Fähigkeit oder den Hang zum Bösen ein, sondern ebenso das Tun des Bösen.262 Kant – und darin zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Haltung Hegels in dieser Frage – weist sowohl die Ansicht zurück, der Mensch sei von Natur 260

PhG 440. Zur Kantischen Auffassung des ›radikal Bösen‹ vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant. München 62004. 252 ff.; Ders.: Ein Thema wiedergewinnen: Kant über das Böse. – In: Annemarie Pieper (Hg.): Schelling – Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Berlin 1995. 11–34 sowie Klaus Konhardt: Die Unbegreiflichkeit der Freiheit – Überlegungen zu Kants Lehre vom Bösen. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988). 397–416. 261

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aus gut und die Menschheitsgeschichte eine des Verfalls zum Bösen, als auch die, der Mensch sei von Natur aus schlecht, der Anlage nach jedoch durchaus einer Entwicklung zum (moralisch) Besseren fähig (womit sich zugleich utopische Vorstellungen von der Entwicklung des Menschengeschlechts verbinden mögen).263 Kant geht grundsätzlich davon aus, daß der Mensch in Bezug auf das moralische Gesetz niemals indifferent, also nicht sittlich gut und sittlich böse zugleich sein kann, denn sobald er in einer Hinsicht gut ist, kann das nur darauf zurückzuführen sein, daß er die Unterordnung unter das moralische Gesetz zu seiner unbedingten Maxime gemacht hat und dieser entsprechend handelt.264 Da das »moralische Gesetz der Befolgung der Pflicht überhaupt nur ein einziges und allgemein ist«, muß auch die Gesinnung des Menschen hinsichtlich dessen, wie er sich diesem Gesetz gegenüber verhalten will, eine einzige und ungeteilte sein. Die Gesinnung − dieser »subjektive erste Grund der Übernahme dieser oder jener Maxime, in Ansehung des moralischen Gesetzes«265 – kann für Kant nur eine angeborene sein. Angeboren jedoch, wie Kant betont, nicht in dem Sinne, daß sie auf natürliche Umstände zurückzuführen wäre: Auch wenn der Sprachgebrauch Kants hier in die Irre führen mag: Unter der Angeborenheit dieses ›subjektiven ersten Grundes der Annehmung einer bestimmten Maxime‹ als eines transzendentalen Vermögens will Kant verstanden wissen, daß sich jene subjektive Gesinnung auf einen vor jedem bewußten Gebrauch der Freiheit liegenden, aber dennoch freiheitlichen Akt des Menschen zurückführen lassen muß, der bis zu seiner frühesten Jugend oder gar bis zu seiner Geburt zurückreichen kann.266 Und auch wenn diese 262

Vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant. A. a.O. 254. Vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. – In: Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1997 (Kant: Werkausgabe, Bd. VIII). 665 f. (=Rel.) Um Hegels Zurückweisung einer solchen Auffassung noch einmal kurz zu erläutern, erinnere ich daran, daß zwar auch Hegel grundsätzlich davon ausgeht, daß der Mensch (weil er Geist ist) bestimmte Möglichkeiten zur Verwirklichung bringt und bringen kann, er lehnt jedoch deutlich und in den verschiedensten Zusammenhängen den Gedanken einer ›Besserung‹ oder gar einer ›moralischen Besserung‹ des Menschen ab (sowohl in seiner PädagogikKonzeption, als auch im Zusammenhang seiner Theorie der Strafe als auch im Kontext seiner Philosophie der Weltgeschichte). Wenn sich der Mensch in seiner Vernunftallgemeinheit bewährt, dann deswegen, weil er in allgemeine Vernunftstrukturen integriert ist, die ihm einen rationalen Handlungsspielraum und eine vernünftige Zwecksetzung ermöglichen. Für Hegel geht es aber nicht darum, daß der Mensch, gleichsam aus sich selbst heraus, bestimmte moralische Fähigkeiten entwickelt (diesen Fähigkeiten bringt Hegel grundsätzlich, wie wir gesehen haben, großes Mißtrauen entgegen). 264 Vgl. Rel. 671. 265 Ebd. 668. 263

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Argumentation, die Kant hier vorschlägt, einigermaßen konstruiert und widersprüchlich erscheint, müssen wir uns doch genauer vergegenwärtigen, worum es ihm hier geht: Eine »anthropologische Nachforschung« führt Kant auf einen »Hang zum Bösen in der menschlichen Natur«; dieser Hang bezeichnet für Kant, im Unterschied zu jenen »ursprünglichen Anlagen« in der menschlichen Natur, die mit der »Möglichkeit der menschlichen Natur« selbst verbunden sind, eine nur zufällige, aber gleichwohl dem Menschen als Menschen innewohnende Prädisposition, die zwar nicht als begrifflich notwendige Bestimmung des Menschen aufzufassen ist, aber gleichwohl mit der menschlichen Natur verwoben sein soll.267 Der natürliche Hang zum Bösen ist, »da er doch immer selbstverschuldet sein muß, […] ein radikales, angebornes (nichts destoweniger aber von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur«268. ›Radikal böse‹ ist der Mensch also nicht in dem Sinne, daß er durch und durch böse und verdorben ist, sondern er ist ›wurzelhaft‹ böse, d. h. er hat den wesenhaften Hang, natürliche Neigungen zum letzten Bestimmungsgrund seines Handelns zu machen269; ein Hang, der unweigerlich »den Grund aller Maximen verdirbt«270. Daraus ergibt sich, daß das auf diese Weise bestimmte Böse »durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen« ist, denn dies könnte allein durch gute Maximen geschehen, deren Grund aber durch diesen natürlichen Hang zum Bösen verdorben ist. Zugleich betont Kant jedoch − da er der Auffassung nicht Vorschub leisten will, als ob der Mensch restlos durch diesen Hang zum Bösen in seinem Handeln determiniert sei −, daß dieser letzte subjektive Bestimmungsgrund auf welche Weise auch immer durch gute Maximen zu ›domestizieren‹ sein muß.271 Weiter behauptet Kant, der Hang zum Bösen könne allein dem »moralischen Vermögen der Willkür ankleben«, nicht aber als ein physischer Hang aufzufassen sein. Freiheit ist damit – anders als für Hegel – nicht allein an den praktischen Gebrauch der Freiheit gebunden, sondern ebenso und wesentlich auf jenen intelligiblen Akt bezogen, durch den der Mensch die oberste Maxime (dem moralischen Gesetz gemäß oder zuwider zu handeln) in seine Willkür aufnimmt.272 In diesem Sinne ist der Hang zum Bösen ›erste Verschuldung‹ (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat (peccatum derivativum). Alles in allem bleibt der Status 266 267 268 269 270 271

Vgl. ebd. Vgl. ebd. 678 und 675. Ebd. 680. Vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant. A. a.O. 253. Rel. 686. Vgl. ebd.

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eines solchen ›Hanges‹ jedoch unbestimmt: Er drückt zugleich eine Prädetermination zum Bösen aus, wie eine gewisse Freiheit ihm gegenüber; er ist ebenso angeboren wie frei und zugleich subjektiv wie objektiv (allgemein). Er schillert damit gewissermaßen zwischen den zwei Welten der Freiheit und der Notwendigkeit.273 Der Umstand, daß der Mensch einen natürlichen Hang zur Orientierung an bösen Maximen hat, liegt demnach, wie gesagt, nicht in einer Naturursache; er ist kein genetisches Faktum, sondern Ausdruck unbedingter Freiheit des Menschen. Die jeweilige Gesinnung eines Menschen im Sinne einer angeborenen Beschaffenheit bedeutet für Kant keineswegs, daß sie nicht »erworben« wurde, sie wurde nur nicht »in der Zeit erworben«274. Sie »geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit«275 und kann Kant zufolge nicht mehr »aus einem ersten Zeit-Actus der Willkür« hergeleitet werden − insofern spricht Kant von einer Beschaffenheit der Willkür, die dem Menschen von Natur aus zukommt. Gleichwohl muß sie »durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden.«276 Obgleich Kant sich weitschweifig über das Böse im Menschen und über die dadurch bedingte Schlechtigkeit des Weltzustandes verbreitet277, ist es ihm doch nicht um eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu tun, denn dieser liegt in jenem ersten Willkürakt des Menschen, der alle seine weiteren moralischen Akte bedingt; er ist daher auch durchaus unerforschlich, wodurch sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen letztlich als obsolet erweist. Er fragt, ähnlich wie Hegel, stattdessen nach der Bedingung der Möglichkeit des Bösen; sicher ist nur: es muß der Vernunft und deren Freiheit entsprungen sein. Neben diesem »Hang des Menschen zum Bösen«278 verfügt der Mensch über bestimmte ursprüngliche Anlagen, die in Beziehung auf bestimmte, von der Natur hinsichtlich der Bestimmung des Menschen vorgesehene Zwecke stehen, wie etwa die ursprüngliche Anlage zum Guten. Genauer wird diese von Kant als die »Anlage für die Persönlichkeit«279 bestimmt, welche 272

Vgl. ebd. 679. Vgl. Tobias Blanke: Das Böse in der politischen Theorie. A. a.O. 77. Darüber hinaus argumentiert Blanke dahingehend, daß Kant mit der Bestimmung eines solchen Hanges zum Bösen auf dem Weg sei, dem Bösen einen eigenständigen ontologischen Status einzuräumen (der dann allerdings die Rede von der Freiheit des Menschen grundsätzlich in Frage stellt): »Als Hang hat das Böse endgültig ein Sein für sich selbst, ist mehr als privatio boni.« (Ebd.) 274 Rel. 671. 275 Ebd. 672. 276 Ebd. 277 Vgl. ebd. 680 ff. 278 Ebd. 676. 273

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die Empfänglichkeit der Achtung für das Sittengesetz enthält: Zwar kann jeder Charakter der freien Willkür nur erworben werden, dies setzt jedoch eine entsprechende Anlage in der menschlichen Natur voraus – eine Anlage, »worauf schlechterdings nichts Böses gepropft werden kann.«280 Was die Persönlichkeit wesentlich ausmacht, ist die »Idee des moralischen Gesetzes […], die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet«. Was so den Kern der Persönlichkeit des Menschen schlechthin ausmacht, findet seine Ergänzung in der je individuell verschiedenen Anlage des Menschen, diese Achtung vor dem moralischen Gesetz zur Triebfeder seiner Entscheidungen zu machen. Und nur, insofern jene Empfänglichkeit für das moralische Gesetz als Triebfeder der Willkür fungiert, entspricht sie dem »Zweck der Naturanlage«281; Triebfeder wiederum ist sie nur dann, wenn sie durch freie Willkür vom Menschen zur Maxime seines Handelns gemacht wird. Was nun die verschiedenen Stufen der Ausprägung jenes natürlichen Hanges zum Bösen im Menschen angeht, so nennt Kant die folgenden drei: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit. Die Gebrechlichkeit (fragilitas) zeichnet sich dadurch aus, daß das Gute zwar in die »Maxime meiner Willkür« aufgenommen ist, in der konkreten Entscheidung jedoch der besonderen Neigung unterliegt. Die Unlauterkeit (impuritas oder improbitas) bedarf zur Befolgung des Moralgesetzes noch anderer Triebfedern als nur der moralischen; das Böse der Unlauterkeit bringt zum Ausdruck, daß pflichtmäßige Handlungen zwar ausgeführt werden, aber nicht rein aus Pflicht; das moralische Handeln läßt jedoch nach Kant keine andere als die rein moralische Triebfeder, also bloß die Achtung vor dem Sittengesetz zu. Die eigentliche Bösartigkeit schließlich ist die vorsätzliche Schuld (dolus), wohingegen die beiden erstgenannten Stufen des Bösen der culpa zuzurechnen sind.282 Die Bösartigkeit oder »Verderbtheit« des menschlichen Herzens (corruptio) steht für die Verkehrung der sittlichen Ordnung in Bezug auf die Triebfedern menschlichen Handelns, wodurch letztlich die »Denkungsart […] in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt, und der Mensch darum als böse bezeichnet«283 werden kann. Nach Kant ist es einzig die allen einzelnen Handlungen des Menschen zugrundeliegende Maxime, sich bedingungslos dem moralischen Gesetz zu unterwerfen, wonach sich der moralische Wert einer Person bemißt und der Mensch kann, obschon er »lauter gute Handlungen« vorzuweisen hat, dennoch böse

279 280 281 282

Ebd. 674. Ebd. 675. Ebd. 674. Vgl. ebd. 687.

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sein. Die Bösartigkeit oder Verderbtheit des Menschen ist allerdings nicht mit der »Bosheit« zu verwechseln, insofern diese für eine Gesinnung steht, »das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch)«284. Ähnlich dem, wie wir es schon bei Hegel gesehen haben, wird der Mensch auch bei Kant als ein zweckbestimmtes Wesen aufgefaßt, und als solches kann er sich nicht rein negative Zwecke setzen, denn ein Zweck stellt an sich selbst ein Positives, das Worum-willen der Handlung dar. Die Wahl des Bösen um des Bösen willen steht der absoluten Freiheit zweckbestimmter Wesen nicht zu, ansonsten müsste die Freiheit ihr eigenes Fundament in der Ordnung der Triebfedern vollständig negieren können.285 Das ist für Kant nicht vorstellbar, denn auch das Böse kann nur als eine Kausalität aus Freiheit gedacht werden.286 Noch einmal: Kant begreift jenen Hang zum Bösen, den er in der menschlichen Natur verwurzelt sieht, als »die erste Verschuldung« (peccatum originarium), welche insofern den »formalen Grund« für alle folgenden bösen Handlungen im Sinne der »zweiten Verschuldung« (peccatum derivativum) darstellt, als sie »nach Freiheitsgesetzen den obersten Grund«287 unserer Maximenbildung ausmacht. Die ›erste Verschuldung‹ ist die intelligible Tat des Menschen, ohne alle Zeitbedingung und allein auf nicht weiter erforschbaren Vernunftgründen beruhend; die ›zweite Verschuldung‹ hingegen ist ein factum phaenomenon, ein empirisches Phänomen, das in der Zeit und unter konkreten Bedingungen steht. Jene erste Verschuldung hängt dem Menschen als ein unausrottbarer Makel an und sie bleibt Kant zufolge auch dann bestehen, wenn die zweite Verschuldung vermieden würde (wobei zunächst offen bleiben muß, wie das möglich sein sollte); kein noch so guter Wille und keine noch so gute Tat wiegen sie auf.288 Obgleich angeboren, ist jene ursprüngliche Schuld doch auf einen Willkürakt des Menschen zurückzuführen; sie gilt als selbstverschuldet und ist ihm daher, wie Kant unablässig betont, unbedingt zurechenbar.

283

Ebd. 677. Ebd. 686. 285 Vgl. Tobias Blanke: Das Böse in der politischen Theorie. A. a.O. 83. 286 Im zweiten Hauptstück der »Analytik der praktischen Vernunft« heißt es mit Blick auf die Bestimmungen von Gut und Böse als einem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, beide setzten die Kausalität der reinen Vernunft voraus: Gut und Böse »sind insgesamt modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Kausalität, so fern der Bestimmungsgrund derselben in der Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselben besteht, welches, als Gesetz der Freiheit, die Vernunft sich selbst gibt und dadurch sich a priori als praktisch beweiset.« Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hamburg 2003. 88. 287 Rel. 679. 284

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Selbstverschuldet ist jener ursprüngliche Akt des Bösen insofern, als sein Grund weder in der Sinnlichkeit des Menschen, noch in der gesetzgebenden Vernunft selbst liegen kann – denn diese kann sich nicht selbst negieren. Das moralische Gesetz kann niemanden von seiner Verbindlichkeit freisprechen; wäre der Mensch von ihm befreit, bliebe, wie wir bereits gesehen haben, eine ausschließlich »boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille)«289. Beides ist dem Menschen verwehrt: er ist weder Tier (ganz Sinnlichkeit) noch Teufel (schlechthin böser Wille). Als jenes frei handelnde Wesen, das der Mensch für Kant ist, kann seine Handlung nicht unter Naturgesetze zu subsumieren sein; fiele sein Handeln nicht unter das Gesetz einer Kausalität aus Freiheit, müsste man von einer »ohne alle Gesetze wirkende[n] Ursache« ausgehen, was allerdings ein Widerspruch wäre. Die angeborene, aber in Kants Augen nichtsdestotrotz aus Freiheit entsprungene Schuld (reatus) drückt sich in einer »gewisse[n] Tücke des menschlichen Herzens«290 aus, aufgrund derer sich der Mensch hinsichtlich der Beweggründe seines Handelns selbst zu betrügen geneigt ist. Kant unterstellt, daß der Mensch auf ein solches falsches Selbstbild, das die Täuschung Anderer zur Folge hat, grundsätzlich reflektieren kann, wenn er nur will (in welchem Verfahren, bleibt unklar); außerdem läßt Kant keinen Entschuldigungsgrund für jene Unredlichkeit gelten, denn diese ist umso gefährlicher, als sie »die Gründung echter moralischer Gesinnung in uns«291 verhindert. Auch die von Kant unterstellte prinzipielle Möglichkeit, das falsche Bewußtsein hinsichtlich der Beweggründe des eigenen Handelns zu überwinden, läßt sich nur einsichtig machen, wenn wir uns weiter vergegenwärtigen, daß er davon ausgeht, daß jede Handlung als ein »ursprünglicher Gebrauch [der] Willkür«292 zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Die Handlung ist durch nichts bestimmt, was sie als Ausdruck von Kausalität aus Freiheit in Frage stellen könnte; mehr noch: »Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre.« Damit weist Kant erneut den Gedanken zurück, daß der Mensch durch innere oder äußere Einflußfaktoren determiniert sei, weder durch Naturursachen, noch durch die Folgen seines ursprünglich freien Handelns. Wie das Böse keinen anzeigbaren Ursprung hat, sondern ein ›Mysterium der Freiheit‹ bleibt, so hat es auch keine Geschichte. Nach Kant ist der Mensch mit einer unbedingten Freiheit und durch nichts determinierbaren Spontaneität ausgestattet, die es 288 289 290 291

Vgl. ebd. Ebd. 683. Ebd. 687. Ebd.

Das Böse und die Schuld

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ihm jederzeit erlaubt, sich selbst zu guten Handlungen zu bestimmen oder: sich zu bessern, sofern er böse Handlungen zu verantworten hat: »Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können«293. – Wenn also das moralische Sollen das Können impliziert, dann ist damit wiederum auf die natürliche Anlage zum Guten im Menschen verwiesen, die für Kant von jenem unbedingten Moment der Freiheit nicht zu trennen ist.294 Wenn die böse Handlung eines Menschen so betrachtet wird, als sei der Mensch, wie es eben hieß, in ihr geradewegs aus dem ›Stand der Unschuld‹ herausgetreten und auf unvermittelte Weise böse geworden, dann ereignet sich der ›Sündenfall‹ − jener erste Akt der Übertretung des göttlichen Gebotes − immer wieder aufs neue. Wenngleich Kant in den Einleitungspassagen seiner Religionsschrift jedwede mythologische Vorstellung einer Verfallsgeschichte vom Guten zum Bösen zurückweist295, scheint es doch zweifelhaft, ob er selbst der Versuchung einer solchen Verfallsgeschichte entkommt. Kant deutet die biblische Erzählung vom Sündenfall dahingehend, daß der Mensch, obgleich noch unschuldig, dennoch die Freiheit zur Wahl der Befolgung des göttlichen Gebotes hatte. Dieser erste Akt der Sünde entspricht dem, was Kant als die Definition des Bösen angeführt hatte: die sittliche Ordnung hinsichtlich der Triebfedern zum moralischen Handeln umzukehren, wodurch die unbedingte Orientierung am moralischen Gesetz hinter die Maxime zurücktritt, daß es gerechtfertigt sei, aus ›Selbstliebe‹ zu handeln. Sobald aber ein solcher Ursprungszustand, wie der der Unschuld gesetzt wird, aus dem der Mensch kraft seines freien Willens herausgetreten ist und sich für das Böse entschieden hat, läuft es unweigerlich auf eine Verfallsgeschichte hinaus. Hegel hingegen entgeht solchen Zuschreibungen von vornherein dadurch, daß er jenen Zustand von Unschuld weder als einen Anfang in der Zeit, noch als den Vernunftursprung des Bösen begreift, sondern er nimmt ihn ganz in die dialektische Bewegung hinein und begreift ihn als 292

Ebd. 690. Ebd. 691. 294 Jene »absolute Spontaneität«, in der eine jede Handlung Kant zufolge ihren Grund hat, stellt zugleich den »eigentliche[n] Grund der Imputabilität« dar: Das besondere Kausalitätsurteil, welches in moralischer Bedeutung gefällt wird, setzt einen Urheber der Handlung voraus, oder – wie Kant in Anlehnung an Gottfried Achenwall sagt – die causa libera (im Gegensatz zur causa causata), um damit anzuzeigen, daß die Handlung von der Person als dem absoluten Anfang einer Ursachenkette ihren Ausgang nimmt. Und die Person ist keinen anderen Gesetzen unterworfen, als denen, die sie entweder allein oder zugleich mit anderen sich selbst gibt. (Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten. A. a.O. 329 f.) 293

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eine Stufe seiner Entwicklung, die sich der auf sich selbst reflektierende Geist notwendig voraussetzen muß. Der Mensch, insofern er Mensch ist, kann aber Hegel zufolge auf keine Weise unschuldig sein. Die erste Tat des Menschen ist für Hegel schon die Entzweiung von der Unmittelbarkeit; in dieser erst liegt die Freiheit des Menschen begründet, sich für das Gute und gegen das Böse (oder umgekehrt) zu entscheiden; sie begründet zugleich seinen Status als zurechnungsfähige Person.

4.6 Schuld als Bildungsprozeß der Entfremdung Beide, Kant und Hegel, verorten übereinstimmend das Böse in der moralischen Freiheit des Menschen. Hegels Ausführungen in diesem Zusammenhang weisen jeden ontologischen Dualismus strikt zurück: Gut und Böse als die Leitkategorien der Moralität sind nicht als zwei eigenständige antagonistische Prinzipien zu begreifen, sondern gleichermaßen Resultat der subjektiven Reflexion; das Böse ist für Hegel eine notwendige Implikation der lediglich im subjektiven Gewissen begründeten Bestimmung des moralisch Guten − wohingegen Kant mit seiner Rede vom natürlichen und angeborenen Hang des Menschen zum Bösen dazu tendiert, dem Bösen ein selbständiges, mit der Natur des Menschen verwobenes Sein zuzuschreiben. Hegel entgeht der Gefahr der Fixierung einer dualistischen Auffassung von Gut und Böse, oder einer Verselbständigung beider, dadurch, daß die subjektive Reflexion, verstanden als ihrer beider Grund, als Moment einer umfassenden geistigen Entwicklung betrachtet wird. Hegel reichert (anders als Kant) die Bestimmungen von Gut und Böse mit konkreten inhaltlichen Bestimmungen an, was jedoch nur unter Bezug auf eine objektiv-geistige Sphäre möglich ist, in der die bloß subjektivistische moralische Überzeugung nicht mehr (allein) maßgeblich ist. Ebenso wie das Gute nach Hegel erst in sittlichen Verhältnissen in seine Wirklichkeit tritt und so nicht mehr auf das »nur seyn sollende Gute«296 der moralischen Sphäre reduziert ist, kann auch die »nur gut seyn sollende Subjectivität« nur dadurch das Moment der Wirklichkeit des Sittlichen an sich haben, daß sie von der Vorstellung Abstand nimmt, als obliege es ihr allein, das Gute in der Welt (gegen alle bestehenden Verhältnisse) zu verwirklichen. Wenn das Böse im Sinne des Versuchs, die subjektive Besonderheit gegen das Allgemeine (von Gesetz und Sitte oder der jeweiligen institutionellen Vorgaben) geltend zu machen, aus der Sicht Hegels nur von einem objektiven Standpunkt aus bestimmt werden kann, dann erfordert dies 295

Vgl. Rel. 665.

Schuld als Bildungsprozeß der Entfremdung

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zugleich, daß sich das jeweilige Allgemeine in sich selbst in den Unterschied von Gut und Böse differenziert, weil anders kein ›objektives Urteil‹ diesbezüglich möglich ist. Hegels Charakterisierung des Bösen im Sinne einer notwendigen Implikation der im subjektiven Gewissen begründeten Bestimmung des Guten enthält zugleich in nuce seine Kritik an der Kantischen Moralphilosophie: Dieser von Hegel gegen Kant erhobene Einwand wird in der Regel als seine Kritik am Kantischen ›Intentionalismus‹ bezeichnet und basiert auf der Voraussetzung, daß die Definition des moralisch Guten und der Pflicht bei Kant in der Innerlichkeit der moralischen Subjektivität verbleibt.297 Gegenstand moralischer Prädikate können daher auch für Kant nicht die Handlungen selbst oder deren Folgen sein298, sondern einzig die der Handlung zugrun296

GPR § 141 Anm. Vgl. dazu Christian Iber: Hat Moralität in Hegels Konzeption der Sittlichkeit eine Chance? A. a.O. 133. Iber synthetisiert zunächst ganz richtig Hegels gegen die Kantische Moralphilosophie vorgebrachten Einwände, stellt dann jedoch die Behauptung auf – was sich allerdings innerhalb der Forschungsliteratur zur Hegelschen Rechtsphilosophie inzwischen regelrecht zu einem Gemeinplatz entwickelt hat, wenn es um die Frage der systematischen Rekonstruktion des Übergangs von ›Moralität‹ zur ›Sittlichkeit‹ geht −, daß Hegel dieser Übergang nicht gelungen sei. Hegel verstricke sich in einen Zirkel, in dem er dasjenige, was eigentlich begründet werden soll, stillschweigend voraussetzt. (So argumentiert auch Christoph Jermann: Die Moralität. A. a.O. 129 f. und Jermann beruft sich in diesem Zusammenhang auf Michael Theunissen.) Statt nämlich, so Iber, das Wissen der Subjekte vom wirklich Guten zu entwickeln, die sich in einer sittlichen Gemeinschaft vergesellschaften, setzt Hegel die sittliche Einheit des objektiv Guten und des subjektiven Gewissens, die zu erweisen wäre, schon voraus (vgl. ebd. 134). Iber will jedoch mit diesem Argument einer petitio principii letztlich nicht allein auf eine formale Schwäche der Hegelschen Argumentation hinaus, sondern verbindet mit seiner Behauptung eine inhaltliche bzw. politische Kritik an Hegels Konzeption von Sittlichkeit im Ganzen: Da Hegel bei der (schlechten) Alternative stehen bleibe: »entweder moralische Subjektivität oder objektiv vorgegebene Sittlichkeit« (ebd.), verfehle er die einzig sinnvolle Option, daß die moralische Subjektivität aus sich heraus den Standpunkt der Moralität zugunsten einer vernünftigen gesellschaftlichen Praxis überwindet, in der sich die Subjekte gemeinsam über die Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer besonderen Interessen verständigen, um auf diese Weise zu einem gemeinsam praktizierten Verständnis von Freiheit zu gelangen. Worauf Ibers Kritik letztlich hinausläuft, ist klar: Hegel »nimmt eindeutig Partei für die sittliche Substanz, der er das Individuum unterordnet.« (Ebd. 135) Um hier aber nicht weitschweifig eine Frage zu erörtern, die nicht unmittelbar mit dem in dieser Arbeit verhandelten Problemkomplex in Zusammenhang steht, verweise ich auf den lesenswerten Aufsatz von Uwe Volkmann: Freiheit in Bindungen. Beobachtungen zur Stellung des Einzelnen in Hegels Staat. – In: Walter Pauly (Hg.): Der Staat – eine Hieroglyphe der Vernunft. Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Baden-Baden 2009. 155–173. 298 Daß Kant es mit seiner Auffassung von Verantwortung nicht auf die Begründung von Verantwortung hinsichtlich der Folgen einer Handlung abgesehen hatte, sondern auf Selbstverantwortung im Sinne einer Rechenschaft, die das Individuum vor sich selbst 297

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deliegende Gesinnung, die auf den moralisch guten oder aber verwerflichen Charakter eines Menschen schließen läßt.299 Hegels Kritik der Moralität in dem eingangs angezeigten Sinne, daß darin ebensowohl das Recht als auch die Grenzen der moralischen Autonomie dargelegt werden, hatte im Durchgang durch die Gestalten des Bösen als Auswuchs der um sich selbst kreisenden Reflexion des moralischen Subjekts gezeigt, daß das subjektive Gewissen aus sich selbst heraus nicht fähig ist, eine objektiv verbindliche Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu etablieren. Das Gewissen in seiner Selbstbezogenheit und Haltlosigkeit, so macht Hegel deutlich, ist daher für das Gute ebenso offen wie für das Böse. So mündet Hegels Kritik (in besagtem Doppelsinn) an jener Gestalt der Subjektivität, die »eitel […] [und] objektivitätslos nicht den eigenen Konstitutionsprozess abgeschlossen hat«300, bekanntlich in dem Übergang von der Moralität zu einer höheren Gestalt des objektiven Geistes in Ansehung der in ihm verwirklichten Freiheit, in welcher das Prinzip der formalen Autonomie des moralischen Subjekts in einem höheren Prinzip, der institutionellen Sittlichkeit, aufgehoben ist. Das systematische Problem, welches diesen Übergang von ›Moralität‹ zur ›Sittlichkeit‹ ganz wesentlich ausmacht, steht in engem Zusammenhang sowohl mit dem Ende des Moralitätskapitels in der Phänomenologie des Geistes, von dem aus Hegel in die Sphäre der Religion überleitet (vgl. Kapitel 5.3.3), als auch mit dem Übergang von der ›Idee des Guten‹ zum Schlußteil der Wissenschaft der Logik, zur ›absoluten Idee‹. Die hier genannten Stellen des Hegelschen Gesamtwerks verdeutlichen nicht allein die bei einem dialektischen Grundansatz naturgemäß immer wieder auftretende allgemeine Problematik des Übergangs zu einer je höheren Sphäre, sondern befassen sich konkret mit der Frage, wie das sich handelnd objektivierende, d. h. zwecksetzende und zwecktätige Subjekt zu einem angemessenen Begriff dessen gelanin Ansehung einer gesetzgebenden Instanz abzulegen hat, stellt auch Ludger Heidbrink fest. (Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten. Weilerswist 2003. 64.) Ähnlich äußert sich bereits Josef Derbolav: »Gewiß muß der gute Wille [Kant zufolge, BC] mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln bemüht sein, sein Motiv zu verwirklichen; aber seine Tauglichkeit oder Untauglichkeit dafür fällt nicht mehr in die moralische Verantwortung des Menschen. Die Realisierung eines durch Prüfung am Gesetz als gut erwiesenen Beweggrundes interessiert Kant nicht weiter; sie gehört der empirischen Welt, der Erscheinungssphäre an. Kants Sorge, der in der Absicht antizipierte Erfolg der Handlung könnte die Reinheit der sittlichen Motivation vom Empirischen her trüben und gefährden, war ihm Anlaß genug, auf eine Strukturanalyse der Handlung zu verzichten.« Josef Derbolav: Hegels Theorie der Handlung. – In: HegelStudien 3 (1965). 209–223; hier 210. 299 Vgl. Rel. 666.

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gen kann, worin das eigentliche Resultat jenes Tuns besteht, welches den subjektiven Zweck (der allem Tun notwendig zugrundeliegt) in einen objektiven oder ausgeführten Zweck, also in die Objektivität gesellschaftlicher Verhältnisse zu übersetzen sucht.301 Zugleich ist mit dieser Bewegung von Tätigkeit und Reflexion für das Subjekt eine doppelte Erfahrung der ›Entfremdung‹ verbunden: Zum einen wird der unmittelbare subjektive Zweck durch die Handlung zu einer Gestalt der »allgemeinen Subjectivität«302, d. h. er läßt sich nur in der Beziehung auf den Willen anderer Subjekte überhaupt bestimmen (erste Form der Entfremdung). Wenn sich das Subjekt jedoch in der Ausführung seiner Zwecke erhalten will (was Hegel zufolge die Bedingung für all sein Tun ist), muß es sich in der objektiven Gestalt seiner Handlung auch wiedererkennen können, d. h. es muß seinen subjektiven Zweck 300

Gabriel Amengual: Subjektivität in der Rechtsphilosophie Hegels. A. a.O. 201. Stellt man jedoch die Frage im hier diskutierten Kontext des Übergangs von Moralität zur Sittlichkeit auf eben diese Weise, dann ist damit der Fokus der Aufmerksamkeit sogleich primär auf dasjenige gerichtet, was in affirmativer Weise als das Resultat von Hegels Kritik der Moralität aufzunehmen und hinsichtlich des Übergangs in die Sphäre der Sittlichkeit fruchtbar zu machen ist. Geht man hingegen – wie Christoph Jermann in seiner Untersuchung des Moralitätskapitels der Grundlinien es tut – von einem rein negativen Resultat von Hegels Kritik der Moralität aus (wodurch diese im eigentlichen Sinne des Wortes weniger Kritik als mehr bloße Negation der Moralität wäre), dann ist tatsächlich in keiner Weise mehr einsichtig, wie sich von dort aus ein Übergang in eine übergeordnete Sphäre vollziehen könnte. Jermann vertritt nun also (unter Berufung auf Rudolf Haym und Michael Theunissen) die These, daß die für Hegels Konzeption von Sittlichkeit notwendige Integration der beiden einseitigen Bestimmungen der bloßen Objektivität des Rechts und der bloßen Subjektivität des Moralischen schon deswegen keine synthetische Vereinigung erfahren können, weil Hegel das subjektive Moment »letztlich nicht als einseitig, sondern als nichtig« zur Darstellung bringe. Damit gebe das Moralitätskapitel jedoch »das erforderliche Argument für den synthetischen Anspruch der Sittlichkeit nicht her, so daß diese dann voraussetzen muß, was eigentlich zu beweisen war, nämlich daß die Optionen der moralischen Subjektivität mit denen des Rechts in ihr als der höheren Sphäre zu vereinen sind.« (Christoph Jermann: Die Moralität. A. a.O. 129 f.) Die Pointe des Moralitätskapitels scheint mir, im Gegensatz zu der von Jermann aufgestellten Behauptung, eben die zu sein: Im Übergang zur Sittlichkeit, oder: in der Fortbildung von moralischer zu sittlicher Subjektivität wird nicht plötzlich eine Einheit von moralischer Subjektivität und gesellschaftlich-staatlichem Allgemeinen erzeugt, die vorher noch nicht da war, sondern das sittliche Subjekt wird sich durch sein Handeln dessen bewußt, daß es das Allgemeine immer schon hervorbringt, wenngleich es die Verwirklichung besonderer Zwecke intendieren mag. Mit anderen Worten: Der Konstitutionsprozeß moralischer Subjektivität wird solange nicht abgeschlossen sein, wie das Subjekt nicht auf sich selbst in der Objektivität seines Handelns reflektiert – und genau dies will Hegel sagen, wenn er am Ende des Moralitätskapitels (GPR § 140 Anm.) auf eine Gestalt extrem gewordener und sich der Objektivität des Handelns von vornherein verschließender Subjektivität, nämlich die ›schöne Seele‹, verweist und mit diesem Hinweis diesen Abschnitt über Moralität beschließt. 301

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realisiert finden. Das Subjekt muß sich also in der Objektivität seiner Handlung mit sich selbst zusammenschließen (oder: es kann sich überhaupt nur in der Objektivität seines Handelns mit sich zusammenschließen) und dies geht nur vermittels der Reflexion darauf, inwiefern der objektivierte Zweck seinen ursprünglichen inneren Beweggründen entspricht: Einzig am Resultat der Handlung als einer Gestalt allgemeiner Subjektivität (oder: der Objektivität) wird also erkennbar, was die Handlung in sich selbst ist und warum die Verwirklichung subjektiver Zwecke allein in diesem Medium des Allgemeinen gelingen kann. – Der nicht unbelastete und schillernde Terminus der Entfremdung soll hier also zunächst einmal nicht mehr bedeuten als erstens: das Fremdwerden des subjektiven Zwecks in seiner offenbaren allgemeinen Gestalt der ausgeführten Handlung und zweitens: die Aufhebung dieser Fremdheit in der Reflexion des Subjekts auf die objektivierte Gestalt seines ursprünglich subjektiven Zwecks. Zugleich erweist es sich damit, daß die einzelne Handlung nur vor dem Hintergrund des übergreifenden sozialen Sinnzusammenhangs zu erschließen ist (was sich beispielsweise mit Blick auf Hegels Ausführungen zum ›System der Bedürfnisse‹ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft oder der Sphäre der allgemeinen ›Weltgeschichte‹ verdeutlichen läßt; bei beiden Beispielen handelt es sich um Sphären, in denen die Individuen zwar ihre partikulären Zwecke verfolgen, damit aber zugleich ein Allgemeines hervorbringen303). Dieser Prozeß des sich vertiefenden Fürsichseins des Subjekts in der Objektivität der individuellen Handlung und der objektiven Verhältnisse im Allgemeinen ist eben das, was Hegel unter dem Begriff der (moralischen) Schuld begreift (was in der rekonstruierenden Darstellung von Hegels Handlungslehre noch deutlicher werden wird).304 Zugleich steht eine solche Auffassung von Schuld als eines subjektiven oder moralischen Bildungsprozesses305, zu deren Möglichkeit sich der mensch-

302

GPR § 112 Anm. Vgl. dazu den Abschnitt 5.4 der vorliegenden Arbeit. 304 In vergleichbarer Weise reklamiert Wolfgang Schild für den von Hegel entwickelten Begriff der Zurechnung, daß er die »Entwicklung der Verinnerlichung des Willens, diesen Prozeß des Für-Sich-Werdens der Freiheit« zum Ausdruck bringt. (Wolfgang Schild: Der strafrechtsdogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 35, Heft 3/4 (1981). 445–476; hier 457.) Ich verweise hier auf die Abschnitte 5.1.4 und 5.1.5 in dieser Arbeit. 305 Während oben von der ›Schuld‹ im Sinne eines ›Fürsichseins‹ des Subjekts in der Objektivität seines Handelns die Rede ist, vertritt Elisabeth Weisser-Lohmann demgegenüber die Ansicht, daß die ›Schuld‹ als ein Moment der objektiven Dimension der Handlung zu verstehen ist; es ist aus ihrer Sicht der »äußere Handlungszusammenhang«, der in den Kategorien der ›Schuld‹, des ›Wohles‹ und des ›Guten‹ auftrete. ›Schuld‹ wird von ihr also, so muß man folgern, im Sinne einer ›objektiven‹ Zuschreibung von Schuld aufge303

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liche Geist erst gebildet haben muß – und der zugleich die Voraussetzung für die Überwindung des moralischen Standpunkts und jedes sich in sich verschließenden Subjektivismus darstellt − in krassem Gegensatz zu Kants Rede von einer »angeborenen Schuld« oder jener originären Verschuldung als eines natürlichen Hangs zum Bösen, der (wie stark auch immer) alle einzelnen Entscheidungen und Handlungen des Menschen determiniert.

faßt (oder im Sinne eines objektiven Verschuldens). ›Objektivität‹ wiederum bedeutet für sie zunächst einmal den vom subjektiven Willen losgelösten Handlungszusammenhang. (Vgl. Elisabeth Weisser-Lohmann: Rechtsphilosophie als praktische Philosophie. Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ und die Grundlegung der praktischen Philosophie. München 2011. 151 ff. und 163.) Mit Blick auf diese Auffassung Weisser-Lohmanns will ich noch einmal daran erinnern, daß Hegel die ›Schuld‹ mit dem (Sich-)Wissen des Subjekts in der Objektivität seines Tuns verknüpft (vgl. GPR § 117); Schuld ist die Bezeichnung für dasjenige, was das Subjekt als die Bedingung einer Handlung und ihrer Folgen in seinem subjektiven Zweck weiß: »Die That kann nur als Schuld des Willens zugerechnet werden«; so die Tat aber als Schuld des Willens zugerechnet wird, sprechen wir das objektive Tun als eine Handlung an. Es ist natürlich richtig, daß die vom Subjekt durch sein beabsichtigtes Handeln herbeigeführte Veränderung im ›Realzusammenhang‹ als objektiv anzusehen ist (vgl. GPR § 115). Die Bedingung der Zurechnung oder Zurechenbarkeit eines bestimmten Handlungserfolges zur Schuld eines Subjekts ist aber Hegel zufolge gerade nicht darin zu sehen, daß der bewirkte Erfolg objektiv ist (daran nimmt, wenn man so will, die antike Schuldauffassung Maß), sondern vielmehr, wie gesagt, darin, daß Handlung und Erfolg im Sich-Wissen des Subjekts in der Objektivität und zeitlichen Entfaltung seines Handelns ihren Grund haben. Weisser-Lohmann begründet ihre Auffassung damit, daß – und darin stimme ich ihr zu − die Momente ›Vorsatz‹, ›Absicht‹ und ›Gewissen‹ alle samt »Typen beschließender Subjektivität« darstellen, die (auch in den jeweiligen Titelüberschriften der Abschnitte innerhalb des Moralitätskapitels der Grundlinien) jeweils »mit einer Ganzheit konfrontiert [werden], die über das beschränkt Gewollte hinausgeht« (ebd. 163). Solch eine ›Ganzheit‹ stellen aus ihrer Sicht die ›Schuld‹, das ›Wohl‹ und das ›Gute‹ dar. Allerdings gilt es hier zu berücksichtigen, daß es sich beim ›Wohl‹ und beim ›Guten‹ um vom moralischen Subjekt adaptierte oder reflektierte, auf eine Ganzheit der menschlichen Zwecke gerichtete Vorstellungen handelt, die auf die Sphäre des Allgemeinen bezogen sind. Insofern bleibt es mir an dieser Stelle unklar, inwiefern ›Schuld‹ in gleicher Weise eine ›Ganzheit‹ bezeichnen kann wie es etwa das ›Gute‹ als der Inbegriff ›guter‹ Zwecke tut. Um noch einmal zu verdeutlichen, was ich sagen will: Zwar muß auch hinsichtlich der Schuld eines Menschen aufgrund bestimmter Handlungen oder Unterlassungen auf eine allgemeine Weise geurteilt werden können, aber die Bedingung dafür, daß wir einem Menschen etwas als seine Schuld zurechnen, kann (für Hegel) allein im Sich-Wissen des Subjekts in der Objektivität seiner Handlung liegen. Dieses Sich-Wissen oder Fürsichsein des Subjekts kann daher auch kein abstrakt-innerliches sein, sondern konstituiert sich über die zeitliche Entfaltung der Handlung innerhalb ihrer konkreten Umstände und Bedingungen. Der Auffassung Weisser-Lohmanns, Schuld bezeichne ein Moment des ›äußeren Handlungszusammenhangs‹ und verweise auf die ›objektive Dimension der Handlung‹ ist demnach nur insoweit zuzustimmen, als die objektive Dimension der Handlung nur ein Moment des von Hegel entfalteten Schuldbegriffs ist und vom Sich-Wissen des Subjekts – im Sinne des Handlungswissens wie der normativen Selbst-

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Der schuldige Mensch: Hegels Theorie der Moralität

Der im Kontext von Hegels Moraltheorie nachvollzogene Grundwiderspruch zwischen der Einzelheit und dem Allgemeinen, welcher die neuzeitliche Gestalt von Subjektivität ganz wesentlich prägt, ist auch innerhalb der ihr entsprechenden sittlichen Strukturen niemals vollständig aufzulösen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß aus meiner Sicht die Notwendigkeit des moralischen Standpunkts eben darin besteht, daß er die Bedingung der subjektiven Möglichkeit für das Individuum bereitstellt, die Fixierung auf die eigene Besonderheit zu überwinden. In einer möglicherweise paradox anmutenden Formulierung: Nur im Durchgang durch die Sphäre des Moralischen und nur indem es handelnd seine Zwecke zu realisieren sucht, kann das Individuum diesen Standpunkt der Forderung nach unbedingter moralischer Autonomie überwinden. Das moralische Subjekt will seinem Inneren ein objektives Dasein verschaffen und – als moralisches Individuum – das Gute verwirklichen. Die unmittelbare Subjektivität des Zwecks kann nur auf dem Wege der Verwirklichung des Guten abgestreift werden. Und auf diese nunmehr bestimmte Weise erwächst aus der Moralität eine neue Gestalt von Sittlichkeit, die dem freien Willen insofern angemessener ist, als dieser sich in der hervorgebrachten Objektivität seiner, d.i. allgemeiner Zwecke erkennt.306 Bei alledem darf jedoch nicht vergessen werden, daß Handeln verantwortung − umspannt wird. 306 Ähnlich argumentiert Hegel übrigens auch in seiner Lehre vom subjektiven Geist, und zwar im Abschnitt über ›Anthropologie‹; Hegel unterscheidet hier die Lebensalter und Entwicklungsstufen des Individuums. Auch im Rahmen der individuellen Entwicklung spielt Hegel zufolge das »Bewußtsein [der] eigenen Allgemeinheit« (Enzyklopädie § 396 Z) des Menschen die entscheidende Rolle. Der Mensch gelangt zuerst über das Erlernen der Sprache, über das »Aussprechen des Ich«, zu diesem Bewußtsein. Hinsichtlich der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen müssen beide Momente, »Zucht« und Bildung einerseits, andererseits das »eigene Streben der Kinder nach Erziehung« als das »immanente Moment aller Erziehung« (ebd.), zusammentreffen. Hegels entwicklungspsychologische und pädagogische Ausführungen in diesem Zusammenhang sind überdies auch handlungstheoretisch von Interesse und bestätigen den bereits formulierten Befund, daß es in der Logik der Handlung als der Verwirklichung subjektiver Zwecke und Interessen liegt, eben diese Subjektivität zu überwinden. So heißt es über den Entwicklungsgang des »Jünglings«, der zum »Mann« heranreift, daß der Mann nicht mehr, wie noch der Jüngling, in seinen besonderen Ansichten und Trieben befangen sei, sondern »sich in die Vernunft der Wirklichkeit versenkt hat und für die Welt tätig sich erweist. Zu diesem Ziele kommt der Jüngling notwendig.« Indem also der junge Mann sich in die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft hineinbildet – aus seiner Sicht dabei möglicherweise selbst zum verhaßten Philister gerät – lernt er, von dem Ideal der unmittelbaren Verwirklichung seiner eigenen Interessen zu abstrahieren. Der Standpunkt des hinsichtlich seiner sozialen Stellung innerhalb der Gesellschaft anerkannten Mannes, insofern er von seinem gesellschaftlichen Stand aus im Sinne des Ganzen handelt, hat zwar den moralischen Standpunkt noch nicht rundheraus in Frage gestellt (denn die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere die wirtschaftlichen Aktivitäten, das »System der Bedürfnisse«,

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immer auch allgemein anerkannte ethisch-soziale Kodizes und Grundsätze voraussetzt und diese nicht erst schafft; wäre dem nicht so, so wäre auch die Handlung nicht – im Hegelschen Sinne – als ein ›Sinnausdruck‹ des Subjekts zu verstehen, denn die Handlung wäre gar nicht interpretierbar; ein sozialer Sinn wäre ihr nicht zuzuschreiben, stünde die Handlung nicht immer schon als ein in sich Allgemeines in Beziehung auf allgemeine Normen.307 – Damit sind wir beim folgenden Thema.

stellen ja das Betätigungsfeld subjektiver Interessen par excellence dar), aber er handelt im Sinne einer praktischen Vernunft, die ihm sagt, daß er seine Interessen »nur in seiner Anschließung an die Welt« verwirklichen kann. Mit anderen Worten: Die Arbeit und Anstrengung des Menschen besteht in der »erhaltenden Hervorbringung und Weiterführung« der gesellschaftlichen Verhältnisse. 307 Vgl. David Rose: Hegel’s Theory of Moral Action, its Place in his System and the ›highest‹ Right of the Subject. – In: G.W.F. Hegel. Edited by Dudley Knowles. Farnham a. o. 2009. 357–378; hier 359.

5. »Der Stein aus der Hand ist des Teufels« – Hegels Lehre von der Handlung »Was lernen wir hieraus? Das lernen wir hieraus, dass Handeln, Handeln die Seele der Welt sei, nicht Geniessen, nicht Empfindeln, nicht Spitzfündeln […]. Das lernen wir daraus, dass die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei […], dass diese unsre handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln« J.M.R. Lenz: Über Götz von Berlichingen

5.1 Handlung und Imputation in den Grundlinien Mit der Sphäre des Moralischen hat sich, wie wir gesehen haben, gegenüber der »abstrakt-rechtlichen Einheitsfigur ›Person/Sache‹ [nunmehr] der konkretere Komplex ›Subjekt-Handlung‹«1 ergeben. An dem von Hegel markierten historischen Wendepunkt von Altertum und Moderne habe sich nunmehr der »gebildete, innerlich werdende Mensch« herausgebildet, »der selbst in allem sein will, was er tut«2. Die Subjektivität sei in Gestalt der modernen bürgerlichen Gesellschaft »zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form von Welt« geworden. Diese Entwicklung beinhaltet für Hegel zugleich die Forderung, daß das Prinzip der Subjektivität auch als ein Moment der politischen Verfassung zu berücksichtigen ist.3 Innerhalb des Abschnitts über Moralität ist es Hegel, wie gesagt, in erster Linie darum zu tun, das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Handlung oder genauer: das Verhältnis von Subjekt- und Objektseite des subjektiven Willens in den Blick zu nehmen – eine normative Morallehre oder eine Ethik im Kantischen Sinne ist hier also kaum zu erwarten.

1

Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Frankfurt a.M. 2000. 220. Schnädelbach macht mit Recht mit allem Nachdruck darauf aufmerksam, daß das Moralitätskapitel der Grundlinien im Sinne einer Handlungstheorie zu lesen sei. 2 GPR § 107. 3 Vgl. ebd. § 124.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

5.1.1 Die Handlung als Gestalt elementarer Vernunft Die Lehre von der Handlung wird in allen drei Teilen des Kapitels entfaltet − also auch im letzten Abschnitt, in dem Hegel den Inhalt des moralischen Sollens als das ›Gute‹ bestimmt, welches ihm zufolge allerdings in dieser Sphäre der Reflexion zunächst als ein subjektiv Gesetztes erscheint und daher auch keine allgemeine Verbindlichkeit für sich beanspruchen kann. Das Sollen impliziert einen Gegensatz von subjektivistisch gefaßtem ›Guten‹ und dem ›Guten‹ in einem wahrhaft allgemeinen Sinne und dieser Widerspruch findet seinen Ausdruck für Hegel wiederum in den bereits besprochenen Erscheinungen des Bösen. Hegel bescheinigt dem subjektiven Willen aber zugleich »ein Recht«, und nach »diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als subjectives ist«4. Das gegenständliche Sein kann von ihm folglich nur insoweit anerkannt werden, als es seiner inneren Zweckbestimmtheit entspricht. Dieses ›Seinige‹, das der Wille als von ihm hervorgebrachte Objektivität begreift und sich zuschreibt, ist die Handlung. Wenn Hegel von der ›Selbstbestimmung‹ als einem wesentlichen Moment des subjektiven Willens spricht5, dann ist dies in subjektiver wie objektiver Weise aufzufassen: Die ›Selbstbestimmung‹ des subjektiven Willens bezieht sich zum einen auf die Objektivität seiner subjektiven Willensbestimmung und der durch ihn hervorgebrachten Wirklichkeit, die er als das Seinige anerkennt (um nicht objektiv durch etwas bestimmt zu sein, das seiner Subjektivität nicht entspricht), und zum andern auf die subjektive Seite seiner Willensbestimmung oder darauf, daß für den moralischen Willen zunächst einmal keine Bestimmung zu akzeptieren ist, die nicht durch ihn selbst gesetzt wäre oder die er nicht als vernünftig oder moralisch richtig einsieht.6 Der vom Handlungssubjekt zu verwirklichende Inhalt ist für Hegel dabei einerseits ein Besonderes, es ist das eigene ›Wohl‹ oder das subjektiv bestimmte ›Wohl‹ des Andern. Das Wohl und die Vorstellung der ›Glückseligkeit‹ aber stellen gegenüber der bloßen Besonderheit und Natürlichkeit individueller Neigungen und Bedürfnisse bereits insofern ein Allgemeines dar, als in ihnen »die Zwecke der Endlichkeit überhaupt« reflektiert sind.7 Dieses Allgemeine in Bezug auf die subjektiven Bedürfnisse ist damit jedoch zunächst einmal nichts weiter als das Allgemeine des Subjekts, das es in allen besonderen 4

Ebd. § 107. Vgl. ebd. 6 Zur doppelten Bedeutung von ›Selbstbestimmung‹ vgl. Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. A. a.O. 226. 7 Vgl. GPR § 123. 5

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Zwecken erstrebt.8 Es ist aber Hegel zufolge gerade als das »Recht der Besonderheit des Subjects« anzusehen, sich durch das eigene Handeln befriedigt zu finden; so verknüpft Hegel auf diese Weise die »‹Deduktion‹ des Eudämonismus« mit der »Reflexionskultur des Verstandes«9, worin aus der Perspektive Hegels zugleich die Notwendigkeit dafür zu sehen ist, daß dieser Standpunkt des Sich-Berufens auf jenes Recht notwendig in demjenigen der ›Sittlichkeit‹ aufgehoben werden muß, weil erst auf dem Boden allgemeiner und nicht mehr nur partikulärer Sittlichkeit eine konkrete Bestimmung dessen möglich wird, was unter ›Wohl‹ in einem objektiven Sinne zu verstehen ist. Eine wesentliche Einsicht, auf deren Hervorhebung es mir im Rahmen der Darstellung der Handlungslehre Hegels wesentlich ankommt, ist, daß jener »innerlich werdende Mensch« − das bürgerliche Moralsubjekt – gezwungen ist, seine selbstbestimmt gefaßten Zwecke auch tatsächlich zu verwirklichen, um sich in seinem Selbstsein erhalten zu können; Vorsätze allein reichen dafür nicht hin. Erhalten kann sich das moralische Subjekt aber nur − auch wenn das zunächst paradox klingt −, indem es in der Verwirklichung subjektiver Zwecke seine Subjektivität als eine bloß unmittelbare und als »diese meine einzelne« aufhebt.10 Die Handlung als die Äußerung des sich selbst bestimmenden Willens, deren einzelne Momente von Hegel in § 109 der Grundlinien als Inhalt, Tätigkeit und Zweck angegeben werden, soll in ihrem Resultat die »einfache Identität des Willens mit sich« in der Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität enthalten: den Zweck, in dessen realisierter Gestalt sich das moralische Subjekt selbst erkennt. Die Handlung, welche den subjektiven Zweck des Handelnden in sich enthalten soll, wird mit der Verwirklichung des subjektiven Zwecks zugleich Gegenstand der Beurteilung durch andere Subjekte, zu deren moralischer Freiheit es wesentlich in Beziehung steht; durch die Handlung wird die dem Subjekt eigentümliche Weltsicht und das von ihm Bewirkte kritisierbar. Da die Handlung immer in Bezug auf die Norm als ein Sollen steht, wodurch zugleich eine Forderung an ihn gerichtet wird, spricht der Wille »mit dem Einzelnen das er thut,

8

Vgl. Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. A. a.O. 234. Ebd. 235. 10 GPR § 112. »Durch die Tätigkeit wird die Subjektivität aufgehoben, der Zweck realisiert, ausgeführt und damit objektiv. […] Die Objektivität wird hiermit gesetzt. Sie bleibt also ebenso ein Ideelles, d.i. die Subjektivität ist in ihrem eigenen Aufgehobensein ebenso in sich zurückgekehrt und erhalten. Der Inhalt des objektivierten Zweckes ist so einer und derselbe im Resultate, in der Tätigkeit, im Anfange oder [als] subjektiver Zweck. […] Hier zeigt sich der Doppelschein des Subjektiven und Objektiven. Die Tätigkeit ist Form, die sich selbst negiert, daher die Einheit des Sub[jektiven] und Objektiven.« (Hegel: Vorlesungen, Bd. 11. 173 f.) 9

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ein Allgemeines aus[…]«; als moralischer Wille »enthält er die Bestimmung der Allgemeinheit des Willens«11. Insofern ist der »Proceß des moralischen Standpunkts […] die Identification des subjectiven Willens mit dem Begriff des Willens.«12 Die Beobachtung, Hegels Handlungslehre zeuge von einer »auffälligen Dominanz des kognitiven Elements«, welche damit zusammenhänge, daß Hegel – weil er das Hauptaugenmerk auf die Zurechnungsproblematik richte − die Handlung ausschließlich post festum actus betrachte13 (anstatt normative Kriterien und handlungsleitende Prinzipien zu formulieren oder in pragmatischer Hinsicht die Genese praktischer Gründe für das Handeln zu erörtern), trifft durchaus zu, insofern für Hegel in die Bestimmung der Handlung und der Zurechnung der wissende Selbstbezug des Subjekts und dessen zweckgerichtete Interpretation der Umstände konstitutiv eingeht. Und nur von diesem sich vertiefenden Fürsichsein des Subjekts in der Allgemeinheit seiner Handlung her ist Hegels Zurechnungslehre zu begreifen. Immerhin ist aber zu sagen, daß Hegel in seiner Handlungslehre nicht ein bloßes Verstandeswissen zugrundelegt, welches dem Bewußtsein der Trennung zwischen Subjektivität und Objektivität verhaftet bliebe. Denn Hegels Reflexion auf die Handlung erhellt gerade insofern deren elementare Vernunftstruktur, als das Handlungssubjekt sich in seiner Willensbestimmung gegenständlich wird und die Handlung gerade die wechselseitige Durchdringung von Subjektivität und Objektivität und ein sowohl selbstreflexives Wissen wie ein Wissen der Handlungsumstände erfordert; das kognitive Moment ist tatsächlich in keiner Weise aus Hegels Lehre von der Handlung wegzudenken. − Nur indem es als handelndes in die Objektivität tritt, kann das Subjekt das Festhalten an seiner besonderen Perspektive überwinden – dies wird noch deutlicher werden, wenn wir uns Hegels Bestimmung der ›moralischen Handlung‹ in der Phänomenologie des Geistes genauer ansehen −, und nur in der Reflexion auf das eigene Handeln, insofern es dieser Besonderheit verpflichtet bleibt, können ihm die Begrenztheit und der Formalismus des von ihm eingenommenen moralischen Standpunkts bewußt werden. Insofern also das handelnde Individuum in der Handlung seine besonderen Zwecke zu verwirklichen glaubt, sich aber dennoch in seiner immanenten ›Vernunftallgemeinheit‹ gegenständlich wird und sich in der Objektivität seiner Zwecke (dem ausgeführten Zweck) mit sich zusammenschließt, wird hier von der Handlung

11 12 13

173.

Ilting, Bd. 3. 344. Ebd. 339. Vgl. Michael Quante: Hegels Begriff der Handlung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993.

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als einer Gestalt elementarer Vernunft gesprochen. Die Handlung, wie Hegel sie hier zur begrifflichen Entfaltung bringt, weist eine spezifisch dialektische Struktur auf, die darin besteht, daß Besonderheit und Allgemeinheit als Momente der Handlung sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht als einander wechselseitig durchdringend begriffen werden, wodurch sich eine bloß verstandesmäßige Reflexion auf das Wesen der Handlung (wie auf das Wesen von Zurechnung) von vornherein als unangemessen erweist. Die Vernunftstruktur der Handlung äußert sich außerdem darin, daß die subjektive Beurteilung der Handlung eine Prüfung der ursprünglichen Intention nach Maßgabe des Resultats der Handlung erfordert, wobei der Handelnde vom moralischen Standpunkt aus betrachtet zunächst einmal das Recht hat, sich nur dasjenige als das Seinige zuzuschreiben, was in seinem Vorsatz lag. Das wesentliche Moment dieser Reflexion, in der sich das Handlungssubjekt negativ auf sich selbst bezieht, ist das Wissen um die eigene Schuld. Die von Hegel behauptete und sich in der Handlung manifestierende subjektive Freiheit ist zugleich im Sinne einer normativen Unterstellung zu verstehen, und zwar als eine Unterstellung von fundamentaler sozialer Bedeutung: Wie wir gesehen haben, tritt hier, auf dem Standpunkt der Moralität, notwendig die Differenz zwischen dem »an sich seyende[n]« und dem subjektiven Willen ein; diese Differenz drückt sich für Hegel in Bezug auf das handelnde Subjekt unmittelbar als ein teleologisch verfaßtes Sollen im Sinne eines »Vorbestimmtsein[s]-zu…«14 aus: Das Sollen oder die Forderung ergibt sich bereits aus dem Begriff des für sich seienden, sich seiner selbst bewußten und sich selbst bestimmenden Willens, der von Hegel als eine Entwicklungsstufe des an und für sich seienden freien Willens aufgefaßt wird. Die allgemeine Durchsetzung ›sittlicher‹ Verhältnisse und die Teilhabe an der institutionalisierten Sittlichkeit macht den moralischen Willen seinem Ansichsein oder seinem Begriff nach aus. Hegels Lehre von der Handlung in den Grundlinien läßt sich in drei Teile untergliedern; diese drei Teile, angefangen mit dem Abschnitt über den »Vorsatz und die Schuld«, der die unmittelbarste der drei Stufen der Selbstbezüglichkeit des handelnden Subjekts in der Objektivität bezeichnet, bis hin zu jenem Abschnitt »Das Gute und das Gewissen« beschreiben einen Weg der fortschreitenden Verinnerlichung, des sich vertiefenden Wissens um die eigene Handlung in ihrer Totalität, also in der wechselseitigen Durchdringung von Subjektivität und Objektivität. Hegel verbindet also die Bestimmung der Momente der Handlung mit dem jeweiligen Sich-Wissen des

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Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. A. a.O. 228.

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Handlungssubjekts in der Objektivität seines Tuns.15 Schon daraus erhellt, daß es sich für Hegel verbieten muß, die Handlung einseitig, also entweder nur im Hinblick auf die der Handlung zugrundeliegende Gesinnung, noch ausschließlich im Hinblick auf die Folgen der Handlung aufzulösen. Wie Hegel in § 113 der Grundlinien deutlich macht, enthält die Handlung die folgenden drei Bestimmungen: Erstens muß sie, so wurde bereits angedeutet, vom Handlungssubjekt in ihrer Äußerlichkeit als das Seinige gewußt werden. Eine menschliche Willensäußerung ist demnach nur dann eine Handlung, wenn die Intention eine kausale Rolle innerhalb des Geschehens spielt und wenn der Handelnde sich dessen bewußt ist.16 Zweitens, auch dies haben wir bereits gesehen, steht sie wesentlich in einer Beziehung »auf den Begriff als ein Sollen«, also auf den allgemeinen Willen als das »Normprinzip des besonderen Willens«17 und drittens steht sie in einer Beziehung auf den Willen Anderer, die mit der Handlung und ihren Folgen unmittelbar oder mittelbar konfrontiert sind und die sie einem verantwortlichen Subjekt zuschreiben.18 In dieser letztgenannten Hinsicht unterscheidet sich die Beziehung auf den Willen Anderer in der Handlung von der formal-rechtlichen Beziehung auf den Willen Anderer; diese Beziehung, die sich para-

15

»Dieses Wissen ist eine grundlegende Bewußtheit seiner selbst, ist Schutz der eigenen Ansicht der Wirklichkeit, der eigenen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen, es ist Abgrenzung der Zurechnung der Handlung […] Die Stärke des Bewußtseins ist jedoch gleichzeitig Zeichen seiner Zerbrechlichkeit und Endlichkeit, einer Endlichkeit, die als Gegenpart die Unkontrollierbarkeit der Handlung hat, sobald diese aus dem Inneren des Vorsatzes heraustritt und sich als vollzogene Tat in die Wirklichkeit und unter die Menschen begibt.« Francesca Menegoni: Elemente zu einer Handlungstheorie in der »Moralität«. – In: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. A. a.O. 125–146; hier 139. 16 »Such self-ascription is, in the first instance, nothing but the identification of a reason conceived of as an intention in the set of causal conditions necessary for bringing about the event […].« Und weiter heißt es: »Responsibility requires that subjects self-consciously know and freely choose their purposes for the predicate ›mine‹ to be attached to the action. An explanation of action requires no real notion of freedom, but an evaluation of action does.« (David Rose: Hegel’s Theory of Moral Action. A. a.O. 361 ff.) 17 Josef Derbolav: Hegels Theorie der Handlung. A. a.O. 214. 18 David Rose sieht in Hegels Beobachtung, daß die Handlung als moralische Willensäußerung immer zugleich im Verhältnis zu dem Willen Anderer steht, bereits ein Resultat von Hegels Kant-Kritik. Hegel lege seine Kritik an Kant an dieser Stelle jedoch nicht offen. »Instead the reader is offered positive reasons for the adoption of an immanent doctrine of ethics grounded in the Hegelian concept of recognition. It is necessary that others recognize the action as one’s own. The action must express the implicit humanity (obligation) rather than appear to be a mere, immediate purpose (wilfulness) and this entails that others must concur with me and my description of the good, otherwise they will continue to treat me under the category of personhood or worse. Intention, therefore, requires recognition by others […]«. (David Rose: Hegel’s Theory of Moral Action. A. a.O. 366.)

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digmatisch im Vertrag manifestiert, besteht im Wesentlichen darin, »mein Eigenthum, (dem Werthe nach) zu behalten und dem Andern das Seinige zu lassen.«19 Der durch die Handlung entäußerte subjektive Zweck ist jedoch zugleich für andere, er ist in die allgemeine soziale Wirklichkeit eingebunden und muß daher den Willen des Andern konstitutiv mit einbeziehen. Die Ausführung eigener Zwecke hat daher »die Identität meines und anderer Willen in sich«20. Wo die Subjektivität den »Boden der Existenz des Willens« ausmacht, bilden die je eigenständigen Willen eine Einheit, jedoch eine Einheit Differenter. Diese Identität, so heißt es in der Nachschrift Griesheim, »ist die erste Allgemeinheit.«21 Gleichwohl ist diese der Moralität immanente, positive Beziehung auf den Willen Anderer, die in dem Versuch der Realisierung des eigenen wie des Wohls des Anderen Ausdruck findet, noch immer eine defizitäre Form intersubjektiver Beziehung, denn des Anderen Wohl wird hier heteronom – nämlich vom Boden individueller subjektiver Überzeugungen aus – bestimmt. Diese heteronome Bestimmung des Wohles Anderer läuft Gefahr, in einer ›Ethik des Almosens‹ zu enden, die von Hegel angesichts der enormen sozialen Spannungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, insofern sie die allgemeine Pflicht einer administrativen Fürsorge ersetzen soll, als gänzlich unzureichend erachtet wird.22 19

GPR § 113 Anm. Ebd. § 112. 21 Ilting, Bd. 4. 308. 22 Dies berührt natürlich auch die Frage der Schuld: Inwiefern bin ich als Einzelner dem bedürftigen Einzelnen meine Hilfe schuldig? (Und wer kann mich dazu verpflichten?) Die moralisch-caritative Gesinnung einzelner Bürger mag sich zwar der unter den kapitalistischen Bedingungen moderner Gesellschaften ausbreitenden Pauperisierung Einzelner oder sogar großer Teile der Gesellschaft annehmen und sie findet »bey aller allgemeinen Veranstaltung« auch durchaus genug zu tun (GPR § 207). Aber bereits in der Phänomenologie des Geistes heißt es: »Es bleibt dem Wohltun, welches Empfindung ist, nur die Bedeutung eines ganz einzelnen Tuns, einer Nothülfe, die ebenso zufällig als augenblicklich ist. Der Zufall bestimmt nicht nur seine Gelegenheit, sondern auch dies, ob es überhaupt ein Werk ist, ob es nicht sogleich wieder aufgelöst und selbst vielmehr in Übel verkehrt wird.« (PhG 280) Handlungen, die bloß auf dieser Art moralischem Gesetz beruhen und nicht mit der Objektivität der sozialen Institutionen vermittelt sind, bleiben dem bloßen Sollen verpflichtet. Darin erweisen sie sich aus der Sicht Hegels aber als in sich selbst nichtig; sie sind gegenüber der Vorsorge als der allgemeinen Obliegenheit des Staates durchaus geringfügig und der »öffentliche Zustand ist im Gegentheil für umso vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meynung, im Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet ist, zu thun übrig bleibt.« (GPR § 242 Anm.) Und Domenico Losurdo weist darauf hin, daß unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft, die in erster Linie die Forderung der »Rechtschaffenheit« an den Einzelnen richtet − die sich durch die Befolgung der Gesetze definiert –, das »moralische Heldentum privilegierter Individuen« abgelöst worden sei. (Domenico Losurdo: Hegel und die Freiheit der Modernen. Frankfurt a.M. u. a. 2000. 294.) Außerdem 20

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5.1.2 Zur Unterscheidung von ›Tat‹ und ›Handlung‹ oder: Schuld zwischen Freiwilligkeit und Intentionalität Die stärkere Berücksichtigung des subjektiven Moments der Handlung unter den Bedingungen des modernen (Straf-)Rechts ist aus Hegels Sicht einerseits sicherlich insofern als ein ›Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit‹ zu werbemerkt Losurdo, moralisch-religiöse Gebote (etwa das der Nächstenliebe) bewegten sich auf dem Niveau des unmittelbaren Wissens, und »der Übergang von der Zufälligkeit der Empfindung zur Allgemeinheit des Wissens ist der Übergang vom Gebot zum Gesetz, zur Objektivität der Rechtsnorm.« (Ebd. 295) Dieser Übergang ist ein wesentliches Moment des Säkularisierungsprozesses der modernen Welt. Darüber hinaus ist eine weitere grundlegende Kritik Hegels am moralischen Gebot und der darauf basierenden ›Ethik des Almosens‹ aus der Sicht Losurdos darin zu sehen, daß sie im Grunde nichts an den allgemeinen Verhältnissen, die zur Armut führen, ändern wollen kann, denn der edle Moralist, der sich helfend den Armen zuwendet und sich auf diese Weise zum ›moralischen Helden‹ macht, muß ein Interesse daran haben, daß die Verhältnisse bleiben, wie sie sind, damit er selbst Held bleiben kann (vgl. ebd. 296). Dem moralisch-religiösen Gebot wohnt also eine narzißtische Tendenz inne, die darauf zielt, dieses Gebot zu verewigen; der Wirklichkeit wird ein Ideal entgegengesetzt und scheinbar das Seinsollen des Ideals verlangt, tatsächlich jedoch wird das Nichtseinsollen des Ideals vorausgesetzt, weil das Nichtsein die unausgesprochene Bedingung der Gültigkeit des moralischen Gebots ist (vgl. ebd. 296; Losurdo bemerkt ferner, daß sich Hegels in den Grundlinien vorgetragene Polemik gegen das ›moralische Heldentum‹ (Losurdo) möglicherweise direkt an Schleiermacher richtet, der die Armenhilfe in die Hände der kirchlichen Gemeinde gelegt wissen will). − Mit Blick auf Hegel muß man also festhalten, daß der Einzelne nicht zu Leistungen dem Einzelnen gegenüber verpflichtet werden kann − da solche Leistungen nicht das angemessene Mittel sind, die allgemeine Not zu lindern oder einen ›gerechten‹ Ausgleich zu schaffen −, wohl aber dazu, seinen Beitrag in Form allgemeiner Abgaben zu leisten (eine Schuldigkeit finanzieller Art), die im Rahmen einer umfassenden sozialstaatlichen Veranstaltung aufgebracht werden müssen. Allerdings, so muß man konstatieren, läßt sich heute in der BRD das genaue Gegenteil der Übernahme seiner sozialen Verpflichtung von Seiten des Staates beobachten; was sich gegenwärtig vollzieht und was es kritisch zu hinterfragen gilt, ist vielmehr, daß sich der Staat aus dieser Verpflichtung zunehmend zurückzieht, daß gravierende Einsparungen im sozialen Bereich vorgenommen und sozialstaatliche Strukturen abgebaut werden und die Verantwortung gleichzeitig auf privates und meist ehrenamtliches karitatives Engagement einzelner Bürger übertragen wird. Dieser Trend wird durch eine bestimmte (populär-)philosophische Literatur begleitet, die nicht selten mit provokanten Thesen für Diskussionsstoff sorgt. Ich denke hier vor allem an das jüngst (2010) erschienene Buch von Peter Sloterdijk Die nehmende Hand und die gebende Seite, in dem er eben für die Wiedereinführung der Almosenkultur plädiert. Sloterdijk stellt mit seiner ›Ethik der Gabe‹ grundsätzlich die Forderung auf, daß das Steuersystem in eine Praxis der freiwilligen Gabe umzuwandeln sei. Sloterdijks Überlegungen sind indes ebensowenig überzeugend wie originell. Neben Friedrich Nietzsche und Georges Bataille, die Sloterdijk zu seinen Gewährsleuten erklärt, findet seine Forderung ihre Vorläufer im Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts und steht damit im Grunde in der Tradition der von reaktionärer und liberaler Seite an Hegel geäußerten Kritik, dem es gerade darum zu tun war, sozialstaatliche Prinzipien zu begründen. Einer jener Liberalen, die die

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ten23, als sie das moderne Recht des Individuums auf die Befriedigung seines Bedürfnisses nach »Ausführung an und für sich geltender Zwecke«24 zum Ausdruck bringt, in denen dieses für sich selbst eine gewisse Befriedigung erlangt. Dieses moderne Recht des Subjekts, mit dem die von Hegel angeführte spezifische Schuldkonzeption einhergeht, unterscheidet sich grundsätzlich von der in der Antike vorherrschenden Schuldauffassung, welche auf dem »heroischen Selbstbewußtseyn« basiert, die Hegel paradigmatisch in der klassischen griechischen Tragödie dargestellt sieht und die ihrerseits »aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von That und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände fortgegangen«25 ist, wodurch die »Theilung des Ansichseins des Willens und des subjectiven Willens«26 − die für Hegel das wesentliche Merkmal moderner Moralität ausmacht − noch nicht eingetreten ist: »Das heroische Bewußtsein sah sich als unendliche Intelligenz an und sah seine Tat nach allen Umständen als die seinige an.«27 Der Mensch in der Moderne dagegen kann und muß nicht mehr den gesamten sittlichen Lebensbereich in seinem Handeln vertreten und verantworten, er muß sich nur noch an Recht und Gesetz halten − und da er unwiderruflich aus solchem Schicksalszusammenhang herausgelöst ist, muß er auch nicht mehr die Schuld der Ahnen auf sich nehmen. Freilich ist damit für das moderne Subjekt die – für das »heroische Selbstbewußtseyn« aufgrund des allgemeinen sittlichen Zusammenhangs, in den es eingebunden ist, nicht so sehr naheliegende – Gefahr gegeben, daß seine Handlungen, ja die ganze »Subjectivität [seines] Wollens«, nur »werthlose Productionen«28 hervorbringt, und das Subjekt damit in sich selbst ›substanzlos‹ wird. Zugleich betont Hegel in diesem Zusammenhang jedoch, daß sich die subjektiven und die objektiven Zwecke des handelnden Subjekts in der Moderne einander »im Wollen« nicht ausschließen. Die Pointe der Hegelschen Philosophie der Weltgeschichte besteht, wie wir spägenannte, gegenwärtig von Sloterdijk vertretene These bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts vertreten haben, ist Carl von Rotteck. Von Rotteck stellt in seinem Artikel: »Armenwesen« im Staats-Lexikon die Behauptung auf, gerade das Fehlen einer Rechtspflicht stimuliere die Großzügigkeit und Wohltätigkeit der Reichen. (Neben von Rotteck sind in dieser Tradition außerdem Tocqueville und Spencer zu nennen.) 23 Vgl. Ilting, Bd. 3. 359. 24 GPR § 124. 25 Ebd. § 118. 26 Ilting, Bd. 3. 349. 27 Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Herausgegeben von Claudia Becker et al. Hamburg 1983. 64. (=Hegel: Vorlesungen, Bd. 1) 28 GPR § 124.

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ter sehen werden, in der Behauptung, daß sie einander nicht nur im Wollen, sondern auch hinsichtlich der Objektivierung nicht nur nicht ausschließen, sondern daß sich objektive oder an und für sich seiende Zwecke überhaupt nur dadurch verwirklichen lassen, daß das handelnde Subjekt in ihnen seine partikularen Zwecke verfolgt. Die von Hegel angeführte Unterscheidung zwischen ›Tat‹ und ›Handlung‹ – mit der er die Verwendungsweise dieser Begriffe bei Kant bewußt umkehrt29 − verweist zugleich auf einen engeren und einen weiteren Begriff von ›Schuld‹: Unter ›Schuld‹ in einem weiteren Sinne ist demnach die bloße auf einen personalen Urheber verweisende Verursachung einer jeglichen Veränderung in der Welt zu verstehen: »Die That setzt eine Veränderung an diesem vorliegenden Daseyn und der Wille hat Schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Daseyn das abstracte Prädicat des Meinigen liegt.«30 Aber das Urteil hinsichtlich des bloß kausalen Zusammenhangs zum willentlichen Tun eines Menschen, bedeutet für Hegel keineswegs, daß ihm dieses Tun auch tatsächlich imputiert werden kann. − In einem sehr allgemeinen Sinne geht es also bereits in der bloßen Verursachung um eine Willensschuld, die sich an das daseinsverändernde Tun eines Menschen knüpft, insofern dies als freiwilliges Tun charakterisiert ist.31 Weil jedoch die gegenständliche Erscheinung der Umstände, auf die der »selbst handelnde Wille«32 einwirkt, für ihn eine zufällige ist, und sich die Umstände im Nachhinein als vollkommen andersgeartet als von ihm antizipiert herausstellen können, gilt es für Hegel, diesen Bereich all jener zufälligen Ereignisse, die sich an das jeweilige Tun anknüpfen mögen, von dem zu trennen, wofür der Handelnde im engeren Sinne verantwortlich sein kann. Die bloße Verursachung 29

Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten. A. a.O. 334. GPR § 115. 31 In § 116 der Grundlinien behandelt Hegel inhaltlich den Fall der später sogenannten Gefährdungshaftung – was insofern bemerkenswert ist, als diese Bestimmung erst von der Zivilrechtsdogmatik am Ende des 19. Jahrhunderts näher ausformuliert werden sollte. ›Gefährdungshaftung‹ meint die Haftpflicht, die jemand in einem Schadensfall zu übernehmen hat, der durch Dinge oder Tiere entsteht, die dem Verantwortungsbereich einer Person zuzuordnen sind (die also gemäß der Zuordnungen des ›abstrakten Rechts‹ als sein Eigentum gelten; reflexartige Körperbewegungen müßten demnach auch unter diese Bestimmung fallen, denn auch der Körper, insofern er vom Subjekt ›angeeignet‹ werden muß, ist in dieser Hinsicht zum Eigentum der Person zu rechnen). Die Person haftet damit auch für einen Schaden, der weder gewußt noch gewollt durch den Haftenden selbst herbeigeführt wurde, der aber dennoch im weitesten Sinne als Folge der Setzung seiner subjektiven Freiheit anzusehen ist. Damit ist auch hier der Wille, wenn auch mittelbar, der Adressat (zivilrechtlicher) Zurechnung. (Vgl. dazu Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 327 ff.) 32 GPR § 117. 30

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ist nun zwar noch nicht als konkreter Anteil an der Subjektivität des Willens zu begreifen, sie ist nicht äußerlich gesetzte Subjektivität, dennoch ist sie auf den Willen − wenn auch nicht auf den gerichteten Willen − des Menschen zurückzuführen.33 Daß die eine Abwesenheit von Freiheit bezeichnen könnte, wird von Hegel also zurückgewiesen; eine signifikante Unterscheidung zwischen einem Handeln aus Freiheit und einem ›Verhalten‹ als einem Zustand gänzlicher Unfreiheit (insofern der Wille in irgendeiner Weise am Geschehen beteiligt ist) kann es für Hegel demnach nicht geben.34 (Mit Ausnahme derjenigen Zustände, die unter eine nachgewiesene Zurechnungsunfähigkeit fallen.) Wohl aber gibt es Grade von Freiheit und Selbstreflexivität des Wissens in der Objektivität des Tuns und außerdem natürlich die Möglichkeit – und das wäre für Hegel vermutlich eine Art Unfreiheit und, wie er mit Blick auf die ›schöne Seele‹ sagt: »geistlose Einheit des Seins«35 −, daß das Innere des Menschen nicht vollständig verwirklicht wird. ›Schuld‹ in dieser noch recht allgemeinen Bedeutung ist dann so zu verstehen, daß die bewirkte Manipulation des Daseins auf abstrakte Weise das 33

Zu dieser These siehe Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 323 f. Stübinger erläutert seine auf GPR § 115 bezogene und auch oben vertretene Lesart, daß es sich bereits hinsichtlich der Schuld in kausaler Beziehung (Verursachung) um eine Form der ›Willensschuld‹ handelt, dahingehend, daß das »Schuldsein« in dem angezeigten Sinne einer bloßen Verursachung eine »vom Willen noch nicht näher differenzierbare Verbindung zwischen seiner eigenen Tat und den Folgen als Gesamtheit der objektiv eingetretenen Weltveränderung« (ebd. 324) bedeute. Carl Ludwig Michelet, als der erste ›Hegel-Schüler‹, der den von Hegel entwickelten Begriff der Handlung aufgreift und von dort aus die Fahrlässigkeitsproblematik systematisch zu integrieren sucht (vgl. den Abschnitt 6.3.1.1 in dieser Arbeit), nimmt auch diesen ›weiteren‹ Begriff der Willensschuld auf und erläutert ihn unter Berufung auf die Aristotelische Handlungslehre: Die menschlichen Handlungen lassen sich Aristoteles zufolge in freiwillige, unfreiwillige und gemischte Handlungen einteilen; die freiwilligen sind jedoch noch nicht mit den vorsätzlichen Handlungen zu identifizieren. ›Freiwilligkeit‹ sagt demnach zunächst einmal nichts über eine bestimmte Gerichtetheit des Willens aus. Auch Eduard Gans behauptet, daß der Vorsatz »vom Freiwilligen unterschieden« ist: »Im Freiwilligen wird bloß die Seite des Ansichseins aufgefaßt, im Vorsatz dagegen die Seite des Insichseins, die Umstände werden als eine vorgestellte Handlung ins Bewußtsein aufgenommen.« (Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. (Ausgabe Braun) A. a.O. 125.) Auch ist in diesem Zusammenhang auf die damals geläufige Unterscheidung von ›dolus‹ (Verbrechen) und ›culpa‹ (Fahrlässigkeit im Sinne der bloßen, nicht bewußt intendierten Verschuldung) hinzuweisen, wie sie sich schon bei Kant findet. Für Kant bedeutet ›culpa‹ die »unvorsätzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann«; eine vorsätzliche Tat ist für Kant »mit dem Bewußtsein [verbunden], daß sie Übertretung sei«. (Kant: Die Metaphysik der Sitten. A. a.O. 330.) 34 Vgl. Hermann Drüe: Psychologie aus dem Begriff. Hegels Persönlichkeitstheorie. Berlin/New York 1976. 312. 35 PhG 440.

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»Prädikat des Meinigen« hat. Daß »der Mensch schuld an etwas ist, drückt die Unmittelbarkeit aus, das Hinausgehen aus dem Subjektiven in die Objektivität, und die Tat ist die ganz unmittelbare Vermittlung.«36 (In diesem Sinne eines weiten Begriffs von Schuld ist auch die Kapitelüberschrift »Der Vorsatz und die Schuld« zu verstehen.) Dieser noch sehr weite und vage Begriff von Schuld gehört demnach für Hegel einer abstrakten Reflexion auf ein willentlich hervorgebrachtes Geschehen an. Die Differenzierung verschiedener auf den Handlungszusammenhang bezogener Erkenntnisebenen führt aber zugleich zu einer Präzisierung des Schuldbegriffs, die Hegel im Verlauf des Moralitätskapitels vollzieht.37 Schuld im engeren Sinne oder »die eigentliche Schuld«38 ist demgegenüber als Ausdruck des »Rechts des Willens« zu verstehen, »in seiner That nur dieß als seine Handlung anzuerkennen, und nur an dem Schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag.«39 Daraus erhellt, daß die Unterscheidung zwischen der bloßen Tat und der Handlung am Grad der reflexiven Beteiligung des subjektiven Willens verläuft.40 Die verschiedenen Momente der Handlungslehre entsprechen also, wie wir bereits gesehen haben, auch »verschiedene[n] Erkenntnisebenen, die für ihn [Hegel] den Gang von Bestimmungen des Verstandes zu einer definitiven Vernunfteinsicht in Handlungszusammenhänge beschreiben.«41 Denn der »formelle Verstand«, so heißt es in Paragraph 115 der Grundlinien, sondere aus einer Menge von Umständen (beliebig) jene

36

Hegel: Vorlesungen, Bd. 1. 64. Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 322. Hinsichtlich der Tatsache, daß der Schuldbegriff von Hegel »nicht auf Anhieb eindeutig präsentiert wird«, äußert Stübinger die Vermutung, daß ein solcher Schuldbegriff tatsächlich erst einmal herausgearbeitet werden mußte; Hegel konnte sich seinerzeit nicht auf einen entsprechend fixierten terminus technicus des Strafrechts berufen, da die Schuld zu dieser Zeit noch nicht als ein fest umrissener Systembegriff ausgebildet war. Vielmehr herrschte noch eine Art Begriffsverwirrung, daher sei es auch nicht verwunderlich, daß der Schuldbegriff auch bei Hegel auf jeder Ebene in einer jeweils konkretisierten Form erscheint (vgl. ebd. 322 f.). Im Übrigen wird im Abschnitt 6.3.1 dieser Arbeit die Rezeption von Hegels Handlungs- und Schuldbegriff von Seiten der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren sein. 38 Ringier 53. 39 GPR § 117. 40 Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 322. In Hegels Randnotizen zu § 132 der Grundlinien heißt es ausdrücklich, alle Stufen der Zurechnung hingen vom Wissen ab, und zwar von dem Wissen in Bezug darauf, »wie die Wirklichkeit für mich [ist] − im Wissen, Bewusstseyn ist – theoretisch – (sonst nur Thier) – nicht wie ich fühle – sondern weiss – Freyheit, Subject im Wissen« (GW 14,2. 639). 41 Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 322. 37

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aus, die als Bedingung oder Ursache in einer wenn auch losen Verbindung zum Ereignis stehen. Hegels Hinweis auf eine solche formell verfahrende Verstandestätigkeit ist zugleich ein Indiz für die verschiedenen Reflexionsgrade, mit denen der Wille am Prozeß dieser Äußerung beteiligt ist.42 Die nur kausale Beteiligung des Willens an einem bestimmten Ereignis mag damit zwar erkennbar und in diesem weiten Sinne von ›Schuld‹ die Rede sein; dies reicht jedoch nicht hin, »um die Einwirkung auf das Dasein in einer qualifizierten Form für sich zu haben.«43 Nun muß Hegel allerdings verbindliche Kriterien zur Bestimmung einer Handlung nennen, damit die Handlung in Differenz zur bloßen Tat definiert werden kann, denn diese Unterscheidung läßt sich nicht an der objektiven Oberfläche oder dem Ereignis in seiner Faktizität ablesen. Eines dieser Kriterien, durch das sich die ›Handlung‹ von der ›Tat‹ unterscheidet, ist der vom Handlungssubjekt gefaßte ›Vorsatz‹; nur wenn die Handlung im Vorsatz ideell vorweggenommen wurde, kann davon gesprochen werden, daß der Handelnde dem von ihm hervorgebrachten Zweck frei gegenübersteht und sich in dieser von ihm hervorgebrachten Objektivität erkennt.44 Zugleich wird in dieser Identifikation des Handlungssubjekts mit dem von ihm Hervorgebrachten der Kreis des dem Willen zurechenbaren Anteils am insgesamt möglichen Schuld-sein enger.45

5.1.3 Die Bestimmungen der Handlung als Grade der Selbstreflexivität des Handlungssubjekts Hegels Konzeption der moralischen Handlung ist eine dialektische, d. h. daß darin Intention und kausale Folgen einer Handlung ganz wesentlich konvergieren. Der Vorsatz bezeichnet dabei eine Form von Intention, die etwas ganz Bestimmtes erreichen will, ohne daß sie doch in der Lage wäre, die Zusammenhänge, in die das erstrebte Ziel eingebettet ist, ganz zu überschauen.46 Der Vorsatz ist das »Wissen der unmittelbaren Umstände«47, in denen gehandelt wird; er steht einerseits, wie gesagt, für die ideelle Vorwegnahme der Handlung, die eine Vorstellung dessen beinhaltet, wie der zur Ausführung

42 43 44 45 46 47

Vgl. ebd. 329. Ebd. 324. Vgl. GW 12. 178. Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte Strafrecht«. A. a.O. 330. Vgl. Karl-Heinz Nusser: Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie. A. a.O. 65. GW 14, 2. 577 (Hervorhebungen getilgt, BC).

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gelangte Zweck beschaffen sein soll.48 Der Vorsatz beinhaltet zwar ein ideelles Moment, er kommt aber rechtlich insofern in Betracht, als er zugleich für eine elementare subjektive Zwecktätigkeit steht, die sich mit ihrem Zweck der Äußerlichkeit und dem zeitlichen Vergehen aussetzt und sich dem ›Gesetz der Objektivität‹ preisgibt.49 Mit anderen Worten: Die Handlung »enthält ein Sich-zu-tun-machen mit einem Element, dessen er [der Handelnde] nachher nicht Meister ist; […] es liegt [vielmehr] in der Handlung selbst, daß sich die Handlung ausdehnen kann zu unangemessenen Folgen.«50 Daher drückt sich im Vorsatz auch nicht mehr als das »abstracte oder formelle Recht der Handlung«51 aus und ein ebenso formelles Moment personaler Zurechnung: »Die Handlung ist zwar die absolute Bestimmung der gegen das freye Subject selbstlosen Objectivität durch seinen Zweck. Aber da diese auch selbstständig ist, so kann sie die Handlung des Individuums verkehren und Anderes zum Vorschein bringen, als in dieser gelegen hat.«52 Das Subjekt erkennt jedoch angesichts solcher Verkehrung in seinem Tun unmittelbar nur das als seine Schuld an, was in seinem Wissen und Wollen gelegen hat, »weil es sich nur als absolut subjectiver und fürsichseyender Wille gilt.«53 Der Vorsatz ist seinem Ansichsein nach allgemein, und zwar in subjektivem wie objektivem Sinn. Zum einen erläutert Hegel, wie wir bereits sahen, daß sich die vereinzelte Bestimmtheit der äußerlichen Wirklichkeit in der Entfaltung ihrer Wirksamkeit im äußerlichen Zusammenhang als dasjenige zeigt, was ihre eigenste Natur ist: Wenn auch ganz unmittelbar beispielsweise nur eine zollgroße Holzfläche angezündet wird, so enthält doch dieser einzelne Punkt zugleich die Allgemeinheit seiner Ausdehnung im lebendigen Zusammenhang in sich.54 Die Allgemeinheit eines vereinzelten Tuns besteht also zunächst einmal darin, daß im Lebendigen das Einzelne nicht als Teil, sondern als Organ enthalten ist, »in welchem das Allgemeine«, also das Leben, »als solches gegenwärtig existirt«55 und möglicherweise verletzt wird.

48

Vgl. Georg Zenkert: Konturen praktischer Rationalität. Die Rekonstruktion praktischer Vernunft bei Kant und Hegels Begriff vernünftiger Praxis. Würzburg 1989. 130. 49 Ebd. 50 Hegel: Vorlesungen, Bd. 1. 72. 51 GPR § 114. 52 Enzyklopädie § 419. 53 Ebd. 54 Vgl. GPR § 119 Anm. 55 Ebd. § 119 Anm. In seinen Vorlesungen über Naturphilosophie heißt es, daß erst im »Leben« die einzelnen Körper nicht mehr ein selbständiges Bestehen haben: »Erst im Leben kommt es dann zur Subjektivität, zum Gegentheil des Auseinander. Leben ist bei sich sein, ist Subjektivität. Im Leben ist das was wir Organismus nennen nicht mehr aus-

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Der Vorsatz enthält das Allgemeine aber auch aufgrund seiner Eigenschaft, ideelle Vorwegnahme des äußerlichen Geschehens zu sein, als ein Moment in sich; die Handlung hat ihre Ursache in einem gedachten Entwurf. Der Vorsatz im Sinne des schuldbegründenden Wissens um die eigene Intention wie um die objektiven Umstände der Handlung beruht also zunächst auf einem noch unmittelbaren und daher zufälligen und beschränkten Wissen, denn die subjektive Vorstellung der Umstände kann von deren tatsächlicher Beschaffenheit grundlegend abweichen. Der Vorsatz stellt zunächst ganz allgemein das Wissen und Wollen der Tat dar; er umfaßt daher gleichermaßen die intellektuelle wie die voluntative Beziehung des Subjekts zu seiner Handlung. Der Begriff des Vorsatzes (wie auch der Begriff der Schuld) ist insofern doppeldeutig und auch von Hegel in dieser Doppeldeutigkeit verwendet, als er zum einen ein ›Werturteil‹ oder neutraler: ein Kriterium der Zurechnung und zum andern den reflexiven Akt des Handlungssubjekts selbst darstellt. Die Bestimmungen von ›Vorsatz‹ und ›Schuld‹ sind jedoch noch aus einem weiteren Grund nicht identisch: Wenn wir vorhin sagten, der Vorsatz stelle ein ›Mehr‹ gegenüber der Schuld im Sinne der bloßen Verursachung dar, so müssen wir nun ergänzen, daß die Schuld − die mit zunehmendem Reflexionsgrad des Handlungssubjekts in der Objektivität seiner Handlung eine Erweiterung oder Vertiefung erfährt – ebenso ein ›Mehr‹ gegenüber dem Vorsatz darstellt, denn dieser steht für einen subjektiven Handlungsinhalt, welcher in unmittelbares Dasein überführt wird56, die Schuld in dem von Hegel hier entwickelten moralischen Sinne hingegen ist als das Resultat eines subjektivitätskonstitutiven, selbstbezüglichen Anerkennungsprozesses zu begreifen. Und erst mit dieser Selbstbezüglichkeit des Subjekts in der Objektivität seines Tuns ist ein wesentliches Moment des Begriffs der Handlung gegeben. Schuld-sein bedeutet für Hegel somit: etwas als die eigene Schuld anzuerkennen – mit Blick auf die Praxis der Rechtsprechung stellt sich dann natürlich die Schwierigkeit ein, ob das Geständnis eines Verbrechers, daß er die Tat, derer er beschuldigt wird, tatsächlich begangen hat, für eine rechtskräftige richterliche Verurteilung erforderlich ist oder nicht – eine Frage, die von Hegel im Rahmen seiner Überlegungen zur bürgerlichen Rechtspflege und insbesondere mit Blick auf die Institution des Geschworenengerichts diskutiert wird. Hier bleibt zunächst einmal festzuhalten, daß es zu den (formellen) Rechten des moralischen Subjekts gehört, sich nur dasjenige einander. […] Die Seele ist nur ein Punkt und doch ist sie an allen Orten meines Körpers, an denen ich fühle.« (Nachschrift Griesheim; im Manuskript Seite 84 f.) 56 Vgl. GPR § 114.

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an seiner Tat auch tatsächlich als seine Handlung zuzuschreiben, was von ihren Voraussetzungen von seinem Zweck – seinem Wissen und Wollen − umspannt wird. Es wurde bereits angedeutet, daß die Handlung ihre Wirksamkeit in der natürlichen Zeit und im ›lebendigen Zusammenhang‹ des organischen und gesellschaftlichen Seins entfaltet; wenn sich nun der Vorsatz und, wie wir noch sehen werden: auch die Absicht dadurch auszeichnen, daß sie im Wissen und Wollen des Subjekts gründen, dann stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, welche Präsenz dieses Wissen − das zugleich ein Wissen der Handlungsumstände wie ein Wissen um das eigene Wollen ist – in der zeitlichen Entfaltung der Handlung für das Subjekt hat. Diese Frage wird von Hegel allerdings erst in § 132 der Grundlinien und auch dort nur andeutungsweise diskutiert, und zwar im Zusammenhang seiner Ausführungen zum Unrechtsbewußtsein, also zum »Recht des subjectiven Willens« auf das Wissen um die moralische und rechtliche Qualität seiner Handlung nach dem »Werthe, den sie in dieser Objectivität [hat]«; nach der Kenntnis oder genauer: nur nach der Möglichkeit dieser Kenntnis vom gesetzlichen oder ungesetzlichen Charakter der Handlung kann diese, so Hegel, dem Handelnden vor Gericht zugerechnet werden. Hegel betont, daß dieses Recht auf Einsicht in den allgemeinen Wert der Handlung, im Sinne der Einsicht in das geltende Recht von dem »Recht der Einsicht in Ansehung der Handlung als solcher«, also von dem Vorsatz als der Kenntnis der Handlung hinsichtlich ihrer äußeren Umstände, zu unterscheiden sei.57 Damit sind aber zunächst einmal auch zwei Zeitebenen des Wissens zu unterscheiden: Einmal ist die retrospektive Beurteilung der vollendeten Handlung hinsichtlich ihres objektiven Wertes gemeint und ein anderes Mal geht es um das Wissen in Gestalt der Selbstreflexion im Handlungsvollzug (zur Tatzeit) sowie um das Wissen der Handlungsumstände und möglichen Folgen. Hegel geht davon aus, daß sich der Täter zum Zeitpunkt seiner Tat deren Unrecht nicht klar und deutlich vor Augen geführt haben müsse, damit diese ihm zur Schuld zugerechnet werden kann.58 Eine solche Forderung, die

57

Damit ist jedoch nicht die Frage beantwortet, ob der Vorsatz vom Unrechtsbewußtsein umfaßt ist. Eduard Gans bestreitet dies; der dolus (Vorsatz) wird Gans zufolge zwar »immer imputiert«, einige Rechtslehrer legten jedoch in den dolus mehr hinein als er tatsächlich in sich enthält; »sie verbinden damit fälschlich auch den Vorsatz, der die Ungesetzlichkeit der Tat in sich enthält. Aber dieses Gesetzwidrige ist gar nicht notwendig.« Zudem müsse der Vorsatz bereits zu einem Teil »ins Leben getreten« sein, denn die »bloße cogitatio ist noch kein Verbrechen.« Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 124 f. 58 Vgl. GPR § 132 Anm.

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ihm das Recht seiner moralischen Subjektivität zu bewahren scheine, spreche ihm vielmehr seine »innewohnende intelligente Natur ab, die in ihrer thätigen Gegenwärtigkeit nicht an die Wolfisch-psychologische Gestalt von deutlichen Vorstellungen gebunden […] ist«59. Für Hegel kann es weder die »Hitze der Rache« oder sonst eine »isolirte Empfindung« sein, in die der Mensch als solch ein ›tätiges Gegenwärtigen‹ innerer und äußerer Umstände vollkommen versenkt ist, noch kann an ihn und seine Zurechnungsfähigkeit die Anforderung einer totalen Bewußtheit im Wissen und Tun einzelner Dinge gestellt werden. Für Hegel ist es nur im Falle manifesten zeitweiligen oder anhaltenden Wahnsinns vorstellbar, daß der Mensch von dem, was er tut und (eigentlich) weiß, so vollkommen getrennt ist, daß er jede Möglichkeit rationaler Kontrolle seines eigenen Tuns einbüßt.60 In aller Regel, so das Fazit an dieser Stelle mit Blick auf Hegels Ausführungen, kann ebensowenig unterstellt werden, daß der Mensch in voller Bewußtheit aller inneren und äußeren Umstände handelt – also weder über volle Bewußtheit in einem selbstreflexiven Sinne verfügt, noch über ein vollkommenes Handlungswissen –, wie er sich gänzlich dessen unbewußt sein kann, ›was Recht ist‹ (heute spricht man diesbezüglich von »Einsichtsfähigkeit«) und gänzlich die Möglichkeit einbüßt, dieser Einsicht gemäß zu handeln (modern gesprochen: »Steuerungsfähigkeit«). Auch der Rechtswissenschaftler Günter Schewe untersucht die Zeitgestalt der Handlung und fragt danach, was es bedeuten kann, zu behaupten, der Täter müsse sich im Augenblick der Tat sämtlicher Tatumstände bewußt gewesen sein.61 Schewe stellt skizzenhaft die ungeheure Breite der Diskussion innerhalb der Strafrechtslehre und der Kriminalpsychologie dar, die hier selbstverständlich nicht detailliert nachvollzogen werden soll. Er erinnert in diesem Zusammenhang zunächst einmal grundsätzlich an die Rolle des Gedächtnisses für das Aufrechterhalten der Kontinuität zwischen vergangenen und gegenwärtigen Bewußtseinsinhalten und spricht von einer »Entlastung des Bewußtseins« durch die Leistung des Gedächtnisses: Die nicht mehr ausdrücklich beachteten, in diesem Sinne unbewußt gewordenen und im Gedächtnis gespeicherten Bestände sind im jeweils gegenwärtigen Erleben und Verhalten als in die bewußten Bestände integrierte Inhalte wirksam. Da sie insofern den »psychisch bewältigten Umweltbeständen«

59

Ebd. Zu Hegels Bestimmung psychischer Erkrankungen und den Problemen einer sich aus einer solchen Diagnose mitunter ergebenden Zurechnungsunfähigkeit siehe das Kapitel 4.7. 61 Vgl. Günter Schewe: Bewußtsein und Vorsatz. Neuwied am Rhein/Berlin 1967. 130 ff. 60

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angehören, müssen sie in strafrechtlichem Sinne als vom Vorsatz umspannt aufgefaßt werden.62 Interessant ist für uns in diesem Zusammenhang vor allem die Einsicht, zu der Schewe – unter ganz anderen theoretischen Voraussetzungen als Hegel − mit seiner Kritik an »atomistischen« Denkansätzen gelangt, nach denen vom Vorsatz nur dann gesprochen werden könne, wenn der Handelnde das Wissen zur Tatzeit präsent habe. Schewes Kritik an solchen Theorien weist der Sache nach durchaus eine gewisse Nähe zu Hegels Überlegungen auf, den Schewe selbst hier allerdings nicht im Blick hat. Um das Beispiel aufzugreifen, das Schewe nennt: Kann man davon sprechen, daß der Mörder − während seine Aufmerksamkeit ganz dem physischen und technischen Problem gewidmet ist, wie sich die Schlinge, die er um den Hals des Opfers gelegt hat, vielleicht noch gegen den Widerstand seines Opfers, zuziehen läßt – in diesem Moment über ein deutliches Bewußtsein seines Vorsatzes (töten zu wollen) verfügt? Falls das nicht der Fall sein sollte, liefe es allerdings darauf hinaus, daß der Vorsatz ein bereits Vergangenes ist, an das sich der Handelnde zum Zeitpunkt der Ausführung seiner Tat bestenfalls erinnere; dann ist aber schwerlich der Nachweis dafür zu erbringen, daß der Vorsatz als ein Vergangenes mit der Ausführung der Handlung in notwendiger Beziehung steht, da zwischen ihnen eine signifikante zeitliche Differenz liegt. Schewe weist solche Überlegungen entschieden zurück und hält ihnen entgegen: »Zielgerichtetes, vorsätzliches Handeln bedeutet […] weder ein Zusammensetzen der Tat aus einzelnen ›Elementen‹ noch ein Zur-DeckungBringen der angetroffenen Wirklichkeit mit einer Erfolgs- oder Zielvorstellung, sondern eine Integration über die Zeit«63. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen im subjektiven Bezug und Wissen in wechselseitiger Bedingtheit und Abhängigkeit; das Ganze der Tatgestalt ist im Allgemeinen nicht als deutliche Gesamtvorstellung gegeben, ausdrücklich bewußt sind vielmehr immer nur wenige Inhalte – Schewe spricht daher von der »Enge des Bewußtseins« −, zugleich jedoch ist das Bewußtsein ihm zufolge fortlaufend neuen, zu bewältigenden »Umweltbestände[n]« ausgesetzt.64 Die einzelnen ausdrücklich bewußten Inhalte sind dabei weder als diskontinuierliche Aufeinanderfolge von psychischen Beständen zu verstehen, noch ist die zwischen ihnen bestehende Kontinuität als eine bloße durch Gedächtnisleistungen hergestellte Reihe von ›und‹-Verbindungen aufzufassen, sondern sie sind jeweilige Repräsentanten des Ganzen der Handlungsgestalt, das über

62

Vgl. ebd. 129. Ebd. 132. (Schewe bezieht sich hier allgemein auf Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins.) 64 Ebd. 108. 63

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den jeweiligen momentanen Bewußtseinsinhalt, über die jeweilige momentane Intention hinausgeht.65 Die einzelnen Momente sind Teile eines »intentionalen Spannungsbogens«66 eines Vorsatzes, der sich einzig über diese einzelnen Momente im Sinne von Aktualisierungen der Gesamtintention realisieren kann. Die einzelnen Bewußtseinsinhalte werden daher nicht in einem nachträglichen reflexiven Akt zu einer Gesamtvorstellung der Handlung vereinigt, so daß Anfangs- und Endpunkt klar zu bestimmen wären, sondern sie sind immanente Bestandteile des Gesamtzusammenhangs der Handlung. (Wie sich dieser über die Zeit integrierte Handlungsvollzug dann zu der Gedächtnisleistung des Handlungssubjekts zu einem späteren Zeitpunkt, etwa vor Gericht, verhält, müsste eigens thematisiert werden.) So ist aber gerade mit Blick auf Hegels Konzeption der Handlung, in der Subjektivität und Objektivität in jedem Handlungsmoment so stark konvergieren oder einander durchdringen – wo Handeln letztlich bedeutet, sich mit seinem Zweck der Objektivität preiszugeben −, die jeweilige Aktualisierung des Verhältnisses von ›Wissen und Wollen‹, von intellektueller und voluntativer Geistestätigkeit (die bei Hegel schwerlich von einander zu trennen sind) im Gesamtzusammenhang der Handlung von großer Bedeutung. Man darf also nicht den Fehler begehen − und Hegels Konzeption begeht diesen Fehler auch nicht −, den Vorsatz als das ›Wissen‹ hinsichtlich der Handlungsumstände und das ›Wollen‹ hinsichtlich des Handlungserfolgs als abstrakte Momente vom Gesamtzusammenhang der Handlung zu lösen, so daß der Vorsatz letztlich als ein von der Handlung selbst isoliertes Moment erschiene. Zugleich nämlich ist es das »Recht der Objectivität der Handlung« – also das Recht derer, die sich auf die Objektivität geltender Normen und Gesetze berufen, die durch die Handlung verletzt wurden −, sich auf die freie Urheberschaft des Handlungssubjekts als eines Denkenden und Wollenden zu berufen (dazu gleich), welches sich der Allgemeinheit seines Tuns nicht nur in vereinzelten Momenten der Handlung bewußt ist.67 Entsprechend erläutert Hegel, nun mit Blick auf die Frage weniger nach der zeitbezogenen Selbstreflexion des Subjekts im Vollzug der Handlung 65

Vgl. ebd. 133. Ebd. 134. 67 Im Rahmen seiner Lehre vom subjektiven Geist findet sich auch eine Bestimmung des Gedächtnisses; diese wird jedoch von Hegel, soweit ich sehe, insofern nur mittelbar im Hinblick auf die spezifischen Leistungen des praktischen Geistes behandelt, insofern der Wille (praktischer Geist) und das Denken (theoretischer Geist) wesentlich aufeinander bezogen sind (vgl. Enzyklopädie § 476 und GW 25,1. 532), das Gedächtnis aber innerhalb der Hegelschen Systematik den »Übergang in die Tätigkeit des Gedankens« allererst ermöglicht und in einem »organischen Zusammenhang mit dem Denken« (Enzyklopädie § 464 Anm.) steht. 66

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denn danach, wie deutlich der verbrecherische Vorsatz – der spezifische Unrechtsvorsatz – dem handelnden Subjekt bewußt sein müsse: »Wie bestimmt oder in welchem Grade der Klarheit oder Dunkelheit das Bewußtseyn jener Momente in ihrer Unterschiedenheit zu einem Erkennen entwickelt und in wie fern eine böse Handlung mehr oder weniger mit förmlichem bösen Gewissen vollbracht sey, dieß ist die gleichgültigere, mehr das Empirische betreffende Seite.«68 Wenn das deutliche und ›bewußte‹ Wissen um die Unrechtmäßigkeit seiner Handlung den Täter nicht von seiner Tat abzuhalten vermag und er sie nicht mit »förmlichem bösen Gewissen« vollbringt, müsste Hegel an dieser Stelle eigentlich deutlich machen, auf welche andere Weise der Normbezug des Handlungssubjekts gewährleistet ist; das Unrechtsbewußtsein, die Kenntnis dessen, was gesetzlich oder ungesetzlich ist oder was im weitesten Sinne gegen die allgemeinen Sitten verstößt, soll also gleichermaßen wirksam wie dem Subjekt der Handlung nicht deutlich gegenwärtig sein, denn: wäre das Unrechtsbewußtsein überhaupt nicht vorhanden, würde sich die Frage nach der subjektiven Vorwerfbarkeit der Straftat stellen (es sei denn, es handelt sich um einen Fall von schuldhaftem oder nicht schuldhaftem Verbotsirrtum). Diese nähere Erläuterung bleibt Hegel hier jedoch schuldig; eine Antwort ist wohl nur in einem Vorgriff auf Hegels Auffassung von ›Sittlichkeit‹ zu finden, die sich in der »einfache[n] Identität mit der Wirklichkeit der Individuen« und in der »allgemeine[n] Handlungsweise«69 der Individuen geltend macht. Die Sitte ist damit die durch »Gewohnheit« eingeübte »zweyte Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt, und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseyns 68

GPR § 140 Anm. Es wäre möglich, daß Hegel sich hier, ohne Namen zu nennen, auf Ernst Ferdinand Klein bezieht, den einzigen Strafrechtler, den Hegel in der Druckfassung der Grundlinien explizit anführt, wenngleich er in seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen auch andere, wie z. B. Feuerbach und Beccaria erwähnt. Klein unterscheidet fünf Klassen gesetzwidriger Handlungen: Erstens diejenigen, die »aus boshaftem Vorsatz« unternommen wurden, in denen also die gesetzwidrige Wirkung der Handlung gedacht und gewollt wurde. Zweitens die »vorsätzlich gesetzwidrige[n], aber nicht boshafte[n]« Taten, in denen die gesetzwidrige Wirkung als notwendige Folge der Handlung »nur undeutlich gedacht« oder auch gar nicht gewollt, sondern nur zugelassen wird. Drittens nennt Klein die »gefährliche« gesetzwidrige Handlung, in der die gesetzwidrige Wirkung als mögliche Folge deutlich gedacht wird. Viertens die aus »Muthwillen unternommene« Handlung, die ohne deutliches Bewußtsein der Folgen geschieht (eine Art schwere Fahrlässigkeit) und schließlich die Fahrlässigkeit (culpa), bei der gar kein Vorsatz nachweisbar, die aber dennoch im Sinne einer Pflichtverletzung zurechenbar ist. Vgl. Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze des gemeinen deutschen und preussischen peinlichen Rechts. Halle 1796. 92 f. (ND Goldbach 1996) Auch für Klein gilt also, daß es Fälle von nicht deutlich präsentem Unrechtsbewußtsein gibt, die dem Handelnden als gesetzwidrig zuzurechnen sind. 69 GPR § 151.

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ist«70. Der »sittliche Charakter« weiß Hegel zufolge »das unbewegte, aber in seinen Bestimmungen zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene, Allgemeine als seinen bewegenden Zweck«71. Als ein weiteres Moment der Handlung ist die Absicht zu nennen. Während das dem Vorsatz gemäße Tun als unmittelbarer Akt des Übersetzens von Subjektivität in Objektivität zu verstehen ist – und in diesem Sinne als »unmittelbares Urtheil«72 −, bezieht sich die Absicht auf das Wissen der allgemeinen Qualität der Handlung, auf das Wissen des »subjectiven eigenthümlichen Inhalts« und ist damit für Hegel ein »Reflexions-Urtheil«73. Diese subjektiv-allgemeine Qualität der Absicht ist der »auf die einfache Form der Allgemeinheit zurückgebrachte, mannichfaltige Inhalt der Handlung«74 und damit zugleich die »Bestimmung der Handlung«, denn sie entspringt »aus dem Selbstbewustseyn aus der Reflexion in sich aus meinem Wissen von mir«75. Worin dieser mannigfaltige Inhalt der Handlung zurückgeht, ist der Zweck, den das Subjekt mit seiner Handlung verbindet und der sein subjektives Interesse an der Handlung ausmacht.76 Dieser Zweck unterscheidet sich jedoch wiederum von dem mit der Handlung verbundenen übergreifenden Sinn. Um ein Beispiel zu nennen: Der Mord, die vorsätzliche Tötung eines Menschen wird nicht um des Mordens willen begangen (auch die Befriedigung der ›Mordlust‹ hätte einen eigenen Wert für den Täter), sondern weil sich mit der einzelnen Handlung ein übergreifender Sinn für den Handelnden verbindet, wie z. B. einen unliebsamen Widersacher unschädlich zu machen oder Rache zu üben. Auch mit der Absicht verbindet sich für Hegel ein spezifisches Recht; diesem Recht der Absicht steht jedoch das bereits angezeigte »Recht der Objectivität der Handlung« gegenüber, welches ein Recht nicht des Handelnden, sondern an ihn bedeutet. Gleichermaßen stellt die Absicht jedoch ein die Schuld ausschließendes Kriterium gegenüber Fällen dar, in denen diesem Recht der Einsicht in die allgemeine rechtliche und moralische Qualität der Handlung nicht entsprochen werden kann, wie dies in den Fällen nachgewiesener Zurechnungsunfähigkeit gegeben ist. Das Allgemeine der Absicht manifestiert sich im allgemeinen Urteil über die Handlung (Brandstiftung, Tötung etc.); dieses Urteil impliziert in rechtlicher Hinsicht nicht bereits 70 71 72 73 74 75 76

Ebd. Ebd. § 152. GW 14,2. 577. Ebd. GPR § 121. GW 14,2. 599. Vgl. GPR § 122.

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den Schuldvorwurf, also den subjektiven Tatbestand, sondern zunächst einmal den objektiven Tatbestand im Sinne der Deutung der Handlung nach Maßgabe des Gesetzes, innerhalb dessen die einzelne Handlung bestimmbar wird. Das dem Recht der Absicht entgegentretende Recht der Objektivität formuliert einen normativen Anspruch an den Handelnden. Voraussetzung für diese gesellschaftliche Forderung ist also die Zurechnungsfähigkeit des Handelnden, da eine Absicht (im Gegensatz zum Vorsatz) nur bei denkenden, vernünftigen, in diesem Sinne zurechnungsfähigen Subjekten vorausgesetzt werden kann, was für Hegel allerdings eine legitime und notwendige Unterstellung ist.77 Sowenig der Mensch als einzelner, unabhängig vom gesellschaftlichen Zusammenhang in seinen Motiven und Äußerungen zu begreifen ist, sowenig kann auch eine Handlung »als einzelne Wahrheit«78 aufgefaßt werden. »Die Handlung ist in sich allgemeiner Natur. Das Einzelne als solches ist nicht wahr, nicht wirklich, die Einzelheit ist wesentlich nur dieß überzugehen in die Allgemeinheit.«79 Mit anderen Worten: »Das Wesentliche in der Handlung ist das Werk«80, das Werk eben nicht eines Einzelnen, sondern Aller, denn es ist nur über den allgemeinen Zusammenhang, in dem es sich geltend macht, auf allgemeine Weise zu bestimmen. Nirgends wird so deutlich auf das mitunter tragische Konfliktpotential aufmerksam gemacht, das ein solcher dialektischer Begriff der Handlung in Ansehung der Zurechnung in sich birgt, wie in der Nachschrift Ringier: »Diesem Recht der Objektivität steht entgegen das Recht der Subjektivität. Hier entsteht eine Kollision, welche furchtbar werden kann. Es gibt Umstände, die einen entschuldigen – Erziehung etc. Aber diesem gegenüber steht die Forderung der Objektivität. Es ist das eine Kollision, die perennierend ist und die sich nicht abweisen läßt.«81 − Unklar bleibt in diesem Zusammenhang allerdings, was Herbert Schnädelbach mit seiner Behauptung meint, Hegel entwickle die Absicht nicht dialektisch aus dem Vorsatz, weshalb zwischen beiden im Grunde gar »kein Übergang«82 stattfinde. Dem ist entgegenzuhalten, daß Hegel deutlich macht, daß der Vorsatz die Absicht an sich bereits enthält; der Vorsatz enthält demnach »nicht blos die Einzelnheit, sondern wesentlich jene allge-

77

Vgl. Christoph Safferling: Vorsatz und Schuld. Subjektive Täterelemente im deutschen und englischen Strafrecht. Tübingen 2008. 20. 78 Ilting, Bd. 4. 325. 79 Ebd. 80 Ilting, Bd. 1. 284 (Hervorhebung im Original). 81 Ringier 55. 82 Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. A. a.O. 233.

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meine Seite, − die Absicht.«83 Und er begründet dies meiner Ansicht nach auf zweierlei Weise, indem er nämlich zum einen daran erinnert, daß die vereinzelte Bestimmtheit, auf die sich das vorsätzliche Tun richtet, in ihrem äußeren, lebendigen Zusammenhang das Allgemeine bereits in sich enthält; es wird durch dieses Tun nicht nur ein Teil verletzt, sondern, da das vereinzelte Moment in einem organischen Zusammenhang steht, entfaltet sich die Wirkung der Handlung auch auf eine allgemeine Weise. Zum andern verweist der Vorsatz im Sinne der ideellen Vorwegnahme der Handlung auf den allgemeinen Zweck der Handlung; im Vorsatz liegt demnach immer mehr als das ganz unmittelbare vorsätzliche Tun (etwa das Anzünden einer kleinen Holzfläche mit einem brennenden Streichholz), denn der Mensch (auch hier abgesehen von noch unmündigen Kindern und manifest Geisteskranken) verhält sich denkend und kann daher von solchen allgemeinen Zusammenhängen gar nicht abstrahieren.

5.1.4 Dialektik der Zurechnung »Im objectiven Corpus delicti erscheint uns zunächst nur der todte Körper der Handlung. Dieser Körper muss geistiges Leben gewinnen, muss uns der R e f l e x des inneren Geistes werden […] D a s nennen wir Zurechnung.« A.F. Berner: Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre (1843)

Wenn von einer Schuld im moralischen Sinne die Rede ist, dann ist damit zunächst einmal ein bewußter Verstoß gegenüber geltenden moralischen Normen gemeint. Ein Normverstoß, sofern er moralisch beurteilt wird, wird – wie die Auseinandersetzung mit dem Gewissenskapitel der Phänomenologie des Geistes zeigen wird84 − von der Seite ihrer Besonderheit aufgefaßt und nicht von der Seite ihrer Allgemeinheit. Die rechtliche Beurteilung einer Handlung unterscheidet sich von der moralischen insofern, als dem Handelnden nicht ein anderes moralisches Subjekt oder eine Allgemeinheit (Vielheit) moralischer Individuen gegenübersteht, die als moralische Individuen urteilen, sondern die durch seine Handlung verletzte Allgemeinheit des Gesetzes oder des Rechts selbst, die – anders als das moralische Urteil − allgemeine 83

GPR § 119. Vgl. dazu das Kapitel 5.3.3, in dem es um Hegels Konzeption der moralischen Handlung geht. 84

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Kriterien, nämlich Gesetzesbestimmungen, zur Bestimmung einer Handlung zugrundelegt. Die Handlung kommt in rechtlicher Perspektive in doppelter Weise in Betracht: Das subjektive Schuldmoment muß dabei ebenso ermittelt werden − es muß geklärt werden, inwiefern dem Handelnden seine Tat tatsächlich in subjektiver Hinsicht vorwerfbar ist – wie ihm die objektive Seite der Handlung vorwerfbar ist, welche ihr Verhältnis auf geltende Rechtsbestimmungen, die Weise ihrer Ausführung, der objektiv verursachte Schaden oder die objektive ›Schwere‹ der Rechtsverletzung (und unter Umständen auch der Aspekt der Gefährlichkeit der Handlung für das Ganze der Gesellschaft) umfaßt.85 Und Strafnormen, insofern sie das Schuldprinzip vor85

Um das oben Gesagte noch ein wenig zu verdeutlichen: Das heutige Strafrecht begreift üblicherweise den Vorsatz als ein Moment des Tatbestandes; der aus objektiven und subjektiven Elementen zusammengesetzte Tatbestand kann dann Gegenstand eines objektiven Rechtswidrigkeitsurteils werden, auf das sich schließlich das Unrechtsbewußtsein als subjektives Element der Schuld bezieht. Mit anderen Worten: Das Strafrecht hat zwei Voraussetzungen: eine objektive, die Begehung einer als solcher gesetzlich bestimmten rechtswidrigen Handlung (dem Grundsatz gemäß: nulla poena sine lege) und eine subjektive, die darauf reflektiert, ob eine Tat in einem psychischen Zustand begangen wurde, in welchem dem Täter seine Tat als im Rechtssinne schuldhafte Normverletzung zugerechnet werden kann (dem Grundsatz folgend: nulla poena sine culpa). (Vgl. Siegfried Haddenbrock: Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit). Zwei kriminalanthropologische Grundstudien über Determination und Freiheit im Raum humaner Zeitlichkeit und zur Funktion der Schuldfähigkeitsbestimmungen im deutschen Strafrecht. Berlin/New York 1992. 137.) Die Rechtswidrigkeit stellt das objektive Urteil über eine Handlung in Bezug auf die Rechtslage dar, und die Schuld, die im Kern das Unrechtsbewußtsein enthält, den subjektiven Bezug auf die Rechtswidrigkeit. (Vgl. Kurt Seelmann: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Basel 2005. 46.) Dem heute allgemein anerkannten und dem StGB zugrundeliegenden ›normativen Schuldbegriff‹ zufolge wird auf der Ebene des (subjektiv-objektiven) Tatbestandes und der objektiven Rechtswidrigkeit also zunächst der Gegenstand der »Unrechtswertung« (ebd. 74) erörtert, dem auf der Ebene der Schuld die Bewertung dieser Gegebenheiten folgt. Im Hinblick auf die Schuld stellt sich demnach die Frage, ob sich angesichts der Tat und ihrer rechtlichen Bewertung ein Vorwurf gegen den Täter begründen läßt. Dabei gründet sich das notwendigerweise vergleichende ›Modell‹ eines den »›massgerecht‹ sozialisierten Rechtsgenossen zum Massstab nehmende[n] Schuldurteil[s] auf die persönliche Vorwerfbarkeit einer rechtlich fehlerhaften Willensbildung und Willensbetätigung und damit auf die normative Bewertung eines psychischen Sachverhalts […] Im Schuldmassstab steckt ein beträchtliches Quantum an Generalisierung.« (Ebd.) Unter ›Schuld‹ in einem juristischen Sinne wird also die Möglichkeit verstanden, die rechtliche Sollensforderung zu erkennen und sich nach ihr zu richten. Seelmann bemerkt in diesem Zusammenhang ferner, daß sich »die Existenz der postulierten Entscheidungsfreiheit ebensowenig beweisen wie widerlegen lässt« (ebd.) und sie sich erst recht einer nachträglichen forensischen Rekonstruktion entziehe. Gleichwohl ist es aus Seelmanns Sicht sinnvoll – womit er übrigens Hegel folgt −, diese Entscheidungsfreiheit »um der Möglichkeit menschlicher Interaktion willen (weil man den anderen als vernünftig und verantwortlich behandeln will) praktisch (bis zum Beweis des Gegenteils) [zu] unterstellen.« (Ebd.) Neben der »Schuldfähigkeit« als der (postu-

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aussetzen, können ihrer Bestimmung zufolge immer nur an menschliches Handeln anknüpfen, nicht an sonstige Ereignisse und Vorgänge, mögen sie auch vom Menschen ausgehen, von ihm unwillkürlich verursacht (z. B. Reflexe) oder sonstwie auf ihn zurückzuführen sein; sie setzen ein schuldfähiges Subjekt voraus, das sich der allgemeinen Geltung der Normen, gegen die es verstößt, bewußt ist. Soll die objektive Rechtsverletzung zugerechnet werden, muß sie auf ihren Grund in der subjektiven Willensbestimmung zurückgeführt werden können.86 In der Rückführung der Handlung auf die ›Schuld meines Willens‹ liegt für Hegel zunächst einmal der Rahmen und die Begründung von Zurechnung überhaupt; seine Zurechnungslehre ist demnach insofern als eine notwendige Ergänzung seiner Straftheorie anzusehen, als Handlungs- und Zurechnungslehre die subjektive Seite des Verbrechens in den Blick nehmen.87 Um die aus seiner Lehre von der Handlung abzuleitende Zurechnungslehre soll es im Folgenden gehen. Erst diejenige menschliche Tätigkeit, die das Moment des Vorsatzes und der Absicht im Sinne der subjektiven Bewertung des allgemeinen Charakters der Handlung aufweist, ist für Hegel, wie wir gesehen haben, bewußter Ausdruck des subjektiven Willens, als solcher das »Dasein der Freiheit«88 des Subjekts, hinsichtlich dessen sich für Hegel allererst die Frage nach seiner Zurechnung stellen kann. Denn die Handlung stellt in einem höheren Maße eine Gestalt personaler Freiheit dar als jene, zu der es die Person durch Erwerb von Eigentum bringen kann, denn die Sache, in die sie ihren Willen legt, steht ihr nichtsdestotrotz in ihrer undurchdringlichen Gegenständlichkeit gegenüber. Gleichwohl haftet auch der Handlung als Gestalt der subjektiven Freiheit der Makel des Formalismus an. Mit Blick auf die bereits mehrfach gestreifte Zurechnungsproblematik ist nun wichtig, daß die Handlung, insofern sie eine Schuld des Willens impliziert, ihre komplementären Momente einerseits in dem moralischen Recht auf Geltendmachen des Wissens um und die Bewertung der eigenen Intention (im Sinne der genannten Abgrenzung gegenüber sehr weiten Schuldzuschreibungen) und andererseits in der Verpflichtung zur Rechtfertigung der Handlung gegenüber der Rechtsgemeinschaft besteht89; insofern kann man mit Recht davon sprechen, daß die Absicht nicht nur eine individuelle, sondern eine kollektive Kategolierten) »seelisch-geistigen Gesundheit« des Täters finden sich unter dem dogmatischen Schuldbegriff also ferner das Unrechtsbewußtsein im Sinne des Wissens oder Wissenkönnens vom Unrecht und drittens die »Zumutbarkeit rechtmässigen Verhaltens« (ebd. 75). 86 Vgl. dazu Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 46. 87 Vgl. GPR §§ 99 Anm. und 113 Anm. 88 Ilting, Bd. 1. 371. 89 Vgl. GPR § 117.

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rie ist, denn es gehört für Hegel zum ›Recht der subjektiven Freiheit‹ ebenso die Pflicht, sich über die allgemeine Intention wie die praktischen Konsequenzen des eigenen Handelns im Klaren zu sein.90 Begreift man die Handlung als einen Übergang von der Subjektivität in die Objektivität91, dann können Subjektivität und Objektivität auch nicht als strikt von einander zu trennende Bereiche angesehen werden, wie auch das Wissen des Handelnden um die moralische Qualität seiner Handlung und das »absolute Recht der Objectivität« nicht in einem bloß zufälligen Verhältnis zueinander stehen.92 Gleichwohl interpretiert Hegel diesen Übergang keineswegs als einen bruchlosen. »Der Erste Bruch der Handlung ist der, des Vorgesetzten und des daseienden und Vorgebrachten«93: Der zunächst innerlich gefaßte Zweck der Handlung tritt in die Äußerlichkeit, ist dort jedoch, wie wir bereits gesehen haben, den in ihr wirkenden Gesetzen preisgegeben. Das Subjekt der Handlung, insofern sein Wissen der konkreten Handlungsumstände stets nur ein beschränktes und zufälliges (gleichwohl vom Stand der allgemeinen Bildung der Zeit abhängiges) sein kann, wird niemals in der Lage sein, alle die möglicherweise von ihm initiierten Entwicklungen vorherzusehen. Die Handlung als der ausgeführte Zweck ist damit keineswegs bloße Abspiegelung subjektiver Intentionen, vielmehr ist es »die Natur der endlichen That selbst, solche Absonderungen der Zufälligkeiten zu enthalten.«94 Ein solches dialektisches Verständnis von Handlung hat damit offenkundig zugleich Auswirkungen auf die Zurechnungsproblematik: Wenn sich auch an die vorsätzlich ausgeführte Tat manch ein ungewolltes Ereignis anknüpfen mag – vom moralischen Standpunkt aus behauptet das Subjekt sein »Recht der Absicht«, daß die allgemeine Qualität der Handlung »nicht nur an sich sey, sondern von dem Handelnden gewußt werde […]; so wie umgekehrt, das Recht der Objectivität der Handlung […] ist […], sich vom Subject als Denkendem als gewußt und gewollt zu behaupten.«95 Dieses ›Recht der Objektivität‹ bezieht sich also auf die Prüfung des mit der Handlung behaupteten Anspruchs von Seiten des Subjekts der Handlung, daß seine subjektiven Intentionen sich vom allgemeinen Standpunkt aus als rational oder ›moralisch gut‹ gleichsam reformulieren lassen. Und letztlich ist der Handelnde, insofern er seine Zwecke verwirklichen und allgemein anerkannt wissen will, auf solch eine Reformulierung oder soziale Deutung seiner subjekti90 91 92 93 94 95

So auch Ludger Heidbrink: Kritik der Verantwortung. A. a.O. 74. Vgl. GPR § 110. Vgl. ebd. § 140 Anm. Ilting, Bd. 3. 353. GPR § 119 Anm. Ebd. § 120.

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ven Wertvorstellungen angewiesen. Der aus dieser Betrachtung resultierende Formalismus eines Standpunktes, der sich in Sachen Zurechnung und allgemeiner Beurteilung der Handlung allein auf das genannte subjektive Recht des moralischen Willens berufen und die objektiven Folgen der Handlung verleugnen zu können glaubt, liegt also darin begründet, daß dem subjektiven Willen eine konkrete Objektivität gegenübersteht, welche die Rahmenbedingungen allen Handelns vorgibt; ein solcher Formalismus wäre eine Art schlechter Idealismus, insofern er sowohl die Handlungsumstände als auch die objektiven Folgen einer Handlung nicht in ihrem ontologischen Status anerkennt, sondern diese vielmehr gegenüber der subjektiven ›Gesinnung‹ als nicht gleichermaßen eigenständig betrachtet. Jede Tat löst jedoch eine Reihe von Kausalprozessen aus, die im äußerlichen, mannigfaltigen Zusammenhang wirken und daher aufgrund der prinzipiellen Beschränktheit unseres Wissens auch nur zu einem Teil den Antizipations- und Steuerungsmöglichkeiten des Handelnden unterworfen sind. Handlungen im Sinne teleologischer Setzungen wirken aber, wie gesagt, nicht nur auf natürliche Prozesse, sondern immer auch auf andere Subjekte, die dadurch zu eigenen Handlungen getrieben werden. Ein weiterer »Bruch« innerhalb dieses subjektiv-objektiven Handlungszusammenhangs ist darin zu sehen, daß der innerlich gefaßte Zweck, die Absicht, zugleich als allgemeiner Inhalt erscheint, denn die einzelne Tat ist »ein dieses; dieß Dieses ist in sich ein Gebrochenes, hat eine Beziehung auf eine Allgemeinheit.«96 Denn die Grundbestimmung des ›für sich seienden‹ oder moralischen Willens ist sein sich-Unterscheiden vom ›an und für sich seienden‹ Willen: »Die Handlung ist also in sich unterschieden, als subjective auch ein Allgemeines zu enthalten.«97 Gerade also mit Blick auf die von Hegel dargestellte Übersetzungstätigkeit subjektiver Willensbestimmungen in objektive Wirklichkeit stellt sich die Frage, wie in einer so komplexen Verkettung subjektiver und objektiver Momente eine personale Verursachung des Geschehens ausfindig gemacht und vom Verursachten isoliert werden kann.98 Wenn bereits verschiedentlich von einer ›Dialektik der Zurechnung‹ die Rede war, dann soll damit auf das aus Hegels Sicht prinzipielle Erfordernis und die spezifische Methode hingewiesen sein, der gemäß die vernünftige

96

Ilting, Bd. 3. 353. Ebd. 351. 98 In diesem Sinne spricht Michael Schulte mit Blick auf die Handlung von einer »Grenzsituation«. (Vgl. Michael Schulte: Die »Tragödie im Sittlichen«. Zur Dramentheorie Hegels. München 1992. 200.) 97

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oder vernunftgemäße Erkenntnis eines äußeren Geschehens, das als Handlung zugerechnet werden soll, dieses äußere Geschehen anhand der sich darin manifestierenden Durchdringung von Subjektivität und Objektivität zu rekonstruieren hat. Eine Vernunfterkenntnis der Handlung setzt also voraus, daß in der Handlung Subjektivität und Objektivität als eine Einheit Differenter gesetzt sind. Hegels dialektische Zurechnungslehre fragt nach dem immanenten Allgemeinen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit und dem Wirkungszusammenhang, in dem beide als Momente gesetzt sind. Dies wird noch klarer werden, wenn wir uns später mit der Frage nach der Zurechnung der Folgen einer Handlung befassen. Hegels Zurechnungslehre entfaltet sich in den drei das Moralitätskapitel der Grundlinien strukturierenden Abschnitten: Gemäß des von ihm ausgegebenen Grundsatzes, daß die Zurechnung auf ihren verschiedenen Ebenen im Sinne eines Urteils über das Sich-Wissen des Subjekts in der Objektivität seines Handlungsvollzugs zu verstehen ist, folgt zunächst, daß nur die bekannten einzelnen Umstände der Handlung zum Vorsatz99 und nur die gewußte allgemeine Qualität der Handlung der Absicht zugerechnet werden können.100 Wie wir gesehen haben, kann die Tat also nur zugerechnet werden, insofern sie Willensschuld ist101, und die Zuschreibung der Schuld des Willens erfordert die Frage danach, was innerhalb der mannigfachen Umstände einer Handlung im Wissen des Handelnden lag. Die Zurechnung zum Vorsatz urteilt darüber, ob ein bestimmtes Ereignis als die eigene Tat des Menschen, als »Objektivation seiner Person«102 zu bezeichnen ist. Allerdings kann sie nicht bei der Zurechnung zum Vorsatz stehenbleiben, denn − um das Beispiel zu nennen, auf das Hegel, wie wir später noch sehen werden, auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte zurückgreift − der Brandstifter will nicht bloß ein Stück Holz anzünden, sondern ein Haus niederbrennen, wobei das Anzünden des Balkens nur ein Mittel zur Erreichung seines Zwecks ist. Überdies muß die Kenntnis des Unrechts vorliegen.103 − Gleichzeitig finden sich, wie wir gesehen haben, in all diesen Passagen gegenläufige Aussagen: So erfolgt bereits beim vorsätzlichen Tun die Zurechnung auch der notwendigen, aber nicht bewußt intendierten Folgen der Handlung (dazu gleich), und dem Recht der Absicht, sich allein die gewußte allgemeine Qualität der Handlung zurechnen lassen zu müs-

99 100 101 102 103

Vgl. GPR § 117. Vgl. ebd. § 119. Vgl. ebd. § 117. Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 90. Vgl. GPR § 132.

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sen, wird das eben erwähnte »Recht der Objectivität der Handlung« gegenübergestellt, die sich als Willensäußerung eines denkenden Subjekts behauptet. Wenn Hegel sagt, daß der geäußerte subjektive Wille mit dem Willen Anderer identisch ist104, dann entspricht dieses ›Recht der Objektivität der Handlung‹ dem von Seiten der Gesellschaft an den Einzelnen gerichteten normativen Anspruch, wie sich dieser normative Anspruch zugleich einzig an die Handlung in ihrer Objektivität richten kann. Der Zurechnung zum Vorsatz tritt also die Zurechnung zur Absicht hinzu – um beim eben gewählten Beispiel zu bleiben: Die dem Straftäter zugerechnete Absicht im Sinne der allgemeinen Qualifikation der Handlung ist in diesem Falle die Brandstiftung. Die Bestimmung der Absicht des Handlungssubjekts erweist sich darüber hinaus angesichts der Differenzierung der Folgen einer Handlung in der Daseinswelt als erforderlich, da die Frage danach, welche Folgen als notwendig und welche als zufällig zu betrachten sind, zur Bestimmung der allgemeinen Natur der Handlung nötigt. Obgleich sich die Absicht in Gestalt des vorsätzlichen Tuns zunächst ganz unmittelbar auf die seiende Einzelheit richtet, liegt es jedoch, wie gesagt, in der Natur aller Einzelheit, in Wahrheit ein Allgemeines zu sein.105 − Und der Mensch zeichnet sich Hegel zufolge gerade dadurch aus, daß er die »Bestimmung der sich wissenden Allgemeinheit schlechthin in sich«106 trägt. Hegel zieht aus dem so gefaßten Begriff des Menschen die Konsequenz, daß er der »Ehre seines Begriffs« gemäß zu behandeln und seine Schuld, die er nicht nur an bösen Taten, sondern ebenso an guten trägt, ihm unbedingt zuzurechnen sei (welche Konsequenzen sich diesbezüglich für seine Konzeption von Strafe ergeben, werden wir an entsprechender Stelle sehen). Und in § 132 der Grundlinien schließlich wird deutlich ausgesprochen, daß das Recht des subjektiven Willens auf Orientierung an der eigenen Bewertung der Handlung, ob sie rechtlich oder unrechtlich sei, durch die gerichtliche Zurechnung in Frage gestellt wird und werden muß: Obgleich es das von Hegel erklärte Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, »von ihm als gut eingesehen werde«107, muß er es sich doch gefallen lassen, daß ihm eine Handlung als der in die Äußerlichkeit tretende Zweck diesem normativ vorausgesetzten Wissen gemäß als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, als gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet wird.108 – Hegel sieht übrigens das »Recht des 104

Vgl. ebd. § 112. Vgl. ebd. § 119 Anm. 106 Ebd. § 140 Anm. 107 Ebd. § 132. 108 Eine ähnliche charakterisierende Zusammenfassung des Hegelschen Gedankengangs findet sich bei Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. Hegels 105

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subjectiven Willens« auch dann als respektiert an, wenn er »hat wissen können, dass etwas gut oder nicht gut – gesezlich oder nicht rechtlich und so fort ist«109; dieses Recht bezieht sich demnach auch auf das dem Handelnden mögliche Wissen und überdies, so macht Hegel an dieser Stelle seiner Randnotizen zu den Grundlinien ebenfalls deutlich, sei es hier zunächst nicht entscheidend, welcher Art dieses Wissen ist, also: ob es auf Vernunfteinsicht im Sinne einer »objective[n] Weise der Begründung«110 beruht oder ob es ein äußeres Wissen im Sinne bloßer Sachkenntnis des Gesetzes ist. Das Recht, »nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjects, aber durch seine subjective Bestimmung zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject bleibt dagegen fest stehen.«111 – Wer in dieser Welt handelt, »hat sich eben damit ihren Gesetzen unterworfen, und das Recht der Objectivität anerkannt.«112 Wir werden auf den angezeigten und zu vermittelnden Widerspruch zwischen dem Recht des subjektiven Willens und dem Recht der Objektivität der Handlung im Zusammenhang der Frage nach der Zurechnung der Folgen einer Handlung noch einmal zurückzukommen haben, zuvor sei jedoch noch erwähnt, daß Hegel neben der Zurechnung zum Vorsatz und zur Absicht auch die Zurechnung zum Gewissen thematisiert, die die im engeren Sinne moralische Zurechnung des »Substantiellen der Handlung« betrifft. Der Maßstab für die moralische Bewertung der Handlung sowohl durch das Subjekt der Handlung als auch durch andere moralische Subjekte ist das Gute als das »erfüllte, an und für sich bestimmte Allgemeine, und das Gewissen, als die in sich wissende und sich den Inhalt bestimmende unendliche Subjectivität.«113 Auf dem Standpunkt der Moralität, davon war ja bereits mehrfach die Rede, hat die sich wissende Subjektivität des Willens allerdings noch die Deutungshoheit über das ›Gute‹. Im Grunde ist für Hegel auch erst mit diesem Wissen des Subjekts um den moralischen Wert des eigenen Handelns im Medium des Gewissens die Handlung in ihrer Vollständigkeit beschrieben. − Die gerichtliche Zurechnung allerdings, die Hegel in § 132 der Grundlinien behandelt, kann nicht bei der subjektiven Berufung auf das eigene Gewissen stehenbleiben, sondern fordert, damit eine unrechte Handlung im normativen Sinne als ›vorwerfbar‹ angesehen werden kann, »Recht der Objektivität«. – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. Hegels Straftheorien. Freiburg/München 1995. 45–61; hier 48. 109 GW 14,2. 647. 110 Ebd. 111 GPR § 132 Anm. 112 Ebd. 113 Ebd. § 128.

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einzig die Möglichkeit des Handelnden, das eigene Tun im Hinblick auf das Gesetz bestimmen zu können. Wenn wir sagen, daß die Zurechnung zum Gewissen, also die Zurechnung oder Selbst-Zuschreibung der explizit moralischen Qualität der Handlung nicht Bestandteil der gerichtlichen Zurechnung ist, scheint es nahezuliegen, daß sich die Handlung auch unter Absehen von ihrer moralischen Qualität vollständig beschreiben lassen können muß. Ob eine Handlung vorliegt, hinge demnach allein von der Rationalität des Handelnden ab, also davon, ob Wissen (im weiteren Sinne auch das Wissen um die allgemein rechtliche Qualität der Handlung) und Wollen die Willensäußerung initiieren und begleiten. Der Handlungsbegriff wäre so gesehen moralphilosophisch völlig neutral.114 Anders formuliert: Eine Handlung läßt sich auch dann vollständig beschreiben, wenn man von der Frage absieht, inwiefern durch die Handlung das subjektiv gefaßte ›Gute‹ verwirklicht wird. Nun muß man allerdings darauf hinweisen, daß es Hegel nicht allein um eine solche formal-rechtliche Bestimmung der Handlung zu tun ist – damit wäre die systematische Bedeutung des Begriffs der Handlung bei Hegel schlicht unterbestimmt −, sondern daß es sich für Hegel mit der Bestimmung der komplexen dialektischen Struktur der Handlung vielmehr um die einzig denkbare Möglichkeit eines Übergangs von moralischer zu sittlicher Subjektivität handelt115: Im Rahmen seiner Handlungskonzeption macht Hegel nachdrücklich darauf aufmerksam, daß die Wahrheit des einzelnen Tuns seine Entfaltung im allgemeinen Zusammenhang ist.116 Gleiches gilt für den Zweck der moralischen Handlung; auch dieser wird als ausgeführter in seiner immanenten Allgemeinheit erkennbar und das wiederum bedeutet, daß sich der unmittelbare subjektive Zweck und der retrospektiv betrachtete Zweck voneinander in gewisser Weise unterscheiden; die jeweiligen individuellen Überzeugungen lassen sich einzig im Medium des Allgemeinen verwirklichen, und dieses Allgemeine ist für Hegel auf diesem Standpunkt die moralisch-rechtliche Allgemeinheit, innerhalb derer sich die Handlung zu bewähren hat und in der sich das Subjekt eine bestimmte Persönlichkeit zuschreibt, die es nur aus seiner Selbsterfahrung als eines tätigen Individuums gewinnen kann − es wäre aber

114

Diese These wird von Michael Quante vertreten (Hegels Begriff der Handlung. A. a.O. 225 ff.). 115 Wenn man jedoch, wie Quante – wenn ich ihn recht verstehe −, den Handlungsbegriff aus der Moraltheorie Hegels vollständig herauslöst, dann kann man systematisch auch nicht die durch die Handlung mögliche, sich selbst vollbringende Überwindung des moralischen Standpunkts in den Blick nehmen. 116 Vgl. GPR § 119.

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gar nicht tätig, wenn es nicht einzelne Absichten übergreifende moralische Zwecke verfolgen würde.117 Hinsichtlich des Zusammenhangs einer Ausbildung der Persönlichkeit durch die tätige Verwirklichung subjektiver Zwecke bemerkt Hegel: »Was das Subject ist, ist die Reihe seiner Handlungen. Sind diese eine Reihe werthloser Productionen, so ist die Subjectivität des Wollens eben so eine werthlose; ist dagegen die Reihe seiner Thaten substantieller Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums.«118 »Das Innere und Äußere«, so ergänzt die Nachschrift Hotho, »ist in dieser Identität festzuhalten.«119 Daß das Subjekt das Resultat und ›die Reihe seiner Handlungen‹ ist, ist hier wohl nicht in erster Linie im Sinne einer »Lebensführungsschuld« aufzufassen, also in dem Sinne, in dem bereits Aristoteles davon spricht, daß all das, was der Mensch ins Werk gesetzt hat, auf ihn determinierend zurückwirkt, also daß all das, was der Mensch ist, zum Teil das Ergebnis seiner Arbeit und seiner ›Sünden‹ an sich selbst ist120 − und sicher ist es ebenso richtig zu behaupten, daß eine jede zur Ausführung gelangte Entscheidung den Spielraum künftiger Entscheidungen in gewisser Weise vorgibt und begrenzt, wie sie auch neue Handlungsoptionen eröffnet. Hegel spielt mit dieser Wendung aber vermutlich auf etwas anderes an: Es geht ihm im Zusammenhang dieser Bemerkung um die Behauptung, daß objektive und subjektive Zwecke einander weder im Wollen noch hinsichtlich ihrer konkreten Ausführung ausschließen. Die Handlung und die von ihr gezeitigten Folgen erschließen sich allein, wenn man ihren subjektiv-objektiven Doppelcharakter ernstnimmt, sie gründet ebenso in der subjektiv-ideellen Zwecksetzung im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie Eigenständigkeit und Objektivität in Gestalt ihrer Folgen allein dadurch gewinnt, daß sie in allgemeine Zusammenhänge hinein wirkt. Die Verortung der einzelnen Handlung innerhalb

117

Auch Johannes Rohbeck stellt die These auf, daß Hegel »unter dem Namen Moralität« nichts anderes als ein teleologisches Modell der Handlung aufstelle, das den Übergang in die Sphäre der Sittlichkeit ermögliche und an das der Abschnitt über die Sittlichkeit ausdrücklich anknüpfe (vgl. GPR § 142). Auch Hegels Konzeption von Sittlichkeit gründe damit auf dem Modell zweckrationalen Handelns, ohne daß dabei ausschließlich die individuelle Zwecksetzung vorausgesetzt sei. (Vgl. Johannes Rohbeck: Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns. Frankfurt a.M. 1993. 106 f.) 118 GPR § 124. 119 Ilting, Bd. 3. 393. 120 Arthur Kaufmann: Das Schuldprinzip. A. a.O. 150. Kaufmann bestimmt die Handlung als dasjenige, »wodurch der Mensch sich selbst ins Dasein entwirft, wodurch er sich als Person verwirklicht oder eben diese Selbstverwirklichung verfehlt.« (Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 79.) Vgl. ferner Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1113b –1114a.

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der gesellschaftlichen Allgemeinheit von Recht, Moral und Geschichte ist für die Handlung in ihrer Genese wie in ihrer Aufnahme − auch hinsichtlich der Selbstdeutung durch das handelnde Subjekt − konstitutiv. Formale Kriterien – um noch einmal auf die These von Michael Quante zurückzukommen − reichen zur Bestimmung einer Handlung nicht aus, sondern sie erfordert die aktuelle und retrospektive inhaltliche ›Wertung‹ der Handlung sowohl durch das Handlungssubjekt selbst als auch durch andere Individuen und gesellschaftlich-staatliche Institutionen. Als Ausdruck moralischer Selbstbestimmung ist der Zweck für Hegel sowohl Ausdruck der Reflexion subjektiver Wert- und Zwecksetzung als auch der Widerschein der allgemeinen Praxis, der Normen und Sitten. Handlung ist nur in diesem formal-materialen Doppelcharakter angemessen zu beschreiben, denn zum Handeln wie zur Deutung der Handlung gehört nicht nur die Freiheit der Entscheidung, sondern auch die Umschlossenheit von einem rechtlich-moralischen Sinnhorizont. Hermann Drüe kommentiert die Behauptung, das Subjekt sei die »Reihe seiner Handlungen« ganz richtig dahingehend, daß damit der verstandesmäßige Unterschied zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Äußerlichkeit seiner Taten aufgehoben werde.121 »Weil die Entwicklung der menschlichen Person die Selbstverwirklichung des Begriffs ist und der Begriff wirklich nur als Idee ist, kann die Person nicht als Entwicklung, sondern nur als entwickeltes Resultat wirklich sein; ein Resultat aber kann nur als erschienenes bestehen. Deswegen ist das noch nicht manifeste bloße Wollen ebensowenig wert wie die innerliche gute Absicht.«122 Hegel zufolge ist das geistige Individuum eine »Totalität in sich, zusammengehalten durch einen geistigen Mittelpunkt. In seiner unmittelbaren Wirklichkeit erscheint es in Leben, Tun, Lassen, Wünschen und Treiben nur fragmentarisch, und doch ist sein Charakter nur aus der ganzen Reihe seiner Handlungen, seines Leidens zu erkennen.«123 In der Reihe der Handlungen tritt jedoch jener ›gei-

121

Im Zusammenhang der Bestimmung der ›Erscheinung‹ in Hegels Lehre vom Wesen heißt es, daß Inneres und Äußeres als »Momente der Einen Form wesentlich identisch sind«. Es ist »der gewöhnliche Irrtum der Reflexion, das Wesen als das bloß Innere zu nehmen. Wenn es bloß so genommen wird, so ist auch diese Betrachtung eine ganz äußerliche und jenes Wesen die leere äußerliche Abstraktion. […] Der Mensch, wie er äußerlich, d. i. in seinen Handlungen (freilich nicht in seiner nur leiblichen Äußerlichkeit) [ist], ist er innerlich; und wenn er nur innerlich, d.i. nur in Absichten, Gesinnungen tugendhaft, moralisch usf. und sein Äußeres damit nicht identisch ist, so ist eins so hohl und leer als das andere.« (Enzyklopädie § 140 Anm.) 122 Hermann Drüe: Psychologie aus dem Begriff. A. a.O. 310. 123 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M. 1970. 205 (= TWA, Bd. 12).

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stige Mittelpunkt‹, der »konzentrierte Einheitspunkt«, nicht für sich selbst in Erscheinung, sondern bleibt als das einheitstiftende Moment personaler oder geistiger Identität im Inneren. Die damit zugestandene Differenz zwischen dem nicht zur Erscheinung gelangenden (sich aber dennoch verwirklichenden) Kern des personalen Individuums und der Außenseite seiner sozialen Identität ist im Grunde jedoch die Konsequenz von Hegels eigenem theoretischen Ansatz, nach dem der Geist wesentlich das Prinzip der Entwicklung in sich trägt. Als Idee ist der Begriff immer nur, insofern er aus der Natürlichkeit und Äußerlichkeit in sich zurückkehrt und das Äußere und Innere in dieser Rückkehr als seine Momente selbst eingeholt werden. Es ist jedoch zugleich deutlich, daß dem existierenden Individuum diese Existenz als Idee, in vollkommener Entsprechung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, gar nicht zukommen kann, denn dem Handeln (und ganz allgemein dem lebendigen Sein) inhärent ist der Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem, denn nur in der Aufhebung solcher Widersprüche liegt das besondere Interesse der Individuen, ohne die kein Werk zustande kommt. Das Ich, wenn man so will, tritt daher niemals vollständig in sein einzelnes Tun oder in sein Werk hinaus, und auch die Reihe seiner Handlungen kann insofern niemals vollständig mit diesem personalen Kern zusammenfallen.124 Gleichwohl ist der Charakter eines Menschen »erkennbar nur als seine Geschichte«125, die Geschichte seiner Handlungen also. Was diesen Überlegungen – initiiert durch Hegels herausfordernde Bemerkung, der Mensch oder das Subjekt sei nichts als die Reihe seiner Handlungen – vorhergegangen ist, war die Klärung der Voraussetzungen der gerichtlichen Zurechnung, zu denen auch das Unrechtsbewußtsein zählt, das zwar schon einmal angesprochen wurde, zu dem wir aber noch einmal zurückkehren müssen. Es mag nun sein, daß der zurechnungsfähige Täter wissentlich und willentlich einen in der Strafnorm beschriebenen Sachverhalt verwirklicht, aber nicht weiß, daß er etwas Verbotenes tut, also kein Bewußtsein der Rechtswidrigkeit seiner Handlung hat. Der schuldlose Verbotsirrtum führt in der Regel zum Freispruch, umstritten ist jedoch, wie derjenige zu bestrafen ist, der über die Unrechtmäßigkeit seiner Tat schuldhaft irrt. Ausgangspunkt für die Diskussion dieser Frage im Rahmen der Strafrechtslehre ist indes die Frage, ob sich der Vorsatz auch auf das Unrechtsbewußtsein erstreckt. Wie wir bereits gesehen haben, äußert sich Hegel zu diesem strafrechtsdogmatischen Problem nicht ausdrücklich, es scheint aber so zu sein, als umspanne der Vorsatz, also das von Hegel so bezeichnete Recht auf Einsicht in Anse124 125

Vgl. Hermann Drüe: Psychologie aus dem Begriff. A. a.O. 312. Ebd.

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hung der Handlung als solcher, nicht zugleich das Unrechtsbewußtsein, denn dieses wird von Hegel als ›das Recht auf Einsicht in das Gute respektive in das Gesetzliche‹ bezeichnet; beide ›Rechte‹ werden also zunächst einmal ausdrücklich voneinander unterschieden.126 Die öffentliche Kenntnis der Gesetze ist daher unabdingbare Voraussetzung für ein Unrechtsbewußtsein der handelnden Individuen; auf diese Weise nimmt der Staat Hegel zufolge »dem Rechte der Einsicht die formelle Seite und die Zufälligkeit für das Subjekt«. Im § 215 der Grundlinien fordert Hegel die öffentliche Bekanntmachung des Gesetzes auch aus der Perspektive des »Rechts des Selbstbewußtseins«; es fällt für ihn schlicht unter Unrecht, dem Einzelnen die Kenntnis des geltenden Rechts vorzuenthalten. Das Gesetz gilt »gegen das Selbstbewußtsein, aber dieß hat seinerseits das Recht, daß es die Gesetze kennen muß.« Das Individuum muß die Gesetze »kennen und erkennen können.«127 Wenn hier aber die Rede vom Kennen und Erkennen des Gesetzes gleichermaßen ist, dann wird deutlich, daß Hegel zufolge die äußere Kenntnis des Gesetzes mit dem Recht des Selbstbewußtseins auf Einsicht in das, was gelten soll, zu vermitteln ist. Die Kodifizierung von Gesetzestexten stellt daher für Hegel einen »Akt der Gerechtigkeit« dar, denn das Recht »betrifft die Freiheit, dieß würdigste, heiligste im Menschen, das was für seinen Willen verbindlich sein soll muß er selbst wissen«128 und darf nicht das Monopol des Juristenstandes sein. 126

Günter Schewe verweist im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Verhältnis von Vorsatz und Unrechtsbewußtsein auf zwei divergierende Gelehrtenmeinungen innerhalb der Strafrechtslehre: Während die sogenannte »Vorsatztheorie« davon ausgehe, daß das Unrechtsbewußtsein zum Vorsatz gehört, gingen die Vertreter der »Schuldtheorie« hingegen davon aus, daß das Unrechtsbewußtsein ein selbständiges Schuldelement darstellt und der Vorsatz daher durch einen Irrtum über das Unrecht keineswegs ausgeschlossen wird. Vgl. Günter Schewe: Bewußtsein und Vorsatz. A. a.O. 22. 127 Ilting, Bd. 4. 543. 128 Ebd. Abgesehen von dem genannten allgemeinen Grundsatz, daß das, was allgemein gelten soll, auch hinreichend bekannt gemacht sein muß und die Kenntnis des Gesetzes (hier also das Unrechtsbewußtsein zum Zeitpunkt einer gesetzwidrigen Tat) für den Schuldvorwurf unabdingbar ist, ist in diesem Zusammenhang ferner daran zu erinnern, daß das Prinzip: »Keine Strafe ohne Gesetz« (nulla poena sine lege) auch heute noch ein Grundsatz des materiellen Strafrechts ist − und dieser Grundsatz genießt Verfassungsrang (vgl. Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes). Dieses Rechtsprinzip, dem zufolge ohne ein bestimmtes Gesetz keine Strafe für ein Vergehen verhängt werden darf, impliziert erstens das Bestimmtheitsgebot, welches besagt, daß der Wortlaut des Gesetzes hinreichend genau bestimmt sein muß − allerdings ist der Gesetzgeber nicht gehindert, Umschreibungen zu verwenden, die eine Wertung durch den Anwender des Gesetzes voraussetzen (wie z. B. »hoher Schaden«) −, zweitens das Rückwirkungsverbot, welches die rückwirkende Strafbarkeit einer Handlung ausschließt, drittens das Analogieverbot, welches das Bestimmtheitsgebot ergänzt und verhindern soll, daß der Anwender des Geset-

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Die allgemeine Kenntnis des Gesetzes ist für Hegel als ein Moment jener bereits angedeuteten »Teilhabe an der sittlichen Substanz«129 zu verstehen, die für ihn als normative Grundlage der Zurechnung gilt. Der Begriff des Menschen enthält Hegel zufolge, wie wir gesehen haben, die »Bestimmung der sich wissenden Allgemeinheit schlechthin in sich«130; unter den Bedingungen staatlicher Sittlichkeit und einer allgemein verbindlichen Rechtsordnung stimmt dieser Begriff jedoch mit der Existenz des Menschen überein (das ist für Hegel der Legitimationsgrund des modernen Staates). Auch wenn diese Teilhabe des Einzelnen an den rechtlichen und ethischen Normen einer Gesellschaft, den allgemeinen Sitten – die sich in der freien und vernünftigen, d. h. recht- und sittengemäßen Entscheidung des Einzelnen äußert − zumindest nicht unmittelbar erkennbar ist131, stellt sie für Hegel doch den normativen Grund der Zurechnung dar. Mag sie auch eine »Unterstellung« und »nicht ein wahrzunehmendes Faktum«132 sein, so ist doch deutlich, daß das Recht des besonderen Willens gegenüber dieser unterstellten oder vorausgesetzten Teilhabe nach Hegel keine eigenständige Bedeutung beanspruchen kann. – Ob der subjektive Wille (der sich bewußt gegen das Allgemeine richtet) tatsächlich im hier zunächst einmal unterstellten Sinne ›Entscheidungsfreiheit‹ hat, ist ein Problem, das nicht erst die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts und auch nicht erst die Neurowissenschaften unserer Tage beschäftigt hat, das jedoch im Zusammenhang dieser Arbeit schwerlich angemessen diskutiert werden kann.133 – Neben dieser Unterstellung der ›Vernunftallgemeinheit‹ des Menschen (ein Terminus, der, soweit ich sehe,

zes den Wortlaut des Gesetzes überschreiten oder umgehen kann und schließlich viertens ist ein Berufen auf Gewohnheitsrecht im Sinne von nicht-kodifiziertem Recht untersagt. Vgl. auch den Art. in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/ Nulla_poena_sine_lege). 129 Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. A. a.O. 51. 130 GPR § 140 Anm. 131 Ob sie deswegen, wie Seelmann behauptet, tatsächlich in gar keinem Verfahren theoretisch oder empirisch feststellbar ist, sei dahingestellt (vgl. Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. A. a.O. 51). 132 Ebd. 133 Ich verweise hier auf das Kapitel 6.3.1.3 (Berner), in dem ich u. a. auf Karl Ferdinand Hommel eingehe, einen einflußreichen Vertreter der aufklärerischen Strafrechtslehre des 18. Jahrhunderts und seines Zeichens entschiedener Vertreter des deterministischen Standpunkts. Schon Hommel setzt sich mit der Frage auseinander, ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht vielmehr, insofern er natürliches Wesen ist, einzig den Gesetzen der Kausalität unterworfen ist. Und aufgrund der von Hommel angeführten natürlichen Bedingtheit des Menschen muß seiner Ansicht nach auch das Schuldprinzip aus dem Strafrecht getilgt werden. Strafe läßt sich Hommel zufolge nur dadurch rechtfertigen, daß sie einen gesellschaftlichen Nutzen hat.

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auf Seelmann zurückgeht) findet sich jedoch noch eine weitere Unterstellung, die von Hegel im Rahmen seiner Straftheorie angeführt und daher auch von mir erst im Zusammenhang meiner Darstellung derselben erörtert werden wird, die hier jedoch kurz angesprochen werden soll, da sie in gleicher Weise die Zurechnungsproblematik betrifft und eine gewisse Spannung zu dem hier Dargestellten erzeugt: Hegel geht nämlich davon aus, daß unter den Bedingungen einer in sich gefestigten bürgerlichen Rechtsordnung der Täter gerade nicht mehr nach Maßgabe seiner (unterstellten) Vernunftallgemeinheit behandelt wird; im Rahmen einer allgemein anerkannten Rechtsordnung gilt das Verbrechen nicht mehr als nachahmenswertes ›Exempel‹ oder als ein sich gegenüber der allgemeinen Ordnung behauptendes Recht, sondern als vom ›Normalen‹ abweichendes Verhalten, das weniger auf die Freiheit des Menschen denn auf natürliche Einfluß- oder Determinationsfaktoren zurückgeführt wird.134 − Woraus sich dann die Konsequenz ergibt, daß die begriffliche Begründung von Strafe zu Gunsten einer gesellschaftlichen Perspektive auf den allgemeinen Nutzen von Strafe in den Hintergrund tritt.135 Kritisch gewendet bedeutet dies aber gerade, daß der Verbrecher unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen auf heteronom-präventive Weise behandelt wird, nicht aber nach Maßgabe seiner immanenten ›Vernunftallgemeinheit‹. Bis hierhin läßt sich zusammenfassend sagen: Hegels philosophische Zurechnungslehre geht von einem sich selbst bestimmenden, jedoch stets innerhalb vorgegebener gesellschaftlicher (Vernunft-)Strukturen agierenden und von diesen wiederum determinierten Subjekt mit berechtigten individuellen Zwecken und vor dem Hintergrund des allgemeinen Normhorizontes dechiffrierbaren sinnhaften Überzeugungen aus, das sich in seinen Handlungen objektiviert. Dieser Vernunftstruktur der Handlung entsprechend, bedeutet Zurechnung, den geäußerten objektivierten Akt bis zu seinem Grund in der subjektiven Willensbestimmung zurückzuverfolgen.136 Was eine Handlung ist, ergibt sich jedoch nicht erst aus der Zurechnung als solcher oder wird nicht erst mit ihr ›auf die Welt gebracht‹ (nicht: wo zugerechnet wird, liegt eine Handlung vor), sondern die Handlung im Sinne eines bestimmten Verhältnisses des Subjekts zu seinem von ihm geäußerten Willen soll durch die Zurechnung offengelegt werden (also: eine Handlung ist, was zugerechnet werden kann).137 Dieser Gedanke impliziert, daß

134 135 136 137

Vgl. Ilting, Bd. 3. 663. Vgl. ebd. Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 321. Vgl. ebd.

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es Hegel nicht darum zu tun ist, den Akt der Zurechnung an eine bestimmte Instanz zu delegieren, sondern er bezieht den Standpunkt des handelnden und auf sich selbst reflektierenden Subjekts explizit und konstitutiv in seine handlungs- und zurechnungstheoretischen Überlegungen ein. Wenn die genannten Ebenen der Zurechnung (Vorsatz, Absicht, Gewissen) jeweils eine bestimmte Form des Wissens im Sinne des Für-sich-Seins des subjektiven Willens in der Objektivität seines Handelns bezeichnen, so kann Hegel nicht darauf aus sein, dem Subjekt seinen, wenn auch vielleicht nicht privilegierten, Deutungsanspruch hinsichtlich der eigenen Handlung und ihrer Motivation abzusprechen.138 Es tritt jedoch mit Notwendigkeit eine allgemeine Qualifizierung der Handlung zu der eigenen Beurteilung des Handelnden − dem Wissen um seine Absicht − hinzu, die beide idealer Weise miteinander übereinstimmen; dieses allgemeine Prädikat bringt zum Ausdruck, daß die »vereinzelte Bestimmtheit der äußerlichen Wirklichkeit [das] zeigt […], was ihre Natur ist, als äußerlichen Zusammenhang.«139 Die allgemeine Natur der Handlung läßt sich also in diesem allgemeinen Prädikat aussagen. Damit ist gesagt, daß es eine Entsprechung gibt oder geben muß zwischen dem sprachlich verfaßten Urteil, in dem die allgemeine Natur der Handlung ausgesagt wird, und der der Handlung immanenten Allgemeinheit, die sich einerseits äußerlich darstellt, insofern sich das einzelne Tun im Realzusammenhang entfaltet, und andererseits, subjektiv, in der Vernunft des Handlungssubjekts und in der Allgemeinheit seines Zwecks selbst begründet ist. Die allgemeine Qualifizierung der Handlung ist damit freilich nicht dem Handelnden vorbehalten, so wie die juristische Imputation über die subjektive Beurteilung der Recht- oder Unrechtmäßigkeit der eigenen Handlung hinausgehen muß, aber im allgemeinen Urteil über die Handlung − wie im ›objektiven Urteil‹ des Richters, der über Schuld oder Unschuld des Angeklagten befindet − ist das subjektive Wissen in positiver Weise aufgehoben.140 Hegel gesteht dem Täter demnach ein hohes Maß an Fähigkeit zu, die von ihm verübte Tat in 138

Vgl. in diesem Zusammenhang meine Kritik an der Behauptung Robert Pippins, der zufolge die von Hegel als maßgeblich angesehene Handlungskonzeption im Abschnitt über ›das geistige Tierreich‹ in der Phänomenologie des Geistes zu finden sei. Die dort vorgetragene (und aus meiner Sicht, und damit im Widerspruch zu Pippin, von Hegel eher kritisierte denn affirmierte) Handlungskonzeption betont gegenüber der hier diskutierten Konzeption im Moralitätskapitel der Grundlinien, daß der Handelnde seinen Zweck nur aus der vollendeten Gestalt der Handlung erfahren, daß ihm also sein innerer Zweck allein vermittels seiner Objektivität in der sozialen Wirklichkeit bewußt werden könne und das Subjekt der Handlung durchaus kein Wissen seines Zwecks haben könne, bevor es diesen verwirklicht hat. (Vgl. den Abschnitt 5.3.1 der vorliegenden Arbeit.) 139 GPR § 119 Anm. 140 Vgl. ebd. § 132.

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ihrem rechtlich-ethischen Zusammenhang zu erfassen; auf diesem Zugeständnis beruht, wie wir sehen werden, auch seine Konzeption von Strafe.

5.1.5 Imputation der Folgen einer Handlung Es sollte deutlich geworden sein, daß das, was zunächst − ausgehend von Hegels Äußerung, die Tat könne nur als »Schuld des Willens«141 zugerechnet werden − als eine stark subjektive Bestimmung der Zurechnung erscheinen mag (vor deren Hintergrund es insgesamt den Anschein haben mag, als habe Hegel den Umkreis der strafrechtlichen Handlung sehr eng gezogen), in den folgenden Paragraphen nach Maßgabe der Vertiefung des Schuldbegriffs eine deutliche Erweiterung erfährt. Der Umkreis der strafrechtlichen Zurechnung kann sich nicht ausschließlich am Vorsatz- und Absichtswissen des Handelnden bemessen. Das Prinzip der Willensschuld erfährt also dadurch eine Korrektur, daß diesem das normative Prinzip der Haftung auch für die notwendig mit der Handlung verbundenen Folgen zur Seite gestellt wird.142 Und zwar so, daß das Prinzip der Erfolgshaftung letztlich auf das Prinzip der Willensschuld zurückgeführt und die Willensschuld keineswegs ausschließlich als Ausdruck der Besonderheit der subjektiven Willensbestimmung aufgefaßt wird: Das Subjekt kann nur dann die Schuld an seiner Handlung tragen, wenn es in einem denkenden und damit zugleich am Allgemeinen orientierten Selbstverhältnis steht. Der denkende Wille umgreift damit also auch die Handlung in ihrer Äußerlichkeit sowie die ihr notwendig angehörigen Folgen, aber nicht so, daß auch alle unvorhersehbaren und zufälligen Folgen in diesem Wissen aufgehoben sind. Das Handlungssubjekt, dem sein Handeln auch in der Perspektive der Folgenabschätzung zugerechnet wird, muß demnach Hegel zufolge nicht nur ein Wissen im Sinne der normativen Selbstverantwortung seines Tuns haben, vielmehr ist hier gleichermaßen ein – freilich immer eingeschränktes − Wissen um die durch die Handlung initiierten kausalen Prozesse vorausgesetzt, damit die notwendig mit der Handlung gesetzten Folgen abgeschätzt werden können. Die Rede von der normativen Selbstverantwortung ist dabei als ein notwendiger, weil freiheitsbegründender Akt der Selbstzuschreibung von Verantwortung eines freien, aber endlichen Vernunftwesens zu verstehen.143

141

Ebd. § 117. So auch Wilhelm Grewe: Gnade und Recht. Hamburg 1936. 107. 143 Zugleich rückt Hegel dieser Deutung zufolge in eine gewisse Nähe zu Kant, denn Kant begreift Autonomie als die Fähigkeit zur vernünftigen, d. h. sittlich-vernünftigen 142

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Dieselbe oben dargestellte Struktur der Widersprüchlichkeit, wie sie Hegels Begriff der Handlung innewohnt, insofern sich das zwecksetzende und diesen Zweck verwirklichende Subjekt stets einer Objektivität gegenüber findet, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit am verwirklichten Zweck geltend macht, tritt also auch und vor allem dort zutage, wo es um das Problem der Zurechnung der Folgen einer Handlung geht, denn die Folgen sind nicht »meine unmittelbare Handlung selbst, sie gehen aber daraus hervor.«144 War Kant noch der Meinung, daß, wer die in menschlicher Willkür gründende Handlung als frei und damit zurechenbar ansieht, fraglos auch die Folgen einer Handlung dem Akteur zurechnen muß (wenngleich der Aspekt der Übernahme der Verantwortung für die Folgen einer Handlung für Kant, wie bereits am Rande erwähnt, nicht der entscheidende ist), so stellt sich das Verhältnis von unmittelbarer Handlung und Handlungsfolgen für Hegel als durchaus problematisch dar, denn die Handlung ist der in die Äußerlichkeit übersetzte und sich damit verselbständigende innerlich gefaßte Zweck. Vor dem Hintergrund dieser Frage, inwieweit auch die Folgen einer Handlung dem Subjekt der Handlung zuzurechnen sind, gelangt Hegel zu der Forderung nach Bestimmung der allgemeinen Natur der Handlung, die für ihn in der dialektischen Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem besteht, mit der Folge einer prinzipiellen Verwobenheit dieser beiden Sphären im Realzusammenhang. Die Reflexion auf die allgemeine Natur der Handlung führt Hegel zu der Unterscheidung zwischen den notwendigen und den zufälligen Folgen (oder: den Haupt- und Nebenfolgen) einer Handlung. Diese Unterscheidung basiert auf dem Versuch einer spekulativen Vermittlung der beiden jeweils für sich genommen einseitigen Versuche, die Handlung entweder lediglich aufgrund der subjektiven Intention und Gesinnung zu beurteilen – was, zu einer ethischen Position abstrahiert, von Max Weber später als Kennzeichen einer »Gesinnungsethik« kritisiert wurde145 − Selbstbestimmung, dadurch werden »Freiheit und (prospektive) moralische Verantwortlichkeit zu gleichursprünglichen Konzepten: Dadurch, dass ich mich selbst als autonomes Vernunftwesen bestimme, schreibe ich mir zugleich moralische Verantwortung zu, nämlich die Verpflichtung, mein Handeln an allgemein akzeptablen ›Gesetzen‹ zu orientieren.« Verantwortung ist damit für Kant gleichermaßen Ausdruck wie Grund der Freiheit. (Micha H. Werner: Art.: »Verantwortung«. – In: Handbuch Ethik. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner. Stuttgart/Weimar 2006. 541– 548; hier 544.) 144 Ilting, Bd. 4. 316. 145 Max Weber, der freilich nicht im engeren Sinne rechtliche, sondern politischethische Zusammenhänge im Auge hat, spricht von einem »abgrundtiefe[n] Gegensatz« zwischen den beiden Optionen, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handele oder in verantwortungsethischem Sinne. Der »gesinnungsethische Syndikalist« ignoriere

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oder bloß aufgrund der von ihr hervorgebrachten Konsequenzen, also unter Rückschluß von den Handlungsfolgen auf die Handlungsqualität, was jedoch auf eine Mißachtung der von Hegel betonten Rechte des Subjekts hinausliefe, sich in der Objektivierung subjektiver Inhalte wiederzuerkennen. (Man kann in der Beurteilung der Handlung aufgrund ihrer Folgen das im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits verschiedentlich erwähnte, dem Altertum eigentümliche Prinzip der Erfolgshaftung sehen oder auch utilitaristische Ansätze, denen zufolge die Handlung einzig vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen Auswirkungen in der Nutzen-Schaden-Kategorie betrachtet wird). Eine Vermittlung dieser beiden Positionen, wie sie von Hegel angestrebt wird, muß die Folgen einer Handlung als die »immanente Gestaltung der Handlung selbst« begreifen; in den Folgen manifestiert sich Hegel zufolge die allgemeine Natur jeder Handlung; sie sind »die Gestalt [der Handlung], die den Zweck der Handlung zur Seele hat«146; die Folgen sind daher auch »nichts als die Explikation meiner Handlung«147. Ebenso können die Folgen aber auch das »äußerlich Eingreifende und zufällig Hinzukommende«148 enthalten, was die Natur der Handlung selbst nichts angeht, so daß sie sich schließlich in nachgerade »entfernte, fremde

die Folgen seiner Handlung und wenn diese Folgen üble sind, »so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, […] er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. ›Verantwortlich‹ fühlt sich der Gesinnungsethiker hingegen nur dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt.« Der Gesinnungsethiker ertrage die »ethische Irrationalität der Welt nicht. Er ist kosmisch-ethischer ›Rationalist.‹« Die Taten des Gesinnungsethikers haben Weber zufolge daher auch nicht mehr als bloß »exemplarischen Wert«. Aus seiner Sicht scheitert die Gesinnungsethik unweigerlich gerade an dem ethischen Problem der »Heiligung der Mittel durch den Zweck«, denn damit würden die Kategorien von Gesinnung und Verantwortung gemischt und so sei es ihr schlechterdings nicht möglich, das zu begründen, was sie sich zu ihrer eigenen Maxime mache, nämlich anzugeben, welcher Zweck welches Mittel und welche Folgen heilige. (Max Weber: Politik als Beruf. – In: Ders.: Politik und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2006. 565–610; hier 603 f.) Man könnte auch sagen: Verantwortungs- und Gesinnungsethik unterscheiden sich durch die Definition des Gegenstands der moralischen Verantwortung: Der Bereich, für den der Gesinnungsethiker die Verantwortung übernimmt, beschränkt sich auf sein eigenes Gewissen, der Verantwortungsethiker dagegen sorgt sich auch um die Außenwelt. (Vgl. Micha H. Werner: Art.: »Verantwortung«. – In: Handbuch Ethik. A. a.O. 544.) 146 GPR § 118. 147 Ilting, Bd. 4. 316. 148 GPR § 118.

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Folgen«149 fortwälzt. Hier stellt sich nun für Hegel aufgrund seines dialektischen Handlungskonzepts die besondere Schwierigkeit ein, einerseits dem Recht des moralischen Subjekts Rechnung zu tragen, dem gemäß es sich allein dasjenige als seine Handlung und damit als seine Schuld zurechnen muß, was in seinem Wissen und Willen gelegen hat150 und andererseits dem mit der Handlung gesetzten »Recht der Objectivität der Handlung«151. Hegel kleidet das widersprüchliche Verhältnis von bewußtem vorsätzlichen Tun und nicht intendierten Handlungsfolgen in das sprichwörtliche Bild: »Der Stein aus der Hand ist des Teufels«152. Die äußere Mannigfaltigkeit der Umstände, die in ihrer Komplexität und vollständigen Entwicklung niemals vollends antizipierbar ist, wird das Intendierte unausweichlich verändern. Die Dialektik des Zurechnungsproblems hinsichtlich der Folgen einer Handlung und die juristische Herausforderung, die damit verbunden ist, hat Hegel zufolge also darin ihren Grund, daß in der Beschreibung der Handlung dieser eigentümliche und fremde Folgen in einander übergehen. Und dennoch muß das bewußte Handeln dieses Wissen um mögliche, aber kontingente äußere Einflüsse umfassen und sich tatsächlich in einem verantwortungsethischen Sinne zu den Folgen des eigenen Handelns verhalten: »In einer wahrhaften Handlung müssen die Folgen im Voraus aufgeopfert seyn.«153 Das bedeutet, daß der Handelnde über die Folgen, die sein Handeln zeitigt, nicht mehr frei verfügen kann; er opfert sie gleichsam einem Höheren, nämlich der in sich prozeßhaften Wirklichkeit, auf. Und mit der Handlung als Ganzem muß sich der Handelnde zugleich deren einzelne, notwendige Folgen zurechnen lassen. Selbst wenn diese notwendigen, da in der allgemeinen Natur der Handlung gründenden Folgen vom Täter also nicht unmittelbar beabsichtigt waren, müssen sie ihm zugerechnet werden können, finden sie doch ihren Grund in der vorsätzlichen Handlung, als deren Allgemeinheit sie sich darstellen. – Mit anderen Worten: Das normative Moment von Hegels Handlungslehre liegt darin, daß das moralische Subjekt an seiner ihm von Hegel zugedachten Freiheit, die es auf subjektive Weise verwirklicht, gemessen werden muß. Dieser normative Handlungsbegriff liegt auch Hegels Begründung von Strafe zugrunde, die ebenfalls auf der begrifflichen Voraussetzung beruht, daß der Handelnde in seinem Handeln ein allgemeines Gesetz aufstellt, dessen Geltung er behauptet und an dem er gemessen werden muß; mit Hegels Konzeption der Strafe werde ich mich allerdings gesondert befassen müssen. 149 150 151 152 153

Ebd. § 118 Anm. Vgl. ebd. § 117. Ebd. § 120. Ilting, Bd. 4. 326. Ilting, Bd. 1. 284.

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Gerade der oben angesprochene allgemeine Charakter der Handlung ist es aber auch, der jede Handlung als ihrer Grundstruktur nach dilemmatisch erscheinen läßt. Jeder Handlung konstitutiv ist ein Defizit des Wissens: der Handelnde wird niemals alle Implikationen der Verwirklichung seines Zwecks voraussehen können. Die Wirklichkeit ist per se und nicht erst seit der globalen Industrialisierung mit ihren ebenso globalen ökonomischen und ökologischen Auswirkungen von solch einer enormen Komplexität, daß eindeutige Prognosen über die Folgen einer Handlung, v.a. im Sinne einer politischen oder technologischen Entscheidung, unmöglich sind, und zugleich erforderlicher denn je scheinen.154 Dieses Dilemma oder, wie man auch sagen könnte: diese tragische Situation, in der sich auch und vielleicht gerade der moderne Mensch befindet, mag praktisch zu den Extremen des Dezisionismus einerseits oder der resignativen, fatalistischen oder gar zynischen Haltung andererseits führen, für die Handeln generell und durchweg determiniert ist. Beides kann jedoch keine Alternative zum überlegten Handeln innerhalb der zu bestimmenden objektiven und subjektiven Möglichkeit darstellen.155

154

Mit der Frage, wie Verantwortung in zunehmend komplexen gesellschaftlich-globalen Strukturen zu bestimmen sei, beschäftigt sich inzwischen, meist mit interdisziplinärem Anspruch, eine unüberschaubare Menge von Studien. Zunächst einmal ist der Band: Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen. Herausgegeben von Weyma Lübbe. Berlin 1994 zu nennen; ferner: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung. Herausgegeben von Matthias Kaufmann und Joachim Renzikowski. Frankfurt a.M. u. a.O. 2004 und schließlich Ludger Heidbrink: Kritik der Verantwortung. A. a.O. (bes. 287 ff.). 155 Die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Möglichkeit geht auf Georg Lukács zurück; er verwendet sie in dem Sinne, daß er die subjektive Möglichkeit, also den subjektiven Handlungsspielraum, stets auf den ontologisch-objektiv zugrundeliegenden, den es philosophisch und naturwissenschaftlich zu bestimmen gelte, bezogen wissen will. Vgl. Georg Lukács: Ontologie des gesellschaftlichen Seins (Prolegomena). I. Halbband. Herausgegeben von Frank Benseler. Darmstadt und Neuwied 1984. 164 ff. Das Problem eines dieser Grundstruktur allen Handelns angemessenen Begriffs von Verantwortung angesichts komplexer Zusammenhänge beschäftigt Lukács auch im Rahmen seiner Versuche der Begründung einer materialistischen Verantwortungsethik; insofern lohnte sich meines Erachtens eine eigene Studie zum Verhältnis von Hegel und Lukács in Bezug auf das hier verhandelte Problem und im Ausgang ihrer jeweiligen Handlungskonzeption. (Vgl. dazu den Aufsatz der Verf., in welchem dem Verhältnis von Hegel und Lukács in dieser Hinsicht im Ansatz nachgegangen wird: Bemerkungen zu Lukács’ Konzeption einer marxistischen Ethik. – In: Christoph J. Bauer, Britta Caspers und Werner Jung (Hgg.): Georg Lukács – Kritiker der unreinen Vernunft. Duisburg 2010. 161–182.) Daß das Ausloten konkreter Handlungsspielräume auch auf das Verhältnis von Technik und Geschichte verweist, macht Johannes Rohbeck deutlich (vgl. Johannes Rohbeck: Technologische Urteilskraft. A. a.O. 246 ff.).

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Es liegt daher nahe, Hegels Handlungs- und Zurechnungslehre ihrem Ansatz nach als eine ›normative Verantwortungsethik‹ zu beschreiben – selbst wenn verschiedentlich Stimmen laut werden, die dies bestreiten. So verwahrt sich etwa Stephan Stübinger gegen die Zuschreibung, Hegel vertrete einen verantwortungsethischen Ansatz, und begründet dies damit, daß der Terminus ›Verantwortungsethik‹156 heute üblicherweise in einem prospektiven Sinne gebraucht würde (im Sinne einer Zuschreibung von Verantwortlichkeit zukünftige Entwicklungen betreffend), bei Hegel sei jedoch von Verantwortung im Sinne einer retrospektiven Zuschreibung und in tatschuldausgleichender Funktion die Rede.157 Wenn vorhin aus einer Nach-

156

Der Begriff Verantwortung wird in der Tat in verschiedener Weise verwendet; als eine Gruppe von Verwendungsweisen taucht er als ein Zuschreibungsbegriff auf, der entweder in retrospektivem oder in prospektivem Sinne gemeint sein kann. Unter die prospektive Zuschreibung von Verantwortung fallen dann in einem weiteren Sinne auch die »Fürsorgeverantwortung« oder die »Zukunftsverantwortung« im Sinne der Verantwortung für die Weiterexistenz der menschlichen Verantwortungsgemeinschaft überhaupt. Mit der retrospektiven Zuschreibung ist dann im engeren Sinne gemeint, daß einem Handelnden der mittelbare oder unmittelbare Handlungserfolg zu imputieren ist. Diese Bedeutung wird dann auch unter dem Terminus der »Rechenschaftsverantwortung« gefaßt. Eine eher »metaphorische Begriffsverwendung« ist die sogenannte »Kausalverantwortung«, da damit lediglich eine Kausalbeziehung gemeint ist (wie z. B.: ›Der Kurzschluß ist verantwortlich für den Hausbrand‹). Und wie oben ausgeführt wird, besteht zwischen der retrospektiven und der prospektiven Verantwortung eine Korrespondenzbeziehung, die über normative Standards vermittelt ist: Nur weil und insofern prospektive Verantwortlichkeiten bestehen, können Personen retrospektiv für deren Verletzung verantwortlich gemacht werden. Der Verantwortungsbegriff im Sinne des Zuschreibungsbegriffs läßt sich als mindestens dreistellige Relation kennzeichnen: Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsgegenstand) vor oder gegenüber jemandem verantwortlich (Verantwortungsinstanz). Allerdings ist es sinnvoll, in dieser Relation viertens den Normhintergrund zu berücksichtigen (d. h. jemand ist aufgrund bestimmter normativer Standards verantwortlich). Vgl. Micha H. Werner: Art.: »Verantwortung«. – In: Handbuch Ethik. A. a.O. (Bes. 542 f.; vgl. ferner den Art.: »Verantwortung« von Jacek Filek in: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. A. a.O. 407–418.) 157 Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 309. Demgegenüber wird die Auffassung, daß Hegel einen dezidiert verantwortungsethischen Ansatz vertrete, u. a. von Josef Derbolav (Hegels Theorie der Handlung. A. a.O. 215) und Heiko Hartmut Lesch (Der Verbrechensbegriff. Grundlinien einer funktionalen Revision. Köln u. a. 1999. 99 ff.) formuliert. In diesem Sinne und mit Blick auf Hegels Handlungslehre im Moralitätskapitel der Grundlinien spricht auch Ludger Heidbrink davon, daß Hegel das Tor zu einer »kontextualistischen Verantwortungsethik« öffne. (Ludger Heidbrink: Kritik der Verantwortung. A. a.O. 74.) Für Heidbrink ist es ein Kennzeichen der »Modernität« von Hegels Handlungslehre, daß er die Verselbständigung der Folgen einer Handlung als ein eigenständiges Problem der moralischen Handlungslehre behandelt. Kritisch gegenüber Hegel heißt es dann jedoch, daß das »Prinzip der Verantwortung […] zu einer transsubjektiven Kategorie und zur Pflichterfüllung des Einzelnen gegenüber der Rechtmäßigkeit

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schrift zitiert wurde, daß in »einer wahrhaften Handlung […] die Folgen im Voraus aufgeopfert seyn [müssen]«, und Hegel selbst davon spricht, daß dem Handelnden die Kenntnis der allgemeinen Natur der Handlung angesonnen und von ihm erwartet werden muß, daß er zur verantwortlichen Übernahme der notwendig durch die Handlung eintretenden Folgen bereit ist, dann geht aus diesen Aussagen meines Erachtens klar hervor, daß es Hegel nicht ausschließlich um eine Zuschreibung von Handlungsverantwortlichkeit in einem retrospektiven Sinne zu tun sein kann. Darüber hinaus führt eine bloß retrospektive Zuschreibung von Verantwortung, die nicht in der prospektiven Zuschreibung derselben ihren Grund hat, in Begründungsdes Ganzen degradiert« und die verantwortungsethische Autonomie bei ihm zu einem Reflex der substantiellen Sittlichkeit werde, in dem »kein Platz für die eigenständige Verantwortlichkeit des Individuums [bleibt]« (ebd. 75). Heidbrink behauptet damit, daß dem Einzelnen von Hegel immer weniger zugemutet wird, die Verantwortung für sein selbstbestimmtes Handeln zu tragen und diese stattdessen auf die institutionellen Prozesse verlagert wird. Verantwortung bedeute demnach im Ganzen der Hegelschen Rechtsphilosophie nichts weiter als die »Rechtfertigung objektiver Entscheidungen« (ebd. Fußnote 75). In diesem Zusammenhang muß man jedoch berücksichtigen, daß auch die Rechtfertigung objektiver Entscheidungen für Hegel das kritische Moment nicht ausschließt, denn es läßt sich eben nicht jede Entscheidung verantworten oder rechtfertigen, nur weil sie von gesellschaftlich-staatlichen ›Institutionen‹ getroffen wurde. Wenn Heidbrink konstatiert, daß der Begriff der Verantwortung bei Hegel kaum explizite Verwendung findet, dann ist dem gewiß zuzustimmen – dies ist jedoch aus meiner Sicht keineswegs als Indiz dafür zu werten, daß Hegels Gesellschafts- und Staatskonzeption Verantwortung einzig ›von oben‹ zuteilt, den Individuen überhaupt die Verantwortung für ihre Entscheidungen in allgemeiner Perspektive abspricht oder ihnen systematisch den Handlungs- und Entscheidungsspielraum beschneidet. Überdies verdankt der Begriff der Verantwortung seinen enormen Bedeutungszuwachs erst der allgemeinen politischen und technischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts − wie dem Vorwort von Hans Jonas zu seinem Buch Das Prinzip Verantwortung zu entnehmen ist, das erstmals 1979 erschienen ist. Systematisch diskutiert wird er erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und inzwischen ist er geradezu zu einem Schlagwort im politischen und ethischen Diskurs geworden, das dem Begriff der Pflicht partiell seinen Rang streitig gemacht hat − was sicherlich vor allem auf die Auflösung traditioneller Moralordnungen zurückzuführen ist, aber wohl auch darauf, daß in modernen, durch Technisierung und Systemintegration geprägten Gesellschaften dem von Jonas konstatierten (und bei Hegel vorgeprägten) veränderten Wesen menschlichen Handelns auch in ethischer Hinsicht Rechnung zu tragen ist. (Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. 1984. 15.) Ganz grundsätzlich ist Heidbrink entgegenzuhalten, daß gerade Hegels Staatskonzeption die ›Politisierung‹ des Subjekts, also die Übernahme politischer Verantwortung im eigenen Interesse und nach Maßgabe des übergreifenden Zwecks einer Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinen fordert. Insbesondere der Hegelsche Staatsentwurf erfordert daher zwingend die Zuteilung und Übernahme von Verantwortlichkeit in beide Richtungen, nach oben und unten, und auf allen Ebenen der sozialen und politischen Institutionen und dies v.a. deswegen, weil seine Konzeption auf den Prinzipien der Partizipation und Repräsentation beruht.

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schwierigkeiten, denn das Recht kann nicht rückwirkend jemanden zur Verantwortung ziehen, dem nicht grundsätzlich und im Vorhinein bestimmte Verantwortlichkeiten im Sinne eines festzulegenden Maßes an Umsicht und ein Mindestmaß an Handlungswissen zugeschrieben wurden. Gerade Hegels Handlungskonzeption erfordert also im Grunde zwingend eine Diskussion der Zurechnungsmodalitäten im Bereich der Fahrlässigkeit, die er erstaunlicher Weise nicht ausdrücklich behandelt, obwohl sie gleichsam mit Händen zu greifen ist. Gerade mit Blick auf Hegels Überlegungen hinsichtlich der dialektischen Entfaltung der Handlung im Realzusammenhang wird deutlich, daß es ihm hier im Rahmen seiner Handlungs- und Zurechnungslehre auch um die normative Dimension des Begriffs vom Menschen im Recht geht. Ganz grundsätzlich und implizit behandelt er hier also auch die Frage, wie der Mensch und wie das menschliche Handeln beschaffen sind, die vom Recht zum Objekt rechtlicher Setzungen gemacht werden. Dann aber darf die von Hegel entwickelte Lehre von der Handlung auch nicht in einem bloß formalen Sinne aufgefaßt werden, sondern die Handlung als die dem Menschen eigentümliche Äußerungsweise erhellt zugleich die Situation des Menschen innerhalb des natürlich-gesellschaftlichen Seins. Aus dem von Hegel erarbeiteten Begriff der Handlung kann allererst die begründete Forderung nach ethisch-rechtlichen Konzepten zumutbarer Folgenverantwortung erwachsen. Erst vor dem Hintergrund der Erkenntnis, daß subjektive Zwecke im Moment ihrer tätigen Ausführung in ein ›Sein für Anderes‹ umschlagen und durch die Handlung − die immer schon in einer Beziehung auf den Willen und die Freiheit Anderer und auf die Normen der jeweiligen Gesellschaftsordnung steht − einerseits mögliche Kausalreihen initiiert werden (dies betrifft beispielsweise die technologische Folgenverantwortung) und andererseits wieder zum Grund weiterer teleologischer Setzungen werden, ist es möglich und erforderlich, ein normatives Prinzip von Verantwortung zu begründen, das der dialektischen Struktur menschlichen Handelns wie der komplexen Eigendynamik gesellschaftlicher Prozesse Rechnung trägt. Hegels Theorie der Handlung formuliert das Grundproblem von Handeln innerhalb komplexer – sowie modern gesprochen: globaler − Zusammenhänge und macht von dort aus eindringlich auf die Notwendigkeit der Begründung eines diesem Grundproblem Rechnung tragenden Begriffs individueller wie kollektiver Verantwortung aufmerksam, der sich ebenso dem Problem des Zufalls wie demjenigen der unvorhersehbaren Folgen der Handlung stellt, der das Ausloten des konkreten Handlungsspielraums innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse und aufgrund des gesellschaftlich erarbeiteten Wissens erfordert und auf dieser Basis Risikoentscheidungen ins Verantwortungskalkül einbezieht. Außerdem

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ist im Ausgang von Hegels Handlungskonzeption, der gemäß die Handlung als ein Allgemeines immer schon in allgemeinen Handlungszusammenhängen steht, grundsätzlich die Möglichkeit, vielleicht sogar die Notwendigkeit gegeben, nicht in Einzelhandlungen, sondern in Handlungskomplexen zu denken, die ihrerseits der Komplexität der Verhältnisse Rechnung tragen und zugleich am ehesten geeignet scheinen, eine schrittweise Antizipation der zu erwartenden Folgen der Entscheidungen zu ermöglichen.158 Hegels Erörterung der Struktur der Handlung in ihrer dialektischen Entfaltung legt meines Erachtens außerdem nahe, daß Normen und Werte − oder generell Handlungsziele − nur nach Maßgabe der Handlungsbedingungen konkret zu bestimmen sind. Die Ausarbeitung eines Konzepts von Verantwortung auf der Grundlage von Hegels Begriff der Handlung und im Anschluß an jüngere Konzeptionen auf dem Gebiet der praktischen Philosophie – ich denke dabei in erster Linie an Georg Lukács und seine bereits angesprochene Ontologie des gesellschaftlichen Seins und deren ethische Implikationen − stellt indes ein Thema für sich dar, das aufgrund seiner Komplexität den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

158

Die Einbettung von Einzelhandlungen in Handlungskomplexe macht Heidbrink zufolge die »besondere Leistung des Verantwortungsprinzips« aus. »Die Gebote der Verantwortung sind hypothetischer Natur, beruhen auf vorletzten Gründen, entspringen einer provisorischen Moral, die im Vertrauen auf ihren Wissensstand, unter Abwägung von Mitteln und Zwecken […] ihre Entscheidungen fällt.« (Ludger Heidbrink: Kritik der Verantwortung. A. a.O. 289 f.) Das Verantwortungsprinzip, so Heidbrink weiter, sei einzig in »Form einer Systemverantwortung« (ebd. 290) zu realisieren und setzt auf ein vielschichtiges Netz der »Kooperation zwischen den einzelnen Operationssektoren« (ebd. 291), die natürlich entsprechend auch synchronisiert werden müssen. Damit tritt an die Stelle »der moralischen Motivation […] die ›institutionelle Handlungsorganisation‹« (ebd.). Zugleich betont Heidbrink jedoch, daß auch diese institutionelle Handlungsorganisation die Verantwortungsbereitschaft und die »Akzeptanz« der Individuen zu ihrer Grundlage habe. Individuelles Vorteilsstreben und unternehmerische Nutzenmaximierung ließen sich allein »durch Selbstkontrolle« regulieren (was allerdings meiner Ansicht nach doch recht zweifelhaft scheint) – all diese in einem liberalen Sinne formulierten Forderungen Heidbrinks müssen im Zusammenhang mit seiner Kritik an Hegels Staatskonzeption verstanden werden; dieser Kritik zufolge, mit der wir uns im Rahmen der hier zu erörternden Fragen nun allerdings nicht weiter beschäftigen können, bleibt in Hegels Staat kein Platz für die eigenständige Verantwortlichkeit des Einzelnen.

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5.1.6 Noch einmal: Bewußt Intendiertes und unbewußt Realisiertes: Ein Sammelsurium Eine wesentliche Einsicht, der der Handlungsbegriff, dessen Momente Hegel im Moralitätskapitel der Grundlinien entfaltet, Rechnung zu tragen hat, ist das Faktum, daß durch die Handlung, durch die Ausführung des bewußten Zweckes, immer auch etwas ins Werk gesetzt wird und sich als Folge des Handelns ergibt, das vom Handlungssubjekt nicht intendiert war oder als Zweck gar nicht in den Sinnhorizont des Handelnden hat treten können und daher auch nicht antizipierbar war, das aber dennoch der Möglichkeit nach mit der Handlung gesetzt ist. Der so gebildete Begriff der Handlung ist es auch, mit Hilfe dessen Hegel die Dynamik der allgemeinen ›Weltgeschichte‹ zu denken versucht. Der dialektische Handlungsbegriff hat im Kontext von Hegels Geschichtsphilosophie die spezifische Funktion der Vermittlung zwischen dem ›Endzweck‹ der geschichtlichen Entwicklung – die Verwirklichung des Vernunftzwecks der Freiheit in allgemeinen Sozialstrukturen und staatlichen Institutionen – und den handelnden Individuen, die zwar besondere Interessen verfolgen, aber gleichwohl vernünftige Zwecke zu realisieren suchen und diese indirekt auch realisieren (›List der Vernunft‹). Dadurch aber, daß sich der Mensch im Handeln immer auf ein vorgegebenes Allgemeines bezieht und die Handlung selbst wesentlich ein Allgemeines ist, sind die handelnden Individuen auch in jedem Moment in den geschichtlichen Prozeß involviert, der sich nur in ihren Handlungen forttreiben kann. Im Rahmen seiner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte kann Hegel auf den im Moralitätskapitel der Grundlinien ausgearbeiteten Begriff der Handlung also deswegen zurückgreifen, weil in diesem die Mehrdimensionalität oder Komplexität der Handlung zusammengefaßt ist. Und nur ein Begriff der Handlung, der nicht im strengen Sinne vom Menschen als ›freier Kausalität‹ ausgeht, in der das kausale Geschehen als vollständig determinierbar aufgefaßt wird, also nur eine Konzeption von Handlung im Sinne des Prozesses wechselseitiger Durchdringung von Subjektivität und Objektivität oder von Zweck und Mittel kann in den Begriff der Handlung die Möglichkeit aufnehmen, daß sich die Handlung in ihrem objektiven Erfolg gegen den Handelnden selbst kehrt und zu einem »Rückschlag gegen ihn [wird], der ihn zertrümmert«159. Die Welt, so der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, »ist nicht ruhendes Sein, sondern Werden, Prozeß, geschichtlicher Verlauf«160 und daher wird der subjektive Zweck, wo er in eine Wirklichkeit 159 160

GW 18. 164. Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 103.

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im Sinne der Verschränkung komplexer Prozesse tritt, notwendig verändert. Dennoch sind wir »genötigt, an diesem Prozeß handelnd durch Begehung oder Unterlassung teilzunehmen und können uns niemals durch Untätigkeit der Verantwortung entziehen.«161 Die im Folgenden nur lose zusammengestellten Überlegungen greifen jeweils einen Aspekt heraus, der im Kontext einer Handlungslehre meines Erachtens berücksichtigt werden sollte; es geht dabei immer um die Frage nach dem Verhältnis von bewußten und unbewußten Willensinhalten in Bezug auf die Handlung im Sinne einer Äußerung der subjektiven Individualität, die – so Hegels Unterstellung − grundsätzlich weiß, was sie tut (was jedoch, wie gesagt, für Hegel keineswegs bedeutet, daß sich der bewußte Zweck auch tatsächlich realisieren läßt). Ein bislang unberücksichtigter – wenngleich im Kontext der Handlungstheorie keineswegs unwesentlicher − Aspekt ist die Frage nach der Selbsttäuschung des moralischen Subjekts, sowohl hinsichtlich seiner ursprünglichen Intention, als auch hinsichtlich des objektiven Erfolgs seiner Handlung.162 161

Ebd. An die Behauptung Hegels von der Aufhebung der unmittelbaren Subjektivität durch die Objektivierung des subjektiven Zwecks knüpft Michael Quante die Überlegung an, daß dem Handelnden, insofern er seinen Zweck handelnd realisiert hat, auch das Privileg der Interpretation der eigenen Handlung genommen wird. Die Handlung und ihr Erfolg, so Quante ganz richtig, würden vielmehr Gegenstand der Beurteilung durch andere Akteure. Nun fragt Quante, wie Hegel dem Problem der Selbsttäuschung hinsichtlich der eigenen Motivation wie auch hinsichtlich des eigentlichen Erfolgs des eigenen Handelns begegnen könne, denn neben der prinzipiellen Möglichkeit, daß auch der vom Subjekt realisierte Zweck seines Handelns dieses nicht zufriedenstellt, sei (in Hegels Konzeption) auch die Möglichkeit einer »radikalen Selbsttäuschung« aufgrund einer »nachträglich objektiven Korrektur« gegeben. Für diese Möglichkeit, die er bei Hegel grundsätzlich angelegt sieht, nennt Quante zwei Beispiele: Erstens verweist er auf die Sphäre der Geschichtsphilosophie und den Fall der ›historischen Individuen‹, die, indem sie partikuläre Zwecke verfolgen, eigentlich objektive, vernünftige Zwecke realisieren (›List der Vernunft‹). Das zweite von Quante angeführte Beispiel ist das Agieren der Subjekte innerhalb der Strukturen der modernen bürgerlichen Gesellschaft und deren ›System der Bedürfnisse‹. Auch sie, die Privatmenschen, die scheinbar nur ihren eigenen Interessen folgen, verwirklichen objektive Zwecke. Das beiden Beispielen zugrundeliegende Denkmodell setze voraus, so Quante weiter, daß den Handlungen der Einzelnen ein objektiver Gehalt zugrundeliege und realisiert werde, der von dem Gehalt der Interpretation des ihn realisierenden Subjekts unterschieden sei. Die einzige kritische Instanz, die diese Täuschung letztlich aufzudecken vermag, sei der spekulative Philosoph. »Der Fall, daß hinter der Täuschung etwas Irrationales wirksam ist (Psychoanalyse, Ideologiekritik)«, spiele bei Hegel jedoch keine Rolle. (Vgl. Michael Quante: Hegels Begriff der Handlung. A. a.O. 110.) In der Analyse des Denkmodells, dem beide genannten Beispiele folgen, sowie hinsichtlich seiner Schlußfolgerung, daß sich das Subjekt in diesen Fällen – sofern es nicht mit Hegel Geschichtsphilosophie treibt oder sich (mit Marx) über die ökonomischen Mecha162

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Diese Frage ist insbesondere mit Blick auf Hegels Handlungslehre von Bedeutung, da für Hegel der wissende Selbstbezug des Subjekts in der Objektivität seiner Handlung für dessen Bestimmung von Handlung und Zurechnung von konstitutiver Bedeutung ist. Hegels Bestimmung der Handlung liegt eine Konzeption von moralischer Subjektivität zugrunde, genauer: der Subjektivität auf dem Standpunkt der Besonderheit. Damit stellt das moralische Subjekt in kritisch-negativer Hinsicht einen Standpunkt dar, der sich vornehmlich dem entgegensetzt, was objektiv gilt.163 Zugleich ist aus Hegels Sicht mit der moralitätskonstitutiven Bestimmung der Besonderheit, aus der die Handlung entspringt, ein kritischer Einwand verbunden. So beschreibt Hegel die Einseitigkeit des moralischen Standpunktes mit Hilfe der beiden zentralen Bestimmungen der ›Innerlichkeit‹ der Willensbestimmung und des ›Formalismus‹ des Willens in seiner konkreten Tätigkeit.164 ›Innerlichkeit‹ und ›Formalismus‹ sind zwei Aspekte subjektiver, damit aber auch abstrakter Freiheit, die das geschichtlich gewordene Resultat der ›Arbeit des Geistes gegen sich selbst‹ darstellt. Insofern sich das Individuum frei, also: denkend seinen eigenen Motivationen und seinen objektivierten Zwecken gegenüber verhält, hat es den Standpunkt der Endlichkeit Hegel zufolge bereits in gewisser Weise überwunden, und auch »der Gegenstand, auf den ich handle, ist nicht ein anderes gegen mich«165 − in praktischer Hinsicht jedoch bleiben die Endlichkeit und die Beschränktheit menschlichen Vermögens und Wissens allzeit gegenwärtig. Die Selbsterfahrung des moralischen Subjekts ist zutiefst von dem Widerspruch zwischen seinem partikularen und dem allgemeinen Interesse geprägt, und angesichts dieses Widerspruchs, dieser inneren Zerrissenheit nismen der bürgerlichen Gesellschaft in Kenntnis setzt – tatsächlich hinsichtlich seines objektiven Handlungserfolgs täuscht, ist Quante durchaus zuzustimmen. Nur sollte man daran erinnern, daß die Bewertung des eigenen Handelns nach Maßgabe des zugrundeliegenden subjektiven Zwecks für den Handelnden oder: das moralische Individuum selbst eine durchaus notwendige und auch nicht zu überspringende Perspektive der Persönlichkeitsbildung ist (Stichwort: ›Das Subjekt ist die Reihe seiner Handlungen‹). 163 Ich erinnere in diesem Zusammenhang an meine allgemeinen Bemerkungen zu Beginn dieses Kapitels zur Sphäre der Moralität, welche den Rahmen für Hegels Handlungslehre in den Grundlinien bildet. Vgl. ferner in diesem Zusammenhang Stefan Mertens: Die juridische Vermittlung des Sozialen. Die konzeptuelle Basis der reifen Theorie des Juridischen und die Bedeutung der Theorie des Rechts für die Theorie des komplementären Zusammenhanges von Gemeinschaft und Gesellschaft moderner sittlicher Gemeinwesen in G.W.F. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Würzburg 2008. 279. 164 Vgl. dazu und in Bezug auf die damit verbundene Kritik Hegels an der Moralkonzeption Kants und Fichtes den Aufsatz von Francesca Menegoni: Elemente zu einer Handlungstheorie in der »Moralität«. A. a.O. 129. 165 GPR § 117 Z.

Handlung und Imputation in den Grundlinien

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des moralischen Subjekts, erhält es sich auf dem Standpunkt der Moralität allein dadurch, daß es seine Ansprüche auf den eigenen Standpunkt, auf sein Wissen und Wollen geltend zu machen versucht. Es will seine von ihm selbst gesetzten Bestimmungen in der Objektivität seiner realisierten Zwecke wiedererkennen, sich in ihnen finden und erhalten. Dies ist das von Hegel vielfach reklamierte Recht der Besonderheit des Subjekts auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse.166 Das Interesse, das die Tätigkeit initiiert und begleitet, liegt darin, daß die Sache, die durch die subjektive Tätigkeit zustande kommt – und gegen die Widerständigkeit der sozialen Wirklichkeit zustande kommen muß −, »das Moment der subjektiven Einzelnheit«167 enthält. Trotzdem mag auch bisweilen das subjektive Sich-Entschließen die Gespaltenheit des Handelnden zeigen: Denken und Wollen, die beide, wie im Abschnitt über die Herausbildung schuldfähiger Subjektivität ausführlich dargelegt, keine streng voneinander zu trennenden Quellen subjektiver Motivation sind, können in ihren Ansprüchen kollidieren und das moralische Subjekt in eine Zwangslage der Entscheidung bringen, welche der sich widersprechenden Interessen es durchsetzen soll. Der hier thematisierte Grundwiderspruch des moralischen Standpunkts, der gerade in dem die Sphäre der Moralität dominierenden Subjektivismus begründet liegt, macht sich durch alle Phänomene hindurch geltend, die vom Boden der Moralität aus entwickelt werden, und äußert sich darüber hinaus in einer noch viel grundsätzlicheren Aporie: Wo sich das moralische Subjekt seiner Verwurzelung in der ethischen Realität, in der es lebt und an der es objektiv gesehen ökonomisch und geistig teilhat und deren Inhalte und Urteilskriterien immer auch die seinen sind, nicht bewußt ist, sondern aus ihr herauszutreten versucht, um sich selbst als ursprüngliches, autonomes Sein zu setzen, da verkennt es letzten Endes ebenso sich selbst wie seine soziale Wirklichkeit; beide müssen ihm auf diese Weise fremd werden.168 – Wenn man so will, liegt in diesem Gedanken durchaus ein Moment von IdeologieKritik bei Hegel: Das moralische Subjekt kann sich selbst aufgrund solcher Einseitigkeit nur in einer verzerrten Optik erkennen; die extremste Form solcher Einseitigkeit ist für Hegel das Gewissen, »das Selbstbewußtseyn in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens«169 – jedenfalls dann, wenn es die Willkür zum Prinzip seines

166 167 168

Vgl. ebd. § 124. Enzyklopädie § 475. Vgl. Maria Moneti: Die Rechte des Subjekts und die Aporien der Moralität. A. a.O.

284. 169

GPR § 139.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Handelns macht; das seiner moralischen Überzeugung verpflichtete und sich gegen die Objektivität der Verhältnisse richtende Handeln hat damit allenfalls ›exemplarischen Wert‹. So notwendig für Hegel der Durchgang durch die Gestalt der Moralität und die Integration einer selbstbestimmten Subjektivität in seinen Entwurf sittlicher Subjektivität ist, so handelt es sich doch von Anfang an um eine sehr problematische und widersprüchliche Bewußtseinsform: Selbsttäuschung und Autonomiestreben, jedenfalls in extremen Ausprägungen, bergen die Gefahr einer Verabsolutierung subjektiver Perspektiven und stehen der von Hegel geforderten Einsicht bzw. Selbstreflexion hinsichtlich der subjektiven Bewertung des allgemeinen Charakters der eigenen Handlung und der Beurteilung des eigenen (moralischen) Verschuldens geradezu entgegen. Sofern wir einen Menschen als frei ansehen, müssen wir jedoch voraussetzen, daß er diese spezifische Erkenntnis- und Anerkennungsleistung von sich aus vollzieht; wenngleich hier auch Vieles vom allgemeinen Stand der Bildung abhängt, scheint es doch letzten Endes dem Zufall überlassen zu sein, ob sich ein Mensch den (rechtsverletzenden oder moralisch verwerflichen) Erfolg einer Handlung eingesteht oder nicht. Denn er kann weder gezwungen werden, sich seiner moralischen Selbstverantwortlichkeit zu stellen, noch kann er gezwungen werden, vor Gericht seine Schuld zu bekennen. Alles in allem argumentiert Hegel bekanntermaßen im Sinne der Notwendigkeit des Übergangs in sittliche Strukturen als der »einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen«, in denen das Sittliche zur »allgemeinen Handlungsweise«170 der Individuen geworden ist. Durch institutionalisierte Bildungsprozesse und die Integration des Einzelnen in vernünftige Institutionen sieht Hegel grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, daß die Individuen zu einer Existenz- und Handlungsweise finden, die Ausdruck solcher zur Gewohnheit gewordenen Verzichtleistung auf die unbedingte Realisierung bloß besonderer Zwecke zugunsten der Übernahme der Perspektive des Allgemeinen ist.171 170

Ebd. § 151. Der ›unendliche‹ Wille, so die Behauptung von Josef Derbolav, ist − da er bereits ›realisierte Freiheit‹ darstellt − der Not des Handelns enthoben (vgl. Hegels Theorie der Handlung. A. a.O. 221 Fußnote). Als diejenige Sphäre, in welcher der Mensch ›nicht mehr bloß‹ als Handelnder agiere, gelte für Hegel, so Derbolav weiter, die Sphäre des Absoluten Geistes, denn dort herrsche die »Selbstanschauung des Begriffs« (ebd.) vor. Damit sei für Hegel auch der auf dem Boden der Subjektivität und der Endlichkeit entwickelte Begriff der Handlung in Bezug auf die sittlichen Verhältnisse (des Staates) nicht mehr aufrechtzuerhalten. »Hier ist nämlich der substantielle Wille des Staates, der durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist, der, verkörpert durch [den] Monarchen […], gleichsam durch die Gesinnung seiner Bürger hindurch nach bewußten Zwecken, bekannten Grundsätzen und Gesetzen wirkt und handelt« (ebd. 216, eine Pa171

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Aus heutiger Perspektive mag man sich fragen, ob es tatsächlich sinnvoll ist, eine Theorie der Handlung aufzustellen, die sich allein auf Vorgänge bezieht, die dem bewußten Willen entspringen und innerhalb derer nur dasjenige als der Rationalität des Menschen angemessen betrachtet wird, was aus seinem bewußten Wollen hervorgeht.172 So muß man wohl mit Blick auf Hegel konstatieren, daß es für ihn weder unbewußte Handlungen – denn eine Handlung liegt aus Hegels Sicht nur dann vor, wenn sie »innerlich von mir bestimmt, mein Vorsatz, meine Absicht war.«173 – noch unbewußte Schuld gibt. Zum einen ist daher gegen Hegel einzuwenden, daß sich zahlreiche Beispiele anführen lassen, in denen wir zwar zielgerichtet, nicht jedoch bewußt vorsätzlich handeln.174 Und auch Tätigkeiten, die in solchen Bewußtseinszuständen ausgeführt werden, in denen der Handelnde sich nicht im vollen Sinne seiner selbst bewußt war, werden ihrem rechtlichen Status nach als Handlung auszuweisen sein. Weiter wird auch Hegel – obgleich er, wie

raphrase von GPR § 270). Das soll indes laut Derbolav freilich nicht bedeuten, daß unter den Bedingungen institutioneller Staatlichkeit der Einzelne des Handelns überhaupt enthoben wäre. Die durch institutionelle Bildung hervorgebrachte Gesinnung des Staatsbürgers vermag jedoch nur ein »diese Institutionen bestätigendes Handeln zu motivieren.« Und ebenso kritisch gegenüber Hegel heißt es weiter, daß der zum Staatsbürger gereifte Einzelne auf diese Weise zu einem »gefügigen Glied des Staatsorganismus« geworden sei (ebd.) – und ›Maschinen‹ handeln eben nicht. Mit anderen Worten: Für Derbolav kann nur dort von menschlichem Handeln im oben angezeigten Sinne eines Widerspruchs und einer wechselseitigen Durchdringung von Einzelheit und Allgemeinheit die Rede sein, wo der Handelnde tatsächlich eigene Interessen gegenüber und in Differenz zum allgemeinen Interesse geltend machen (und damit böse sein) kann. − Allein, es ist doch zu bezweifeln, daß der Staatsbürger alle seine persönlichen Interessen in den Dienst des Allgemeinen stellt und es also zu keinerlei Kollision mehr kommt, schließlich bedürfen auch die vom Staatsbürger eingesehenen allgemeinen Zwecke der individuellen Ausführung. Stattdessen ist es angebracht, den Begriff der Handlung, wie Hegel es ja auch nahelegt, als einen Schlüsselbegriff auch seiner Konzeption der Sittlichkeit aufzufassen. So spricht Elisabeth Weisser-Lohmann vom »sittlichen Recht« als einem Handlungstypus; jene Handlungen, die in sittlicher Perspektive vollzogen werden, seien als unabhängig von der je individuellen Zwecksetzung zu begreifen. Gemeint ist also ein Typus von Handlungen, deren Triebfeder (anders als es die ›moralische‹ Handlung auszeichnet, mit der wir uns im Bereich subjektiver Willkür bewegen) die Idee oder der Begriff des betreffenden Tuns selbst ist. Vgl. Elisabeth Weisser-Lohmann: Rechtsphilosophie als praktische Philosophie. A. a.O. 187 ff. 172 Diese Frage stellt etwa der Rechtswissenschaftler und Radbruch-Schüler Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 111. 173 GPR § 110 Z. 174 Vgl. Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 108. »Nicht die Klarheit des Vorsatzes«, so zitiert Kaufmann seinerseits einen anderen Strafrechtswissenschaftler, »sondern das Halbdunkel der Fahrlässigkeit ist die der fragwürdigen Existenz des Menschen gemäße Form des Verhaltens. Der Mensch ist ein fahrlässiges Wesen.«

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gesagt, die Fahrlässigkeitsthematik nicht eigens behandelt − schwerlich zugestehen wollen, daß A, der auf B mit einer Waffe zielt, schießt und dabei versehentlich C trifft, sich nicht der Körperverletzung oder der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht haben sollte, wiewohl er dessen Verletzung nicht beabsichtigte und sich über die Umstände seines Handelns getäuscht hat.175 Damit sind Vorsatz, Absicht und subjektiver Zweck aber nicht mehr die ausschließlichen Kriterien der Handlung, sondern vielmehr die »objektive Tendenz der Handlung (ihre ›objektive Finalität‹), und diese bestimmt sich vornehmlich danach, wieweit für den Handelnden der Kausalverlauf, einschließlich Erfolg, beherrschbar war.«176 Eine solche ›objektive Finalität‹ der Handlung tritt jedoch bereits, wie wir gesehen haben, in der Hegelschen Konzeption in den Blick, mit der er sich von der ausschließlichen Beurteilung der Handlung anhand der Kriterien Vorsatz und Absicht entfernt und die sich bereits in dem von Hegel so bezeichneten ›Recht der Objektivität der Handlung‹ geltend macht. Die Bedeutung der Gewohnheit ist bereits im Zusammenhang des Bildungsprozesses dargestellt worden, den der subjektive Geist zu durchlaufen hat, bevor die Sphäre des objektiven Geistes thematisch wird. Gerade mit dem Terminus ›Gewohnheit‹ ist auf einen Bereich des menschlichen Bewußtseins verwiesen, in dem die Erfahrungen von früher vollzogenen bewußten Entscheidungen und deren Folgen gespeichert bzw. automatisiert worden sind; man könnte hinsichtlich der Gewohnheit also von dem erworbenen Charakter sowie von erlernten und weitgehend internalisierten Verhaltensmustern sprechen, aus denen heraus der Mensch dann in späteren 175

Dieses Beispiel wird sogar in der Nachschrift Hotho angeführt, jedoch, wie gesagt, ohne daß eine systematische Bestimmung der Fahrlässigkeit daraus abgeleitet würde (vgl. Ilting, Bd. 3. 358 f.). 176 Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 115. Kaufmann führt dies im Rahmen seiner Überlegungen zum »personalen Handlungsbegriff« aus, mit dem er den Versuch macht, das vorsätzliche wie das fahrlässige Tun, das aktive Handeln wie die Unterlassung sowie Versuchshandlungen unter einen Begriff der Handlung zusammenzufassen: »Menschliches Handeln ist verantwortliche, sinnhafte Gestaltung der Wirklichkeit mit vom Willen beherrschbaren (dem Handelnden daher zurechenbaren) kausalen Folgen (im weitesten Sinne).« (Ebd. 116) Mit seiner Definition von Handlung als einer ›sinnhaften Gestaltung von Wirklichkeit‹ schlägt Kaufmann also einen Begriff der Handlung vor, der nicht allein das bewußt-vorsätzliche Tun als vollgültige menschliche Willensäußerung begreift, sondern der auch »unbewußte (unterbewußte) Handlungen« (ebd. 112) und psychische Vorgänge mit in den Begriff der Handlung einbezieht. Dieser personale Handlungsbegriff soll sich schließlich in eine »personale Straftheorie« einfügen, der gemäß Strafe als Reaktion auf Schuld in ihrer »doppelseitigen individual-sozialen Einheit« zu verstehen ist, im Sinne von »Entsühnung und Befreiung von Schuld – Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft« (ebd. 117).

Das Problem der Zurechnungsunfähigkeit

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gleichartigen Situationen gewissermaßen ›mechanisch‹ wieder genauso handelt und reagiert wie in vergleichbaren früheren Situationen. Für Hegel kann jedoch die Gewohnheit, insofern der Mensch in ihr »in der Weise von NaturExistenz und darum unfrei«177 ist, was die Handlung betrifft, keine tragende Rolle spielen, denn mit der Gewohnheit ist zugleich auch »ein Verhältniß der Abhängigkeit gesetzt […]; wir sind von unseren Gewohnheiten abhängig«178: »ich bin das Objekt der Gewohnheit selbst«179, was im Kontext von Hegels ›Anthropologie‹ zunächst einmal bedeutet, daß das Subjekt in der Gewohnheit gebunden bleibt. Genau genommen ist der Mensch Hegel zufolge in seinem Handeln aus bloßer Gewohnheit ›unfrei‹ eigentlich nur im Falle von üblen Gewohnheiten; insofern sich der Mensch einen substantiellen Inhalt (bewußt) gewohnheitsmäßig angeeignet hat, hat die Gewohnheit hingegen den Inhalt der Freiheit.180 Die Gewohnheit, erlernte und verinnerlichte seelische und geistige Inhalte und habituelle Haltungen machen das Individuum zweifellos in seinem konkreten Sein aus und, obgleich sie ursprünglich vom Subjekt selbst gesetzte bzw. (bewußt) anerzogene sind181, wirken sie in dieser Hinsicht auch auf sein Handeln zurück. Dennoch muß das handelnde Subjekt die Ebene der bewußten Zwecke und der normativen Selbstverantwortung erreichen, denn seine Handlung ist unmittelbar ›Sein für andere‹, sie steht notwendig in einem Bezug auf gesellschaftliche Normen und Gesetze, in deren Objektivität sie sich zu bewähren hat.

5.2 Das Problem der Zurechnungsunfähigkeit Zunächst einmal ist grundsätzlich zu klären, was es aus heutiger Perspektive von Gesetzgebung und Rechtsprechung eigentlich bedeutet, einen Menschen für zurechnungsunfähig zu erklären: Vor dem Gesetz muß sich derjenige im Falle einer ungesetzlichen Handlung nicht verantworten, der nicht »aus freiem Willen und mit übler Absicht« die Tat begangen hat, sondern infolge Geisteskrankheit oder geistiger Defekte.182 Positiv formuliert: Schuldfähig

177

Enzyklopädie § 410 Anm. GW 25,1. 365. 179 Ebd. 367. 180 Vgl. ebd. 181 Vgl. ebd. 370. 182 Vgl. Fredrick C. Redlich und Daniel X. Freedman: Theorie und Praxis der Psychiatrie. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1976. Bd. 2. 1080. Redlich und Freedman haben allerdings das angelsächsische Recht im Blick. Die oben angeführte Regel geht auf eine richterliche Entscheidung am Supreme Court von New Hampshire zurück; allerdings enthält sie Redlich/ 178

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

oder zurechnungsfähig ist ein Mensch dem unserem Strafgesetz zugrundeliegenden ›normativen Schuldbegriff‹ zufolge dann, wenn er zum Zeitpunkt der Tat erstens in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen (intellektuell), und zweitens, dieser Einsicht gemäß zu handeln (voluntativ). Zurechnungsunfähig oder, wie es inzwischen heißt: schuldunfähig ist ein Mensch gemäß § 20 StGB dann, wenn er aufgrund einer »krankhaften seelischen Störung« (hirnorganisch bedingte Zustände und Psychosen), wegen einer »tiefgreifenden Bewußtseinsstörung« (Erscheinungen von Bewußtseinsveränderungen oder -Einengungen, die keine Störung von psychopathologischer Relevanz konstituieren), »wegen Schwachsinns« (Intelligenzschwäche) oder einer »schweren anderen seelischen Abartigkeit« (worunter u. a. Persönlichkeitsstörungen, Störungen der Impulskontrolle sowie substanz- und nichtsubstanzgebundene Abhängigkeiten fallen) unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.183 Erstaunlicherweise wird von Hegel im Zusammenhang mit seiner Erwähnung des Unrechtsbewußtseins als eines wesentlichen Moments der Zurechenbarkeit einer unrechten Handlung, wie wir bereits gesehen haben, nur die intellektuelle Seite, also die Kenntnis von Recht und Gesetz, nicht aber die voluntative Seite berücksichtigt, mit der die Forderung verbunden ist, daß der Mensch seiner Einsicht gemäß handeln können muß (dies ist die bereits angesprochene, heute übliche Rede von der ›Steuerungsfähigkeit‹, die das Komplement zur ›Einsichtsfähigkeit‹ darstellt).184 Erstaunlich ist das deswegen, weil Hegel mit Blick auf die Momente der Handlung, Vorsatz und Absicht, geltend macht, daß diese sowohl das Wissen als auch das Wollen des Handlungserfolgs erfordern.185

Freedman zufolge einige grundsätzliche Schwierigkeiten, wie z. B. die, daß sich ›Geisteskrankheit‹ nicht bestimmt definieren lasse und daß es mitunter schwer zu beweisen sei, daß eine Tat die Folge einer Krankheit darstellt. 183 Vgl. dazu auch Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 76. Einen relativ aktuellen Stand der Diskussion über die Zurechnungsunfähigkeit bietet außerdem Günther Jakobs: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch. Berlin/ New York 1991. 522 ff. Was die Rechtsfolgen betrifft, so kann zwar der schuldunfähige Täter nicht bestraft werden, nach § 63 und 64 jedoch im Maßregelvollzug untergebracht werden. 184 Zur Schuldfähigkeitsnorm im deutschen Strafrecht vgl. auch: Siegfried Haddenbrock: Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit). A. a.O. 129 ff. 185 Vgl. GPR § 120.

Das Problem der Zurechnungsunfähigkeit

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5.2.1 Zurechnungsfähigkeit als konstitutives Moment personaler Identität Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit zunächst auf die sich aus Hegels ›Begriff des Menschen‹ herleitenden Implikationen für eine Bestimmung von Zurechnungsfähigkeit und personaler Zurechnung gerichtet werden, um vor dem Hintergrund der Bestimmung von Zurechnungsfähigkeit zu Anhaltspunkten bezüglich dessen zu gelangen, was es bedeutet, einem Menschen seine Zurechnungsfähigkeit abzusprechen.186 Bekanntlich vertritt Hegel – in Locke’scher Tradition − die Auffassung, daß der Mensch in seiner unmittelbaren Existenz »an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Aeußeres« ist, und erst dadurch, daß er Körper und Geist in Besitz nimmt und ausbildet, erst dadurch, daß er sich in seinem Selbstbewußtsein »als freyes erfaßt«, wird er sich zum »Eigenthum seiner selbst und gegen andere.«187 Erst dadurch, daß bestimmte Anlagen am Menschen als wirkliche gesetzt oder verwirklicht werden, werden sie zu dem ›Seinigen‹ und damit zugleich zu einem »Gegenstand«, welcher »vom einfachen Selbstbewußtseyn unterschieden«188 und damit für es ist. Wo der Mensch dagegen als »Naturwesen« betrachtet wird, wird er in einer Weise aufgefaßt, die nicht seinem Begriff entspricht, denn seinem Begriff gemäß ist er dies, sich von seinem bloß natürlichen Sein zu befreien. Mit dieser ›freien Existenz‹ des Menschen, insofern er in ihr die ausschließliche Bedingtheit durch natürliche Bestimmungen, Triebe und Neigungen überwunden hat, setzt er die natürlichen Bestimmungen freiheitlich und damit als seine eigenen. Durch den Willen aber, so heißt es in einer anonym überlieferten Nachschrift zu Hegels Vorlesung über Rechtsphilosophie weiter, »beschließe ich mich und schließe mich aus.«189 Allerdings muß man daran erinnern, daß damit nur 186

Die Zurechnungsfähigkeit ist Jan Assmann zufolge ein konstitutiver Bestandteil personaler Identität, die sich wiederum auf die soziale Anerkennung bezieht. Die personale Identität ist ein Aspekt der Ich-Identität, deren anderes Moment die individuelle Identität ist. Diese begreift Assmann als »das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen […] Anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Leitfaden des Leibes entwickelte Bewußtsein seines irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit. Personale Identität ist demgegenüber der Inbegriff aller dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen.« Sie ist ein Bewußtsein von sich, das zugleich Bewußtsein der anderen und deren Erwartungen ist; ein Bewußtsein der Verantwortung und Haftung, die sich daraus ergibt. (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. A. a.O. 131 ff.) 187 GPR § 57. 188 Ebd. 189 Hoppe 48.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

erst die Stufe der Willkür, also des reflektierenden Willens, erreicht ist und dieser bedeutet für Hegel noch nicht den im emphatischen Sinne ›freien Willen‹, der den »Boden des Rechts« darstellt. Das Recht oder: der ›objektive Geist‹, insofern er, wie wir eben sahen, auf dem »Standpunkt des freyen Willens«190 beruht, hat jenen »unwahren Standpunkt« längst überwunden, dem zufolge der Mensch als bloßes Naturwesen betrachtet wird. Damit aber kann auch jede rechtliche Bestimmung von verminderter oder aufgehobener Zurechnungsfähigkeit aus der Sicht Hegels nicht hinter die rechtlich-sittliche Einsicht zurück, daß der Mensch, ganz gleich, welcher Grad geistiger oder körperlicher Störung bei ihm auch zu diagnostizieren ist, seiner geistigen Bestimmung gemäß anzusprechen ist. Denn darin sind sich die Menschen Hegel zufolge grundsätzlich gleich: daß sie »denkend«191 sind bzw. Anteil am Geist haben; ungleich sind sie, insofern sie eine Naturseite haben − die Gemeinsamkeit der Menschen überwiegt jedoch die natürlichen Unterschiede der Menschen.192 Die Zurechnungsfähigkeit zählt für Hegel also zu jenen unveräußerlichen Gütern oder »substantiellen Bestimmungen«193, hinsichtlich derer das persönliche Recht an sie prinzipiell nicht verjährt. Die Rechts- und Zurechnungsfähigkeit, ebenso das Moralische, Religiöse und Sittliche sowie »meine allgemeine Willensfreiheit«, insofern sie im Kern das Selbstbewußtsein einer Person ausmachen und damit an »meine Persönlichkeit überhaupt« gebunden sind (auffallend ist in diesem Paragraphen die häufige Verwendung des Possessivpronomens ›mein‹), sind als Resultate der Arbeit des Geistes aufzufassen, in der er dasjenige, was er seinem Ansich nach ist, verwirklicht. Diese Arbeit besteht in einer ganzen Reihe von Akten, »wodurch ich von meiner Persönlichkeit und substantiellem Wesen Besitz nehme, mich zu einem Rechts- und Zurechnungsfähigen […] mache«194. Die schließlich geleistete »Rückkehr in sich aus der natürlichen Unmittelbarkeit seines Daseyns«, wodurch der Mensch sich Hegel zufolge erst eigentlich zu dem macht, was er seinem Begriff nach ist, ist die dem Menschen angemessene Seinsweise der 190

GPR § 57 Anm. GW 25,1. 34. 192 Vgl. Christoph J. Bauer: Eine »Degradierung der Anthropologie«? Zur Bedeutung der Herabsetzung der Anthropologie zu einem Moment des subjektiven Geistes bei Hegel. – In: Hegel-Studien 43 (2009). 13–35. Bauer hebt in seinen Überlegungen Hegels Betonung der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen, insofern sie Geist sind, hervor und er betont darüber hinaus die aus seiner Sicht von Hegel der philosophischen Anthropologie zugedachte Aufgabe, »das Wesen der Gattung Mensch im Prozeß der reflektierenden Selbsterkenntnis zu durchdringen.« (Ebd. 21) 193 GPR § 66. 194 Ebd. 191

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Idee, in der also sein Begriff mit seinem konkreten Dasein übereinstimmt.195 Eben weil die an die Person gebundene Eigenschaft der Zurechnungsfähigkeit (und ebenso die Ausbildung seiner subjektiven moralisch-ethischen Überzeugungen) das Resultat eines individuellen Bildungsprozesses darstellt (freilich: im Rahmen gesellschaftlich-sittlicher Grundbedingungen), gehört sie zugleich der prinzipiell unveräußerlichen Sphäre der persönlichen Freiheit an und verliert damit die Bestimmung der Äußerlichkeit. Wir haben bereits gesehen, daß sich für Hegel das ›Recht des subjektiven Willens‹ u. a. in der dem Willen zumutbaren Einsicht in den rechtlichen Charakter der eigenen Handlung geltend macht. Diese dem Willen zumutbare Einsicht in den rechtlichen Charakter seines Handelns ist für die Zurechnung einer Handlung zur Schuld des Handelnden konstitutiv; »nicht mein subjektiver Wille setzt das Gute, mir bleibt nur das Wissen«196 vom Guten bzw. Gesetzmäßigen. Dieser Grundsatz hat naturgemäß zur Folge, daß bei »Kindern, Blödsinnigen, Verrückten« die Zurechnungsfähigkeit gemindert oder aufgehoben ist, denn bei Kindern und manifest Verrückten ist nicht selbstverständlich davon auszugehen, daß sie ihr eigenes Tun nach Maßgabe der Kenntnis des Gesetzes oder allgemeiner Regeln beurteilen können. Aber selbst eine Zurechnung zur Absicht ist bei Kindern und mitunter bei »Blödsinnigen« fraglich, denn Hegel zufolge haben sie zwar ein unmittelbares Wissen um das eigene Tun, sie »wissen wohl, daß sie zuschlagen, brennen – aber nicht daß sie damit tödten, tödten können – Diese Möglichkeit ist das Allgemeine der Handlung«197. Die vollgültige Zurechnungsfähigkeit erfordert jedoch die Kenntnis dieses Allgemeinen der Handlung; während sich der Vorsatz zunächst einmal auf das freiwillige unmittelbare Tun bezieht, gehört das Allgemeinere der Absicht dem denkenden Menschen an. Zur Unterscheidung von Vorsatz und Absicht wählt Hegel ein prägnantes Beispiel aus der Alltagswelt des Philosophen: »Im Vorsatze kann nur gelegen haben, zuzuschlagen«, nicht aber zu töten; »100mal bey Schlägereyen – Stuhl, Bierkanne auf den Kopf schlagen – mit bewaffneter Hand – Aber Recht der Absicht an den denkenden Menschen, die Natur der Handlung zu kennen, zu wissen daß sie eine Möglichkeit der Tödtung ist.«198 Demnach ist dem denkenden Menschen diese Affekthandlung durchaus zuzurechnen, auch wenn er die Tötung im Moment des vorsätzlichen Tuns nicht bewußt intendiert hat, denn er »weiß […] als denkender daß in solchem Benehmen

195 196 197 198

Vgl. ebd. Hoppe 130. GW 14,2. 609. Ebd.

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solches liegt.«199 Und dieses Wissen ist für Hegel unhintergehbar, es ist die Norm, an der der Mensch gemessen werden muß. Die »höchste Bestimmung in Rücksicht auf die Zurechnung für den subjektiven Willen«200 ist für Hegel die Entscheidung darüber, ob der Handelnde weiß, welche Folgen sie hat bzw. ob sie gut oder böse ist. Eine bestimmte Grenze, wo Zurechnungsfähigkeit aufhört und Zurechnungsunfähigkeit beginnt, läßt sich Hegel zufolge nicht angeben. Allerdings schließt Hegel von vornherein Zustände von Trunkenheit oder starkem Affekt als schuldmildernde oder gar rechtfertigende Umstände einer unrechten Handlung aus, in die der Mensch selbstverschuldet geraten ist.201 »Verblendung des Augenblicks aber, Gereiztheit der Leidenschaft, Betrunkenheit, überhaupt was man die Stärke sinnlicher Triebfedern nennt« (mit Ausnahme des Notrechts), »zu Gründen in der Zurechnung und der Bestimmung des Verbrechens selbst und seiner Strafbarkeit zu machen, und solche Umstände anzusehen, als ob durch sie die Schuld des Verbrechers hinweggenommen werde, heißt ihn […] nicht nach dem Rechte und der Ehre des Menschen behandeln, als dessen Natur eben dieß ist, wesentlich ein Allgemeines, nicht ein abstract-Augenblickliches und Vereinzeltes des Wissens zu seyn.«202 Der (gesunde) Mensch kann sich aus Hegels Sicht nicht anders als ein Allgemeines verhalten, d. h. er kann sich nicht einzig und unmittelbar auf ein Vereinzeltes beziehen und von seinem Wissen um den allgemeinen Zusammenhang seines Tuns und Vorhabens gänzlich abstrahieren. Er ist als »Subject nicht das Einzelne dieses Augenblicks oder diese isolirte Empfindung der Hitze der Rache; so wäre er ein Thier, das wegen seiner Schädlichkeit und der Unsicherheit, Anwandlungen der Wuth unterworfen zu seyn, vor den Kopf geschlagen werden müsste.«203 Denn für Hegel ist Denken »das Allgemeine 199

Ebd. Henrich 106. 201 Im übrigen ist auch unsere heutige Gerichtspraxis außerordentlich zurückhaltend bei der Anerkennung des Alkoholrausches als Entschuldigungsgrund einer ungesetzlichen Handlung, denn, so nimmt man an, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist auch bei stark Berauschten nicht völlig aufgehoben. (Dies gilt allerdings nicht im Fall von Alkoholpsychosen.) Ganz grob läßt sich sagen, daß erst bei mehr als drei Gewichts-Promillen Schuld- oder Zurechnungsunfähigkeit vorliegt. Vgl. dazu Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 76. In diesem Zusammenhang ist auch der bereits im 18. Jahrhundert aufgestellte Rechtsgrundsatz der actio libera in causa zu erwähnen, wonach eine Tat auch dann zugerechnet wird, wenn der Täter sich vorwerfbar ein Zurechnungsmerkmal entzogen hat, z. B. dadurch, daß er sich vorsätzlich betrunken hat, um eine ungesetzliche Handlung zu begehen. Die actio libera in causa ist damit eine in ihrer Ursache, nicht aber in ihrer Ausführung freie Handlung (vgl. ebd. 77). 202 GPR § 132 Anm. 203 Ebd. 200

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243

was thätig ist, was das Besondere, Einzelne, Unmittelbare in Allgemeines verwandelt. […] Die Intelligenz ist denkende Thätigkeit an sich, Nachdenken ist das zweite Denken.«204

5.2.2 Die Unordnung des individuellen Weltsystems – Hegel über ›Geisteskrankheit‹ und Zurechnungsfähigkeit Geht man der Frage nach, inwieweit das Problem der Zurechnungsfähigkeit im Falle der Geisteskrankheit von Hegel diskutiert wird, so stellt man zweierlei fest: Erstens schenkt er ihm durchweg überhaupt nur sehr wenig Aufmerksamkeit und zweitens scheinen sich seine Äußerungen diesbezüglich auch noch zu widersprechen. In der bereits angesprochenen Passage der Grundlinien heißt es, daß bei »Blödsinnigen, Verrückten« nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, davon auszugehen sei, daß sie über die Einsicht in das Gesetzliche oder Ungesetzliche ihrer Tat (Unrechtsbewußtsein) verfügen, wodurch die Zurechnungsfähigkeit dieser Menschen deutlich gemindert oder gänzlich aufgehoben sei.205 Und auch hinsichtlich des subjektiven Rechts auf das Wissen um die mit der eigenen Handlung verbundene Absicht sieht Hegel, wie gesagt, im Falle von »Kindern, Blödsinnigen, Verrückten u.s.f.«206 die Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt oder gemindert (und dies wird noch bekräftigt durch die angeführte, dem entsprechenden Paragraphen zugeordnete Randnotiz Hegels).207 In der Enzyklopädie erster Auflage scheint er das Problem der Zurechnungsfähigkeit im Zusammenhang mit den Erscheinungen der Geisteskrankheit gar nicht im Blick zu haben. So ist in Paragraph 321 lediglich davon die Rede, daß die Verrücktheit nicht

204

GW 25,1. 527 f. Vgl. GPR § 132 Anm. 206 Ebd. § 120. 207 In Hegels Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft aus dem Jahr 1817/18 (Wannenmann) wird überliefert: »Man hat gesagt, jedes Verbrechen sei Wahnsinn, aber auch Wahnsinnige sind wegen bösartiger Handlungen zu züchtigen, aber ohne Härte. Blödsinnige, die im Moment der reinen Wut Verbrechen begehen, sind als Tiere zu betrachten, und sie können wie Tiere abgeschreckt werden, man kann sich vor ihnen zu sichern suchen, man kann sie unschädlich machen. Aber immer muß man annehmen, man muß dem Menschen die Ehre antun anzunehmen, er habe das Verbrechen von der Seite seiner Allgemeinheit gekannt. Aus dem Gesichtspunkt, daß der Verbrecher die Handlung nicht in ihrem wahren Wert kannte, kann die Strafe gemildert werden, aber den Gerichtshöfen sollten die Milderungsgründe nicht in ihrem ganzen Umfang zustehen; die Hauptsache in Ansehung der Milderungsgründe muß einer höheren Macht, dem Regenten, angehören.« (Hegel: Vorlesungen, Bd. 1. 66) 205

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den »Verlust der Vernunft« bedeute, weder »nach der Seite der Intelligenz«, noch nach der Seite des Willens: Weder in intellektueller Hinsicht noch was die allgemeine menschliche Willensfreiheit angeht, sei der an Verrücktheit leidende Mensch eingeschränkt. (Auf dieser Voraussetzung, daß der Zustand der Verrücktheit nicht den gänzlichen »Verlust der Vernunft« mit sich führt, beruht auch Hegels in allen drei Enzyklopädie-Auflagen artikulierte Forderung, der Kranke sei als »Vernünftiges« und daher unbedingt gemäß ethisch vertretbarer Maßstäbe zu behandeln.208) Die ausführlichen Anmerkungen zum § 408 der beiden Enzyklopädie-Auflagen von 1827 und 1830 konstatieren dann schon etwas differenzierter, daß die »Verrücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft weder nach der Seite der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit«, sondern lediglich als ein innerhalb der Vernunft selbst auftretender Widerspruch anzusehen sei. Hegel gelangt aber nicht erst 1827 zu der Erkenntnis, daß die Verrücktheit nicht einen ›abstrakten Verlust‹ der theoretischen und praktischen Vernunft sowie der Zurechnungsfähigkeit bedeutet, sondern formuliert sie der Überlieferung nach bereits in seiner im Sommer 1822 gehaltenen Vorlesung zur Philosophie des subjektiven Geistes (Nachschrift Hotho). Die »Narren«, so heißt es dort, sind zwar mitunter »listig, und verschlagen«, an sich sind sie für Hegel jedoch vernünftig; auch im Zustand der Narrheit (Verrücktheit) hat der Mensch aus seiner Sicht »ein Bewußtsein von dem, was Recht ist, das Unrechte also kann ihnen verboten, und sie bestraft werden.«209 Urteilsfähigkeit und Vernunftbegabung haben Hegel zufolge auch bei den »Narren« so wenig an Kraft eingebüßt, daß sie durchaus in der Lage sind, »eine gerechte Autorität« anzuerkennen, weil sie »ihre Unzulänglichkeit fühlen« und in dem »Zutraun« leben, daß ihnen von der Seite der Autorität kein Unrecht geschieht. Und wie im Falle eines jeden anderen Verbrechens auch, ist die Strafe, die dem ›Verrückten‹ für seine Handlung auferlegt wird, einzig dadurch gerechtfertigt, daß der Delinquent in der Strafe sein eigenes Recht erfährt, insofern diese nur der wiedervergeltende Ausdruck der von ihm gesetzten Rechtsverletzung ist. Auch in der ebenfalls die Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes dokumentierenden Nachschrift von Griesheim aus dem Jahr 1825 findet sich der Grundsatz ausgesprochen, daß auch die »Wahnsinnigen, Verrückten, Narren, Melancholiker, Hypochonder doch noch immer vernünf-

208

Zum Krankheitsbegriff Hegels vgl. Wolfgang Jacob: Der Krankheitsbegriff in der Dialektik von Natur und Geist bei Hegel. – In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Herausgegeben von Hans-Georg Gadamer. Bonn 1974. 165–172. 209 GW 25,1. 95.

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tige, moralische Menschen sind, die moralischer Verhältnisse, der Imputation, der Zurechnung fähig sind und die an diesem Punkte des Wissens von Recht und Sitte gefaßt werden können.«210 Allerdings unterscheidet Hegel die genannten Arten von psychischen Erkrankungen von denen, die zu »Blödsinn« und »Cretinismus«211 führen – Krankheitsbilder, bei denen »der Funke der lebendigen Kraft des Bewußtseins nicht hervorzuheben« sei; Zustände, in denen der Kranke auch nicht gleichermaßen uneingeschränkt der Zurechnung fähig sein kann. Denn der »Blödsinn« ist für Hegel ein Phänomen der völligen Versunkenheit in einen Gefühlszustand, dem jeglicher objektivierender Außenbezug fehlt, eine mehr oder minder »vegetative Existenz«212. Die unterschiedlichen Aussagen der Grundlinien einerseits und derjenigen im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Geisteskrankheit im subjektiven Geist (also im weitesten Sinne auf die verschiedenen Versionen der Enzyklopädie bezogenen Ausführungen) andererseits sind daher aus meiner Sicht auch nicht als widersprüchliche Auskünfte zu werten. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Grundlinien scheint Hegel noch nicht so genau zwischen den einzelnen Erscheinungen von Geisteskrankheit zu differenzieren, wie er es dann in seinen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes tut (wobei die erste überlieferte die genannte von Hotho ist und aus dem Sommersemester 1822 stammt) und ab 1825 die ›Krankheiten des Selbstgefühls‹ systematisch unter der »Form der Verrücktheit«213 zusammenfaßt, in welcher die »substantielle Identität des Selbstgefühls […] entzweit«214 ist. Allgemein kann man davon sprechen, daß Hegel in seiner Anthropologie den nicht immer reibungslosen Weg der Befreiung der Seele aus ihrer anfänglichen natürlichen Bestimmtheit – denn der Geist geht nicht auf natürliche Weise aus der Natur hervor215 − bis hin zur »wirklichen Seele«

210

Ebd. 391. Ebd. 384. 212 Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. A. a.O. 221. Eine ähnliche Erscheinung ist Stederoth zufolge die »Zerstreutheit«, in der ebenso aller äußerer Zusammenhang der bloßen Versenkung ins Innere des subjektiven Geistes weicht und die ihr Gegenteil an der »Faselei« findet, welche ganz nach außen gerichtete, ruhelose Tätigkeit des Geistes ist, ohne inneren Zusammenhang. 213 GW 25,1. 373. 214 Ebd. 390. 215 Vgl. Hans-Christian Lucas: Die »souveräne Undankbarkeit« des Geistes gegenüber der Natur. Logische Bestimmungen, Leiblichkeit, animalischer Magnetismus und Verrücktheit in Hegels »Anthropologie«. – In: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. A. a.O. 269–296; hier 273. Meines Erachtens ist es allerdings vollkommen verfehlt − wie Lucas es tut − Hegel zu unterstellen, er verleugne die Natur im Interesse einer uneingeschränkten Herrschaft des Subjekts über seine eigene wie die äußere Natur − was 211

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zurücklegt, in welcher sie schließlich ihr konkretes Selbstgefühl erlangt, sich »in ihrer Äußerlichkeit [in sich] erinnert« und »unendliche Beziehung auf sich« wird. Dieses Fürsichsein, das damit erlangt ist, stellt für Hegel zugleich »das höhere Erwachen der Seele zum Ich, der abstrakten Allgemeinheit«216 dar und leistet systematisch den Übergang zur nächst höheren Stufe innerhalb der Entwicklung des subjektiven Geistes, zur »Phänomenologie des Geistes«. Die Möglichkeit der Seele, krank zu werden, ist für Hegel grundsätzlich dadurch gegeben, daß die »fühlende Totalität […] als Individualität wesentlich dies [ist], sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen«217. Ohne diese Trennung des fühlenden Subjekts als der übergreifenden Einheit, die sich der fühlenden Subjektivität gegenüberstellt, vermag das Subjekt nicht aus seinem unmittelbaren Naturverhältnis herauszutreten.218 Das Subjekt auf dieser Stufe seines von seinem leiblichen Sein noch ungeschiedenen geistigen Seins ist damit zunächst noch in die Besonderheit seiner Empfindungen versenkt, wie es sich darin als in seinem »Selbstgefühl« zugleich mit sich als »subjektivem Eins« zusammenschließt. Das Subjekt – an dieser Stelle seiner Ausführungen im Abschnitt über Anthropologie antizipiert Hegel den Standpunkt des entwickelten Bewußtseins −: »obgleich zum verständigen Bewußtsein«219 gebildet, neigt dann jedoch der Krankheit zu, wenn es in der »Besonderheit seines Selbstgefühls beharren bleibt, welche es nicht zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden vermag.«220 Der Zustand der Gesundheit bedeutet für Hegel demgegenüber zunächst einmal, daß die natürlichen Bedürfnisse auf angemessene Weise befriedigt werden; die Lebendigkeit des Menschen ist insofern die fortdauernde Befriedigung natürlicher Bedürfnisse in einem ausgeglichenen Verhältnis; dies aber ist Hegel zufolge eine Sache der »Gewohnheit«, durch die die Triebe in die »Form des Ideellen und Allgemeinen«221 gesetzt und in eine zweite, vom Geist angeeignete Natur umgewandelt werden. Die Gewohnletztlich in die »Vernichtung des Subjekts« (so Lucas unter Berufung auf Horkheimer/ Adorno) führe. Diese Kritik von Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung wird von Lucas auf Hegels ›Anthropologie‹ und den angesprochenen Weg der Befreiung des Geistes aus seinem unmittelbaren Naturverhältnis bezogen. Es ist müßig, alle die Aussagen Hegels zusammenzutragen, in denen er selbst diesem Eindruck in deutlichen Worten entgegentritt und die Dialektik einer falschverstandenen Triebunterdrückung (statt einer Triebökonomie) zum Ausdruck bringt. 216 Enzyklopädie § 412. 217 Ebd. § 407. 218 Vgl. GW 25,1. 358. 219 Enzyklopädie § 408. 220 Ebd. 221 GW 25,1. 372.

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heit hat damit bereits die Funktion einer »Reinigung des Triebes von seinem unmittelbaren Bestimmen«222. Krankheit entsteht Hegel zufolge dann, wenn eine einzelne Partikularität sich gegen die konkrete subjektive Einheit als ihrer Grundlage geltend macht; wenn »ein Gefühlsinhalt über seine Eingegliedertheit hinausstrebt und sich entgegen jenem Ordnungszusammenhang verabsolutieren will.«223 Zugleich geht Hegel davon aus, daß die Krankheiten des Geistes psychosomatische Phänomene sind224; so konstatiert er, der Geist an und für sich könne nicht verrückt werden oder wahnsinnig sein, er könne zwar irren, aber zum Kranksein im angezeigten Sinne könne es allein in der »fühlende[n] Seele des Bewußtseins«225 kommen. Nur in dieser Sphäre der Beziehung der Seele auf das Leibliche kann eine Partikularität, sei sie physischer oder seelischer Natur, sich in sich gegen die Subjektivität verfestigen, die sich nur in ihrem konkreten Zusammenhang gesund erhalten kann. Die Gesundheit als die dem Geist in seinem natürlichen Sein eigentümliche Existenzweise der Verhältnismäßigkeit aller Inhalte fällt dann in Krankheitszustände, wenn sich »die dunkle Seele […] im Fühlen über sich selbst erhebt, doch darin eingeschlossen bleibt«, und diese Möglichkeit ist grundsätzlich gegeben, da in der fühlenden Seele noch »jede feste Bestimmung« fehlt.226

222

Ebd. 371. Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. A. a.O. 219. 224 Vgl. GW 25,1. 375. 225 Ebd. 379. 226 Ebd. 373. Hermann Drüe legt Hegels Ausführungen bezüglich der Krankheiten des Geistes in dem Sinne aus, daß das Auftreten der Geisteskrankheit eine »notwendige Stufe in der Aufhebung der Unmittelbarkeit der Seele zum Ich« darstelle. (Vgl. das Kapitel über die Philosophie des Geistes in dem Band: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). A. a.O. 243.) Drüe hält dem entgegen, daß Geisteskrankheiten von der »Entwicklungsteleologie des Geistes« her keine Chance darstellten, sondern vielmehr ein »eine eigene Theodizee benötigendes Elend. Gerade nach gut einhundert Jahren wissenschaftlicher Psychiatrie bleiben sie das generell Unverstehbare und individuell Uneinfühlbare des Menschen.« (Ebd.) Die Behauptung Drües, Hegel stelle es so dar, daß das Phänomen der Geisteskrankheit ein notwendig auftretendes sei, kann nur ein Mißverständnis von Seiten Drües sein, denn an mehreren Stellen der (in den ›Zusätzen‹ kompilierten) Nachschriften wird deutlich hervorgehoben, daß die Erscheinungen der Verrücktheit, ebenso wie das Verbrechen keineswegs als eine »in der Entwicklung der Seele notwendig hervortretende[…] Form oder Stufe« zu verstehen sei, oder in dem Sinne, als ob damit behauptet würde, jeder Geist, jede Seele müsse durch diesen Zustand äußerster Zerrissenheit hindurchgehen. »Eine solche Behauptung wäre ebenso unsinnig wie etwa die Annahme: weil in der Rechtsphilosophie das Verbrechen als eine notwendige Erscheinung des menschlichen Willens betrachtet wird, deshalb solle das Begehen von Verbrechen zu einer unvermeidlichen Notwendigkeit für jeden einzelnen gemacht werden. Das Verbrechen und die Verrücktheit sind Extreme, welche der Menschengeist überhaupt im 223

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Hegel charakterisiert die Verrücktheit – und deswegen hält er auch daran fest, daß der ›Verrückte‹ ein sittliches Wesen und der Imputation fähig bleibt – als den Widerspruch zweier Mittelpunkte, zweier Ordnungen in der fühlenden Seele, von denen eine die in sich festgewordene Partikularität enthält und die andere die »konkrete Totalität meines Selbstbewußtseins«227, wohingegen in der gesunden Seele im konkreten Mittelpunkt alle Inhalte enthalten seien. Aufgrund ihres »gedoppelte[n] Bewußtsein[s]« – eines richtigen und eines verrückten − habe der Verrückte nicht nur ein Wissen und ein Bewußtsein seiner Umgebung, sondern auch ein Wissen seiner inneren Entzweiung.228 Hegel beschreibt diesen Zustand als ein Träumen im Zustand des Wachens; »beides greift und fällt ineinander, wie es beim Somnambulismus zusammenfallen kann.«229 Anders verhält es sich jedoch in denjenigen Fällen, in denen sich »das hohle Selbst« zum Ganzen erhebt und dies bringt die Erscheinungen der ›Zerstreutheit‹, der ›Faselei‹ und schließlich des ›Stumpfsinns‹ und ›Blödsinns‹ hervor − Zustände, in denen »die Leerheit des Ichs, die sich so fest hält, nicht in das Praesens des Bewußtseins übergeht.«230 Einzig mit Blick auf solche Krankheitsbilder wäre aus der Sicht Hegels überhaupt von einer Zurechnungsunfähigkeit aufgrund akuten ›Objektivitätsverlustes‹ zu sprechen.231 Verlauf seiner Entwicklung zu überwinden hat, die jedoch nicht in jedem Menschen als Extreme, sondern nur in der Gestalt von Beschränktheiten, Irrtümern, Torheiten und von nicht verbrecherischer Schuld erscheinen.« Und im mündlichen ›Zusatz‹ zum § 410 heißt es: Wenn es auch für die einzelne Seele zufällig sein mag, ob sie sich zum »freien, in sich harmonischen Selbstgefühl« entwickeln kann, so ist doch »an sich […] das absolute Freiwerden des Selbstgefühls, das ungestörte Beisichsein der Seele in aller Besonderheit ihres Inhalts, etwas durchaus Notwendiges; denn an sich ist die Seele absolute Idealität, das Übergreifende über alle ihre Bestimmtheiten, und in ihrem Begriffe liegt es, daß sie sich durch Aufhebung der in ihr festgewordenen Besonderheiten als die unbeschränkte Macht über dieselben erweist.« Der Geist an sich kann, wie gesagt, aus Hegels Sicht nicht krank werden. 227 GW 25,1. 379. 228 Vgl. ebd. 375. 229 Ebd. 381. 230 Ebd. 383. 231 Hegel stützt sich in der Beschreibung und Klassifizierung bestimmter Krankheitserscheinungen des Geistes übrigens weitgehend auf solche Entwicklungen der Medizin und der klinischen Psychiatrie seiner Zeit, denen man den Stellenwert der Vorläuferschaft für wichtige spätere Erkenntnisse zusprechen kann. In erster Linie ist hier sicherlich Philippe Pinel zu nennen und dessen Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie (Aus dem Französischen übersetzt von M. Wagner. Wien 1801); Pinel (1745–1826), dessen Bedeutung hinsichtlich seiner revolutionären Behandlungsarten von Geisteskrankheiten Hegel in der Anmerkung zu § 408 der Enzyklopädie von 1830 ausdrücklich hervorhebt, hatte erstmalig propagiert, daß der Geisteskranke eine ›moralische Behandlungsart‹ verdiene und zwar unter der Voraussetzung, daß der Kranke als

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5.3 Handlungstheoretische Aspekte in der Phänomenologie des Geistes Mit Blick auf die folgenden Überlegungen sei zugleich einschränkend bemerkt, daß mit ihnen, wie die Überschrift vermuten läßt, nicht der Anspruch verbunden ist, alle Implikationen der Handlung in der Phänomenologie systematisch zu erfassen.232 Ich beziehe mich zunächst auf den dritten Abschnitt des Vernunftkapitels der Phänomenologie (»Das geistige Tierreich und der Betrug, oder die Sache selbst«), später auf den Abschnitt zu Beginn des Geistkapitels (VI.A.a. und b.) und abschließend auf den Schluß desselben (»Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung«). Hegels Äußerungen im Vernunftkapitel der Phänomenologie sind im Rahmen der handlungstheoretischen Zusammenhänge, die in der vorliegenden Arbeit entwickelt werden sollen, gerade deswegen von Interesse, weil dieser Abschnitt der Phänomenologie u. a. auf die Frage reflektiert, wie das Individuum zu den praktischen Gründen gelangt, die sein Handeln bestimmen. Auch wenn hier meines Erachtens unbedingt Vorsicht angeraten ist, was eine Identifizierung dieser spezifischen Handlungskonzeption und der späteren, in den Grundlinien vorgetragenen betrifft, so wirft sie doch auf die Bedeutung des Zweck-Begriffs insofern ein neues Licht, als der Zweck in der hier darzustellenden Konzeption von Handlung, wie sie dem Selbstverständnis der vernünftigen Individualität entspricht, in einem Sinne aufgefaßt wird, in dem die Momente von Subjektivität und Objektivität vermittelt sind, während der Zweck im Rahmen der Handlungslehre der Rechtsphilosophie zwar als

ein vernünftiges, d. h. in sittlich-moralischer Hinsicht mündiges Wesen zu betrachten sei und eine entsprechende Behandlung verdiene, die ihn in seiner ansprechbaren, objektiven Seite stärkt und respektiert. Außerdem erwähnt Hegel auch Johann Langermann, einen Freund Goethes und Anstaltsleiter in Bayreuth, der Pinels Ideen in Deutschland anwandte. Zudem scheint sich Hegel mit Joseph Coxes Practical Observations on Insanity beschäftigt zu haben, der sich ebenfalls für eine humane Behandlung der Kranken ausspricht. (Vgl. Michael John Petry: Systematik und Pragmatik in Hegels Behandlung von animalischem Magnetismus und Verrücktheit. – In: Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. A. a.O. 250–268; besonders 261 ff.) 232 Zahlreiche Probleme werden daher im Folgenden unberücksichtigt bleiben müssen, wie etwa der komplexe Zusammenhang von Sprache und Handlung, den Hegel in diesem Werk entwickelt und der im Folgenden nur am Rande erwähnt wird. (Vgl. dazu: Ulrich Schlösser: Handlung, Sprache, Geist. – In: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Herausgegeben von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch. Frankfurt a.M. 2008. 439–454.) Und ebensowenig wird es im Folgenden um die Bedeutung der Handlung im Rahmen der Religion (die kultische Handlung) gehen.

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ein Allgemeines, aber dennoch subjektiv-Innerliches aufgefaßt wird.233 Der zweite zu behandelnde Abschnitt (VI.A.a. und b.), der sich mit der ›sittlichen Handlung‹ unter den Bedingungen der noch unbefangenen griechischen Sittlichkeit befaßt, ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit schon deswegen von systematischem Interesse, weil Hegel darin – vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der Antigone-Tragödie des Sophokles – paradigmatisch die antike Schuldauffassung im Sinne einer Erfolgshaftung in eine spezifische Handlungskonzeption einbettet. Der letzte Abschnitt (VI.C.c.) stellt eine Erörterung der ›moralischen Handlung‹ dar, die Hegel vor dem Hintergrund der Gewissensdialektik erarbeitet und die hier der vorangegangenen Darstellung der Handlungskonzeption der Grundlinien vergleichend zur Seite gestellt wird. Hegel begreift und muß die Handlung im Moralitätskapitel der Grundlinien (im Gegensatz zur ›Tat‹), wie wir gesehen haben, als einen Sinnausdruck des moralischen Subjekts begreifen, da er aus der Handlung die Bestimmungen von ›Schuld‹ und ›Zurechnung‹ entwickelt; er geht vom sich selbst bestimmenden und sich innerhalb eines allgemeinen Normhorizonts verortenden und behauptenden moralischen Subjekt aus. Der Standpunkt der Differenz und des Sollens, der die Sphäre der Moralität wesentlich bestimmt, konkretisiert sich in der moralischen Willensbestimmung des Subjekts. Der

233

In der Nachschrift Wannenmann (1817/18) spielt der Begriff des Zwecks eine auffallend zentrale Rolle im Rahmen der dort entfalteten Handlungslehre, wie auch im Vergleich zu den entsprechenden Paragraphen der Grundlinien auffallend häufig von der »Maxime«, den »Grundsätzen« und der »Gesinnung« des handelnden Subjekts die Rede ist. Alle diese Bezeichnungen sollen zum Ausdruck bringen, daß der subjektive Zweck »ein Allgemeines« ist; er ist »ein Urteil, das in seiner Bestimmtheit den allgemeinen Gedanken enthält.« (Hegel: Vorlesungen, Bd. 1. 62) Der Wille, so heißt es weiter, ist »subjektiv, nicht objektiv, er ist auf dem Standpunkt des Bewußtseins, dieser Endlichkeit des Bewußtseins, [so] daß der Geist nicht an und für sich selbst ist, sondern seine Realität ihm als ein Gegenstand ist, auf welchen er handelt.« (Ebd. 63) »Die Handlung ist das Übersetzen der Innerlichkeit in die Äußerlichkeit, aber die Äußerlichkeit ist die Form, worin der Wille sich setzt. Das Subjekt will etwas – dies ist sein Zweck, aber der Zweck ist noch ein Innerliches; der Zweck ist Selbstbestimmung des Willens, die nicht subjektiv bleiben soll, diesen Mangel der Nichtäußerlichkeit nicht behalten soll. […] Der Zweck ist mein Abbild, aber [er] ist erst subjektiv und soll objektiv werden. Der Zweck ist der Begriff. Im Lebendigen ist der Begriff (Zweck) unmittelbar in äußerlicher Existenz, nur im Geist ist der Begriff als Innerliches.« (Ebd. 62) Im Handeln allerdings wird dieser Zweck, wie wir oben gesehen haben, den ›äußerlichen Mächten‹ preisgegeben. – Insofern der Handelnde allerdings auf die Umstände wirkt, »wie sie in seinem Begriff sind« (ebd. 64), und aus ihnen seinen Zweck allererst gewinnt, muß man freilich in diesem Sinne auch hier davon sprechen, daß Subjektivität und Objektivität im subjektiv gefaßten Zweck immer schon vermittelt sind.

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Abschnitt der Phänomenologie, mit dem wir uns zu Beginn befassen werden, nimmt dagegen seinen Ausgang in der Unmittelbarkeit des vernünftigen Individuums, dessen Vernünftigkeit darin liegt, daß die Wirklichkeit ihm nicht ein anderes gegen es selbst darstellt, das jedoch eben aufgrund dieser Unmittelbarkeit auch nicht zu einer selbstbestimmten Zwecksetzung gegen diese Wirklichkeit gelangen kann, die getragen wäre von dem Interesse, die Dinge im eigenen Sinne, zu eigenem »Wohl« zu verändern. – Aber vielleicht sollten wir zunächst, mit Blick auf Hegels Überlegungen zur Handlung im Vernunftkapitel der Phänomenologie größere Vorsicht walten lassen. Auch wenn sich am Ende des Abschnitts über das »Geistige Tierreich« für das handelnde Selbstbewußtsein eine eminent sittliche Erfahrung ergeben hat – in dem Sinne, daß es begreift, daß diejenige Handlung, die von allgemeinem Wert ist, immer das Werk Aller ist, (worauf noch zurückzukommen sein wird) –, so impliziert diese Erfahrung bereits, daß es mit seiner Vorstellung von seinem Tun als dem unmittelbaren Sich-Aussprechen seiner Individualität an der Wirklichkeit gescheitert ist; es hat die Erfahrung gemacht, daß sich Begriff und Realität seiner selbst eben nicht entsprechen. Daher sind auch Hegels Überlegungen, die sich mit diesem Begriff der Handlung befassen, als ein Moment innerhalb seiner Handlungslehre zu nehmen.

5.3.1 Das »Werden des Geistes als Bewußtsein« (Abschnitt: »Das geistige Tierreich und der Betrug, oder die Sache selbst«) Unter der Überschrift »Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist« erarbeitet Hegel eine spezifische Handlungskonzeption.234 Die Gestalt des Selbstbewußtseins, die sich im Durchgang durch die vorangegangenen Gestalten der Gewißheit der Vernunft ergeben hat, zeichnet sich nunmehr dadurch aus, daß sich das vernünftige Individuum »seiner selbst als der Realität gewiß [ist]; oder daß alle Wirklichkeit nichts anders ist als es; [daß] sein Denken […] unmittelbar selbst die Wirklichkeit«235 ist – eine 234

Diese Handlungskonzeption wird etwa von John McDowell untersucht: Zur Deutung von Hegels Handlungstheorie im Vernunftkapitel der Phänomenologie des Geistes. – In: Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch (Hgg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 369–393. (Dieser Aufsatz ist in erster Linie eine kritische Auseinandersetzung mit einer These Robert Pippins, auf die an späterer Stelle noch ausführlicher einzugehen sein wird.) Zu diesem Kapitel vgl. auch Klaus Erich Kaehler und Werner Marx: Die Vernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1992. 195 ff. 235 PhG 157.

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Ausgangssituation, wie sie im letzten Abschnitt der folgenden Überlegungen wiederkehrt, nur ist es dort das moralische Gewissen als der ›sich seiner selbst gewisse Geist‹, der sich als die Identität seines individuellen Seins und der ansichseienden Wirklichkeit begreift und aus dieser Selbstgewißheit heraus handelt. Die Gestalt des Selbstbewußtseins, um die es in diesem Abschnitt der Phänomenologie zu tun ist, hat also einen Begriff von sich selbst gewonnen, der die »sich bewegende Durchdringung des Allgemeinen […] und der Individualität« in sich aufgenommen hat; dieser Begriff ist ihm sein »Zweck und Wesen«.236 Überwunden ist damit die Vorstellung von einer Wirklichkeit, die das Individuum bloß vorfindet und die ihm nichts weiter als das Negative seiner selbst bedeutet. Wir müssen sehen, welcher Begriff von Handlung sich aus diesem Selbstverständnis des vernünftigen Individuums ergibt. Aus diesem der Hegelschen Auffassung von Vernunft zwar bereits angemessenen Begriff, den das Selbstbewußtsein von sich selbst gewonnen hat, resultiert zunächst einmal eine Gestalt von Handlung, welche das »Ansehen der Bewegung eines Kreises« hat, welches »frei im Leeren sich in sich selbst bewegt«237. Denn da es den Gegensatz gegenüber der Wirklichkeit im Begriff seiner selbst und damit zugleich alle äußere Bedingtheit seines Tuns abgeworfen zu haben vermeint, geht es »frisch von sich aus, und nicht auf ein anderes, sondern auf sich selbst.«238 – Allerdings erhebt sich bereits an dieser Stelle die Frage, was – unter Voraussetzung dieses genannten Begriffs seiner selbst, alle Realität zu sein – das treibende Moment ist, aufgrund dessen das Individuum schließlich zur Tat schreitet. Denn Handeln setzt voraus, daß die Wirklichkeit, auf die hin gehandelt wird, als das Negative des Selbst gesetzt ist. Hegels Ausgangsüberlegung: »Das Tun verändert nichts, und geht gegen nichts« scheint daher rätselhaft, denn das Individuum muß irgendeinen Mangel, ein Bedürfnis verspüren; es muß ein Interesse an den Umständen nehmen, ohne welches Handeln nicht vorstellbar ist. Aber »es ist der Tag überhaupt, dem das Bewußtsein sich zeigen will […]; es ist die reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden«. Worum es in diesem Tun also zunächst einmal geht, ist die Transformation 236

»Der Geist, der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke hat, ist zunächst überhaupt der vernünftige Wille oder an sich Idee, darum nur der Begriff des absoluten Geistes.« (Enzyklopädie, § 482) So charakterisiert Hegel den »freien Geist« als den Schlußstein seiner Philosophie des subjektiven Geistes, der sich nunmehr auf der Schwelle zu seiner Objektivierung befindet. 237 PhG 260. 238 Ebd.

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eines bestimmten Inhaltes in die Form der Äußerlichkeit und Objektivität; eine Transformation, die zunächst als bruchlose vorgestellt wird. Der durch das Tun herausgebrachte Inhalt ist damit nicht etwas von seiner nur gedachten Form oder seiner ideellen Vorwegnahme Verschiedenes (wie es in der Handlung, die einem rationalen Akteur zugerechnet wird, niemals der Fall sein kann, daß sein Zweck sich von der Handlung in ihrer objektiven Gestalt wesentlich, bis zur Unkenntlichkeit, unterscheidet). Der einzige Unterschied, der zwischen dem verwirklichten und dem noch innerlichen Zweck besteht, ist demnach der, daß letzterer in der Form der »gedachten« und ersterer in der Form der »seienden Einheit« gegeben ist. Diese Konzeption von Handlung gilt es nun näher zu erörtern. Der in diesem Abschnitt der Phänomenologie dargestellte Begriff der Individualität239, welche die Realität in sich aufgenommen hat, ist zunächst bloß Resultat, also: noch nicht für es selbst. Die »reale Individualität« faßt sich, da sie sich in ihrer Realität noch nicht dargestellt, sich noch nicht verwirklicht hat, in bloß abstrakter Weise als mit ihrer Äußerlichkeit identisch auf.240 Da das Tun immer eine in der Negativität gründende Bewegung darstellt, diese Negativität aber noch nicht für das Individuum ist, ist sie lediglich in der Form des Ansich; die Individualität findet sich demnach als »ursprünglich-bestimmte« und einzelne »Natur«. Der Unterschied, die Negativität wird zunächst noch auf der Seite des Seins verbucht, er durchwirkt nicht die Vorstellung des Individuums von seinem eigenen Tun. Denn ebenso, wie sie »frei und sich selbst gleich bleibt«241, hat die Individualität die Vorstellung von der ungetrennten Einheit ihres Seins und ihres Tuns als »reine[r] Wechselwirkung mit sich in ihrer Verwirklichung«. Als den zu verwirklichenden Inhalt des Zwecks nennt Hegel Fähigkeit, Talent, Charakter. Jedes über diese ursprüngliche und natürliche Bestimmtheit hinausgehende Wollen wäre ein ›Anknüpfen an Nichts‹; das Individuum versucht zunächst nur, seine Persönlichkeit und was es von ihr weiß, äußerlich darzustellen, was ein völlig anderer Zweck ist als der, der sich etwa als reflektierte tätige Einflußnahme auf die objektiven sozialen Verhältnisse äußert. Keine Konzeption

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Diese Gestalt von Individualität ist aus der Sicht von Gustav Falke »die erfüllte Mitte von ›Zweck‹ und ›Wirklichkeit‹« und bezeichnet damit »das wahre Zentrum des Hegelschen Systems.« Falke sieht hier das theoretische und das praktische Verhalten des vernünftigen Selbstbewußtseins zu einer Totalität zusammengeschlossen. (Gustav-H. H. Falke: Begriffne Geschichte. Das historische Substrat und die systematische Anordnung der Bewußtseinsgestalten in Hegels Phänomenologie des Geistes. Interpretation und Kommentar. Berlin 1996. 229.) 240 Vgl. PhG 261. 241 Ebd. 262.

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von Handlung jedoch, insofern sie nicht gänzlich davon abstrahieren kann, die Handlung als einen Sinnausdruck des Subjekts aufzufassen, kann von dieser subjektiven Seite der Zwecksetzung, wie sie sich mit dem Charakter verbindet, gänzlich absehen. Eine grundsätzliche Trennung, was einen ›reinen‹ und einen ›empirischen‹ Willen angeht, wird also von Hegel grundsätzlich abgelehnt.242 In ihrem Tun jedoch tritt diese einfache ursprüngliche, aber bestimmte Natur unweigerlich in den Unterschied zwischen Tun und Bewußtsein. Dieses Tun enthält die drei Seiten erstens des Zwecks als des Gegenstandes, wie er dem Bewußtsein angehört, zweitens der Verwirklichung selbst oder des Übergangs des Inneren in das Äußere, vorgestellt als bloß formaler Übergang, da der Unterschied zwischen Innerem und Äußerem hier nicht mehr bewußtseinskonstitutiv ist, und schließlich drittens des Werks als des realisierten Zwecks, wie er zugleich »aus ihm heraus und für es als ein Anderes«243 ist. – Der Inhalt des Tuns jedoch bleibt in allen Momenten derselbe; die Vorstellung der Individualität von seinem eigenen Tun ist so die einer in sich geschlossenen Einheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Im eigentlichen Sinn, so fährt Hegel fort, sei die »ursprünglich bestimmte Natur der Individualität« nurmehr als innere Disposition für ein bestimmtes Tun, nicht aber als dieses Tun selbst zu verstehen244, denn das Tun, das hier in Rede steht, ist, wie bereits gesagt, nur erst »reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins«. Damit ist dieses Tun jedoch keineswegs eines, das ebensogut unterlassen werden könnte, denn es hat den Zweck, daß dem Bewußtsein »für es sei, was es an sich ist […], oder das Handeln ist eben das Werden des Geistes als Bewußtsein.«245 Die Behauptung, daß das Handeln die Bedingung für das »Werden des Geistes als Bewußtsein« darstellt, ist so aufzufassen, daß das Individuum durch das Tun, durch die Verwirklichung dessen, was es an sich ist, und durch seine Entäußerung ein Selbstverhältnis gewinnt, welches sich als das Resultat der Rückkehr aus der von ihm selbst gesetzten Wirklichkeit ergibt. Weil »dieses Tun in sich selbst Wissen ist und nur als bewußtes und bewußtmachendes Tun wirklich ist, sagt Hegel vordeutend: ›das Handeln ist eben das Werden des Geistes als Bewußtseyn‹.«246 Damit ist auch nachvollziehbar, wieso Hegel hier wie auch im sich anschließenden Geistkapitel von der 242

Vgl. dazu auch Gustav Falke: Begriffne Geschichte. A. a.O. 233. PhG 262 f. 244 Vgl. ebd. 263. 245 Ebd. 263 f. 246 Herbert Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit. A. a.O. 322. Auch Hegels spätere Rede vom »geistigen Wesen« als dem »Wesen aller Wesen«, das sich 243

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Handlung ausgeht; hier wie dort konstituiert sich das Wissen des Geistes von sich selbst darüber, daß er seine eigenen Bestimmungen realisiert und sich der Begriff, den er von sich selbst hat, an dieser Realität bewähren kann. Die Theorie des Geistes, die auf Wissen und Selbstwissen beruht, muß daher eine Konzeption der Handlung zu ihrem Mittelpunkt haben247 − und zwar eines Handelns, das nicht bloß Sache des Einzelnen sein kann, denn sofern »wir es mit dem Geist zu tun haben, ist dieser von vornherein auf die Pluralität der anderen, deren Gemeinschaft er angehört, bezogen«248. Die Frage ist nun, wie sich das Individuum in der Wirklichkeit seines an sich seienden Wesens erfahren kann. Es scheint zunächst nicht naheliegend, daß es diese Erfahrung lediglich in seiner Zwecksetzung oder im Vollzug der Handlung machen kann, denn dieses Tun wird von ihm als die Einheit von Anfang (Zweck), Mittel und Ende (Werk) vorgestellt. »Das ans Handeln gehende Individuum scheint sich also in einem Kreise zu befinden, worin jedes Moment das andere schon voraussetzt, und hiemit keinen Anfang finden zu können, weil es sein ursprüngliches Wesen, das sein Zweck sein muß, erst aus der Tat kennen lernt, aber um zu tun, vorher den Zweck haben muß.«249 Für Hegel folgt daraus: »Ebendarum hat es unmittelbar anzufangen«. Der erste Teil dieser Behauptung, daß der Handelnde erst nach dem Vollzug und in Konfrontation mit dem objektiven Erfolg der Handlung um seinen vor der Handlung gefaßten Zweck wissen könne, wird von Robert Pippin zum Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen gemacht. Pippin geht in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem von Hegel hier vorgebrachten Handlungsbegriff zunächst von der Frage aus: »Wenn Freiheit die Grundlage unseres einzigartigen Wertes und unserer moralischen Würde ist und wenn Freiheit im reflektierten und besonnenen Handeln besteht – Handeln im Lichte praktischer Gründe –, was heißt es dann Hegel zufolge, mit Gründen zu handeln, besonders wenn eine kausale Theorie der motivationalen Rolle von Gründen zurückgewiesen wird? Um die Frage noch genauer in der allgemeinen Sache selbst manifestiert (PhG 276), scheint einen Kontrast zu dem in der Überschrift angekündigten »geistigen Tierreich« zu bilden. Wenn Hegel die Selbstdarstellung der Individualität im Rahmen ihrer bestimmten Natur mit dem unbestimmten Tierleben parallelisiert, das sich in der Natur als in seinem Element bewegt und entwickelt, »dabei aber sowohl seine Individualität wie die Gattung erhält und zum Ausdruck bringt« (Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. A. a.O. 162.), kann die Pointe dieser Schlußpassage nur darin liegen, daß das einzelne Individuum sich dessen gewahr wird, daß es in seinem Tun »unmittelbar für andre« ist und sich in dieser Erfahrung seines eigenen Tuns zugleich als der Sache der Gattung bewußt wird. 247 Vgl. Ulrich Schlösser: Handlung, Sprache, Geist. A. a.O. 440. 248 Ebd. 441. 249 PhG 264 (Hervorhebungen im Original, BC).

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in Hegels Worten zu fassen: Wie ist die Relation zwischen ›Innerem‹ (Intentionen) und ›Äußerem‹ (Taten, insbesondere in ihrer Existenz ›für andere‹) richtig zu verstehen?«250 Pippin zufolge sind praktische Gründe aus der Sicht Hegels keineswegs mit einem individuellen Entschluß zu identifizieren, denn sie ergäben sich aus der sozialen Wirklichkeit selbst und können daher auch »nicht primär interne mentale Zustände«251 sein, vielmehr ist die Möglichkeit ihrer Geltung an »Wirklichkeiten« gebunden. Praktische Gründe sind aus Pippins Sicht als Teil einer »vorrangigen ›ethischen Wirklichkeit‹« zu verstehen. Nun sei freilich die äußere Begebenheit, die Wirklichkeit, stets auf die »innere Vermittlung«252 durch das Subjekt angewiesen, damit es an ihr einen praktischen Grund für sein Handeln gewinnen kann. Aber auch hinsichtlich dessen, was auf eine Handlung folgt oder genauer: wie diese wahrgenommen wird, verweist Pippin auf die Bedeutung der wirklichen sozialen Umstände. Darüber hinaus wende sich Hegel aber, vor allem in diesem Kapitel der Phänomenologie, gegen »unser konventionelles modernes Verständnis des Handelns«, welches den Fehler begehe, die innere Intention von den äußerlichen Manifestationen zu trennen und die Handlung bloß unter Bezug auf die »isolierte einzelne Intention« als deren Ursache zu erklären.253 Geht man jedoch, wie Pippin es tut, von der Überzeugung aus, daß das Innere und das Äußere (hier: die innere Intention und die äußerliche Manifestation derselben) nicht strikt voneinander zu trennen sind − Pippin beruft sich in diesem Zusammenhang auf die enzyklopädische Wesenslogik, insbesondere die §§ 138 bis 140 −, dann wird auch das Privileg einer Deutung der ursprünglichen Intention durch das Subjekt selbst fraglich (da ein solches Sich-Berufen auf die eigene Absicht, die sich in der Objektivität der Handlung selbst nicht ausdrückt, auf ein von der Äußerlichkeit losgelöstes Inneres rekurrieren muß). Pippin geht indes noch einen Schritt weiter und gelangt so zu der zentralen These seines Textes, die besagt, daß wir uns in der Beurteilung einer Handlung nicht auf die durch Introspektion gewonnene Absicht verlassen können, sondern daß die Absicht oder die ursprüngliche Intention vielmehr anhand der entwickelten Natur der Handlung rekonstruiert werden muß, da sie vor der Ausführung der Handlung, bevor der Zweck dem Handelnden in der Gestalt von Wirklichkeit gegenübertritt, nicht bestimmt

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Robert Pippin: Hegels praktischer Realismus. Rationales Handeln als Sittlichkeit. – In: Hegels Erbe. Herausgegeben von Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep. Frankfurt a.M. 2004. 295–323; hier 299. 251 Ebd. 304. 252 Ebd. 306. 253 Vgl. ebd. 305.

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werden kann – auch nicht vom Handelnden selbst.254 Pippin gesteht, Hegels Position sei in der Tat kontraintuitiv oder gar »extrem«255 − nichtsdestotrotz müsse sie als die maßgebliche begriffen werden. Pippins Unterstellung, damit sei Hegels maßgeblicher Begriff der Handlung destilliert, scheint mir jedoch in dieser Konsequenz fraglich. Zunächst einmal stimme ich Pippin darin zu, daß für Hegel die Seite der Innerlichkeit oder der Subjektivität des Zweckes, solange er noch nicht zur Ausführung gelangt ist, bloß formalen Charakters ist und seine objektive Gestalt erst in der Entfaltung ihrer immanenten Folgen gewinnt. Auch das Privileg einer Deutung der ursprünglichen Intention durch das Handlungssubjekt selbst wird damit brüchig. Außerdem − bezogen auf den hier diskutierten Abschnitt der Phänomenologie − wird Pippins Interpretation dieses Handlungsbegriffs durch Hegels Schilderung der Erfahrung, die das vernünftige Individuum im Ausgang seiner Handlung machen wird, gestützt; es macht nämlich die Erfahrung, daß nicht etwa die partikuläre Handlung, sondern allein die ›Sache selbst‹, das Werk Aller, von allgemeiner Bedeutung ist. Allerdings spricht gegen die von Pippin vertretene Ansicht, wir hätten es hier mit Hegels einzig maßgeblicher Handlungstheorie zu tun, daß der in diesem Abschnitt der Phänomenologie entwickelte Begriff der Handlung dem der Grundlinien in wesentlichen Aspekten keineswegs entspricht – und dann haben wir es zumindest mit einer Konkurrenzsituation zu tun (sofern tatsächlich in den genannten Textstücken von Phänomenologie und Grundlinien dasselbe verhandelt wird – und man nicht vielmehr davon ausgehen muß, daß die Phänomenologie in gewisser Weise die ›Vorgeschichte‹ von Hegels Darstellung des ›objektiven Geistes‹ darstellt). Zwar ist gerade im Kontext der Rechtsphilosophie die dialektische Entfaltung der Handlung in Gestalt ihrer objektiven Folgen mit Blick auf das Problem der Zurechnung bedeutsam, doch kann man meines Erachtens keineswegs so weit gehen zu behaupten, daß die ausgeführte Handlung die innere Motivation des Handelnden für ihn selbst erst erkennbar werden läßt. Hegels Schuldkonzeption, die er im Rahmen seiner Handlungslehre im Moralitätskapitel entwickelt, basiert, wie gezeigt, auf dem Moment der Übereinstimmung von Absicht und Handlungserfolg, auf der vollständigen oder teilweisen Übereinstimmung von Innerem und Äußerem, jedenfalls auf der subjektiven wie objektiven Möglichkeit eines Zurückführens der objek-

254

Vgl. ebd. 308. Ebd. 313. Entsprechend heißt es bei Hegel: »Das Individuum kann daher nicht wissen, was es ist, eh es sich durch das Tun zur Wirklichkeit gebracht hat. – Es scheint aber hiemit den Zweck seines Tuns nicht bestimmen zu können, eh es getan hat […].« (PhG 264) 255

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tiven Gestalt der Handlung auf eine subjektive Zwecktätigkeit (was sich in der Imputation äußert). Die Handlung unterscheidet sich nur dadurch von der Tat, daß jene Ausdruck eines bewußten Wollens ist. Das moralische Subjekt muß sich und seinen bestimmten Zweck in der objektiven Gestalt seines Tuns wiedererkennen können, erst dann hat es ›Schuld‹ an ihr. Selbst wenn man sich an dieser Stelle nicht für den einen und gegen den anderen Begriff von Handlung aussprechen − oder ein Urteil darüber fällen mag, was als wesentliches Kriterium von Handlung zu betrachten ist −, bleibt immerhin zu konstatieren, daß Pippins Behauptung, der im Abschnitt über das ›geistige Tierreich‹ zur Entfaltung gebrachte Begriff entspreche Hegels Auffassung von Handeln, ihren Beweis schuldig bleibt.256 Doch kehren wir zur Phänomenologie des Geistes zurück. Wo eine solche Zirkularität des Handlungsvollzugs und seiner inneren wie äußeren Bedingungen vorausgesetzt ist, ist der Zweck in seiner Unmittelbarkeit dasjenige, was gleichermaßen der Wirklichkeit wie dem in ihr handelnden Individuum angehört.257 Was also eine vorgefundene Wirklichkeit zu sein scheint, ist »an sich« die »ursprüngliche Natur« des Individuums und diese spricht sich in dem Interesse aus, das es an der Wirklichkeit und an seinem Tun nimmt. Der Anfang oder der Grund einer jeden Handlung ist also in den gegebenen gesellschaftlichen Umständen zu suchen. Diese vorgefundenen sozialen Umstände der Wirklichkeit gelten dem Individuum nun aber nicht einfach auf unvermittelte Weise als praktischer Grund seines Handelns, sondern es nimmt an ihnen ein spezifisches Interesse. Und dies Interesse »ist schon die gegebene Antwort auf die Frage: ob und was hier zu tun ist.«258 Die Wirklichkeit, wie sie auf dieser Stufe der Entwicklung des Geistes zu einem Moment des Begriffs der realen Individualität wird, die sich damit ihrer selbst als aller Realität gewiß ist, wird von dieser zugleich als nur scheinbar selbständiges Sein erkannt. Mit anderen Worten: Der Vorgang als solcher ist dem Indivi256

Außerdem weist Gustav Falke darauf hin, daß dieser vermeintlich Hegelsche Begriff der Handlung im Grunde eine kritische Auseinandersetzung mit dem von Fichte entwickelten Begriff der Handlung und dessen problematischen Implikationen darstellt und weniger seine eigene Auffassung zum Ausdruck bringt. (Vgl. Gustav Falke: Begriffne Geschichte. A. a.O. 230 ff.) 257 Vgl. PhG 16 f. Den Gedanken, daß der vom Individuum gefaßte Zweck seiner Handlung weniger seiner subjektiven Innerlichkeit als der sozialen Wirklichkeit oder den ethisch-sittlichen Bedingungen der Gesellschaft angehört oder entspringt, bringt Hegel auch in seinen Vorlesungen über die Ästhetik zu Ausdruck; dort sind es die »allgemeinen Mächte [des Handelns], welche den wesentlichen Gehalt und Zweck bilden, für welchen gehandelt wird«. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt a.M. 1970. 285 (=TWA, Bd. 13). 258 PhG 264.

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duum an dieser Stelle zwar nicht bewußt, aber in seinem Interesse vermittelt es sich mit der äußeren Begebenheit und kann auf diese Weise die von ihm vor dem Hintergrund seines Interesses interpretierten Umstände zu einem Grund seines Handelns machen. Indem es bestimmte und seinem Zweck entsprechende Mittel (innere wie äußere) zur Anwendung bringt, vollzieht es den realen Übergang des Inneren ins Äußere. Diesem Begriff der Handlung entsprechend, muß jedes der Momente der Handlung die wechselseitige Durchdringung von Subjektivität und Allgemeinheit aufweisen; der ›Doppelcharakter des Mittels‹, durch welches in Entsprechung zum Tun der reale Übergang des ideellen Zwecks in die Wirklichkeit ermöglicht wird, besteht demnach darin, einerseits inneres Mittel (Talent, Fähigkeit) und andererseits reales Mittel im Sinne der »Einheit des Talents und der im Interesse vorhandenen Natur der Sache«259 zu sein. So ist das Mittel in sich Ausdruck der vollständigen Durchdringung von Innerem und Äußerem, von Sein und Tun, indem es eben in sich selbst diese Seiten enthält und daher die »Verknüpfung und Aufhebung dieses Gegensatzes im Mittel«260 ermöglicht. Allein, diese Verknüpfung fällt vorläufig noch innerhalb des Bewußtseins selbst, das Mittel muß diese Einheit nunmehr als ein Äußeres setzen, wodurch die Individualität schließlich als wirkliche hervortritt. Ferner tritt die so begriffene ›Handlung‹ in keinem ihrer Momente aus sich heraus; d. h. die auf ursprüngliche Weise bestimmte Individualität setzt sich in ihrem Handeln als ein anderes, ohne daß ein Unterschied hereinkommt. – Mit dem »Werk« oder dem Resultat der Handlung, die damit zur »seiende[n] Wirklichkeit« geworden ist, tritt zugleich der Unterschied der Individuen, der ursprünglichen Naturen, ein. Ziel des vernünftigen Individuums war es, seinen Charakter und die ihm eigenen Anlagen, dasjenige, was es fälschlich für sein Wesen hält, innerhalb einer sozialen Wirklichkeit unverfälscht, authentisch darzustellen. Das Werk gilt ihm also zunächst als das »sich Aussprechen [seiner] Individualität«261, welche es in der Wirklichkeit seiner mannigfachen sozialen Bedingungen geltend zu machen sucht. Da sich das Individuum der Durchdringung seiner Individualität und der sozialen Wirklichkeit, des Seins, unmittelbar gewiß ist, wird alles bestimmte, äußere Tun als Aussprechen der Individualität aufgefaßt, daher kann es auch in allem Äußeren nur sich selbst finden und erleben. – Soweit zumindest der Begriff, den sich das handelnde Individuum von sich und seinem Tun macht. 259 260 261

Ebd. Ebd. Ebd. 265.

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Vorausgesetzt, daß das Werk die Realität ist, die sich das Bewußtsein selbst gibt, hat es auch keinerlei Grund, seine Tat zu bereuen. Mit der Übersetzung seines charakterlichen Wesens in ein Werk macht es jedoch schließlich eine Erfahrung, die seine vermeintliche Gewißheit widerlegt. Denn im Werk hat sich das Bewußtsein in das Element der Allgemeinheit, in den »bestimmtheitslosen Raum des Seins hinausgestellt«. Das von seinem Werk zurücktretende Bewußtsein verhält sich unweigerlich negativ diesem und damit sich selbst gegenüber; »es geht also über sich als Werk hinaus, und ist selbst der bestimmtheitslose Raum, der sich von seinem Werke nicht erfüllt findet.«262 Indem es sich auf sein Werk bezieht, welches sich damit als kritisch-negative Korrekturmöglichkeit seiner unmittelbaren Selbstgewißheit erweist, wird allererst ein reflektiertes Selbstverhältnis in Gestalt der Frage möglich, ob und inwiefern der Begriff, den sich das Bewußtsein von sich und seinem Tun macht, mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmt, die in seinem Werk bereits repräsentiert ist. Das Werk kann, in die Allgemeinheit herausgestellt, nunmehr mit anderen Werken auf äußerliche Weise verglichen werden. Lediglich auf äußerliche Weise deshalb, weil sich das Werk – da es zunächst einzig der authentische Ausdruck des Individuums zu sein vorgibt − allein auf sich selbst bezieht, gleichgültig gegen die Werke der anderen.263 Aber schon das Bedürfnis, die eigene Individualität von der der anderen abzugrenzen, ist der »Anfang der Verfälschung, die sich fortsetzt durch die Deutung der anderen, ihre Reaktion, ihre Selbstbehauptung«.264 Das Werk, welches der Individualität unmittelbar Ausdruck verleihen sollte, muß sich, in die soziale Wirklichkeit herausgesetzt, als etwas Vergängliches erweisen, das durch das Widerspiel der verschiedenen Interessen ausgelöscht wird, und vielmehr die »Realität der Individualität als verschwindend, denn als vollbracht darstellt.«265 Das vernünftige Individuum muß die Erfahrung der Entfremdung machen; die Erfahrung, daß eine unaufhebbare Differenz zwischen Werk und Deutung besteht.266 Dieses Verschwinden der Individualität soll aber nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit sein. Das vernünftige Individuum versucht zunächst an seinem Wissen vom Wesen seines Zweckes gegen die Zufälligkeit der Verwirklichung festzuhalten; es versucht, an dem bleibenden oder vermeintlich bleibenden Inhalt seines Tuns festzuhalten, mit dem es sich als

262 263 264 265 266

Ebd. 267. Vgl. ebd. 266. Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. A. a.O. 163. PhG 268. Vgl. Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. A. a.O. 163.

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der Verwirklichung seines Wesens zu identifizieren sucht. Für diesen Sachverhalt wählt Hegel die Bezeichnung der »Sache selbst«267. An der ›Sache selbst‹268 glaubt das Bewußtsein nun in der Tat seine Substanz zu haben. Doch auch dieses Berufen auf die Sache selbst als den bleibenden Ausdruck seines eigenen Wesens ist zum Scheitern verurteilt. Denn es ist jede beliebige Sache oder die »einfache, abstrakte Sache selbst«269, die ihm für das Wesen gilt, und diese kann nunmehr ebensogut verwirklicht werden, als sie bloß gewollt sein kann. Das vernünftige Individuum kann »sonst eine Weltbegebenheit, die es weiter nichts angeht, […] zu der seinigen« machen, ein »tatloses Interesse« daran nehmen und sich damit identifizieren – denn allein um diese Identifizierung, verbunden mit seiner Selbstdarstellung ist es ihm hier zu tun. Die Sache selbst erweist sich also als das reine selbstzweckhafte Tun, oder als »tatlose Wirklichkeit«.270 Die sich auf diese Weise engagierenden Individuen sitzen jedoch gegenüber anderen Individuen einem Betrug auf, wenn sie glauben, daß sich in der Parteinahme für eine Sache auch die subjektive Intention verbirgt, die um der Sache selbst willen handelt und nicht vielmehr an seiner Selbstdarstellung interessiert ist. Wir haben es hier aber gerade mit einem Spiel wechselseitiger Täuschung zu tun. – Hegels polemische Darstellung des künstlerischen Betriebs, seine Vorweg-

267

PhG 270. Falke deutet die »Sache selbst« in einer philosophiegeschichtlichen Perspektive im Sinne des ›höchsten Gutes‹. »Das höchste Gut als die umfassende, absolute Idee ist die realisierte Übereinstimmung von Freiheit und Notwendigkeit, subjektivem Subjekt-Objekt und objektivem Subjekt-Objekt. Das entspricht der Sache selbst als gegenständlich gewordener Einheit des Tuns und des Seins.« Und er fügt ergänzend hinzu: »Die Sache selbst aber hat Wirklichkeit erst im Staat, der somit an den systematischen Ort des höchsten Gutes tritt.« Damit bedarf es auch keines »jenseitigen Gottes mehr, um die Möglichkeit der Wirklichkeit des höchsten Gutes zu garantieren.« (Gustav Falke: Begriffne Geschichte. A. a.O. 240.) 269 PhG 271. 270 Ebd. 273. »Hegel beschreibt und kritisiert hier einen Aktivismus und Dezisionismus, […] ein humanistisches Engagement, das sich für alle möglichen Bewegungen und Gruppen einsetzt, unabhängig von deren konkreten Zielen und Taten, unabhängig vom Gelingen oder Scheitern der geplanten ›Werke‹.« (Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. A. a.O. 165.) Falke dagegen kommentiert diese Stelle der Phänomenologie folgendermaßen: Hegels Beispiele dafür, daß immer ein anderes Moment der Tat für die Sache selbst erklärt wird, lassen sich als »freie Collage« von Argumenten aus dem dritten Kapitel von Fichtes Bestimmung des Menschen lesen. Kritisiert werden aus der Sicht Falkes moralphilosophische Auffassungen, denen zufolge jeder nur für seinen eigenen Willen verantwortlich ist und es für die sittliche Beurteilung der Tat nur auf die Absichten und Gesinnungen ankommt, nicht auf den Erfolg. (Vgl. Gustav Falke: Begriffne Geschichte. A. a.O. 243.) 268

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nahme moderner Öffentlichkeit im Medienzeitalter271 ist zweifellos bemerkenswert; im Vordergrund der vorliegenden Überlegungen stehen allerdings die handlungstheoretischen Implikationen dieses Abschnitts. Jenseits aller hier von Hegel vorgetragenen Kritik gegenüber solchen Auffassungen, denen zufolge dem Inneren oder der Gesinnung die Priorität gegenüber dem ›verwirklichten Guten‹ eingeräumt wird, läßt sich immerhin soviel festhalten: Handeln im Sinne der Entäußerung subjektiver Zwecke impliziert immer zweierlei; sofern es nämlich um eine Sache zu tun ist, erscheint das eigene Tun gemessen an ›der Sache‹ als einer Angelegenheit von allgemeinem Interesse als zufällig (weil jeder andere die Sache ebensogut ausführen könnte), andererseits ist die persönliche Identifikation mit der Sache und auch das subjektive Interesse, das sich mit ihr verbindet, geradezu notwendig.272 Und da die Sache von allgemeinem Interesse ist, kommt es fortwährend zu einem Dissens politischer, kultureller, ökonomischer Ansichten, und dies sowohl hinsichtlich der Zwecksetzung wie hinsichtlich der Bestimmung der Mittel und Wege zur Erreichung des Zieles. Die beiden auf den hier besprochenen folgenden Abschnitte der Phänomenologie (»Die gesetzgebende Vernunft« und »Die gesetzprüfende Vernunft«) widmen sich dann auch der Frage, wie sich allgemeingültig bestimmen läßt, was die allgemeine Sache erfordert und was vernünftig ist.

5.3.2 Die Tat als Prinzip der Individuation (Abschnitt: »Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal«) Im Zusammenhang des im folgenden zu diskutierenden ersten Teils des Geist-Kapitels der Phänomenologie ist es mir im wesentlichen um die Klärung der Begriffe der ›sittlichen Handlung‹, der Schuld sowie der hier noch wirksamen Schicksalsvorstellung im Kontext des Untergangs der griechischen Sittlichkeit und ihrer Aufhebung in den römischen Rechtszustand zu tun. Hegel analysiert in diesem Textstück anhand der Tragödien des Sophokles eine Epoche europäischer Geistesgeschichte, die für ihn deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil sich hier der »Übergang von dem Modell einer

271

Dies ist die Lesart von Ludwig Siep: Der Weg der »Phänomenologie des Geistes«. A. a.O. 166. 272 Man könnte an dieser Stelle ergänzen, daß die von Hegel vorgeschlagene dialektische Bewegung gerade darauf zielen muß, daß diese beiden Seiten sich als Momente der allgemeinen Sache selbst begreifen, daß diese für sich selbst und Subjekt wird.

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archaischen Clangesellschaft […] zu einem völlig anders strukturierten politischen Modell [vollzieht], in dem sich ein starkes Zentrum der staatlichen Macht herausgebildet hat«273. Das Tragische an dieser Übergangssituation, die mit dem gänzlichen Niedergang beider Seiten, dem von Antigone verkörperten göttlichen Gesetz (der Familienpietät) und dem von Kreon verkörperten ›weltlichen Gesetz‹ (der Staatsmacht), ihr Ende findet, liegt für Hegel darin, daß das hier in seinem unausgereiften Anfangsstadium sich befindende politische Gemeinwesen noch nicht imstande ist, den Konflikt zwischen beiden sich hier noch gleichberechtigt gegenüberstehenden sittlichen Mächten zu lösen, oder die Institution der Familie auf eine Weise in das politische Gemeinwesen zu integrieren, daß die allgemeinen Kräfteverhältnisse den Konflikt in einer derart existentiellen Form nicht mehr zulassen.274 Von der »sittlichen Handlung«, wie sie hier mit Blick auf die AntigoneTragödie noch näher zu bestimmen ist, ist das vorsätzliche Handeln im Sinne einer moralischen Willensbestimmung, mit dem Ziel der autonomen Verwirklichung persönlicher Interessen gegenüber oder genauer: im Verhältnis zum Allgemeinen (Moralität), zu unterscheiden. – Das Merkmal der Differenz zwischen beiden Erscheinungsformen von Tätigkeit, einer Tätigkeit einerseits, wie sie in der Phänomenologie als Paradigma sittlichen Handelns unter den Bedingungen griechischer Sittlichkeit mit ihrem Signum der unmittelbaren Identität von handelndem Subjekt und Allgemeinem bestimmt ist, und einem Handeln unter den spezifisch modernen Bedingungen sich aus273

Pawel Dybel: Antigone und das göttliche Gesetz. – In: Phänomen und Analyse. Grundbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts in Erinnerung an Hegels Phänomenologie des Geistes (1807). Herausgegeben von Wolfram Hogrebe. Würzburg 2008. 176– 184; hier 177. 274 Vgl. ebd. 181. Es wären zahlreiche Studien zu nennen, die sich mit Hegels Theorie der Tragödie im Allgemeinen und der im Folgenden zu diskutierenden Problematik um die tragische Figur der Antigone im Besonderen befassen. Hier ist eine Auswahl zu treffen: Michael Schulte: Tragödie im Sittlichen. A. a.O.; Dieter Bremer: Hegel und Aischylos. – In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Herausgegeben von Annemarie GethmannSiefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. 225–244; Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996. 156 ff.; Ders.: Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche. – In: Hegel-Jahrbuch 1999. 16–28; Judith Butler: Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death. New York 2000 (deutsche Übersetzung: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt a.M. 2001); ebenfalls aus feministischer Perspektive: Martha Nussbaum: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1986. Ferner Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg/München 1993 (vgl. darin das Kapitel: »B. Hegel und die griechische Tragödie«) sowie Alfred Dunshirn: Die Einheit der Ilias als tragisches Selbstbewußtsein. Das homerische Epos bei G.W.F. Hegel in der Phänomenologie des Geistes und in den Vorlesungen über die Ästhetik. Würzburg 2004.

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differenzierender gesellschaftlicher und rechtlicher Verhältnisse sowie einer sich herausbildenden Pluralität moralisch-ethischer Vorstellungen zu sehen. Die individuelle Selbstgewißheit und die in sich reflektierte Willensbestimmung des moralischen Subjekts sind Ausdruck einer Distanznahme gegenüber unmittelbar vorgegebenen Inhalten, wie sie die griechische Tragödie, die hier das Paradigma für ein solches sittliches Handeln darstellt, noch nicht vollzogen hat. Doch wenden wir uns nun Hegels Darstellung der ›sittlichen Handlung‹ in der Phänomenologie zu. Das sittliche Reich der Griechen als eine Gestalt des Geistes in seiner einfachen Wahrheit275 stellt in seiner unmittelbaren Daseinsweise das Ganze zunächst als ein »ruhiges Gleichgewicht aller Teile« dar und jeden Teil als einen in diesem Ganzen »einheimischen Geist«276. In diesem ruhigen Ganzen findet der Geist seine Befriedigung. Was in Hegels Augen seine Ruhe, Schönheit und Lebendigkeit ausmacht, ist eben dieses Charakteristikum: daß er seine Befriedigung nicht jenseits seiner selbst, also: jenseits des Ganzen, das er selbst ist, sucht, sondern eben darin. Dieses Gleichgewicht ist nun kein statisches, vielmehr befinden sich seine beiden Extreme, das allgemeine Selbstbewußtsein des Volkes und die »bewußtlose Ruhe der Natur«, in einem steten Übergang aus- und ineinander. Gerät dieses Gleichgewicht zu einem Ungleichgewicht der Teile, so müssen beide Seiten auf irgendeine Weise wieder in ihr Recht gesetzt werden. In solch einer ›bewegten Ruhe‹ erscheint das »sittliche Reich […] auf diese Weise in seinem Bestehen [als] eine unbefleckte durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt.«277 Solch einer in sich ausgewogenen Sittlichkeit entspricht eine Gestalt von Individualität, die noch nicht als Entgegensetzung gegen die allgemein verbindliche Sittlichkeit zu verstehen ist. Der Einzelne ist noch nicht »in seinem Rechte als einzelne Individualität aufgetreten; sie [i.e. die Sittlichkeit] gilt in ihm auf der einen Seite nur als allgemeiner Willen, auf der andern als Blut der Familie«278. Der Einzelne gilt damit nur als der »unwirkliche Schatten« dieser beiden Mächte, denn: »Es ist noch keine Tat begangen; die Tat aber ist das wirkliche Selbst.«279 Durch die Tat erweist sich dann die ruhige Ordnung im Verhältnis der beiden Momente zueinander als ein Schein. Die Tat markiert für Hegel einen plötzlichen Wendepunkt von Ruhe zu Unruhe, von Ordnung zu Unordnung.

275 276 277 278 279

Vgl. PhG 291. Ebd. 302. Ebd. 303. Ebd. 304. Ebd.

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Die Unordnung, die sie erzeugt, kommt durch das »wirkliche Selbst« in die Welt und dieses seinerseits wiederum nur durch die Tat. Dieses wirkliche Selbst gründet wesentlich im Prinzip der Negativität, ohne welches die Tat selbst nicht zu denken ist. – Wenn in der Überschrift zu diesem Kapitel die Tat als das Prinzip der Individuation bezeichnet wurde, so ist damit nichts anderes gemeint, als daß die unter den Bedingungen einer substantialistisch aufgefaßten Sittlichkeit handelnden Individuen durch ihre »entzweiende Tat« zu einem Bewußtsein ihrer selbst in der Identifikation mit einer der beiden sittlichen Mächte gelangen, im Gegensatz zur ihnen entgegentretenden sittlichen Macht, deren Geltung sie durch die Tat erfahren; daß sie zu einem »wirklichen Selbst« werden, wie es bei Hegel heißt. Gemeint ist mit dieser Überschrift nicht, daß Hegel hier die moderne Auffassung von Subjektivität in entwickelter Gestalt zeigt (und auch Sokrates ist erst ein anfänglicher Schritt auf diesem Weg).280 Dennoch bleibt festzuhalten, daß sich in dieser Übergangsgestalt von der Clangemeinschaft zum Staatswesen, welches die einzelnen Familienverbände zu umfassen vermag, nicht nur die Institutionen wandeln, sondern ebenso die Individuen, die sich zunehmend vereinzeln und schließlich im »Rechtszustand« als vollends atomisiert erscheinen. Dies aber ist ein Schritt auf dem Weg zur modernen Subjektivität. (Allerdings bleibt die Frau hier noch ganz auf ihr traditionelles Rollenverständnis reduziert; wo der Mann die unmittelbare, elementare Sittlichkeit der Familie verläßt, um zum aktiven Bürger eines Staatswesens zu avancieren, ändert sich das Rollenverständnis der Frau − auch für Hegel − zunächst nicht.) Mit der ›sittlichen Tat‹ ist also der Anfang jener Bewegung des Unteroder Übergangs der sittlichen Substanz in die »formelle Allgemeinheit« des Selbstbewußtseins oder: in den Rechtszustand gesetzt, die dem sittlichen Bewußtsein als schicksalhafte Notwendigkeit erscheinen. In den einleitenden Bemerkungen zum Abschnitt »Der wahre Geist, die Sittlichkeit« heißt es: »Die Handlung trennt ihn [d. i. den Geist] in die Substanz und das Bewußtsein derselben; und trennt ebensowohl die Substanz als das Bewußtsein.«281 Die sittliche Tat führt jedoch nicht nur diese Trennung herbei, sondern sie ist gleichermaßen der Ausdruck des Selbstbewußtseins als der »unendliche[n] Mitte« zwischen der allgemeinen sittlichen Substanz und »der vereinzelten 280

Vgl. in diesem Zusammenhang Erzsébet Rózsa: Hegels Antigone-Deutung. Zum Status der praktischen Individualität in der Phänomenologie des Geistes. – In: Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch (Hgg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 455–473; hier 458. Rózsa unterscheidet zwischen einer Individualität in einem substantiellen und in einem subjektiven Sinne, wobei zur ersteren ihrer Ansicht nach Antigone und Kreon gehören. 281 PhG 291.

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Wirklichkeit«, welches sich, indem es handelt, als die »Einheit seiner und der Substanz« begreift: Es bringt daher »die Einheit seines Selbsts und der Substanz als sein Werk und damit als Wirklichkeit hervor.«282 Das Allgemeine, verkörpert durch dasjenige, was vormals der »vielförmige und in seinen Bestimmungen schwankende Götterkreis«283 war, verdichtet sich nunmehr in den beiden Mächten, die das göttliche und das menschliche Gesetz repräsentieren und die sich in ihrem Tun aufeinander beziehen. Im identifizierenden Tun der sittlichen Individualität, wodurch diese als ›wirkliches Selbst‹ hervortritt, legt sich der Geist also in seine verschiedenen Bestimmungen aus; die Differenzierung des handelnden Bewußtseins, von der Hegel spricht, ist eine solche zwischen der Ausrichtung auf den allgemeinen Zweck der Handlung sowie auf die konkrete soziale Wirklichkeit, die einander stets durchdringen.284 Die Individualität, die zur Tat schreitet, ist nichts anderes als »das Allgemeine als ein Pathos«285. ›Pathos‹ ist allerdings nicht im Sinne von subjektiver Leidenschaft aufzufassen (zumal diese nicht selten geringgeschätzt wird), es ist vielmehr Ausdruck der in den Individuen wirksamen »allgemeinen Mächte«, die nicht in ihrer Selbständigkeit auftreten können, die Ausdruck und Selbstbewußtsein nur vermittels des handelnden Individuums erlangen können. So ist die »heilige Geschwisterliebe der Antigone« als ein solches Pathos zu verstehen. Das Pathos ist demnach eine »in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens.«286 Das Pathos, so könnte man sagen, ist der sich durch die Individuen geltend machende allgemeine und objektive Zweck; es ist der allgemeine und vernünftige Gehalt, der im menschlichen Selbst gegenwärtig ist, der »das ganze Gemüt erfüllt und durchdringt.«287

282

Ebd. Ebd. 480. 284 Vgl. Ulrich Schlösser: Handlung, Sprache, Geist. A. a.O. 449. An diese Überlegung schließt sich bei Schlösser die These an: »Weil in der Tat nur umgesetzt wird, was in der Handlungsmöglichkeit liegt, kann man dann aber sagen, daß wir es im Kern nicht mit einem Handeln, das in einen tragischen Zusammenhang führt, sondern mit der Tragödie des Handelns selbst zu tun haben. Und das entspricht Hegels von vornherein problematisierendem Umgang mit der Möglichkeit, das Allgemeine im Handeln zu bewähren. […] Der Geist behält ein tragisches Moment in dem Sinn, daß er auf die handelnde Realisierung angewiesen ist, ohne sich doch in ihr finden zu können. Die Entwicklung des Geistes liegt dann auch weniger in der Überwindung dieses Problems, als vielmehr in den Weisen, wie man auf das Problem reagiert.« (Ebd. 449 ff.) 285 PhG 313. 286 TWA, Bd. 13. 301. 287 Ebd. 302. Was seine ästhetische Wirkung betrifft, so begreift Hegel das Pathos als das »hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer.« Das Pathos, da es ein 283

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Da sich der tragische Held ausschließlich einer der beiden sittlichen Mächte verpflichtet weiß, bleibt ihm die andere Seite der sittlichen Substanz verborgen; die ihm gegenwärtige Wirklichkeit repräsentiert ihm daher an sich, ihm verborgen und »im Hinterhalte lauernd«288, ein anderes als das, was für ihn ist; was für ihn ist, ist ihm die »Lichtseite, der Gott des Orakels, der […] aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart«. Sein Wissen ist daher unmittelbar zugleich das Nichtwissen, »weil das Bewußtsein an sich selbst im Handeln der Gegensatz ist.« Damit erscheint der, der sich auf den für ihn offenbaren Sinn verläßt und diesem gemäß handelt, als der Betrogene – denn er handelt ja im besten Wissen und Gewissen. Die beiden Seiten des Bewußtseins, des Wissens und des Nichtwissens also, entsprechen in der Vorstellung des Handelnden dem »offenbarenden Gotte« (Apollon) und der »sich verborgen haltenden Erinnye«289; Zeus, als die »Notwendigkeit der Beziehung beider aufeinander«, stellt die Substanz beider dar. Streng genommen bleibt Hegel die Antwort auf die Frage schuldig, wie sich die bereits angesprochene Trennung innerhalb der sittlichen Substanz, also zwischen der Substanz und dem sittlichen Bewußtsein des Einzelnen, eigentlich vollzieht. Was wir erfahren, ist, daß die Individualität und das individuelle Tun das Prinzip der Einzelnheit überhaupt ausmacht.290 Aber warum sich ein Übergang von der ruhigen Ordnung der in sich gegliederten und dennoch einfachen Sittlichkeit zur Unordnung im Allgemeinen gründender, aber dennoch individueller Taten vollzieht, wird nicht hinreichend

Allgemeines ist, berührt eine Saite, welche in »jedes Menschen Brust widerklingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Gehalt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an.« Was durch das Pathos in künstlerischer Darstellung evoziert werden soll, ist »eine allgemeine Empfindung«. (Ebd.) Das Pathos, insofern man es als den konkret gefaßten ›Weltzustand‹ begreift, ist damit zugleich Resultat der geschichtlichen Entwicklung, was zur Folge hat, daß zwischen das in der antiken Tragödie dargestellte Pathos und den (modernen) Zuschauer notwendig ein Hiatus tritt. Grundsätzlich ist zu bemerken, daß Hegel über das Pathos der handelnden Individuen im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Handlung in ästhetischer Perspektive spricht. Er entwickelt die Handlung als ästhetische Kategorie in Bezug auf den ›allgemeinen Weltzustand‹ und die konkrete ›Situation‹. Die Handlung begreift das Prinzip der Entwicklung in sich und ist im Sinne der »in sich differenten, prozessierenden Bestimmtheit des Ideals« zu verstehen. (Ebd. 233) Diese Selbst-Entfaltung der Idee aber ist nicht ohne das Prinzip der Entzweiung zu denken: »Der volle totale Geist, in seine Besonderheiten sich auseinanderbreitend, tritt aus seiner Ruhe sich selbst gegenüber mitten in den Gegensatz des verworrenen Weltwesens hinein und vermag sich in dieser Zerspaltung nun auch dem Unglück und Unheil des Endlichen nicht mehr zu entziehen.« (Ebd. 234) 288 PhG 481. 289 Ebd. 482. 290 Vgl. ebd. 313.

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deutlich. »Wo nun die unendliche Subjektivität, das ›Ich will‹, noch nicht in die Idee Gottes aufgenommen ist [was Hegel zufolge erst mit dem historischen Auftreten des Christentums möglich wird, BC], da ist auch das subjektive Entschließen aus dem ›Ich will‹ noch nicht gerechtfertigt; der Mensch kann noch nicht den Willen haben, die Bestimmung aus sich zu schöpfen.«291 Die Griechen, so heißt es hier weiter, sahen den Grund der Entschließung noch nicht im Inneren des Menschen; ihnen blieb von daher die »letzte Einheit des Selbstbewußtseins verborgen.«292 Es läßt sich mutmaßen, daß die sich hier tätig vollziehende Entzweiung nur etwas ans Licht bringt, was als Konflikt innerhalb der ruhigen Ordnung des Gemeinwesens bereits an sich vorhanden war. Das neu hinzutretende Moment ist also nicht der Konflikt selbst, sondern die Art und Weise, wie Individuen auf diesen Konflikt reagieren und ihn zu ihrem eigenen machen. Die ursprüngliche Übereinstimmung beider sittlicher Wesen »wird durch die Tat zu einem Übergange Entgegengesetzter, worin jedes sich vielmehr als die Nichtigkeit seiner selbst und des andern beweist«293. Beide sittlichen Mächte und die beiden Selbstbewußtsein, in denen sie ihr Dasein haben, werden in eine negative Bewegung hineingerissen. Mit dieser Bewegung, in der sich jedes als die ›Nichtigkeit seiner selbst und des andern‹ erweist, stellt sich bereits implizit die Frage nach der Schuld. Aus Hegels Bestimmung der sittlichen Handlung in Bezug auf die Situation der griechischen Tragödie (wobei er hier terminologisch die ›Handlung‹ nicht von der ›Tat‹ und dem ›Tun‹ unterscheidet) erhellt nun zunächst, daß sie aus Sicht des handelnden Individuums als »Gestalt seiner Wirklichkeit« erscheint.294 Hegel vollzieht damit terminologisch an dieser Stelle nach, was er als das wesentliche Merkmal des heroischen Selbstbewußtseins begreift, nämlich, daß es zu keiner Differenzierung zwischen der subjektiven Intention, der Ausführung und den objektiven Folgen der Handlung fortschreitet; daß es nicht unterscheidet zwischen dem, was es gewollt und dem, was es verursacht hat.295 Der Grund, von dem diese Bewegung aus- und auf dem sie vorgeht, ist das »Reich der Sittlichkeit«, die Tätigkeit dieser Bewegung wird aber durch das Selbstbewußtsein hervorgebracht; als sittliches Bewußtsein ist es »die einfache reine Richtung auf die sittliche Wesenheit, oder die

291

Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Herausgegeben von Georg Lasson. Bd. II–IV. Hamburg 1968. 598. 292 Ebd. 293 PhG 304. 294 Ebd. 307. 295 Vgl. GPR § 118 Anm.

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Pflicht.«296 Für das Bewußtsein gilt also unmittelbar nur eines der beiden Gesetze, das ›menschliche‹ oder das ›göttliche‹ Gesetz, und von diesem einen ist es wesentlich erfüllt. In dieser Einseitigkeit und ungebrochenen Übernahme der sittlichen Verpflichtung durch den tragischen Helden liegt zugleich die Schuld, die in seinem Tun und dem Erfolg seines Tuns offenbar wird. Die von Hegel gewählte Formulierung, daß das Selbstbewußtsein durch seine Tat zur Schuld wird297 − und nicht etwa Schuld an ihr trägt −, ist im Sinne des bereits Gesagten so zu verstehen, daß es seine Schuld nicht vermittels der Reflexion auf sein Wissen und Wollen auf sich nehmen oder abstreifen kann, sondern sie ganz und ungeteilt auf sich nimmt. Die Schuld, so heißt es weiter, »ist nicht das gleichgültige doppelsinnige Wesen, daß die Tat, wie sie wirklich am Tage liegt, Tun ihres Selbsts sein könne oder auch nicht, als ob mit dem Tun sich etwas Äußerliches und Zufälliges verknüpfen könnte, das dem Tun nicht angehörte, von welcher Seite das Tun also unschuldig wäre.«298 Die Schuld ist hier mit dem Selbst durch sein ihm angehörendes Tun so untrennbar verbunden, daß es mit seiner Schuld zugleich sein ganzes sittliches Wesen und mit diesem wiederum die gesamte sittliche Ordnung verleugnen müsste, als dessen Teil es sich begreift. An die sittliche Handlung, die ganz als Ausdruck des sittlichen Bewußtseins zu verstehen ist, kann sich dieser Auffassung gemäß keinerlei Zufälligkeit anknüpfen, die dem Tun selbst nicht angehörte oder die es verkehrte. Darüber hinaus macht Hegel mit dieser Wendung die Unausweichlichkeit des Schuldigwerdens deutlich, die auf antike Schicksalsvorstellungen verweist. »Unschuldig ist […] nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes.«299 Die individuelle Tat ist zugleich die unabweisbare Schuld des Menschen wie die sie Ausdruck der individuellen Übernahme der Verantwortung für den gesamten sittlichen Zusammenhang ist. Denn mit dem Tun ist die fundamentale Schuld der Entzweiung verbunden. Das Tun ist an sich selbst »diese Entzweiung, sich für sich, und diesem gegenüber eine fremde äußerliche Wirklichkeit zu setzen«, daß jedoch eine solche für das Selbstbewußtsein negative Wirklichkeit ist, gehört wiederum seinem eigenen Tun an. Indem das Selbstbewußtsein zur Tat schreitet, gibt es seine unmittelbare Gewißheit der Wahrheit preis, oder genauer: Es liefert sich mit seinem Tun der sozialen Wirklichkeit aus, die insofern über den sittlichen Wert der Handlung entscheidet,

296 297 298 299

PhG 305. Vgl. ebd. 308. Ebd. Ebd.

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als sie entweder zuläßt, daß sich der Zweck in ihr verwirklichen kann (weil er ihr entspricht) oder aber die Tat an ihr selbst scheitern läßt und sie damit widerlegt. (Damit ist nichts anderes als das im rechtsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit als Erfolgshaftung bezeichnete, in der Antike vorherrschende objektive Schuldverständnis gemeint.) Diese fundamentale Entzweiung, einerseits sich für sich und andererseits sich selbst gegenüber eine fremde, äußerliche Wirklichkeit zu setzen, führt zu jener bereits genannten anderen Entzweiung in eine dem Selbstbewußtsein bewußte und eine ihm unbewußte Seite seines Tuns, welche das von ihm verletzte ›Gesetz‹ verkörpert. Ihrem Inhalt nach ist die sittliche Handlung, die sich selbst als Pflichterfüllung begreift, Rechtsverletzung: Als sittliches Bewußtsein wendet es sich nur einem der beiden ›Gesetze‹ zu und verstößt folglich gegen das aus seiner Sicht rechtlose Gebot des anderen. Durch sein Tun macht das sittliche Bewußtsein die Erfahrung, daß sein Wissen nur einseitig und das Gesetz, dem es folgte, »nur Gesetz seines Charakters ist«300. Die Handlung selbst »ist diese Verkehrung des Gewußten in sein Gegenteil, das Sein«. Form und Inhalt der Tat, wie sie von Hegel in diesem Zusammenhang bestimmt wird, werden lediglich in ihrer objektiven Dimension begriffen: Die Tat ist zwar Ausdruck einer sittlichen Individualität, diese jedoch »ist nur als allgemeines Selbst, und die Individualität rein das formale Moment des Tuns überhaupt«, und daher ist es auch nicht »dieser Einzelne […], der handelt und schuldig ist«301. Das andere für die Handlung konstitutive Moment ist die Wirklichkeit selbst, an welcher sich der sittliche Gehalt der Tat zu bewähren hat und durch die der Handelnde die »entwickelte Natur des wirklichen Handelns«302 erfährt. So erscheint die nicht in Absicht und Folgen geteilte Tat schlechthin als »Gestalt seiner Wirklichkeit«303. Die hier erörterte Entzweiung innerhalb der sittlichen Substanz selbst oder: der tragische Konflikt der beiden sittlichen Prinzipien legt die Frage nahe, wie sie zu versöhnen sind. Ohne an dieser Stelle in das Wesen des tragischen Konflikts und seiner Auflösung eindringen zu können, seien Hegels diesbezügliche Überlegungen in der Phänomenologie (die zu einem Teil auch bereits angesprochen wurden) in aller Kürze zusammengefaßt. Hegels Theorie der klassischen Tragödie, ich denke hier in erster Linie an die Antigone (weil sie − anders als etwa Ödipus, der sich unbewußt schicksalhaft verstrickt − bewußt gegen das von Kreon repräsentierte menschliche Gesetz verstößt),

300 301 302 303

Ebd. 482. Ebd. 308. Ebd. 309. Ebd. 307.

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geht davon aus, daß die beiden antagonistischen Mächte der Familie (Antigone) und des Staates (Kreon) wechselseitig am Andern oder genauer: an dem, was sie je an sich sind, ihren Untergang finden. Dem Handeln ist, um es noch einmal zu betonen, nur eine Seite des Entschlusses bewußt304, der Entschluß selbst ist jedoch ein Negatives, er ist Ausdruck der oben beschriebenen Trennung des Selbstbewußtseins in eine tätige Seite und eine für es negative Wirklichkeit, der es seine Vorstellung von der Beschaffenheit der Wirklichkeit entgegensetzt. Aufgrund dieser durch einseitige Identifikation bewirkten, prinzipiellen Verkennung der Wirklichkeit hält die Wirklichkeit die dem Wissen fremde Seite, welche dem Selbstbewußtsein als das Schicksal erscheint, in sich verborgen. An der vollbrachten Tat jedoch tritt auch diese dem handelnden Individuum zuvor unbewußte Macht in ihrer Geltung hervor. Das im Tun verletzte Gesetz ist für das handelnde Bewußtsein nicht in seiner eigentümlichen Gestalt vorhanden, »sondern nur an sich, in der innern Schuld des Entschlusses und des Handelns«; diese »innere Schuld« ist jedoch nicht als gleichbedeutend mit dem Vorsatz und der Absicht als der ›Seele‹ der moralischen Handlung zu begreifen, denn diese spielen dort, wo ›Schuld‹ im Sinne von ›Verursachung‹ zu verstehen ist, keine Rolle; hier bedeutet ›Schuld‹ die individuelle Anerkennung auch der nicht intendierten Folgen einer Handlung im sozialen Zusammenhang. Die ›innere Schuld‹ ist also der noch nicht im Seinszusammenhang entfaltete Erfolg einer Handlung, der jedoch im gesellschaftlichen Sein bereits dem Ansich nach vorhanden oder als Möglichkeit gegeben sein muß. So ist die Tat »dieses, das Unbewegte zu bewegen und das nur erst in der Möglichkeit Verschlossene hervor zu bringen, und hiemit das Unbewußte dem Bewußten, das Nichtseiende dem Sein zu verknüpfen.«305 Erst in den objektiven Folgen der Tat tritt also das Wesen der Tat ans Licht. »Die vollbrachte Tat verkehrt seine Ansicht; die Vollbringung spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns.«306 – Diese Erfahrung, die das handelnde Individuum in seinem Tun macht, ist indes keineswegs ausschließlich auf die antike Tragödiensituation zu beziehen, sondern wird von Hegel, wie wir gesehen haben, im Rahmen seiner Handlungslehre in den Grundlinien unter dem Terminus »Recht der Objectivität der Handlung« geführt; dieses Recht der Objektivität tritt allerdings, und dies macht ja die spezifisch moralische oder moderne Konfliktsituation aus,

304 305 306

Ebd. 309. Ebd. Ebd. 310.

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in einen Widerspruch zum Recht des Subjekts, die Verantwortung einzig für das zu übernehmen, was es bewußt und gewollt verursacht hat. Der Erkenntnisprozeß, den die Charaktere, so sie mit der Verwirklichung ihrer Zwecke an der Wirklichkeit scheitern, zu durchlaufen haben, ist maßgeblich über die Objektivierung der Handlung und ihrer Folgen in der sozialen Wirklichkeit vermittelt – über eine Wirklichkeit, die sie selbst in ihrer Faktizität als sittliche Macht akzeptieren, denn nur so kann jemand wie Antigone das ihr zustoßende Leid zum Grund der Einsicht ihrer Verfehlung werden.307 Das sittliche Bewußtsein muß seine Schuld um dieser Wirklichkeit willen, an welcher es mit seiner Handlung scheitert, »anerkennen«.308 Und: »[W]eil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt«309 (Antigone, Vers 926). Im selben Moment, in dem »das Handelnde« aber das geltende Recht anerkennt, wird es selbst zu jener ›Unwirklichkeit‹, die es vor der Tat war. Es gibt sein Sein, das darin besteht, ganz seinem sittlichen Gesetz anzugehören, auf. Es suchte die Verwirklichung seines Zweckes und wird sich selbst in der Erfahrung seines Scheiterns zur Unwirklichkeit. Diese Unwirklichkeit ist nun aber nicht mehr jene Unwirklichkeit eines bloß schattenhaften Daseins, sondern sie ist die gewordene sittliche Gesinnung, die aber zugleich den Untergang des tragischen Helden, in diesem Fall Antigones und Kre307

Vgl. Ulrich Schlösser: Handlung, Sprache, Geist. A. a.O. 447. Vgl. PhG 310. 309 Ulrich Schlösser sieht in dieser Aussage Antigones gerade nicht ein Eingeständnis ihrer Schuld, sondern vielmehr das »passive Moment der Widerspiegelung, das gerade nicht dem Sprechaktcharakter der Übernahme entspricht«. Denn erst, »wenn die Einholung des Subjektes durchgeführt ist«, d. h. für Schlösser: erst wenn das Selbstbewußtsein in der Sprache den ihm angemessenen Ausdruck gefunden hat, was Schlösser zufolge in der Phänomenologie erst mit dem Übergang in die neuzeitliche Ordnung geschieht (dargestellt im Kapitel über die Bildung), entspricht das Geständnis tatsächlich dem Sprechakt des Bekenntnisses. Im Bekenntnis, so Schlösser, schreibt sich das Subjekt nicht einfach ein Merkmal zu, sondern übernimmt die Schuld und vollzieht auf performative Weise die Distanzierung von sich als in seiner Bestimmtheit Handelndem. (Vgl. Ulrich Schlösser: Handlung, Sprache, Geist. A. a.O. 454.) Diese Überlegung Schlössers ist keineswegs unplausibel, allerdings steht ihr die Aussage Hegels gegenüber, der tragische Held als der »selbstbewußte Mensch« zeichne sich gerade dadurch aus, daß er nicht nur seinen Zweck weiß (was, wie wir oben gesehen haben, zugleich bedeutet, daß er unbewußt gegen ein anderes Gesetz verstößt), sondern diesen auch ausspricht. Die tragischen Helden sind »Künstler, die nicht wie die das gemeine Tun im wirklichen Leben begleitende Sprache, bewußtlos, natürlich und naiv das Äußere ihres Entschlusses und Beginnens aussprechen, sondern das innre Wesen äußern« (PhG 479). Ihr Sprechen, so betont Hegel in diesem Zusammenhang (im Kapitel über das geistige Kunstwerk innerhalb der Kunstreligion der Griechen), ist »eigne[s] Sprechen«, nicht Erzählen objektiver Umstände. Denn sie folgen, indem sie sich mit einer der beiden sittlichen Mächte identifizieren, »notwendigen Formen der Selbsterkenntnis und Anerkennung des Individuums in der Gemeinschaft.« (Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 233.) 308

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ons, bedeutet. Diese ist ihm nun keine unmittelbare Gewißheit und Identifizierung mehr, sie muß vielmehr in der Erkenntnis zugrundegehen, daß das Gesetz, dem sich das handelnde Individuum verpflichtet glaubte, »nur Gesetz seines Charakters«310 war, nicht aber der sittlichen Ordnung als Ganzes entsprach. Die sittliche Gesinnung Antigones basiert nunmehr auf einer individuellen Anerkennungsleistung; eine Anerkennungsleistung allerdings, die die sittliche Individualität, die den Untergang, den eine sittliche Macht an seinem Entgegengesetzten erfährt, mit dem eigenen Untergang zu bezahlen hat. Was in den Grundlinien den Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität ermöglicht, ist die mit dem Gedanken der Sühne von Unrecht verbundene Forderung nach einem besonderen, subjektiven Willen, der als ein solcher das Allgemeine als solches durch seinen Willen vollbringt311 – wodurch der besondere Wille zu einem integrativen Bestandteil des Ganzen wird. Die Figur der Antigone hingegen, die Hegel in der Phänomenologie als Beispiel dient, kann sich in ihrer Besonderheit im Verhältnis zum Allgemeinen des Staates, dessen Wirklichkeit und Gelten sie in ihrer Verfehlung anerkennt, nicht erhalten, sondern geht in der Negation ihrer sittlichen Unmittelbarkeit unter. Ebenso Kreon, der die Erfahrung machen muß, daß sein Beharren auf der Staatsräson den Untergang seiner Familie herbeigeführt hat. In den tragischen Gestalten der Antigone und des Kreon geht das Leben des Geistes »und diese in Allen ihrer selbstbewußte Substanz verloren.«312 Beide erfahren in der »Vollbringung des offenbaren Geistes«, daß sich das vermeintlich höchste Recht tatsächlich als das höchste Unrecht darstellt, und ihr »Sieg vielmehr [ihr] eigener Untergang ist.«313 Als diese allgemeine Erfahrung, nicht aber als der besondere Wille, geht dieses Moment des Geistes in das Ganze des Geistes auf.

310

PhG 482. Vgl. GPR § 103. 312 PhG 315. Das Schicksal, als das der Untergang der griechischen Sittlichkeit erscheint, »vollendet die Entvölkerung des Himmels«, es macht all den »wesenlosen Vorstellungen« ein Ende, denen zufolge die Individualität im Vergleich zu jenen Göttergestalten lediglich das Unwesentliche repräsentiert. »Die Vertreibung solcher wesenloser Vorstellungen, die von den Philosophen des Altertums gefodert wurde, beginnt also schon in der Tragödie überhaupt dadurch, daß die Einteilung der Substanz von dem Begriffe beherrscht, die Individualität hiemit die wesentliche und die Bestimmungen die absoluten Charaktere sind.« (PhG 484) Diese von Hegel hier behauptete »Entvölkerung des Himmels«, wie sie dem griechischen Polytheismus zugrunde lag, bildet aus der Sicht von Ludwig Siep die »Hauptlinie« des Kapitels über die griechische Kunstreligion (vgl. Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 232 ff.). 313 PhG 313. 311

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Der perennierende Konflikt, der die tragische Ausgangssituation der Antigone bildet, steht für Hegel paradigmatisch für den »Untergang der sittlichen Substanz« der Griechen; das Gemeinwesen vermochte sich allein in der dialektischen Beziehung zu dem im Prinzip der Familie begründeten »Geist […] der Einzelnheit« zu erhalten; in der Tragödie erfolgt dann »die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine«314. Das allgemeine Selbstbewußtsein, der Staat, erzeugt sich an dem, was es unterdrückt und was ihm doch zugleich ein wesentliches Moment ist. Dieser ›Untergang der sittlichen Substanz‹ im Prinzip des Rechtszustandes ist darüberhinaus eine Konsequenz der »Natürlichkeit« dieser »sittlichen Substanz«. Die »Handlung der Sittlichkeit«315 ist wesentlich unmittelbar und ihre Wirklichkeit offenbart den »Keim des Verderbens, den die schöne Einmütigkeit und das ruhige Gleichgewicht des sittlichen Geistes« an sich selbst haben. Das »Leben des Geistes« und seine sich widersprechende, »in Allen ihrer selbstbewußte Substanz« geht in der »formellen Allgemeinheit« der »absolut vielen Individuen«316 unter.

5.3.3 »Handeln nach dem innern Gesetze« (Abschnitt: »Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung«) Die folgenden Überlegungen zum Abschnitt »Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung«, in dem Hegel eine spezifische Bestimmung der ›moralischen Handlung‹ entfaltet, sind gewissermaßen als Ergänzung zu dem Abschnitt dieser Arbeit zu sehen, der sich mit der von Hegel im Moralitätskapitel der Grundlinien entfalteten Handlungslehre befaßt. Die Konzeptionen moralischen Handelns, wie sie sich in der Phänomenologie und in den Grundlinien finden, gehen demnach nicht vollständig ineinander auf; wo die Differenzen der jeweiligen Perspektive und Durchführung zu sehen sind, wird sich im Verlauf dieser Darstellung zeigen, auch wenn hier begreiflicher Weise nicht detailliert auf die der Phänomenologie zugrundeliegende Systemkonzeption im Vergleich zu der der Grundlinien eingegangen werden kann. Das »Selbst des Gewissens« als die, nach der »Person« und der Gestalt der »absoluten Freiheit« dritte Gestalt des sich seiner selbst gewissen Geistes, 314 315 316

Ebd. 314. Ebd. 315. Ebd. 316.

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vollzieht innerhalb des eigenen Selbsts den Überstieg von seiner unmittelbaren Einzelheit zur »absoluten Wahrheit und des Seins«, welcher es sich auf unmittelbare Weise gewiß zu sein vermeint. Als Gewissen gibt es sich einzig kraft seiner Selbstgewißheit den Inhalt für die für das moralische Selbstbewußtsein in Gestalt der nunmehr überwundenen ›absoluten Freiheit‹ (die Hegel in dem Abschnitt »Die absolute Freiheit und der Schrecken« behandelt) nur leere Pflicht. Das Gewissen zeichnet sich für Hegel dadurch aus, daß es die Trennung des ›Ansich‹ und des ›Selbsts‹ oder der »reinen Pflicht« und der »Wirklichkeit« seines individuellen Seins und einer der reinen Pflicht entgegengesetzten Natur oder Sinnlichkeit in sich aufhebt.317 »Es selbst«, wie es sich in seiner unmittelbaren Einzelheit gegeben ist, »ist sich das in seiner Zufälligkeit Vollgültige«. In seinem individuellen Wissen und Wollen ist das Gewissen »der [sich] seiner unmittelbar als der absoluten Wahrheit und des Seins gewisse Geist«318. Das seine praktischen Bestimmungen aus sich selbst gewinnende Gewissen, das nicht mehr an einen »leeren Maßstab« seiner Pflicht verwiesen ist, ist das »in unmittelbarer Einheit sich verwirklichende moralische Wesen, und die Handlung unmittelbar konkrete moralische Gestalt.«319 Das Problem, das sich mit Bezug auf das moralische Gewissen stellt, ist nunmehr, wie sich aus dem Widerspruch der moralischen Überzeugungen ein auf wechselseitiger Anerkennung beruhendes und die einzelnen Interessen vermittelndes Allgemeines konstituieren kann, das also nicht den Einzelnen wiederum fremd gegenübersteht. Hier haben wir es zunächst erneut (wie auch im besagten Rechtszustand) mit der Atomisierung der moralischen Individuen zu tun, denn das Gewissen ist »vielmehr das negative Eins oder absolute Selbst«, welches die »verschiedenen moralischen Substanzen vertilgt«320, das sich in seinem Allgemeinheitsanspruch zugleich ausschließend gegenüber den anderen Einzelnen verhält. Der Gegensatz, in dem sich die individuellen moralischen Überzeugungen befinden, muß dem moralischen Subjekt jedoch überhaupt erst als ein solcher bewußt werden, und das kann − Hegels Darstellung zufolge − allein vermittels der Handlung geschehen. Zugleich ist mit Hegels Konzeption der moralischen Handlung aber, wie gesagt, die Anerkennungsproblematik verbunden, denn das moralische Allgemeine ist dem Gewissen »gemeinschaftliches Element der [vielen] Selbstbewußtsein«321, in dem der Einzelne anerkannt sein will und 317 318 319 320 321

Vgl. ebd. 417. Ebd. 416. Ebd. 417. Ebd. 418. Ebd. 420.

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in dem allein seine Überzeugung und seine Handlung »Bestehen und Wirklichkeit« haben kann. Zum Selbst des Gewissens gehört es demnach also, daß es in geistiger Allgemeinheit anerkannt ist, deren Genese durch die dialektische Bewegung von ›Geständnis‹ und ›Verzeihen‹ das Thema des gesamten hier zu diskutierenden Abschnitts der Phänomenologie ist. Das Moment der Handlung und das der Anerkennung sind damit aufs engste miteinander verknüpft. Der Widerspruch, der dort hervortritt, wo sich die besonderen Überzeugungen und Interessen mit dem Anspruch auf allgemeine Anerkennung gegeneinander geltend zu machen versuchen, ist in gewisser Weise mit jenem »Kampf des Anerkennens«322 zu vergleichen, der sich als ein Moment der Phänomenologie des Geistes zeigt und der auf dem Widerspruch beruht, daß sich das einzelne Selbstbewußtsein nicht im Andern seiner selbst bewußt sein kann, solange der Andere ihm ein »unmittelbares anderes Dasein«323 ist. Also muß es zunächst auf die Aufhebung von dessen Unmittelbarkeit gerichtet sein, zugleich aber muß es an sich selbst diese Unmittelbarkeit aufheben und dadurch seiner Freiheit Dasein geben. Nur geht es in diesem Zusammenhang der Moralität nicht mehr, wie noch in besagtem ›Kampf des Anerkennens‹, darum, die Unmittelbarkeit in Gestalt der eigenen Leiblichkeit aufheben zu müssen, weswegen der Kampf des Anerkennens auch ein Kampf »auf Leben und Tod«324 ist. Wenn also mit Blick auf den hier zu diskutierenden Abschnitt in der Phänomenologie von einer ›Anerkennung‹ gesprochen wird, zu der die moralischen Individuen gelangen, dann im Sinne der »Selbsterkenntnis im Anderen«325, die u. a. beinhaltet, jemanden oder etwas zu respektieren oder gelten zu lassen. Jede Handlung im Sinne einer bewußten Willensäußerung des Subjekts findet innerhalb eines sozialen Raums statt, vor dessen normativem Horizont eine jede Handlung auf ihren sozialen Sinn befragt und anerkannt oder in negativer Weise sanktioniert wird. Weil sich die moralischen Individuen im Kontext der hier darzustellenden Sphäre des Moralischen aber zunächst eben noch nicht auf ein ihnen gemeinsames sittliches Allgemeines jenseits privater moralischer Vorstellungen beziehen können und der Beurteilende die moralische Handlung nur 322

Enzyklopädie § 432. Ebd. § 431. 324 Ebd. 325 Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie. A. a.O. 151. Zur Anerkennungskonzeption Hegels vgl. auch Andreas Wildt: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart 1982, ferner Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg/München 1976 sowie Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M. 1992. 323

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von der Seite ihrer Besonderheit auffaßt326, läßt sich aus dieser Perspektive des moralisch Urteilenden im Grunde nur die Differenz der eigenen Überzeugung gegenüber derjenigen Anderer aussagen, die Handlung bzw. die moralische Absicht des Handelnden läßt sich jedoch nicht allgemein qualifizieren. Mit diesem vom Handelnden in seiner Handlung formulierten Anspruch auf Anerkennung einerseits und der nicht verallgemeinerbaren moralischen Absicht, die seiner Handlung innewohnt und deren authentischer Ausdruck sie zu sein behauptet, ist also ein Widerspruch gesetzt, der die Sphäre der Moralität grundsätzlich prägt und der aus Hegels Sicht nur dadurch zu lösen ist, daß sowohl der Handelnde wie der Urteilende seine Besonderheit als Maßstab des Urteilens und Handelns überwindet und sich auf ein ihnen gemeinsames Allgemeines bezieht. Das moralische Gewissen, das seiner Herkunft nach der Moderne bzw. dem Protestantismus angehört, entscheidet sich in der konkreten Handlungssituation nicht in der Weise, daß es zwischen verschiedenen Pflichten auswählt, die gleichermaßen Geltung beanspruchen können, sondern es folgt ausschließlich und ohne an ihr zu zweifeln seiner eigenen moralischen Überzeugung in Gestalt einer Handlungsmaxime, deren immanenter Allgemeinheit und Anerkennungsfähigkeit es sich auf unmittelbare Weise gewiß ist. Im Vergleich und im Unterschied zu den Protagonisten der klassischen griechischen Tragödie, etwa Antigone oder Kreon, könnte man mit Blick auf das moralische Gewissen von einem ›gewußten Pathos‹ sprechen, das einen subjektiven Zweck zu verwirklichen sucht: Die moralische Überzeugung beruht ganz auf der Individualität, also auf dem Charakter des moralischen Subjekts, zugleich weiß es sich in seinen eigensten Überzeugungen als allgemein. Das Allgemeine wird damit ganz in der subjektiven Überzeugung aufgelöst. – Dies erklärt allerdings bereits, wieso es in der Handlungslehre im Moralitätskapitel der Grundlinien, anders als in diesem Teil der Phänomenologie, um das Problem von Schuld und Verantwortung in moralischer und rechtlicher Perspektive geht, denn die rechtliche Perspektive setzt voraus, daß sich der Einzelne für sein Handeln einem Allgemeinen gegenüber zu rechtfertigen hat. Die Allgemeinheit, die sich hier konstituiert, ist jedoch eine rein moralische – aus der abstrakt-rechtlichen Allgemeinheit (dem Rechtszustand) löst sich der Einzelne, indem er aus dieser ihm fremden Allgemeinheit ›in sich zurückkehrt‹ und in diesem Prozeß der Rückkehr (durch den wir es hier mit einer Gestalt des Geistes im engeren Sinne zu tun haben) seine individuelle Perspektive schließlich zum allgemeinen Maßstab erklärt. Das moralische Gewissen ist daher zunächst einmal als das Resultat derjenigen Erfahrung zu 326

Vgl. PhG 437.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

verstehen, daß Recht und Gesetz, in ihrer Abstraktheit genommen, Gestalten des Allgemeinen sind, welche stets »ein Anderes als die unmittelbare Gewißheit seiner selbst [sind]; […], ein Gegenstand, welcher das Bewußtsein mit sich selbst vermittelnd, [vielmehr] zwischen es und seine eigene Wahrheit tritt und es vielmehr von sich absondert, als daß [sie] seine Unmittelbarkeit wäre[n].«327 Moralitätsimmanent oder ›rein moralisch‹ ist diese sich hier konstituierende Allgemeinheit auch deswegen, weil das ›beurteilende Gewissen‹ − von Hegel als das »allgemeine Bewußtsein«328 bezeichnet −, welches sein Urteil über die gewissenhafte Handlung spricht, vom Standpunkt seiner moralischen Besonderheit aus argumentiert, die es fälschlich für wahrhaft allgemein ausgibt; dieses Allgemeine der Moralität ist jedoch »die Selbstheit Aller«329. Um einer Freiheit willen, die sich in dem Standpunkt bürgerlicher Moral ausdrückt, »ist die Beziehung in dem gemeinschaftlichen Medium des Zusammenhangs vielmehr ein Verhältnis der vollkommnen Ungleichheit; wodurch das Bewußtsein, für welches die Handlung ist, sich in vollkommner Ungewißheit über den handelnden seiner selbst gewissen Geist befindet.«330 In einer aus der ›Selbstheit Aller‹ hervortretenden Allgemeinheit ist der Ausdruck, den sich die Selbste in ihrer Handlung geben, »nicht ihr eigenes; sie wissen sich nicht nur frei davon, sondern müssen es in ihrem eignen Bewußtsein auflösen, durch Urteilen und Erklären zu nichte machen, um ihr Selbst zu erhalten.«331 − In diesem Abschnitt der Phänomenologie wird daher von einer Gestalt des allgemeinen Willens abgesehen, der mehr wäre als die bloße Addition einzelner Willen und der sich in einem institutionalisierten Staatswesen und einer für alle geltenden, transparenten Ordnung mit Rechten und Pflichten der Einzelnen niederschlägt, in dem das Prinzip wechselseitiger Anerkennung die Grundlage gesellschaftlicher Verhältnisse ausmacht und innerhalb derer die moralische Tugend zugunsten der ›Rechtschaffenheit‹, die sich ihrer objektiven Verpflichtung dem Allgemeinen gegenüber bewußt ist, zurücktritt. Weiter geht es in diesem Abschnitt der Phänomenologie darum, daß die moralische Handlung von dem ›allgemeinen Bewußtsein‹ als ›das Böse‹ qualifiziert wird, wobei Gut und Böse die beiden Extreme des moralischen Urteils, also des Urteils über die moralische Handlung sind. Diese Unterscheidung von Gut und Böse (oder von ›pflichtgemäß‹ und ›pflichtwidrig‹),

327 328 329 330 331

Ebd. 423. Ebd. 434. Ebd. 426. Ebd. 427. Ebd.

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entbehrt jedoch, da sie sich mit jedem beliebigen subjektiven Inhalt füllen läßt, aller Objektivität. Nebenbei bemerkt: Im Moralitätskapitel der Grundlinien geht es Hegel hingegen um ein vom moralischen verschiedenes Urteil, nämlich in erster Linie um die psychologisch-moralischen aber auch allgemein-rechtlichen Bedingungen von ›Schuld‹ im Sinne einer Rechtsverletzung oder genauer im Sinne der subjektiven Vorwerfbarkeit der Rechtsverletzung, wodurch ›Schuld‹ zu etwas Bestimmtem und objektiv Feststellbarem wird, weil sie impliziert, daß aus freien Stücken gegen ein bestimmtes Gesetz verstoßen wurde, und mit dem Gesetz hat auch die Übertretung einen der gesetzlichen Bestimmung gemäßen Begriff. So ist dann auch das Urteil des Richters kein ›moralisches‹, sondern ein (möglichst) objektives Urteil, in welchem der konkrete Fall in der Objektivität seines Tatbestandes sowie hinsichtlich der subjektiven Seite der Schuld des Täters in seiner Besonderheit unter ein allgemeines Gesetz subsumiert wird. Die Wirklichkeit, auf die hin das gewissenhafte moralische Bewußtsein handelt, ist ganz von seinem »Interesse« und seinen moralischen Ausgangsüberzeugungen und Maximen bestimmt. In diesem Wissen und Handeln wird jedoch der Fall, wie er »ansich« ist, geradezu »umgekehrt«332 oder genauer: Das Handeln selbst ist die »reine Form des Willens; die bloße Umkehrung der Wirklichkeit als eines seienden Falles in eine getane Wirklichkeit, der bloßen Weise des gegenständlichen Wissens in die Weise des Wissens von der Wirklichkeit als einem vom Bewußtsein hervorgebrachten.«333 Zudem führt die Reduktion der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit auf die sinnliche Gewißheit des Handelnden unweigerlich dazu, daß die Wirklichkeit verkannt und verkehrt wird, wie ich im Zusammenhang meiner Darstellung von Hegels Handlungslehre in den Grundlinien bereits erwähnt habe. Dieses »Handeln nach dem innern Gesetze und Gewissen«334 bringt die – von Jacobi formulierte335 − moralische Forderung zum Ausdruck, daß das 332

Ebd. 426. Ebd. 334 Ebd. 435. 335 »Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der, dem Willen der Nichts will zuwiderlügen will […] – Ja, Aehren ausraufen am Sabbath, auch nur darum, weil mich hungert, und das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen. Ich bin dieser Gottlose, und spotte der Philosophie, die mich deswegen Gottlos nennt; spotte ihrer und ihres höchsten Wesens: denn mit der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich – daß das privilegium aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen; das Siegel seiner Würde, seiner Göttlichen Natur ist.« Jacobi wendet sich hier mit allem Nachdruck gegen ein »allgemeingültiges, streng wißenschaftliches System der Moral« und eine »streng erwiesene Pflichtenlehre«, deren Beobachtung »Regeln ohne 333

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Gesetz »um des Selbst willen, nicht um dessen willen das Selbst«336 sei; das Gesetz, dem das Gewissen in seinem Tun folgt, ist für ihn kein fremdes, sondern die Identität von Ansich- und Fürsichsein, und es gilt ihm daher als unmittelbar anerkannt (was an sich genommen freilich ein Widerspruch in sich ist). Im gewissenhaften Tun zeigt sich jedoch das gerade Gegenteil dessen, wie sich das Gewissen selbst begreift: Es beabsichtigte, die Gleichheit mit sich selbst, die ihren Ausdruck in seiner Überzeugung findet, in welcher das Ansich der Pflicht und das individuelle Selbst mit seinen natürlichen Bestimmungen identisch ist, aus der Form des Fürsichseins (Wissen) in die soziale Wirklichkeit, die für das handelnde Gewissen nur eine abstrakte sein kann, zu übersetzen. Die Innerlichkeit seines Wissens kann dem gewissenhaften Bewußtsein nicht genügen, es will in der Wirklichkeit des allgemeinen Bewußtseins anerkannt sein. Was aber durch die Handlung offenbar wird, ist die Ungleichheit der individuellen moralischen Gesinnung des Handelnden mit dem allgemeinen moralischen Bewußtsein und mit anderen individuellen Überzeugungen: Schuld. Die Handlung ist nicht »eine Beziehung auf ein nicht Entgegengesetztes, auf sich selbst«337; Handlung ist niemals direkter Selbstbezug (der aufgrund seiner Unmittelbarkeit immer auch defizitär bleibt), sondern immer nur ein Selbstbezug, der über ein »Negatives des Bewußtseins« oder über eine »an sich seiende Wirklichkeit« vermittelt ist. »Gegen die Einfachheit des reinen Bewußtseins« – hier: des reinen und damit unmittelbaren Selbstbezugs – ist diese Wirklichkeit der Handlungsumstände »das absolut andere, oder die Mannigfaltigkeit an sich, [als] eine absolute Vielheit der Umstände, die sich rückwärts in ihre Bedingungen, seitwärts in ihrem Nebeneinander, vorwärts in ihren Folgen unendlich teilt und ausbreitet.«338 Das Gewissen, mit solcher Mannigfaltigkeit der Umstände und alternativen moralischen Prinzipien konfrontiert, erkennt keine an es gerichtete moralische Forderung für absolut, es ist vielmehr die »absolute Negativität alles Bestimmten«339. Da es sich jedoch, sofern gehandelt werden soll, einen bestimmten Zweck setzen muß, schöpft es diesen Hegel zufolge aus dem »natürlichen Bewußtsein«, aus Trieben und Neigungen. Das Gewissen begibt sich also nicht in die Reflexion Ausnahme, und starre[n] Gehorsam« erfordere, den Menschen aber aller seiner moralischen Sinne beraube, ihn »blind-gesetzlich, taub, stumm und fühllos« mache. (Jacobi an Fichte (Sendschreiben). – In: Walter Jaeschke (Hg.): Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Hamburg 1999. Quellenband. 16 f.) 336 PhG 420. 337 Ebd. 422. 338 Ebd. 339 Ebd. 423.

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der moralischen Optionen, sondern paßt die Wirklichkeit gleichsam seinem Zweck an. Damit werden, so Hegel kritisch, die »Willkür des Einzelnen« und die »Zufälligkeit seines bewußtlosen natürlichen Seins«340 zum Wesen der moralischen Handlung – und gerade nicht die gedachte und gewußte Allgemeinheit der Pflicht, die das moralische Gewissen zu verwirklichen behauptet und für die es Anerkennung fordert. Das Auffassen der Handlung als Willensäußerung des ›moralischen Selbsts‹ durch das allgemeine Bewußtsein impliziert zunächst einmal der Form nach das Anerkennen des der Handlung immanenten Allgemeinheitsanspruchs, aufgrund dessen die Handlung gilt »und […] wirkliches Dasein«341 gewinnt. Was die Handlung des gewissenhaften Bewußtseins als allgemeine auszeichnet, ist nicht im Inhalt der Zweckbestimmung begründet, denn dieser Inhalt ist rein partikulärer, sinnlicher Natur und steht damit im Widerspruch zur Form der Willensentscheidung als einer gewußten: Die »Handlung des Gewissens« – wie auch die im Moralitätskapitel der Grundlinien entfaltete moralische Handlung − ist von allgemeinem Charakter einzig aufgrund des »Wissen[s] seiner [des Handelnden] Selbst in der Tat. Wenn die Tat aufhört, dieses Selbst an ihr zu haben, hört sie auf, das zu sein, was allein ihr Wesen ist.«342 Das Dasein der Handlung, »von diesem Bewußtsein verlassen, wäre eine gemeine Wirklichkeit«, wäre also von einer auf das Allgemeine bezogenen bewußten Zwecksetzung zu unterscheiden. Die Handlung des Gewissens zeichnet sich also bei aller Willkür und Zufälligkeit der moralischen Überzeugung dadurch aus, daß sie als Sinnausdruck eines rationalen Subjekts begriffen und dadurch diesem imputierbar wird. Und so ist es auch nicht »die unmittelbare Handlung« in Gestalt ihrer Folgen, welche diesen Anspruch auf allgemeine Anerkennung machen kann, sondern allein »dies Gewußtsein ist es, was das Anerkannte ist, und was als solches Dasein haben soll.«343 Wodurch die Handlung aus dieser Perspektive Bedeutung gewinnt, ist zunächst nicht die Verwirklichung konkreter Zwecke und die Gestaltung einer sozialen Wirklichkeit; bedeutsam ist sie hier vielmehr deswegen, weil das handelnde Selbstbewußtsein sich auf diese Weise gegenständlich und wirklich wird und darüber in Anerkennungsverhältnisse tritt.

340

Ebd. Ebd. 424. 342 Ebd. 428. Im Rahmen der im Moralitätskapitel der Grundlinien entfalteten Handlungslehre findet sich daher zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen einem Tun, das dieses Selbst an ihr hat, und einem, dem dieses Selbst mangelt, die Differenzierung zwischen ›Handlung‹ und ›Tat‹ (vgl. GPR § 117). 343 PhG 428. 341

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Zudem kommt das handelnde Gewissen vermittels der Handlung zur Sprache; Sprache und Handlung stellen Elementarformen dar, in denen sich der Mensch gegenständlich wird. Das moralische Bewußtsein, das noch nicht dazu übergeht, seine innerlichen Bestimmungen äußerlich zu setzen, ist daher noch »stumm«, es ist »bei sich in seinem Innern verschlossen«344. Dem wissenden Selbstbezug des handelnden Subjekts entspricht daher die sprachliche Bekräftigung dieses Wissens seiner selbst, in welchem wiederum die Bedingung seines Anerkanntseins liegt. Die Sprache aber »tritt nur als die Mitte selbstständiger und anerkannter Selbstbewußtsein hervor«345. Das Aussprechen dieses Wissens ist indes sogar »die wahre Wirklichkeit des Tuns und das Gelten der Handlung.« Die Handlung ist daher wesentlich auf das subjektive Versichern des pflichtgemäßen Charakters der Handlung und ihrer ›guten Absicht‹ bezogen; das moralische Gewissen nimmt sich die Freiheit, sich aus der Äußerlichkeit seines Handelns und dessen Folgen gewissermaßen heraus zu reflektieren und als das Wahrhafte die seinem Handeln innewohnende moralische Absicht zu erklären. Auf dem der Moralität immanenten Standpunkt bedeutet die »Handlung verwirklichen« nicht, einen Inhalt aus der Form des Zwecks oder des Fürsichseins in die Form der abstrakten Wirklichkeit zu übersetzen, sondern aus der unmittelbaren Gewißheit seiner selbst in die Versicherung der moralischen Überzeugung als allgemein gerechtfertigt, denn es ist die Form der Handlung (das Wissen um die Pflicht), die verwirklicht werden soll. Diese innere Überzeugung, die sich zugleich allgemein weiß, »ist das Selbst, das als solches in der Sprache wirklich ist […], eben darin alle Selbst anerkennt und von ihnen anerkannt wird.«346 Das Gute, das als der Beweggrund der gewissenhaften und pflichtgemäßen Handlung behauptet und im sprachlichen Bekenntnis versichert wird, ist jedoch nicht verwirklicht; die erreichte Gegenständlichkeit ist die Sprache, aber das moralische Gewissen ist noch nicht zur konkreten Gestaltung seiner sozialen Wirklichkeit fortgeschritten und hält noch ganz an der Affirmation seiner Selbstgewißheit fest. Zu einer wechselseitigen Anerkennung kommt es durch die sich auf beiden Seiten, also des handelnden und des urteilenden Gewissens, manifestierende Einsicht ihrer ›Gleichheit‹: Beide geben vor, etwas zu tun und zu sein, das ihrem tatsächlichen Tun und Sprechen nicht entspricht; das handelnde Gewissen setzt sich ins Unrecht, weil sein Sprechen von der Pflicht der Wirklichkeit seines Handelns nicht entspricht. Das urteilende Gewissen handelt 344 345 346

Ebd. Ebd. 429. Ebd. 430.

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gar nicht und will stattdessen »sein Urteilen für wirkliche Tat genommen wissen«347, verwirklicht jedoch ebensowenig die Pflicht, von der es spricht. Das handelnde Gewissen behauptet sein bestimmtes Tun als Pflicht, und das beurteilende Gewissen kann ihm dies nicht ableugnen, da die Pflicht selbst, so Hegels Kritik, vom Standpunkt der Moralität aus betrachtet nichts weiter als inhaltslose Form und daher jedes beliebigen Inhalts fähig ist. Folglich beurteilt das allgemeine Bewußtsein die moralische Handlung von der Seite ihrer Besonderheit – diese stellt neben der Allgemeinheit das zweite für die Handlung wesentliche Moment dar, und nur in der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem ist die Handlung »die Wirklichkeit des Individuums«348 –, es »spielt die Handlung in das Innre hinein«, erklärt sie also aus der von seiner eigenen verschiedenen moralischen Überzeugung oder bloß eigennützigen Triebfeder. Indem sich der Handelnde durch die Handlung auf die dargestellte Weise gegenständlich wird und dadurch zum »Selbstgefühl seiner in seinem Dasein und also zum Genusse gelangt« − was dem urteilenden Gewissen selbst vorenthalten ist, da es sich bloß passiv verhält − und indem es sich in diesem Urteil selbst ›böse‹ zeigt, gelangt das handelnde Gewissen zu der Erkenntnis der Gleichheit zwischen ihnen beiden und erkennt es im selben Moment an, wie es sich selbst erkennt. Die Ausgangsfrage, wie es zwischen dem handelnden und dem beurteilenden moralischen Gewissen zu einer wechselseitigen Anerkennungsbeziehung kommen kann, erinnert, um dies noch einmal aufzunehmen, an die Problematik von Herrschaft und Knechtschaft349 und den von Hegel darin thematisierten »Kampf des Anerkennens«. In diesem Fall ist es der Handelnde wie dort der »Knecht«, der prinzipiell die Möglichkeit hat, von seiner Besonderheit zu abstrahieren, und zwar dadurch, daß er sich in seinem Handeln gegenständlich wird – nur jetzt nicht mehr vermittelt über ein zu bearbeitendes Ding, sondern darüber, daß sich der Handelnde durch sein Handeln und Sprechen, also dadurch, daß er seine subjektiven Bestimmungen, die er als allgemeine ausgibt, durchzusetzen versucht, selbst zum Ding wird.350 Das Gegenständliche, das durch die Handlung ins Werk gesetzt wird, muß ein »Negatives des wirklichen Selbsts«351 darstellen; der sich allem Handeln enthaltenden »schönen Seele« – einer literarischen Figur, die sich sowohl bei Goethe und Jacobi als auch bei Novalis findet − ermangelt es hin-

347 348 349 350 351

Ebd. 436. Ebd. 437. Vgl. ebd. 127 ff. Vgl. ebd. 432. Ebd.

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gegen an der »Kraft der Entäußerung«, an der »Kraft, sich zum Dinge zu machen, und das Sein zu ertragen. Die ›schöne Seele‹ lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken«352. Ebenso verhält sich das beurteilende Bewußtsein, das sich »in der Reinheit bewahren« will und deshalb nicht zur Tat schreitet. Beide jedoch, der moralisch Handelnde ebenso wie der Urteilende, sind Gestalten des Gewissens (in Gestalt des individuellen und des allgemeinen moralischen Bewußtseins); beide lassen nichts als die eigene moralische Überzeugung gelten und ›verflüchtigen‹ objektive Inhalte in sich. Die »schöne Seele« jedoch gelangt auch in sich selbst zu keiner positiven Bestimmung und ist daher für Hegel auch nur »geistloses Sein«, da sie jeder Wirklichkeit entbehrt.353 Der Handelnde vermag sich dagegen in der Objektivität seines Handelns und Sprechens gegenständlich zu werden und sich in seiner moralischen Überzeugung als in einem schuldhaften Widerspruch gegen das Allgemeine zu begreifen; er kann dies vermittels des Urteils des anderen, in dem er seine eigene Einseitigkeit und sein Beharren auf seiner Besonderheit als falsch erkennt. Ebenso wie sich der ›Herr‹ nur vermittels des ›Knechts‹ auf das Ding zu beziehen vermag354, kann sich auch das urteilende Bewußtsein nur mittelbar auf die in der Handlung gegenständlich werdende moralische Gesinnung und nur auf vermittelte Weise (insofern ihm das Geständnis des handelnden Gewissens vorausgegangen ist) schließlich auch negativ auf sich selbst beziehen. Der Herr hat die »Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« in dem von dem Knecht bearbeiteten Gegenstand, damit verfehlt er jedoch ein Gegenüber im Sinne eines selbständigen Bewußtseins.355 Ebenso hat das urteilende Bewußtsein »die Gewißheit seines Geistes nicht in einer wirklichen Handlung, sondern in seinem Innern«356. Das handelnde Bewußtsein hingegen »setzt diese Entäußerung seiner oder sich als Moment, hervorgelockt in das bekennende Dasein durch die Anschauung seiner selbst im Andern.«357 – Die Frage der Anerkennung oder genauer danach, wie sich ein allgemeines Anerkennungsverhältnis zwischen den einzelnen moralischen Individuen begründen läßt, spielt allerdings im Rahmen des Moralitätskapitels der Grundlinien nicht mehr die entscheidende Rolle. Diese Anerkennung ist für Hegel dort, wo sich der ›objektive Geist‹ zu entfalten beginnt, immer schon vorausgesetzt. Worauf es mir an dieser Stelle vor allem ankommt, ist Hegels Bestimmung 352 353 354 355 356 357

Ebd. Vgl. ebd. 440. Vgl. ebd. 133. Vgl. ebd. 134. Ebd. 439. Ebd. 440.

Handlungslogische Implikationen in Hegels Philosophie …

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der moralischen Handlung selbst, die er in dem hier erörterten Abschnitt der Phänomenologie vorlegt: Die Form der Willensentscheidung, die die moralische Handlung hier auszeichnet, ist – im Gegensatz zum bestimmten Inhalt der Zweckbestimmung, der für Hegel hier der Sinnlichkeit entnommen ist − eine allgemeine, die zu verwirklichende Zweckbestimmung ist eine gewußte und nur weil sie gewußt ist, ist sie zugleich von allgemeinem Charakter und fordert ihrerseits allgemeine Anerkennung. Was die moralische Handlung auch hier auszeichnet, ist das Selbstwissen des Handlungssubjekts in seiner Tat, und nur aufgrund dieses Wissens kann die moralische Handlung dem Akteur zugerechnet und beurteilt werden.

5.4 Handlungslogische Implikationen in Hegels Philosophie der Weltgeschichte und die Frage nach der Schuld Sicherlich ist Hans Jonas nicht der einzige Hegel-Interpret, der die Auffassung vertritt, daß Hegels Philosophie der Weltgeschichte einerseits insofern unbedingt zu würdigen sei, als Hegel in ihr den Schritt zu einer »radikalen Immanentisierung«358 der Verwirklichung der Vernunftidee wagt. Die allgemeine Verwirklichung des Vernunftprinzips vollziehe sich demnach nicht in der Transzendenz, sondern in der Zeit und damit geschichtlich; die Zeit werde bei Hegel »zum echten Medium« der Verwirklichung der »regulative[n] Idee« der Freiheit. Die von Hegel bemühte ›List der Vernunft‹ mache sich durch die »Geschichtsdynamik« hindurch und »mittels der ganz anderen Absichten der ausführenden Subjekte« geltend. Und so ist es Jonas zufolge auch erst Hegel, der das »Prinzip der Selbstbewegung der Geschichte« erkannt hat – für Jonas, dem es hier um die Genese des Bewußtseins der Verantwortung »für die geschichtliche Zukunft« geht, eine wesentliche Entwicklung −, aber, so Jonas’ Kritik an Hegels Geschichtsphilosophie: um den Preis der »konkreten Kausalität der Subjekte«. Verantwortlich für den Lauf der Geschichte und die Verwirklichung vernünftiger Zwecke sei nach Hegel nicht etwa der Mensch selbst.359 – Diese Kritik ist allerdings problematisch, denn sofern man zugesteht, daß sich der geschichtliche Prozeß vermittels der 358

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. A. a.O. 228. Vgl. ebd. Für Jonas ist es erst Marx, der eine Konzeption von Geschichte vorlegt, der gemäß die »List der Vernunft […] endlich mit dem Wollen der Akteure [zusammenfällt], die sich mit ihrer bisher verborgenen, nun offenbar gewordenen Absicht identifiziert haben […]; das Erkanntwerden der Absicht im richtigen Moment durch die richtigen Subjekte war der letzte Akt der List, mit dem sie als hinfort unnötig abdanken konnte.« (Ebd. 229) 359

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individuellen Handlungen der Menschen vorantreibt, muß auch von einer ›konkreten Kausalität der Subjekte‹ ausgegangen werden; denn worin sonst wenn nicht in den Handlungen sollte diese Kausalität, welche in der ›Geschichtsdynamik‹ wirkt, ihren Grund haben? Worauf Jonas hier aufmerksam machen will, ist vermutlich dies: Zwar sind die handelnden Individuen für das bewußt durch sie ins Werk Gesetzte auch grundsätzlich verantwortlich bzw. verantwortlich zu machen. Da sich jedoch die Handlung (und zwar eine jede und nicht nur die ›geschichtliche‹) dadurch auszeichnet, daß immer auch etwas verwirklicht wird, was nicht unmittelbar intendiert war, Geschichte sich aber gerade aus dem Nicht-Intendierten, aber nichtsdestotrotz Verwirklichten speist (›List der Vernunft‹), kann man die handelnden Individuen genau in dieser Hinsicht nicht verantwortlich machen oder zur Rechenschaft ziehen. Ob der Mensch für Hegel nun das Subjekt der Geschichte ist oder nicht, und in welcher Hinsicht das Problem einer solchen ›Schuld in der Geschichte‹ von ihm überhaupt thematisiert wird, sind die Fragen, die uns im Folgenden beschäftigen werden. Um es gleich vorab zu sagen: Hegel mißt diesen Problemen in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte im Grunde keinen systematischen Stellenwert bei (warum das wohl so ist, werden wir später sehen), der Anspruch kann also allein darin bestehen, die angesprochenen Überlegungen mit Blick auf Hegels Philosophie der Geschichte zu vertiefen. »Die Geschichte des Geistes«, so heißt es im Abschnitt über ›Weltgeschichte‹ in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, »ist seine That, denn er ist nur, was er thut, und seine That ist, sich und zwar hier als Geist sich zum Gegenstande seines Bewußtseyns zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen.«360 Indem er aber erfaßt, was er ist, geht er zugleich in eine höhere Gestalt über als die, die sein Sein ausmachte, welches er nun begreifend zu seinem Gegenstand macht. Das in der Weltgeschichte wirksame Prinzip der Entwicklung zeigt sich also darin, daß der Geist, indem er handelt – was sich einzig in den Handlungen der Individuen darstellen kann − zu einem Bewußtsein seiner selbst und der von ihm hervorgebrachten objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse gelangt, indem er zugleich auf das Bestehende reflektiert. Hegels Philosophie der allgemeinen Weltgeschichte unterläuft auf diese Weise bereits vom Ansatz her jede Trennung in eine Sphäre des Theoretischen und Praktischen. Und unbestreitbar stehen in dieser Konzeption handelnde Individuen an der Spitze der geschichtlichen Entwicklung und eben nicht ein übergeordnetes Subjekt; die handelnden Individuen sind jedoch, wenngleich sie sich bewußt auf die jeweiligen sitt360

GPR § 343.

Handlungslogische Implikationen in Hegels Philosophie …

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lichen Verhältnisse beziehen und auf die Verwirklichung von Vernunftzwekken gerichtet sein mögen, für Hegel »zugleich bewußtlose Werkzeuge und Glieder jenes innern Geschäftes«361 der geschichtlichen Selbstauslegung des Geistes.362 Die im Folgenden näher zu begründende These ist die, daß ohne den von ihm seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen zugrundegelegten Begriff der Handlung Hegels Konzeption (welt-)geschichtlicher Entwicklung und insbesondere seine Rede von einer in der Geschichte wirksamen ›List der Vernunft‹ nicht angemessen zu erfassen sind, insofern sich nämlich hinter der ›List der Vernunft‹ nichts anderes verbirgt als eben das, wodurch sich auch die Handlung ganz allgemein bestimmen läßt: als Prozeß der Vermittlung besonderer Zwecke mit der vernünftigen Allgemeinheit. Nur mit Hilfe eines dialektischen Handlungsbegriffs können diese beiden Ebenen von Vernunftzwecken miteinander vermittelt werden, ohne daß sie sich aufeinander reduzieren ließen. Mit anderen Worten: Hegels Handlungsbegriff macht plausibel, wie die handelnden Individuen, indem sie ihre subjektiven Zwecke verfolgen, zugleich an der allgemeinen Verwirklichung von Vernunftzwecken

361

Ebd. § 344. Unter ›geschichtlicher Entwicklung‹ verstehe ich daher auch nicht nur jene Zeitabschnitte der Geschichte, wie Hegel sie noch in der Phänomenologie des Geistes auch für seine Zeit reklamierte, als eine Zeit »der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« (PhG 9), in welcher der Geist mit der »bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen« hat und nun tätig umgestaltend im Begriffe steht, es in die »Vergangenheit hinab zu versenken« (PhG 10), wodurch es scheint, als habe er mit einem Male das Gebilde einer neuen Welt aufgerichtet. Wolfgang Bonsiepen macht unter Verweis auf eben jene Passage in der Vorrede zur Phänomenologie deutlich, daß Hegels geschichtsphilosophisches Modell die beiden Momente von Kontinuität und Sprung gleichermaßen in sich begreift. Die kontinuierliche Umgestaltung der Welt, »diß allmählige Zerbrökeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der ein Blitz in einemmahle das Gebilde der neuen Welt hinstellt.« (PhG 10 f.) Bonsiepen führt die Bilder, derer Hegel sich hier bedient, auf seine Rezeption der Aristotelischen minima-naturalia-Lehre und deren scholastische Systematisierung zurück. Für die Rezeption der Minima-Lehre ist Bonsiepen zufolge ihre Verbindung mit einer anderen aristotelischen Konzeption von Bedeutung gewesen, nämlich der Theorie der ›mixtio‹. Mit dieser Theorie soll das Entstehen von etwas qualitativ Neuem erklärt werden, das bei der Verbindung von Elementen zu einem Ganzen zu beobachten ist. (Vgl. Wolfgang Bonsiepen: Der Zusammenhang von Naturevolution und geschichtlicher Entwicklung in Hegels Berliner System. – In: Logik und Geschichte in Hegels System. Herausgegeben von Hans-Christian Lucas und Guy Planty-Bonjour. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989. 293–322; bes. 304 ff.) Unter Entwicklung in geschichtlicher Perspektive fasse ich hier vielmehr die kontinuierlichen Veränderungs- sowie Stabilisierungsprozesse, die selbst den Lauf der Geschichte entscheidend prägen und ebenso eine Dimension geschichtlich-politischen Handelns darstellen wie der initiierte revolutionäre Umbruch bestehender Verhältnisse. 362

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teilhaben.363 Das Konstatieren einer Teilhabe am allgemeinen Vernunftzweck beantwortet aber noch nicht die Frage, inwiefern die handelnden Menschen in Hegels Augen als das Subjekt ihrer eigenen Geschichte anzusehen sind, was wiederum im Zusammenhang mit der Frage nach Schuld und Verantwortung steht. − Eine Frage, die sich selbstverständlich nicht nur auf die von Hegel angeführten und in hervorgehobener Weise wirksamen »welthistorischen Individuen« beziehen kann, sondern auf die unter gesellschaftlichen Bedingungen Handelnden ganz allgemein zu beziehen ist, die sich in ihren politischen oder auch alltagspraktischen Entscheidungen unweigerlich zu allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen verhalten, seien diese ihnen nun bewußt oder nicht.364 Zunächst einmal wird aber anhand der besonderen

363

Mit der hier formulierten These in Übereinstimmung konstatiert auch Walter Jaeschke, daß sich jene ›List der Vernunft‹ in der geschichtsphilosophischen Analyse als »eine problemlos nachvollziehbare Strukturbedingung geschichtlichen Handelns« darstellt und damit in keiner Weise hinter dem Rücken der Individuen − durch entfremdende Instrumentalisierung − ein ihnen prinzipiell verschlossenes Werk verrichtet. Denn das Handeln der Individuen ist auf Freiheit gerichtet und ebenso ist es der die individuellen Handlungen übergreifende und durchwirkende allgemeine Geist der Weltgeschichte oder eines bestimmten Volkes. (Vgl. Walter Jaeschke: Die List der Vernunft. – In: Hegel-Studien 43 (2009). 87–102; hier 98.) Und die Behauptung der Möglichkeit einer Vermittlung der die geschichtliche Entwicklung vorantreibenden, auf individuelle Zwecke gerichteten Handlungen und jenem von Hegel seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen zugrundegelegten ›Endzweck‹ ist durchaus als ein wesentliches Problem nicht erst von Hegels Philosophie der Geschichte anzusehen, sondern bereits in der Kantischen Geschichtsphilosophie angelegt. Der Philosoph, so heißt es bei Kant, muß sich fragen, ob er nicht − »da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann« − »eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.« (Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie. A. a.O. 22, Hervorhebung im Original. Das Zitat ist der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entnommen.) Wenn Kant davon spricht, daß die Menschen ohne »vernünftige eigene Absicht« handeln, dann meint er damit nicht, daß sie nicht auch individuelle Vernunftzwecke zu verwirklichen suchen, sondern, daß sie nicht »nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren«. 364 Mit dieser These, daß sich der Handelnde, bereits insofern er Zwecke formuliert, stets in widersprüchlichen gesellschaftlichen Bezügen befindet und in seinem Handeln unweigerlich allgemeine Tendenzen hemmt oder fördert, beziehe ich mich auf Georg Lukács; doch auch für Hegel gilt, wie oben ausgeführt, daß die Vermittlung von allgemeinen und subjektiven Zwecken ein wesentliches Moment der Grundstruktur der gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis darstellt – woraus sich als Konsequenz ergibt, daß die individuelle Handlung in affirmativem oder negierendem Bezug zum Allgemeinen steht. (Lukács bezieht sich mit seiner These zwar erklärtermaßen auf Hegels dialektischen Handlungsbegriff, weist jedoch ein übergreifendes teleologisches Prinzip, das die Geschichte oder die Gesellschaft als ganze durchwirkt, zurück.) Zur Auseinandersetzung mit die-

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Tätigkeit der von Hegel angeführten ›welthistorischen Individuen‹ zu klären sein, wie Hegel den Begriff der Handlung in geschichtlicher Perspektive zur Entfaltung bringt. Wenn im Folgenden die beiden Fragen beantwortet werden sollen, inwiefern der Mensch für Hegel als das Subjekt seiner Geschichte gilt, und wie sich die Struktur geschichtlichen Handelns beschreiben läßt, so wird sich zeigen, wie eng beide miteinander zusammenhängen.

5.4.1 Die »Zeit macht sich ihre Leute« – Handeln aus historischer Perspektive Das Modell einer ›List der Vernunft‹ dient zur Begründung dessen, wie sich der allgemeine Vernunftzweck durch die mannigfachen und divergierenden besonderen Interessen hindurch erhält und durchsetzt. Einerseits erscheinen die handelnden Individuen dabei als Mittel und von jener ›List‹ instrumentalisiert – wodurch sich als das eigentliche Subjekt der Geschichte der das Individuelle, die Staaten und Völker übergreifende und sich in ihnen explizierende Weltgeist ergibt.365 Andererseits aber können sie überhaupt nur ›instrumentalisiert‹ werden, weil jede Handlung in einem allgemeinen Sinne als das »innre Mittel für den Zweck«366 der Verwirklichung des Vernunftprinzips entspricht.367 Die Handlung als das »Einzelne Aüsserliche – hängt mit dem Innern, Allgemeinen zusammen«368. Und dieser Zusammenhang liegt darin begründet, daß auch die auf besondere Zwecke gerichtete Handlung im Sinne einer auf die Verwirklichung von Vernunftzwecken gerichteten Tätigkeit aufzufassen ist. Einer der von Jonas gegen Hegel angeführten Einwände, ser Behauptung im Rahmen von Lukács’ ontologisch begründeter Verantwortungsethik vgl. den Beitrag der Verf. Bemerkungen zu Lukács’ Konzeption einer marxistischen Ethik. A. a.O. (177 f. findet sich ein historisches Exempel, das die von Lukács formulierte These untermauert.) 365 Diese Seite betont Herta Nagl-Docekal; sie vertritt die Ansicht, daß das ›welthistorische Individuum‹ in Hegels Geschichtskonzeption letztlich seine »Handelnskompetenz« einbüßt und aus einer bestimmten Perspektive zum »bloßen Instrument der Vorsehung« wird; Hegel spreche dem Individuum also klar die Verantwortung für sein Handeln ab. Der »eigentlich Handelnde« wird aus ihrer Sicht vielmehr »der Geist, in den sie eingebunden sind«. (Herta Nagl-Docekal: ›Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden.‹– Hegels Kritik an der moralischen Beurteilung ›welthistorischer Individuen‹. – In: Biographie und Geschichtswissenschaft. München 1979. 68–80; hier 76.) 366 GW 18. 209. 367 Zur Aristotelischen und auf den Bereich der Natur beziehenden Lehre von den vier Ursachen als der Grundlage der Hegelchen Geschichtsphilosophie vgl. Christoph Johannes Bauer: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck«. A. a.O. 354 ff. 368 GW 18. 209.

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nämlich die Behauptung, daß die »Absichten« der handelnden Subjekte ganz andere seien als die jener sich einer List bedienenden geschichtlichen Vernunft, ist daher zurückzuweisen. Die Handlung als ein immanent Allgemeines entspringt in Zielsetzung, Wahl der Mittel und konkreter Durchführung einer gesellschaftlichen Praxis, als deren Ausdruck sie zu begreifen ist und auf die sie ihrerseits zurückwirkt. Die einzelne Handlung ist Moment eines rationalen Handlungsraums, dessen Gesetzmäßigkeiten zu berücksichtigen sind, wo bestimmte Zwecke realisiert, d. h. vor dem Hintergrund der allgemeinen Praxis anerkannt werden sollen. Umgekehrt bedeutet dies freilich nicht, daß jede Handlung vernünftig ist; der Grund der Handlung, der für Hegel letztlich in der Freiheit des Willens liegt, kann sich ebensogut als unmittelbarer Selbstwiderspruch äußern und damit in Gestalt von Unrecht und Verbrechen auftreten. Im übrigen kann dieser Gedanke der Möglichkeit einer − wenn man es vereinfacht einmal so formulieren will: − Indienstnahme der Handlung aufgrund ihrer immanent dialektischen Struktur auch als eine Präzisierung von Kants Behauptung angesehen werden, daß »die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur« angesehen werden müsse, wie es im achten Lehrsatz seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht heißt.369 Hegel hingegen – für den der sich geschichtlich vollbringende ›Endzweck‹ aber nicht im Sinne einer »Naturabsicht« zu verstehen ist, sondern als ein Ausdruck geistiger Selbstverständigung − betont und begründet vermittels seiner Handlungslehre, daß

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Gerade weil die Behauptung sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist, daß Kant als Geschichtsphilosoph in gewisser Weise unter dem Eindruck der durchaus kontrovers rezipierten Hegelschen Geschichtsphilosophie dem Vergessen überantwortet wurde (zu dieser Behauptung vgl. die Einleitung von Manfred Riedel in dem von ihm herausgegebenen Band: Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie. A. a.O. 20), scheint ein vergleichender Blick in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht angeraten. Wenn Kant die provokante These vertritt, »die Geschichtsschreiber haben alle Schuld« (Refl. 1436), dann erinnert er damit an den praktisch-vernünftigen Zweck der Geschichtsschreibung, der für Kant allein in der Besinnung auf die geschichtliche Realisierung eben jener praktisch-vernünftigen Zwecke liegen kann. Mit dieser Forderung Kants tritt die Verfassungsgeschichte in den Vordergrund oder macht genauer den eigentlichen Inhalt der Weltgeschichte aus. Der Leitfaden, unter dem Geschichte als ein zweckvoller Handlungszusammenhang gedeutet werden kann, entspringt dem von Kant formulierten Telos der »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« als dem höchsten politischen Gut (vgl. im angeführten Band S. 27). Die bürgerliche Gesellschaft stellt für Kant die »höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung« und diejenige Gemeinschaftsform dar, »in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung« (ebd.).

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das Telos der Selbstbewußtwerdung des Geistes nicht nur die Geschichte in ihrem Gesamtzusammenhang durchwirkt, sondern daß die Verwirklichung dieses Telos nur möglich ist, weil das menschliche Handeln strukturell so beschaffen ist, daß sich notwendig mit der Verwirklichung des individuell Intendierten immer auch etwas verwirklicht, was nicht in der ursprünglichen Absicht des Handelnden lag. Wenn die Handlung grundsätzlich diese dialektische Struktur aufweist, dann kann sie sich in Gestalt ihrer objektiven Folgen auch gegen den Handelnden kehren − und dieselbe Struktur, die in positivem Sinne auf jene ›List der Vernunft‹ verweist, die Hegel als ein Erklärungsmodell dafür dient, wie sich vermittels der Realisierung partikulärer Zwecke zugleich der übergreifende Vernunftzweck zu realisieren vermag, spiegelt sich in seiner problematischen Tragweite (in rechtlicher Hinsicht) in der Dialektik der Zurechnung einer Handlung und deren Folgen wider. Nun bedient sich Hegel im Kontext seiner Philosophie der Weltgeschichte eines zwar aufschlußreichen, aber nicht unproblematischen Beispiels, um diese dialektische Natur menschlichen Handelns zu verdeutlichen. Es handelt sich um den Fall eines Menschen, der auf »gerechte Rache«370 sinnt und aus dem Wunsch nach Vergeltung das Haus des Widersachers anzündet; er entfacht dabei jedoch eine Feuersbrunst, die viele unbeteiligte Menschen das Leben kostet, und für die er sich schließlich zu verantworten hat. Losgelöst von Fragen der rechtlichen oder moralischen Imputation geht es Hegel hier zunächst einmal nur darum, deutlich zu machen, daß die »Substanz der Handlung«, oder die Tat ihrem Ansich nach, nur in der vollen Entfaltung aller ihrer Momente im Realzusammenhang erkennbar ist. Die Handlung ist daher nicht auf die ihr zugrundeliegende Absicht zu reduzieren (obgleich in der Absicht bereits der allgemeine Wirk- und Normzusammenhang gesetzt ist), vielmehr verwirklicht sich in der Handlung immer auch etwas, das nicht unmittelbar intendiert war und was nicht weniger seine »That an sich [ist], das Allgemeine, Substantielle derselben, das durch sie selbst vollbracht wird.«371 Damit liegt es der Möglichkeit nach in jeder Handlung, daß sie zum »Rückschlag« gegen den Handelnden werden kann, zu einem Rückschlag, »der ihn zertrümmert, und die Handlung, insofern sie ein Verbrechen ist, zu nichte macht und das Recht in sein Gelten wiederherstellt.«372 – Hier inte370

GW 18. 209; das Zitat stammt aus den Blättern zur Philosophie der Weltgeschichte, weiter heißt es dort: »Beyspiel verschieden in Einem – Mordbrenner – thut nur gerechte Rache – gute Absicht − aber zugleich Verbrechen« (GW 18. 209). Der Zusammenhang ist eindeutig auch hier die »List der Vernunft« in dem Sinne, daß dem besonderen Zweck eine allgemeine Bestimmung immanent ist. 371 GW 18. 164. 372 Ebd.

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griert Hegel also ganz offenbar die moralisch-rechtliche Seite der Handlung und deren Sanktionierung vor dem Hintergrund des geltenden Rechts in die geschichtliche Perspektive, die doch vermeintlich über diese Sphäre partikularer Sittlichkeit hinausweist. Was ist nun aber, so läßt sich nach der Lektüre dieses von Hegel gewählten Beispiels vom ›Mordbrenner‹ fragen, das Vernünftige, das sich hier in und durch die individuelle Handlung, jedoch unabhängig von der Intention des Handelnden ins Werk setzt? Was ist das Vernünftige an einer Brandstiftung mit verheerenden Folgen, die ursprünglich »gerechte Rache« zu sein beanspruchte? Tatsächlich besteht das Vernünftige, so wie Hegel dieses Beispiel konstruiert, eben darin, daß an der objektiven Gestalt der Handlung das Unverhältnismäßige und Unvernünftige der Rache selbst deutlich wird, indem der Racheakt Folgen zeitigt, die nicht nur denjenigen treffen, der sich auf welche Weise auch immer schuldig gemacht hat. So ist die Rache für Hegel zwar »dem Inhalte nach gerecht, insofern sie Wiedervergeltung ist. Aber der Form nach ist sie die Handlung eines subjectiven Willens, der in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen kann«. Die Rache wird aufgrund ihrer immanenten Struktur zu einer neuen Verletzung: »sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort.«373 Aufgrund ihrer widersprüchlichen Natur muß die Institution der Rache deshalb durch die »strafende Gerechtigkeit« abgelöst werden, die ihren Grund nicht mehr im subjektiven Willen als solchem hat, sondern in jener Gestalt des subjektiven Willens, der »als besonderer subjectiver Wille das Allgemeine als solches«374 will. Insofern sich in der Reaktion auf solche sich als erneute Rechtsverletzung erweisende Rachehandlung das allgemeine Bewußtsein der Notwendigkeit einer nicht mehr rächenden, sondern strafenden Gerechtigkeit durchsetzt, müsste man den Brandstifter in diesem Fall tatsächlich als ein (allerdings negatives) Beispiel für ein historisches Individuum bezeichnen, dessen nicht-beabsichtigtes Tun sich historisch gesehen als wirksamer erweist als das von ihm Intendierte. Wie die Weltgeschichte als ganze − die für Hegel bekanntlich im engeren Sinne die Geschichte der Staaten in ihrem äußeren Verhältnis zueinander ist − nicht mit einem bewußten Zweck beginnt, sondern »als Natur, welche der innere, der innerste bewußtlose Trieb ist«375, und die geschichtliche Entwicklung darin besteht, sich den zunächst noch inneren Begriff von 373 374 375

GPR § 102. Ebd. § 103. Vgl. GW 18. 161.

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Freiheit als Wesen des Geistes bewußt zu machen (um ihn dann gegebenenfalls auch bewußt ins Werk setzen zu können), so verfolgen auch die »grosse[n] Menschen«376 den allgemeinen Zweck auf eine nur unmittelbare Weise, gleichsam instinktartig. – Daß sie »instinktartig« und nicht im vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung und der durch sie zu verwirklichenden Idee der Freiheit handeln (was nicht bedeutet, daß sie überhaupt nicht bewußte (politische) Zwecke verfolgen), ist jedenfalls eine von drei möglichen Varianten, die Hegel uns anbietet. (Die Alternativen spannen sich dabei zwischen den Extremen auf, daß diese Menschen einerseits im vollen Bewußtsein der durch sie zu verwirklichenden Idee der Freiheit handeln und andererseits ganz ohne Bewußtsein jener Idee und ganz ohne die Vorstellung dessen, was aus dieser Perspektive ›an der Zeit ist‹, agieren.) Fest steht: Sie sind in ihrem geschichtlichen Handeln sowohl »von dieser ihnen innern bewußtlosen Bedeutung« als auch »auf dem weltlichen Standpunkte«377 gerechtfertigt. Man könnte auch sagen: Der Erfolg ihres Handelns gibt ihnen Recht378, was

376

G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Unter Mitarbeit von Johann Heinrich Trede herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann. Hamburg 1976. 258 (=GW 8). 377 GW 18. 201. 378 An diesem Gedanken der nachträglichen Rechtfertigung geschichtlicher Ereignisse und mitunter auch geschichtlicher Greueltaten unter Verweis auf ihren Erfolg setzt nicht selten die Kritik an Hegels Geschichtsphilosophie an. So fragt etwa Henning Ottmann, wie auf dem Boden der Philosophie Hegels der Geschichte eine Anerkennung der Opfer der Geschichte zu denken sei. Zunächst betont Ottmann diesbezüglich ganz richtig, daß Hegels Geschichtskonzeption nicht im Sinne des Historizismus zu verstehen sei, denn die Weltgeschichte, die zugleich das Weltgericht ist, sei für Hegel nicht eine bloße Instanz der Macht, sondern sie urteile vernünftig. Wenn Ottmann dann aber versucht, eine angemessene Anerkennung der Opfer der Geschichte zu denken, gelangt er in seinen Überlegungen nur zur Wiederbelebung heilsgeschichtlicher Vorstellungen, wodurch letztlich die Philosophie gegenüber der Theologie ihre Eigenständigkeit zweifellos wird einbüßen müssen. »Für das Vernichtete und Verlorene kann es eine Versöhnung nur geben, wenn das Verlorene wieder präsent werden würde wie an einem Jüngsten Tage, der alle Tage wieder gegenwärtig macht.« (Henning Ottmann: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht«. Anerkennung und Erinnerung bei Hegel. – In: Hegel-Jahrbuch 1995. 204–209; hier 207.) Eine noch weit kritischere Einschätzung hinsichtlich der Geschichtsphilosophie Hegels, die damit aus dieser Sicht ›unrettbar‹ wird, äußert Caroline Heinrich (Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte. Wien 2004; vgl. insbesondere das Kapitel I: Zur Negativität der Opfer der Geschichte). Heinrich vertritt die sowohl an Adorno als auch an Foucault anknüpfende These, daß Hegels Geschichtsphilosophie »das besondere Leiden ignoriert« und die »Opfer der Geschichte« in einen Nebel erinnerungslosen Schweigens hüllt. In der Tat orientiert sich Hegel in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen nicht an Einzelschicksalen und dem ›besonderen Leiden‹, sondern versucht das allgemeine Entwicklungsprinzip der ›Weltgeschichte‹ herauszuarbeiten, das zu begreifen demjenigen unmöglich ist, der den Blick allein auf die vermeintliche Singularität der Ereignisse richtet.

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wiederum nichts anderes heißt, als daß sich die praktische Vernunft an den realen Verhältnissen selbst zu bewähren hat. Denn mit den Veränderungen der realen Verhältnisse muß sich zugleich die allgemeine Verständigungsbasis wandeln oder einem »neuen Begriff (des guten Lebens, der Freiheit usf.) zum Durchbruch verhelfen«379, nach dessen Maßgabe die Begründung und Rekonstruktion des geschichtlichen Handelns im Sinne allgemeiner Selbstverständigung geleistet wird. Niemand kann sich also selbst als ein ›welthistorisches Individuum‹ bezeichnen, um dadurch das eigene Handeln als ›geschichtlich notwendig‹ zu rechtfertigen, denn ob eine Handlung tatsächlich notwendig ist, erweist sich erst rückblickend. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte betont Hegel, daß das explizite Wissen um den letzten Zweck der Geschichte letztlich solange nicht vollkommen hervorgetreten sein kann wie die Geschichte noch im Fortschreiten begriffen ist.380 Dann aber können die ›welthistorischen Individuen‹ ebensowenig wie ihre Zeitgenossen einen Einblick in den allgemeinen Zweck ihres Handelns haben (sondern bestenfalls Ahnungen, ein nicht-begriffliches Wissen bezüglich dessen, was hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung des Geistes an der Zeit ist). Zudem betont Hegel nachdrücklich, daß die ›welthistorischen Individuen‹ zwar gleichsam Geburtshelfer des kommenden Prinzips des Geistes darstellen und damit auch nicht ein bloß »Eingebildetes, Vermeintes« vollbringen; sie gehören »ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an«, ergreifen »ein solches Allgemeines und [machen es] zu ihrem Zwecke«381. Sie erfassen, was an der Zeit ist, »schöpfen es aus einer Quelle, deren Inhalt noch nicht zu einem gewußten Dasein vorhanden war« (sic!) »und scheinen es daher aus sich, aus ihrem Innern zu schöpfen.«382 Auch an anderer Stelle 379

Emil Angehrn: Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Geschichtsphilosophie. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 35, Heft 3/4 (1981). 341–364; hier 349. 380 Vgl. GW 18. 162. 381 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/1823. Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Herausgegeben von Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelmann. Hamburg 1996. 68 (=Hegel: Vorlesungen, Bd. 12.). Die Bemerkung, daß die ›welthistorischen Individuen‹ in ihren Handlungen bloß dem »einen Zwecke« angehören, erinnert an Hegels Darstellung der »sittlichen Handlung« in der Phänomenologie des Geistes. Das Pathos, welches die unter den Bedingungen unmittelbarer Sittlichkeit Handelnden, die »Heroen« (ebd.), zu ihrem Handeln motiviert, ist Ausdruck der Notwendigkeit desjenigen Gesetzes, dem das Individuum folgt (entweder folgt es dem göttlichen oder dem menschlichen Gesetz); an ihnen erscheint daher »das Allgemeine als ein Pathos und die Tätigkeit der Bewegung als individuelles Tun« (PhG 313). 382 Hegel: Vorlesungen, Bd. 12. Das Pathos, dem die geschichtliche Handlung Hegel zufolge entspringt, bezeichnet ein Wissen, welches in einem »Ansich des Wissens einge-

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betont Hegel, daß eine gewisse Rücksichtslosigkeit jenen ›großen Männern‹ eigen sein müsse und er behandelt in diesem Zusammenhang auch explizit die Frage nach der moralischen Imputation ihrer Schuld, die sie dadurch auf sich laden, daß sie »nicht die Anerkennung der Menschen gesucht, daß sie ihre Meinung verachtet haben.«383 Aus Sicht einer psychologisierenden Geschichtsbetrachtung mag es ihnen zum Nachteil gereichen, daß sie das Neue, das sie zur Welt bringen, nicht nur »aus sich geschöpft« haben, sondern daß sie damit zugleich ihre subjektiven Interessen verfolgt haben: »Eine große Gestalt, die da einherschreitet«, so heißt es weiter, auch wenn der Gestus solcher Worte befremden mag, »zertritt manche unschuldige Blume, muß auf ihrem Wege manches zertrümmern.«384 Hegel betont an verschiedenen Stellen, daß »Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster und ihre Thaten, die kleinen und die großen Leidenschaften, Schuld und Unschuld […]«385 zwar ihren »Werth« und ihre bestimmte Bedeutung innerhalb der rechtlichen und sittlichen Verhältnisse einer Gesellschaft haben und innerhalb der jeweiligen Ordnung zu rechtfertigen oder zu sanktionieren sind, nicht jedoch Gesichtspunkte einer allgemeinen Geschichtsschreibung darstellen. Bereits in seiner Jenaer Zeit beschäftigt sich Hegel mit der Rolle jener epochemachend in den Lauf der Geschichte eingreifenden Menschen, deren politische Wirksamkeit insbesondere dort deutlich wird, wo »durch die erhabne Gewalt grosser Menschen«386 Staaten gestiftet werden.387 Jene schlossen bleibt«. Angehrn zieht daraus die Konsequenz, daß im Einzelnen und seinem Handeln nicht der Ort und der Maßstab historischer Rationalität liegt, sondern vielmehr in der Geschichte selbst. (Vgl. Emil Angehrn: Vernunft in der Geschichte? A. a.O. 350.) 383 G.W.F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Erste Hälfte. Band 1: Die Vernunft in der Geschichte. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg 61994. 104 (=VG). 384 VG 104. 385 GPR § 345. 386 GW 8. 258. 387 Hegels Bemerkungen zur Rolle staatenstiftender Individuen – wie etwa Theseus, der der Sage nach der Gründer Athens gewesen ist − oder revolutionärer Erneuerer, wie z. B. Robespierre, waren indes philosophiegeschichtlich der Anlaß für einen nicht unzweifelhaften Schulterschluß: Friedrich Nietzsche äußert sich in Menschliches, Allzumenschliches (1878 publiziert) in aphoristischer Form (»Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen«, Nr. 99), zu jenen »welthistorischen Individuen«. Abgesehen von dem hier seinen Thesen zugrundeliegenden deterministischen Standpunkt Nietzsches scheint es auf den ersten Blick eine Verwandtschaft zu Hegels Bemerkungen im Zusammenhang mit jenen welthistorischen Individuen und der Rechtfertigung ihrer Handlungen zu geben. Der Zustand vor der Staatengründung zeichnet sich Nietzsche zufolge durch Gewalt und »Abschreckung« aus; diese Abschreckung ist dem Zweck geschuldet, die eigene Existenz und Macht zu sichern. Vor dem Hintergrund solchen Unrechts »handelt der Ge-

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staatsstiftende Gewalt ist für Hegel ein Gegenmittel gegen jene Formen von Gewalt, mit welcher partikulare, festgewordene Tendenzen von Herrschaft auftreten. Insofern im Naturzustand jene »Natürlichkeit eine Gewaltthätigkeit ist«388, ist der von den »Heroen« ausgeübte Zwang der Staatengründung ein »Heroenrecht«389. Aufgrund dieser Überzeugung lehnt Hegel die Auffassung von Rousseau, Sieyes, Kant und Fichte ab, die Stiftung von Staaten lasse sich durch Vertrag initiieren. Dagegen behauptet Hegel die irreduzible Bedeutung jener welthistorisch wirksamen Menschen, welche »den absoluten Willen« (hier nun also:) wissen und aussprechen und von deren Worten und Handlungen die Einigung auf eine veränderte sittliche Gestalt ausgeht.390 Hätte jener ›große Mann‹ nicht an sich schon vorhandenen, laten-

waltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft«, rechtmäßig. Rechtmäßig freilich nicht im Sinne des geltenden Rechts, denn dies gilt es ja erst zu schaffen, aber er »hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann.« Moralität könne sich erst dann herausbilden, »wenn ein grösseres Individuum oder ein CollectivIndividuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt.« Die tiefen Differenzen beider Denker, denen ich hier nicht nachgehen kann, offenbaren sich in der jeweiligen Auffassung von Staatlichkeit, Recht, Moralität. Was für Hegel nämlich als ein Moment innerhalb eines übergreifenden »Fortschritts im Bewußtseyn der Freyheit« zu bezeichnen ist − die ›konstitutive Diktatur‹ zum Ziel der Staatengründung − ist eingebettet in den Gedanken, daß sich das Individuum erst im Staat, als ein selbstbewußtes Glied desselben, freiheitlich entfalten kann. 388 GPR § 93. 389 Ebd. 390 Wie sich jene ›welthistorischen Individuen‹ selbst begreifen und innerhalb des historischen Prozesses selbst verorten, bleibt bei Hegel allerdings unklar. Und auch die öffentliche Meinung der »Nachwelt« – weit davon entfernt, sich als das Resultat einer bewußten Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Entwicklungen zu zeigen – begnügt sich Hegel zufolge nicht selten mit der Glorifizierung oder Verurteilung historischer Persönlichkeiten; ein Urteil, das allerdings wiederum Hegels grundsätzlicher Skepsis gegenüber der öffentlichen Meinung geschuldet sein mag (vgl. GPR § 348). Hegel scheint den handelnden Individuen, abgesehen von den welthistorischen Individuen, deren Handlungen im Nachhinein als geschichtlich gerechtfertigt erscheinen mögen, hier also tatsächlich nicht viel zuzutrauen. Er gesteht ihnen einerseits das Setzen und die Befriedigung besonderer wie politischer Zwecke zu, weist aber wiederum andererseits vielfach auf implizite Weise die Vorstellung zurück, daß sich die Menschen ein reflektiertes historisches Bewußtsein erarbeiten können. So ist dann auch keine Lösung des Widerspruchs abzusehen, daß diejenigen, die die Geschichte handelnd vorantreiben, sie nicht begreifen und die, die sie begreift (das ist für Hegel die Philosophie), sie nicht macht. (Zu dieser Aporie vgl. Shlomo Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates. Frankfurt a.M. 1976. 276 f.) Hegel neigt hier aus meiner Sicht tatsächlich zu einer Unterbestimmung der Seite der bewußten Zwecksetzung als einem konstitutiven Bestandteil der menschlichen Handlung und

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ten Kräften innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung seiner Zeit Ausdruck verliehen, hätte er auch niemals Erfolg haben können. Es sind damit nicht seine subjektiven Vorstellungen, die in der Geschichte realisiert werden, sondern etwas, was das ›große Individuum‹ transzendiert und an dem es doch teilhat. Diese neue sittliche Gestalt, insofern sie das »Ansich« der Einzelnen ist, ist zunächst »reine entsetzliche Herrschaft«, sie ist »Tyrannei«, aber in dieser Gewalt ist sie »nothwendig und gerecht, insofern sie den Staat als dieses wirkliche Individuum constituirt, und erhält.«391 Mit seiner These, daß Gewalt der notwendige Grund und Ursprung der Staatenbildung ist, lehnt sich Hegel erklärtermaßen an Machiavelli an. (Was den Staat substantiell ausmacht, ist von diesem Ursprung selbstredend zu unterscheiden.) Der entstehende Staat, dem es zunächst nur darum geht, seine Herrschaft zu etablieren, hat nicht nur noch keine allgemein verbindliche Rechtsordnung hervorgebracht, weswegen er »keine Begriffe von gut und schlecht, schändlich und niederträchtig« entwickelt hat, er ist sogar »über alles dieses erhaben« – also auch über die Zuschreibung von individueller Schuld. Er verkörpert in seinem gewaltsamen Bestehen lediglich »diese Selbständigkeit überhaupt«, welche jedoch noch ganz abstrakt, d. h. ohne »weitere innere Entwicklung«392 ist. Für Hegel ist die Legitimität eines Staates, da er – auf welche Weise auch immer – eine Verkörperung der Idee des Staates darstellt (an der er allerdings zu messen ist!), völlig unabhängig von den Bedingungen seines Entstehens.393 Der Ursprung des Staates, mit dem ein Volk Hegel zufolge in die allgemeine Weltgeschichte eintritt, fällt seinerseits nicht in die Geschichte; seine Gründung ist damit ein Sprung innerhalb der kontinuierlichen Entwicklung oder auch eine Revolution im oben genannten Sinne. Gleichwohl hat solch eine »konstitutive Diktatur«394 eine dialektische Funktion: Sie soll das Volk zum »Gehorsam« erziehen und ihm die Befolgung und Internalisierung des allgemeinen Willens anstelle des partikularen, also die allgeder gesellschaftlichen Praxis, auch wenn sich ein solches geschichtliches Selbstverständnis nicht auf das Wissen um den allgemeinen ›Endzweck‹ der Geschichte erstreckt. 391 GW 8. 258. 392 GPR § 322 Anm. 393 Vgl. Shlomo Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates. A. a.O. 271. 394 Ebd. 272. Mit Blick auf die Staatengründung heißt es weiter: »Konsensus ist also nach Hegel historisch durch Mittel herbeigeführt worden, die nicht auf Konsensus beruhen. Hegel vermeidet so die petitio principii, die sich für viele liberale Theorien ergibt, wenn sie zum Beispiel die Frage beantworten sollen, wie ursprünglich festgelegt und legitimiert wurde, daß die Mehrheit entscheiden soll. Hegel dagegen ist sich der unbequemen Tatsache voll bewußt, daß jede Gründung eines neuen Staates und jede revolutionäre Umwälzung in der Geschichte Ereignisse sind, die ihre Legitimation nur in sich selbst, nicht aber in irgendwelchen vorgegebenen Kriterien finden können.« (Ebd. 272 f.)

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meine »Herrschafft des Gesetzes«395 ermöglichen. Auch die in diesem Sinne konstitutive Diktatur wäre so gesehen Ausdruck einer ›List der Vernunft‹. Aber sobald diese Aufgabe erfüllt ist und das Gesetz keine fremde Gewalt gegen den Einzelnen mehr darstellt, sondern den »gewußten allgemeinen Willen«396, hat sie jede Legitimation eingebüßt. Zur Illustrierung des Unterschiedes zwischen stofflicher Tätigkeit, durch welche ein äußerer Zweck am Gegenstand gesetzt und im Material realisiert wird, und der Tätigkeit »im Geiste«, in deren Prozeß sich der Gegenstand selbst dem gemäß macht, was die Tätigkeit an ihm setzen will, verweist Hegel gemäß der Überlieferung seiner Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes auf die Tätigkeit solcher ›welthistorischen Individuen‹ wie Caesar und Alexander. »Sie sind die Helden, die die Wirkung auf ein Volk hatten. Aber das Volk selbst hat sich zu dieser Wirkung emporgearbeitet, oder wie man es ausdrückt, es war gereift dazu. Diese Reife ist das, was bei jedem äußern Material Tauglichkeit genannt wird.«397 Mit dieser Bemerkung reduziert sich allerdings die Tätigkeit jener welthistorischen Individuen − und damit auch ihre Verantwortung für die durch sie eingeleiteten Veränderungen – darauf, daß »der bloße Schein« der nur noch äußerlichen Hülle der gesellschaftlichen Verhältnisse »völlig verschwinde.« Sie erweisen sich damit als nichts weiter denn als Repräsentanten der allgemeinen Entwicklung – wobei dieses Repräsentieren des allgemeinen Geistes sie wiederum in ihrer Bedeutung nicht nivelliert, sondern gerade ihren »Wert«398 ausmacht. Und sie erweisen sich auch nicht als isolierte Innovatoren von geschichtlicher Erneuerung399, denn »das neue Innre ist schon da, die alte Schaale braucht 395

GW 8. 259. Ebd. 260. 397 GW 25,1. 14. 398 VG 94. 399 Die oben dargestellte, von Hegels Schülern überlieferte Auffassung käme der Forderung Herta Nagl-Docekals durchaus entgegen, die unter Berufung auf gegenwärtige Geschichtsauffassungen Hegel gerade dafür tadelt, daß er die historische Bedeutung Einzelner überbewerte; anstatt den »Zusammenhang vieler Einzelner, ihrer Lebensverhältnisse, Probleme, Hoffnungen, Entscheidungen« angemessen zu berücksichtigen, gehe es doch vielmehr auch in historischer Perspektive um den Nachweis, daß »die Situation der Vielen die Voraussetzung für die Bedeutung Einzelner ist« – nichts anderes ist jedoch der Sinn des obigen Zitats. (Siehe Herta Nagl-Docekal: ›Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden.‹ A. a.O. 77.) Gleichwohl bemerkt Nagl-Docekal mit Recht, daß bereits in Hegels Geschichtskonzeption die ›welthistorischen Individuen‹ nicht isoliert betrachtet würden, sondern »als Repräsentanten des weitergeschrittenen Geistes.« (Ebd.) Wie oben gezeigt, kommt ihnen für Hegel jedoch ein ambivalenter Charakter zu, so daß sie weder ganz im Zeitgeist ihrer Gegenwart aufgehen, noch isoliert von ihm zu betrachten wären; und auch aus der Perspektive des fortgeschrittenen Geistes haftet diese Ambivalenz an ihnen. 396

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nur zerbrochen zu werden. Wie man sagen kann, Caesar, Alexander hat dieß gethan, so kann man auch sagen, das Volk hat sie erst geschaffen, die Zeit macht sich ihre Leute«400. An anderer Stelle wird die Bemerkung überliefert, daß die unrechte einzelne Handlung, selbst dort, wo sie sich auf subjektive Weise einen »umfassenden« Zweck setzt − etwa »Freiheit, Wohl eines Volkes« – »bloße einzelne blanke Handlung, […] Verbrechen«401 bleibe. Und am Beispiel der Ermordung Caesars durch Brutus und Cassius wird erläutert: »Die Sache, dieser Wille hätte ausgemacht werden sollen«, dann wäre die Ermordung Caesars auch nicht bloß einzelne Handlung, sondern welthistorisch bedeutsame Tat gewesen; so aber gilt sie als ein »bloß gemeine[s] Verbrechen, eben weil es ohne Folgen war.«402 Ohne Folgen und damit ›einzelne Handlung‹ aber bleibt sie, wenn durch sie nicht die allgemeine Sache vollbracht wird, wenn der subjektive Zweck nicht mit dem zwar erst latent vorhandenen, aber allgemeinen Zweck übereinstimmt. Für ein solches »gemeines Verbrechen« sind die Handelnden dann freilich nach Maßgabe der bestehenden Rechtsordnung zur Rechenschaft zu ziehen. – Jene welthistorischen Individuen sind damit zum einen vor dem geistigen Hintergrund ihrer Zeit und der geltenden Sittlichkeit zu begreifen, die sie auf ihre Weise verkörpern. Zugleich sind sie jedoch Boten eines Kommenden, eines höheren geistigen Prinzips, das ihnen nicht (zwangsläufig) bewußt ist, das sie jedoch durch ihr Handeln offenbaren und das notwendig die jeweils anerkannte Ordnung in Frage stellt. Im Bewußtsein des welthistorischen Individuums verdichtet sich gleichsam das, was den Geist der Zeit bestimmt. Ein Irrtum in dieser Hinsicht bei gleichzeitigem Berufen auf dies Wissen ist für Hegel durchaus kein läßliches Vergehen, denn wer sich auf sein Wissen beruft, um eine Handlung, vor allem eine unrechte, dadurch zu rechtfertigen, hat dazu gewissermaßen nur das Recht, wenn er den Irrtum ausschließen kann − eben dies kann er jedoch nicht.

5.4.2 ›Schuld in der Geschichte‹? Was zunächst mit Blick auf Hegels Ausführungen hinsichtlich des Wirkens historischer Individuen problematisch scheint, sind die bereits angesprochenen divergierenden Aussagen Hegels in Bezug auf die Frage, inwieweit die Individuen, die im Fortgang der Geschichte stehen, die historische Bedeu400 401 402

GW 25,1. 14. Ringier 73. Ebd. Hervorhebung von mir, BC.

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tung ihres eigenen Handelns einzuschätzen vermögen. Mit der Antwort auf die Frage, ob sie aus Einsicht in den allgemeinen Lauf der Dinge, aus bloßem Instinkt oder gänzlich ahnungslos hinsichtlich des sich geschichtlich entfaltenden Prinzips der Freiheit handeln, hängt auch die Beurteilung ihrer konkreten Verantwortung und Schuld bestimmte geschichtliche Entwicklungen betreffend ab, die über die bloße Kausalität der einzelnen Handlung hinausgehen. Allerdings kann man diesen Befund einer gewissen Uneindeutigkeit von Hegels Aussagen in diesem Zusammenhang auch dahingehend auffassen, daß die innere Haltung und der Grad der Reflexion jener »welthistorischen Individuen« hinsichtlich ihrer historischen Vermittlungsarbeit (hinsichtlich der juristischen Perspektive ist das natürlich anders) zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen aus Hegels Sicht letztlich nicht von entscheidender Bedeutung ist. Das Wesentliche scheint demgegenüber gerade dies, daß sie, insofern sie handeln, nicht anders können, als in ihren konkreten politischen oder alltagspraktischen Handlungsentscheidungen objektive Tendenzen zu affirmieren oder zu negieren. Geschichte ist aber nichts anderes als der in diesen Handlungen und zugleich gewissermaßen ›hinter dem Rücken‹ der handelnden Individuen sich forttreibende Prozeß. Geschichte ist für Hegel also nichts, was sich auf bewußte Weise ins Werk setzen läßt, was ›gemacht‹ werden kann. Überdies stellt sich mit Blick auf politische Entscheidungen generell das Problem der Antizipation möglicher, insbesondere längerfristiger Folgen bestimmter Entscheidungen. Dennoch ist Geschichte dasjenige, worin sich Bewußtsein und Selbstbewußtsein des Einzelnen und dessen Handeln konstituieren, und zweifellos sind es allein die Individuen, die in ihren Handlungen den geschichtlichen Prozeß vorantreiben. Und eine jede Handlung ist – um es noch einmal zu wiederholen – so beschaffen, daß in ihr beide Sphären (die des Besonderen und die des Allgemeinen) vermittelt werden; daß der besondere Zweck nur innerhalb des Allgemeinen und vor dem Hintergrund der ›Gesetze der Objektivität‹ verwirklicht werden kann. In der Konsequenz rückt jedoch eine solche handlungstheoretisch fundierte Geschichtskonzeption von einer personenbezogenen Geschichtsschreibung ab, denn es sind nicht nur die spezifischen Handlungen jener ›großen Menschen‹, deren partikuläre Zwecke das Allgemeine in sich enthalten, sondern jede Handlung hat die beiden Momente von Besonderheit und Allgemeinheit in sich, weshalb in jeder Handlung noch etwas anderes ins Werk gesetzt wird als bewußt intendiert war. Im Durchgang durch die Sphäre der Sittlichkeit, wie sie von Hegel im dritten Teil der Grundlinien entfaltet wird, an dessen Ende sich der Übergang in die Sphäre der allgemeinen Weltgeschichte ergeben hat, drängt sich der Eindruck auf, daß Hegel die Frage danach, wie Individuen zu den von ihnen

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verfolgten praktischen Gründen und Zwecken gelangen und welcher Form von praktischer Rationalität sie dabei folgen, zugunsten einer Strukturgeschichte der politischen Institutionen in den Hintergrund treten läßt. Denn erst innerhalb der gesellschaftlichen Praxis kann auch die individuelle Handlung in ihrer konkreten politischen Zielsetzung verständlich werden und sich in ihrem rationalen Kern offenbaren. Etwaigen politisch-moralischen Forderungen und Appellen, der Mensch solle Lehren aus der Geschichte ziehen (um dadurch eine bestimmte ›Schuld‹ künftig zu vermeiden) − man denke in diesem Zusammenhang etwa an den von Adorno aufgestellten ›kategorischen Imperativ‹, die politische Aufgabe bestehe fortan darin, zu verhindern, daß sich ein solches Ereignis wie der Holocaust wiederholt − hält Hegel entgegen: Geschichte ist (ob es uns gefällt oder nicht) nicht ›machbar‹. Mit aller Entschiedenheit weist Hegel die Auffassung zurück, die hinter dem Wahlspruch »historia magistra vitae«403 steht und die davon ausgeht, daß die Geschichte für die gegenwärtig handelnden Individuen bestimmte Lehren bereitstellt. Das Einzige, was verläßlich aus der Geschichte zu lernen ist, ist dies: »daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.«404 Aber das Problem besteht für Hegel nicht nur darin, daß nachweislich niemand aus der Geschichte gelernt hat, sondern daß jede Zeit, jedes Volk in so eigentümliche Umstände verwoben ist, daß aus diesen Umständen heraus entschieden werden muß und allein entschieden werden kann. »Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft nicht ein allgemeiner Grundsatz, eine Erinnerung an ähnliche Verhältnisse [in der Vergangenheit] reicht nicht aus; denn so etwas wie eine fahle Erinnerung hat keine Gewalt im Sturm der Gegenwart«405. Was dagegen das »Bildende der Geschichte« – in einem doppelten Sinne: das Gestalten von gesellschaftlich-geschichtlicher Gegenwart und das, was die Geschichte an ›Belehrendem‹ bereitstellt – betrifft, so ist für die Begriffe von dem, was als Recht zu gelten hat, ein Verständnis der geschichtlichen Entwicklung erforderlich, das sich nur in der bereits angesprochenen Weise von begrifflicher Reflexion auf die bestehenden Institutionen und Verhältnisse nach Maßgabe des jeweiligen und zu erarbeitenden Begriffs des Rechts herausbilden kann. Diese Verhältnisse sind allerdings geschichtlich gewordene, und insofern steht der Handelnde im jeweiligen geschichtlichen Zeitbezug, ob er sich diesen nun vergegenwär-

403

Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 21992. 38 ff. 404 VG 19. 405 Ebd.

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tigt oder nicht. – Dies bedeutet aber wiederum, daß auch das ›historische Individuum‹ aus seinem konkreten Praxisbezug zu verstehen ist, der für die historische Bedeutung konstitutiv ist, d. h. die historische Handlung ist vor dem Hintergrund der konkreten Widersprüche und Probleme der jeweiligen Zeit zu beschreiben.406 Im Hinblick auf die Frage nach einer ›Schuld in der Geschichte‹ bleibt schlußendlich zu konstatieren, daß diese Frage für Hegel sicherlich nicht im Zentrum seiner Überlegungen stand, mit denen es ihm eher um den Versuch einer ›Theodizee‹ − um eine den allgemeinen Gang der Weltgeschichte rechtfertigende Betrachtung − zu tun ist. Und was die Geschichte für Hegel ist, nämlich die Entwicklung und Selbstauslegung des ›Weltgeistes‹, wird seiner Ansicht nach gerade nicht durch die ›Handlungen‹ eines transzendenten Gottes hervorgebracht. »Unsere Erkenntniß«, so heißt es in der Einleitung zur Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte von 1830/31, »geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, daß das von der ewigen Weisheit bezweckte wie auf dem Boden der Natur, so auf dem Boden des in der Welt wirklichen und thätigen herausgekommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodicäe, eine Rechtfertigung Gottes«407. Die von Hegel mit dem Programm einer ›Theodizee‹ verbundene Vorstellung einer »Aussöhnung« des Geistes mit sich selbst, d. h. im Prozeß seiner Selbstentfaltung, kann nur vermittels der »Erkenntniß des Affirmativen« erreicht werden, in welchem das Übel in der Welt als »jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet«. Sein Vorhaben einer Theodizee impliziert daher ferner, daß die Geschichte und das Hervortreten des Geistes, wie bereits bemerkt, zum »Prozeß des Geistes« gehören; dieser Prozeß des Geistes besteht aber wesentlich darin, Bewußtsein und Erkenntnis seiner selbst zu erlangen.408 Das Problem der Theodizee409, das freilich aufs engste mit der

406

Vgl. Herta Nagl-Docekal: ›Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden.‹ A. a.O.

79. 407

GW 18. 150. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. Hamburg 1986. 6 (= Hegel: Vorlesungen, Bd. 9). 409 Der Ausdruck »Theodizee« geht auf Leibniz zurück, der ihn wohl im Anklang an Röm. 3,5 gebildet hat, um seine Theorie der Rechtfertigung Gottes angesichts des physischen und moralischen Übels in der Welt zu bezeichnen. (Vgl. G. W. Leibniz: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal. Amsterdam 1710.) Leibniz formuliert den Gedanken, daß Gott als das vollkommenste Wesen aus einer Vielzahl prinzipiell möglicher Welten diejenige auswählt, die die bestmögliche ist, und diese bringt er zur Wirklichkeit. Dennoch bleibt diese geschaffene Welt kontingent, und Gott in seinen Handlungen frei, obgleich er sich − geleitet von einer moralischen 408

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303

Frage nach der Schuld in der Geschichte verknüpft ist, wird von Hegel weder in wünschenswerter Ausführlichkeit behandelt, noch wird es überhaupt mit dem Schuldgedanken assoziiert. Rechtfertigung, hier die Rechtfertigung Gottes, impliziert aber gemeinhin den Vorwurf der Schuld und fordert ein Subjekt der Imputation. Der Theodizee geht es nicht um die Verantwortung des Menschen, sondern um die Gottes. In Hegels Geschichtskonzeption findet sich aber gar kein solches Subjekt der Imputation; der »Geist«, den Hegel als Subjekt der Geschichte ausmacht, ist kein mit Wissen und Wollen Zwecke setzendes Subjekt, kein persönlicher Gott und daher ist er auch nicht einer moralischen Imputation fähig.410 Daher trifft es auch im eigentlichen Sinne nicht zu, daß Hegel Gott oder den Geist rechtfertigt, sondern er stellt unter der von einer »denkenden Betrachtung« der Geschichte geforderten Voraussetzung der Vernunft in der Geschichte fest, daß der Geist seinen Weg der Selbstentfaltung und des sich vertiefenden Wissens von sich geht, »unbekümmert um diejenigen, die in der Weltgeschichte als Opfer nicht etwa seines Zweckes, sondern endlicher Zwecke zu beklagen sind.«411 Die Frage nach einer ›Schuld in der Geschichte‹, so läßt sich folgern, verfehlt damit aus der Sicht Hegels ihren eigentlichen Adressaten, wenn sie nach einem die Geschicke der Menschen nach einem bestimmten Plan lenkenden und damit jenseits der Menschengeschichte zu verortenden Subjekt sucht. Sie ist vielmehr dort, und nur dort zu stellen, wo die handelnden Individuen, welche den Geschichtsprozeß vorantreiben, ihre endlichen Zwecke zu realisieren suchen. Aber auch mit Blick auf die handelnden Individuen und insbesondere jene von Hegel angesprochenen ›welthistorischen Individuen‹ bleibt die Antwort oder ›hypothetischen‹ Notwendigkeit − an bestimmte Regeln hält. Und obwohl Gott das Übel Leibniz zufolge nicht will, läßt er es um der Harmonie des Weltzusammenhangs dennoch zu. Es ist schließlich Kant, der die klassisch gewordene Definition der Theodizee gibt: »Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.« (Immanuel Kant: Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (1791). – In: Akademie-Ausgabe. Bd. VIII. 255.) Aufgrund seiner grundsätzlichen Zweifel an einer »doctrinalen« Theodizee (ebd. 264) gelangt er zu einer geschichtsphilosophischen Konzeption, die es sich zum Ziel setzt, die der Weltgeschichte zugrundeliegende Vorsehung zu rechtfertigen. Damit rücken dann allerdings der Mensch und seine sittlich gesetzgebende Vernunft ins Zentrum dieser Rechtfertigung. (Vgl. dazu den Art. »Theodizee« von S. Lorenz im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Basel 1998. 1066–1074.) 410 Vgl. Walter Jaeschke: Die List der Vernunft. A. a.O. 100. Dies eben zeichnet Hegels Vorhaben einer Theodizee gegenüber allen anderen Gestalten der Theodizee seit der Antike aus. Und es ist eben jener personale Gottesgedanke, durch welchen alle diese Rechtfertigungsbemühungen Jaeschke zufolge »unvermeidlich kritikabel« (ebd. 101) sind. 411 Ebd. (Hervorhebung im Original)

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auf die Frage nach der ›Schuld‹ an einer bestimmten historischen Entwicklung, wo sie nicht auf rechtlicher Grundlage entschieden wird, immer unbestimmt. Denn der geschichtlichen Betrachtung – jedenfalls dort, wo sie sich nicht dem sogenannten ›narrativen‹ Ansatz verpflichtet weiß − ist es nicht um die individuelle Handlung und ihre Motivation zu tun, sondern um die Rekonstruktion des umfassenden Handlungszusammenhangs, eines Zeitabschnitts, einer Epoche oder ähnlichem. Die verschiedenen Aspekte hinsichtlich des Problems einer historischen Schuld und insbesondere hinsichtlich der Schuld jener ›welthistorischen Individuen‹ lassen sich nunmehr dahingehend synthetisieren, daß − wenn man, wie Hegel es tut, die Vorstellung einer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung zugrundelegt, in welcher sich ein »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit« manifestiert − der historische Epochenwechsel und der Übergang zu einer neuen politisch-gesellschaftlichen Gestalt, die diesen Fortschritt verkörpern, nur als einer geschichtlichen Notwendigkeit folgend gedeutet und beschrieben werden können. Sobald eine Handlung jedoch eine geschichtliche Berechtigung hat, weil sie einer solchen Notwendigkeit folgt, kann sie nicht zugleich in geschichtlicher Hinsicht als Schuld im Sinne eines »vorwerfbaren Verhaltens«412 charakterisiert werden. Am Beispiel des ›welthistorischen Individuums‹ Sokrates macht Hegel deutlich, daß das Tragische an seinem Tod eben darin zu sehen ist, daß ein historisch bedeutsames Handeln − eine Handlung oder eine Reihe von Handlungen also, die sich dadurch rechtfertigen, daß sie Boten eines sich ankündigenden geistigen Prinzips sind, das sich aus späterer Perspektive betrachtet durchgesetzt hat − nach Maßgabe der geltenden Rechtsordnung beurteilt wird und werden muß, die jedoch notwendig durch das neue Prinzip, den neuen Begriff von Freiheit, in Frage gestellt wird.413 Um Hegels ambivalente Charakterisierung dieser Situation nachvollziehen zu können, sind daher an dieser Stelle die beiden Seiten des Schuldbegriffs zu betonen, oder die Unterscheidung zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff von Schuld. Der engere Begriff von Schuld ist im Sinne der oben genannten subjektiven »Vorwerfbarkeit« einer Handlung (also im Sinne ihrer Imputierbarkeit auch hinsicht412

Karl Siegfried Bader: Ursache und Schuld in der geschichtlichen Wirklichkeit. Kritik geschichtswidrigen Denkens. Karlsruhe 21946. 24. 413 Auf die Spitze getrieben wird dieser Gedanke von Eduard Gans, der im Kontext seiner Überlegungen zur Todesstrafe anmerkt: »Selbst im Hochverrat liegt keine Rechtfertigung für die Todesstrafe« − diese liegt für ihn allein im Mord −, »denn dieser [der Hochverrat] ist nur ein Verbrechen, solange er mißlingt, gelingt er, so ist er geschichtlich.« (Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 118.) Mit anderen Worten: ›Geschichte‹ wird aus der Perspektive des Siegers geschrieben.

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lich des Unrechtsbewußtseins) zu verstehen; diese Vorwerfbarkeit verweist auf bestimmte intellektuelle und psychische Dispositionen des Subjekts (Wissen und Wollen), welche den Menschen wiederum in seiner Geistigkeit auszeichnen. Der engere Begriff von Schuld im Sinne eines »Bleiben[s] in der Besonderheit« bezeichnet eben deshalb »die Schuld des Besonderen«414. Jeder konkrete schuldhafte Akt setzt jedoch die Geistigkeit des Menschen voraus, in welcher die Verfehlung letztlich gründet. Und dies entspräche einem Begriff von Schuld in einem weiteren, und aus Sicht Hegels vor allem positiven Sinne. Der weitere Begriff von Schuld bezeichnet gegenüber dem engeren im Sinne eines schuldhaften Handelns die wesentliche Bestimmung des Menschen, um den Unterschied zwischen Gut und Böse zu wissen, denn erst dieses Wissen macht ihn Hegel zufolge zum Menschen. »Diß ist«, so heißt es in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, »das Siegel der hohen, absoluten Bestimmung des Menschen, daß er wisse, was gut und böse ist, und daß eben sein das Wollen ist, entweder des Guten oder des Bösen, − mit einem Wort, daß er Schuld haben kann, Schuld nicht nur am Bösen, sondern auch am Guten; und Schuld nicht an diesem und auch an Jenem und an Allem, in was er ist und was in ihm ist, sondern Schuld an dem seiner individuellen Freyheit angehörigen Guten und Bösen. Nur das Thier ist wahrhaft durch und durch unschuldig.«415 Wo sich dieses Wissen um den Unterschied von Gut und Böse hinsichtlich dessen, was geschichtlich betrachtet ›an der Zeit ist‹, konkretisiert, und der Mensch in diesem Wissen handelt, müsste man also folgern, trägt das ›welthistorische Individuum‹ auch ›Schuld‹ an der geschichtlichen Entwicklung. Allerdings wäre die nähere Bedeutung einer solchen ›Schuld‹ (in negativem wie positivem Sinne) zu bestimmen, die sich aus dem bewußten Handeln eines Menschen ergibt, der in der Lage ist, Bedeutung und Qualität allgemeiner Zwecke zu antizipieren, um schließlich Zwecke zur Ausführung zu bringen, die dann »ex post als Beitrag zur Universalisierung der Praxis verstanden werden können«416. Schuld in geschichtlicher Hinsicht erschließt sich daher, wie alle Schuld, erst in rückblickender Perspektive. Über ein solch dezidiertes Wissen hinsichtlich der allgemeinen Zusammenhänge verfügt der einzelne Mensch jedoch Hegel zufolge in aller Regel nicht; dennoch treibt sich der geschichtliche Prozeß in und durch die individuellen Handlungen der Menschen voran, die in ihrem Tun auch immer ein Moment der geschichtlichen Dynamik repräsentieren, welche die

414 415 416

Ringier 74. GW 18. 167. Georg Zenkert: Konturen praktischer Rationalität. A. a.O. 136.

306

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einzelne Handlung in Zwecksetzung und Verwirklichung des Zwecks mitbestimmt.417

5.5 Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns« Die Idee des Guten, welche als die zweite Bestimmung innerhalb der ›Idee des Erkennens‹ thematisiert wird, ist in sich selbst das Streben, sich durch sich selbst in der Welt zu realisieren. – Den Leser mag es vielleicht verwundern, daß die Idee des Guten den systematischen Ort ihrer Abhandlung im Rahmen dieser Arbeit erst an dieser Stelle und nicht vielmehr bereits im Rahmen der Überlegungen zur Moraltheorie Hegels findet. Dies erklärt sich daraus, daß dieses Teilstück von Hegels spekulativer Logik, übrigens nach verbreiteter Meinung, in erster Linie die »Idee des Handelns«418 thematisiert − eben weil es darin um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Verwirklichung des Guten geht. So ist dann auch verständlich, warum dieser Abschnitt der Logik eine solche inhaltliche Nähe zum Teleologie-Kapitel aufweist – aber darauf wird an entsprechender Stelle noch zurückzukommen sein.

417

Außerdem ergibt sich im Zusammenhang von ›Schuld in der Geschichte‹ eine ganze Reihe von Problemen, wie etwa die Frage nach der geschichtswissenschaftlichen Legitimtiät oder der politischen Funktion ›historischer Schuldurteile‹. Alle diese Fragen verweisen allerdings deutlich über den Zusammenhang der Hegelschen Philosophie der Geschichte hinaus und sind deswegen an anderer Stelle zu erörtern. 418 So etwa Georg Weißenborn in seinem Buch Logik und Metaphysik für Vorlesungen und zum Selbststudium. (Abt. 1: die Lehre vom Sein. Halle 1850. 361 und 363); Weißenborn macht dadurch deutlich, daß er diesen Abschnitt der Logik in einen ethischen Sinnzusammenhang zu überführen sucht. Ähnliches behauptet auch der Hegel-Interpret G.R.G. Mure, der davon ausgeht, daß von der Idee des Guten Hegels gesamte Ethik abhänge (A Study of Hegel’s Logic. Oxford 1950. 283 ff.). Klaus Düsing schließlich richtet an diesen Abschnitt der Logik (und genaugenommen damit zugleich an die gesamte Konzeption der Hegelschen Logik) die kritische Frage, ob die darin thematisierten Gegenstände tatsächlich in eine spekulative Logik gehören (vgl. Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1976. 194 f. bzw. 304). (Diese und noch einige weitere Hinweise auf bisherige Interpretationen der Idee des Guten bei Hegel stammen von Friedrich Hogemann: Die »Idee des Guten« in Hegels »Wissenschaft der Logik«. – In: Hegel-Studien 29 (1994). 79–102; bes. 80 ff.) Zudem hat Vittorio Hösle diesen Abschnitt über die Idee des Guten recht ausführlich behandelt (ders.: Hegels System. Der Idealismus und das Problem der Intersubjektivität. Band 1: Systementwicklung und Logik. Hamburg 1987. 250–259). Ferner findet sich eine Erläuterung dieses Abschnitts der Hegelschen Logik (allerdings mit dem Fokus auf der »absoluten Idee«) bei Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. A. a.O. 116–123.

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Indem sich für Hegel als das Resultat seiner dialektischen Logik im Übergang vom Begriff nunmehr die Idee im Sinne der Einheit von Begriff und Objektivität ergeben hat, kann sie ihm zufolge nicht mehr, wie bei Kant, bloß als regulative Idee, als das angestrebte Ziel dieser Übereinstimmung zu betrachten sein; sie stellt nicht bloß das Urbild für ein konkretes Ding dar, damit dieses an jenem gemessen werden kann. So verstanden verbliebe die Idee nämlich unweigerlich in einer »Art von Jenseits«419. Für Hegel ist sie jedoch vielmehr dasjenige, wodurch alles Seiende erst wahrhaft ist; sie ist als »Übereinstimmung von Natur und Freiheit« aufzufassen, nicht als Postulat, sondern als »energeia und telos in aller natürlichen und kulturellen Entwicklung.«420 Gerade darin, so könnte man sagen, liegt das platonische Erbe Hegels: daß die Ideen als dasjenige zu begreifen sind, was die eigentliche Realität der Dinge ausmacht und was zugleich ihre eigentliche Bestimmung in sich schließt (obgleich das Reich der Ideen für Platon ein Jenseits darstellt). Hegel geht aber einen Schritt weiter: Der allgemeine Begriff oder die Gattung muß sich zu einem Einzelnen machen, um wirklich zu sein. Der Grad der Wirklichkeit der Dinge ist demnach an ihrer Annäherung an ihren vollständig bestimmten Gattungsbegriff zu messen.421 Nicht wahrhaft seiend oder wirklich im emphatischen Sinne ist folglich diejenige Realität, die ihrem Begriff nicht entspricht, dies ist nichts weiter als »blosse Erscheinung, das Subjective, Zufällige, Willkührliche, das nicht die Wahrheit ist.«422 Alles, was ist, drückt ein bestimmtes Verhältnis von Realität und Begriff aus, denn für Hegel kann es einzig die Idee sein, aufgrund derer alles Wirkliche überhaupt nur ist – woraus sich zugleich ergibt, daß die Idee selbst nicht ein Gewordenes sein kann.423 ›Schuld‹, so kann man ganz allgemein in diesem Zusammenhang formulieren, ist derjenige Zustand des endlichen Individuums, seinem Begriff oder seiner Bestimmung, die ihm in seiner Gattungsmäßigkeit vorgegeben ist, nicht zu entsprechen; Schuld ist in dieser Hinsicht also ein Verfehlen des dem Einzelnen immanenten Allgemeinen. Andererseits ist die 419

GW 12. 174. Ludwig Siep: Hegel über Moralität und Wirklichkeit. A. a.O. 222. 421 Vgl. Ludwig Siep: Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee. – In: Hegels Erbe. Herausgegeben von Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep. Frankfurt a.M. 2004. 351–367; bes. 352. 422 GW 12. 174. 423 Selbst das »geistlose Subject« und »der nur des Endlichen, nicht seines Wesens bewußte Geist, haben zwar, nach ihrer verschiedenen Natur, ihren Begriff nicht in seiner eigenen freyen Form an ihnen existirend«, aber die Einheit ihres Begriffs und ihrer Realität kann nicht gänzlich aufgelöst sein, denn: »Ganze, wie der Staat, die Kirche, wenn die Einheit ihres Begriffs und der Realität aufgelößt ist, hören auf zu existiren; der Mensch, das Lebendige ist todt, wenn Seele und Leibe sich in ihm trennen« (GW 12. 175). 420

308

»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Schuld, wo sie ein reflektiertes Selbstverhältnis des Subjekts impliziert, als die höchste Spitze der Subjektivität der Ausdruck für dieses Bewußtsein des Individuums von sich selbst und seiner Bestimmung, wo es zu der Selbsterkenntnis gelangt, daß es als dieses konkrete Einzelne seiner Bestimmung nicht gerecht wird. Allerdings ist es auch unmöglich, daß es ihr als dieses konkrete Einzelne jemals vollkommen gerecht werden kann. Wenn aber das einzelne menschliche Individuum dieser Idee niemals vollends entsprechen kann, dann wird es unausweichlich an ihr ›schuldig‹. Denn daß die wirklichen Dinge und auch der Mensch mit der Idee »nicht congruiren«, ist auch Hegel bewußt; dies macht eben die Seite ihrer Endlichkeit und Unwahrheit wie ihrer Existenz überhaupt aus.424 Die Schuld und zwar im Sinne des unausweichlichen Schuldigwerdens oder Schuldseins des Menschen, insofern er Mensch ist, liegt demnach in der wesentlichen Differenz des Menschen in seiner Einzelheit gegenüber dem Allgemeinen, ob man es nun als die ihm immanente Gattung oder als die Stufe der innerhalb der sozialen Ordnung verwirklichten Vernunft begreift, die dem fortschreitenden (bisweilen allerdings scheinbar degenerierenden) allgemeinen Wissen des Menschen um seine Bestimmung entspricht (womit wir in der Sphäre der Geschichtsphilosophie wären) und die – Hegels Auffassung gemäß –, wo sie sich zum Staat ausgebildet hat, an sich selbst das verwirklichte Gute darstellt. Es folgt aus diesen Überlegungen außerdem, daß Schuld allein als ein geistiges Phänomen aufzufassen ist, denn sie beruht grundsätzlich auf der Voraussetzung, daß sich der Mensch in seiner Einzelheit zur Allgemeinheit in ihm wie zur Allgemeinheit der sozialen Ordnung in ein Verhältnis zu setzen vermag − und das kann er nur, insofern er Geist ist.425 An dieser Stelle wird also die Frage nach der Schuld innerhalb der Sphäre des ›absoluten Geistes‹ (etwa die Frage nach der religiösen Dimension von Schuld) bewußt ausgeblendet426

424

So wird die »Unangemessenheit der Existenz« − genauer: der Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Gattung als dem Allgemeinen − von Hegel auch als ein natur- wie geistphilosophisches Problem behandelt, ist doch für ihn gerade die Unangemessenheit des natürlichen Seienden »der Keim des Todes, und der wirkliche Tod ist, daß die Angemessenheit zu Stande kommt.« Im Tod des Natürlichen geht schließlich die Allgemeinheit hervor; der Tod ist die »gegensatzlose Identität« (GW 25,1. 193). 425 Vgl. dazu insbesondere den Abschnitt 4.5.2 in der vorliegenden Arbeit. 426 Die spekulative oder religiöse Aufhebung bestimmter, innerhalb des Geistes auftretender Widersprüche, wie sie in der tragischen Handlung zur Entfaltung kommen, kann dagegen nur unzureichend von der künstlerischen Bearbeitung geleistet werden. Der Geist hat sich aber nicht allein mit seinem Verhältnis zum ›Unendlichen‹ und ›Göttlichen‹ auseinanderzusetzen (was er in allen drei Formen des ›absoluten Geistes‹ tut), sondern ebenso mit seinem Verhältnis zur Natur und zur Endlichkeit überhaupt; dieses Verhältnis vermag aus der Sicht Hegels einzig die spekulative Naturphilosophie angemes-

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

309

(wenngleich wir uns systematisch mit diesen Überlegungen freilich in der Philosophie als Wissenschaft und insbesondere in der Logik befinden und damit natürlich in gewisser Weise immer schon im ›absoluten Geist‹).

5.5.1 Das Gute als Postulat Doch wenden wir uns nun wieder der Frage nach der Bedeutung der Idee des Guten in der Logik zu. Wie gesagt, hat die Idee hier zunächst einmal den allgemeinen Sinn des »wahrhaften Seyns«427 im Sinne der genannten Einheit von Begriff und Realität. Aber, wie die Einteilung der Begriffslogik schon deutlich macht, nach welcher das Kapitel über die Idee auf die beiden Abschnitte über die Subjektivität und die Objektivität des Begriffs folgt, hat die Idee hier zugleich den bestimmteren Sinn der Einheit von ›subjektivem Begriff‹ und Objektivität.428 »Die Idee hat sich nun gezeigt, als der wieder von der Unmittelbarkeit, in die er im Objecte versenkt ist, zu seiner Subjectivität befreyte Begriff, welcher sich von seiner Objectivität unterscheidet, die aber eben so sehr von ihm bestimmt und ihre Substantialität nur in jenem Begriffe hat.«429 Wenn Hegel davon spricht, daß die Idee hier als das »Subject-Object« hervortritt, dann bedeutet dies, daß sie sowohl die subjektive, »sich auf sich beziehende negative Einheit« in sich enthält wie die Objektivität, welche »gesetzte Objectivität« oder »Realisation des Zwecks« ist und die ihr Bestehen und ihre Form einzig »als durchdrungen von ihrem Subject hat.«430 Die Idee ist zunächst in der Form der Unmittelbarkeit: als das Leben. Hier durchdringt der Begriff die Objektivität zwar und ist in dieser sich »Selbstzweck« und findet an ihr zugleich sein »Mittel«, aber er ist darin auch noch unterschieden von der Objektivität.431 In der Objektivität des Lebens ist er der »realisirte und mit sich identische Zweck«, der sich gleichwohl noch sen zu leisten. Auch in den Vorlesungen zu seiner Philosophie des subjektiven Geistes (und darin vor allem in den einleitenden Passagen) geht Hegel auf das Verhältnis von Natur und Geist ein. Das »wahrhaft göttliche Schauspiel«, so heißt es dort, besteht darin, »die Substanz des Geistes als Objektives zu wissen und die Welt äusserlich und innerlich zu erkennen, wie diese Bestimmung in ihr ist.« (GW 25,1. 199 f.) Die Philosophie ist im Stande, die »freie Thätigkeit der Natur«, die sich im Idealisierungsprozeß manifestiert, nachzuvollziehen und den Geist auf diese Weise von seinem Anderssein zu befreien und ihn zu versöhnen, »indem sie ihm im Äusseren aufzeigt die Idee des Geistes selbst«. 427 GW 12. 176. 428 Vgl. ebd. 429 Ebd. 430 Ebd. 431 Vgl. ebd. 177.

310

»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

nicht zu begreifen vermag. Weiter untergliedert Hegel, in Anlehnung an die traditionelle Ideentrias432, die Idee des Erkennens zum einen in die theoretische Idee (Idee des Wahren) und zum andern in die praktische Idee (Idee des Guten), um in einem abschließenden Schritt die »absolute Idee« zu entfalten. Hinsichtlich der »Idee des Erkennens« handelt es sich weder um eine materiale Erkenntnistheorie, noch um eine philosophische Psychologie, vielmehr geht es Hegel darum, daß die unterschiedlichen Modelle und Methoden wissenschaftlich-philosophischen Erkennens als Annäherungen an die ›wahre Idee des Erkennens‹ zu verstehen sind.433 Dieser ›wahren Idee des Erkennens‹ oder der hier von Hegel begründeten ›Logik des Erkennens‹ gemäß haben die Kategorien des Erkennens eine doppelte Existenz: in den Gegenständen und im Erkennen selbst. ›Erkennen‹ ist demnach auf beiden Seiten zu verorten, als Erkennendes wie als Erkanntes. Erkennen und Wollen unterscheiden sich jedoch im Bereich des Endlichen noch voneinander und ihre Einheit ist daher nur erst als ein Telos gesetzt: Während beim Wahren, beim theoretischen Erkennen als dem »sich selbst Erfassen des Begriffs«434 die Realität dem Erkennen zugrundeliegt und der subjektive Begriff dieser Realität entsprechen soll, liegt dem Handeln, der praktischen Idee – analog zum Übergang vom theoretischen zum praktischen Geist in Hegels Lehre vom subjektiven Geist −, der subjektive Begriff als das Wesen zugrunde, der danach trachtet, die Wirklichkeit seinem subjektiven Zweck gemäß zu machen und das Gute in ihr zur Existenz zu bringen. Das Erkennen, da es Idee, also die Einheit von Begriff und Objektivität ist, ist bei seinem Gegenstand als bei seinem Anderen zwar bei sich selbst, es überführt den von ihm erkannten Gegenstand in die Form des Begriffs, bleibt aber wesentlich auf die Vorhandenheit dieses Gegenstandes angewiesen. Dieser Erkenntnishaltung entspringen nun sowohl die »dinghafte Auffassung der Objektivität als auch die ›bloße‹ Subjektivität des Erkennenden.«435 Das erkennende Subjekt gelangt im Erkenntnisprozeß nicht zu der Einsicht seiner Identität mit dem Objekt, mag diese an sich auch bereits gegeben sein, so ist sie es hier noch nicht für das erkennende Subjekt selbst. Im Erkennen ist die unmittelbare Selbständigkeit der Welt aufgehoben, sie ist zum reinen Gegenstand des Erkennens geworden.

432 433

Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 249. Vgl. Ludwig Siep: Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee. A. a.O.

354. 434

GW 12. 179. Margery Rösinger: Die Einheit von Ethik und Ontologie bei Hegel. Frankfurt a.M. et al. 1980. 143. 435

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

311

Wie die Idee weder im synthetischen noch im analytischen Erkennen die Wahrheit vollgültig zu erreichen vermag, da in der Sphäre des Theoretischen der subjektive Begriff der objektiven Welt gegenübersteht, so erreicht er sie in der Sphäre des Praktischen letztendlich (losgelöst von der des Theoretischen) ebensowenig, denn hier verfällt der Begriff in das andere Extrem der Einseitigkeit: Sowohl der Prozeß des endlichen Erkennens für sich genommen, noch der des Handelns für sich genommen führt zur »Totalität«, zur »vollkommene[n] Objectivität«436. Mit anderen Worten: Der subjektive Begriff macht sich »die Voraussetzung einer objectiven Welt […]; aber seine Thätigkeit ist, diese Voraussetzung aufzuheben und sie zu einem Gesetzten zu machen.« Nur auf diese Weise kann die Objektivität für ihn zu einer »Idealität« werden, »in der er sich selbst erkennt.«437 Die Idee des Erkennens kann sich also nur dadurch realisieren, daß sie die Idee der praktischen Vernunft in Anspruch nimmt.438 Es ist demnach die Einseitigkeit des theoretischen Erkennens selbst, welche eine Seinsweise fordert, die »in ihrer Bewegtheit ihre Welt allererst entspringen«439 läßt, und zwar so, daß der Welt nicht einmal mehr der Anschein eines Ansichseins bleibt, wie es noch für das subjektive Erkennen konstitutiv ist, denn in der praktischen Idee erhält die Objektivität zunächst einmal erneut die Bestimmung des bloßen Mittels für deren Realisation; beim Übergang zur Idee des Guten ist daher das Resultat des Erkennens zunächst vergessen und die Wirklichkeit steht dem Guten als eine äußerliche, zufällige und begriffsfremde gegenüber.440 Der praktischen Idee des Handelns läßt Hegel eine mannigfache Bezeichnung angedeihen: Sie ist die Idee des Guten, wie sie das Handeln schlechthin oder auch die »Willens-Idee«441 ist. Alle diese Bezeichnungen drücken aus, daß sich das praktische Subjekt in seiner Bestimmtheit als Zweck weiß, dem es seiner Ansicht nach aufgegeben ist, die Wirklichkeit in ihre Bestimmung zu überführen, die aus dieser subjektiven Perspektive darin besteht, die Zwecke des Guten in sich aufzunehmen.442 436 437 438 439 440

GW 12. 178. Ebd. Vgl. Ludwig Siep: Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee. A. a.O. 355. Herbert Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit. A. a.O. 191. Vgl. Ludwig Siep: Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee. A. a.O.

356. 441

GW 12. 231. Ähnlich heißt es in der Enzyklopädie erster Auflage (§ 419): »Die Handlung ist […] die absolute Bestimmung der gegen das freye Subject selbstlosen Objectivität durch seinen Zweck.« Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Unter Mitarbeit von Hans-Christian Lucas und Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Klaus Grotsch. Hamburg 2000. (=GW 13) 442

312

»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Diese praktische Voraussetzung der Unselbständigkeit der Wirklichkeit hat zur Folge, daß der subjektive Zweck nurmehr »Trieb sich zu realisiren«443 ist. Das handelnde Subjekt strebt danach, die Bestimmungen der objektiven Welt aufzuheben und sich in ihr zu realisieren, d. h. sich die Form äußerlicher, unmittelbarer Wirklichkeit zu geben. Die Tätigkeit des Zwecks ist »Trieb«, solange das Wirkliche, das als wirklich gesetzt werden soll, noch subjektiv bestimmt ist: Die Endlichkeit des subjektiven Inhalts in der praktischen Idee bedeutet damit zugleich, daß diese »noch unausgeführte Idee«444 ist. Sie enthält einerseits das Allgemeine in sich, andererseits muß sie notwendig zur Bestimmung fortgehen und sich in einen beschränkten Inhalt legen. In dieser Struktur der Idee des Guten liegt es begründet, daß sie einerseits an und für sich gilt und andererseits nur als bestimmter, endlicher Zweck zu verwirklichen ist.445 Diese Einseitigkeit der praktischen Idee gründet in einer Haltung, welche alle Wahrheit und Wirklichkeit in die Subjektivität des Handelnden verlegt.446 Um noch einmal kurz daran zu erinnern: In der Phänomenologie des Geistes begegnet diese Haltung praktischer Subjektivität, die auf einer als rechtlos aufgefaßten und daher verkannten Wirklichkeit beruht447, in Gestalt der »entzweienden That« (was freilich in der Phänomenologie im weitesten Sinne in einen tragödientheoretischen Kontext eingebettet ist). Die entzweiende Tat ist die gesetzte »Trennung seiner selbst, in sich als das Tätige und in die gegenüberstehende für es negative Wirklichkeit.«448 In diesem entzweienden Tun wird das Selbstbewußtsein zur Schuld. 443

GW 12. 231. Ebd. 232. 445 Vgl. Friedrich Hogemann: Die »Idee des Guten« in Hegels »Wissenschaft der Logik«. A. a.O. 95. 446 Im Zusammenhang der Darstellung von Hegels Moraltheorie ist bereits an dessen Überlegungen hinsichtlich der Lebensalter des menschlichen Individuums erinnert worden. Hier läßt sich nun erneut eine Parallele zu dieser Stelle in seiner Lehre vom subjektiven Geist ziehen. Der ›Jüngling‹ handelt noch in der festen Überzeugung, er müsse seine Ideale in der Welt verwirklichen, diese sei ohne ihn gewissermaßen unvollständig oder verkehrt. Der ›Mann‹ dagegen zeichnet sich Hegel zufolge durch die Einsicht in die Notwendigkeit aus, die Welt zunächst einmal in ihren bestimmten Verhältnissen zu akzeptieren und sie als »im wesentlichen fertige« (Enzyklopädie § 396 Z) anzuerkennen. Im übrigen verweist Hegel in seinen Vorlesungen über »Logik und Metaphysik« in diesem Zusammenhang auf die literarische Gattung des Bildungsromans. »Der Mensch fängt in der Welt an, tätig zu sein. Einsehend, daß er außer sich das Gute nicht so realisiert findet, wie er es in sich trägt, fängt er an, mit ihr in Kämpfe zu treten. Endlich gibt er den Kampf auf und ergibt sich der Welt. Alle Romane stellen dies dar. Der Mensch erkennt am Ende, daß er nicht gegen die äußere Welt, sondern gegen sich selbst zu kämpfen hat. Er versöhnt sich daher mit der Welt.« (Hegel: Vorlesungen, Bd. 11. 190.) 447 Vgl. PhG 306. 448 Ebd. 308. 444

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

313

Die unmittelbare Realisierung der praktischen Idee ist in der Form der äußeren Zweckmäßigkeit gegeben, die von Hegel bereits im Teleologie-Kapitel der Logik behandelt wird. Aber der hier zu realisierende Inhalt ist im Vergleich zum teleologischen Prozeß ein anderer: Er ist nun kein »unbestimmter endlicher Inhalt überhaupt« mehr, sondern zwar endlicher, aber dennoch »absolut geltender«449 Inhalt. Der Zweck des Guten ist das an und für sich Allgemeine, das sich, um realisierbar sein zu können, in die bestimmte Einzelheit legt: Das »Gute ob zwar an und für sich geltend, ist dadurch irgend ein besonderer Zweck, der aber durch die Realisirung nicht erst seine Wahrheit erhalten soll, sondern schon für sich das Wahre ist.«450 Das Gute muß sich, wenn es tatsächlich vollbracht werden soll, besondern; in seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechts sind diesbezüglich deutliche Worte Hegels überliefert. Wie das Gute als die »konkrete Identität der Freiheit für sich und des Wohls«451 zu einer ebenso konkreten, handlungsorientierenden Bestimmung fortschreiten muß, damit man nicht beim »abstrakte[n] Reden«452 über das Gute stehen bleibt, so kann sich auch die »Besonderheit […] nur realisieren in Verbindung mit dem Allgemeinen, es muß in sich selbst objektiv sein. Es bringt sonst das Nichtige hervor.«453 »Nur der Wille«, so heißt es in der Nachschrift Ringier weiter, »indem er das an und für sich Seiende will, ist er das Gute« − und das Gute ist für Hegel nur in der Übereinstimmung des besonderen Wohls mit dem Guten in seiner allgemeinen, substantiellen Bestimmung wahrhaft gut. Die Selbst-Vollbringung der Idee des Guten ist daher von der Seite ihres Inhalts von der bloß äußerlich zwecksetzenden Tätigkeit zu unterscheiden, hatte Hegel doch in seinen Ausführungen über die Teleologie dargelegt, daß die äußerlich verfahrende Zwecktätigkeit immerfort nur zur Herstellung von Mitteln gelangt, nicht aber zu einer Objektivierung von Zwecken, die nicht wiederum einem unendlichen Progreß anheimfallen. Das Haus ist zwar dem Werkzeug gegenüber, mit dessen Hilfe es gebaut wird, der Zweck, es dient jedoch seinerseits wiederum dem Zweck der Beherbergung; indem es diesem Zweck dient, indem es also seine Bestimmung praktisch erfüllt, nutzt es sich ab, reibt sich auf und ist in der existierenden Bestimmung seiner selbst als Zweck nur in dieser Aufreibung.454 Das Gute erleidet dasselbe Schick-

449 450 451 452 453 454

GW 12. 232. Ebd. Ringier 63. Ebd. Ebd. 62. Vgl. GW 12. 232.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

sal wie jeder andere endliche Zweck, insofern es als »ein Endliches fixirt« wird; es muß bloßes Postulat bleiben und kann solange in der Wirklichkeit kein beständiges Sein erlangen, wie die Wirklichkeit selbst nur als »unaufgeschlossenes Reich der Finsterniß« betrachtet wird. Mit anderen Worten: Die Endlichkeit des Willens, der für das Gute tätig ist – der über das »Wissen der an und für sich bestimmten Vernunft, des objektiven Zweckes«455 verfügt –, liegt darin begründet, daß dieser sich »seine eigene Unvollkommenheit als Nichtentsprechung«456 gegenüber einer dem Guten fremden und nach eigenen Gesetzen bestehenden Natur voraussetzt. Dem Guten kommt daher nichts weiter als ein zufälliges und zerstörbares Dasein zu, und zudem ist es der Kollision mit anderen moralischen Zwecksetzungen preisgegeben. D. h. das Gute gerät letztlich in einen Selbstwiderspruch und weiß sich gegenüber dem »Bösen«, das seinen Grund gleichermaßen in der moralischen Selbstbestimmung findet, nicht zu erhalten. Hier stehen noch die »zwey Welten im Gegensatze« und unüberwindlich einander gegenüber. »Die Macht über das endliche Seiende schlägt in die Ohnmacht um, nur Endliches erreichen zu können.«457

5.5.2 Einschub: »Die Tugend und der Weltlauf« Der oben angesprochene Widerspruch zwischen dem »absoluten Zweck« des Guten und einer diesem unüberwindlich gegenüberstehenden Wirklichkeit wird von Hegel in dem Abschnitt: »Die Tugend und der Weltlauf« in der Phänomenologie des Geistes entwickelt, auf den Hegel im Kontext seiner Ausführungen zur Idee des Guten in der Wissenschaft der Logik ausdrücklich verweist. Diesem Verweis soll hier kurz nachgegangen werden, weil der Bezug zu dieser Stelle der Phänomenologie das im Zusammenhang der Logik

455

Hegel: Vorlesungen, Bd. 11. 190. Brigitte Bitsch: Sollensbegriff und Moralitätskritik bei G.W.F. Hegel. Interpretationen zur »Wissenschaft der Logik«, »Phänomenologie« und »Rechtsphilosophie«. Bonn 1977. 145. 457 Margery Rösinger: Die Einheit von Ethik und Ontologie bei Hegel. A. a.O. 145. Es ist die dargestellte Einseitigkeit der praktischen Idee, aufgrund welcher die Endlichkeit auch in der Idee des Guten nicht überwunden werden kann: Das Gute, »das doch in der Geschichte der Metaphysik so lange den höchsten Rang in der Begriffshierarchie eingenommen hat und von Kant im ›guten Willen‹ zwar der Subjektivität zugeordnet, jedoch in seiner Reinheit bewahrt worden ist […], wird hier zum Inhalt eines endlichen Zwecks – und damit zu einem Endlichen und Unbeständigen.« Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 249 (unter Verweis auf eine Stelle im Werk Kants: Akademie-Ausgabe. Bd. IV. 393). 456

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

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erörterte Problem der Verwirklichung des Guten phänomenologisch-historisch anschaulich macht. Die eine der beiden antagonistischen Positionen, um die es in diesem Textstück der Phänomenologie geht, nämlich die ›Tugend‹, die sich im ausdrücklichen Gegensatz zum ›Weltlauf‹ begreift, stellt die dritte Gestalt der mit dem Kapitel »Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst« erreichten praktischen Vernunft dar und ergänzt die Reihe der Verhältniskonstellationen von Individualität und Allgemeinheit. Dem tugendhaften Bewußtsein gilt seine Individualität wie die des allgemeinen Weltlaufs nunmehr als das Aufzuhebende, also unterwirft es seine besonderen Absichten und Triebe einem Handeln im Sinne des vermeintlich Allgemeinen. Die tugendhafte Individualität mit ihren Weltverbesserungsabsichten und der Weltlauf, der seine Fürsprecher in den eher reaktionär oder konservativ gesinnten Individuen findet, treten also in einen Kampf miteinander.458 Und wie das praktische Subjekt in der eben besprochenen Darstellung der Idee des Guten in der Logik, trachtet auch der »Ritter der Tugend«459 keineswegs nach der Verwirklichung des Guten, sondern sinnt einzig auf die »Besiegung der Wirklichkeit des Weltlaufs«. Diese Verwechslung des Zwecks, die dem handelnden Individuum zunächst keineswegs bewußt ist, entspringt der bloß negativen Haltung des praktischen Subjekts der Welt gegenüber, die darauf ausgeht, deren objektive Bestimmungen aufzuheben und statt dieser vielmehr seine eigenen Vorstellungen zu realisieren. Die Tugend verhält sich dem Allgemeinen des Guten gegenüber im »Glauben«460, es hat für sie noch nicht den Status des Wirklichen, sondern ist ihm bloß ein zu Verwirklichendes und damit nichts weiter als »eine Art Jenseits«. Das tugendhafte Selbstbewußtsein geht also von der Voraussetzung aus, daß das Allgemeine seine »wahrhafte Wirklichkeit«461 nur durch das subjektive Tun erlangen kann, und zwar nur durch »das Aufheben der Individualität« des Weltlaufs, die es als Grund seiner »Verkehrung« ansieht. Nur durch die ›Verkehrung der Verkehrung‹, durch Negation der Negation also, glaubt es, das »wahre Wesen« des Weltlaufs aus seinem Ansichsein in die Wirklichkeit übersetzen zu können; da dieses sich aber noch nicht verwirklicht hat, kann es auch vom tugendhaften Selbstbewußtsein zunächst nur ›geglaubt‹ werden. In dieser Täuschung treten der subjektiv-tugendhafte

458

Vgl. dazu auch: Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a.O.

156 ff. 459 460 461

PhG 254 f. Ebd. 254. Ebd. 253.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Zweck und das innere Wesen der sozialen Welt auseinander, und der gute Zweck, der realisiert werden soll, scheitert an dieser Wirklichkeit, von der er sich entzweit hat, aufgrund seiner eigenen Voraussetzungen. Die Tugend will das Gute erst ausführen und kann es daher selbst noch nicht als allgemeine Wirklichkeit erkennen. Das Gute wird daher auch nicht als »an und für sich selbst«462 Seiendes begriffen, denn sonst hätte es sich nicht im Kampf mit seinem Gegenteil erst als wirklich zu bewähren – es ist hier nichts weiter als eine Abstraktion. Der tugendhaften Vorstellung gilt es zwar als ein Allgemeines, ein Allgemeines jedoch, welches zu seiner Belebung und Verwirklichung gerade des Prinzips der Individualität bedarf, das jedoch vom tugendhaften Bewußtsein als der Grund der ›Verkehrung‹ des Weltlaufs ausgemacht worden ist; diese Individualität gilt es damit aus seiner Sicht zugleich im Tun für die vermeintlich allgemeine Sache des Guten aufzuopfern.463 In dieser Konstellation treibt sich der Widerspruch, den Hegel in der Logik erwähnt, in der Tat auf die Spitze: Das Gute oder das Allgemeine in der Vorstellung des tugendhaft Handelnden mag diesem als ein probates Mittel zur Verbesserung der allgemeinen politischen Lage oder der sittlichen Verhältnisse erscheinen, zugleich jedoch scheut er nicht davor zurück, es für seine bloß partikulären Zwecke zu »mißbrauchen«, da er nicht begreift, daß das Gute immer als existierendes gedacht werden muß und daß es in der vernünftigen sozialen Ordnung, an der er selbst mit seinen Zwecken teilhat, längst verwirklicht ist. An diesem Punkt jedoch verkehrt sich die gute Absicht in die böse Handlung: In der Hand des »tugendhaften Ritters« wird das Gute zu einem »passiven Werkzeug«, mit dessen Hilfe jedwede, gute oder schlechte, Veränderung an den bestehenden Verhältnissen hervorgebracht werden kann. Es entsteht so wiederum – wie es bereits die Folge des Versuchs war, das »Gesetz des Herzens« in allgemeine Strukturen zu überführen – ein Chaos guter Absichten, welches den Selbstwiderspruch des bloß subjektiv gefaßten Guten deutlich werden läßt; das Gute als bloßes Sollen verstanden, ist nichts als eine »leblose, eigner Selbstständigkeit entbehrende Materie, die so oder auch anders, und selbst zu ihrem Verderben geformt werden kann«464. Die ›Weltanschauung‹ der tugendhaften Weltverbesserung ist damit in sich selbst nicht nur nichts ›Reales‹, sondern unter Umständen geradezu ein Übel; sie übt sich lediglich im »Erschaffen von Unterschieden, welche keine sind«465. Dem Weltlauf und seinen (konservativen) Verteidi-

462 463 464 465

Ebd. 254. Vgl. ebd. 253. Ebd. 254. Ebd. 257.

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

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gern ist es dann ein Leichtes, »über diese pomphaften Reden vom Besten der Menschheit, und der Unterdrückung derselben, von der Aufopferung fürs Gute, und dem Mißbrauche der Gaben« zu siegen, sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu entlarven. Der Gegenpart zum moralischen oder tugendhaften Individuum − die »Individualität des Weltlaufs« oder dasjenige, was aus der Sicht des tugendhaften Bewußtseins den Weltlauf ›verkehrt‹ − ist von solchen Zwängen zunächst einmal frei und erklärt im Gegensatz zum tugendhaften Bewußtsein die moralfreie und eigennützige Individualität zum Prinzip allen Handelns. Aus der Perspektive der Tugendmoral ist daher auch der Weltlauf nichts anderes als das verhängnisvolle und abzulehnende Spiel bewußt eigennützig agierender Individuen. Wir werden sehen müssen, wie dieser Widerstreit der Ansichten aufzulösen ist. Kontrastiert wird diese Gestalt praktischer Vernunft oder des tugendhaften Bewußtseins mit der antiken Sittlichkeit und Tugend, für welche die Orientierung im Handeln an die herrschende Sitte und die überlieferten (sakralen) Gesetze des Volkes gebunden war und die »ein wirkliches schon existierendes Gutes zu ihrem Zwecke« hatte, weswegen sie auch nicht gegen »die Wirklichkeit als eine allgemeine Verkehrtheit und gegen den Weltlauf gerichtet«466 sein konnte. Die moderne Erscheinung der Tugend ist demgegenüber aus der Sicht Hegels in sich »wesenlos« und entpuppt sich bloß als die »mit dem Weltlaufe kämpfende Rednerei«467, in welcher sich letztendlich nur die »Unvermögenheit« äußert, ihre Inhalte klar und allgemeinverbindlich auszudrücken. Die sittliche Erfahrung, die sich mit dem Ausgang dieses Kampfes zwischen dem abstrakten tugendhaften Bewußtsein und dem positiv auf den Weltlauf bezogenen ergibt und in dessen Verlauf jenes vom Weltlauf besiegt oder widerlegt wird, besteht indes darin, daß das tugendhafte Bewußtsein letztlich gezwungen ist, die Vorstellung aufzugeben, daß es allein von ihm abhängt, das Gute in der Welt zu verwirklichen. Es läßt die Vorstellung, »von einem an sich Guten, das noch keine Wirklichkeit hätte, als einen leeren Mantel fahren« und stellt darüber hinaus fest, »daß der Weltlauf so übel nicht ist, als er aussah; denn seine Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Allgemeinen.«468 (Was allerdings nicht der Sichtweise der Befürworter des ›Weltlaufs‹ entspricht.) Fürsich- und Ansichsein schienen voneinander getrennte Wirklichkeiten zu sein; nunmehr erweisen sich beide, das Fürsichsein der tugendhaften Individualität und das Ansichsein des Allgemeinen, als in »ungetrennter 466 467 468

Ebd. Ebd. 258. Ebd.

318

»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

Einheit«. Zu dieser Erfahrung gelangt das tugendhafte Bewußtsein auf dem Wege der Abstraktion von seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen, da es versucht, seine abstrakten Vorstellungen vom Guten in der Welt zu realisieren. (Man denkt hier unweigerlich an Hegels Darstellung des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft und der aus diesem Kampf hervorgehenden wechselseitigen ›Anerkennung‹.) Das tugendhafte Bewußtsein gelangt schließlich zu der Erkenntnis, daß sich das an sich Gute und Notwendige des Geschichtsverlaufs nicht von den individuellen Taten trennen läßt. Ebenso jedoch wie das »Ansich der Tugend« erweist sich das »Fürsichsein des Weltlaufs« nur als eine »Ansicht«, die um nichts mehr gerechtfertigt ist als die der Tugend. Es ist also zugleich die Ansicht obsolet geworden, der Weltlauf gründe im bewußt eigennützigen Handeln der Individuen, denn diese Ansicht verkennt, daß das einzelne Tun in Wahrheit stets zugleich allgemeines Tun ist. – Nebenbei bemerkt läßt sich auch dies im Sinne eines ideologiekritischen Ansatzes bei Hegel verstehen. Indem der zunächst bloß subjektive Zweck sich als an sich seiende Wirklichkeit erwiesen hat, haben sich beide Ansichten – das Prinzip des Eigennutzes wie das Prinzip der Aufopferung der Individualität − gleichermaßen als unhaltbar und unmöglich erwiesen. Denn das Tun (in der Terminologie der Grundlinien: die Handlung) kann gar nicht anders als an sich selbst allgemein zu sein; es basiert auf gedachten und daher allgemeinen Zwecken, die stets auf objektive Verhältnisse verweisen und mit denen sich der Handelnde bewußt oder unbewußt zum gesellschaftlichen Allgemeinen verhält, wenngleich oder: indem er im selben Moment seine besonderen Zieleverfolgt. Welche Konsequenzen lassen sich nun aber aus dieser Darstellung Hegels vom Kampf zwischen Tugend und Weltlauf mit Blick auf eine politische Praxis ableiten? – Vielleicht die Einsicht, daß die sich gesellschaftlich manifestierenden geschichtlichen Tendenzen letzten Endes gar nicht bekämpft werden dürfen, weil sich das Gute, also dasjenige, wofür gekämpft wird, ohnehin verwirklicht? – Das liefe auf die Affirmation des Bestehenden hinaus und kann von daher auch aus der Sicht Hegels nicht die ›Moral von der Geschicht‹ sein. Im Grunde geht es hier um ein zentrales Problem, das politische oder ideologische Positionen grundsätzlich haben, wenn sie auf die Veränderung oder gar die Revolution ökonomisch-gesellschaftlicher Verhältnisse abzielen: Einerseits muß es aus ihrer Perspektive das erklärte Ziel sein, durch revolutionäre Aktivitäten oder evolutionäre (längerfristige) Entwicklungen den erhofften Fortschritt voranzubringen, andererseits hat der Erfolg gerade solcher revolutionärer Bestrebungen immer die Voraussetzung, daß sich die objektiven ›Widersprüche‹ innerhalb der Gesellschaft auch aus sich selbst heraus zur vollen Entfaltung bringen, wodurch veränderte gesellschaftliche

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

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Verhältnisse notwendig werden und tatsächlich ›an der Zeit‹ sind (wodurch sie sich aus der Sicht Hegels wiederum als berechtigt erweisen).469 Nun muß man grundsätzlich dies bedenken: Der Gesellschaftskritiker, der von einer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeht, deren immanente Widersprüche aufdeckt und daraus politische Alternativen entwickelt (oder einer bestimmten Vorstellung vom Guten folgt, das in dieser bestimmten Situation zu tun ist und das sich mit einer gewissen Notwendigkeit aus der kritischen Analyse und aus dem konkreten Handlungsspielraum ergibt), folgt nicht im eigentlichen Sinn nur seinen subjektiven Idealen oder einer abstrakten Tugend. Und er ist auch nicht mit jenem ›tugendhaften Bewußtsein‹ zu verwechseln, welches einen aussichtslosen Kampf mit dem aus seiner Sicht ›verkehrten Weltlauf‹ und einzig vor dem Hintergrund abstrakter Vorstellungen vom Guten aufnimmt. Letztlich erfordert die Hegelsche Vorgabe aber die Entwicklung eines umfassenden Konzepts von gesellschaftlicher Praxis im Sinne einer dialektischen Verbindung von theoretischem Erkennen, Ethik und Handlungslehre, welche ihrerseits den komplexen Voraussetzungen zweckmäßiger und längerfristiger politisch-ökonomischtechnologischer Entscheidungen gerecht zu werden vermag. Um über die im hier diskutierten Abschnitt der Phänomenologie vorherrschende bloß abstrakte Vorstellung vom Guten hinauszugelangen, sind sowohl eine ethische Orientierung des Handelns als auch ein Begriff von (Gesellschafts-)Kritik

469

Auf diesen Zusammenhang hat Ludwig Siep hingewiesen (Der Weg der Phänomenologie des Geistes. A. a.O. 158). In ähnlicher Weise richtet auch Vittorio Hösle an Hegels Konzeption des Guten die kritische Frage, ob mit der Überwindung der Idee des Guten durch die absolute Idee »Hegels Philosophie nicht notwendig auf eine Apotheose des Quietismus hinauslaufe«, denn wenn das Gute an und für sich bereits erreicht sei, erübrige sich dann nicht jede subjektive Tätigkeit, die das Ziel der Verwirklichung des Guten verfolgt? In gewisser Hinsicht widerlegt Hösle selbst jedoch diesen hier formulierten Einwand, indem er unter Bezug auf § 235 der Enzyklopädie (1830) daran erinnert, daß das Absolute selbst nicht als starres Absolutes begriffen werden dürfe, sondern daß es selbst »die Spannung zwischen Sein und Sollen« darstelle, genauer: »eine sich ständig neu aufhebende und generierende Spannung, die selbst so ist, wie sie sein soll, in der also Sein und Sollen koinzidieren.« (Vgl. Vittorio Hösle: Hegels System. A. a.O. 254 f.; Hervorhebungen getilgt, BC.) Es wäre noch zu ergänzen, daß sich die absolute Idee allein in der wechselseitigen Durchdringung von theoretischem Erkennen und praktischem Wollen, also durch bestimmte, weltverändernde Tätigkeit und theoretische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, begreifen kann. Es handelt sich bei der Überwindung nur abstrakter Vorstellungen vom Guten und der damit einhergehenden Entgegensetzung von subjektivem Zweck und objektiver Wirklichkeit durch die Einsicht, daß die Welt an und für sich selbst das Gute als realisiert in sich enthält und an sich selbst ›vernünftig‹ ist, um einen – auch individualgeschichtlich nachvollziehbaren – Bildungsprozeß, der das Handeln und die damit für den Handelnden verbundenen Erfahrungen nicht überspringen kann.

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

gefordert, die sich am Begriff orientieren, von dem Hegel zufolge das ›Sollen‹ ausgeht.470 5.5.3 Der »Schluß des Handelns« als Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung des Guten Damit das Gute tatsächlich realisiert werden kann, muß der subjektive Geist vermittels seiner Tätigkeit die Voraussetzung einer ihm fremden objektiven Welt überwinden und aufheben. Vor unserem Exkurs in die Phänomenologie waren wir dabei stehen geblieben, daß das, was der praktischen Idee bislang noch mangelt, nichts anderes ist als das Bewußtsein, daß »das Moment der Wirklichkeit im Begriffe, für sich die Bestimmung des äusserlichen Seyns erreicht hätte.«471 Bislang, so sollte deutlich geworden sein, steht sich der Wille hinsichtlich der Erreichung seines Ziels, das Gute in der Welt zu verwirklichen, noch selbst im Wege, indem er die äußere Wirklichkeit gegenüber seiner inneren als nichtig ansieht: die »Idee des Guten kann daher ihre Ergänzung allein in der Idee des Wahren finden.«472 Die falsche Voraussetzung oder der Schein der Nichtigkeit der Wirklichkeit kann also nur dadurch abgestreift werden, daß die praktische Idee den »Uebergang durch sich selbst« macht; um diesen Übergang zu erläutern, bedient Hegel sich der Figur des Schlusses der Handlung.473 Die im vorliegenden Abschnitt der Logik entfaltete Vermittlungsstruktur des praktischen Handelns, hinsichtlich derer Hegel von einem »Schluß des Handelns« spricht, besteht zunächst einmal aus zwei Prämissen: Die erste Prämisse dieses Schlusses ist die unmittelbare Weise des Übersetzens des subjektiven Zwecks in die Objektivität; sie ist »unmittelbare Objectivität des Begriffes, wornach der Zweck ohne allen Widerstand sich der Wirklichkeit mittheilt, und in einfacher, identischer Beziehung mit ihr ist.«474 Der Begriff ist damit zunächst noch in die Äußerlichkeit »versenkt«; er muß jedoch zu einem Wissen seiner selbst in der Äußerlichkeit gelangen und sich daher aus dieser Unmittelbarkeit durch tätige Vermittlung lösen; erst dadurch wird die unmittelbare Ausführung des Zwecks zur »Wirklichkeit des Guten als des für sich-seyenden Begriffes […], indem er darin identisch mit sich selbst, nicht mit einem Andern, hiemit allein als freyer gesetzt wird.«475 Die zweite 470 471 472 473 474 475

Vgl. dazu den Abschnitt 4.4 dieser Arbeit. GW 12. 233. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. 234. Ebd.

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

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Prämisse des Handelns ist gleichsam das Resultat einer weiteren Diremtion des Begriffs, der sich sich selbst gegenüber negativ verhält; denn nunmehr ist das Gute für den subjektiven Begriff das Objektive und zugleich erscheint die Wirklichkeit als dem Guten entgegengesetzt. Die Wirklichkeit ist nur das abstrakte, bestimmungslose Sein; »sie ist entweder das Böse oder Gleichgültige, nur Bestimmbare, welches seinen Werth nicht in sich selbst hat.«476 Die Ausführung des Guten gegen eine gegenüberstehende andere Wirklichkeit ist damit eine »Vermittlung, welche wesentlich für die unmittelbare Beziehung und das Verwirklichtseyn des Guten«477 ist. Diese Vermittlung ist allerdings noch nicht das ausgeführte und in der Welt verwirklichte Gute; die hier noch vorherrschende Defizienz bezeichnet Hegel als einen »Rückfall, welcher zum Progreß in die schlechte Unendlichkeit wird«478. D. h.: die Bemühungen um die Verwirklichung guter Zwekke gelangen zu nichts anderem als zur Hervorbringung von ›Mitteln‹, und in der Repräsentation der subjektiven Ansicht des objektiven Begriffs kann das Gute seine Endlichkeit in Form und Inhalt nicht abstreifen. (Dies ist die Ausgangssituation in dem eben besprochenen Abschnitt der Phänomenologie.) Die tatsächliche Verwirklichung des Guten gelangt auf diese Weise nicht über einzelne gutmeinende Akte hinaus. − Erst wenn beide Prämissen zusammengeschlossen werden, ergibt sich die Totalität des praktischen Handelns als einer Einheit von beidem: Die Hervorbringung des Guten oder die Realisierung der Idee des Guten als der Gleichheit von Begriff und Objektivität muß sich die Voraussetzung der theoretischen Erkenntnishaltung als der Gewißheit der Existenz der Idee im Sinne der Entsprechung von Begriff und Realität vindizieren.479 Dem unmittelbaren Weltbezug der ersten Prämisse muß die Vermittlung in der Ausführung des Guten hinzutreten; nur so können sich Theorie und Praxis schließlich wechselseitig durchdringen. »Gelingendes Erkennen ist […] auf die subjektive Durchdringung des Realen angewiesen, welches Tun erst das An- und Fürsichsein des Objektiven zum Vor-

476

Ebd. Ebd. 478 Ebd. 479 Rainer Schäfer wendet mit Bezug auf diese Stelle der Hegelschen Ausführungen ein, daß es letztlich offen bleibe, wie die praktische Idee um die Vorstellung vom »wahrhaften Seyn« bereichert werden könne, wenn sie diese Anleihe bei der theoretischen Idee machen müsse, als deren einseitige und damit unhaltbare Voraussetzung sich die Auffassung der Transzendenz der objektiven Welt ergeben hatte, die ja gerade durch die praktische Idee überwunden werden sollte. (Vgl. Rainer Schäfer: Hegels Ideenlehre und die dialektische Methode. – In: G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Herausgegeben von Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick. Berlin 2002. 243–264; hier 255.) 477

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»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

schein bringt.«480 Und gelingendes Handeln ist auf vernünftige Strukturen verwiesen, in denen die Endlichkeit subjektiver Zwecke per se aufgehoben ist; auf Strukturen, die von sich aus der Vernünftigkeit subjektiver Zwecke entsprechen und diese allererst hervorbringt. In diesem Zusammenschluß von theoretischer und praktischer Idee ist für Hegel der bloße Sollens-Charakter des Guten überwunden und der ausgeführte Zweck des Guten mit seiner Voraussetzung, die es am Sein selbst hat, vermittelt. Hervorgegangen ist in diesem Schluß die absolute Idee als »das wissende Handeln bezw. das handelnde Wissen«481. Der Fortgang zur absoluten Idee fügt der Idee demnach nicht eine neue ontologische Qualität hinzu, sondern liegt in der Erkenntnis begründet, daß das Gute als Sollen und Streben »im Sein des Seienden selbst angelegt« ist, und das Sein selbst in seiner Bewegtheit »nichts anderes ist als die immer wieder geschehende und sich immer wieder ur-teilende Erfüllung dessen was es sein soll«.482 Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf die analoge Entwicklung im Übergang von bloß äußerlicher zu innerer Zweckmäßigkeit, die Hegel im Rahmen seiner Teleologie-Konzeption vorstellt. Soll die äußerliche Objektivität der Teleologie mit der Subjektivität vermittelt werden, so muß − der Lesart des Hegel-Schülers Carl Ludwig Michelet zufolge − der »letzte Zweck in allen vorhergehenden Zwecken, als Mittelursachen, nur die Momente seiner selbst« wiedererkennen und die Verwirklichung der »Endursache« als das Resultat eigener Tätigkeit begreifen.483 Damit ist jeder Gegensatz von Zweck, Mittel und Objekt und ebenso die Endlichkeit des Zwecks hinsichtlich seines Inhalts aufgehoben und die Subjektivität des Zwecks nunmehr objektiv, wie die Objektivität des Mittels und des Objekts subjektiv geworden ist. Aufgrund dieser wechselseitigen Durchdringung von Objektivität und Subjektivität hat sich aber ebenso die Form des Zwecks ihrer Äußerlichkeit entledigt. Der Übergang von äußerer zu innerer Zweckmäßigkeit, zum im vollen Sinne ausgeführten Zweck, vollzieht sich in der Erkenntnis, daß »die Objecte schon an und für sich selbst die Totalität des Begriffs sind«484. Entsprechend läßt sich auch das Gute nur als ausgeführter Zweck begreifen, wenn der in die Objektivität getretene Begriff seine begrenzte »eigene Ansicht von sich«485

480

Margery Rösinger: Die Einheit von Ethik und Ontologie bei Hegel. A. a.O. 145 f. Herbert Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit. A. a.O. 193. 482 Ebd. 483 Carl Ludwig Michelet: Das System der Philosophie als exacter Wissenschaft enthaltend Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie. Erster Band. Berlin 1876. 256. 484 Ebd. 257. 485 GW 12. 235. 481

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

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aufgibt und darauf reflektiert, wie das von ihm Verwirklichte in Wahrheit ist. Er muß sich also nicht mehr, wie im Tun, gegen eine äußere Wirklichkeit richten, sondern gegen sich selbst. Das Gute erweist sich in dieser Reflexion auf den ausgeführten Zweck im eigentlichen Sinne als die »innere Teleologie, die einen der Welt immanenten Zweck in ihr auszuführen hat.«486 Indem durch die zweckgerichtete Tätig-

486

Carl Ludwig Michelet: Das System der Philosophie als exacter Wissenschaft. A. a.O. 285. Michelet argumentiert gegen die von Rosenkranz vorgeschlagene Lesart, daß das Gute nicht, wie Rosenkranz behauptet, in erster Linie als ein moralischer Begriff aufzufassen sei, sondern vielmehr im Sinne einer »allgemeine[n] metaphysische[n] Kategorie, wonach die dem Begriffe entsprechende Objectivität selbst nur als eine vereinzelte Objectivität dasteht, während in einem andern Objecte dieses Sollen noch nicht realisirt ist.« Als solches sei das Gute ein »problematisches Urtheil«. Aufgrund des von Michelet konstatierten Mangels, mit dem das Absolute hier noch behaftet ist, nur erst in einem einzelnen Objekt realisiert zu sein, stehe dem vereinzelt realisierten Guten das noch nicht realisierte Gute gegenüber. (Michelet führt daher in diesem Zusammenhang in Entsprechung zur Idee des Guten die Kategorie des Übels ein.) Da das Gute, um sich zu realisieren, eines zweckmäßigen Mittels bedarf, muß sich auch in diesem das Gute bereits realisiert haben, denn damit das Mittel seinem Zweck dienen kann, muß es diesem in gewisser Weise schon entsprechen, zugleich aber muß das Mittel dem zu realisierenden Guten als seinem Zweck noch »widerstreben« (ebd. 287). Der Widerspruch des unendlichen Progresses, in den das Gute verfällt, wenn es sich zu verwirklichen trachtet, fordert zu seiner Lösung heraus. Diese liegt Michelet zufolge in der Erkenntnis, daß sich in jeder Realisation des Guten auch das Gute überhaupt realisiert hat (vgl. ebd. 288). Ein Aspekt, mit dem Michelet über Hegels Logik hinausgeht, ist der Versuch – ausgehend von der in der ›absoluten Idee‹ gesetzten Einheit von Theorie und Praxis und unter Vorgriff auf Hegels Ästhetik –, das Schöne (neben dem Wahren und dem Guten) als eine eigenständige logische Kategorie einzuführen. Das Schöne ist demnach das in einem Gegenstand zur Erscheinung kommende »vollständig realisirte Ideal« (ebd. 290). Das Schöne, so fährt Michelet fort, ist zwar schon das Absolute, aber nur erst »das in die Objectivität s che ine nde Absolute; denn vom Scheinen kommt offenbar das Schöne her. Darin liegt die Schranke auch noch in der Idee des Schönen. Aber es ist unstatthaft, die Eine bestimmte Idee, die Wahrheit, wie Rosenkranz, oder auch zwei, das Wahre und das Gute, wie Hegel thut, in die Logik aufzunehmen, und das Dritte, das von jeher mit den beiden Ersten zusammengestellt worden ist, das Schöne, wegzulassen.« (Ebd. 291) Das Schöne – eine weitere Distanznahme Michelets gegenüber Hegel –, als ein »metaphysischer Begriff« (ebd. 292), findet ihm zufolge seine Anwendung auf das natürliche wie geistige Sein, denn »der Naturschönheit kommt diese metaphysische Kategorie in ebenso eigentlichem Sinne, wie dem Kunstschönen zu«. Dem Schönen liege stets der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit zugrunde, das Zweckwidrige wird von Michelet als das Hässliche bezeichnet (vgl. ebd. 292 ff.). Da nun der Objektivität die Idee der Wahrheit immer schon immanent ist, »so wird kein Object absolut unschön, in keinem die innere Zweckmässigkeit gänzlich verwischt sein, eben weil keines seinem Begriffe absolut nicht entspricht«. (Ebd. 292) Zudem hält Michelet, wohl wiederum gegen Rosenkranz gewandt, in diesem Zusammenhang daran fest, daß das Hässliche keineswegs schlicht mit dem Bösen identifiziert werden dürfe (vgl. ebd.). 487 GW 12. 235.

324

»Der Stein aus der Hand ist des Teufels.« – Hegels Lehre von der Handlung

keit die äußere Wirklichkeit verändert und ihr bestimmungsloses Sein damit zugleich aufgehoben wird, wird sie als »an und für sich seyend«487 gesetzt. Im Handeln erweist sich also die Einheit von Subjektivität und Objektivität, und es generiert die Einsicht, daß die Objektivität an sich selbst bereits das verwirklichte Gute enthält, was sich wiederum als die eigentliche Voraussetzung der Realisierung des Guten in der Welt erweist.488 Mit anderen Worten: Der Wille kann nur deshalb das Gute realisieren, weil die Welt für sich selbst ein begriffliches Bestehen hat; hätte sie dies nicht, könnte auch der Wille an ihr weder Mittel noch Objekt für seine zweckgerichtete, vernünftige Tätigkeit finden. Im Resultat dieser subjektiv-objektiven Tätigkeit als dem realisierten Guten hat sich damit ein Zweifaches ergeben: Wie die Objektivität nunmehr »wahrhaftseyende Objectivität« ist, so ist auch die »Einzelnheit des Subjects« verschwunden; wie die objektive Welt nunmehr in ihrem begrifflichen Bestimmtsein offenbar wurde, so erfaßt sich das Subjekt als »freye, allgemeine Identität mit sich selbst«489. Diese logische Entwicklung hin zur ›absoluten Idee‹ als der Einheit von Theorie und Praxis weist überdies eine Parallele nicht nur zum bereits angezeigten Übergang von äußerer zu innerer Teleologie auf, sondern außerdem zum Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit innerhalb der Hegelschen Rechtsphilosophie: Zeitlich am nächsten steht der »Lehre vom Begriff« die Konzeption der enzyklopädischen Rechtsphilosophie von 1817. Sinnfällig ist, daß auch dort das Handeln als ein Schluß gedeutet wird, der in der »absolute[n] Bestimmung der gegen das freye Subject selbstlosen Objectivität durch seinen Zweck«490 gründet. (Dies entspricht der oben genannten zweiten Prämisse des Schlusses der Handlung in der Begriffslogik.) Der moralische Standpunkt, so heißt es in der Enzyklopädie (1817), stellt das »Reflexions-Urtheil der Freyheit, oder das Verhältniß« dar, in dem die Subjektivität die Mitte zwischen den Extremen des »allgemeinen vernünftigen Willen[s], und einer äusserlichen selbstständigen Welt«491 bildet. Aber auch in der späteren Entfaltung des ›objektiven Geistes‹ in den Grundlinien verbleibt der moralische Standpunkt mit samt seinen Bestimmungen in der Sphäre des Verhältnisses und des Sollens. Hier wie dort kann der Übergang, die Überwindung des bloß subjektiven Zwecks – im Rahmen der Rechtsphilosophie: der Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit und im Rahmen der Logik:

488

Vgl. Brigitte Bitsch: Sollensbegriff und Moralitätskritik bei G.W.F. Hegel. A. a.O.

149. 489 490 491

GW 12. 235. GW 13. 229 (§ 419; Hervorhebungen getilgt, BC). Ebd. (§ 417)

Die Idee des Guten und der »Schluß des Handelns«

325

der Übergang von der Idee in ihrer Endlichkeit zur absoluten Idee – nur durch die systematische Reflexion auf das Handeln hinreichend begründet werden. Erst die Erkenntnis dessen »macht den Übergang aus, daß weder das Gute noch das Subjektive das Wahre ist, sondern das Allgemeine in der Identität mit der Subjektivität«492. Die moralische Weltordnung hingegen ist für Hegel nichts als »das Gute, was sein soll; es beharrt als ein Jenseits.«493 Das ›Sittliche‹, das nunmehr hervortritt, ist »das Gute, das sich in die Subjektivität integriert. […] Das Sittliche ist also ebensowohl das Ansichsein – objektiv – als [auch] Fürsichsein oder subjektiv. Es wird von dem Subjektiven gewußt als das Objektive, aber es ist das sein Eigenes, worin es lebt«494. Wir verlassen an dieser Stelle den im engeren Sinne handlungstheoretischen Zusammenhang, um uns im Folgenden zunächst mit Hegels Konzeption der Strafe zu befassen, die – auch wenn die Reihenfolge in den Grundlinien dies zunächst einmal nicht vermuten läßt – ganz wesentlich auf Hegels Begriff der Handlung basiert.

492 493 494

Ringier 84. Ebd. Ebd. 85.

6. Strafe und Gnade

Die im Kontext von ›Schuld‹ und ›Handlung‹ geforderte Darstellung von Hegels Theorie der Strafe kann unter dem philosophiehistorischen Gesichtspunkt allein nicht zufriedenstellen; zudem läßt sich − nach dem bisweilen geforderten, aber nicht so recht vollzogenen »Abschied von Kant und Hegel« − inzwischen der Trend beobachten, daß vergeltungstheoretische Begründungsversuche von Strafe, die sich am Prinzip der ›Gerechtigkeit‹ orientieren, im Strafrechtsdiskurs und in der rechtsphilosophischen Diskussion wieder vermehrt aufgegriffen werden.1 Zu den – zumindest aus heutiger Sicht − 1

Vgl. Kurt Seelmann: Wechselseitige Anerkennung und Unrecht. Strafe als Postulat der Gerechtigkeit? – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. A. a.O. 63–79; hier 63. Seelmann spricht in diesem Zusammenhang von einer strafrechtlichen »Neo-Klassik«, deren Wurzeln in »mancherlei Enttäuschungen mit ausschließlich folgenorientierten Strafrechtsbegründungen« zu suchen seien. Die Gründe für die aktuellen Auseinandersetzungen mit Vergeltungsstraftheorien sind wohl zahlreich, und nicht selten mögen sich hinter solchen Versuchen der Wiederaufnahme vergeltungstheoretischer Begründungen auch ausgesprochen konservative Programme verbergen. Ohne diesen jüngsten Trend bestätigen oder widerlegen zu wollen, sei hier nur in aller Kürze an jene Diskussion um die Strafrechtsreform in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erinnert, in der es unter anderem um die Frage ging, inwiefern von Kant und Hegel als den beiden klassischen Vertretern einer strafrechtlichen Vergeltungstheorie Abschied zu nehmen sei. (Verschiedene progressive Beiträge im Rahmen dieser Debatte sind in dem Band Programm für ein neues Strafgesetzbuch. Der Alternativ-Entwurf der Strafrechtler. Herausgegeben von Jürgen Baumann. Frankfurt a.M. 1968 versammelt.) Das geltende deutsche StGb geht in seinem Kern auf den Text von 1871 zurück; bis in die 60er Jahre hinein hat es mehr als 70 Änderungsgesetze gegeben, durch die es in Teilen grundlegend verändert wurde. Die Novellengesetzgebung erschien als ein Ersatz für die bis dato nicht vollzogene Gesamtreform des Strafrechts. 1953 wurde ein Regierungsentwurf vorgelegt, der 1962 in einer überarbeiteten Fassung diskutiert und von Seiten einiger Strafrechtler als ein Vorstoß in konservativer Richtung gedeutet wurde, die daraufhin einen Alternativentwurf vorlegten. Dieser Streit um die Gestalt des StGb, der im Grunde bereits 1882, mit dem »Marburger Programm« des Strafrechtlers Franz von Liszt als einem Gegner des Vergeltungsstrafrechts seinen Anfang nahm, drehte sich auch in den 60er Jahren im Kern um die Forderung, vom Vergeltungsgedanken abzurücken und sich stattdessen den Möglichkeiten der Resozialisierung von Straftätern, ihrer Erziehung und Besserung sowie der Prävention zu öffnen. Unter den in dem genannten Band vertretenen Autoren ist auch Ulrich Klug mit seinem programmatischen Beitrag: Abschied von Kant und Hegel (vgl. ebd. 36 ff.). – Diesen Abschied vollzieht Klug allerdings reichlich unbekümmert. So muß man grundsätzlich – bei allem Verständnis für die Lebhaftigkeit aktueller, gesellschaftlich so außerordentlich relevanter Debatten wie dieser – kritisieren, daß er sich auf die von Kant und

328

Strafe und Gnade

klassischen Vertretern einer solchen vergeltungstheoretischen Begründung des Strafrechts zählen Kant und Hegel2; beide gehen davon aus, daß die Strafe als ein Selbst-Zweck − als ein Zweck in sich selbst − aufzufassen und als solcher ›vernünftig‹ sei. Darüber hinaus geht es beiden, Kant und Hegel, nicht um eine bloße Definition von Strafe im Sinne einer terminologischen Bestimmung, sondern um eine – Kantisch formuliert – Deduktion apriori aus der Vernunft selbst und − in Hegelscher Sprache – um die spekulative

Hegel vorgetragenen begrifflichen Entwicklungen von Strafe im Sinne der Wiederherstellung des Rechts (als Wiedervergeltung) in keiner Weise einzulassen bereit ist. Klug kritisiert, daß niemand anzugeben wisse, was eine ›gerechte Strafe‹ ist. Hegels Rede vom Wert der verbrecherischen Handlung, an dem die Strafe ihrerseits Maß zu nehmen hat, weist Klug mit dem Argument zurück, Tat und Strafe seien schlicht unvergleichbare Größen. (Im übrigen behandelt Hegel selbst dieses Problem in GPR § 101 Anm., und es wird uns im Folgenden noch ausführlich beschäftigen.) Darüber hinaus kritisiert Klug, daß Hegel mit seiner »Pseudo-Logik der Anwendung eines Begriffes auf sich selbst« in keiner Weise zwingend argumentiere: Zwang müsse nicht notwendigerweise durch Zwang aufgehoben werden. (Diese Kritik kehrt, allerdings meist in ausgereifterer Form, gelegentlich wieder, auch dazu später mehr.) Schließlich ist es nicht redlich, daß Klug jede Form von Resozialisierungsbemühungen schlicht gegen das »zwecklos vergeltende Zurückschlagen« (ebd. 41) auszuspielen versucht. Resozialisierung erfolgt nach dem Strafvollzug mit dem Ziel, den straffällig gewordenen Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Klug unterstellt, daß Hegel solche Wiedereingliederung in die Gesellschaft zurückgewiesen hätte; eine Behauptung, die sich jedoch nicht halten läßt. Hegel, auch dies wird sich noch zeigen, weist nicht eine Reflexion auf die angemessene Modalität der Strafe und der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft zurück, sondern hält an dem Gedanken fest, daß Strafe zu allererst legitimiert werden muß, bevor über ihre gesellschaftlich ›nützlichen‹ Eigenschaften nachgedacht werden sollte – aber beides ist für Hegel von Bedeutung. Am Ende seiner tendenziösen Darstellung zieht Klug das wenig überraschende Fazit: »Es ist hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden.« (Ebd.) Auf diesen Aufsatz hat seinerzeit u. a. Hellmuth Mayer geantwortet: Kant, Hegel und das Strafrecht. – In: Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann und Ulrich Klug. Frankfurt a.M. 1969. 54–79. 2 Wenn wir auch heute wie selbstverständlich die Kantische und die Hegelsche Strafkonzeption als ›klassisch‹ bezeichnen, so ergibt sich jedoch ein anderes Bild, wenn wir nach einer Aufnahme der Hegelschen Konzeption von Verbrechen und Strafe in noch zu Hegels Lebzeiten veröffentlichten Darstellungen suchen. So publizierte der Strafrechtler Ferdinand Carl Theodor Hepp 1829 seine Kritische Darstellung der Strafrechts-Theorien nebst einem Versuch über die Möglichkeit einer strafrechtlichen Theorie überhaupt (Heidelberg 1829); unter die »absoluten Straftheorien«, unter die neben Kant auch Hegel zu subsumieren ist, fallen für Hepp neben Kant nur noch Carl Salomo Zachariae und Eduard Henke als Hauptvertreter (vgl. ebd. 22–47), und Hegel taucht ebensowenig dort auf, wo Hepp Kritik an den einzelnen relativen Straftheorien (insbesondere Feuerbach) übt – dieser Befund mit Blick auf das genannte Buch ist insbesondere deswegen so überraschend, weil Hepp durchaus bemüht ist, die Diskussion seiner Zeit umfassend zu behandeln.

Hegels Theorie der Strafe

329

Entwicklung des Begriffs, die sich nicht in der Sphäre der Abstraktion erschöpft. (Allerdings lassen sich durchaus auch Differenzen in den Ansätzen beider aufzeigen, was an verschiedenen Stellen dieses Kapitels noch deutlicher werden wird.)

6.1 Hegels Theorie der Strafe Die von Hegel entfaltete Theorie der Strafe erschöpft sich auch keineswegs in den mit »Das Unrecht« überschriebenen Paragraphen innerhalb des ›abstrakten Rechts‹ (wobei es in der Enzyklopädie heißt: »Das Recht gegen das Unrecht«), die Hegel logisch-systematisch aus den Begriffen Eigentum und Vertrag entwickelt, sondern findet ihre notwendige Ergänzung einerseits durch Hegels Lehre von der Handlung im Sinne der Äußerung der Subjektivität des Willens, die der Analyse der verbrecherischen Handlung in ihrer objektiven Gestalt, der Objektivität auch ihrer Folgen, komplementär hinzutritt. Andererseits wird der Begriff der Strafe durch die Frage nach dem Verhältnis von Strafe und Gesellschaft konkretisiert, das von Hegel im Zusammenhang der bürgerlichen Rechtspflege in den Blick genommen wird. Hegels Strafrechtstheorie fügt sich daher in seine Auffassung vom modernen Staat wie in sein Verständnis von Freiheit im Allgemeinen ein. Hegels Straftheorie ist überdies für das Problem der Schuld als ein moralisches Phänomen deshalb von außerordentlichem Interesse, da sich für Hegel im Prozeß der Negation des Rechts und in der zunächst unmittelbaren Wiedervergeltung durch die Rache die Forderung nach einem subjektiven Willen erhebt, der in seiner Besonderheit das Allgemeine will.3 Es ist die ›Nichtigkeit‹ der sich verbrecherisch gegen das Allgemeine des Rechts erhebenden Subjektivität, die im Zwang und in der Rache als der Verletzung der Verletzung manifest wird. Und erst in der Negation der Negation bewährt sich das Recht, vermittelt über den besonderen Willen, als ein wirkliches und geltendes; es hat sich damit als »Wille in seinem Daseyn« gezeigt. In dieser Entwicklung bildet sich die innere Begriffsbestimmtheit des Willens von der Person zur moralischen Subjektivität fort; die »für sich unendliche Subjectivität«, die »sich auf sich beziehende Negativität« hat ihre eigene Freiheit, die für die Person nur erst auf unmittelbare Weise objektiv wird, zum Gegenstand ihres Denkens und Handelns.4

3 4

Vgl. GPR § 103. Vgl. ebd. § 104.

330

Strafe und Gnade

Die Paragraphen 82 bis 99 der Grundlinien klassifizieren das Unrecht in die drei Arten des sogenannten ›unbefangenen Unrechts‹, des ›Betrugs‹ und des ›Verbrechens‹. Das durch den Vertrag gesetzte Recht − im eigentlichen Sinne für Hegel nur die »Erscheinung des Rechts« − geht im manifesten Unrecht zum »Schein« als zur tatsächlichen Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen, für sich seienden Willens fort. Im Vertrag als der »aus der Willkür entstandene[n] Übereinkunft«5 ist demnach die Entgegensetzung und Entzweiung von Recht und besonderem Willen der Möglichkeit nach gesetzt. Im Folgenden soll nun in einem ersten Schritt Hegels Theorie des Vertrages erörtert werden, anschließend werden wir uns genauer die von Hegel vorgeschlagene Reihe der Gestalten des Unrechts ansehen, die im Verbrechen kulminiert, um schließlich Hegels Theorie der Strafe in den Blick nehmen zu können. Vorab muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß im Kontext der Entwicklung der Begriffe von Eigentum und Vertrag der Begriff des Wertes auftaucht, für den Hegel auch im Rahmen seiner vergeltungstheoretischen Begründung der Strafe eine wesentliche Rolle vorsieht − wobei er sowohl auf den Zusammenhang von Wert und Tausch im Rahmen der Vertragstheorie als auch auf den für das Zivilrecht konstitutiven Wertbegriff in der Anmerkung zu Paragraph 101 der Grundlinien explizit verweist, durch den der durch die Verletzung bewirkte Schaden in Gestalt des wertmäßigen »Ersatzes« (insofern dieser möglich ist) wiedergutgemacht werden soll − und um dessen präziseres Verständnis es daher auch in den folgenden Überlegungen wesentlich zu tun sein wird. Später wird von daher zu fragen sein, inwieweit Hegels Strafrechtstheorie von der ökonomischen Dimension der Wertäquivalenz bestimmt wird.

6.1.1 Zur ökonomisch-rechtlichen Bedeutung des Wertbegriffs Im Zusammenhang der Bestimmungen von Eigentum und Vertrag tritt der Wertbegriff deswegen hervor, weil die Veräußerung des Eigentums vermittels des Vertrages voraussetzt, daß ich, sofern ich eine Sache, die rechtlich als mein Eigentum gilt, veräußern will, ohne mich selbst zu verletzen oder zu schädigen, Eigentümer des Wertes der Sache bleiben muß, auch wenn ich die Sache selbst aufgebe.6 Vermittelt über das Privateigentum verwirklicht sich die Person, indem sie ihren Willen in Gestalt eines Vertrages, also in gemeinsamer willkürlicher Übereinkunft objektiviert. Der Vertrag setzt daher, wie 5 6

Enzyklopädie § 495. Vgl. GPR § 77.

Hegels Theorie der Strafe

331

alle Gestalten des objektiven Geistes, die wechselseitige Anerkennung, hier in ihrer Grundform, der allgemeinen Rechtsgleichheit der Vertragspartner, voraus.7 Die im Vertrag hergestellte »absolute Einheit«8 zweier freier Willen manifestiert sich indes, wie gesagt, lediglich als ihr gemeinsamer, nicht jedoch als an und für sich allgemeiner Wille; der Vertrag geht von der Willkür der Vertragspartner aus, die zugleich durch die Stipulation insofern bis zu einem gewissen Grade überwunden wird, als die Stipulation die Seite des Willens darstellt, welcher »das Substantielle des Rechtlichen im Vertrage« ausmacht. Für Hegel ist es nicht die Leistung, über welche der Vertrag begründet wird, sondern »die Aeußerung der Stipulation […] enthält den zu Stande gekommenen gemeinsamen Willen, in welchem die Willkühr der Gesinnung und ihrer Aenderung sich aufgehoben hat.«9 Was die Dignität des Vertrages als Rechtsinstitut ausmacht, ist nicht der tatsächliche Nutzen, den beide Parteien aus dem Vertragsschluß ziehen, sondern die Erkenntnis, daß im Vertrag »das Recht an sich als ein Gesetztes« erscheint und seine »innere Allgemeinheit«10 das Gemeinsame und Objektive der Willenserklärung ist; die rechtsverbindliche Kraft des Vertrages liegt in der Willenserklärung der Parteien und setzt damit die allgemeine Anerkennung dieser rechtsverbindlichen Kraft voraus. Das Rechtsinstitut der Stipulation findet bereits im römischen Zwölftafelgesetz Erwähnung (450 v. Chr.); die Zwölf Tafeln enthalten detaillierte Vorschriften nicht nur über das – modern gesprochen − Privat- und Strafrecht (wobei hinsichtlich der Stipulation das Vermögens- und Obligationenrecht von Interesse sind), sondern ebenso verfahrensrechtliche Bestimmungen.11 Die stipulatio ist ein mündliches Schuldversprechen (im Gegensatz zu den sogenannten »Libralakten« der mancipatio und des noch älteren nexum), das auf einer bestimmten Frage- und Antwortform in Gestalt eines festgelegten Rituals beruht. Im Unterschied zur mancipatio muß der Stipulation gemäß die Gegenleistung aber nicht sofort erbracht werden, und dem Gläubiger wird auch nicht mehr die Rechtsgewalt auf den Körper des Schuldners eingeräumt − wie es noch in archaischen Darlehnsgeschäften wie dem nexum der Fall ist, mit dem sich der Schuldner, wenn er das Geld nicht binnen der vereinbarten Frist zurückzahlen konnte, in die Schuldknechtschaft des Geldgebers begab (man denke an Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig). Die Verpflichtung des Schuldners begründet sich in seiner Ant7 8 9 10 11

Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 379. Hoppe 74. GPR § 79 Anm. Ebd. § 82. Vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte. A. a.O. 13 ff.

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Strafe und Gnade

wort, der responsio; die Verpflichtung »besteht im Prinzip unabhängig von dem mit dem Geschäft verfolgten wirtschaftlichen Zweck.«12 Meder spricht daher mit Blick auf die römische stipulatio von einem »Schuldverhältnis im modernen Sinn«, da die Beteiligten in den Rollen von Gläubiger und Schuldner auftreten. Die Genealogie des Wertbegriffs aus der Sphäre der Ökonomie und dem Äquivalententausch läßt sich nun zunächst einmal so rekonstruieren, daß im Stipulierten das Substantielle des Vertrages und die tatsächliche Erfüllung des Stipulierten als einer Folge auseinandertreten; daher muß ferner von der Leistung in ihrer unmittelbaren qualitativen Beschaffenheit abstrahiert und diese ihrem allgemeinen Wert nach und damit zugleich in Relation auf ein anderes bestimmt werden. Da jeder der beiden Vertragspartner »im reellen Vertrage«, also im Tauschvertrag, das Eigentum behält, mit welchem er in den Vertrag einwilligt und das er zugleich aufgibt, so muß sich in dem identisch bleibenden Eigentum das an sich seiende Eigentum von der äußerlichen Sache unterscheiden, die im Tausch ihren Eigentümer wechselt.13 Selbst dort, wo zwei verschiedene Sachen miteinander getauscht werden, muß ein tertium comparationis ermittelt werden, durch welches das Inkommensurable der getauschten Gegenstände kommensurabel gemacht wird. In dem Tauschgeschäft, das auf dem Austausch von Ware gegen Geld beruht, drückt sich dieser allgemeine Wert einer Sache in einem bestimmten Geldbetrag als seinem Wertäquivalent aus. Hinsichtlich des Wertes müssen die Vertragsgegenstände bei aller qualitativen äußeren Verschiedenheit doch »einander gleich«14 sein. Und obgleich Hegel zufolge das Wesen des Vertrags in der gemeinsamen willentlichen Übereinkunft zweier Personen besteht, hält er insofern dennoch an dem »Prinzip der materialen Gerechtigkeit und der Äquivalenz der vertraglich vereinbarten Leistungen«15 fest. Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, wie sich der Wert einer Sache ermitteln läßt; der Wert, so ist zunächst zu antworten, ergibt sich für Hegel zunächst durch ihre Brauchbarkeit. Der ›Gebrauchswert‹ – Hegel selbst verwendet diesen Terminus nicht, der in einem Gegensatz zum ›Tauschwert‹ steht16 – steht in Relation auf ein Bedürfnis, er läßt sich nach quantitativen 12

Ebd. 22. Vgl. GPR § 77. 14 Ebd. 15 Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. A. a.O. 379. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang die Analyse des widersprüchlichen Verhältnisses dieser Werte im Kapital von Karl Marx. »Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert.« Dieser Gebrauchswert ist Marx zufolge jedoch an den »Warenkörper« gebunden; bei Betrachtung der Gebrauchswerte wird ferner stets ihre quantitative Be13

Hegels Theorie der Strafe

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und qualitativen Bestimmungen fassen, wodurch er mit anderen Sachen derselben Brauchbarkeit vergleichbar wird. Diese am Bedürfnis Maß nehmende »Allgemeinheit«, deren »einfache Bestimmung aus der Particularität der Sache hervorgeht«17, ist der Wert einer Sache, in dem zugleich von der spezifischen Qualität derselben abstrahiert wird. Der Wert einer Sache im Sinne einer solchen Gebrauchswertabstraktion ist damit dasjenige, »worin ihre wahrhafte Substantialität bestimmt und Gegenstand des Bewußtseyns ist«, wodurch die Sache zugleich nicht mehr nur von der Seite der durch sie ermöglichten unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung bestimmt ist. Im Vollsinne bin ich daher der Eigentümer einer Sache nur dann, wenn ich auch Eigentümer ihres Wertes bin und nicht nur Nutznießer durch den Gebrauch der Sache. Auch bei Aristoteles, der das Verhältnis von Wert und Preis im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik im Rahmen der Erörterung der verschiedenen Arten der Gerechtigkeit behandelt, ist der Tausch über die Bedürfnisse (creíα) vermittelt; das Bedürfnis stellt sozusagen die Einheit beider zum Tausch bereiter Personen her. Es ist für Aristoteles die einzige Möglichkeit, verschiedene Dinge kommensurabel zu machen, und das einheitliche Maß, in dem sich der Wert einer Sache ausdrückt, ist das Geld (νómismα).18 Der Wertausdruck, den Aristoteles beispielhaft wählt: ›fünf Betten = ein Haus‹ setzt allerdings voraus, daß diese qualitativ ganz verschiedenen Waren einander gleichgesetzt werden können; eine Gleichsetzung, durch die sie als kommensurable Größen erscheinen. Das Dritte, das beide kommensurabel macht, wäre sozusagen das Wesen oder die Substanz, deren Ausdruck die stimmtheit vorausgesetzt. Der Gebrauchswert »verwirklicht« sich im Gebrauch oder in seiner Konsumtion. Der Tauschwert hingegen erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, in der sich Gebrauchswerte verschiedener Qualitäten miteinander tauschen lassen. Als Gebrauchswerte sind die Waren also vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedener Quantität sein. Der Tauschwert, dieses Verhältnis also, ist jedoch in sich widersprüchlicher Natur, denn einerseits hat ein Gegenstand mit einem bestimmten Gebrauchswert mannigfache Tauschwerte statt nur eines einzigen, andererseits jedoch muß der Gegenstand einen bestimmten Tauschwert haben, der sich im Tauschverhältnis ausdrückt. Im Austauschverhältnis der Waren stellt sich ihr Wert dar oder anders formuliert: Für Marx ist der Tauschwert die Erscheinungsform des Wertes einer Ware. Und eine Ware hat für ihn nur dadurch Wert, daß in ihr »abstrakt menschliche Arbeit […] vergegenständlicht oder materialisiert ist.« D. h. die Wertgröße einer Ware ist das »Quantum der in [ihr] enthaltenen ›wertbildenden Substanz‹, der Arbeit.« (Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1953. 40 ff.) Damit ist bereits die ›Arbeitswertlehre‹ angesprochen, die Marx in Auseinandersetzung mit David Ricardo ausarbeitet und die uns im Folgenden noch beschäftigen wird. 17 GPR § 63. 18 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1133 b 15 ff.

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Strafe und Gnade

Wertform ist. Der Austausch, so also die Behauptung, setzt ›Gleichheit‹ voraus und diese wiederum ›Kommensurabilität‹.19 Aristoteles zufolge ist der Tausch (Âllαg®) gerecht, wenn darin eine Äquivalenz in Form einer arithmetischen Proportionalität des Wertes von Leistung und Gegenleistung gewährleistet ist. Mit Bezug auf die eben herangezogene Stelle in der Nikomachischen Ethik wendet Marx jedoch ein, daß diese von Aristoteles behauptete, das Wertverhältnis begründende Gleichsetzung zweier Waren tatsächlich in Wahrheit eines Wertbegriffs ermangle. »Das Gleiche«, also die »gemeinschaftliche Substanz« von Haus und Bett, könne, so Marx, für Aristoteles gar nicht existieren. Denn dieses Gleiche, die gemeinschaftliche Substanz beider, kann Marx zufolge nur in der gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeit liegen. Diese Grundkategorie der allgemeinen menschlichen Arbeit habe Aristoteles jedoch aufgrund der »historische[n] Schranke der Gesellschaft, worin er lebte«, nicht kennen können, da die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte und daher »die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte.«20 Was Aristoteles fehlte, war der »Begriff der menschlichen Gleichheit«, der nur in einer Gesellschaft erwachsen kann, in welcher die Warenform die »allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist.«21 Die Aristotelische Auffassung vom Wert kann von daher auch nicht Grundlage des modernen bürgerlichen Rechts sein. Aber bereits Hegel bleibt nicht bei jener eben angesprochenen Gebrauchswertabstraktion stehen, sondern argumentiert im Zusammenhang seiner Überlegungen zum »System der Bedürfnisse« − wenn er diesen Gedanken auch nicht in gleicher Weise systematisch fruchtbar macht wie später Marx − im Sinne einer ›Arbeitswertlehre‹22: In der auf hochgradig arbeits19

Vgl. ebd. 1133 b 17–23. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. A. a.O. 65 (Hervorhebungen getilgt, BC). 21 Ebd. 22 Die Frage, woran zu erkennen sei, ob zwei auszutauschende Güter den gleichen Wert verkörpern und was als objektives Merkmal solcher Wertäquivalenz anzusehen sei, wird bereits in der scholastischen Ethik, nämlich von Albertus Magnus im 13. Jahrhundert, im Rahmen einer ›objektiven Wertlehre‹ behandelt. Dieser Lehre zufolge sind es nicht mehr die menschlichen Bedürfnisse, die die Tauschgerechtigkeit garantieren, sondern vielmehr die gleiche Menge von Arbeit und Kosten, die in die Ware eingegangen sind. Diese zur Begründung des iustum pretium (des gerechten Preises) im Zuge der »christlichen Aufwertung der Arbeit« entwickelte Kostentheorie wird von Thomas von Aquin insofern präzisiert, als er darauf hinweist, daß neben der Arbeit auch noch das Transportrisiko als wertschöpfend zu gelten habe. (Die zunftmäßige Regelung der Arbeit verhinderte jedoch 20

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teilig organisierten Produktionsprozessen basierenden bürgerlichen Gesellschaft, in der der Tausch zur gesellschaftlichen Grundkategorie wird, werden – ›List der Vernunft‹! – die partikularen Bedürfnisse mit dem Allgemeinen durch die gesellschaftliche Arbeit vermittelt. In der Arbeit wird der Gegenstand dem Naturzusammenhang entrissen, vereinzelt und das der Natur zur Weiterverarbeitung durch bestimmte Arbeitsprozesse abgerungene Material für die vielfachen Zwecke und die verschiedensten Bedürfnisse spezifiziert. Eben diese »Formirung« ist es aber, die »nun dem Mittel den Werth und seine Zweckmäßigkeit [gibt], so daß der Mensch in seiner Comsumtion sich vornemlich zu menschlichen Productionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht.«23 Die »Formirung« spielt bereits eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit Hegels Theorie des Eigentums, dessen Bestimmungen die unmittelbare Besitznahme, der Gebrauch und die Veräußerung des Eigentums sind.24 die Frage nach der Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Arten von Arbeit.) Wie dem Art. »Wert/Preis« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, auf den ich mich hier beziehe, weiter zu entnehmen ist, steht diese auf die scholastische Tradition zurückgehende ›objektive Wertlehre‹ im Zusammenhang mit der moralphilosophischen Verurteilung der Zinsnahme und des Wuchers, eines im Zuge der sich rasch ausbreitenden Geldwirtschaft um sich greifenden Phänomens. Hinsichtlich des Wertbegriffs, wie er in der politischen Ökonomie ausgearbeitet wurde, läßt sich konstatieren, daß die französischen Physiokraten noch die Natur als die primäre Quelle des ökonomischen Reichtums einer Nation ansahen, während es Adam Smith zufolge drei Faktoren sind, die den Tauschwert einer Ware bestimmen, nämlich die Löhne, der Unternehmergewinn und die Bodenrente. Damit gehen jedoch in den Wert auch heteronome Faktoren wie etwa das jeweilige Verhältnis von Angebot und Nachfrage ein. David Ricardo hingegen sieht nicht mehr, wie Smith, den Preis, der für eine Arbeitsleistung bezahlt wird, als konstitutiv für den ökonomischen Wert einer Ware an, sondern die für die Produktion einer Ware erforderliche menschliche Arbeitszeit, so wie auch das bei der Produktion verwendete Kapital verkörperte Arbeit darstellt. Auf diese von Ricardo entwickelte Gestalt der Arbeitswertlehre beziehen sich auch Karl Marx und Friedrich Engels. Marx stellt auf dieser Grundlage das ›Wert-Gesetz‹ auf, das auf der Unterscheidung zwischen dem ›Marktwert‹ und dem ›Marktpreis‹ einer Ware beruht; damit ist das Problem der Transformation von Wert in Preis verbunden, allerdings gilt es als umstritten, ob es Marx selbst gelungen sei, eine Lösung für dieses Problem auszuarbeiten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch die ›subjektive Wertlehre‹ oder ›Grenznutzentheorie‹ durchgesetzt, denen gemäß der Preis einer Ware nicht mehr auf die in ihr verkörperte Arbeitszeit zurückzuführen ist, sondern auf den Nutzen, der sich nun wieder auf das menschliche Bedürfnis bezieht. Folgt man dem Artikel im Historischen Wörterbuch noch weiter, dann muß man konstatieren, daß die wissenschaftliche Ökonomie im 20. Jahrhundert inzwischen gänzlich auf den Wertbegriff zu Gunsten einer ›mathematischen Preistheorie‹ verzichte. (Vgl. Klaus Lichtblau: Art.: »Wert/Preis«. – In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Basel 2004. 586–591; das Zitat findet sich auf S. 587.) 23 GPR § 196. 24 Vgl. ebd. § 53. Die Formierungstheorie des Eigentums geht auf John Locke zurück

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Mit der Entfaltung des Eigentumsbegriffs in die drei genannten Bestimmungen erklärt Hegel das Verhältnis des Willens zur Sache zur Basis des Eigentums25; zum bloßen Willensentschluß muß die äußere Besitznahme der Sache durch Arbeit, also Formierung, und Bezeichnung hinzutreten. Im Gebrauch einer Sache tritt noch deutlicher zu Tage, daß die Sache »als die Meinige von meinem Willen gänzlich durchdrungen«26 ist. Die Formierung einer Sache ist, im Vergleich zur bloßen »körperlichen Ergreifung«, insofern bereits eine »ideellere, höhere Weise der Besitznahme«27, als sie diese Besitznahme in eine objektive, bleibende Form überführt. Die agrarwirtschaftliche Formierung des Natürlichen, die Hege und Pflege von Tieren und Pflanzen im Allgemeinen, vereinigt in sich insofern die beiden Momente des Subjektiven und Objektiven, als einerseits der Mensch seine besonderen Zwecke in und durch die Sache verwirklicht, während diese andererseits zum Zeichen geistiger Zwecktätigkeit wird und daher als »das Meinige« die Bestimmung der »für sich bestehende[n] Aeußerlichkeit«28 erhält. Doch nicht nur die unorganische und organische Natur werden vom Menschen in dieser Weise arbeitend gestaltet und vielfach nutzbar gemacht, sondern ebenso obliegt dem Menschen die »Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtseyn sich als freyes erfaßt«29. − Die allgemeine Wertsubstanz ist demnach für Hegel nichts, was den Dingen von Natur aus zukäme; vielmehr erhalten die Dinge ihren Wert erst durch menschliche Arbeit; es ist mithin die Arbeit, die das innere Allgemeine, den gemeinsamen Wert einzelner Sachen von unterschiedlicher Brauchbarkeit darstellt. Wo aber die Arbeit zum allgemeinen Träger des Werts wird, ist dieser von der bloß subjektiven Wertschätzung verschieden. Denn auch wenn das einzelne Ding aus der Perspektive einer einzelnen Person in deren subjektiver Wertschätzung gering sein mag, so ist der Wert einer Sache, der sich aus dem in ihr enthaltenen Quantum gesellschaftlicher Arbeit ergibt, eine objektive Größe. Das Wertmaß ist also die zur Herstellung der Ware durchschnittlich erforderliche gesellschaftliche Arbeit. Die Arbeit, so Marx, ist zwar »das immanente Maß der Werte«30, aber die Arbeit selbst hat keinen Wert, denn was dem Kapitalisten auf dem Warenmarkt gegenüber tritt, ist (Zwei Abhandlungen über die Regierung. Herausgegeben von Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1977. 216 f.) 25 Vgl. GPR § 52. 26 Ebd. § 62. 27 Henrich 75. 28 GPR § 56. 29 Ebd. § 57. 30 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. A. a.O. 562.

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hier nicht ein in einem Produkt verkörpertes Quantum Arbeit, sondern vielmehr der Arbeiter selbst, der seine Arbeitskraft zu verkaufen gezwungen ist; diese Arbeitskraft hat also einen Wert und dieser muß sich im Arbeitslohn darstellen. Der Wert der Arbeitskraft berechnet sich Marx zufolge durch den durchschnittlichen Wert dessen, was zu ihrer Reproduktion erforderlich ist.31 Festzuhalten bleibt am Ende dieses knappen Exkurses, daß der Begriff des Wertes insofern innerhalb der ökonomischen Sphäre seinen Ursprung hat, als sich in der Stipulation das »Substantielle des Vertrags« von der materiellen oder geldmäßigen Leistung »als der reellen Äußerung, die zur Folge herabgesetzt ist«32, unterscheidet. Die ›Leistung‹ bezeichnet daher einen Unterschied zwischen der unmittelbaren spezifischen Beschaffenheit einer Sache und dem, was diese Sache substantiell ausmacht; diese substantielle Beschaffenheit drückt sich im Wert aus. Im Wert liegt damit zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Vergleichbarkeit zweier Waren, da sich nur so die qualitativen Unterschiede in einer quantitativen Größe ausdrücken lassen. Etwas kann auf diese Weise mit einem qualitativ ganz Heterogenen gleichgesetzt werden, wodurch es als »abstrakte, allgemeine Sache gesetzt« wird.33 Das systematische Bindeglied zwischen der ökonomischen Sphäre des Äquivalententauschs und der strafrechtlichen Relevanz des Wertbegriffs, der den Kern von Hegels vergeltungstheoretischer Begründung von Strafe darstellt, ist also darin zu sehen, daß der »Werth das innere Gleiche von Sachen« ausdrückt, »die in ihrer Existenz specifisch ganz verschieden sind«34. – Bevor jedoch der von Hegel entwickelte vergeltungstheoretische Ansatz der Strafrechtsbegründung genauer betrachtet werden kann, müssen wir uns Hegels Bestimmungen des Unrechts vergegenwärtigen; auf die Bedeutung der Wertäquivalenz im spezifischen Bezug auf Hegels Begründung der Strafe werden wir später zu sprechen kommen.

31

Vgl. ebd. 564. Der »Mehrwert« kommt Marx zufolge dadurch zustande, daß der Wert der Arbeit stets kleiner ist als das Wertprodukt der Arbeit, denn der »Kapitalist läßt die Arbeitskraft stets länger funktionieren als zur Reproduktion ihres eigenen Werts nötig ist.« (Ebd.) Zum Wertbegriff und seiner Funktion innerhalb von Hegels Straftheorie vgl. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Eine systematische Analyse des Verbrechens- und Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1991. 53. Klesczewski ist im übrigen einer der wenigen Hegel-Interpreten, die sich ausführlich mit dem Wertbegriff und seiner strafrechtlichen Relevanz befassen. 32 Enzyklopädie § 494. 33 Vgl. ebd. 34 GPR § 101 Anm.

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6.1.2 Die Erscheinungsformen des Unrechts als spezifisch juristische Schuld Wie wir gesehen haben, setzen die Personen im vertraglich vermittelten Eigentum zwar ihren besonderen Willen als einen gemeinsamen, aber der besondere Wille kann ebensogut vom allgemeinen Willen verschieden sein und sich in seiner Willkür und Zufälligkeit geltend machen. Das Ungenügende des bloß persönlichen und noch unmittelbaren Willens tritt am Unrecht dann in Erscheinung, wenn das »Verzichttun des besonderen Willens auf sich […] noch nicht vorhanden«35 ist. Das juristisch bestimmte Unrecht bezeichnet für Hegel, vergleichbar mit dem Bösen in moralischer Hinsicht, jene Gestalt des Willens, die in ihrer Besonderheit, ihrer Einsicht und ihrem Wollen gegen das Allgemeine auftritt.36 Diese Entgegensetzung ist jedoch nichts weiter als ein »Schein«; sie hat kein Bestehen in sich selbst. Damit spricht Hegel bereits eine wesentliche Voraussetzung seiner Strafrechtsbegründung an, die darin zu sehen ist, daß das Unrecht gemessen am Begriff des Rechts in sich »nichtig«37 ist, denn es kann keine rechtliche Geltung erlangen. Aus solcher ›Nichtigkeit‹ des Unrechts ergibt sich für Hegel die Notwendigkeit der Manifestation des Scheins als Schein, durch die sich das Recht in einem Prozeß der Vermittlung mit dem Anderen seiner selbst wie35

Henrich 84. Damit ist die von Hegel geäußerte und auch durchaus naheliegende Einsicht verbunden, daß es den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen überlassen bleibt, zu bestimmen, welche Vergehen als Verbrechen zu gelten haben, die unter das Strafgesetz zu subsumieren sind und welcher Wert der jeweiligen Rechtsverletzung angesichts der allgemeinen sozialen Verhältnisse zukommt (vgl. GPR § 218). Hegels Überlegungen hinsichtlich der historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit dessen, was als gesetzlich/ungesetzlich, gut/böse gilt, werden nicht selten im Sinne einer Verkürzung oder Relativierung der Bestimmungen von gut und böse aufgefaßt: Was das Gute sei, so die Kritik, solle Hegel zufolge nurmehr »in Erfüllung des Gebots der Zeit bestehen. Geschichtliche Konformität wird, wenn nicht für den Handelnden schlechthin, so doch für den Täter zum obersten Gebot.« (Helmut Kuhn: Der Ursprung der Ideologie aus dem Geist der Philosophie Hegels. – In: Hegel-Studien 6 (1971). 189–209; hier 205.) Kuhns These spitzt sich in dem Gedanken zu, daß die »als Geschichte des Geistes interpretierte Weltgeschichte […] bei Hegel an die Stelle der Ethik« tritt (ebd.). Dennoch betont auch Kuhn, daß dies bei Hegel nicht zu einem Opportunismus führe, »denn die opportunitas der Tat bestimmt sich aus dem absoluten Horizont der durchschauten Vorsehung« (ebd.). Tatsächlich zielen Hegels systematische Überlegungen weniger auf eine praktisch-normative Philosophie, die überzeitliche Handlungsgrundsätze zu begründen sucht, als vielmehr darauf, die immanente Vernunft von Rechtsinstitutionen spekulativ abzuleiten − was ein ausgesprochen kritisches Potential in sich birgt −, innerhalb derer dann erst die individuelle und kollektive Verwirklichung praktisch-vernünftiger Ziele möglich wird. 37 GPR § 101 Anm. 36

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derherstellt, um sich dadurch »als Wirkliches und Geltendes« zu bewähren, doch dazu später. Die erste Gestalt des Unrechts ist das »unbefangene Unrecht«38, das sich dadurch auszeichnet, daß es »die Anerkennung des Rechts als des Allgemeinen«39 noch in sich enthält; das Unbefangene dieser Gestalt des Unrechts besteht also darin, daß ich etwas subjektiv für Recht halte, was es objektiv nicht ist. Genau genommen handelt es sich also lediglich um einen Irrtum hinsichtlich der »Rechtsgründe«40 anderer, die jedoch in diesem Irrtum nicht grundsätzlich negiert werden. Die Person, die die vertraglich ausgehandelte Leistung verweigert, erkennt also im ›unbefangenen Unrecht‹ die Geltung des Rechts an sich ebenso an wie die Personalität des Gegenübers.41 Insofern bezeichnet Hegel dieses »unbefangene Unrecht« als ein negatives Urteil, durch welches nur das Besondere, nicht aber das Allgemeine negiert wird: Das negative Urteil, so heißt es in der Wissenschaft der Logik, negiert nicht die »Allgemeinheit überhaupt im Prädicate, sondern die Abstraction oder die Bestimmtheit desselben, welche gegen jene Allgemeinheit als Inhalt erschien.«42 Der ›Betrug‹ als die zweite Form des Unrechts läßt sich im Gegensatz zum ›unbefangenen Unrecht‹ dadurch kennzeichnen, daß die Anerkennung des Rechts und des Anderen als Rechtsperson nurmehr in der Form der Handlung liegt.43 In dem in betrügerischer Absicht geschlossenen Vertrag ist demnach nur der ›Schein‹ des Rechts, nicht jedoch das Moment des Allgemeinen enthalten. Das zum Schein herabgesetzte Recht erweist sich daher als ein nur Subjektives, das nicht mehr ist als ein Mittel widerrechtlicher Interessen. Der Betrug hat für Hegel logisch die Form des positiv unendlichen Urteils.44 Das unendliche Urteil ist die Negation des negativen Urteils; in ihm ist keine positive Beziehung mehr zwischen Subjekt und Prädikat.45 Das unendliche Urteil ist ein Widerspruch in sich selbst, denn in seiner Form behauptet es eine Beziehung zwischen beiden, die es zugleich der inhaltlichen Bestimmung nach negiert. Betrug und Verbrechen sind damit Handlungsweisen, in denen das Recht des andern absichtlich gebrochen wird, daher sind sie

38

Vgl. ebd. §§ 84 bis 86. Ebd. § 85. 40 Ebd. § 84. 41 So auch Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 64. 42 GW 12. 67. 43 Vgl. Georg Mohr: Unrecht und Strafe. – In: G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Herausgegeben von Ludwig Siep. Berlin 1997. 95–124; hier 99. 44 Vgl. GPR § 88. 45 Vgl. GW 12. 69. 39

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Gegenstand des Strafrechts − obgleich Hegel einräumt, daß die Grenze zwischen Betrug und Verbrechen und damit deren jeweiliger »Wert« nicht eindeutig zu bestimmen ist46, muß man begrifflich festhalten, daß im Betrug zwar kein Zwang ausgeübt wird, aber das Recht im Sinne der allgemeinen Sache verletzt wird. Das Verbrechen schließlich als die dritte von Hegel angeführte Gestalt des Unrechts negiert nicht nur das Besondere und hält auch nicht am Recht als einem Schein fest, sondern verletzt »das Daseyn der Freyheit in seinem concreten Sinne«; es verletzt »das Recht als Recht«47. Damit, so ist zunächst einmal Hegels Definition zu entnehmen, negiert das Verbrechen den Andern in seinem allgemeinen Charakter als Person, entzieht ihm die Anerkennung, die es ihm schuldet, und stellt damit seine Rechtsfähigkeit überhaupt in Frage.48 Das Verbrechen, so heißt es an späterer Stelle, ist damit »an sich eine unendliche Verletzung« der Person49, die es jedoch in ihrem Dasein, d. h. nach qualitativen und quantitativen Unterschieden zu bestimmen gilt. Was das Verbrechen zu einer ›unendlichen Verletzung‹ macht, ist, so notiert Wannenmann, daß es das Prinzip des Willens selbst angreift50; abstrakt rechtlich kann es jedoch nur als ein »Zwang« bestimmt werden, da das Prinzip des Willens in dieser Sphäre nur erst die Freiheit in ihrem äußerlichen Dasein ist. Entsprechend ist das Unrecht, wo es noch nicht von der Seite seiner Innerlichkeit thematisiert wird, »Gewalt gegen das Daseyn meiner Freyheit in einer äußerlichen Sache«51. Damit sind zwei im Rahmen von Hegels Straftheorie außerordentlich wichtige Begriffe genannt, die einer Erläuterung bedürfen, nämlich ›Zwang‹ und ›Gewalt‹. Bei Einführung des Begriffs des Zwangs verweist Hegel auf die Einleitung der Grundlinien, in der er den Begriff des Willens in seinen Momen46

Vgl. Hoppe 82. GPR § 95. 48 Daß sich in der Straftat eine Verweigerung der Anerkennung manifestiert, sei es mit Blick auf das Opfer einer Straftat oder auf die Gesellschaft als ganze, die auf dem Prinzip der Anerkennung basiert (und es in ihren Institutionen verwirklicht hat), ist eine Lesart, die von Kurt Seelmann zum Ausgang seiner strafrechtlichen Überlegungen gemacht wird. Vgl. Kurt Seelmann: Hegels Straftheorie in seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. A. a.O. 11–31; bes. 19. Die Frage, ob und inwiefern tatsächlich mit Blick auf das Verbrechen generell davon gesprochen werden kann, daß es eine Verletzung der Anerkennungsbeziehung darstellt (denn es sind Fälle, etwa von krimineller Sozialisierung denkbar, in denen es dem Straftäter nicht um eine solche Verletzung der Anerkennungsbeziehung zu tun ist); diese Frage wird später im Text noch einmal aufgegriffen. 49 GPR § 218 Anm. 50 Ilting, Bd. 1. 68. 51 GPR § 94. 47

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ten der »reinen Unbestimmtheit«, der »schrankenlose[n] Unendlichkeit«52 und der »Endlichkeit oder Besonderung des Ich«53 dialektisch zur Einheit dieser beiden Momente entfaltet. Jedes natürliche Dasein, worin ein Wille gelegt ist, und in dem der Wille zugleich bei sich selbst ist, sei es das Eigentum, sei es der lebendige menschliche Körper, kann bezwungen, »d. h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt Anderer gebracht«54 werden. Der freie Wille jedoch »kann an und für sich nicht [anders] gezwungen werden« als nur in dem Fall, daß er nicht von der Äußerlichkeit, »an der er festgehalten wird«55, abstrahiert und sich nicht in sich selbst zurückzieht (worin der Gedanke anklingt, der Mensch könne auch in seinen Fesseln frei sein). Und obwohl es bei Hegel heißt, es könne nur derjenige tatsächlich gezwungen werden, der sich zwingen lassen will, stellen Gewalt und Zwang gleichwohl Akte des Unrechts dar.56 Unter Ausübung von Zwang und Gewalt fallen damit auch Pflichtverletzungen, seien sie in Bezug auf geschlossene Verträge oder sei es die Verletzung der Pflichten gegenüber Familie, Korporation, Gemeinde oder Staat, oder sonstige Verletzungen einer Schuldigkeit gegenüber einer Gestalt des freien Willens. Da es für den Willen aber notwendig ist, sich zugleich ein äußerliches Dasein zu geben − da er vielmehr nur in diesem Dasein frei und wirklich sein kann57 − ist dieses Dasein, das er sich gibt, immer ein Dasein seiner Freiheit. Zwang oder Gewalt, die hier nur als Zwang und Gewalt in Betracht kommen, insofern sie sich gegen ein solches Dasein der Freiheit richten, sind für Hegel deswegen als selbstwidersprüchliche Verhaltensweisen anzusehen, weil sie als Gestalten des freien Willens, der den »Boden des Rechts«58 ausmacht, Freiheit und Recht selbst in Frage stellen. Nur aufgrund dieses ersten Zwanges, des Unrechts, ist die Strafe im Sinne eines zweiten Zwanges zu rechtfertigen. Jener zweite und rechtliche Zwang ergibt sich für Hegel daher mit Notwendigkeit aus dem ersten, und zwar ist er die »reelle Darstellung«59 der begrifflichen Selbstwidersprüchlichkeit und rechtlichen Nichtigkeit des Zwangs; er ist damit Folge, aber nicht Definiens von Recht.60 Insofern wäre hier also zunächst einmal vom »Zwangsrecht« zu sprechen, dessen Notwendigkeit für

52 53 54 55 56 57 58 59 60

Ebd. § 5. Ebd. § 6. Ebd. § 91. Ebd. Vgl. ebd. § 92. Vgl. ebd. Ebd. § 4. Ebd. § 93. So Georg Mohr: Unrecht und Strafe. A. a.O. 103.

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Hegel aus dem Begriff des Unrechts als einer Rechtsgutverletzung folgt.61 Die Rechtsgutverletzung ist Verletzung des Rechts in doppeltem Sinne: Die Negation des Rechts bedeutet einen Verlust seiner Geltungswirklichkeit, sowohl im besonderen Willensdasein der Personen (des Verletzers, des Verletzten und aller anderen) als auch der idealen Geltungsallgemeinheit.62 Das Zwangsrecht legitimiert jedoch lediglich die Verhinderung einer gegenwärtigen oder (konkret drohenden) zukünftigen Rechtsverletzung; die Legitimation des Zwangs beinhaltet noch keine Legitimation der Strafe als Reaktion auf vergangenes Geschehen.63 Zu Hegels doppelter Strategie der Legitimierung von Strafe kommen wir später, zunächst soll jedoch eine Rekonstruktion der von Hegel vorgeschlagenen Begründung einer Unterscheidung in der jeweiligen Wertigkeit von Eigentumsdelikten und Körperverletzung versucht werden.

6.1.3 Eigentumsdelikt und Körperverletzung Es ist bereits auf die spekulative Beziehung hingedeutet worden, die Hegel zwischen dem Begriff der ›Person‹ und dem des ›Eigentums‹ herstellt; da allererst die Person die Rechtsfähigkeit enthält und damit als die Grundlage des ›abstrakten Rechts‹ anzusehen ist, kann sich auch die staatliche Sanktion der Strafe auf dieser Grundlage nur an einen Menschen richten, der sich auf diese Weise selbst als Person mit bestimmten Rechten und Pflichten begreift. Als freier Wille in seiner Unmittelbarkeit ist die Person die »gegen die Realität negative, nur sich abstract auf sich beziehende Wirklichkeit, − in sich einzelner Wille eines Subjects.«64 Als solche »ausschließende Einzelnheit«65 hat sie den bestimmten Inhalt ihrer Zwecke zugleich als eine äußere, unmit-

61

Vom »Rechtsgut« und der »Rechtsgutverletzung« spricht u. a. Diethelm Klesczewski (Die Rolle der Strafe. A. a.O. 59 f.); das Rechtsgut ist demnach ein »Dasein der Freiheit, in dem sowohl in der Subsumtion einer Sache unter den Willen einer einzelnen Person ihre besondere Seite des Willens als auch die allgemeine Seite des Willens, die abstrakte Identität der Personen, ihre Rechtsfähigkeit, gesetzt worden ist.« 62 Vgl. Michael Köhler: Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis. Die Aufhebung der abstrakten Straftheorie am Leitfaden der Hegelschen Rechtsphilosophie. – In: Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987. Herausgegeben von Wilfried Küper. Berlin/New York 1987. 11–37; hier 18. 63 Vgl. Kurt Seelmann: Differenzen zwischen Kant und Hegel bei der Begründung staatlicher Strafe. – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. A. a.O. 123–137; hier 131. 64 GPR § 34. 65 Ebd.

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telbar vorgefundene Welt vor sich. Eingedenk der mit solcher Ausschließlichkeit gesetzten negativen Beziehung zu der von der Einzelheit der Person ausgeschlossenen Welt ergibt sich innerhalb dieser Sphäre des ›abstrakten Rechts‹ das grundlegende, aber noch ganz formelle Rechtsgebot: »sey eine Person und respectire die andern als Personen.«66 Damit ist aber zugleich das Rechtsverbot ausgesprochen, die »Persönlichkeit und das daraus Folgende […] zu verletzen.«67 Der Begriff der Person impliziert demnach das Wissen der Person um sich als einem Allgemeinen und Freien. Hegels Begriff der Person folgend, sind Besitz und Eigentum unmittelbare Daseinsformen des freien Willens.68 Im Eigentum gibt sich die Person eine »Sphäre ihrer Freyheit«, um sich in der Äußerlichkeit einer Sache in ihrer Freiheit objektiv zu werden. In dieser Sphäre der Äußerlichkeit ihrer Freiheit tritt die Person in ein Verhältnis zu anderen Personen und Sachen, wobei das Verhältnis zu Sachen aus der Sicht Hegels immer schon vermittelt ist über das Verhältnis zu Personen (Vertrag).69 Gegenüber an sich rechtlosen Gegenständen besitzt die Person ein »absolutes Zueignungsrecht […] auf alle Sachen«70, auch wenn damit nur erst die unmittelbare Inbesitznahme gemeint und noch kein Rechtstitel verbunden ist. Aus den natürlichen Trieben und Bedürfnissen des Menschen folgt, daß er die Dinge zunächst unmittelbar in seine Gewalt zu bringen sucht, die »Seite aber, daß Ich als freyer Wille mir im Besitze gegenständlich und hiemit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigenthums aus.«71 Zwar ist Eigentum immer auch Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, für Hegel stellt es jedoch insofern einen Selbstzweck dar, als in ihm die Freiheit der Rechtsperson objektiv wird. Im Eigentum wird mir »mein Wille als persönlicher […] objectiv«72, denn, so wird in einer Nachschrift überliefert, der Wille ist »in der Sache in sich reflektiert, in sich reflektiert scheint die Sache in den Willen, indem er scheint, ist er bei sich in dieser Äußerlichkeit.«73 Das Eigentum erhält so für Hegel zugleich den Charakter des Privateigentums, dessen unbedingte Legitimation Hegel zufolge in der »Natur der Freyheit des

66

Ebd. § 36. Ebd. § 38. 68 Vgl. ebd. § 40. 69 Marx wird dieses Verhältnis bekanntlich wenige Zeit später umkehren: Das Verhältnis zu anderen Menschen ist nach Marx vermittelt über das Verhältnis zu Dingen: den Waren nämlich. (Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. A. a.O. 65.) 70 GPR § 44. 71 Ebd. § 45. 72 Ebd. § 46. 73 Hoppe 83. 67

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Geistes und des Rechts«74 liegt und auf welches jede gemeinschaftliche Vermögensform zurückzuführen sein muß. Das Vernünftige in dieser Begründung der Notwendigkeit von Privateigentum fordert indes nur, daß alle Personen überhaupt Eigentum besitzen, wie viel die Einzelnen aber besitzen, ist für Hegel zunächst einmal nicht mehr als »eine rechtliche Zufälligkeit«75. − Grundsätzlich aber muß der Mensch so viel besitzen als die fortwährende Reproduktion des eigenen Lebens erfordert, denn das Leben im Sinne der »umfassende[n] Totalität der äußerlichen Thätigkeit«76 ist der Person, die ebenso auf unmittelbare Weise existiert, durchaus nichts Äußerliches, woraus sich für Hegel die Begründung eines »Nothrechts« ergibt. Das Leben als »absolutes Moment in der Idee der Freiheit«77 ist eines jener unveräußerlichen Rechtsgüter, durch deren Verlust die Person faktisch ihre Rechtsfähigkeit einbüßt.78

6.1.3.1 Einschub: Hegels Lehre vom Notrecht Im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Verhältnis von ›Recht‹ und ›Wohl‹ thematisiert Hegel das ›Notrecht‹, auf welches sich das einzelne Leben »in der letzten Gefahr und in der Collision mit dem rechtlichen Eigenthum eines andern«79 berufen kann − wobei Hegel betont, daß es sich hier um ein Recht und nicht um Billigkeit handelt, um ein allgemeines Recht also, das »Recht des Lebens«80, und nicht um individualisierende Gerechtigkeit.81

74

GPR § 46 Anm. Ebd. § 49. 76 Ebd. § 70. 77 Hoppe 126. 78 Vgl. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 49 ff. 79 GPR § 127. 80 Ringier 60. 81 Kant unterscheidet zweierlei Recht: ein Recht in »enger Bedeutung (ius strictum)«, mit dem sich die Befugnis zu zwingen verbindet, und das Recht »im weiteren Sinne (ius latum)«, das mit keiner Befugnis zu zwingen gesetzmäßig verbunden ist. (Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 341 ff. (»Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre«). Die Billigkeit, die, wie das von Kant im selben Zusammenhang erörterte Notrecht auch, zum Recht im weiteren Sinne zu rechnen ist, ist für Kant ein »Recht ohne Zwang«, das Notrecht hingegen ein »Zwang ohne Recht«. Die Billigkeit, so führt Kant weiter aus, stelle durchaus für den, der sich auf sie beruft, »sein Recht« dar, nur daß er dieses Recht nicht einklagen könne; die Billigkeit ist demnach bloß »eine stumme Gottheit, die nicht gehöret werden kann«, da sich der Richter im entsprechenden Fall nicht auf verbindliche Rechtsbestimmungen berufen könne. Der Vergleich zeigt, daß Hegels Lehre vom Notrecht nicht im eigentlichen Sinne mit dem (noch von Kant bestimmten) ius necessitatis zusammenfällt. Während 75

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Hegels Überlegungen zu dem, was sich in der »Not« offenbart – nämlich die Endlichkeit und der Widerspruch zwischen den beiden abstrakten und für sich genommen einseitigen Bestimmungen von ›Recht‹ und ›Wohl‹82 – sind Ausdruck der fortschreitenden Konkretion dieser zunächst abstrakt gefaßten Begriffe; so vertieft sich die Bestimmung des Lebens hier nun zum »Wohl in seiner wirklichen Bestimmtheit«, und die Seite der Besonderheit erhält damit »eine höhere Berechtigung gegen die abstrakte Seite des Rechts.«83 Kant beispielhaft die »Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens« ins Auge faßt, deren Tragik darin besteht, gegebenenfalls »einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen« und den paradigmatischen Notrechtsfall im Sinne »einer erlaubten Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte« konstruiert, geht Hegel, wie oben zu zeigen ist, von der Kollision zwischen Leben und Eigentum und damit von konkreteren Konflikten und Gegensätzen aus, die auf der Grundlage der bestehenden sozialen Verhältnisse erwachsen. (Vgl. Domenico Losurdo: Hegel und die Freiheit der Modernen. A. a.O. 119.) Das von Kant aufgegriffene, aus der scholastischen Kasuistik stammende Beispiel zweier Schiffbrüchiger, von denen einer den anderen von dem Brett stößt, an welches er sich klammert, um sich selbst zu retten, bringt seiner Ansicht nach den Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst zum Ausdruck. Kant stellt nun die Behauptung auf, daß es sich im angegebenen Fall zwar um subjektive, nicht aber um eine objektive Straflosigkeit handelt, was genauer bedeutet, daß die Tat zwar »unstrafbar (inpunibile)«, aber damit nicht »unsträflich (inculpabile)«, der Schiffbrüchige also, der sein Leben auf Kosten eines anderen rettet, schuldig, aber nicht strafbar sei. Die von Kant angeführte Begründung ist indes interessant: Die Wirkung des Strafgesetzes (nämlich die abschreckende Furcht vor dem richterlichen Todesurteil) könne nicht vorausgesetzt werden, da im angeführten Fall der zwei Schiffbrüchigen die Furcht vor dem Übel, das gewiß ist, die Furcht vor dem noch ungewissen Übel jederzeit überwiege (vgl. ebd. 343). Für Kant gilt damit, daß es keine Not geben könne, welche das, was unrecht wäre, als gesetzmäßig erscheinen ließe. Billigkeit wie Notrecht wären dann in gewisser Weise als rechtsfreie Räume inmitten des Rechts zu bezeichnen, da sie zwar einen subjektiven, aber keinen objektiven Rechtsanspruch begründen; im Falle der Billigkeit wird das, was jemand für sich selbst »mit gutem Grunde für Recht erkennt, vor einem Gerichtshofe nicht Bestätigung finden«, und im Falle des Notrechts wird er für das, »was er selbst an sich als unrecht beurteilen muß, von demselben Nachsicht erlangen« (ebd. 344) können. Wenn soeben gesagt wurde, daß es Kant um den Nachweis dessen geht, daß es kein ›unmoralisches‹ Recht geben könne, so ist hier zugleich daran zu erinnern, daß es Hegel dagegen darauf ankommt, (auch) das Gegenteil zu betonen: Am Beispiel des heiligen Crispinus (vgl. Ilting, Bd. 3. 399), der Leder gestohlen hat, um daraus Schuhe für die Armen zu fertigen, macht er deutlich, daß sich eine unrechtliche Handlung nicht durch die ihr zugrundeliegende gute moralische Absicht rechtfertigen lasse. Diese Ansicht Hegels – auch wenn er selbst eingesteht, daß sie hart erscheinen mag – ist durchaus schlüssig, wenn man bedenkt, was Hegel in § 126 der Grundlinien sagt. Dort heißt es nämlich, daß das Recht der Besonderheit (die Sphäre des Moralischen) als ein anerkanntes immer schon auf allgemeine Rechtsverhältnisse verweist; das Recht der Besonderheit könne sich daher auch gar nicht »im Widerspruche [mit] dieser ihrer substantiellen Grundlage behaupten«. Das ›Wohl‹ hat daher nur ein Recht als Dasein eines Freien, d. h. in seiner subjektiven Freiheit Anerkannten. 82 Vgl. GPR § 128. 83 Ringier 60.

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Der von Hegel (der Nachschrift Hotho zufolge) angeführte Fall des Notdiebstahls, welcher ein Notrecht begründet84, bezeichnet daher auch im eigentlichen Sinne nicht eine Kollision zweier gleichberechtigter Interessen, sondern es stehen sich auf der einen Seite »die unendliche Verletzung des Daseyns und darin die totale Rechtlosigkeit«, die Persönlichkeit selbst, und »auf der andern Seite nur die Verletzung eines einzelnen beschränkten Daseyns der Freyheit«85 dessen gegenüber, dem ein Teil seines Eigentums genommen wird. Gegenüber stehen sich folglich »das Recht als solches« (weil mit dessen Negation die Rechtlosigkeit im vollen Umfang gesetzt ist, was das Recht selbst als in sich sinn- und wertlos erscheinen ließe) und die »Rechtsfähigkeit« eines einzelnen Eigentums.86 Der angeführte Fall des Notdiebstahls impliziert darüber hinaus für Hegel auch keine Verletzung des Rechts als Recht und damit folglich auch nicht die Verletzung der Anerkennungsbeziehung, die Hegel in die Bestimmung des Verbrechens aufnimmt.87 Außerdem ist der freiheitliche Spielraum des in äußerster Not handelnden Diebes stark eingeschränkt, was grundsätzlich das Urteil über die bewußte Vorsätzlichkeit zum Zeitpunkt der Tat − insbesondere wenn man den Unrechtsvorsatz darunter subsumiert – fraglich erscheinen läßt. Die Handlung selbst ist zwar Unrecht in dem Sinne, daß sie ein beschränktes Recht verletzt, aber, so wird in einer Nachschrift überliefert, jeder Mensch hat nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht zu dieser unrechtlichen Handlung88 in einer so außerordentlichen Konfliktsituation, die sich allerdings »auf das Itzt [der] Noth der Lebenserhaltung« beschränkt. Andererseits, so Hegel, läßt sich ein ›Notrecht‹ nicht allein in lebensbedrohlichen Extremsituationen geltend machen, sondern es begründet gleichermaßen die »Wohlthat der Competenz«, den Rechtsanspruch also, daß etwa einem Handwerker das Handwerkszeug (die Grundlage seiner Subsistenz) nicht gepfändet werden darf, da es als »Möglichkeit seiner – sogar standesmäßigen Ernährung dienend, angesehen wird.«89 Hegels Bemerkungen zum Notrecht erweisen sich auf diese Weise − jedenfalls im Gegensatz zu den Überlegungen Kants und Fichtes hinsichtlich des ius necessitatis − als ausgesprochen sozialkritisch. Es sei gar nicht nötig, in kasuistisch konstruierten 84

Vgl. Ilting, Bd. 3. 400. GPR § 127. 86 Ebd. 87 Vgl. ebd. § 97. 88 Vgl. Ilting, Bd. 3. 400 f. Obgleich Hegel hier sicherlich den Einzelfall vor Augen hat, ergäbe es ein interessantes Szenario, seine Bestimmung des Notrechts auf die globale Situation zu übertragen. 89 GPR § 127. 85

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Fällen nach einem Rechtsmaßstab für unrechtes Verhalten in Extremsituationen zu suchen; die bürgerliche Gesellschaft biete durchaus Anschauungsmaterial genug: Sie zeige »bei großer Bildung des Unglücks eine so unsägliche Menge […]. Des Unglücks Vieler wäre mit geringen Mitteln abzuhelfen, die aber im freien Eigenthum Anderer sind. So sieht man den Kampf der Noth, und dicht daneben die Mittel, die ihr abzuhelfen vermöchten; beide aber sind durch eine unübersteigliche Kluft geschieden. Diese Kluft ist das Recht, dessen Widerspruch gegen das Wohl keine bloß casuistische Collision ist, sondern ein immer vorhandener, und nothwendiger Gegensatz, und am auffallendsten grellsten in der gebildeten Gesellschaft.«90 – Und die Not, mit der der Arme unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und den sich damit einstellenden wirtschaftlich-sozialen Extremen zu kämpfen hat, ist keine natürlich bedingte Not – wie der auch von Kant angeführte Fall (welcher auf den griechischen Skeptiker Karneades zurückgeht und durch Cicero überliefert ist) zweier Schiffbrüchiger, die sich beide auf ein Brett zu retten versuchen, das nur einen von ihnen tragen kann91 –, sondern eine gesellschaftlich erzeugte. Der angesprochene Unterschied zwischen den je noch einseitig gefaßten Bestimmungen von ›Recht‹ und ›Wohl‹, der sich in dieser Einseitigkeit zum Gegensatz fortentwickelt, ist jedoch ein Gegensatz, der für Hegel in der Sphäre des Rechts als des »wirklichen concreten Geistes«92 als aufgehoben anzusehen ist. Das dem Leben sein Recht bestreitende Recht geriete, wenn man Hegels Überlegungen zum Notrecht anhand der Vorlesungsnachschriften rekonstruieren will, in Widerspruch mit sich selbst: (allgemeines) Recht und (besonderes) Wohl müssen sich in sittlich-vernünftigen Rechtsinstitutionen nach Maßgabe der Bestimmung des »Guten« als der Übereinstimmung des

90

Ilting, Bd. 3. 398. Vgl. Wolfgang Schild: Hegels Lehre vom Notrecht. – In: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus. Herausgegeben von Vittorio Hösle. Hamburg 1989. 146– 163; hier 148 f. Schild weist darauf hin, daß dieser Fall von Hegel nur in der Heidelberger Vorlesung von 1817/18 (Wannenmann) angeführt wird. Diese Situation, in der sich nur einer der beiden in Lebensgefahr Schwebenden retten kann, beide sich also in der Gefahr der vollkommenen Rechtlosigkeit befinden – beide demnach auf das »bloße Leben als die Möglichkeit des Rechts« (ebd. 155), der Rechtsfähigkeit überhaupt, reduziert sind –, scheint insofern auch wenig geeignet, ein Notrecht zu begründen, handelt es sich doch vielmehr um einen Raum jenseits von Recht und Unrecht (vgl. ebd. 149). Hegels Analyse dieser Situation, in der letztlich keiner der beiden Schiffbrüchigen für sich ein Recht darauf reklamieren kann, den anderen zu töten, ist es Schild zufolge auch, aufgrund derer Hegel diesen klassischen Fall in seinen späteren Ausführungen zur Begründung eines Notrechts nicht mehr eigens anführt (vgl. ebd. 150). 92 GPR § 126 Anm. 91

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Allgemeinen mit der Subjektivität zusammenschließen93, denn das »Verständige zertrümmert sich auf der Spitze des Gegensatzes.«94 Wille − und das Recht ist Ausdruck des allgemeinen Begriffs des Willens − und Persönlichkeit (also: Recht und Leben) sind demnach für Hegel nicht als ein Gegensatzpaar zu begreifen, denn die Persönlichkeit bildet für ihn die Grundlage aller Rechtsverhältnisse. Aber kehren wir nach diesem Exkurs wieder zur Ausgangsfrage einer strafrechtlichen Unterscheidung von Eigentumsdelikt und Körperverletzung zurück. Daß das unmittelbare leibliche Dasein die reale Möglichkeit alles weiter bestimmten Daseins ist, hat eine grundsätzliche rechtliche Folge. Obgleich Leben und Körper nach Hegel an den Willen des Menschen gebunden sind, stellt es sich doch für andere so dar, daß ich »wesentlich ein Freyes in meinem Körper [bin], wie ich ihn unmittelbar habe.«95 Und weil der Mensch als freier zugleich ein lebendiges Dasein hat − Seele und Leib, insofern ich lebe, nicht geschieden sind, wie Hegel auch sagt96 −, gilt der Rechtssatz: »Meinem Körper von Andern angethane Gewalt ist Mir angethane Gewalt.« Der Leib ist das »Daseyn der Freyheit und Ich empfinde in ihm.« Es ist daher diese unmittelbare Gegenwart und Wirklichkeit in meinem körperlich-sinnlichen Dasein, welche den Unterschied ausmacht zwischen »persönlicher Beleidigung und […] Verletzung meines äußern Eigenthums, als in welchem mein Wille nicht in dieser unmittelbaren Gegenwart und Wirklichkeit ist.«97 Hegel unterscheidet hier zweierlei Perspektiven, die beide nicht aufeinander zurückzuführen sind und letztlich auf die Anerkennungsproblematik verweisen. Die Person, insofern sie »für sich seyende[r] unendliche[r] Wille«98 ist, kann grundsätzlich, wie bereits gesagt, von allem, so auch von ihrem äußeren Dasein, abstrahieren (und, anders als das Tier, Selbstmord begehen) und: ich kann »die besondere Empfindung aus mir hinaushalten und in den Fesseln freyn seyn«99. Diese ›Freiheit‹ des Menschen, die nicht sinnlich in Erscheinung tritt, bezieht sich also auf den Geist, auf das Subjekt in seiner (leiblich vermittelten) Selbstbeziehung. Die Freiheit des Menschen ist für den anderen also von seinem unmittelbaren leiblichen Sein nicht zu

93

Und an dieser Stelle seiner moraltheoretischen Überlegungen geht Hegel ja dann auch folgerichtig auf das Gute, vorerst das Gute in Beziehung auf die Subjektivität des Willens ein (vgl. GPR §§ 128–129). 94 Hoppe 127. 95 GPR § 48. 96 Vgl. ebd. § 48 Anm. 97 Ebd. 98 Ebd. § 41. 99 Ebd. § 48.

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trennen und dieses daher als ein ›Dasein persönlicher Freiheit‹ zu respektieren. Das Moment der wechselseitigen Anerkennung würde sich dann darauf beziehen, sich selbst in der Erkenntnis der Freiheit des andern selbst als frei zu begreifen; und dieses Wissen um die Freiheit des andern in der Erkenntnis seiner Gleichheit mit ihm als Menschen darf gerade nicht an äußerliche Merkmale, wie z. B. die Hautfarbe, gebunden sein. Wenn der Mensch dem anderen als ein freier immer auch in seinem unmittelbaren leiblichen Dasein begegnet, so haben Körper und Eigentum Hegel zufolge insofern eine entscheidende Gemeinsamkeit, als beide willentlich in Besitz genommen werden müssen. Der Mensch ist nach der unmittelbaren Seite seiner Existenz zunächst »an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Aeußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtseyn sich als freyes erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigenthum seiner selbst und gegen andere.«100 Denn freie Existenz, so erläutert Hegel in der Anmerkung zu diesem Paragraphen, ist nur in der Aufhebung der unmittelbaren Natürlichkeit. »Was der Mensch seinem Begriffe nach ist, soll er in die Wirklichkeit setzen, wodurch es erst seines wird.«101 Freiheit im Sinne geistiger Selbstbezüglichkeit ist Hegel zufolge also vermittelt über die Aneignung des eigenen Körpers; durch diese Aneignung wird der Körper zum Eigentum einer Person, und die Körperverletzung zugleich zum Eigentumsdelikt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird auch Hegels Bemerkung, wer den Leib verletze, verletze auch die Seele des Menschen102 noch deutlicher: Wo der menschliche Körper verletzt wird, leidet insofern auch die Seele Schaden, als sie den Körper erst gebildet hat. Und analog zur Natur, die durch den Menschen in Besitz genommen, formiert und bearbeitet werden muß, um Eigentum zu sein, steigert sich folglich auch der ›Wert‹ des menschlichen Körpers mit dem Grad seiner Ausbildung. Die allgemeine Wertsubstanz stellt damit eine Qualität dar, die dem Körper und den Dingen nicht von Natur aus zukommt; es ist in beiden Fällen die Arbeit und die zweckgerichtete Formierung, die das innere Allgemeine sowohl des Körpers, insofern er vom Menschen in seiner Geistigkeit gebildet und zum Ausdruck seiner selbst gemacht wurde, als auch der einzelnen Sache darstellt.103 Diese ausbildende Aneignung des Körpers ist im Sinne der Objektivierung persönlicher Freiheit zu verstehen; es wird dadurch das, was nur erst im Modus der Möglichkeit ist, in die Wirklichkeit

100 101 102 103

Ebd. § 57. Hoppe 65. Vgl. GPR § 48. Vgl. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 53.

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gesetzt. Damit wird es nicht allein »als das Seinige gesetzt«, sondern zugleich gewinnt der Körper »die Form der Sache« und wird als »Gegenstand vom einfachen Selbstbewußtseyn unterschieden«104. Ausgehend von Hegels Definition des Verbrechens im Sinne einer Verletzung des Rechts als Recht ergibt sich zunächst, daß das Verbrechen − gleichviel, ob es der Entzug einer Sache oder Körperverletzung ist – als Verletzung der Rechtsfähigkeit und damit der Freiheit und des ›Unendlichen der Person‹ anzusehen ist. Folglich müßten beide Arten des Verbrechens auch gleich schwer wiegen. Eine solche Vorstellung, »welche die unendliche Persönlichkeit in jede Verletzung legt«105, bleibt jedoch, so Hegel, auf dem Standpunkt der Abstraktion des freien Willens und der Persönlichkeit stehen. Denn der daseiende Wille, welcher allein verletzt werden kann, ist immer schon in die Sphäre quantitativer und qualitativer Bestimmungen getreten; gegenüber der Vorstellung, daß jedes Verbrechen gleich schwer wiege und daher gleichermaßen drakonisch bestraft werden müsse, erinnert Hegel daran, daß es hinsichtlich der objektiven Bestimmung des Verbrechens durchaus einen Unterschied ausmacht, ob ein solches ›Dasein der persönlichen Freiheit‹ in seinem ganzen Umfang (wie im Falle des Mordes) oder nur zu einem Teil verletzt wurde. Mit Blick auf den Unterschied zwischen Raub und Diebstahl heißt es bei Hegel: Der Raub unterscheidet sich vom Diebstahl dadurch, daß »bey jenem Ich auch als gegenwärtiges Bewußtseyn [bin], also als diese subjective Unendlichkeit verletzt und persönliche Gewalt gegen mich verübt ist.«106

6.1.4 Der Vergeltungszusammenhang von Verbrechen und Strafe Das Verbrechen, auf oben dargestellte Weise bestimmt als »erster Zwang«, der von einem »Freyen« ausgeübt wird und in dem die formelle Vernünftigkeit desselben enthalten ist107, verweist damit bereits voraus auf die sich im Moralitätskapitel anschließende Zurechnungslehre. Das Verbrechen, so wurde gesagt, ist ein »negativ-unendliches Urtheil in seinem vollständigen Sinne«, durch das nicht nur das Besondere, sondern zugleich das Allgemeine, d. h. die Rechtsfähigkeit der verletzten Person negiert wird. Auf diese von Hegel vorgeschlagene abstrakt-rechtliche Definition des Verbrechens wird verschiedentlich der Unterschied zwischen dem ›Erfolgsunwert‹ und

104 105 106 107

GPR § 57. Ebd. § 96 Anm. Ebd. Vgl. ebd. § 95.

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dem ›Handlungsunwert‹ bezogen.108 Der Erfolgsunwert bezeichnet die Seite der Aufhebung des Geltungsanspruchs des allgemeinen Willens; mit der Rechtsverletzung wird eine allgemeine Geltung behauptet, die sich innerhalb der Objektivität der allgemeinen Rechtsverhältnisse als Schein erweist: Der Erfolgsunwert besteht in einer Rechtsgutverletzung, mit der sowohl der besondere Wille des Opfers als auch der allgemeine Wille in seinem Dasein verletzt wird. Der Handlungsunwert bezieht sich demgegenüber auf die der Handlung innewohnende ›Maxime‹, in welcher die Universalisierbarkeit dieser Absicht oder das eigene Verhalten als eine Norm behauptet wird, denn die Handlung ist, wie gesagt, Ausdruck ›formeller Vernünftigkeit‹ − was bedeutet, daß die in der rechtsverletzenden Handlung aufgestellte Norm ein »nur von ihm [dem Handelnden] anerkanntes Gesetz« darstellt, »ein Allgemeines, das für ihn gilt«109 − und steht damit in notwendiger Beziehung auf ein Allgemeines, zu dem sie sich − obgleich sie »einzeln, momentan, durch Zeit und Raum beschränkt«110 ist − als ein in sich Allgemeines verhält. Dieser mit der rechtsverletzenden Handlung erhobene Geltungsanspruch hebt sich allerdings Hegel zufolge selbst auf. Aber wie ist das zu verstehen? – Die Unrechtsmaxime folgt der logischen Form des negativ-unendlichen Urteils, 108

So etwa von Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 69 ff; Klesczewski weist jedoch einen Wandel hinsichtlich der Bedeutung beider unter den Bedingungen der »Krise« der bürgerlichen Gesellschaft nach (vgl. ebd. 219 ff.); vgl. ferner Georg Mohr: Unrecht und Strafe. A. a.O. 103 ff. Die sich aus der Unterscheidung dieser Begriffe ableitenden Lehren werden außerdem von Hans-Christoph Jahr dargestellt und kritisch diskutiert: Die Bedeutung des Erfolges für das Problem der Strafmilderung beim Versuch. Ein strafrechtlich-rechtsphilosophischer Begründungsversuch auf der Grundlage der Lehre Hegels. Frankfurt a.M. 1981. 25 ff. Um das oben Gesagte hinsichtlich dieser Unterscheidung zu ergänzen: Die Lehre vom Erfolgsunwert begreift das Unrecht von seiner Wirkung auf den Verletzten her anhand objektiver Gesichtspunkte. Da das Unrecht Verletzung eines Rechtsgutes ist, das Rechtsgut jedoch eine Gegebenheit außerhalb der Täterpsyche darstellt, ist zugleich die objektive Ordnungsfunktion des Rechts der Ausgangspunkt zur Bestimmung des Unrechts. Das habe jedoch zur Folge, so Jahrs Kritik, daß es strafrechtlich betrachtet nicht auf die »Reorganisation des Täters« ankomme, sondern auf die der Rechtsgemeinschaft (ebd. 26). Die Lehre vom Handlungsunwert hingegen, die ohne die ›finale Handlungslehre‹ Hans Welzels nicht denkbar ist (vgl. dazu den Abschnitt 6.3.2.2 in dieser Arbeit), geht davon aus, daß die Elemente des Rechtsgüterschutzes das strafrechtliche Unrecht nicht erschöpfen, der subjektive Tatbestand (Vorsatz) sei als generelles subjektives Unrechtselement stets mit zu berücksichtigen. Welzel unterscheidet daher zwischen zwei verschiedenen Wertaspekten der menschlichen Handlung: dem ›Erfolgs‹oder ›Sachverhaltswert‹ und dem ›Aktwert‹, wobei allerdings beide Aspekte für das Strafrecht relevant seien (vgl. ebd. 29). Unrecht ist damit immer täterbezogenes Unrecht, da der Mensch den Normadressaten darstellt, wobei der Erfolg lediglich »limitierendes«, nicht aber »konstitutives« Moment ist (ebd. 30). 109 Enzyklopädie § 500. 110 Ilting, Bd. 3. 315.

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in welchem eine affirmative Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat tatsächlich gar nicht mehr vorhanden ist111, wodurch sich schließlich die Form des Urteils selbst aufhebt. Das unendliche Urteil (um ein Beispiel zu nennen: ›Die Rose ist kein Elefant‹112) ist zwar ›richtig‹ oder ›wahr‹, aber abgesehen davon »widersinnig und abgeschmackt«, denn es wird zwar das Prädikat negiert, ohne daß jedoch eine konkrete Bestimmtheit angegeben wird. Das Verbrechen wird von Hegel an dieser Stelle der Logik als ein Beispiel für ein solches negativ-unendliches Urteil angeführt; es hat zwar »die Richtigkeit […], daß es eine wirkliche Handlung ist, aber weil sie sich auf die Sittlichkeit, welche ihre allgemeine Sphäre ausmacht, durchaus negativ bezieht, ist sie widersinnig.«113 Das sich im unendlichen Urteil als einzeln setzende Einzelne definiert sich und kann sich nur solange als Einzelnes definieren, wie es sich ex negativo noch auf das Allgemeine bezieht; sofern es jedoch dieses Allgemeine im unendlichen Urteil des Verbrechens vernichtet, hebt es mit ihm zugleich seine eigene Bestimmung auf.114 Die damit angesprochene »Nichtigkeit«, die das Verbrechen trotz seiner positiven, äußerlichen Existenz auszeichnet, bildet den Kern der Hegelschen Straftheorie. Diese ›Nichtigkeit‹ ist in zweifacher Hinsicht, jedoch beide Male im Sinne einer Selbstwidersprüchlichkeit zu verstehen (wobei sowohl der oben angesprochene ›Erfolgsunwert‹ wie auch der ›Handlungsunwert‹ als Momente der Selbstwidersprüchlichkeit erscheinen): Die Nichtigkeit des Verbrechens besteht darin − so die Nachschrift Hotho –, das »Recht als Recht aufgehoben zu haben«115. Da das Recht jedoch dieser Nachschrift zufolge als Absolutes »unaufhebbar« ist, so ist die Äußerung des Verbrechens in sich selbst nichtig. Die verbrecherische Handlung ist (unter den Bedingungen einer allgemein anerkannten Rechtsordnung) ihrer Natur nach lediglich eine Negation ohne rechtsetzende Folgen. Der Vorsatz, das Recht aufzuheben, scheitert damit an der Existenz des Rechts selbst. ›Nichtig‹ würde dann soviel bedeuten wie: unmöglich.116 Auch in den Nachschriften Wannenmanns und Homeyers wird eine Lesart dessen überliefert, was darunter zu verstehen sei, daß das Verbrechen in sich selbst ›nichtig‹ ist. Dort heißt es, daß der Verbrecher in der rechtsverletzenden Handlung nicht nur das Recht, sondern »auch seinen an sich seien111

Vgl. GPR § 95. Vgl. GW 12. 70. 113 Ebd. 114 Vgl. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 74. 115 Ilting, Bd. 3. 306. 116 So auch Kurt Seelmann: Hegels Straftheorie in seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. A. a.O. 20 f. 112

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den Willen [verletzt].«117 Dieses Argument Hegels – von Kurt Seelmann als das »Anerkennungsargument«118 bezeichnet −, demzufolge das Verbrechen in seiner positiven Existenz in sich nichtig ist, weil es in seinem Geltungsanspruch zugleich die allgemeine Anerkennungsbeziehung als das Fundament des Rechts verletzt, drückt den – modern gesprochen − ›performativen Selbstwiderspruch‹ des Handelnden aus: Er vernichtet willentlich nicht nur ein besonderes, sondern ein allgemeines Dasein des Willens, in dem auch er sein Dasein hat, so daß er letzten Endes sich selbst vernichtet. Darin, daß der Verbrecher den anderen in seinem Personsein verletzt, er selbst aber nur Person sein kann, wenn er als solche von ihm anerkannt wird, verletzt er sich selbst in seinem Personsein. Das Argument für die Strafe im Sinne der Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung liegt von daher auf der Hand: Auch der Täter muß ein Interesse daran haben, daß die verletzte Anerkennungsbeziehung wieder hergestellt wird, da sie auf Wechselseitigkeit beruht und ihn selbst in seinem Personsein schützt.119

117

Ilting, Bd. 1. 237. Kurt Seelmann: Versuche einer Legitimation von Strafe durch das Argument selbstwidersprüchlichen Verhaltens des Straftäters. – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. A. a.O. 81–97; hier 88 f. 119 Seelmann kritisiert mit Blick auf das von Hegel hier vorgebrachte Argument ganz grundsätzlich, daß nicht jedes Verbrechen als eine Verletzung der Anerkennungsbeziehung aufzufassen sei (etwa nicht im Falle der Fahrlässigkeit oder der sogenannten ›Vorfeldkriminalisierung‹), aber selbst wenn man dabei bleiben wolle, daß als Verbrechen nur gelten solle, was die Anerkennungsbeziehung tatsächlich verletzt, stellen sich, wie Seelmann herausgearbeitet hat, bestimmte Legitimationsprobleme ein. Zwei der von ihm genannten Aspekte will ich kurz nennen (vgl. dazu Kurt Seelmann: Wechselseitige Anerkennung und Unrecht. A. a.O. 70 ff.): Zum einen handelt es sich um Hegels These, daß die Verweigerung der Anerkennungsbeziehung zwangsläufig alle Personen der Rechtsgemeinschaft trifft. Seelmann verweist auf GPR § 218, welcher besagt, daß unter den Bedingungen der in sich gefestigten bürgerlichen Gesellschaft die Bedeutung der Verletzung gemindert wird (dazu später). Ein zweites, aus meiner Sicht plausibleres Argument gegen Hegels These, daß jede Rechtsverletzung die bewußte oder unbewußte Verletzung der Anerkennungsbeziehung darstellt, sieht Seelmann in denjenigen Phänomenen, die bereits Ausdruck einer nicht gelungenen Anerkennungsbeziehung sind, wie z. B. die »typische Unterschichtkriminalität«, die neben anderen Faktoren bedingt sei durch mangelnde Partizipationsmöglichkeiten des Einzelnen. Sie stellt damit »zwar ein den Einzelnen treffendes Unrecht [dar], das durch gesellschaftliches Unrecht aber zum Teil oder ganz aufgewogen wird.« (Ebd. 73) − Zu dem von Hegel vorgebrachten ›Anerkennungsargument‹ vgl. ferner Esteban Mizrahi: Die Wiederherstellung des Rechts. Zu Hegels Theorie der Strafe. – In: Recht ohne Gerechtigkeit? Hegel und die Grundlagen des Rechtsstaates. Herausgegeben von Mirko Wischke und Andrzej Przylebski. Würzburg 2010. 227–241; bes. 231 ff. und Igor Primoratz: Banquos Geist. Hegels Theorie der Strafe. Bonn 1986. 39 ff. (und 67 ff., in dem Primoratz ganz allgemein die Legitimität der Vergeltungstheorie diskutiert). 118

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Strafe als Recht begründet sich für Hegel also in der Notwendigkeit, daß sich die Nichtigkeit des Verbrechens in seiner Aufhebung zu manifestieren habe, die durch die Strafe bewirkt wird. Weil der Verbrecher zugleich seine eigene Anerkennung negiere, sei die Strafe sein Recht.120 Die Strafe sei die tatsächlich in Existenz tretende Vernichtung des Verbrechens; sie richte sich auf die Verletzung des Rechts, die im Dasein des verbrecherischen Willens ihre »positive Existenz« hat.121 Durch den äußerlichen Schaden könne das Recht als Recht, das zwar Institutionen hat, die es exekutieren, das aber an sich selbst keine äußerliche Existenz habe, tatsächlich nicht verletzt werden; weder im Handlungserfolg noch am an sich seienden Willen selbst könne die Rechtsverletzung eine positive Existenz haben.122 Und so stellt Hegel die Forderung auf, daß die Vergeltung von der positiven Existenz der Verletzung in Gestalt des besonderen Willens des Verbrechers ausgehen müsse – und, wie gesagt, nicht vom verursachten Schaden. In der »Verletzung dieses als eines daseyenden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde«123. »Die Wirklichkeit des Verbrechens« nämlich »sitzt da, wo vorhanden ist die Realität des Subjektiven und Objektiven«124, also in der Handlung desjenigen, der gegen das Recht verstößt. Strafe bezeichnet insofern den Prozeß einer »Negation der Negation«, vermittels dessen sich das Recht in seiner Geltung wiederherstellt, indem es das Andere seiner selbst aufhebt. Unabhängig von allen relativen Strafzwecken liegt die Begründung der Gerechtigkeit der Strafe für Hegel einzig und allein darin, daß ein Unrecht geschehen ist, dessen beanspruchte Geltung es zu verletzen hat, damit es nicht gilt; daher wird Hegels Begriff der Strafe, ebenso wie der Kantische, der ›absoluten Straftheorie‹ zugerechnet. − ›Absolut‹ ist dieser Begriff der Strafe deswegen, weil er nicht über die rechtsimmanente Perspektive hinausgeht; der absolute Strafbegriff zielt lediglich auf die Begründung der Strafe und begründet damit allererst die Wahrheit

120

Vgl. GPR § 100. Daher betont Mohr auch ganz zu recht, daß Strafe keinen Schadensausgleich leisten kann − wie dies bestenfalls der zivilrechtliche Schadensersatz tut (vgl. GPR § 98) −, vielmehr wird in der Strafe demonstriert, daß das Recht in Geltung ist. (Vgl. Georg Mohr: Unrecht und Strafe. A. a.O. 106 f.) Hegel argumentiert damit nicht im Sinne von Strafe als einer ›Schadensvergeltung‹ (»noxae vindicta«), wie sie im dritten nachchristlichen Jahrhundert von dem römischen Juristen Ulpianus begründet wurde und an welcher noch von verschiedenen Strafrechtlern des 16. und 17. Jahrhunderts festgehalten wurde. 122 Vgl. GPR § 99. 123 Ebd. 124 Hoppe 90. 121

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der relativen Straftheorien, gerade indem er ihre Grenzen markiert.125 Nach Maßgabe dieser Begründung von Strafe kritisiert Hegel den Richter und späteren Hallenser Rechtsgelehrten Ernst Ferdinand Klein (1744–1810), der in seinen Grundsätzen des gemeinen deutschen peinlichen Rechts die Strafe als das »auf die gesetzwidrige Handlung folgende Uebel, insofern es zur Bewirkung künftiger gesetzmässiger Handlungen oder Unterlassungen gebraucht wird«126, bezeichnet. Die Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe liegt bei Klein zunächst einmal darin, daß die unerlaubte Handlung mit einer Strafandrohung versehen war127 (so auch bei Feuerbach), und zum andern setzt die »eigentliche Strafe […] voraus, daß das [mit der Strafe verbundene] Uebel mit der unerlaubten Handlung zu dem ebengedachten Zwekke [der Prävention, BC] willkührlich sey verbunden worden.«128 – Und eben dies, daß Klein nur eine willkürliche Verbindung beider, nicht aber den »an sich seyende[n] Zusammenhang des Verbrechens und seiner Vernichtung« und entsprechend die Bedeutung von Wert und Vergleichbarkeit beider erfaßt habe, macht Hegel ihm zum Vorwurf.129 Für Hegel sind jedoch weder die Handlung noch die Strafe im Sinne des bloßen Übels aufzufassen, vielmehr gründen beide auf ihre Weise im freien Willen und damit in der Vernunft. Nebenbei sei bemerkt, daß Hegel den Gedanken einer notwendigen Beziehung von Strafe und Verbrechen durch den Begriff des Gesetzes im Rahmen seiner Philosophie des subjektiven Geistes formuliert. Das Gesetz, durch welches das »Innere« eines Dinges, sei es die äußere Natur oder die »sittliche Weltordnung«, erfaßt und strukturiert wird, zeichnet sich für Hegel wesentlich dadurch aus, daß es die gegensätzlichen Bestimmungen des Dinges in »einer untrennbaren Einheit, in einem notwendigen inneren Zusammenhange unterschiedener Bestimmungen«130 in sich enthält.131 Anders als 125

So Wolfgang Schild: Ende und Zukunft des Strafrechts. – In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 70 (1984). 71–112; hier 104. 126 Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze des gemeinen deutschen und preussischen peinlichen Rechts. Halle 1796 (=ND Goldbach 1996). § 9. 127 Das Übel der Strafe wird von Klein so gerechtfertigt, daß »die blosse Drohung fruchtlos seyn würde, so muss auch dem Beleidigten erlaubt seyn, sie an dem dadurch nicht abgeschreckten Beleidiger wirklich zu vollziehen.« (Ebd. § 8) 128 Ebd. § 9. Die oben zitierte »eigentliche Strafe« wird von Klein von der »Züchtigung« unterschieden, die die Besserung des Delinquenten zum Zweck habe. Strafe, so Klein weiter, ist als eine Form der »Selbstvertheidung« zu rechtfertigen und »nicht als blosse Rache, um ein Uebel mit dem andern zu vergelten«. 129 Vgl. GPR § 101 Anm. 130 Enzyklopädie § 422 Z. 131 Hegel kommt auf das ›Wesen des Gesetzes‹ im Zusammenhang mit dem Übergang vom verständigen Bewußtsein zum Selbstbewußtsein zu sprechen: Angesichts eines Gegenstandes, welcher in seinen gegensätzlichen Bestimmungen zugleich mit sich identisch

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die Kategorie der ›Kraft‹ oder der ›Ursache‹ ist dieses Innere eines Dinges nicht mehr ein »abstrakt Identisches, in sich Ununterschiedenes«132, das vom Gesetz erfaßte »wahrhafte Innere« muß vielmehr als in sich selbst in seine Unterschiede dirimiert aufgefaßt werden: »So ist durch das Gesetz mit dem Verbrechen notwendigerweise Strafe verbunden; dem Verbrecher kann diese zwar als etwas Fremdes erscheinen, im Begriff des Verbrechens liegt aber wesentlich dessen Gegenteil, die Strafe.«133 Daher sind diese Gesetze – ebenso wie das ›Urteil‹ − für Hegel auch nicht in bloß subjektiver Weise zu nehmen, sondern sie sind im Gegenteil »die Bestimmungen des der Welt selber innewohnenden Verstandes«, in denen sich das »verständige Bewußtsein« gegenständlich wird. Das Gesetz, insofern es als das Verhältnis allgemeiner und bleibender Begriffsbestimmungen aufzufassen ist, hat seine »Notwendigkeit an ihm selbst«134 beziehungsweise an dem von ihm explizierten Begriff selbst. Die Strafe tritt dem Verbrechen Hegel zufolge also ebensowenig bloß äußerlich hinzu wie die ›Zurechnung‹ der Handlung äußerlich hinzutritt, sondern sie ist das notwendige Komplement des Verbrechens. Das Verhältnis beider Bestimmungen, die sich wechselseitig integrieren und fordern und sich schließlich zu einem inneren »Unterschied, der keiner ist« formieren, drückt sich im Gesetz aus. Insofern kann der Staat den »Begriff des Verbrechens, das Vernünftige desselben an und für sich, mit oder ohne Einwilligung der Einzelnen« geltend machen.135 Recht und Gesetz sprechen sich jedoch nicht ist, entdeckt das Bewußtsein ein »Gegenbild seines Selbstes« und steht in dieser Entdeckung auf dem »Sprunge«, sich zum Selbstbewußtsein als solchem zu entwickeln (vgl. Enzyklopädie § 423). 132 Enzyklopädie § 422 Z. 133 Ebd. 134 Ebd. § 423. 135 GPR § 100 Anm. Hegels Hinweis darauf, daß der Einzelne in seine Bestrafung nicht explizit einwilligen müsse, richtet sich kritisch gegen Cesare Beccaria (1738–1794), der in seiner vielbeachteten Schrift Dei delitti e delle pene von 1764 (vgl. § 16; ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von K.F. Hommel unter dem Titel Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen. Breslau 1778; eine aktuellere Übersetzung stammt von Wilhelm Alff, erschienen Frankfurt a.M. 1966) aus kontraktualistischer Sicht gegen die Todesstrafe argumentiert. Beccaria geht davon aus, daß der Gesellschaftsvertrag dem Staat so viel Rechte über den Einzelnen zuerkannt als jeder dieser Einzelnen an ihn übertragen habe, weswegen auch die Einwilligung des Einzelnen in seine Tötung nicht unterstellt werden dürfe und die staatliche Verhängung der Todesstrafe nicht autorisiert sei. (Vgl. dazu Kurt Seelmann: Zur Kritik kontraktualistischer Straftheorien im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts. – In: Ders.: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. A. a.O. 99–121.) Allerdings gehen beide, Beccaria und Hegel, davon aus, daß das Leben grundsätzlich zu jenen unveräußerlichen Gütern zählt, folglich, so Beccaria jetzt im Gegensatz zu Hegel, könne auch kein Mensch einem andern jemals die Befugnis

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selbst aus, sondern manifestieren sich im richterlichen Urteil. Im Urteil des Richters müssen die Momente des Begriffs sowohl als Unterschiede gesetzt sein wie sie aufeinander bezogen werden müssen; insofern ist das Urteil nichts anderes als das »Bestimmen des Begriffs«136. Das Urteil ist keine bloß subjektive Operation, sondern stellt die »ursprüngliche Teilung«137 des Begriffs in seine Momente der Besonderheit, Einzelheit und Allgemeinheit dar. »Alle Dinge«, so heißt es weiter, »sind ein Urteil, − d. h. sie sind Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind«138. Das Urteil des Richters im Sinne eines Rechtsspruches, in dem ein besonderer Fall unter das Allgemeine des Gesetzes subsumiert wird, ist damit zwar ein subjektives Urteil, jedoch liegt es auf der Hand, daß es nur im Sinne eines »apodiktischen Urteils« aufzufassen sein kann, in dem sich – ich verweise hier auf den entsprechenden Abschnitt der vorliegenden Arbeit, in welchem das »Urteil des Begriffs« behandelt wird – die Besonderheit des Subjekts als die konkrete Beschaffenheit seines Daseins aus seiner Bestimmung selbst ergibt, d. h. dem Inhalt des Prädikats selbst entnommen ist. Doch kehren wir zu dem Gegenstand zurück, der uns hier beschäftigt: Hegel hatte an den notwendigen, weil begriffsmäßig zu erfassenden Zusammenhang von Verbrechen und Strafe erinnert, und gerade was die Begrün-

erteilen oder erteilt haben, ihn zu töten. Daher könne die Todesstrafe auch kein Recht darstellen, sondern sie ist für Beccaria vielmehr ein »Krieg der Nation gegen einen Bürger« (ebd.), dessen Vernichtung sie für notwendig oder nützlich erachte. Überdies bemerkt er, daß man sich von der Todesstrafe keinerlei abschreckende Wirkung erhoffen dürfe; die Todesstrafe stelle für die meisten nichts weiter als ein »Schaustück« dar und werde zu einem Gegenstand des mit Verachtung gemischten Mitleids (vgl. ebd. 112). Grundsätzlich ist zu bemerken, daß Beccaria als ein Vertreter der deterministischen Strafkonzeption des 18. Jahrhunderts gilt, die sich aufgrund der Zurückweisung der Vorstellungen von Willensfreiheit, Zurechenbarkeit und moralischer Vorwerfbarkeit gegen die Tradition des Schuldstrafrechts wenden und so auch zur Abwendung vom Vergeltungsgedanken im Strafrecht zugunsten des utilitaristischen Kalküls verschiedener Strafzwecke gelangen. Beccaria zufolge stellt die Strafe ein den sozialen Erfordernissen anpassungsfähiges Hemmungsmittel für den aus seiner Sicht affektgeleiteten Menschen dar. (Vgl. dazu auch den Art. »Strafe« (II. Mittelalter bis 18. Jh.) von G. Hartung im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. 218 ff.; hier 224. Zur Kritik Kants an der von Beccaria vorgetragenen Ablehnung der Todesstrafe vgl. Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 457 f. und zur kantischen Kritik an Beccarias Forderungen vgl. Iring Fetscher: Verbrechen und Strafen. Beccaria, deutscher Idealismus, Marx und Paschukanis. – In: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Herausgegeben von Lorenz Böllinger und Rüdiger Lautmann. A. a.O. 184–195; bes. 184 f.) 136 Enzyklopädie § 165. 137 Ebd. § 166 Z. 138 Ebd. § 167.

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dung von Strafe angeht, kommt es für Hegel »wesentlich auf den Begriff«139 an. Den ›relativen Straftheorien‹, die nicht nach der immanenten Gerechtigkeit der Strafe fragen, sondern nach ihrem Nutzen für die Gesellschaft oder den Täter selbst140, liegt indes – so etwa bei Hugo Grotius − die von Hegel kritisierte Auffassung zugrunde, daß das Unrecht wie die Strafe als ein Übel zu verstehen sind; die Strafe als ein »Leidensübel«, das auf das Unrecht als ein »Handlungsübel« reagiert.141 Allerdings bleibt in dieser Bestimmung die Frage offen, warum auf ein Übel durch Zufügung eines anderen Übels reagiert werden sollte. Der Rechtfertigungsgrund der Strafe, der bereits seit dem 18. Jahrhundert kontrovers diskutiert wird, ist dabei aus der Sicht Hegels 139

GPR § 99 Anm. Die relativen Straftheorien werden heute üblicherweise nach dem die Strafe legitimierenden Zweck entweder in die Theorien einer Spezial- oder Generalprävention unterschieden, wobei erstere bedeutet, daß der Täter durch die Strafe gehindert werden soll, neue Straftaten zu begehen (durch individuelle Abschreckung, Resozialisierung oder Verwahrung und dadurch ›Sicherung‹ der Gesellschaft), Generalprävention hingegen bedeutet, daß alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft durch Strafe von der Begehung von Straftaten abgehalten (›negative Generalprävention‹) oder in ihrem Rechtsbewußtsein gestärkt werden sollen (›positive Generalprävention‹). Die ›positive Generalprävention‹ ist dabei aus der Sicht von Kurt Seelmann als vorherrschend zu begreifen. Ebenso gibt es auch zahlreiche sogenannte ›Vereinigungstheorien‹, in denen etwa die Strafverhängung ›absolut‹, der Strafvollzug hingegen spezialpräventiv legitimiert werden. (Vgl. Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 21 ff.; dort auch zur Kritik an den sogenannten Vereinigungstheorien.) 141 Hugo Grotius: De iure belli ac pacis. Libri tres. Paris 1625 (Liber II, 20, n. 1: »De poenis«, hier zitiert nach der Ausgabe Tübingen 1950. 325 ff., herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Walter Schätzel). »Die Strafe ist in ihrer allgemeinen Bedeutung ein Übel, das man erleidet, weil man ein Übel getan hat.« (Ebd. 325) Gleichwohl verbindet Grotius mit dem Zweck der Strafe, insofern es sich nicht um die Strafe Gottes handelt (denn Gott straft nur zu seiner eigenen Genugtuung), den Gedanken, daß der Mensch nicht deshalb gestraft werde, weil er Unrecht getan habe, sondern, wie es bereits bei Platon und Seneca heißt, damit er es künftig nicht wieder tue; die Strafe sei nicht auf ein Vergangenes, sondern auf die Zukunft bezogen. Grotius vertritt die Ansicht, daß der Mensch einen anderen Menschen nur »um einer guten Folge willen« strafen darf (ebd. 328). Der Gesichtspunkt des Nutzens der Strafe schließt allerdings für Grotius keineswegs aus, daß die Vergeltung des Unrechts notwendig ist, da sie einen konkreten Nutzen sowohl für den Schädiger als für den Geschädigten mit sich führt. Jenseits der Tauschgerechtigkeit ginge es darum, die Strafe als in sich gerecht zu bestimmen (vgl. ebd. 326). Und das Recht der Strafe leitet sich aus dem Vergehen selbst ab; so »scheint es, daß der Schädiger sich durch seinen Willen der Bestrafung unterworfen hat. Denn das Verbrechen kann nicht ungestraft bleiben; wer also jenes will, hat mittelbar auch die Strafe gewollt.« (Ebd.) Bleibt man in der herkömmlichen Unterscheidung zwischen ›absoluten‹ Straftheorien einerseits und ›relativen‹ Straftheorien andererseits, so wird am Beispiel Grotius deutlich, daß er sich weder in die eine noch in die andere umstandslos einordnen läßt, denn er hält an einem notwendigen Vergeltungszusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe fest und betont zugleich, daß die Strafe immer einem konkreten, näher zu bestimmenden Nutzen zu dienen habe, der sie rechtfertigt. 140

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die dem Übel komplementäre Vorstellung eines positiven Zwecks, eines abstrakten ›Guten‹, das seiner Ansicht nach ebensowenig begrifflich bestimmt ist wie das Unrechtsübel selbst.142 Aus Hegels Sicht folgt insbesondere Feuerbach als Vertreter der ›relativen Straftheorie‹ »trivialen psychologischen Vorstellungen von den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfedern gegen die Vernunft, von psychologischem Zwang«143 gegen diese Reize.144 Die Drohung der Strafe wendet sich, so kritisiert Hegel weiter, an den Menschen als unfrei weil psychologisch determiniert. Die Strafzwecke der Abschreckung (ob sie sich nun general- oder spezialpräventiv begründet) oder der Besserung setzen die Begründung von Strafe immer schon voraus, die für Hegel nur darin liegen kann, daß »das Strafen an und für sich gerecht sey«, die es jedoch zunächst einmal begrifflich zu entwickeln gilt. Die Besserung kann im übrigen für Hegel auch gar nicht zum Strafzweck erklärt werden, denn da sie das »Insichgehen des Willens« voraussetzt und dadurch ein »absoluter actus«145 ist, kann die Besserung nur Sache des eigenen Willens, nicht aber direkter Zweck eines anderen sein. Für Hegel dagegen ist »der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen« das objektive Kriterium der Gerechtigkeit der Strafe. – Und die Forderung der Gerechtigkeit ist nicht allein auf das gerechte, weil die Tat vergeltende Maß der Strafe zu beziehen, was wiederum auf die oben bereits angesprochene Problematik der qualitativen und quantitativen Bestimmung des Verbrechens verweist146, die sich als das innere Allgemeine der Rechtsverletzung im Wert ausdrückt. Sondern bereits die Begründung von Strafe im Sinne einer vergeltenden Wiederherstellung des Rechts stellt für Hegel eine Frage der Gerechtigkeit dar. Strafe ist für ihn »die wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst«147, was neben der objektiven insofern auch eine

142

Vgl. GPR § 99 Anm. Ebd. §§ 100 und 101. 144 Feuerbach formuliert in seiner Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts (1799–1800) die Forderung, daß Strafe am Grundsatz der Generalprävention ausgerichtet sein müsse, wobei er davon ausgeht, daß die präventiv begründete Strafandrohung als ein psychischer Zwang auf den Menschen einwirken könne. Die Strafe ist demnach dadurch gerechtfertigt, daß sie angedroht war, der Täter diese Drohung also gekannt und mißachtet habe. 145 Ringier 48. 146 Vgl. GPR § 96. 147 Ebd. § 220. Der Begriff der Versöhnung taucht prominent in den frühen Schriften Hegels auf, so etwa im Rahmen der im Geist des Christentums entfalteten Straftheorie. Wenn Hegel an dieser Stelle der Grundlinien, in deren Kontext sich das Zitat oben findet, also unter den Bedingungen gesellschaftlich-sittlicher Verhältnisse als den immanenten Strafzweck die Versöhnung des Rechts mit sich selbst und des Verbrechers mit sich selbst 143

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subjektive Seite hat, als auch der Verbrecher durch die gesetzliche Strafe die »Befriedigung der Gerechtigkeit« erfährt; die Strafe ist die den Verbrecher mit sich selbst versöhnende »That des Seinigen«, denn das Gesetz dient auch seinem Schutz. Zwar liegt (auch wenn Hegel dies nicht explizit ausweist) mit der Legitimierung von Strafe als Wiederherstellung des Rechts auch der auf die Zukunft ausgerichtete Gedanke einer positiven Generalprävention nahe.148 Darüber hinaus ist dem Paragraphen 220 der Grundlinien meiner Ansicht nach – man mag es beklagen – jedoch nicht zu entnehmen, daß mit der Rede von der Versöhnung durch Strafe im Hinblick auf den Delinquenten Hegels Forderung nach Resozialisierung des Straffälligen zum Ausdruck kommt, wie Wolfgang Schild behauptet.149

6.1.5 Gerechtigkeit und Wertäquivalenz als Momente der Wiedervergeltung Gerecht ist die wiedervergeltende Strafe aus Hegels Sicht, insofern sie zum einen ein Dasein der allgemeinen Freiheit, und damit auch der Freiheit des Verbrechers darstellt; in dieser Hinsicht ist sie »sein an sich seyender Wille«, sein eigentliches Recht, das er mit seiner Handlung nicht außer Geltung setzen konnte. Darüber hinaus ist sie »ein Recht an den Verbrecher selbst«150 im Sinne des von Hegel im Kontext seiner Handlungslehre entfalteten »Rechts benennt, dann wird deutlich, daß er von seiner frühen Auffassung, derzufolge die gesetzliche Strafe – im Gegensatz zum »Schicksal« – eines »Begriff[s] des Menschen« ermangle (G.W.F. Hegel: Der Geist des Christentums. – In: Ders.: Frühe Schriften. Frankfurt a.M. 1971. 344 (=TWA, Bd. 1)), abgerückt ist. Die richterlich verhängte Strafe ist dieser frühen Schrift Hegels zufolge lediglich »ein Leiden«, welches das »Gefühl der Ohnmacht gegen einen Herrn, mit dem der Verbrecher nichts gemein hat und nichts gemein haben will« bewirkt (ebd. 345). Daher sei die gesetzliche Strafe auch nicht im Stande, den Menschen zu »bessern«, dies vermöge allein das Schicksal, angesichts dessen der Mensch »sein eigenes Leben« erkennt. 148 So auch Georg Mohr: Unrecht und Strafe. A. a.O. 109. 149 Schild überträgt den in den Jugendschriften Hegels, vor allem im Geist des Christentums entfalteten Begriff der Versöhnung und dessen sittliche Implikationen auf den (späteren) ›objektiven Geist‹, den sittlichen Willen im Staat, und kommt zu dem Schluß: »Im Begriff der Versöhnung ist der tiefste Begriff der Strafe erreicht (und zugleich der tiefste Begriff des Rechts als sittlicher Wille). Dabei darf Versöhnung aber nicht (nur) als Resozialisierung verstanden werden. Denn sie ist nicht bloße Wiedereingliederung des Verbrechers in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß, sondern das Wiederaufnehmen des Verbrechers in die Gemeinschaft.« (Wolfgang Schild: Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs. – In: Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens. Herausgegeben von Erich Heintel. Wien/München 1979. 199–233; hier 224.) 150 GPR § 100.

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der Objectivität« des Handlungserfolgs, sich »vom Subject als Denkendem als gewußt und gewollt zu behaupten«151. Es sind demnach zwei Seiten, nach denen Recht geschehen soll: Erstens tritt das Recht an sich in der Negation des besonderen rechtsverletzenden Willens des Verbrechers, also gegen diesen auf. Zweitens ist das Recht an sich aber immer auch der an sich seiende Wille des Verbrechers, und so entspricht die Strafe seinem Willen, welcher fordert, daß Recht geschehe. Das Recht geschieht demnach also ebenso nach oder gemäß seinem Willen.152 Da die Handlung Ausdruck formeller Vernünftigkeit ist, ist ihr als solcher auch der Anspruch auf Verallgemeinerung des Handlungsgrundsatzes immanent. »Indem ich nun handle, so setze ich eine Veränderung im Dasein, im Elemente der Objektivität. Dieses Element ist nun der geltende Wille überhaupt, und dieser ist durch das Gesetz ausgesprochen. Meine Handlung hat also immer wesentlich Beziehung auf das Gesetz.«153 Daher, so Hegel, darf und muß der Täter auch unter dieses in seiner Handlung aufgestellte Gesetz subsumiert werden. Und nur dadurch, so Hegels durchaus nicht unumstrittenes Argument, daß das Maß der Strafe aus der Qualifizierung der rechtsverletzenden Handlung abgeleitet wird, wird der Verbrecher in seiner menschlichen Würde und Freiheit respektiert.154 Dieser zweite, das bereits angesprochene ›Anerkennungsargument‹ ergänzende Versuch Hegels, Strafe zu legitimieren – von Seelmann das »Gesetzesargument«155 genannt – basiert auf dem Schluß, daß die Handlung des Verbrechers, obschon ihrer Struktur nach vernünftig, eine rechtsverletzende und daher selbstwidersprüchliche und unvernünftige Norm aufstellt, an welcher sie gemessen wird. Dieses, so nun Hegels Begründung, stellt einen Verpflichtungsgrund auch gegenüber dem Täter dar; die Strafe setzt damit, so scheint es, an der vom Täter 151

Ebd. § 120. Vgl. Wolfgang Schild: Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs. A. a.O. 215; siehe außerdem Ilting, Bd. 4. 288. Mit Blick auf die Strafe, so heißt es dort, seien zwei Seiten zu unterscheiden, nämlich erstens die, daß »das Recht an sich ausgeführt werde […], die zweite ist daß wir im Verbrechen zweierlei Freiheit haben, Freiheit an sich und Freiheit des Verbrechers, seines subjektiven Willens. Beide Seiten treten auseinander, in ein negatives Verhältniß zu einander. Die Freiheit an sich mit ihrem Dasein und die Freiheit als besondere des subjektiven Willens des Verbrechers, beiden muß ihr Recht geschehen und dieß geschieht gegen den Willen des Verbrechers. […] Aber auch sein subjektiver Wille muß zum Dasein kommen, ist zu respektiren, denn er ist auch Freiheit überhaupt oder die Ausführung des Rechts an ihm muß mit seinem Willen geschehen.« 153 Henrich 106 f. Der Verbrecher »weckt gegen sich auf die schlafenden Eumeniden. Er hat es nicht gemeint, daß sein Gesetz gegen ihn sein solle, aber seine vernünftige Natur macht es, daß seine positive Tat als negative gegen ihn gilt.« (Hoppe 96) 154 Vgl. GPR § 100 Anm. 155 Kurt Seelmann: Versuche einer Legitimation von Strafe. A. a.O. 88. 152

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als einem Vernünftigen aufgestellten unvernünftigen Norm an. So weit die Rekonstruktion des Gedankengangs, wie Hegel ihn in § 100 der Grundlinien entwickelt. Kurt Seelmann bringt nun mit Blick auf dieses Argument der ›Selbstsubsumtion‹ des Straftäters unter ein allgemeines Gesetz jedoch einen gravierenden Einwand vor: Aus dem sich in der Handlung manifestierenden Selbstwiderspruch des Täters sei nicht zwingend die »moralische Notwendigkeit« der Anwendung »der falschen Maxime auf den Täter« zu folgern.156 Es handele sich vielmehr um einen »intellektualistischen Fehlschluß«, wenn man versuche, »aus den Bedingungen des Vernunftgebrauchs (Vermeidung von Selbstwidersprüchen) verbindliche moralische Normen abzuleiten.« Zudem sei es ethisch fragwürdig, »ob die Unvernunft zum Kriterium für die Reaktion auf Unvernunft gemacht werden sollte.«157 Das Problem innerhalb von Hegels Argumentation, das hier von Seelmann in dieser Weise auf den Punkt gebracht wird, rührt an das Fundament des Vergeltungsarguments: Inwiefern ist es zwingend erforderlich, daß auf eine Verletzung mit einer Verletzung reagiert wird? Mit dieser Frage ist also das grundsätzliche und von kompetenterer Seite zu entscheidende Problem von der Notwendigkeit der sozialen Statusminderung des Verbrechers verbunden; mit der Frage also, ob die durch die Straftat verletzte Anerkennungsbeziehung allein durch staatliche Übelszufügung gegenüber dem Täter wiederhergestellt werden kann oder ob es nicht zahlreiche Fälle gibt, in denen ein zivilrechtlicher Ersatz des Schadens, also die Herstellung ökonomischer Äquivalenz ausreichen würde. Die Strafe als ›Verletzung der Verletzung‹ vergilt zwar die unvernünftige Handlung (insofern ist hier von einem ›Tatstrafrecht‹ zu sprechen), sie richtet sich jedoch an den Täter, insofern er zu einer rationalen, vernünftigen Willensbildung überhaupt imstande ist und setzt voraus, daß er für seine unvernünftige Handlung zur Verantwortlichkeit zu ziehen ist (es sei denn, man diagnostiziert seine Zurechnungsunfähigkeit). Hegel geht davon aus, daß sich der Wille nicht in einem bestimmten Vorsatz erschöpft, der dann handelnd verwirklicht wird, sondern daß er in sich die beiden Momente der »reinen Unbestimmtheit«158 sowie das der Selbstbestimmung159 synthetisiert. Wille und Denken, so macht Hegel in der Einleitung zu den Grundlinien deutlich, sind nicht als zwei voneinander getrennt zu betrachtende Vermögen zu verstehen, sondern der Wille ist Denken, insofern dieses sich selbst bestimmt und seine selbstbestimmten Inhalte zu verwirklichen sucht.

156 157 158 159

Kurt Seelmann: Wechselseitige Anerkennung und Unrecht. A. a.O. 69. Ebd. 70. GPR § 5. Vgl. ebd. § 6.

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Hegels spekulativer Begriff des Willens impliziert zugleich eine selbstbewußte Gegenwärtigkeit des Ich in seinen Willensentschlüssen und eine an den konkreten Umständen ausgerichtete Intentionalität des Willens wie die grundsätzliche Möglichkeit der Distanz des denkenden Menschen gegenüber dem von ihm Intendierten. Die von Seelmann beanstandete ›Unvernünftigkeit‹ der staatlichen Übelszufügung in Form von Strafe ist für Hegel zunächst einmal ein notwendiges Moment innerhalb eines in sich vernünftigen Prozesses, innerhalb dessen sich das Recht als wirkliches und geltendes bewährt. Seelmanns kritisch gegen Hegel gerichtetem und durchaus schwerwiegendem Einwand, daß sich die Strafe im Rahmen der Hegelschen Konzeption die in der Rechtsverletzung gesetzte unvernünftige Norm zu eigen macht, also ihrerseits auf unvernünftige Weise in Form der Strafe auf sie reagiert, ist nach dem Gesagten also nur mit der Unterscheidung zwischen dem Gegenstand der Vergeltung und ihrem Adressaten zuzustimmen. An keiner Stelle rückt Hegel in seiner Straftheorie von dem Grundsatz ab, die Strafe habe den Menschen als einen vernünftigen zu respektieren. Die Vergeltung in der logischen Form einer ›(unvernünftigen) Negation der (unvernünftigen) Negation‹ ist nicht von Hegels prinzipieller Einsicht zu trennen, daß die Strafe allein dann gerechtfertigt ist, wenn sie den Verbrecher als Freien zu würdigen und zu respektieren weiß. Damit soll nicht gesagt sein, daß mit diesem Hinweis alle Einwände aus der Welt zu schaffen wären, die sich gegen die ›absoluten‹ oder vergeltungstheoretischen Straftheorien anführen lassen, nur muß man sich gerade mit Blick auf Hegel davor hüten, nicht ein Moment innerhalb des sich dialektisch entfaltenden Prozesses herauszugreifen und absolut zu setzen. Was aber bedeutet eigentlich ›Vergeltung‹? – Nicht selten wird ›Vergeltung‹ in einen Zusammenhang mit Metaphysik gerückt. ›Vergeltung‹ bezeichne ursprünglich eine Relation zwischen einer Person und einer jenseitigen Macht, ähnlich wie ›Sühne‹, nur daß unter dieser die Beziehung von unten nach oben und unter jener die Beziehung von oben nach unten zu verstehen sei. Der logische Ort der Vergeltung sei mithin auch nicht die soziale Realität, sondern die Transzendenz.160 – Etymologisch bedeutet ›gelten‹ im Mittel- und Althochdeutschen (›gëlten‹ bzw. ›gëltan‹) jedoch zunächst einmal: ›jemandem etwas zurückzahlen‹, ›wert sein‹, ›entschädigen‹ (auch das Wort ›Geld‹ leitet sich davon ab) und kann in dieser Grundbedeutung auch auf religiöse Opfer bezogen werden. Hegel ist meiner Ansicht nach sehr deutlich als ein Vertreter einer am ›Wert‹ orientierten Theorie der Vergeltung anzu160

So etwa Ulfried Neumann und Ulrich Schroth in ihrem Buch Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe. Darmstadt 1980. 13.

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sehen161, die alle metaphysischen Implikationen, die sich in Kants Straftheorie noch finden mögen162, abgestreift hat. ›Gelten‹ (nämlich das Gelten der Rechtsverletzung gegen das allgemeine Recht) und ›Vergelten‹ (also die Wiederherstellung des Rechts, in der die Geltung des Unrechts verhindert wird) stehen für Hegel in einem notwendigen Zusammenhang. Damit geht Hegel von der Annahme aus, daß das Verbrechen, insofern es nicht vergolten wird, gilt und eben darin liegt seine destruktive Kraft.163 Diese destruktive Kraft kann der Rechtsverletzung aber Hegel zufolge nur durch eine entsprechende staatliche Sanktion genommen werden. Nun kommt aber hinsichtlich der Vergeltung des Unrechts ein wesentlicher Gesichtspunkt hinzu, nämlich daß sie unter Maßgabe der Forderung der Gerechtigkeit stattfinden soll164; die Gerechtigkeit und Notwendigkeit der Strafe, die, wie gezeigt, für Hegel allein durch den Begriff des Willens und der Freiheit (auch und im Wesentlichen 161

Ungeachtet der von mir oben hervorgehobenen Bedeutung, die dem Wertbegriff im Zusammenhang von Hegels Theorie der Strafe im Sinne einer Wiedervergeltung zweifellos zukommt, steht dieser doch überraschenderweise gewöhnlich nicht im Zentrum der Interpretation von Hegels Straftheorie. Berücksichtigt wird er lediglich von Andrej A. Piontkowski: Hegels Lehre über Staat und Recht und seine Strafrechtstheorie. Berlin 1960. 71 ff.; recht ausführlich diskutiert wird er zudem in dem bereits mehrfach angeführten Buch von Diethelm Klesczewski (Die Rolle der Strafe. A. a.O. 237 ff.; 241 f. findet sich seine kritische Bezugnahme auf die von Piontkowski vertretene These einer Parallele von Vertragsäquivalenz und Wertbegriff in der Straftheorie, in welcher Piontkowski eine Übertragung ökonomischer Begrifflichkeit auf den Strafzumessungsvorgang sieht.) Georg Mohr hingegen, der dem Begriff des Wertes kaum Aufmerksamkeit schenkt, bezieht die Begriffe ›Gleichheit‹, ›Wert‹ und ›Vergleichbarkeit‹ unterschiedslos auf die »Verhältnismäßigkeit« als Grundregel der Strafzumessung (vgl. Georg Mohr: Unrecht und Strafe. A. a.O. 117). 162 Kant spricht in dem bekannten ›Inselbeispiel‹ die kategorische Verpflichtung der Rechtsgemeinschaft an, Unrecht, insbesondere Mord, zu vergelten. »Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil er als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.« (Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 455; hinsichtlich der Kantischen Forderung der »Gerechtigkeit« als dem Grund der Strafe – die für Kant zunächst einmal in der Erkenntnis der moralischen Beschaffenheit der rechtsverletzenden Handlung liegt – vgl. Wolfgang Schild: Ende und Zukunft des Strafrechts. A. a.O. 83 ff.) 163 Vgl. Christoph Safferling: Vorsatz und Schuld. A. a.O. 14. Doch auch diese von Safferling angesprochene ›destruktive Kraft‹ des Verbrechens aufgrund der mit ihr verbundenen Gefährdung des für die Gesellschaft grundlegenden Prinzips der wechselseitigen Anerkennung relativiert sich dort, wo die Gesellschaft zu innerer Stabilität und Festigkeit der Rechtsverhältnisse gelangt ist, wie Hegel in GPR § 218 ausführt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 164 Vgl. GPR § 99.

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der Freiheit des Verbrechers) zu begründen ist165, findet ihr Komplement in der Wertgleichheit von Verbrechen und Strafe, die das absolute Richtmaß der Vergeltung darstellt. Die Strafe hat also Hegel zufolge ihren Grund ausschließlich im Verbrechen selbst. Jede andere Begründung verletzt Hegel zufolge die Würde des Menschen, der nur aufgrund seiner Handlung zu strafen ist und die folglich das Maß des Vergeltens vorgibt. Daß sich die Vergeltung der willentlichen Rechtsverletzung am Maßstab der Gleichheit als dem inneren Wert des ins Dasein getretenen Willens zu orientieren hat, hat einen Begriff von Strafe zur Folge, die »ihrem Wesen nach Freiheitsstrafe [ist] (auch die Todes- und Geldstrafe)«166. Denn auch die Todes- und die Geldstrafe sind aus der Sicht Hegels insofern als Freiheitsstrafen anzusehen, als sie den Menschen bei einem ›Dasein seiner persönlichen Freiheit‹ ergreifen. Zunächst einmal mag vergeltungslogisch der Gedanke des Maßstabs spezifischer Gleichheit naheliegen, der sich im Grundsatz der materiellen Vergeltung (ius talionis) ausdrückt, wie er in vielen alten Rechtsordnungen und auch im Alten Testament überliefert ist und sich auf die Formel bringen läßt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹.167 Die auf die äußerliche Beschaffenheit partikulärer Dinge bezogene Gleichheit als Maß der Vergeltung läßt sich jedoch auf diese Weise gar nicht konsistent bestimmen: Denn wenn auch − um den von Hegel (in ironischer Absicht) angeführten Fall des einäugigen und zahnlosen Diebes ernst zu nehmen − Augen und Zähne für sich genommen gleich sein mögen, so stellt sich doch unweigerlich das Problem der Ungleichbehandlung gerade aufgrund der Gleichheitsmaxime ein, wenn dem Einäugigen das verbliebene Auge auch noch genommen werden soll, denn dies muß für ihn eine größere Bedeutung haben als für den, der noch beide hat.168 Darüber hinaus soll die Strafe als Wiederherstellung des Rechts die Verletzung des allgemeinen Willens bereinigen, der jedoch nicht in der 165

Dies impliziert allerdings, daß die von Hegel entwickelte Theorie der Strafe nur den Fall des Vorsatzdelikts erfaßt; für das Fahrlässigkeitsdelikt, das von ihm nicht entsprechend systematisch begründet wird, wäre deshalb auch die Strafe ganz anders zu bestimmen. (Vgl. Wolfgang Schild: Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffes. A. a.O. 227.) 166 Wolfgang Schild: Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffes. A. a.O. 219. 167 2. Mose, 21–24. Gegen die verbreitete Vorstellung von der Grausamkeit dieser alttestamentlichen Rechtsvorschrift betont Meder, daß die Talion gegenüber der Willkür archaischer Sanktionsformen bereits einen Fortschritt bedeutet habe: Sie diene dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit, indem sie das Maß der Vergeltung nach dem Schaden des Verletzten bestimmt und der Blutrache dadurch Grenzen setzt. (Vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte. A. a.O. 28.) 168 Zu dieser Dialektik der Gleichheitsmaxime vgl. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 240.

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Sache als partikularer liegen kann.169 – Das ius talionis, so Hegels Kritik, gelangt zum einen deswegen nicht zu einem allgemeinen Begriff vom Wert, weil es von der spezifischen Gleichheit zweier Dinge ausgeht und nicht nach einem tertium comparationis sucht, und zum andern deswegen, weil es den Schadensumfang der Verletzung mit der Verletzung des Rechts gleichsetzt. Diese liegt für Hegel jedoch im Willen des Verbrechers, der sich im Unrecht (insofern es ein Vorsatzdelikt ist) eine positive Existenz gibt.170 Nimmt man also den Grundsatz der Gleichheit »für das Wesentliche, was der Verbrecher verdient hat, aber nicht für die äußere specifische Gestalt dieses Lohns«171, dann ist es auch nicht wesentlich, daß Raub und Gefängnisstrafe hinsichtlich ihrer spezifischen Gestalt »schlechthin Ungleiche« sind, denn »nach ihrem Werthe, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu seyn, sind sie Vergleichbare.«172 Das Wesentliche für Hegel ist in diesem Zusammenhang, daß sich der an sich seiende, also begriffsgemäße Zusammenhang von Verbrechen und Strafe in ihrem Wertverhältnis ausdrücken 169

Vgl. ebd. Kant lehnt sich, jedenfalls scheint es so, noch enger an den Terminus des ius talionis an als Hegel dies tut. Um kurz daran zu erinnern: Kants Strafrechtslehre ist aufs engste verbunden mit der Idee der Staatsverfassung; das Strafrecht als das Recht »gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen«, obliegt dem »obersten Befehlshaber im Staat« (Metaphysik der Sitten. A. a.O. 452 und 487). (Wobei das Staatsoberhaupt selbst nicht bestraft werden kann, wie Kant deutlich macht.) Auch Kant begreift das Verbrechen im Sinne der Übertretung des öffentlichen Gesetzes als einen Selbstwiderspruch. Mit dem Verbrechen macht sich der Verbrecher »unfähig«, Staatsbürger zu sein (ebd. 452). Kant zufolge besteht die einzige Möglichkeit der Ahndung des Verbrechens im Prinzip der Wiedervergeltung, dem ius talionis, welches allein der »reinen und strengen Gerechtigkeit« (ebd. 454) Genüge tut, das er allerdings »vor den Schranken des Gerichts« und nicht in Form privater Rache praktiziert wissen will. Die Vorstellung, ›Gleiches mit Gleichem zu vergelten‹ sei jedoch nicht »nach dem Buchstaben« zu nehmen, wohl aber könne die Verletzung wertgemäß vergolten werden, indem der Täter durch eine Geldstrafe auf ähnliche Weise eine Kränkung erfährt, wie er sie jemanden zugefügt habe (vgl. ebd.). Die Illustrierung dieses Prinzips, ›Gleiches mit Gleichem zu vergelten‹, veranlaßt Kant zu recht zweifelhaften Folgerungen solche empirische Wiedervergeltung betreffend, wie etwa die Schuldknechtschaft für den Verbrecher (etwa als Reaktion auf Diebstahl): »Wer da stiehlt, macht aller anderer Eigentum unsicher; er beraubt sich also […] der Sicherheit alles möglichen Eigentums; er hat nichts und kann auch nichts erwerben [da er als gerichtlich verurteilter Verbrecher seine Würde als Staatsbürger und dadurch den Status der Rechtsperson Kant zufolge einbüßt, BC], will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als daß ihn andere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht umsonst tun wird, so muß er diesem seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten […] überlassen, und kommt auf gewisse Zeit, oder, nach Befinden, auch auf immer, in den Sklavenstand.« (Ebd. 454 f.; zur Strafrechtstheorie Kants im Vergleich zu derjenigen Hegels siehe auch Wolfgang Schild: Ende und Zukunft des Strafrechts. A. a.O. 76–88.) 171 GPR § 101 Anm. 172 Ebd. 170

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muß, auch wenn die Bestimmung der Wertgröße einer Rechtsverletzung von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt. Damit ist allerdings das Problem nicht gelöst, wie sich der Wert einer Rechtsverletzung bestimmen läßt, an dem die Sanktion Maß zu nehmen hat. – Mit Blick auf das Äquivalenzverhältnis als Grundbedingung des Warentausches173 wurde bereits auf Hegels Andeutungen in Bezug auf eine ›Arbeitswertlehre‹ hingewiesen: Was einer Ware ihren Wert verleiht, ist das durchschnittliche Quantum menschlicher Arbeit, das in sie eingegangen ist. Arbeit aber ist unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft ein allgemeines Verhältnis, über welches die Bedürfnisbefriedigung Aller vermittelt ist. Was aber macht den Wert, die Allgemeinheit des spezifischen Verbrechens aus? Zunächst einmal leuchtet es ein, daß der Wert als ökonomisches Kriterium unverzichtbar ist, wo eine Rechtsgutverletzung vergolten werden soll, also die unter den Bedingungen abstrakt-rechtlicher Verhältnisse in Betracht kommende Verletzung an einem äußerlichen Dasein persönlicher Freiheit, deren Vergeltung oder zivilrechtliche Entschädigung ein »annäherndes Gleichmaß«174 erfordert, das nie absolut zu bestimmen ist. Klesczewski führt in diesem Zusammenhang jedoch die Überlegung an, daß der Wert zur Bestimmung des Verbrechens nicht ausschließlich aus der Sphäre des Tausches genommen werden könne – eine Übertragung ökonomischer Kategorien auf moralisch-rechtliche, die, wie wir gesehen haben, auch Hegel in seinem Naturrechtsaufsatz zurückweist −, denn mit einer solchen Übertragung »tritt der allgemeine Wille im Vergelten dem Werte nach als negative Größe auf.«175 Daß der Wert, sofern er in einem Tauschverhältnis erscheint, zur »negativen Größe« wird, ist hier wohl so zu verstehen, daß er lediglich 173

An anderer Stelle macht Hegel jedoch unmißverständlich deutlich, daß er die sich am Wert der Verletzung bemessende Relation von Verbrechen und Strafe gleichwohl nicht im Sinne eines Tauschverhältnisses auffaßt: Die Strafe, so betont Hegel im Naturrechtsaufsatz, »kommt aus der Freyheit, und bleibt selbst als bezwingend in der Freyheit.« (GW 4. 449) Anders als der Zwang, der der Freiheit etwas Äußeres und in sich nichtig ist (vgl. GW 4. 447), ist in der Strafe im Sinne einer Wiederherstellung des Rechts »der Verbrecher sowohl […] frey geblieben, oder vielmehr frey gemacht, als der strafende vernünftig und frey gehandelt hat.« Der Zwang jedoch, der nur eine Bestimmtheit gegen eine andere Bestimmtheit zu setzen vermag und dadurch in der Logik bloß willkürlicher Setzungen verbleibt, ist etwas »schlechthin endliches, keine Vernünftigkeit in sich führendes […], und fällt ganz unter den gemeinen Begriff eines bestimmten Dinges, gegen ein anderes, oder einer Waare, für die etwas anderes, nemlich das Verbrechen, zu erkaufen ist, der Staat hält als richterliche Gewalt einen Markt mit Bestimmtheiten, die Verbrechen heißen und die ihm gegen andere Bestimmtheiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preißcourant.« (Ebd.) 174 Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 243. 175 Ebd. 241 (Hervorhebung im Original).

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im Sinne einer Verhältnismäßigkeit genommen wird, als eine Größe, die sich nur aus dem Verhältnis zu einer anderen bestimmt. Die quantitativen Kriterien dürften jedoch, so Klesczewski weiter, nicht das mit der Strafe intendierte affirmative Ziel unterlaufen, welches »an der Konstitution eines moralischen Verhältnisses der Subjekte zueinander ausgerichtet«176 sein müsse. Geht man, wie Klesczewski es unter Berufung auf Hegel tut, davon aus, daß der »affirmative Wert des Verbrechens« im besonderen Willen des Verbrechers besteht, in dem bereits »an sich die Fortbestimmung zum moralischen Subjekt« enthalten ist, dann muß auch die Sanktion auf ihre Leistungsfähigkeit hin geprüft werden, wie sie dem Täter sein moralisches Wesen, sofern es sich in der verbrecherischen Handlung manifestiert, vergegenständlichen kann. In der Tat ist hier festzuhalten, daß hinsichtlich der Bestimmung des Wertes der Rechtsverletzung in ihrer positiven Existenz, die sie nur im Willen des Täters hat, einerseits auf moralische Kategorien zurückgegriffen werden muß, die Hegel an dieser Stelle seiner Argumentation noch nicht entwickelt hat. Etwa stellt sich damit dann die grundsätzliche Frage, ob dem Täter seine Tat subjektiv überhaupt zum Vorwurf gemacht werden kann.177 Andererseits erfordert die Ermittlung des Werts der Rechtsverletzung die Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse.178 Denn was der Wert einer Rechtsverletzung ist, läßt sich nicht abstrakt bestimmen oder aus dem Begriff des Verbrechens ableiten, sondern hängt von der inneren Verfassung der Gesellschaft ab. Im Übrigen gibt Hegel selbst zu bedenken, daß es hinsichtlich der Wertbestimmung einer Rechtsverletzung durchaus auch darauf ankommt, inwiefern der Wille das Intendierte vermittels seiner Handlung auch tatsächlich verwirklichen konnte, oder umgekehrt größeren Schaden angerichtet hat als beabsichtigt (die verschiedenen Grade der Fahrlässigkeit); daher, komme es dem Verbrecher mit Recht zu Gute, wenn seine Handlung weniger schlimme Folgen hat, wie beim Versuch, »so wie die gute Handlung es sich muß gefallen lassen, keine oder weniger Folgen gehabt zu haben, und daß dem Verbrechen, aus dem sich die Folgen vollständiger entwickelt haben, diese zur Last fallen.«179 Damit hängt aufs engste die oben formulierte Frage nach dem ›gerechten Maß‹ der Strafe zusammen, das im Rahmen der konkreten Anwendung des positiven Rechts auf den einzelnen Fall zu ermitteln ist.180 176

Ebd. 245. Siehe GPR § 132 zum Unrechtsbewußtsein als konstitutivem Moment des Schuldvorwurfs. 178 Vgl. ebd. § 218. 179 Ebd. § 118 Anm. 180 Einen interessanten Versuch der Aktualisierung von Hegels Straftheorie unter177

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Hegel gesteht zu, daß die Begriffsbestimmtheit der mit der Strafe intendierten Wiedervergeltung nach Maßgabe der Gleichheit »nur eine allgemeine Grenze« vorgibt, nicht aber die Entscheidung hinsichtlich des jeweils zu veranschlagenden Wertes vorwegnimmt. Die Anwendung des Gesetzes im Sinne der qualitativen und quantitativen Zumessung von Strafe stellt vor empirische Schwierigkeiten, denn die Begriffsbestimmtheit stellt nur erst ein Richtmaß der Entscheidung, nicht aber die wirkliche Entscheidung dar. Dem Gericht als Institution strafender Gerechtigkeit obliegt es demnach, das Recht zu verwirklichen, und die Rechtsprechung hat sich ihrerseits an das Gesetz als diejenige Form des Rechts zu halten, in welcher es in seiner Allgemeinheit und Verbindlichkeit existiert.181 – Denn erst das Gesetz ermöglicht die »Erkenntniß des Inhalts in seiner bestimmten Allgemeinheit«. Das Gesetz sieht indes nicht »diese letzte Bestimmtheit, welche die Wirklichkeit erfordert«182 vor, sondern setzt eine Grenze fest, in deren Bereich dem Richter die Entscheidung zu überlassen ist.183 Diese Entscheidung gehört Hegel zufolge der »formellen Gewißheit seiner selbst, der abstracten Subjectivität« des Richters an. Die Vernunft selbst erkennt das beschränkte Recht von Subjektivität und Zufall in aller richterlichen Entscheidung insofern an, als das Richtmaß und die »ins Unendliche« fortgehende Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit in der konkreten Entscheidung, im »Felde nimmt Hans-Christoph Jahr in dem bereits erwähnten Buch Die Bedeutung des Erfolges für das Problem der Strafmilderung beim Versuch. Jahr rechtfertigt sein Anliegen vor dem Hintergrund der damaligen zeitgeschichtlichen Brisanz des Terrorismus der RAF und anderer Gruppen; er geht dem Problem der Strafzumessung bei Versuchstaten nach und argumentiert im Sinne der im Alternativentwurf zur Strafrechtsreform von 1962 geforderten obligatorischen Strafmilderung im Falle des Versuchs. Jahr wendet sich damit – und zwar aus der Perspektive der Strafrechtsphilosophie Hegels – gegen den Grundsatz der nur fakultativen Strafmilderung beim Versuch, welcher dem Gericht noch immer die Möglichkeit einräumt, für eine versuchte Straftat das gleiche Strafmaß wie für eine vollendete Tat anzuwenden. Dahinter steht die Frage, welchen Einfluß der Erfolg einer Handlung auf das durch die Tat gesetzte Unrecht hat und ob die Tatschuld durch den Erfolg vergrößert wird. 181 Vgl. GPR §§ 211 Anm. und 212. 182 Ebd. § 214 Anm. 183 Zu den Grundsätzen der Strafzumessung durch den Richter vgl. Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 202 ff. Zunächst ist zwischen einer Bestimmung des »ordentlichen Strafrahmens« und der »Strafzumessung im engeren Sinne« zu unterscheiden; letztere orientiert sich erstens an der Bestimmung der Schwere der Tat (dem Unrechtsgehalt) nach objektiven wie subjektiven Faktoren und zweitens am Schuldgehalt der Tat, deren Grundlage die Bemessung der Schwere der Tat ist. Der Schuldvorwurf hat dabei eine strafbegründende wie straflimitierende Funktion (vgl. ebd. 207). Drittens schließlich sind es auch noch weitere Faktoren, die hinsichtlich der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, nämlich general- wie spezialpräventive Überlegungen.

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der Endlichkeit«184, niemals absolut, sondern immer nur annäherungsweise und bedingt zu verwirklichen ist. Die Gleichheit stellt damit, wie gesagt, die »Grundregel für das Wesentliche [auf], was der Verbrecher verdient hat, aber nicht für die äußere specifische Gestalt des Lohns.«185 Noch einmal: So betrachtet, gleichen sich der Raub und die Gefängnisstrafe zwar nicht, nach ihrem »Werthe, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu seyn, sind sie [jedoch] Vergleichbare.«186 Der Wert als ein Inneres der bestimmten Sache muß in dem Verhältnis von Verbrechen und Strafe in Erscheinung treten. Aufgabe bleibt es daher, allgemeine Richtlinien dieser Wertgleichheit oder Wertvergleichbarkeit herauszuarbeiten, wobei sowohl objektive (nach Maßgabe des Schadenausgleichs) als auch subjektive Kriterien (Schuldvorwurf) in Betracht zu ziehen sind.

6.1.6 Todesstrafe Trotz seiner grundsätzlichen Überzeugung im Sinne des von ihm aufgenommenen aufklärerischen Topos, daß sich mit der inneren Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft − die er auf der anderen Seite jedoch als keineswegs in sich sonderlich stabil, sondern vielmehr als eine Art Naturzustand begreift − oder immerhin mit der grundsätzlichen Anerkennung der allgemeinen Rechtsordnung auch die allgemeine Tendenz einer Milderung des Strafkodex abzeichnet187, hält Hegel im Falle des Mordes an der Notwendigkeit der

184

GPR § 101 Anm. Ebd. 186 Ebd.; Hervorhebungen von mir, BC. 187 Vgl. ebd. § 218. »Strafen können milder werden, aber können sie ganz verschwinden? (Und ist die Milde wirklich milder?)« – So lautet die Ausgangsfrage des Rechtswissenschaftlers Sebastian Scheerer (in seinem Beitrag: Strafe muß sein! Muß Strafrecht sein? – In: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Herausgegeben von Lorenz Böllinger und Rüdiger Lautmann. A. a.O. 69–78; hier 69). Scheerer argumentiert in anti-etatistischer Perspektive im Sinne einer Abschaffung des Strafrechts; er setzt sich dabei kritisch mit jener Tradition der Strafrechtskritik- oder genauer: der Strafrechtsreformbemühungen auseinander, wie sie mit Franz von Liszt am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Für Franz von Liszt ist das Verbrechen das Produkt der Anlage des Verbrechers und der Einflüsse seiner Umwelt, entsprechend stellt die Strafe für ihn das Mittel zur Bekämpfung dieser Ursachen dar; Strafe bemißt sich daher an den mutmaßlichen Wirkungen, die die Strafe auf den einzelnen Verbrecher haben kann. Die von von Liszt genannten und oben bereits angesprochenen relativen Strafzwecke sind damit: Abschreckung, Besserung, Unschädlichmachung. Der Vergeltungsgedanke (aber auch der Gedanke der Generalprävention) tritt dabei notwendig zurück. Strafe ist für Franz von Liszt entweder »künstliche Anpassung des Verbrechers an die Gesellschaft« durch Abschreckung oder Besse185

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Todesstrafe fest. Neben der oben aufgeführten grundsätzlichen strafrechtlichen Forderung Hegels, nach Maßgabe der Wertäquivalenz zu vergelten, ist im Falle des Mordes für ihn tatsächlich gemäß des Prinzips spezifischer Gleichheit, also gemäß des mosaischen Talionsprinzips zu vergelten.188 – Tatsächlich aber nur in diesem Fall, wie auch Eduard Gans189 mit einem kritirung oder sie ist »künstliche Selektion des sozial untauglichen Individuums«. Franz von Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht. – In: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Erster Band 1875–1891. Berlin 1905. 163 f. (ND Berlin 1970) Ein folgerichtig im Sinne der Besserungs- und Sicherungstheorie entwickeltes Strafrecht hört letzten Endes auf, »Straf«Recht zu sein; Strafrecht wird zu einem ›Maßnahmenrecht‹ – diese Folgerung zieht jedenfalls Gustav Radbruch, wenn er den Begriff der Strafe für eine künftige Gestaltung des bisherigen Strafrechts als maßgebende Norm zurückweist und stattdessen prognostiziert: »Es möchte vielmehr gerade umgekehrt so liegen, daß die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Strafrechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als das Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre.« (Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Herausgegeben von Erik Wolf und HansPeter Schneider. Stuttgart 81973. 265.) Noch einen Schritt weiter geht Scheerer, indem er das Recht des Staates auf Strafe generell in Frage stellt; die spätestens in den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts »hegemonial« gewordene »Ideologie von der ›sozialen Aufgabe‹ des Strafrechts«, wie sie maßgebend von Jürgen Baumann ausgearbeitet wurde, habe jedoch keineswegs das gewünschte Resultat einer ›Entschlackung‹ des Strafrechts hervorgebracht und statt des erhofften »Rationalisierungs- erlebte es einen Irrationalisierungsschub«. (Sebastian Scheerer: Strafe muß sein! Muß Strafrecht sein? A. a.O. 75 f.) Der Rechtsbegriff sei mitsamt seiner Schutzfunktion ausgehöhlt worden, und er zieht das Fazit: »Ging es Hegel um die Vernunft der Strafe, so gilt unser Interesse deren Unvernunft.« (Ebd. 77) Wie ein solches nicht-staatliches Maßnahmenrecht (wenn dann überhaupt noch von Recht in unserem Verständnis die Rede sein kann) aussehen soll und wie genau man es sich vorzustellen hat, daß die »selbstbewußt gewordene Zivilgesellschaft« ihre Konflikte auf autonome und gewaltfreie Weise löst, darüber erfährt man leider nicht viel. Diese Forderung Scheerers impliziert die Vorstellung von der Zivilgesellschaft als ›ideologiefreiem‹ Raum, in dem sich nicht − ökonomisch vermittelt − ganz bestimmte Interessen durchsetzen, sondern ›herrschaftsfrei‹ über die ›menschlichste‹ Lösung in Sachen der ›Behandlung‹ des Straftäters diskutiert würde; eine solche Vorstellung geht jedoch an unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gänzlich vorbei; die (liberale) Vorstellung einer vom Staat unabhängigen sozialen Kontrolle der Bürger untereinander würde keineswegs das Ende von Verfolgung und Verurteilung bedeuten, sondern vermutlich das genaue Gegenteil. 188 Vgl. GPR § 101 Z. 189 Vgl. Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 117. Gans ist der Ansicht, die Todesstrafe könne schon deswegen nicht abgeschafft werden, weil sie als eine Stufe auf der Strafskala einer Stufe auf der Verbrechensskala entspreche: »Der Mord bleibt bestehen, und ohne Todesstrafe ist kein Maßstab da, um ihn zu messen, und keine Strafe, ihn zu löschen. […] Wer mordet, stellt den Mord als sein Recht auf.« Die Todesstrafe, so räumt Gans ein, dürfe jedoch nicht mißbraucht werden und sei auf den Fall vorsätzlicher Tötung zu beschränken. Alle anderen Verbrechen, insbesondere die politischen Verbrechen (der »Hochverrat« etwa), dürften nicht mit der Todesstrafe belegt werden – wie sie allerdings vom ALR für Hoch- und Landesverrat erster Klasse

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schen Seitenblick auf Kant betont, der die Todesstrafe gleichermaßen auch auf bestimmte »nur mit dem Tode zu tilgende Staatsverbrechen« angewandt wissen will.190 Hegels Begründung ist die: Das »Leben [ist] der ganze Umfang des Daseins«, es ist »das Allgemeine des Daseins«191, und dieses könne die »Strafe nicht in einem Werte, den es dafür nicht gibt, sondern wiederum nur in der Entziehung des Lebens« vergelten.192 Der Mord ist Hegel zufolge die Verletzung der Person »in ihrem ganzen Umfang, hiemit in der ihrem Begriffe gleichen Unendlichkeit«193, und so ist Hegels Rechtfertigung der Todesstrafe zunächst einmal dahingehend zu verstehen, daß durch den Mord als die Vernichtung der Totalität des Lebens die Realität der Rechtsverletzung unmittelbar auf die Ebene des Allgemeinen gehoben ist, weswegen auch nicht der Wert im Sinne der inneren Allgemeinheit der Rechtsverletzung ermittelt werden muß, dem Hegel auch strafrechtlich die Funktion zuerkennt, »die Vorstellung aus der unmittelbaren Beschaffenheit der Sache in vorgesehen war (vgl. zweiter Teil, zwanzigster Titel, zweiter Abschnitt, §§ 91 ff.). Die Todesstrafe dürfe dabei zudem keine körperliche Züchtigung darstellen; diese ist aus der Sicht von Gans gänzlich sowohl als Strafmittel wie auch innerhalb des Strafprozesses zu verbieten. Für eine Auseinandersetzung mit Hegels Begründung der Todesstrafe durch die strafrechtlichen Hegelianer siehe Michael Ramb: Strafbegründung in den Systemen der Hegelianer. Eine rechtsphilosophische Untersuchung zu den Straftheorien von Julius Abegg, Christian Reinhold Köstlin, Albert Friedrich Berner und Hugo Hälschner. Berlin 2005. 140 ff. 190 Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 455. 191 Hoppe 126. 192 GPR § 101 Z. Bei Kant heißt es: »Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen, doch von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreieten Tod.« (Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 455.) Ferner benennt Kant zwei weitere Fälle »todeswürdige[r] Verbrechen«, in Ansehung derer er jedoch offenläßt, ob sich auch eine gesetzliche Befugnis der Verhängung der Todesstrafe begründen läßt, dies sind der »mütterliche Kindesmord« und der »Kriegsgesellenmord«, das »Duell« (ebd. 458). In beiden Fällen ist es für Kant das »Ehrgefühl«, welches zur Tat verleitet; der Gesetzgeber befindet sich angesichts solcher Fälle in der Bedrängnis, entweder den Begriff der Ehre »durchs Gesetz für nichtig zu erklären, und so mit dem Tode zu bestrafen, oder von dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so entweder grausam oder unnachsichtig zu sein.« (Ebd.) Hinsichtlich der Frage nach der angemessen Sanktion im Falle des Kindesmordes ›argumentiert‹ Kant auf doppelte Weise: Zum einen müsse auch hier die »Schande der Mutter« angesichts ihres unehelichen Kindes berücksichtigt werden und zum andern genieße das uneheliche Kind nicht den Schutz des Gesetzes, es ist »in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann«. (Ebd.) 193 GPR § 96.

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das Allgemeine«194 zu überführen.195 − Wie sehr jedoch der gesellschaftliche Zustand für die Zumessung der Strafe entscheidend ist, macht Hegel in Paragraph 218 der Grundlinien deutlich: Obgleich er betont, der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit einer Handlung für die Gesellschaft verändere nicht »die Natur des Verbrechens […] nach seinem Begriffe«, konstatiert er doch, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse es rechtfertigen können, »sowohl einen Diebstahl von etlichen Sous oder einer Rübe mit dem Tode, als einen Diebstahl, der das hundert- und mehrfache von dergleichen Werthen beträgt, mit einer gelinden Strafe zu belegen.« Daß Hegel jedoch nahelegt, daß eine Praktizierung der Todesstrafe, obgleich sie begrifflich gerechtfertigt scheint, nicht notwendig zu vollziehen ist, sondern der historischen Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft überlassen bleibt, ergibt sich aus einer Notiz in der Hotho-Nachschrift, die besagt: »In neuerern Zeiten ist man in Betreff hierauf [d.i. auf die Todesstrafe] milder geworden, indem die Ansicht der Strafe von der Bildung überhaupt eines Volks abhängen kann.«196 So drängt sich hier, neben dem Verweis auf die historische Perspektive, die Frage auf, ob Hegels Befürwortung der Todesstrafe vor dem Hintergrund der von ihm selbst in Betracht gezogenen moralisch-sittlichen Dimension von Verbrechen und Strafe tatsächlich zwingend ist. Klesczewski etwa kommt zu dem Schluß, daß Hegels Begründung der Todesstrafe nur sehr beschränkte Gültigkeit beanspruchen könne: Unter der Voraussetzung, daß der »affirmative Wert des Verbrechens an sich bereits die Fortbestimmung zum moralischen Subjekt in sich«197 enthält – da sich im Unrecht bereits »ein Unterschied vom Recht und vom subjektiven Willen entwickelt«198 −, sei die Legitimität der Sanktion mit der Aufgabe verknüpft, dem Täter sein moralisches Wesen zu vergegenständlichen, ihm anhand des tatsächlichen Ausmaßes seiner Tat zu verdeutlichen, »wie sich das in der Tat in widersprüchlicher Weise geltend gemachte Wohl in rechtlich verallgemeinerbarer Form auf die intersubjektive Beziehung von Täter und Opfer auswirkt.«199 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung scheidet jedoch Klesczewski zufolge die Todesstrafe als gerechtfertigte Sanktion prinzipiell aus, »weil hier das Allgemeine sich unter totaler Verneinung der Einzelheit wiederherzustellen versucht, somit gerade die Beziehung zum besonderen Willen gänzlich aufgelöst wird.«200 Die Sank194 195 196 197 198 199 200

Ebd. § 101 Anm. So die Argumentation von Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 241. Ilting, Bd. 3. 322. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 244. Enzyklopädie § 502. Diethelm Klesczewski: Die Rolle der Strafe. A. a.O. 244. Ebd. 245.

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tion könne daher unter diesen Bedingungen nicht mehr von der Subjektivität des Verbrechers anerkannt werden, denn diese wird ja vernichtet. Diese These Klesczewskis läßt sich mit einem Blick auf Paragraph 132 der Grundlinien verdeutlichen, in dem Hegel die Notwendigkeit der Anerkennung geltender Normen durch den subjektiven Willen betont und diese Forderung aus dem »Recht des subjectiven Willens« ableitet. Dieses Recht des subjektiven Willens besteht für Hegel darin, daß das, was von ihm anerkannt werden soll, von ihm auch »als gut eingesehen werde« und daß ihm seine Handlung gemäß seiner Kenntnis von ihrer allgemeinen Beschaffenheit zugerechnet werden soll. Geht man davon aus, daß nicht das rechtskräftige Urteil, sondern erst der Vollzug der Strafe dem Täter, wie Kleczewski schreibt, sein moralisches Wesen vergegenständlichen und die von ihm verletzte Anerkennungsbeziehung wiederherstellen kann − so daß dieser die Strafe anerkennen, also einen Erkenntnisprozeß hinsichtlich seiner Schuld in Bezug auf die von ihm zu verantwortende Handlung und deren Folgen zu vollziehen hat −, läßt sich ein Argument dafür gewinnen, daß auch nach Maßgabe von Hegels eigenen Prämissen die Legitimität der Todesstrafe als fragwürdig erscheint.

6.1.7 Strafrecht und Gesellschaft Angesichts des Widerspruchs einer »rächenden Gerechtigkeit«, deren Prinzip zwar die Wiedervergeltung ist, deren Form jedoch dieselbe Unmittelbarkeit des subjektiven Willens ist wie sie das Verbrechen darstellt, muß von der Sphäre des abstrakten Rechts zu einer anderen Gestalt der sich verwirklichenden Freiheit des Willens fortgegangen werden. Der subjektive Wille, der in der Rache das Verbrechen zu vergelten trachtet, kann »in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen«201 und in solcher für das subjektive Empfinden unendlichen Kränkung das ›gerechte Maß‹ der Wiedervergeltung verfehlen. Das Verbrechen ist zwar Hegel zufolge als Verletzung des an sich seienden Willens zugleich unendliche Verletzung, insofern sich die Rechtsverletzung gegen eine Daseinsform der Freiheit richtet. Dennoch weist er die von ihm als abstrakt bezeichnete Vorstellung zurück, »daß es nur Eine Tugend und Ein Laster giebt«202 und jede Verletzung gleichermaßen als Verletzung der unendlichen Persönlichkeit erscheint.

201 202

GPR § 102. Ebd. § 96 Anm.

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Als Erfolgshaftung tritt das Prinzip der Rache, das noch im Zwölftafelgesetz im Vordergrund steht − zu einer Zeit also, da eine öffentliche Strafverfolgung noch kaum entwickelt war203 − in den Gegensatz zur modernen Verschuldenshaftung, denn die Rache sieht einzig auf den durch den Rechtsbruch entstandenen Schaden (worunter auch die persönlich empfundene ›Kränkung‹ zu rechnen ist). War die ›gerechte Rache‹ noch den antiken Helden-Individuen vorbehalten, so setzt die Strafe hingegen einen »gesellschaftlichen Verallgemeinerungsprozess des Rechts voraus […], in dem die Reaktion auf erlittenes Unrecht quasi sozialisiert und der Sanktionskompetenz einzelner Individuen entzogen worden ist«204. Die konkrete Art und Weise dieser Reaktion ist dann dem allgemeinen Zustand der Gesellschaft und ihres sozioökonomischen Zusammenhangs überlassen, und daher fordert das Prinzip »strafender Gerechtigkeit« (im Unterschied zu dem der »rächenden Gerechtigkeit«) die Gestalt des bereits genannten subjektiven Willens, der als besonderer das Allgemeine als solches will.205 Während Hegel im Rahmen des Moralitätskapitels der Grundlinien in erster Linie handlungstheoretisch argumentiert, begibt er sich mit seinen Überlegungen zur Sittlichkeit auf eine Metaebene der Zurechnungsproblematik und damit der Strafe206, indem er sich mit der Frage auseinandersetzt, unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen überhaupt zugerechnet wird, d. h. es geraten hier sowohl das Verhältnis zwischen dem Adressaten der Zurechnung und der Zurechnungsinstanz als auch der gesellschaftliche Nutzen von Schuldzurechnung und Strafe in den Blick. Für die bürgerliche, d. i. kapitalistische Gesellschaft als eine hochgradig arbeitsteilig organisierte Gesellschaftsform ist die gesetzliche Anerkennung von Eigentum und Persönlichkeit, die klare Regelung der Eigentumsverhältnisse konstitutiv; das zunächst unmittelbare und abstrakte Dasein des einzelnen Rechts geht damit in die »Bedeutung des Anerkanntseyns als eines Daseyns in dem existirenden allgemeinen Willen und Wissen über«207. Das hat zur Folge, daß das 203

Vgl. Stephan Meder: Rechtsgeschichte. A. a.O. 27. Im übrigen sah die Zwölftafelgesetzgebung vor, daß die physische Vergeltung mit dem gleichen Übel nur bei schweren Körperverletzungen gestattet war, bei leichteren Verletzungen waren Geldbußen vorgesehen. Generell läßt sich beobachten, daß das Zwölftafelgesetz die Befugnisse des Verletzten einzuschränken sucht, um den Täter vor unberechtigter Verfolgung zu schützen. (Vgl. ebd. 28 ff.) 204 Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 294. 205 Vgl. GPR § 103. 206 So auch Kurt Seelmann: Ebenen der Zurechnung bei Hegel. – In: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung. Herausgegeben von Matthias Kaufmann und Joachim Renzikowski. A. a.O. 85–92; hier 87. 207 GPR § 217.

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Verbrechen »nicht mehr nur Verletzung eines subjectiv-Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache [ist], die eine in sich feste und starke Existenz hat.«208 Diese ›allgemeine Sache‹ wird durch das Verbrechen also zum einen in dem Sinne verletzt, daß die Gesellschaft als ganze davon betroffen ist, und zum andern in dem Sinne, daß das Recht als ein Allgemeines verletzt wird: Die besondere Gefährlichkeit einer ›Verletzung des Rechts als Recht‹ unter den Bedingungen der allgemeinen gesetzlichen Ordnung besteht nun darin, daß sich der Erfolgsunwert des Verbrechens insofern steigert, als mit einem Mitglied der Gesellschaft zugleich auch alle andern verletzt werden; vom Verbrechen als einer Verletzung der gesellschaftlich fundamentalen Anerkennungsbeziehung sind demnach alle Mitglieder der Gesellschaft betroffen, inklusive des Täters, wie bereits ausgeführt wurde. Damit verändert sich das Verbrechen zwar nicht seinem Begriff nach (denn seinem Begriff nach ist es die Verletzung des Rechts als Recht), aber gleichwohl hinsichtlich seiner äußeren Existenz. Das Verbrechen als die daseiende Willensäußerung des Täters ist nun vorrangig danach zu bemessen, in welchem Grade es die »Vorstellung und [das] Bewußtseyn von dem Gelten der Gesetze« in Frage stellt. Die sich aus dem Dargestellten ergebenden und zum Begriff der Strafe hinzutretenden präventionstheoretischen Aspekte angesichts der zunächst einmal konstatierten größeren Gefährlichkeit des (ungestraften) Verbrechens für die Rechtsgemeinschaft, die sich mit der Wiedervergeltung des Unrechts als immanentem Zweck der Strafe verbinden, gehören jenen Modalitäten der Strafe an, denen Hegel in Paragraph 99 der Grundlinien ein ausdrückliches Recht einräumt. Allerdings macht er dort zugleich deutlich, daß vor jeder strafrechtlich-gesellschaftlichen Indienstnahme der Strafe der sichere Nachweis erbracht sein muß, daß die Strafe in sich selbst gerechtfertigt ist; in jeder zweckhaften Ausrichtung der Strafmodalitäten bleibt die Wertgleichheit von Verbrechen und Strafe »die Grundregel für das Wesentliche«209. Insofern kann man auch nicht davon sprechen, daß mit Hegels Berücksichtigung der ›Gefährlichkeit einer Handlung‹ hinsichtlich der inneren Sicherheit und Stabilität der Gesellschaft ein selbständiger Strafzweck hinzutritt: Hegel versucht nicht, die Strafe im Rahmen der Sittlichkeit neu zu legitimieren; unter den Bedingungen moderner Gesellschaften hat sich die rechtskonstitutive, auf Wechselseitigkeit gründende Anerkennungsbeziehung durch das Gesetz weitgehend abgesichert, so daß Hegel folgern kann, daß es durch einzelne Rechtsverstöße nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wie eine Gesellschaft bestimmte 208 209

Ebd. § 218. Ebd. § 101 Anm.

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rechtsverletzende Handlungen bewertet und welches Strafmaß sie für dieselben vorsieht, hängt von der inneren Stabilität und dem allgemeinen geistigen Entwicklungsstand und der politischen Ausrichtung der Gesellschaft ab.210 Es obliegt der gesetzgebenden Gewalt des Staates und der wissenschaftlichen Rechtslehre zu beurteilen, inwiefern die vereinzelte Mißachtung des Rechts das allgemeine Rechtsbewußtsein zu untergraben droht. Hegel zufolge ist es diese historische und kulturelle Zufälligkeit, die wiederum zu der »Berechtigung« führt, einen Diebstahl entweder mit einer geringen Geldstrafe oder mit dem Tod zu bestrafen. Die sich geschichtlich herausbildende innere Stabilität von Gesellschaften und Staaten führt jedoch aus Hegels Sicht, wie 210

Karl Marx hat sich vor dem Hintergrund statistisch ermittelter ökonomisch-gesellschaftlicher Tendenzen mit dem Verhältnis von Bevölkerungsentwicklung, Verbrechen und Pauperismus (vor allem mit Blick auf Großbritannien) befaßt. So heißt es in einem Artikel für die New York Daily Tribune vom 16. September 1859, in dem Marx die Beobachtung äußert, daß in England zwischen 1849 und 1858 aufgrund bestimmter ökonomisch-rechtlicher Entwicklungen die Zahl der Verbrechen rascher angewachsen sei als die Bevölkerung, während der Pauperismus in etwa konstant blieb. In den Jahren von 1849 bis 1858 hatte sich der Weltmarkt beträchtlich ausgedehnt und der gesellschaftliche Reichtum sich vermehrt, ohne daß jedoch das Elend gemindert wurde; die Zahl der begangenen Verbrechen stieg sogar. So sind Rechtsverletzungen für Marx im Allgemeinen »das Ergebnis wirtschaftlicher Faktoren, die außerhalb der Kontrolle des Gesetzgebers stehen«; jedoch hängt es »in gewissem Grade von der offiziellen Gesellschaft ab, bestimmte Verletzungen ihrer Regeln als Verbrechen oder nur als Vergehen zu stempeln. Diese Differenz in der Beurteilung, die weit davon entfernt ist, indifferent zu sein, entscheidet über das Schicksal von Tausenden von Menschen und über den moralischen Ton der Gesellschaft. Das Gesetz kann nicht nur das Verbrechen bestrafen, sondern es auch hervorrufen«. (MEW 13. 492 f.) Zwar spricht sich Marx noch 1853 für die absolute Theorie der Strafe in kantisch-hegelscher Prägung und gegen präventive Zwecke aus, doch macht sich in seiner späteren Kritik am Strafrecht deutlich die Auffassung geltend, daß das Strafrecht, wie auch immer legitimiert, eine Waffe des Kapitals gegen die Arbeiterklasse ist, durch welches es sich ökonomisch und rechtlich abzusichern sucht. »Eine Straftheorie, so heißt es in der Heiligen Familie, »welche zugleich im Verbrecher den Menschen anerkennt«, wie es in Hegels Straftheorie Marx zufolge der Fall ist, »kann dies nur in der Abstraktion, in der Einbildung tun, eben weil die Strafe, der Zwang dem menschlichen Verhalten widersprechen.« (MEW 2. 190) Marx unterscheidet also offenbar zwischen der Idee der Strafe als einer Wiederherstellung des Rechts und der Realität staatlichen Strafens, in der es stets der richterlichen Willkür überlassen bleibe, »die Strafe nach der Individualität des Verbrechers einzurichten«, was Marx im abstrakten Grundsatz des ius talionis gefordert sieht. »Unter menschlichen Verhältnissen dagegen« – Marx hat hier wohl die kommunistische Gesellschaft im Sinn, die sich vom marktökonomischen Prinzip der Warenproduktion und damit von der Klassengesellschaft gelöst hat – »wird die Strafe wirklich nichts anderes sein als das Urteil des Fehlenden über sich selbst.« Und weiter: »Man wird ihn nicht überreden wollen, daß eine äußere, ihm von andern angetane Gewalt eine Gewalt sei, die er sich selbst angetan habe. In den andern Menschen wird er vielmehr die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er über sich selbst verhängt hat, d. h. das Verhältnis wird sich geradezu umkehren.« (Ebd.)

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gesagt, letzten Endes zu einer Anpassung des Strafkodex und zu einer größeren Milde in der Ahndung von Verbrechen211, obschon diese Bestimmung, der zufolge die moralische und juristische Beurteilung eines Unrechts immer wesentlich von gesellschaftlich-sozialen Faktoren mitbestimmt wird, ebenso den Umkehrschluß zuläßt: »Ist die Gesellschaft noch an sich wankend« oder befindet sie sich in einer Krise, »dann müssen durch Strafen Exempel statuiert werden, denn die Strafe ist selbst ein Exempel gegen das Exempel des Verbrechens.«212 So naheliegend dieser Umkehrschluß auch sein mag, ist es doch offenkundig, daß Hegel den Aspekt der Prävention angesichts der sozialen Bedeutung eines Verbrechens als ein Argument für die Einschränkung von Zurechnung im Sinne einer verhältnismäßigen Milderung der Strafen für bestimmte Verbrechen vorsieht und nicht als ein Argument für unumschränkte Zurechnung. Einerseits betont Hegel, daß die Rechtsverletzung im Sinne der Verletzung der allgemeinen Anerkennungsbeziehung an allgemeiner Bedeutung gewinnt und umso gefährlicher erscheint, als sie die konkrete Rechtsgrundlage der Gesellschaft und nicht nur ein besonderes Recht in Frage stellt. Von dieser Seite ist für Hegel also eine besondere Gefahr des ungestraften Verbrechens für die Gesellschaft gegeben, denn »in der gebildeten Gesellschaft ist das Gültige ein Gültiges für alles, das Beispiel des ungestraften Verbrechens um desto gefährlicher.«213 Andererseits stellt er fest, daß das Verbrechen in einer in sich gefestigten Rechtsordnung lediglich als »Einzelheit«, als ein »Zufälliges, Isolirtes« zu betrachten sei.214 D. h. mit anderen Worten, daß das Verbrechen innerhalb der funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft auch als ein »bloß Subjective[s]« anzusehen ist, »das nicht so aus dem besonnenen Willen, als aus natürlichen Antrieben, aus eigenthümlichen Momenten entsprungen scheint.«215 Wird unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen, die die ›Bildung‹ der Bürger gewährleisten, ein Verbrechen begangen, so kann es, wie man dieser Stelle entnehmen kann, gerade nicht dem vernünftigen Willen zugesprochen werden, sondern lediglich der natürlichen Seite des Willens, seinen Trieben und Leidenschaften. Dadurch aber »wird dem Verbrechen der Character genommen, in welchem es seine Zurechnung erhält.«216 Die Rechtsverletzung wird damit als ein »Unbedeutenderes« gesetzt, wodurch zugleich eine mildere Ahndung möglich wird, denn in der 211 212 213 214 215 216

Vgl. GPR § 218. Ebd. § 218 Z. Ilting, Bd. 3. 662. Ebd. Ebd. 663. Ebd.

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Strafe, so heißt es in der Nachschrift Hotho weiter, manifestiert sich nur die Ungültigkeit des Verbrechens, in der bürgerlichen Gesellschaft habe das Verbrechen jedoch schon »an sich kein Gelten.«217 Damit scheint nun allerdings das genaue Gegenteil dessen der Fall zu sein, was bisher sowohl für Verbrechen und Strafe als auch für die Zurechnung galt: Zurechnung im Sinne einer moralisch-rechtlichen Kategorie – basierend auf der unabdingbaren Freiheit des Willens und der Handlung als eines Sinnausdrucks des Handelnden −, scheint damit unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft generell zu einem Problem zu werden, da dem Täter »angesichts der in der Gesellschaft objektivierten Vernunftallgemeinheit diese Vernunftallgemeinheit als Grundlage der Zurechnung gar nicht mehr zugesprochen wird.«218 Es bedarf nicht mehr der subjektiven Tätigkeit der Verwirklichung einer ›guten‹ oder vernünftigen Ordnung, sondern diese gilt bereits, aber sie gilt nur deswegen, weil sie auf allgemeine und praktische Weise anerkannt wird. Ein Verstoß gegen eine solche allgemein anerkannte Ordnung erscheint im allgemeinen Bewußtsein nicht mehr als Ausdruck von Vernunft, sondern vielmehr als ein »Naturereignis«219. Damit stellt sich jedoch auch ein stark deterministisches Moment innerhalb von Hegels Strafkonzeption ein −, als Anomalie, die dem Täter gerade nicht Vernunftgründe für sein Handeln unterstellt; es erscheint als deviantes Verhalten, als Abweichung von der gesellschaftlichen, d. i. vernünftigen Norm. Dies führt jedoch, ausgehend von Hegels Prämisse, durch die Strafe werde der Verbrecher in seiner subjektiven Freiheit respektiert und als ›Vernünftiges geehrt‹, in gewaltige Widersprüche, denn damit stellt sich die grundsätzliche Frage erneut, welches Verhalten als eine ›Handlung‹ gilt und nach Maßgabe welcher Kriterien einem Menschen seine Handlung zugerechnet werden kann. Zusammenfassend und ausblickend läßt sich an dieser Stelle festhalten: Die Konsequenzen der von Hegel dargestellten historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hinsichtlich des Strafrechts liegen auf der Hand: Es bedarf keiner generalpräventiven Mittel, um einer Gefährdung

217

Ebd. 664. Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. A. a.O. 52. 219 Seelmann bemerkt in diesem Zusammenhang, daß sich Hegels Straf- und Zurechnungslehre hier mit der funktionalistischen Strafrechtsdogmatik unserer Tage berühre, die auf dem Versuch beruht, »die subjektive Tatseite betreffende Rechtsbegriffe allein aus ihren Funktionen im Strafrechtssystem heraus, von der kriminalpolitischen Notwendigkeit der Rechtsfolgen her, zu interpretieren. […] Hegels bürgerliche Gesellschaft argumentiert insofern funktionalistisch, als Hegel auf dieser Ebene […] den Akt der Zurechnung insgesamt ausdrücklich abhängig macht von seiner praktischen Notwendigkeit in Bezug auf Dritte.« (Ebd. 53) 218

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der Rechtsordnung entgegenzutreten, sondern »es brauchen nur potentielle Täter, die genau wissen, daß sie Unrecht begehen wollen, abgeschreckt zu werden.«220 Diese Aufgabe obliegt bei Hegel im engeren Sinne der »polizeylichen Strafgerechtigkeit«221 – denn die »Polizey« ist für Hegel die »Bethätigung des Staats […] in Rücksicht auf die bürgerliche Gesellschaft, des Staats als äusseren Staats«222 − und erfüllt im weiteren Sinne eine »allgemeine sozialstaatliche Erziehungsaufgabe«223. In einer Gesellschaft, deren rechtliche Organisation in sich gefestigt ist, die es also nicht mehr nötig hat, an dem verführerisch erscheinenden Verbrechen ein »Exempel« zu statuieren, treten jedenfalls deutlich individualpräventive Maßnahmen in den Vordergrund. Inzwischen besteht weitgehend Einigkeit in der Ansicht, daß Hegels Strafrechtslehre insofern schon deshalb als »modern« betrachtet werden kann, weil sie die Forderungen der heute herrschenden sogenannten »Vereinigungstheorie« – zu deren Anhängern auch Albert Friedrich Berner, einer von Hegels rechtswissenschaftlichen Schülern224, zählt – erfüllt. Diese ›Vereinigungstheorien‹ (im Grunde muß man von ihnen im Plural sprechen) sind 220

Wolfgang Schild: Ende und Zukunft des Strafrechts. A. a.O. 102. GPR § 233. 222 Ilting, Bd. 4. 587. 223 Wolfgang Schild: Ende und Zukunft des Strafrechts. A. a.O. 102. Schild gelangt − in der Extrapolation des Strafbegriffs Kants und Hegels − zu dem Schluß: »Das Strafrecht ist damit tot!« (Ebd.) Da unsere gesamte Gesellschaft heute nur noch als »Netz von Rechtsverhältnissen gedacht werden« könne und die »staatlich-rechtliche Herrschaft […] einen solch unerhörten Grad von Stabilität erreicht [hat], daß kein Verbrechen sie wirklich beeinträchtigen kann« (ebd. 100), werde durch die Rechtsverletzung auch die für die Gesellschaft fundamentale Anerkennungsbeziehung nicht verletzt. Unrecht, so die Beobachtung Schilds, entspringt in der Regel ebenso anderen (also nicht auf die Verletzung der personalen Anerkennung des Gegenübers zielenden) subjektiven Motivationen wie sich für sie objektive Gründe (etwa in der Sozialstruktur) anführen lassen. Die Konsequenzen, die aus dieser Entwicklung zu ziehen sind, sind für Schild u. a. die »fortschreitende Zurückdrängung des Richters«, und zwar ebenso zugunsten des Staatsanwalts wie zugunsten des Sachverständigen, der in der Praxis vor allem bezüglich der Sanktionsbemessung nicht selten bereits die entscheidende Instanz darstellt (vgl. ebd. 103). Eine weitere Folge ist die sogenannte »symbolische Funktion« der Strafgesetze, was bedeutet, daß der Staat Strafen androht, nicht in der Absicht, diese durch Gerichte verhängen zu lassen, sondern um durch die Strafandrohung bestimmte Pflichten in ihrer Wichtigkeit eindringlich zu untermauern; sie fallen damit unter die eben erwähnte staatliche Erziehungsaufgabe (vgl. ebd.). Das auf diese Weise den Tod überdauernde Strafrecht müsse sich zudem »auf einen Kernbereich materiellen Unrechts beschränken« (ebd. 109), also etwa Bagatelldelikte ausschließen. 224 Vgl. dazu A.F. Berner: Lehrbuch des deutschen Strafrechts. 18. Aufl. Leipzig 1898. (Nachdruck mit einem Nachwort von Wolfgang Schild. Aalen 1986.) Zu Berners strafrechtlichem Ansatz siehe ferner Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 161 ff. sowie Michael Ramb: Strafbegründung in den Systemen der Hegelianer. A. a.O. 221

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allerdings eine nicht unproblematische Sammelbezeichnung, unter deren Etikett die Merkmale von Vergeltung, General- und Spezialprävention sich wechselseitig ergänzen sollen (da man davon ausgeht, daß nicht in einem einzigen dieser Merkmale alle entscheidenden Aspekte von Strafbegründung und Strafzweck erfaßt werden können). Die Strafe ist damit, wie auch von Hegel dargestellt, ihrem Begriff nach zwar Vergeltung, hinsichtlich der Verhängung und Vollstreckung als Modalitäten der Strafe vereinigen sich in ihr aber auch general- und spezialpräventive Zwecke (wodurch dann also indeterministische wie deterministische Momente und Versatzstücke gleichermaßen in eine Konzeption von Strafe aufgenommen werden müssen).225 Vergeltung, so wurde gezeigt, ist mit Hegel als die »Vollziehung des Selbstwiderspruchs des Verbrechens«226 zu werten, in der sich die Nichtigkeit des verbrecherischen Willens manifestiert, der damit zugleich als »Fehlform der Freiheit«227 aufgezeigt wird. Auf welche Weise dies geschieht, ist von der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung und dem jeweiligen Zustand der Gesellschaft abhängig, in welcher der Wert der jeweiligen Rechtsverletzung, auf welche die Strafe oder der Strafvollzug gleichwertig zu reagieren hat, zu bestimmen ist. Dabei ist allerdings zu betonen, daß das Moment von Zufälligkeit, das sich in der historischen Entwicklung des Strafkodex geltend macht, nur in Bezug auf die jeweilige Ausprägung der Gesellschaft (im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformationen ihrer Zeit) in gewisser Weise ›zufällig‹ ist; ›zufällig‹ ist jedoch keineswegs die Art und Weise, wie ausgehend von den gesellschaftlichen Verhältnissen und der allgemeinen Bildung der Zeit die allgemeine Funktion und der Begriff der Strafe verstanden oder diskutiert werden. Diese Modalitäten der Strafe fallen indes in die Sphäre der Staatlichkeit (da für uns heute die Gerichtsbarkeit in die Sphäre der Judika225

Die Bündelung verschiedener Begründungsansätze unter dem Etikett einer »Vereinigungstheorie« bietet daher nicht nur Vorteile. So kritisiert Stephan Stübinger (Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 290) diesen Theorieansatz als einen Versuch der Reduktion von Komplexität, in dem sich zudem eine »Art von Indifferenz gegenüber der Frage nach der Legitimierbarkeit staatlicher Strafe« artikuliert. Seit den 1990er Jahren zeichne sich jedoch der Trend ab, die verschiedenen Straftheorien wieder gesondert zu diskutieren. Von einem Abschied von vergeltungstheoretischen Prämissen, wie er in den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts proklamiert wurde (etwa von Ulrich Klug, wie eingangs erwähnt), könne derzeit keine Rede mehr sein; im Gegenteil strebe man wieder vermehrt den Bezug zu ›klassischen‹ Begründungen des Strafrechts an. Die »verkrustete Einteilung in Präventionstheorien einerseits und Vergeltungslehren andererseits« sei nunmehr jedoch aufgeweicht und in diesem Zuge auch die retributiv argumentierenden Theorien von den vielfachen Vorurteilen einer religiös-metaphysischen Einbettung gereinigt worden (vgl. ebd. 291). 226 Wolfgang Schild: Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffes. A. a.O. 229. 227 Ebd.

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tive fällt); hier müssen nun letzte Entscheidungen getroffen werden, die sich nicht mehr auf unmittelbare Weise aus dem Begriff der Strafe ableiten lassen und neben dem beschränkten und zu beschränkenden Raum für richterliche Willkürentscheidungen gilt es von daher ebenso, rationale Gründe für die Strafzumessung zu erarbeiten. Damit erfährt das Strafgesetz dann freilich gewisse graduelle Veränderungen. Neben der anhaltenden Grundsatzdiskussion hinsichtlich der Legitimität und des Nutzens des Strafrechts ist aus heutiger Perspektive etwa auch eine Verrechtlichung der Gnade zu beobachten; die Strafgerichtsbarkeit des substantiellen Staates (im Gegensatz zum bloßen Verstandesstaat der bürgerlichen Gesellschaft) nimmt auch bei Hegel bestimmte Momente der Gnade in sich auf, während die bürgerliche Gesellschaft selbst »gnadenlos«228 ist – auch darin ist für Hegel also ein Grund dafür zu sehen, daß die bürgerliche Gesellschaft über sich selbst hinaustreibt in staatlich-sittliche Verhältnisse. Aus heutiger Perspektive betrachtet, muß man feststellen, daß inzwischen durchaus bestimmte Kriterien für die entschuldigende, strafaufhebende oder strafmildernde Berücksichtigung der Individualität des Täters, auch für die Berücksichtigung besonderer Konfliktsituationen oder auch solchen Zuständen wie Trunkenheit erarbeitet und in das Strafrecht integriert worden sind − Umstände der Tat also, die für Hegel laut Paragraph 132 der Grundlinien der Sphäre der »Gnade« zuzurechnen sind und damit die rechtlichen Verhältnisse zunächst einmal nicht tangieren.

6.2 Gnade und Begnadigung Das Begnadigungsrecht umfaßt nach unserem heutigen Verständnis die Befugnis, rechtskräftig verhängte Strafen zu erlassen, umzuwandeln, zu ermäßigen oder auszusetzen. Der Begriff der Gnade impliziert ferner, daß ein rechtskräftig Verurteilter kein Recht auf Gnade hat; der Begnadigende kann ohne Angabe von Gründen über das Gnadengesuch entscheiden und folglich gibt es gegen die Ablehnung eines Gnadengesuchs auch keinen Rechts228

Wolfgang Schild: Das Gericht in Hegels Rechtsphilosophie. – In: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Herta Nagl-Docekal. Zweiter Band. Wien 1982. 267–294; hier 292. »Wer sollte als abstrakte Freiheit (Person) auch daran [an Gnade] Interesse haben? Im substantiellen Staat ist die Sphäre der Person überschritten, in ihm kommt auch der Einzelne zu seinem individuellen Recht. Deshalb wird in steigendem Maße seine Individualität, seine Lebensgeschichte, die konkreten Verhältnisse, in denen er lebt, berücksichtigt, ebenso die Folgen, die aus dem Urteil für ihn erwachsen.«

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behelf; nach dem Modell der BRD existiert lediglich ein Recht auf Anhörung eines Gnadengesuchs. Der Begnadigte hat außerdem nicht das Recht, die Begnadigung abzulehnen. Die von Alters her mit der Begnadigung verbundene Auffassung findet aus diesem Grunde ihren Ausdruck in der Formel »Gnade vor Recht«. Mit Blick auf Rechtsprechung und Begnadigung kommen zwei verschiedene staatliche Gewalten zum Zuge; für die Rechtsprechung sind die Gerichte zuständig (Judikative), und die Möglichkeit der Begnadigung ist laut Art. 60, Abs. 2 GG dem Bundespräsidenten als der über den geteilten Gewalten stehenden Instanz vorbehalten. Zu unterscheiden sind folgende Formen der Aufhebung von Rechtsfolgen einer Straftat: Erstens die Begnadigung nach rechtskräftiger Verurteilung im Einzelfall (im Falle der BRD:) durch den Bundespräsidenten bzw. die Ministerpräsidenten, zweitens die Amnestie: die gnadenweise erlassene Strafe für eine Vielheit von Fällen nach rechtskräftiger Verurteilung. Drittens ist die Abolition zu nennen, also die Niederschlagung eines Strafverfahrens, entweder im Einzelfall oder – viertens − für eine Gruppe von Angeklagten.229 Während im Falle einer Niederschlagung des Verfahrens vor der Urteilsverkündung auch keine Rechtsfolgen für den Betroffenen gegeben sind, bleiben bei der Einzelbegnadigung all jene Rechtsfolgen der Verurteilung bestehen, die sich nicht unmittelbar auf die Strafvollstreckung beziehen.230 Mit Blick auf die Begnadigung stellen sich allerdings grundsätzliche, im 18. und 19. Jahrhundert vehement diskutierte Fragen, wie etwa die nach der Vereinbarkeit von Gnade und dem Rechtsgrundsatz der ›Gleichheit vor dem Gesetz‹231, dem Grundsatz der Gerechtig229

Abgesehen werden muß in diesem Zusammenhang von dem in der BRD seit 1953 der Rechtsprechung eingerichteten Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Straftat, siehe dazu Winfried Hassemer: Einführung in die Grundlagen des Strafrechts. München 1990. 299 f., 245 f. und 58 f. 230 Um das oben Gesagte noch ein wenig zu präzisieren: In der BRD gehört inzwischen die sogenannte ›bedingte Begnadigung‹ zum gesetzlich anerkannten Bestandteil der ordentlichen Strafrechtspflege sowie die Möglichkeiten eines Teilerlasses der Strafe unter der Voraussetzung guter Führung sowie die Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Amnestien jedoch, also ›Massenbegnadigungen‹ bedürfen, anders als Einzelbegnadigungen, ihres allgemeinen Charakters und ihres mehr politischen als strafrechtlichen Interesses wegen der Gesetzesform. (Bereits die Verfassung der ›Weimarer Republik‹ sieht vor, daß die Amnestierungsbefugnis vom Gnadenrecht gelöst wird und der Legislative zu übertragen ist, vgl. Art. 49 Abs. II Weim.RVerf.) Die Begnadigung im engeren Sinne ist jedoch die Einzelbegnadigung nach rechtskräftigem Urteil; hier liegt nicht ein materielles Gesetz zugrunde, sondern es handelt sich um einen konkreten staatlichen Hoheitsakt. Vgl. Karl Engisch: Recht und Gnade. – In: Schuld und Sühne. Dreizehn Vorträge über den deutschen Strafprozeß herausgegeben von Burghard Freudenfeld. München 1960. 107–118.) 231 Für Christoph Menke liegt umgekehrt genau darin, daß das Begnadigungsrecht (er

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keit232 also − denn es mag scheinen, als gerieten durch die Begnadigung des Straftäters die »schuldlosen Opfer […] in Vergessenheit«233 − sowie mit der Forderung nach Gewaltenteilung. Da der Staat in der Ausübung des Begnadigungsrechts auf sein Sanktionsrecht verzichtet, so scheint gerade das Einräumen eines Rechts auf Begnadigung der von Hegel begründeten Vergeltungstheorie der Strafe zu widersprechen. Und zwar deshalb, weil eine Straftheorie, welche die Vergeltung von Unrecht und die damit verbundene Wiederherstellung des Rechts zum immanenten Zweck der Strafe erklärt, zugleich eine Pflicht zu strafen behaupten muß.234 Vor dem Hintergrund einer absolut verstandenen Pflicht zu strafen stellt der Gnadenakt eines Erlasses oder einer Milderung der Strafe – so das kantische Argument gegen das Begnadigungsrecht, auf das wir noch zurückkommen werden – eine Pflichtverletzung dar. Denn für Kant gilt die

spricht von ›Gnade‹) den Grundsatz der allgemeinen Rechtsgleichheit im Einzelfall aufhebt, seine Berechtigung: »Die Gnade […] urteilt nicht im Namen anderer Gesetze, sondern des Anderen der Gesetze, denn die Not, die sie beheben will, ist nicht eine Folge ihrer formalen Allgemeinheit, sondern ihres egalitären Gehalts. Die Gnade richtet sich auf die ›existenzielle‹ Bedrohung oder Gewalt, die es für ›Besondere in einer besonderen Lage‹ bedeuten kann, mit allen anderen gleich behandelt zu werden.« Gnade reagiert damit aus der Sicht von Menke auf eine »(Ausnahme-)Situation«; die »Billigkeit unternimmt die Korrektur eines allgemeinen Gesetzes, damit sein normativer Gehalt – den der Gesetzgeber ›im Sinn‹ hatte – in einem besonderen Fall angemessen zur Geltung kommen kann. Die Gnade dagegen beruht auf der Diagnose, dass auch eine noch so angemessene Anwendung, die den egalitären Gehalt eines Gesetzes zur Geltung bringt, dem Adressaten dieser Anwendung in diesem besonderen Fall existenziell fremd bleiben muß. Der Gnade geht es […] um die ›Inkommensurabilität des Einzelnen‹ gegenüber der Gleichheitsidee des Gesetzes.« Menke behauptet sogar, daß sich die Gnade »gegen das egalitäre Recht auf ein ›Notrecht‹« berufe, »dem auch eine ›angemessene‹ oder ›billige‹ Gesetzesanwendung nicht genügen kann.« (Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Berlin 2000. 176 f.) 232 So finden Gustav Radbruch zufolge die konfessionellen Differenzen innerhalb des Christentums in der jeweiligen Auffassung von ›Gerechtigkeit‹ und ›Gnade‹ ihren Ausdruck: Während der Katholizismus »eine großartige christlich fundierte Lehre von Recht und Gerechtigkeit entwickelt hat, hatte der Protestantismus, zum mindesten das Luthertum, eine solche Lehre nicht aufzuweisen«, im Protestantismus habe die Gerechtigkeit keine oder nur eine sehr untergeordnete Stellung. (Gustav Radbruch: Gerechtigkeit und Gnade. – In: Rechtsphilosophie. A. a.O. 329–335; hier 329.) Während die Gerechtigkeit nach christlichem Verständnis die »Schätzung der Menschen nach Verdienst und Würdigkeit bedeutet, bedeuten Liebe und Gnade Bejahung ohne Rücksicht auf ihren Wert und Unwert.« (Ebd. 330) 233 Lu De Vos: Das Geschehene ungeschehen machen. Über eine Denkfigur bei Fichte und Hegel. – In: Jahrbuch für Hegelforschung 4 (2000). 221–230; hier 222. 234 Mit dem Einwand gegen vergeltungstheoretisch argumentierende Straftheorien, in ihnen sei kein Raum für Gnade, setzt sich Igor Primoratz (allerdings recht knapp) auseinander: Banquos Geist. A. a.O. 61 f.

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Formel: »Fiat justitia pereat mundus«; Kant zufolge muß die Strafe schlechthin und unter allen Umständen vollzogen werden.235 Wie kann Hegel dem Gnadenrecht innerhalb seiner Straf- und Rechtskonzeption aber dennoch einen legitimen Ort zuweisen? − Zunächst einmal ist mit Blick auf Hegels Straftheorie die Frage zu stellen, ob sich hier überhaupt von einer solchen unbedingten Pflicht des Staates zu strafen sprechen läßt. Zwar gründet Hegels Theorie der Strafe im begangenen Verbrechen, und zwar geht Hegel, wie wir gesehen haben, davon aus, daß das Verbrechen deshalb vergolten werden, d. h. in seiner Widersprüchlichkeit und Unvernunft manifest werden muß, da das Unrecht sonst künftig gelten würde.236 Dennoch geht er ganz allgemein davon aus, daß die Art der Ahndung von Verbrechen immer von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen abhängig ist; schon deswegen kann die Strafe für Hegel nicht kategorischen Charakters sein. Der Exempel-Charakter des Unrechts relativiert sich Hegel zufolge unter den Bedingungen einer allgemeinen Anerkennung der Rechtsordnung so stark, daß nicht mehr die Gefahr besteht, daß sie weiterhin gilt, wenn sie nicht vergolten wird. Die allgemeine Ordnung wird zum Sinnträger, wenn man so will, und die einzelne gegen diese Ordnung verstoßende Handlung zu einer Anomalie. Unter den Bedingungen in sich gefestigter Rechtsverhältnisse legt Hegel, wie wir gesehen haben, eine ins Naturalistische tendierende Verbrechenslehre nahe, hinsichtlich derer sich grundsätzlich die Frage stellt, inwiefern die Strafe überhaupt noch im Sinne eines ›Wertäquivalents‹ des Unrechts − was Hegel zufolge ein konstitutives Moment des Begriffs der Strafe ausmacht − aufzufassen ist. Nimmt man Hegels Strafkonzeption also vollständig in den Blick, dann läßt sich eine in einem absoluten Sinne zu begreifende Pflicht zu strafen aus meiner Sicht für Hegel nicht begründen, so daß im Folgenden nunmehr zu klären sein wird, nicht wieso Hegel überhaupt das Begnadigungsrecht des Fürsten anerkennt, sondern inwiefern es als eine Ergänzung seiner Strafrechtstheorie zu begreifen ist. Grundsätzlich ist hier jedoch zunächst einmal die Unterscheidung zwischen ›Gnade‹237 und (dem Recht der) ›Begnadigung‹ nachzutragen: Die von Hegel im Paragraphen 132 der Grundlinien angesprochenen Entschuldigungs- und Strafmilderungsgründe (diese mögen besondere Konfliktsituationen und damit verbundene Affekte sein), die für ihn der Sphäre der

235

Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten. A. a.O. 453. Vgl. GPR § 99. 237 Zur Etymologie des deutschen Wortes »Gnade« siehe Renate Just: Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel »Prinz Friedrich von Homburg«. Göttingen 1993. 64 ff. 236

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Gnade zuzurechnen sind, spielen im Rahmen der gerichtlichen Zurechnung, wie wir gesehen haben, für Hegel keinerlei Rolle; von der Zurechnung zur Schuld sind demnach für ihn auch nur Kinder und manifest Verrückte ausgenommen. Man mag Hegels in die Extreme von Vernunftallgemeinheit und Naturhaftigkeit auseinandergelegte Zurechnungslehre ob der »Härte dieser Dichotomie«238 kritisieren, wenn er all das, was für ihn der »Stärke sinnlicher Triebfedern«239 zuzurechnen ist, ausdrücklich an die »Sphäre der Gnade« verweist und damit dem Beschuldigten das Recht auf die gerichtliche Berücksichtigung solcher für ihn möglicherweise unkontrollierbarer Konfliktsituationen verwehrt. Mit Recht ist man daher strafrechtlich dazu übergegangen, bei der Zurechnung auch nicht-rechtfertigende, aber unter Umständen strafmildernd wirkende Konfliktsituationen des Straftäters zu berücksichtigen. Auch wenn Hegel die Sphäre des Rechts und der Gnade voneinander trennt – und sogar behauptet, das vom Monarchen geübte Begnadigungsrecht sei »gegen das Recht. Also etwas Unrechtliches.«240 −, so drängt sich doch die Vermutung auf, daß sich in Hegels Überlegungen hinsichtlich jener Entschuldigungs- oder Strafmilderungsgründe, die er an die Sphäre der Gnade verweist, auch eine gegenläufige Argumentation findet. Mit dieser These soll auf Hegels kritische, alles in allem aber befürwortende Auseinandersetzung um die besondere Funktion des Geschworenengerichts angespielt sein. Hegel erinnert in diesem Zusammenhang an die beiden Momente der Rechtsprechung, die im Geschworenengericht aus seiner Sicht folgerichtig zwei verschiedenen Richterkollegien zugeteilt sind. Diese zwei Seiten sind einerseits die Ermittlung des Tatbestandes (welche für Hegel die Entscheidung auch hinsichtlich der Schuld des Angeklagten einschließt, da das Verbrechen sowohl im objektiven Sinne als Tat als auch im subjektiven Sinne als Handlung zu bestimmen ist) und andererseits die Anwendung des Gesetzes auf den bestimmten Fall. Den Geschworenen kommt dabei die Aufgabe zu, über die Tat- und Schuldfrage zu urteilen, dem Berufsrichter hingegen obliegt das Urteil über das Strafmaß. Die Geschworenen sind vor dem Hintergrund der besonderen Lebensverhältnisse des Angeklagten auszuwählen, die sie mit ihm teilen und die ihnen ein zwar subjektives, aber gleichsam objektiv vermitteltes Urteil über Schuld oder Unschuld des Angeklagten ermöglichen sollen. Diese Ermittlung der Schuld des Angeklagten, die sich, wie gesagt, der objektiven wie der subjektiven Seite der Handlung 238 239 240

Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. A. a.O. 55. GPR § 132. Ringier 179.

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zuwendet, impliziert nun schlechterdings, daß die besonderen Umstände der Tat zur Sprache kommen müssen – und zwar aufgrund der Mündlichkeit des Verfahrens auf unmittelbare Weise. Diese besonderen Umstände der Tat, die die psychologische Seite der Handlung mit umspannt, können nun entweder die besondere Schwere des Verbrechens deutlich werden lassen, oder auch als Entschuldigungsgründe in Erwägung zu ziehen sein. Daraus aber folgt, daß im Rahmen der Entscheidung der Schuldfrage auch solche »Milderungsgründe der Strafe«241 zumindest innerhalb des Geschworenengerichtsprozesses in Betracht kommen und, sofern sie in Betracht gezogen werden, auch hinsichtlich des Urteils der Geschworenen von Bedeutung sein müssen − und damit nicht ausschließlich, wie Hegel in seiner Anmerkung zum Paragraphen 132 behauptet, einer vom Recht verschiedenen Sphäre, nämlich der Sphäre der Gnade überlassen bleiben. – Von solchen strafmildernden Erwägungen im Rahmen der Qualifizierung der verbrecherischen Handlung ist das Begnadigungsrecht, welches Hegel dem Monarchen einräumt, grundsätzlich zu unterscheiden, denn die Begnadigung setzt ihrerseits die bereits rechtskräftig verhängte Strafe voraus. Wie gesagt, gehört das Begnadigungsrecht als Souveränitätsrecht des Monarchen einer anderen Sphäre als der des Rechts an.

6.2.1 Hegels Begründung des Begnadigungsrechts »Aus der Souverainetät des Monarchen fließt das Begnadigungs-Recht der Verbrecher, denn nur ihr kommt die Verwirklichung der Macht des Geistes zu, das Geschehene ungeschehen zu machen, und im Vergeben und Vergessen das Verbrechen zu vernichten.«242 Der Monarch, insofern er die sich

241

GPR § 132 Anm. Ebd. § 282. Kurt Seelmann stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß Hegels Überlegungen zum Gnadenrecht als der ›Vorschein‹ einer immanenten Kritik an seiner vergeltungstheoretischen Begründung von Strafe zu interpretieren seien (vgl. Kurt Seelmann: Wechselseitige Anerkennung und Unrecht. A. a.O. 77): Diese Überlegung Seelmanns verweist noch auf einen weiteren Aspekt, der bisher ausgespart wurde, und betrifft die von ihm in den Raum gestellte Frage, ob nicht die einzig akzeptable Art der sozialen Aufarbeitung einer Tat eine gestreute Zurechnung mit dem Ziel der Minderung der Zurechnung für den Einzelnen sein könne. Denn, so Seelmann, angesichts der komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Verantwortung für eine Tat unter Umständen sehr vielen, vielleicht sogar der ganzen Gesellschaft zuzurechnen sei, müsse auch die Schuld in einem solchen Fall als eine ›gesellschaftliche‹ und nicht als eine individuelle betrachtet werden. Im Hinblick auf die straf- oder privatrechtliche Zurechnung einer Handlung und vor dem Hintergrund des Prinzips ›austeilender Gerechtigkeit‹ müsse 242

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ihrer selbst gewisse Subjektivität verkörpert, macht »das Individuelle des Staats als solches«243 und für Hegel in dieser Funktion zugleich die oberste Instanz des Staates aus, in welcher »das Letzte der Entscheidung liegt«244. Die Befugnis zu einer Aufhebung der Strafe in Einzelfällen kann Hegel zufolge u. a. deshalb allein an die Souveränität des Monarchen gebunden sein, weil sie eine höhere Autorität im Staate darstellt als die richterliche. – Mit dieser Befugnis zur Begnadigung verbindet Hegel indes zugleich eine Forderung: »Der Souverän muß eingreifen, wenn schlecht gerichtet wird«245; das Begnadigungsrecht hat damit für Hegel bereits eine der heute vorherrschenden Auffassung des Begnadigungsrechts vergleichbare Funktion: Spätestens seit der Rudolf von Jhering in seinem Werk Der Zweck im Recht (1877) diese Ansicht vertreten hatte, wird die Begnadigung (um mit Gustav Radbruch zu reden:) im Sinne eines »notwendige[n] Sicherheitsventil[s] des Rechts«246 aufgefaßt, welches die Aufgabe hat, das allzu strenge Gesetz im Einzelfall zu korrigieren und damit im Sinne einer »Selbstkorrektur der Gerechtigkeit«247

es um die Frage gehen, wie bestimmte Handlungen »in ihrer Genese wie in ihrer Zuschreibung auf die Handlungen anderer zurückverweisen«, inwiefern sie »abstraktrechtlich und moralisch isolierte Endpunkte eines Geflechts menschlicher Intersubjektivität sind.« (Kurt Seelmann: Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. A. a.O. 60.) Hier geht es also um Bemühungen zur Begründung einer »Zurechnungsminderung durch Zurechnungsstreuung« (Kurt Seelmann: Ebenen der Zurechnung bei Hegel. A. a.O. 91) und dabei zunächst einmal ganz allgemein um eine Reflexion auf unsere Grundsätze von strafrechtlicher Zurechnung überhaupt und wie sie an die verschiedenen wissenschaftlichen Erklärungsversuche von Kriminalität, die heute diskutiert werden, anzupassen sind. Solche Erklärungsversuche bieten die verschiedenen Sozialisationstheorien, sozialstrukturelle Theorien von Kriminalität oder auch die Theorie des »labelling approach«. Letzterer zufolge ist Kriminalität als das »Ergebnis eines Stigmatisierungsprozesses durch die Instanzen sozialer Kontrolle« aufzufassen, wobei solche Stigmatisierungsprozesse Ausdruck sozialer Konflikte sind. Der Prozeß des »labelling« oder der ›Auswahl von Kriminalität‹ ist in dem Sinne zu verstehen, daß nicht jede verübte Straftat überhaupt von jemandem wahrgenommen oder der Polizei bekannt wird, daß nicht jede der Polizei bekannte Straftat aufgeklärt, nicht jede von der Polizei aufgeklärte Straftat von der Staatsanwaltschaft angeklagt und nicht jede angeklagte Straftat vor Gericht entschieden wird. Aus solchen Beobachtungen und (soweit sie möglich sind: statistischen Erhebungen) ergibt sich die Frage, die die Theorie des »labelling« zu ihrem Ausgangspunkt macht, nämlich: Nach welchen Kriterien die jeweiligen Weichenstellungen erfolgen und nach welchen Kriterien entschieden wird, ob jemand ›durch die Maschen‹ der sozialen Kontrolle entwischt oder nicht. (Vgl. dazu Kurt Seelmann: Strafrecht. A. a.O. 6 ff.) 243 GPR § 279. 244 Ebd. 245 Ringier 179. 246 Gustav Radbruch: Gerechtigkeit und Gnade. A. a.O. 332. 247 Rudolf von Jhering: Der Zweck im Recht. Bd. I. 31893. 33 und 428. Vgl. ferner Karl Engisch: Recht und Gnade. A. a.O. 15.

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gegenüber dem abstrakten Gesetz zu fungieren. Gegenüber der Rechtskraft eines Fehlurteils − sei es aufgrund einer ungenügenden Beweisführung oder einer unrichtigen Rechtsauffassung − soll durch die Begnadigung »das geltende Recht zur Geltung« gebracht oder gegenüber einem »nach positivem Recht zutreffenden aber ungerechten Urteil die Gerechtigkeit«248 behauptet werden. Als eine solche »Selbstkorrektur der Gerechtigkeit‹ ist der Gnadenakt nicht »eine grundlos freigiebige Milde des Rechts«, kein Ausdruck politischer Machtäußerung um dieser Äußerung willen, »sondern eine begründet freisprechende Aussetzung des Rechts: eine Korrektur seiner Unvollkommenheit um willen der Gerechtigkeit.«249 Hegels Rede davon, durch den Akt der Begnadigung könne das Geschehene ungeschehen gemacht werden, scheint nun zunächst einmal jeder rationalen Einsicht und auch der eben angeführten Begründung des Begnadigungsrechts im Sinne eines Instruments zur Korrektur des geltenden Rechts zu widersprechen; die prinzipielle Irreversibilität allen Handelns bei gleichzeitiger, allem Handeln ebenso konstitutivem Nichtwissen und Unvorhersehbarkeit aller Folgen ist eine alltägliche Erfahrung. Müßte es also nicht vielmehr heißen: ›(Auch) der Geist kann das Geschehene nicht ungeschehen machen‹ (weil er die Zeit nicht umzukehren vermag)?250 – Für Hegel jedoch manifestiert sich die ›Macht des Geistes‹ ganz allgemein in der dem Menschen eigentümlichen Fähigkeit, das Geschehene ungeschehen machen zu können: »der Mensch selbst kann das Geschehene ungeschehen machen, macht sich ein anderes Herz, ein Anderes Gemüth.«251 Jeder Mensch kann sich aus der Objektivität seiner Handlung heraus und in sich selbst reflektieren, seine Schuld am Geschehenen anerkennen, moralisch-ethische Konsequenzen aus dieser Einsicht ziehen und in diesem Sinne den Willen zu seiner unrechten Handlung in sich negieren. Er kann sich ›bessern‹, was für Hegel jedoch nicht bedeutet, daß eine solche ›moralische Besserung‹ einem Menschen verordnet oder zu einem ausschließlichen Strafzweck erklärt werden kann; eine (moralische) Selbstdurchleuchtung muß der Mensch in sich selbst vollziehen und vollziehen wollen. Diese »Kraft des Geistes, welche sich im Vernichten des Verbrechens zeigt«252, kann sich Hegel zufolge damit ebenso 248

Gustav Radbruch: Gerechtigkeit und Gnade. A. a.O. 333. Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. A. a.O. 172. 250 In der Nikomachischen Ethik (1139 b 10) findet sich die folgende Bemerkung, die mutmaßlich aus einer nicht identifizierten Tragödie Agathons stammt: »Denn dies allein bleibt auch Gott versagt: ungeschehen zu machen, was geschehen ist.« Überhaupt kann der Gegenstand der Willensentscheidung Aristoteles zufolge niemals ein Vergangenes sein. 251 Ilting, Bd. 3. 768. 252 Henrich 252. Daher spricht Eduard Gans mit Blick auf das Begnadigungsrecht auch 249

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im und durch den Monarchen geltend machen; auch er vermag im konkreten Akt der Begnadigung des Verbrechers ›das Geschehene ungeschehen zu machen‹. Er kann »gewissermaßen in das Innere des Verbrechens sehen und anerkennen, daß das Wesentliche der Tat, welches dem Willen zukommt, vernichtet sei.«253 – Damit ist eine Entsprechung der Tätigkeit des begnadigenden Monarchen und der sich im Inneren des Verbrechers vollziehenden Erkenntnis gesetzt; so betrachtet hat die Gnade ihren Grund also in »etwas dem Menschen Immanente[m]«254. Allerdings wird der Akt der Begnadigung damit zugleich an Gründe gebunden, hier an den Grund der Reue des Straftäters in Bezug auf seine Handlung. Bei Hegel heißt es jedoch: Die Souveränität, »diese letzte Spitze ist grundlos, in dieser ist alles negirt; sie kann also auch das Verbrechen negiren, in sich selbst nichtig machen.«255 Denn dies »ist die unendliche Freiheit des Geistes, daß der Mensch sich über den bösen Willen erheben kann.«256 (Auf die, wie Hegel sagt: »grundlose Entscheidung« des Monarchen zur Begnadigung werden wir später noch zurückkommen.) Da die Vorstellung der »Gnade Gottes« kein der Natur des Geistes bloß äußerer Inhalt ist, sondern vielmehr die »Natur des Geistes selbst aus[drückt]«257, ist sie aus Hegels Sicht (jedenfalls der Überlieferung durch Griesheim zufolge) auch nicht so aufzufassen, als ob sie die Willensfreiheit des Menschen in Frage stellte: »Man sagt die Gnade Gottes wirkt auf den Menschen, so wird die Gnade Gottes angesehen als etwas ganz äusseres, das Andere des Menschen mit seinem Willen, beide sind ganz verschieden und so geschieht es denn daß beide als schlechterdings gleichgültig, zufällig sich verhalten. […] Bei dieser Wirksamkeit der Gnade verhält der Mensch sich ganz passiv.«258 Die Vorstellung von einem ›passiven Geist‹ ist aus Hegels Sicht jedoch zurückzuweisen; »im Geist ist keine Passivität, diese wird vernichtet durch das Praedikat des Geistes.«259 Der Geist, der Gnade erfährt, der um das Böse weiß, das er getan hat, und der die (religiöse) Erfahrung der Vergebung macht, kann dies nur, insofern er »sich selbst betrachtet« und an sich selbst eine ›Umkehr‹ vollzieht.

vom »Versöhnungsrecht«, das sich darin geltend macht, »daß man einen Schuldigen, nachdem er sein Recht erhalten hat, von der Strafe entbinden kann.« (Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 218.) 253 Henrich 251 f. 254 Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. A. a.O. 172. 255 Ilting, Bd. 3. 768. 256 Ilting, Bd. 4. 287. 257 Ebd. 376. 258 Ebd. 375. 259 Ebd. 376.

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Durch die Strafe, die die Rechtsverletzung wiedervergilt, wird die Negation, die das Unrecht darstellt, negiert. Strafe wie Begnadigung haben also gleichermaßen die funktionelle Bedeutung einer ›Vernichtung des Verbrechens‹. – Und darin ist auch der Grund zu sehen, warum Hegel – obgleich er Strafe vergeltungstheoretisch begründet und diese Begründung für ihn mit der Einsicht verbunden ist, daß die Strafe notwendig aus dem Begriff des Verbrechens folgt oder genauer: in demselben gesetzt und damit gefordert ist (»strafende Gerechtigkeit«) – die Grundsätze von Begnadigung (im Sinne des ›Vergebens und Vergessens‹) durchaus anerkennen kann. Denn sowohl die Strafe als auch die Begnadigung richten sich an den besonderen Willen des Verbrechers, in welchem die Verletzung des Rechts eine positive Existenz hat260 und vernichten diesen. Obgleich beiden dieselbe Funktion hinsichtlich des ›Vernichtens des Verbrechens‹ zukommt, steht für Hegel doch außer Frage, daß die Begnadigung nur im Einzelfall legitim sein kann (wenn man hier einmal von den genannten Gruppen-Amnestien, die zumeist eine politische Funktion haben, absieht) und daß durch sie nicht die allgemeine Geltung des Rechts außer Kraft gesetzt wird. Die Begnadigung im Sinne der vollständigen oder teilweisen Erlassung der Strafe »hebt nicht das Recht auf, dieß muß bleiben, der Begnadigte bleibt ein Verbrecher, die Begnadigung spricht nicht aus, daß er kein Verbrechen begangen habe, es wird dadurch das Urtheil nicht umgestoßen.«261 Auch hier ist also nicht davon die Rede, daß das Verbrechen oder das richterliche Urteil faktisch ungeschehen gemacht würden, vielmehr bleiben sie in ihrer Objektivität bestehen, nur verzichtet der Monarch als Repräsentant des Staates auf sein Sanktionsrecht. Wo sich der Monarch (oder der Bundespräsident bzw. der jeweilige Landesherr) in einem konkreten Akt über das Recht erhebt, ist eine allgemeine und verbindliche Rechtsordnung vorausgesetzt. Aber noch einmal: Das sich im Akt der Begnadigung vollziehende Ungeschehen-Machen einer begangenen Tat ist nicht als ein faktisches Ungeschehen-Machen des Geschehenen im Sinne einer Tilgung der sich räumlichzeitlich entfaltenden objektiven Folgen einer Handlung zu verstehen, sondern vielmehr in dem Sinne, daß das Verbrechen objektiv, allerdings allein in der Sphäre der Gnade, als nicht geschehen betrachtet werden kann, da ihm sozusagen der Grund entzogen wurde, der allein in dem sich positiv setzenden Willen des Verbrechers liegt. Vor dem Hintergrund der von Hegel spekulativ begründeten Freiheit des Willens ist diese Behauptung auch durchaus zwingend: Die Selbstbestimmung des Willens enthält in sich eine negative 260 261

Vgl. GPR § 99. Ilting, Bd. 4. 684.

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Beziehung auf sich selbst. Als diese »Beziehung auf sich ist es [das Ich] eben so gleichgültig gegen diese Bestimmtheit, weiß sie als die seinige und ideelle, als eine bloße Möglichkeit, durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt. – Dieß ist die Freyheit des Willens, welche seinen Begriff oder Substantialität, seine Schwere ausmacht, wie die Schwere die Substantialität des Körpers.«262 Die Selbstbestimmung des Willens ist wesentlich nicht Selbstaffirmation, vielmehr ist es die negative Selbstbeziehung, welche das »Innerste der Speculation, der Unendlichkeit, […] dieses letzten Quellpunctes aller Thätigkeit, Lebens und Bewußtseyns«263 ausmacht; der Wille ist für Hegel nicht ein ›Vermögen‹, sondern er ist Wille nur als »diese sich in sich vermittelnde Thätigkeit und Rückkehr in sich.«264 Durch den erklärten Willen des Monarchen, »im Vergeben und Vergessen265 das Verbrechen zu vernichten«266, wird aber das Geschehene nicht allein in der Innerlichkeit des geistigen Selbstverhältnisses ungeschehen gemacht, sondern im Staat als dem sich objektiv gewordenen Geist, dem »Geist […], der in der Welt steht«267. In der Nachschrift Griesheim findet sich der Hinweis darauf, daß die Aufhebung der Strafe grundsätzlich auch durch und innerhalb der Sphäre der Religion geschehen könne.268 (Allerdings wäre mit Blick auf die Sphäre der Religion, insofern sie sich an die Innerlichkeit

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GPR § 7. Ebd. § 7 Anm. 264 Ebd. Auch Lu De Vos deutet Hegels Redeweise vom Ungeschehen-Machen des Geschehenen als einen Hinweis auf »das Wesen des Geistes«, dieses wird von ihm allerdings auf die Sphäre der Religion beschränkt und allein von dieser aus gedeutet, denn für ihn ist die »Religion der ausreichende Grund der Sittlichkeit«, der die »Begnadigung als Instantiierung der geistigen Erhabenheit über das bloße objektive Recht ermöglicht.« (Lu De Vos: Das Geschehene ungeschehen machen. A. a.O. 230.) Gegen diese Reduktion des ›Wesens des Geistes‹ auf seine Erscheinungsform in der Religion ist allerdings einzuwenden, daß es, sofern es sich um das »Wesen des Geistes« handelt, gleichermaßen (in welcher Form auch immer) in den übrigen Gestalten des Geistes, und nicht nur in der Sphäre des ›absoluten Geistes‹ zur Erscheinung kommen muß. 265 Natürlich wäre die spezifische Leistung des ›Vergessens‹ in Bezug auf die von mir oben angeführte negative Selbstbezüglichkeit des Willens oder die von Hegel spekulativ begründete Entwicklung des Geistes zu bestimmen, aufgrund derer der Mensch in seinem Inneren das ›Geschehene ungeschehen machen‹ kann. Es scheint zunächst einmal naheliegend, daß dem ›Vergessen‹ innerhalb des Verhältnisses der Momente von Affirmation und Negation innerhalb der Willensbestimmung eine bestimmte Rolle zukommt – wie sie sich aber präzise fassen läßt, zumal das ›Vergessen‹ unserer gewöhnlichen Auffassung zufolge als eine sich nicht bewußt vollziehende Geistesleistung anzusehen ist, verdiente eine eigene Darstellung. 266 GPR § 282. 267 Ebd. § 270 Anm. 268 Vgl. Ilting, Bd. 4. 684. 263

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des Menschen richtet, eher von einer Aufhebung oder Vergebung der Schuld oder der Sünde zu sprechen, denn von einer Aufhebung der Strafe.) Insofern jedoch die Begnadigung als staatlicher Hoheitsakt begriffen wird und sie »in der Welt geschieht«, könne diese allein auf der »grundlosen Entscheidung« des Monarchen beruhen. Diese »grundlose Entscheidung« sei aber wiederum »nicht Willkühr über die Gerechtigkeit«269. Es ist jedoch die Frage, inwiefern mit Blick auf die konkrete Entscheidung des Monarchen, dem Gnadengesuch eines Verbrechers zu entsprechen und ihn zu begnadigen, sinnvoll von einer ›grundlosen‹ Entscheidung zu sprechen ist. Faßt man sie unserem heutigen Verständnis gemäß − das sich bereits, wie wir gesehen haben, bei Hegel vorgeprägt findet − im Sinne einer ›Selbstkorrektur der Gerechtigkeit‹ auf, dann kann diese Entscheidung keine grundlose sein; vielmehr findet sie ihren Grund im ›Gerechtigkeitsverständnis‹ des Gnadenherrn, in entweder seiner persönlichen oder einer allgemeinen über das positive Recht hinausgehenden Rechts- und Gerechtigkeitsauffassung also. Auch Hegel gibt der Nachschrift Ringier zufolge zu bedenken, daß der Monarch »nicht aus Schwäche zu viel«270 begnadigen dürfe; es sei seinem Gewissen überlassen, mit den Begnadigungen sparsam zu verfahren, »um nicht die Gerechtigkeit dadurch in ihrem Laufe zu hemmen.«271 Ein allzu großzügiger Gebrauch dieses Rechts auf Begnadigung läßt sie nicht mehr als ›Selbstkorrektur‹ der Gerechtigkeit fungieren, sondern untergräbt vielmehr das Rechtssystem. D. h. vom Monarchen ist in dieser Frage durchaus auch ein bestimmtes politisches Kalkül zu erwarten; zwar muß er über seine Gründe für oder wider ein Gnadengesuch nicht Rechenschaft abgeben (was allerdings heute nicht unumstritten ist), aber dennoch hat er bestimmten Aspekten und Notwendigkeiten in seiner Entscheidung Rechnung zu tragen.272 269

Ebd. Auch Eduard Gans betont, die Gnade dürfe nicht an Gründe gebunden sein, denn »wo Gründe angeführt werden, wird ein Recht bewiesen. Die Begnadigung soll das Letzte sein; bei einer Begründung würden die Gründe das Letzte sein.« (Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (Ausgabe Braun). A. a.O. 218.) 270 Ringier 180. 271 Henrich 251 f. 272 Auch in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion trifft man auf die Redewendung, der Geist könne das Geschehene ungeschehen machen, und zwar im Zusammenhang mit der christlichen Vorstellung von der Vergebung der Sünden durch das Leiden und Sterben Jesu Christi, denn da der christlichen Vorstellung zufolge durch die Sünde der Tod in die Welt kommt, ist auch die Vorstellung einer Erlösung von Schuld mit der Vorstellung der Überwindung des Todes verbunden. In der Vorstellung von der Menschwerdung Gottes in Gestalt von Jesus Christus und in seiner Offenbarung als Sohn Gottes und durch seinen Tod, vermag der Mensch Hegel zufolge Gewißheit hinsichtlich der Idee Gottes zu erlangen; in dieser Gewißheit begreife sich der Mensch als endlicher Geist als in der Einheit mit der Unendlichkeit Gottes. »Das Leiden und Sterben in sol-

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Strafe und Gnade

Die Theoretiker des Naturrechts und der Aufklärung im 18. Jahrhundert haben das Begnadigungsrecht prinzipiell zu bekämpfen versucht. Es dient aus ihrer Sicht der Korrektur einer mangelhaften Gesetzgebung; kritische Bemerkungen in dieser Hinsicht finden sich etwa bei Beccaria273, Filangieri und bei Kant − dessen strafrechtlicher kategorischer Imperativ bereits im vorangegangenen Kapitel Erwähnung fand −, für den die Begnadigung das »schlüpfrigste« unter allen Rechten des Souveräns darstellt; es dient aus seiner Sicht zwar dazu, »den Glanz seiner Hoheit zu beweisen, und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu tun.«274 Es steht dem Monarchen in Ansehung seiner »Untertanen« nicht zu, es auszuüben, »denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letztern. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt (crimen laesae maiestatis), kann er

chem Sinne«, so heißt es hier weiter, »ist gegen die Lehre von der moralischen Imputation, wonach jedes Individuum nur für sich zu stehen hat, jeder der Täter seiner Taten ist. Das Schicksal Christi scheint dieser Imputation zu widersprechen« (Hegel: Vorlesungen, Bd. 5. 248 Fußnote), da Christus der christlichen Vorstellung gemäß stellvertretend die Schuld aller Menschen sühnt. Die moralische Imputation, wie in den Grundlinien entwickelt, hat Hegel zufolge dagegen »ihre Stelle auf dem Felde der Endlichkeit, wo das Subjekt als einzelne Person steht, nicht auf dem Felde des freien Geistes.« Unter den Bedingungen der Endlichkeit betrachtet, bleibe ein jeder, was er ist. Hat er Böses getan, so werde er danach beurteilt. »Aber schon in der Moralität, noch mehr in der Sphäre der Religion wird der Geist als frei gewußt, als affirmativ in sich selbst, so daß diese Schranke an ihm, die bis zum Bösen fortgeht, für die Unendlichkeit des Geistes ein Nichtiges ist: der Geist kann das Geschehene ungeschehen machen; die Handlung bleibt wohl in der Erinnerung, aber der Geist streift sie ab. Die Imputation reicht also nicht an diese Sphäre hinan.« (Ebd.) Denn es ist der allgemeine Gedanke des Christentums, daß durch den Tod Christi das Endliche und das Böse in ihrer Selbständigkeit überwunden sind. In der Menschwerdung Gottes wie im Tod Christi manifestieren sich spekulative Strukturen: Die Vorstellung vom Tod Gottes bringt das Wesen des Geistes zum Ausdruck, daß er sich auch in der vollständigen Negation selbst zu erhalten vermag. 273 Am Schluß seines 1764 (ursprünglich anonym) veröffentlichten und vielbeachteten Werks Dei delitti e delle pene (Über Verbrechen und Strafen) äußert sich Cesare Beccaria auch zum Begnadigungsrecht − und seine Bemerkungen sind ein Appell vielmehr an den Gesetzgeber denn an den »Vollzieher der Gesetze«: die Gnade müsse »im Gesetzbuch selber leuchten […], nicht in den einzelnen Urteilen«. Die Begnadigung im Einzelfall fördere die trügerische Hoffnung auf Straflosigkeit und lasse die nicht rückgängig gemachten Verurteilungen eher als Gewalttaten denn als Akte der strafenden Gerechtigkeit erscheinen. »Unerbittlich also mögen die Gesetze sein, unerbittlich diejenigen, welche sie im einzelnen Falle anwenden, doch milde, verzeihend, menschlich der Gesetzgeber.« Im Falle der angestrebten »vollkommenen Gesetzgebung, wo die Strafen milde sind und das Gerichtsverfahren auf geregelte und zügige Weise vor sich geht«, müsse die Begnadigung ausgeschlossen sein. Sie ist gerechtfertigt nur dort, wo sie im Verhältnis zur Unsinnigkeit der Gesetze und zur Grausamkeit der Verurteilungen ausgleichend wirkt. (Vgl. Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen. A. a.O. 156 f.) 274 Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 460.

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davon Gebrauch machen.«275 Aber nicht einmal in diesem Fall steht es ihm dann zu, wenn durch die Nicht-Bestrafung ein allgemeines Sicherheitsrisiko entsteht. Das Begnadigungsrecht ist für Kant daher weder mit dem Recht des Verletzten auf Genugtuung, noch mit der Forderung nach Sicherheit der Rechtsordnung vereinbar. Schließlich versammeln sich unter den Kritikern des Begnadigungsrechts auch P.J.A. Feuerbach und Wilhelm von Humboldt. Die von Seiten der Aufklärung erhobenen Einwände gehen davon aus, daß die Wirksamkeit der Strafgesetze durch die Ausübung des Begnadigungsrechts erschüttert werde, die Rechtsprechung durch die Gerichte generell in Mißkredit gerate, da sie so den Anschein erhalte, als seien ihre Urteile zumeist unbillig und unverständig.276 In erster Linie aber sah man durch den Gebrauch des Begnadigungsrechts die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt.277 Die bereits erwähnten grundverschiedenen Auffassungen hinsichtlich des Begnadigungsrechts, wie sie von Kant und Hegel vertreten werden, bilden in gewisser Weise den Hintergrund der rechtsphilosophischen Diskussion über das Begnadigungsrecht im 19. Jahrhundert. Überwiegend wurde allerdings Hegels Begründung des Begnadigungsrechts nicht geteilt, vielmehr identifizierte man Gnade zunehmend mit Billigkeit278 im Sinne einer vom Gesetz 275

Ebd. Vgl. dazu Wilhelm Grewe: Gnade und Recht. A. a.O. 18 f. Der oben angeführte Einwand, durch die Begnadigungspraxis geriete die Rechtsprechung letztlich in Verruf, wird charakteristisch etwa von Robert von Mohl formuliert (vgl. Robert von Mohl: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Zwei Bände. Bd. II: Tübingen 1862. 87 f.). 277 Vgl. Wilhelm Grewe: Gnade und Recht. A. a.O. 24 ff. Staatsrechtlich, so bemerkt Grewe, habe das Begnadigungsrecht im 18. Jahrhundert das Problem mit sich gebracht, wie es in den konstitutionellen Rechtsstaat einzugliedern ist. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die diesbezügliche Diskussion in der Französischen Nationalversammlung 1791. An dem Begnadigungsrecht in der überkommenen Form eines Königsrechts konnte man freilich nicht festhalten, demzufolge der König als Haupt der Exekutive vermittels der Ausübung seines Begnadigungsrechts in der Lage war, das Gesetz in einem speziellen Einzelfall aufzuheben und sich damit über das Gesetz zu erheben. So erwog man einerseits vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsschemas, der Legislativen das Begnadigungsrecht zuzugestehen, was jedoch ausschied, weil die gesetzgebende Gewalt nur über allgemeine Bestimmungen, nicht aber über Einzelfälle zu befinden habe. Auch die andere Möglichkeit, die man erwog, daß nämlich dem Volk selbst das Begnadigungsrecht zukommen solle, schied aus, weil auch der allgemeine Wille des Volkes nicht über Einzelfälle entscheiden, sondern nur allgemeine Beschlüsse fassen könne. Schließlich wurde am 4. Juni 1791 beschlossen, das Begnadigungsrecht generell abzuschaffen, weil man es für grundsätzlich unvereinbar mit der Gewaltenteilungslehre hielt. (Vgl. ebd. 32 f., siehe dort auch die von Grewe angeführten Quellen.) Die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 sieht hingegen ein Begnadigungsrecht vor, das dem Präsidenten, aber auch den Gouverneuren der Einzelstaaten übertragen ist. 278 Diese Identifizierung von ›Gnade‹ und ›Billigkeit‹ ist jedoch aufgrund der unter276

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abweichenden gerechten Forderung und nahm Anstoß am ›metaphysischen‹ Sinn des Begnadigungsrechts, dessen Berechtigung vielfach statt dessen damit begründet wird, daß es das strenge Recht mit den höheren Ansprüchen der ›Humanität‹ und ›Gerechtigkeit‹ auszusöhnen vermöge. Dieses mit dem Begnadigungsrecht verbundene Programm einer Ausgleichung verschiedener Ansprüche jedoch wurde überwiegend nicht mehr als außerrechtliche Erwägung betrachtet, sondern aus der Idee der Gerechtigkeit selbst gefordert. In diesem Sinne argumentiert etwa der sich in der Nachfolge Hegels begreifende Christian Reinhold Köstlin. Er versteht die Begnadigung als »die wahre Vermittlung der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt, sofern sie einerseits in der Entscheidung eines einzelnen Falls eine vollziehende, andrerseits in der Aufhebung oder Aenderung des Gesetzes eine gesetzgebende Thätigkeit ist.«279 Das Recht auf Begnadigung kann damit für Köstlin auch nur »der im Staatsoberhaupt repräsentirten Centralgewalt«280 zukommen. Für Köstlin hat die Begnadigung »das Gesetz in allen denjenigen Fällen [zu] ergänzen, in welchen seine Strenge dem Zwecke der Gerechtigkeit widersprechen würde.« Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert aus seiner Sicht, daß »das Besondere in seinem richtigen Verhältniß zum Ganzen [festgehalten wird] und, wenn es sich daraus losgerissen hat, wieder darein zu setzen«281 ist. Die Begnadigung ist jedoch Köstlin zufolge nicht ausschließlich im Sinne einer solchen innerrechtlichen Korrektur nach Maßgabe des Prinzips der Gerechtigkeit aufzufassen – sie ist nicht nur »Mittel« −, sondern in ihr manifestiert sich zugleich ein »höherer, über den der abstraktrechtlichen Vergeltung hinausgreifender sittlicher Standpunkt, der absolut sittliche«, welcher »nicht bei dem objektivsittlichen (rechtlichen) Maßstab der Schuld« stehenbleibt, »sondern mit der bestimmten Handlung zugleich die gesammte Subjektivität zu würdigen und die unendlichen Modifikationen des Sittlichen, welche durch Rechtsnormen ihrem Wesen nach nie erschöpft werden können, noch dürfen, zu ihrem Recht kommen zu lassen.« Von diesem Standpunkt konkreter Sittlichkeit aus betrachtet, hat die Gnade die ethi-

schiedlichen Bestimmungen nicht unproblematisch, denn die Theorie der Billigkeit sucht die »Blindheit, die ihren Grund in der Allgemeinheit von Gesetzen hat«, dadurch zu korrigieren, daß sie ein anderes, besser an den besonderen Fall anzupassendes Gesetz zur Anwendung bringt und die Billigkeit steht damit auch nicht im Gegensatz zur Anwendung von allgemeinen Gesetzen, wie es die Gnade tut. (Vgl. Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. A. a.O. 176.) 279 Christian Reinhold Köstlin: System des deutschen Strafrechts. 1. Abtheilung: Allgemeiner Theil. Tübingen 1855. 632 (§ 143). 280 Ebd. und 641. 281 Ebd. 633.

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sche Funktion jener bereits angesprochenen »Ausgleichung der Kollision des strengen Rechts mit dem Prinzip der Humanität«282. Die Begnadigung ist daher für Köstlin eine Rückkehr aus »den objektiven Formen« des Rechts zu einer »höhere[n] Gerechtigkeit« und ›absoluten Sittlichkeit‹, welche für ihn gleichwohl einzig aus der »Moral«, also »aus dem Gewissen des höchsten Willens« hervorgehen könne und welches weiter an keine materiellen Normen gebunden sein dürfe. Mit der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollziehenden Wende, die gemeinhin unter das Motto: »Nicht die Tat, sondern der Täter« gestellt wird (womit zugleich eine Abkehr vom strafrechtlichen Vergeltungsgedanken verbunden ist) wurde der Täter stärker vor dem Hintergrund seiner natürlichen und sozialen Bedingtheit betrachtet und strafrechtlich behandelt. Mit dieser Wende wurden dann auch jene von Hegel noch weitgehend der Sphäre der Gnade überantworteten Entschuldigungs- und Strafmilderungsgründe strafrechtlich relevant, so daß inzwischen von einer »tiefgreifende[n] Umwandlung des Verhältnisses von Strafrichter und Strafgesetzgeber in unserem Strafrechtssystem« gesprochen werden kann, im Sinne einer Lockerung der Bindung an einen vorgegebenen gesetzlichen Willen und einer Vergrößerung der Entscheidungsspielräume des Strafrichters.283

6.3 Zur strafrechtlichen Rezeption der Handlungslehre Hegels Wenn es möglich ist, ›Schuld‹ (im Sinne einer rechtlich relevanten Schuld) und ›Zurechnung‹ in objektiver wie in subjektiver Hinsicht aus dem Handlungsbegriff abzuleiten, wie Hegel es tut und wie an entsprechender Stelle 282

Ebd. Vgl. Winfried Hassemer: Einführung in die Grundlagen des Strafrechts. A. a.O. 246. Entsprechend dem erweiterten Entscheidungsspielraum des Richters kann dieser nach eigenem Ermessen das Verfahren ohne Verurteilung beenden, und diese Rechtsfolge »steht in einer so souverän gestalteten Beziehung zu ihren Voraussetzungen, daß sie an das Gnadenrecht erinnert, das ansonsten dem Landesvater vorbehalten ist«. Hassemer erwägt diese Entwicklung zwar kritisch, konstatiert jedoch: »Es muß dem Strafgesetzgeber erlaubt sein, neue (hier: täterorientierte) Kriminalpolitik jedenfalls für eine Zeit in die sensibleren Hände des Strafrichters zu legen, der die Möglichkeiten der Nichtverhängung von Strafe an zahllosen Fällen kontinuierlich ausgestalten und entwickeln kann – falls der Gesetzgeber seiner Pflicht nachkommt, die Entwicklung der Strafrechtsprechung in diesem Bereich aufmerksam zu verfolgen, gegebenenfalls zu korrigieren und sie dann gesetzlich festzuschreiben, wenn die Zeit reif ist.« (Ebd. 247) Vgl. in diesem Zusammenhang auch Albin Eser: Absehen von Strafe – Schuldspruch unter Strafverzicht. Rechtsvergleichende kriminalpolitische Bemerkungen, namentlich im Blick auf das DDR-Strafrecht. – In: Festschrift für Reinhart Maurach. Karlsruhe 1972. 257–294. 283

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nachvollzogen wurde, dann liegt es nahe, die Handlung im Sinne der Äußerung des moralischen oder subjektiven Willens in den Mittelpunkt des strafrechtlichen Systems zu stellen, wie es im Anschluß an Hegel einige Strafrechtslehrer unter mehr oder minder ausdrücklicher Berufung auf ihn getan haben. Zeitlich gesehen wird in dieser Rekonstruktion der Aufnahme von Hegels Handlungsbegriff mit Blick auf seine strafrechtlichen Implikationen hier der Bogen zu spannen sein über die unmittelbar an Hegel anknüpfende Rezeption der Hegelschen Rechtsphilosophie durch die sich auf ihn berufenden Strafrechtler Abegg, Berner und Köstlin, woran sich die Darstellung der Kritik an dieser sich alles in allem recht einheitlich darstellenden Handlungslehre der ›Hegelianer‹ durch die Theoretiker des ›kausalen Handlungsbegriffs‹ (v. a. Gustav Radbruch) anschließt. Dieser Ansatz wurde wiederum durch die maßgeblich von Hans Welzel geprägte ›finale Handlungslehre‹ abgelöst, die man in gewisser Weise als Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des durch Hegel selbst sowie durch die sich auf ihn berufenden genannten Rechtstheoretiker erarbeiteten strafrechtlichen Handlungsbegriffs betrachten kann. Abschließend wird der ›Neuhegelianismus‹ des 20. Jahrhunderts kurz zur Sprache kommen und die besondere Auseinandersetzung von Karl Larenz mit Hegels Handlungs- und Zurechnungslehre zu betrachten sein. Folgt man Stephan Stübinger, dann zeichnet sich die Theorielandschaft der Strafrechtswissenschaft vor allem dadurch aus, daß sie früher oder später beinahe jede philosophische oder soziologische – und vielleicht müßte man ergänzen: auch natur- oder neurowissenschaftliche – Strömung (wenn auch in mitunter stark ausgedünnter Form) in sich aufnimmt.284 Und gerade die Hegelsche Philosophie stellt einen frühen und sicher nicht zufälligen Bezugspunkt der Strafrechtswissenschaft dar; überdies beginnt die Aufnahme Hegelschen Gedankenguts durch die Strafrechtswissenschaft bereits zu dessen Lebzeiten. Motiv für diese verschiedenen Rezeptionsansätze im 19. Jahrhundert mag zunächst der gemeinsame Versuch einiger Strafrecht284

Vgl. Stephan Stübinger: Das »idealisierte« Strafrecht. A. a.O. 161. Überdies bestätigt sich in dieser Beobachtung Stübingers auf indirekte Weise auch die von Walter Jaeschke vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren geäußerte Behauptung mit Blick auf die Rechtswissenschaft im allgemeinen, daß »immer noch mehr Juristen philosophische Bücher läsen als umgekehrt Philosophen juristische.« (Walter Jaeschke: Die Vernünftigkeit des Gesetzes. Hegel und die Restauration im Streit um Zivilrecht und Verfassungsrecht. – In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Herausgegeben von Hans-Christian Lucas und Otto Pöggeler. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. 221–256; hier 224.) Diesem Befund kann auch ich mich angesichts der im folgenden darzustellenden Wirkungsgeschichte des Handlungsbegriffs Hegelscher Prägung und der sich mit diesem Problem befassenden Forschungsliteratur nur anschließen.

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ler gewesen sein, ein »Bollwerk der [von Hegel begrifflich entwickelten, BC] Vergeltungstheorie gegen diverse Formen eines Präventionsstrafrechts«285 zu errichten. (Während Kant mit seiner Straftheorie recht wenig unmittelbare Anhänger gefunden hat, was was daran liegen mag, daß seine strafrechtlichen Lehren der Aufklärung als so sehr entgegengesetzt erschienen, daß sie von den Juristen seinerzeit eher skeptisch betrachtet wurden.286) Im Folgenden soll allerdings nicht der umfassende Zusammenhang straftheoretischer Debatten im 19. Jahrhundert referiert, sondern einige aus meiner Sicht wesentliche Positionen innerhalb der strafrechtlichen Rezeptionsgeschichte fokussiert werden, die Hegels Handlungslehre erfahren hat und die Gustav Radbruch zu der anerkennenden Bemerkung veranlaßt hat, Hegel sei der »Vater des strafrechtlichen Handlungsbegriffs«287. – Jedoch stehen die beiden Fragen nach einer Begründung von Strafe und den Kriterien für die Strafzumessung einerseits und die Frage hinsichtlich der Bestimmung der Handlung im Rahmen der strafrechtlichen Verbrechenslehre in engem Zusammenhang. So dokumentiert die Verbrechensdefinition verschiedener Strafrechts-Lehrbücher des 18. Jahrhunderts, daß das Verbrechen auf eine actio libera oder spontanea zurückzuführen sei, und auch die Gesetzgebung dieser Zeit nennt zumeist die Freiheit des Handelnden als Voraussetzung für die seiner Tat angemessene Strafe. Indeterministisch formulierter Verbrechensbegriff und Willensfreiheit als gesetzliche Voraussetzung der strafrechtlichen Zurechnung weisen auf die grundlegende Bedeutung hin, welche die Willensfreiheit in der Imputationslehre des 18. Jahrhunderts hatte, die sich ihrerseits auf Pufendorf (1632–1694) berufen konnte.288 285

Ebd. Vgl. Heinz Holzhauer: Willensfreiheit und Strafe. Das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für den Schulenstreit. Berlin 1970. 33. Als einen weiteren Grund für den fehlenden unmittelbaren Anschluß an Kants Strafrechtslehre führt Holzhauer an, daß es Kant nicht hinreichend gelungen sei, seine Strafrechtslehre mit seiner sonstigen Staats- und Rechtslehre in Einklang zu bringen. 287 Gustav Radbruch: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der rechtswissenschaftlichen Systematik. Eingeleitet und herausgegeben von Arthur Kaufmann. Darmstadt 1967 (= reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1904). 104. 288 Vgl. Heinz Holzhauer: Willensfreiheit und Strafe. A. a.O. 25. Zur Zurechnungslehre Pufendorfs vgl. seine Schrift: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hrsg. v. Klaus Luig. Frankfurt a.M. 1994. (Im Original De Officio Hominis et Civis iuxta legem naturalem libri duo, 1673.) Samuel Pufendorf war derjenige, der den Ausdruck ›imputatio‹ als einen technischen in die Rechtswissenschaft eingeführt hat. Pufendorf versammelt unter dem Begriff der imputatio die subjektiven Voraussetzungen für die Bestrafung von Verbrechen zu einer einheitlichen Lehre. Seine Darstellung wird 286

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Neben dieser Tradition der Strafrechtslehre, die sich auf die Willensfreiheit des Menschen beruft, gab es auch eine deterministische Ausrichtung der deutschen Strafrechtsphilosophie. Die herrschende Strafrechtstheorie jedoch, gegen die sich bereits Feuerbach mit seiner Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts (1799–1800) wendet, ist die indeterministisch geprägte Auffassung, der Tradition Pufendorfs folgend. Die von Pufendorf entwickelte Imputationslehre wurde von Johann Samuel Friedrich von Böhmer (1704–1772) in die Strafrechtswissenschaft übertragen und bildete von dort aus die Grundlage für die strafrechtliche Dogmatik bis ins 19. Jahrhundert.289 Der Handlungsbegriff liegt demnach bereits den ersten Ansätzen zu einer strafrechtlichen Dogmatik in Deutschland zugrunde. Maßgebend hierfür war wiederum die Handlungslehre Pufendorfs, deren Wurzeln auf Aristoteles zurückgehen.

6.3.1 Ein hartnäckiges Zerrbild?290 – Der Handlungsbegriff der ›Hegel-Schule‹ Die eben angeführte Würdigung Hegels durch den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch in seiner 1904 erschienenen Habilitationsschrift zum Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem erweist sich bei näherer Betrachtung als durchaus ambivalent und bezieht sich in erster Linie auf das Wirken jener Strafrechtler, die sich selbst in der Tradition des Hege-

zum Vorbild für die ganze naturrechtliche Schule – zu nennen sind hier Autoren wie Wolff, Heineccius und Daries, die gleichsam die Feinstrukturierung des Zurechnungsbegriffs vornehmen – bis hin zu Anselm Feuerbach. Pufendorfs an der Handlung orientierte Lehre von der Zurechnung steht in aristotelischer Tradition. Aufgrund seiner systematisch begründeten Auffassung, daß nur derjenige Täter für seine Handlung verantwortlich gemacht werden kann, der schuld- und damit zurechnungsfähig ist, gilt er als Begründer des Schuldstrafrechts. In diesem Sinne bedeutet der Begriff der Zurechnung gleichermaßen Zurechnung wie Abgrenzung von Zurechnung. Das Prinzip der Zurechnung stellt Pufendorf zufolge »den obersten Grundsatz in der Morallehre [dar], soweit sie sich auf menschliche Gerichtsbarkeit bezieht.« (Ebd. § 17) Hinsichtlich der methodischen und inhaltlichen Neubegründung des Naturrechts durch Pufendorf vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. A. a.O. 67 ff. 289 Johann Samuel Friedrich von Böhmer: Elementa jurisprudentiae criminalis. 6. Aufl. Halle 1766. 290 Die Behauptung, die hier genannten, von Hegel beeinflußten Strafrechtler zeichneten ein »hartnäckiges Zerrbild« von Hegels Handlungs- und Strafkonzeption und verbreiteten ein »retrovertiertes Hegelbild«, stammt von René Marcic, der seine Kritik allerdings nicht näher begründet. (René Marcic: Hegel und das Rechtsdenken im deutschen Sprachraum. Salzburg und München 1970. 86.)

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lianismus sahen, namentlich Julius Friedrich Heinrich Abegg, Albert Friedrich Berner und Christian Reinhold Köstlin, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Handlung im Ausgang von Hegel im Sinne des verwirklichten freien Willens eines zurechnungsfähigen Subjekts verstanden. Es ist diese Linie der Strafrechtslehre von Hegel über einige seiner Schüler, durch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einsicht, daß die sachliche Grundlage der Imputation nur in der Handlung liegen kann − und damit auch der Handlungsbegriff selbst − wieder in den Mittelpunkt des strafrechtlichen Systems gerückt wird. Sie griffen dabei die von Hegel entwickelten Bestimmungen der Handlung sowie den seiner Rechtsphilosophie zugrundeliegenden Begriff des Geistes auf und stellten einen – von Radbruch vehement zurückgewiesenen – Begriff der Handlung auf, welcher allein das gewußte und gewollte Tun umspannen soll, und suchen ihn strafrechtlich fruchtbar zu machen. Nicht das äußere Geschehen also, etwa Körperbewegung und Erfolg, machen die Handlung ihrer Ansicht nach aus, sondern was strafrechtlich allein relevant erscheint, ist – in einer pointierten Formulierung von Eduard Gans: – die Handlung, als »im Innern geschehen«, d. h. die Handlung, insofern sie ideell vorweggenommen ist und insofern als vorsätzlich zu bezeichnen ist. In der diesbezüglichen Darstellung der Ansätze derjenigen Strafrechtler, die sich selbst in der Nachfolge Hegels begriffen, wird sich darüber hinaus zeigen, inwiefern die angesprochene Kontroverse zwischen einer indeterministischen und einer deterministischen Auffassung von menschlichem Handeln darin noch vernehmbar nachklingt. Hegel zufolge impliziert die Handlung die Zurechnung, da die Handlung im Wissen und Wollen des Subjekts ihren Grund hat und dieses Urteil entspricht der Zurechnung der Handlung zu einem Akteur. Der auch mit Blick auf Hegels Straftheorie zentrale Gedanke ist der, daß die Handlung, insofern sie für Hegel in aller Regel (wo nicht aus bestimmten Gründen Zurechnungsunfähigkeit zu attestieren ist) die Willensäußerung eines vernunftbegabten Menschen darstellt, und darin liegt, »daß sie etwas allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht subsumirt werden darf.«291 Die Strafe als Wiedervergeltung der geschehenen Rechtsverletzung ist für Hegel nur dadurch gerechtfertigt, daß sie ein Recht an den Verbrecher darstellt, das sich aus der Handlung als seinem ›daseienden‹ Willen, also der Rechtsverletzung, selbst ergibt und an dieser Handlung ihr Maß nehmen muß. Ein so gebildeter Handlungsbegriff tritt in Entsprechung zu einem Verständnis von

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GPR § 100.

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Zurechnung und Strafe, demzufolge diese nicht äußerlich der Handlung hinzutretende Momente sind. Dieser in die Lehre vom Verbrechensaufbau innerhalb der Strafrechtslehre eingepaßte Begriff der Handlung war bis in die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts hinein »absolut herrschend«.292 In einer allgemeinen Perspektive, unabhängig von der Frage nach der theoretischen Tragfähigkeit des Handlungsbegriffs innerhalb der Verbrechenslehre strafrechtlicher Systeme, stellt sich die Frage, was letztendlich dazu führte, daß jene Strafrechtler hegelianischer (oder: vorgeblich hegelianischer) Provenienz ihren Einfluß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so deutlich einbüßten. Stübinger stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß es viele Strafrechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, unter ihnen auch die genannten Berner und Köstlin, bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 als ihre Aufgabe angesehen hätten, hinter dem in partikulare Strafgesetze aufgespaltenen Strafrecht in Deutschland vermittels einer philosophischen Konstruktion den Gedanken eines ›Gemeinen deutschen Criminalrechts‹ aufrechtzuerhalten. Daß die sich in diesem Zusammenhang auf Hegel berufenden Strafrechtler im Sinne eines solchen Vorhabens gerade auf die Philosophie Hegels rekurrieren, habe in erster Linie dem Versuch gedient, länderspezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen Strafgesetzen innerhalb Deutschlands dadurch zu glätten, daß eine allgemeine, philosophisch begründete Begrifflichkeit der Beurteilung des positiven Rechts zugrundegelegt werde. So sieht etwa Christian Reinhold Köstlin die Aufgabe der Philosophie darin, das positive Recht anhand der entwickelten Rechtsidee kritisch zu prüfen.293 Und auch Albert Friedrich Berner konstatiert, daß das Strafrecht im Sinne einer »reinen Wissenschaft« es nicht mit dem historisch Zufälligen zu tun haben könne, »sondern mit dem Einen und Allgemeinen, Bleibenden, Wahren, Unveränderlichen. Sie geht daher über die Geschichte hinaus.«294 Die philosophische Interpretation soll demnach zugleich dazu dienen, die bereits geltenden Strafgesetze in ihrer immanenten Vernünftigkeit zu begreifen. Insofern die philosophische 292

Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung. Neunte Aufl. Berlin 1965. 34. Auch Christoph Safferling bemerkt, die Interpretation des Handlungsbegriffs durch Hegel im Sinne der schuldhaften Handlung (Delikt) habe die strafrechtliche Dogmatik zumindest bis in die 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts hinein beherrscht (vgl. Christoph Safferling: Vorsatz und Schuld. A. a.O. 23). 293 Christian Reinhold Köstlin: Neue Revision criminalistischer Grundbegriffe. Tübingen 1845 (ND Aalen 1970). 652. (Im Folgenden angeführt als: Neue Revision mit entsprechender Seitenzahl.) 294 Albert Friedrich Berner: Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre. Berlin 1843. 62 (reprographischer Nachdruck Frankfurt a.M. 1968). Im Folgenden angeführt als: Imputationslehre mit entsprechender Seitenzahl.

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Strafrechtslehre jedoch an der Idee der Vernunft selbst Maß nimmt, um die bestehende Rechtsordnung daran messen zu können, verfährt sie kritisch. Mit dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 1. Januar 1872 wurden die Forderung und das philosophische Bemühen um das theoretische Gerüst für ein gemeines deutsches Strafrecht obsolet, so daß einer philosophisch fundierten Strafrechtslehre nur noch ein kritisches Refugium blieb. Nicht erst aus aktueller rechtswissenschaftlicher Sicht ist an dem von Hegel entwickelten Handlungsbegriff in der spezifischen Aufnahme durch die genannten Strafrechtler deutliche Kritik geübt worden. So weist der Handlungsbegriff Hegels und der durch die genannten Strafrechtler weiterentwickelte aus der Sicht des Rechtsphilosophen und Rechtswissenschaftlers Hans Welzel den deutlichen Mangel auf, daß er die strafrechtlich relevante Handlung mit der schuldhaften Handlung identifiziere, wodurch dann aber nicht mehr eindeutig bestimmbar sei, was im engeren Sinne als ein Delikt zu gelten habe, und wodurch letztlich die »Zurechnungsvoraussetzungen in einer ungegliederten Gemengelage«295 verblieben. Die Kritik des Rechtswissenschaftlers Günther Jakobs zielt in diesem Zusammenhang auf die von Köstlin explizit zurückgewiesene Unterscheidung zwischen der faktischen und der juridischen Imputation, wodurch der Begriff der Handlung und der der Zurechnung zur Schuld weitestgehend deckungsgleich erscheinen, was Jakobs zufolge weniger ein Spezifikum der Handlungslehre ist, die sich in Hegelscher Tradition begreift, sondern vielmehr auf die im 19. Jahrhundert übliche Konfundierung von Unrecht und Schuld verweist.296 Aufgrund dieser Konfundierung habe der auf Hegel zurückgehende strafrechtliche Handlungsbegriff jedoch schließlich mit der dogmatischen Entwicklung nicht mehr Schritt halten können; zudem, so Jakobs weiter, erwies er sich als wenig geeignet zur Bestimmung des fahrlässigen Delikts, welches ja gerade nicht in der objektiven Erfolgsverursachung gründet, sondern in der »objektiven Sorgfaltswidrigkeit der Handlung.«297 Hinzukommt, daß Rudolf von Jhering bereits in seiner 1867 publizierten Schrift Das Schuldmoment im römischen Privatrecht die Bestimmung der objektiven Rechtswidrigkeit aus einem Schuldbegriff gelöst hatte, der objektive und subjektive Tatbestandsmomente miteinander verschmolz.298 Dieser Unterscheidung korrespondierte wie295

Günther Jakobs: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch. Berlin/New York 1991. 127. Vgl. zudem Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht. A. a.O. 34. 296 Vgl. Günther Jakobs: Strafrecht. A. a.O. 127. 297 Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht. A. a.O. 36. 298 Vgl. Rudolf von Jhering: Das Schuldmoment im römischen Privatrecht. Eine Festschrift zum 50-jährigen Professorjubiläum für Franz Birnbaum. Giessen 1867. 4–8.

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derum ein Handlungsbegriff, der unter dem Einfluß der mechanistischen Denkweise in der Naturwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Strafrechtswissenschaft, in erster Linie von Franz von Liszt (1851–1919), Ernst Beling (1866–1932) und schließlich Gustav Radbruch (1878–1949) entwickelt wurde. Der von Hegel geprägte und innerhalb der strafrechtlichen Verbrechenslehre weiterentwickelte Handlungsbegriff fand sein Ende an einer Gegenposition, welche die Handlung primär als einen äußerlichen Vorgang und nicht mehr als unmittelbaren Sinnausdruck des handelnden Individuums begreift, genauer: an der kausalen oder naturalistischen Handlungslehre. Der genannte naturalistische oder kausale Handlungsbegriff schien der von der Dogmatik geforderten Trennung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld zu Beginn des 20. Jahrhunderts besser zu entsprechen, denn nunmehr bestand die Möglichkeit, der äußeren, kausalen »Rechtsgutverletzung« die Rechtswidrigkeit zuzuordnen, dem Willensinhalt, also der seelischen oder psychischen Beziehung des Täters zum Erfolg einer Handlung hingegen die Schuld, welche nach Maßgabe des Hegelschen Handlungsbegriffs zunächst einmal gar nicht voneinander zu trennen sind. Damit wird zugleich eine Stufung der Zurechnungsvoraussetzungen möglich, und es ergeben sich derer unter Zugrundelegung des ›kausalen Handlungsbegriffs‹ nunmehr mindestens zwei: die Zurechnung zum Unrecht und die Zurechnung zur Schuld. Die erste Zurechnungsfrage muß klären, ob jemand durch sein Verhalten gegen eine Norm verstößt, und die zweite, ob der Normverstoß durch einsichtiges Verhalten zu vermeiden war. – Die hier skizzierte Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs gilt es im Folgenden näher in den Blick zu nehmen – wobei der Bogen über die Bemühungen der sich auf die Tradition Hegels berufenden Strafrechtler Abegg, Berner und Köstlin, über die Ablösung vom Hegelschen ›Paradigma‹ durch den »kausalen Handlungsbegriff« und schließlich zur ›Rehabilitierung‹ des Handlungsbegriffs ›Hegelscher‹ Provenienz zu spannen ist, die er in gewisser Weise in der »finalen Handlungslehre« des 20. Jahrhunderts erlebt hat.

6.3.1.1 Carl Ludwig Michelet Der erste hier zu nennende Versuch der Aufnahme und Weiterentwicklung des Handlungsbegriffs Hegels in strafrechtlicher Absicht stammt von Carl Ludwig Michelet.299 Von maßgeblicher Bedeutung in diesem Zusam299

Carl Ludwig Michelet (1801–1893) zählte seit 1820 zu Hegels Schülern; er wurde 1824 mit einer Arbeit über die strafrechtliche Zurechnung von dolus und culpa (also von

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menhang ist sein 1828 erschienenes System der philosophischen Moral300, in dem sich Michelet ausführlich mit Fragen der philosophischen Zurechnung befaßt. Er wählt einen zunächst überraschenden Ausgangspunkt, indem er nämlich, anders als Hegel, im Wesentlichen auf die Handlungs- und Zurechnungslehre des Aristoteles zurückgreift. Daß sich Michelet in seinen Überlegungen auf Aristoteles stützt, liegt wohl zum einen darin begründet, daß es Michelet in seinem System der philosophischen Moral um die Vermittlung zwischen einer philosophischen und einer strafrechtlichen Bestimmung von Zurechnung zu tun ist, sich die Aristotelische Zurechnungslehre – wie gesagt: vermittelt über die Imputationslehre von Samuel Pufendorf − aber in besonderer Weise als anschlußfähig für solche Bemühungen erwies. Um an dieser Stelle kurz an die Handlungs- und Zurechnungslehre des Aristoteles zu erinnern: Das erste und grundlegende Erfordernis, welches Aristoteles im ersten Kapitel des dritten Buches der Nikomachischen Ethik für die Beurteilung einer Handlung in Gestalt von Lob und Tadel aufstellt, besteht darin, daß die Handlung ein Gewolltes, ein Freiwilliges (äekoúsion) gewesen sein muß, wobei das Gegenteil die durch Gewalt oder aus Unwissenheit geschehende Handlung ist. Das durch Gewalt – sei dies eine Naturgewalt oder der beherrschende Einfluß eines anderen Menschen – Hervorgebrachte hat Aristoteles zufolge seinen Ursprung außerhalb des Handelnden selbst. Wenn Aristoteles davon spricht, daß die Ursache der Handlung, so sie als freiwillig gelten soll, im Handelnden selbst liegen muß, so ist damit gemeint, daß die bewegende Ursache in diesem Fall im Handelnden selbst liegt. Das gewöhnlich mit dem Terminus des ›Freiwilligen‹ übersetzte, eher jedoch als das ›Gewollte‹ oder das durch den Willen Gesetzte301 zu bezeichnende äekoúsion verweist damit auf eine wesentliche Eigenschaft aller Naturdinge und ist zunächst einmal ebenso auf unmündige Kinder und Tiere zu beziehen. Im engeren Sinne zurechenbar sind dann diejenigen Handlungen, die »dem Begehren des Handelnden«302 entspringen. So werden zunächst alle Handlungen zugerechnet, die auf vernünftiger Überlegung, auf dem rationalen Abwägen der Handlungsumstände, des angemessenen Handlungszieles sowie der aufzuwendenden Mittel beruhen. Die freie, zurechenbare Handlung gründet in der Vorsatz und Fahrlässigkeit) promoviert (De doli et culpae in jure criminalis notionibus. Diss. Berlin 1824). 300 Carl Ludwig Michelet: Das System der philosophischen Moral mit Rücksicht auf die juridische Imputation, die Geschichte der Moral und das christliche Moralprinzip. Berlin 1828. (Künftig angeführt als: System mit entsprechender Angabe der Seite.) 301 Vgl. Richard Loening: Die Zurechnungslehre des Aristoteles. A. a.O. 141. 302 Ebd. 135.

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Willensentscheidung, im Vorsatz. In dieser auf Überlegung und Abwägung beruhenden Willensentscheidung (proaíresiV) liegt der Grund des ›wahrhaft tugendhaften‹ wie des ›wahrhaft lasterhaften‹ Handelns. Kann man also die erste Ursache einer unrechten Handlung im Handelnden selbst finden, so ist sie eine Verfehlung (äamárthma) − jedoch nur insofern sie ohne bösen Willen (Áνευ δε κακίας) verübt wurde.303 Liegt die erste Ursache nicht im Handelnden selbst, so ist das Resultat der Tat als ein Unglück (Âτύχημα) zu bezeichnen. Entsprechend erläutert Aristoteles, unentschuldbar seien diejenigen Handlungen, die nicht aus Unwissenheit geschehen, in denen sich der Handelnde aber doch auf gewisse Weise unwissend zeigt: Nicht wissend (oder: nicht im vollen Sinne bewußt) handelt derjenige, der etwa in Trunkenheit oder im Zorn agiert, wobei er sich dieses Nicht-Wissen Aristoteles zufolge selbst zuzuschreiben und daher auch die Verantwortung dafür zu tragen hat.304 Die Unwissenheit hingegen bezieht sich auf die näheren Umstände des Handelns; wiederum ist zwischen einer selbstverschuldeten und einer unvermeidbaren Unwissenheit zu unterscheiden. Grundlage sittlichen Handelns – und zugleich Maßstab seines Verfehlens – sind für Aristoteles die tätige Übung und der durch Gewohnheit geformte Charakter eines Menschen sowie seine Einsicht in die geltenden Normen sowie sein Wissen der konkreten Umstände seines Handelns. Damit profiliert Aristoteles einen deutlich handlungsbezogenen Schuldbegriff, wie es auch Hegel später tun wird. Für Michelet ist ›Schuld‹ die »Hauptbedingung der menschlichen Handlung«305 und wird als solche zu einem Synonym für die Zurechnung, denn diese urteilt darüber, ob »der Mensch nun Schuld an einer äußerlichen Existenz«306 ist oder nicht. Wie auch Gans wenig später, begreift Michelet die Schuld zunächst von der objektiven Seite der willentlichen Verursachung her. Er lehnt sich dabei, und auch darin wird ihm Gans folgen, an die Aristotelische Differenzierung der Handlung in drei Typen ein: in freiwillige, unfreiwillige und gemischte Handlungen. Die Sphäre der Freiwilligkeit bezeichnet dabei für Michelet den »unmittelbaren Übergang des Subjekts in das Objekt«307. Diese Unmittelbarkeit der Willensäußerung ist jedoch Michelet zufolge der subjektiven Freiheit als der dem Menschen angemessenen Seinsweise nicht entsprechend und muß dadurch gehemmt werden,

303 304 305 306 307

Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1135 b 17 ff. Ebd. 1110 b 25 ff. System 22. Ebd. 20. Ebd. 19.

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daß die vom Subjekt zu setzende Objektivität vor dem Vollzug der Handlung ausdrücklich in diesem selbst, also ideell gesetzt werde. Mit anderen Worten: Strafrechtlich relevant ist eine Handlung nicht, weil der Mensch die Ursache einer Veränderung in der Sinnenwelt ist, sondern weil er »freie Ursache der That« ist, nicht weil er Ursache ist, sondern weil er Ursache sein wollte. Allerdings kann der Mensch ebensogut »unfreie Ursache« eines Geschehens sein – und diese Möglichkeit ergibt sich für ihn aus der »ursprünglichen Entfremdung der Objekte vom Subjekt, womit die subjektive Freiheit beginnt«308, und mit der zugleich die Möglichkeit des irrtümlichen Auffassens der Umstände gesetzt ist. Insofern eine Handlung unfreiwillig ist, ist sie nicht aus der »unbestimmten Allgemeinheit des Willens hervorgegangenes Dasein, also nicht ein allgemeines, sondern ein einzelnes.«309 Sofern die Handlung unfreiwillig ist, sofern sie also von fremder Gewalt hervorgerufen wird, nicht jedoch, wenn sie aus Irrtum hinsichtlich der Umstände begangen wird, verleugnet der Wille sein objektives Dasein darin, weil er keine subjektive Existenz in ihr anerkennt. Diese bloß objektive Existenz des Willens im äußeren Geschehen nennt Michelet, in Übereinstimmung mit Hegel, die Tat; diese jedoch ist »nichts, woran der Wille Schuld hat, »noch haben will.«310 Dabei ist es ihm wichtig zu betonen, daß die Unfreiwilligkeit einer Handlung nicht zwangsläufig zur Folge hat, daß sie nicht zugerechnet werden kann (etwa im Falle eines Affekts). Da das erste Buch von Michelets Systems der philosophischen Moral die Überschrift trägt: »Zurechnung der Handlungen«, ›Vorsatz‹ und ›Absicht‹, die darin behandelt werden, jedoch für ganz bestimmte Arten von Handlungen reserviert sind, muß folglich für Michelet, anders als für Hegel, auch prinzipiell die Zurechnung von nichtvorsätzlichen Handlungen möglich sein, also dasjenige, was als faktische oder objektive Zurechnung begriffen wird. In systematischer Vertiefung des Willensbegriffs gelangt er zu einer Unterscheidung bloß freiwilliger Handlungen von vorsätzlichen. Für den vorsätzlich handelnden Menschen muß gelten, daß er den Gegenstand, auf den hin er handelt, erkennt, »wie er in Wahrheit ist«311. Der Objektivitätsgrad eines bewußt intendierten Erfolgs ist für Michelet ein höherer als derjenige des zwar freiwillig, aber bloß unmittelbar Bewirkten. Das diesem in seiner Wahrheit erkannten Gegenstand korrespondierende Bewußtsein ist für Michelet nicht mehr bloß »sinnliches Bewußtsein«, sondern die (noch auf der Sub-

308 309 310 311

Ebd. 23. Ebd. 25. Ebd. Ebd. 42.

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jekt-Objekt-Trennung beruhende) Wahrnehmung.312 In der Handlung, die einer ›Absicht‹ folgt, ist dann Michelet zufolge auch dieses Bewußtsein der Trennung von Subjektivität und Objektivität überwunden. – Das Aufzeigen der Möglichkeit einer adäquaten Gegenstandserkenntnis ist das Fundament für den von Michelet entwickelten und über Hegel hinausweisenden Versuch der systematischen Integration der ›Fahrlässigkeit‹ oder des ›Versehens‹ in die Handlungslehre. Was die Fahrlässigkeit angeht, so entdeckt und öffnet Michelet jene ›Hintertür‹, die Hegel in seiner Zurechnungslehre gelassen hatte313, indem er konzediert, daß die Kenntnis der allgemeinen Natur der Handlung hinreichend dafür ist, dem Handelnden auch die notwendigen Folgen seiner Handlung zuzurechnen.314 Die Fahrlässigkeit hat ihren Grund Michelet zufolge in einem unrichtigen Auffassen der Umstände und ist daher zunächst ein bloßer Fehler des Bewußtseins, der sich jedoch als »ein integrirender Theil des Willens«315 erweist und damit letztendlich als »Schuld des Willens, welche daher für das Prinzip des Erfolgs gehalten werden muß, dessen Ursache jener Irrthum ist.«316 Mit dieser intellektuellen Fehlleistung, die von Michelet nichtsdestotrotz als Willensschuld aufgefaßt wird – als »Nichterkennenwollen«317 –, ist eine Schuldform aufgewiesen, die sowohl von der dolosen, also vorsätzlichen Handlung, als auch vom bloßen Zufallswerk zu unterscheiden ist und mit welcher eine eigene »Stufe der Imputation erreicht«318 ist. Denn das Versehen (culpa) ist von der vorsätzlichen Tat dadurch zu unterscheiden, daß jenes nur »die reale Möglichkeit, nicht die wirkliche Existenz der mittelbaren Folge« intendiert hat. Da sich Wille und Tat nur partiell entsprechen, bezeichnet die culpa den »mittleren Grad der Imputation.«319 − Michelet sieht sich hier als erster in einer Reihe von Strafrechtlern hegelianischer Provenienz der systematischen Schwierigkeit gegenüber, auch die Fahrlässigkeit – die sich ja gerade dadurch auszeichnet, daß der verursachte Erfolg nicht gewollt wurde, aber dennoch hätte vermieden werden können – unter die Bestimmung einer Handlung und damit einer positiven Willensschuld fassen zu müssen, damit sie – wenn auch im Vergleich zum dolus graduell abgestuft – zurechenbar 312

Vgl. ebd. 41. Vgl. Thomas Holl: Entwicklungen der Fahrlässigkeitsdogmatik im Strafrecht von Feuerbach bis Welzel – unter besonderer Berücksichtigung der Hegel-Schule. Diss. Bonn 1992. 63. 314 Vgl. GPR § 118. 315 System 57. 316 Ebd. 317 Ebd. 75. 318 Ebd. 57. 319 Ebd. 64. 313

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sein kann.320 Auf ähnliche Weise werden auch die auf Michelet folgenden, sich auf Hegel berufenden Strafrechtler die Fahrlässigkeit zu begründen versuchen und eben dafür immer wieder heftige Kritik erfahren.

6.3.1.2 Julius Friedrich Heinrich Abegg Sieht man von Michelet einmal ab, dessen strafrechtsphilosophische Arbeiten außerhalb des Kreises der hier genannten Vertreter der Hegelschen Schule (vor allem Köstlin) kaum mehr Beachtung fanden321, so kann als der erste in der Reihe der wirkmächtig gewordenen ›Hegelianer‹ J.F.H. Abegg genannt werden (1796–1869).322 Abegg geht in seinem 1836 veröffentlichten Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft323, in dem er deutlich vom Boden der Unrechtslehre Hegels aus argumentiert, nicht von einem allgemeinen Begriff der Handlung aus, sondern er begreift die Handlung von Beginn an in ihrer Eigentümlichkeit als Unrechtshandlung: Handlung ist schuldhaft-rechtswidrige Handlung.324 Bereits im Vorwort, in dem Abegg auf die dem Lehrbuch zugrundegelegte Methode reflektiert, betont er, ein rechtswissenschaftliches Werk wie das seine habe nicht allein juristische Bestimmungen aufzuzählen, sondern müsse Philosophie, Geschichte und System des dogmatischen Rechts einer Zeit umfassen.325 So läßt Abegg den besonderen Lehren auch jeweils einen Abschnitt zur Entwicklungsgeschichte vorausgehen, da es aus seiner Sicht von Bedeutung ist, ob eine Lehre aus verschiedenen Rechtsquel320

»Da nun niemand von etwas abgeschreckt werden kann, was er weder wußte noch wollte, die Strafe mithin den positiven Willen voraussetzt, wissend das abschreckende Strafgesetz zu verletzen, so muß dieser positiv böse Wille auch in der culpa nachgewiesen werden […].« (System 76) 321 So beurteilt jedenfalls Christian Reinhold Köstlin die Situation mit Blick auf seinen ›Vorgänger‹ Michelet in der Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Neue Revision 153). 322 Nach einer ersten Begegnung mit Hegel als dessen Schüler am Gymnasium in Nürnberg (ab 1812) wandte sich Abegg dem Studium der Rechtswissenschaften zu und wurde 1818 darin promoviert. Nach einem Aufenthalt in Erlangen, wo er sich am dortigen Landgericht der juristischen Praxis widmete, ging er 1819 nach Berlin und traf dort abermals auf Hegel. 323 J.F.H. Abegg: Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft. Neustadt a.d.O. 1836. § 74 Anm. Im Folgenden angeführt als: Lehrbuch mit entsprechender Seiten- bzw. Paragraphenangabe. 324 Eckhart von Bubnoff kritisiert eben dies; durch die Identifizierung von Handlung und schuldhaft-rechtswidriger Handlung »verliert der Handlungsbegriff jede systematische Bedeutung im Rahmen der Verbrechensanalyse.« (Eckhart von Bubnoff: Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule. Heidelberg 1966. 53.) 325 Vgl. Lehrbuch VI.

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len kompiliert ist, ob sie durch die Praxis der Rechtsprechung, durch »Analogie« oder auf welchem Wege sonst ihre Gestalt erhalten habe. Unter der Überschrift: »Allgemeine Lehren des Strafrechts« entfaltet Abegg seinen Handlungsbegriff, unter den ebensowohl die Unterlassung subsumiert wird.326 Zunächst untersucht er die Handlung nach Maßgabe ihres inneren Charakters, der Natur des Willens und der Zurechnung, die aus seiner Sicht im Begriff der Handlung notwendig enthalten sind327, und im darauf folgenden Abschnitt nach Maßgabe ihres äußeren Charakters.328 Beide Seiten, Innen und Außen (Subjektivität und Objektivität), machen in der objektiven Gestalt der Handlung zwei voneinander nicht zu isolierende Momente aus. Von der Untersuchung dieser beiden Seiten unterschieden betrachtet er den besonderen Charakter der Rechtswidrigkeit einer Handlung329; den weitaus größten Teil seines Lehrbuchs macht jedoch die Darstellung der besonderen Verbrechen aus.330 Die allgemeine Qualität der Handlung wird jedoch allein durch den dominierenden Handlungsfaktor des Willens bestimmt, die Äußerung dieses Willens ergibt lediglich die Seite der Quantität, des Umfangs und der Ausdehnung der Verletzung des Rechts.331 Dem Doppelcharakter der Handlung gemäß, als das Innere und das Äußere gleichermaßen in sich enthaltend, muß auch der Begriff der Zurechnung beide Sphären umfassen; sie ist die Beziehung des Erfolgs auf das Wissen und Wollen des Subjekts. Abegg will die Zurechnung lediglich im Sinne der imputatio juris aufgefaßt wissen und lehnt damit die Ausdehnung des Begriffs der Zurechnung auch auf den Akt der objektiven Zurechnung, also der Zurechnung zur Tat, zur physischen Urheberschaft eines Menschen als nicht hinreichend aussagekräftig ab. Da Zurechnung für Abegg Schuld impliziert, Schuld wiederum das Wissen und Wollen eines bestimmten Handlungserfolgs beinhaltet, dies aber nichts anderes als die Bestimmung der Handlung ist, so liegt im Begriff der Handlung notwendig die Zurechnung. Die Zurechnung urteilt darüber, in welchem Verhältnis der Wille zur Tat steht; in dieser Hinsicht sind Abegg zufolge drei Fälle denkbar: dolus (der »rechtswidrige Vorsatz«), casus (Zufall) und culpa. – Daß nunmehr auch der in der Regel als nicht einer personalen Zurechnung fähige Faktor Zufall bei Abegg ein Verhältnis des Willens zur Tat ausdrücken soll, mag überraschen.332 326 327 328 329 330 331 332

Vgl. ebd. § 73. Vgl. ebd. §§ 78 bis 90. Vgl. ebd. §§ 91 bis 98. Vgl. ebd. §§ 99 bis 109. Vgl. ebd. §§ 184 bis 409. Vgl. ebd. § 92. Die Fahrlässigkeit (culpa) auf diese Weise in den Allgemeinbegriff der Handlung zu

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Auch für Abegg scheint es also ausgemacht, daß die Fahrlässigkeit in den Allgemeinbegriff der Handlung zu integrieren333 und – wie schon für Michelet – nicht als bloßer Verstandesfehler, sondern als Willensschuld aufzufassen ist. Abegg verstrickt sich bei der näheren Bestimmung der culpa auf der Grundlage seines Handlungsbegriffs, der auf Wissen und Wollen basiert, allerdings in Widersprüche. Der nicht beabsichtigte, aber auch nicht vermiedene, notwendige Erfolg einer Handlung wird dem Vorsatz zugerechnet; dies begründet Abegg so, daß er zwar das unvorsätzliche Moment an der Handlung auf den Erfolg bezieht, der nicht gewollt war, wohingegen die Handlung selbst durchaus auf dem Vorsatz des Handelnden beruht. Das Problem an diesem Vorschlag ist jedoch, daß auf diese Weise der bewirkte Erfolg von der Handlung bzw. dem Vorsatz getrennt und die von Abegg unterstellte und für die Beschreibung einer Handlung konstitutive Einheit von Innerem und Äußerem damit aufgegeben wird.

6.3.1.3 Albert Friedrich Berner Ein mit Blick auf die Geschichte des strafrechtlichen Handlungsbegriffs sehr bedeutender Vertreter in der Reihe der hier vorzustellenden Strafrechtler hegelianischer Provenienz ist Albert Friedrich Berner (1818–1907).334 Seine 1843 erschienenen Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre sind ganz der von Hegel geleisteten begrifflichen Rechtfertigung von Strafe im Sinne der Wiedervergeltung der Rechtsverletzung verpflichtet. Zudem stand Berner der Historischen Rechtsschule ablehnend gegenüber − obwohl oder vielleicht gerade weil er bei Savigny gehört hatte − und forderte demgegenüber nachdrücklich die immanente Rechtfertigung kriminalistischer Grundbegriffe, die aus seiner Sicht nicht unter Berufung auf die Positivität der Gesetzgebung zu leisten ist.335 Berner macht es sich, jedenfalls dem Anspruch nach ganz der Hegelschen Methode folgend, zur Aufgabe, seine Lehre von

integrieren – sie zur Mitte zwischen den beiden Extremen casus und dolus zu erklären −, wird verschiedentlich kritisiert. So weist etwa A.F. Berner diese Argumentation Abeggs entschieden zurück; Berners Ansicht nach löst sich das »Casuelle« gänzlich vom subjektiven Willen ab und kann daher auch nicht im Zusammenhang der Handlung erörtert werden (vgl. Imputationslehre 234). 333 Vgl. Lehrbuch § 85. 334 Berner studierte Philosophie und Rechtswissenschaft in Berlin, allerdings erst nach Hegels Tod, u. a. bei Savigny und Gans. Bereits im Jahr seiner Habilitation 1844 erhielt er eine ordentliche Professur für Strafrecht in Berlin. 335 Vgl. Imputationslehre 3.

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der Zurechnung als einen Teil der allgemeinen Lehre vom Verbrechen in ihren Voraussetzungen auf spekulative Weise zu begründen, um schließlich auf der Basis dieses Begriffs der Zurechnung die Bestimmungen von dolus und culpa zu entwickeln. Neben der Zurechnung ist der andere Grundbegriff, den Berner spekulativ abzuleiten versucht, derjenige der Handlung. Bevor jedoch darauf eingegangen wird, noch einige Bemerkungen hinsichtlich des seinen Überlegungen zugrundeliegenden Begriffs des Willens. Berner zufolge gründet die Zurechnungsfähigkeit des Menschen im Prinzip des Willens; der Wille ist der »allerinnerste Kern des Menschen«, er ist sogar »der innere Mensch selbst«336, denn der Wille ist aufs engste mit der Freiheit verbunden, und diese ist die wesentliche Voraussetzung für die personale Zurechnung. Sieht man von dem hymnischen Überschwang, in dem Berner den menschlichen Willen in seiner Freiheit feiert, einmal ab, so scheint mir das Wesentliche an seiner an Hegels Geistphilosophie orientierter Willenslehre vor allem dies zu sein, daß er den Willen als einen »Prozeß« denkt, dessen Entwicklung vom Begriff zur Idee des Willens nachzuvollziehen sei.337 Der Wille geht Berner zufolge von der »Allgemeinheit des reinen Selbstbewußtseins«338 aus, besondert sich und bleibt doch in dieser Besonderung bei sich. Die Erkenntnis, daß das Denken oder das Selbstbewußtsein den einzig möglichen Ausgangspunkt für den Willen darstellen339, wird von Berner als »eins der wichtigsten Resultate« für seine Imputationslehre gewertet. Berner sieht in der Erkenntnis, daß das »Natürliche auch nur in gänzlich vergeistigter Weise dem Geiste nahen könne«340, einen hinlänglichen Beweis gegen den »materialistischen Determinismus«. Aber auch jede Art von ›sozialer‹ Determiniertheit weist Berner entschieden ab: »Daß er [der Verbrecher] so schlecht ist; daß Eigennutz, Rachsucht, Geiz, für ihn Gründe gewesen sind, dies ist seine Schuld, denn der Geist ist nur das, wozu er sich macht.« Der Mensch »ist in allen seinen Zuständen und Unterschieden frei, in jeder Beziehung nur durch sich selbst bestimmt.«341 Auf Berners Auseinandersetzung mit deterministischen Positionen, insbesondere das Strafrecht betreffend, werden wir noch einmal zurückzukommen haben. Obschon für Berner die systematische Koppelung von Denken, Freiheit und Wille schlechthin die Grundlage seiner Überlegungen ausmacht, sucht 336 337 338 339 340 341

Ebd. 2. Vgl. ebd. 11. Ebd. 9; siehe ferner GPR §§ 5 bis 7. Vgl. Imputationslehre 26. Ebd. Ebd. 27.

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er doch – ganz der Hegelschen Begrifflichkeit verpflichtet – an der Entwicklung des Willens aus anfänglicher Naturbestimmtheit bis hin zum sich selbst in sittlichen Verhältnissen manifestierenden freien Willen festzuhalten: Am Anfang der Entwicklung steht ein Wille, welcher nur erst die »reale Möglichkeit« des Willens ist, was die Stufe des Ansichseins bezeichnet. Der »für sich seiende, reflektirende Wille« oder die Willkür beruht bereits seiner Form nach auf »freier Wahl.«342 Der an und für sich seiende Wille sieht schließlich aus sich selbst heraus die sittliche Notwendigkeit als seinen eigentlichen Inhalt an, den er in der Freiheit der allgemeinen Verhältnisse zu verwirklichen sucht. Diese Stufe der formellen Freiheit spielt für Berner im Rahmen seiner Imputationslehre die entscheidende Rolle, denn während der nur erst an sich seiende Wille noch nicht schuld- und damit auch nicht zurechnungsfähig ist, ist der an und für sich seiende Wille bereits »weit über jedem Verbrechen erhaben«343; er fällt gleichsam mit der sittlichen Notwendigkeit zusammen, ist zwar zurechnungsfähig, aber zugleich »jeder Unthat unfähig«. Es kann somit die Freiheit, die strafrechtlich relevant ist, nur die formelle der Willkür sein, denn insofern der Mensch ausschließlich seinen Leidenschaften folgt, handelt er allerdings unfrei. Aber, so betont Berner, der moralische, reflektierende Wille handelt aus eigener Freiheit unfrei, und dies muß ihm als seine Schuld zugerechnet werden. Diese Freiheit, so Berners Argument, habe der an und für sich freie Wille nicht mehr, denn dieser könne nicht mehr wählen, sondern folge »seinem substanziellen Wesen«, welches ihm der einzige Inhalt seiner Handlungen ist.344 342

Ebd. 12. Ebd. 15. 344 Es sei an dieser Stelle an die zeitgenössische Kontroverse zwischen Ludwig Feuerbach und Friedrich Julius Stahl erinnert, in der es um die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Willkür geht. Feuerbach kritisiert in seiner Rezension von Stahls zweibändiger Rechts- und Staatslehre Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht (1830–33) dessen »sogenannte positive Philosophie«. Stahl unterscheidet zunächst zwischen einem negativen und einem positiven Begriff von Freiheit: Während der negative Begriff von Freiheit bedeute, nicht durch ein anderes, sondern nur durch das eigene innere Wesen bestimmt zu werden, sieht er den positiven Begriff von Freiheit darin, daß diesem Wesen »eine unendliche Wahl zukomme.« Stahl sucht die göttliche Freiheit darin zu begründen, daß Gott die »unendliche Wahl« habe, Freiheit sei untrennbar mit der Möglichkeit der Wahl verknüpft. Feuerbach hält ihm entgegen, Freiheit (sofern man an ihr als einem Attribut Gottes festhalten will) könne nur über die Vermittlung mit dem Begriff der Notwendigkeit gedacht werden. »Die Wahl ist so wenig Freiheit, daß gerade nur in der Negation der Wahl die Freiheit besteht, daß akkurat da, wo die Wahl aufhört, die Freiheit anfängt. […] Frei fühlt sich der Mensch nur da, wo er es zum Entschluß, zur Entscheidung, zur bestimmten, das Gegenteil, ja, die Möglichkeit des Gegenteils aus343

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Aus der angezeigten Bestimmung der Handlung als Sinnausdruck des handelnden Individuums entwickelt Berner nunmehr sowohl die vorsätzliche Handlung als auch die Fahrlässigkeit. Die Bestimmung beider ergibt sich aus der Reflexion auf das Verhältnis von Wille und Tat, das dreierlei Gestalt annehmen kann: Erstens können sich beide im Gleichgewicht befinden (dolus), zweitens kann das Willensmoment die tatsächliche Ausführung, also die Tatseite, überwiegen, so daß weniger geschieht als beabsichtigt (conatus) und drittens kann die Tatseite über die Willensseite hinausgreifen, so daß mehr oder etwas anderes geschehen ist als beabsichtigt (culpa). Der starke Begriff der Handlung als einer »Totalität des Subjectiven und Objectiven« – den Köstlin von Berner übernimmt345 – läßt sich allerdings nur auf die vorsätzliche Handlung anwenden, und auch auf diese nur, insofern sie sich auch äußerlich als vollendete Handlung darstellt. Was die systematische Integration der Fahrlässigkeit angeht, so begründet Berner seine Behauptung, daß es sich bei dieser um eine Willens- und nicht um eine Verstandesschuld handele, damit, daß er die »Aufmerksamkeit«, also die Gegenwart des Bewußtseins im Vollzug einer Handlung, als einen »willkürlichen Akt«346 begreift. Damit stellt die Unaufmerksamkeit ein − im Gegensatz zum positiv Schuldhaften der vorsätzlichen Handlung − negatives Vergehen dar.347 Wenn es dem Menschen also gemäß ist, stets und unter allen Umständen im vollen Bewußtsein seiner selbst und der Umstände zu handeln, dann – so muß man hier kritisch folgern – sind zugleich alle Äußerungen, die nicht dem bewußten Willen der Person entspringen, als ›ungeistig‹ zu betrachten. Allerdings muß man Berner zugestehen, daß er im Durchgang durch die verschiedenen Bestimmungen auf der Grundlage seines postulierten Handlungsbegriffs, insbesondere der Fahrlässigkeit, zu einer Erweiterung schließenden Handlung gebracht wird, frei fühlt er sich nur im Tun […], frei also nur in der Kraft der Selbstbestimmung, in der Energie, […] sich selbst seine Notwendigkeit zu sein.« (Ludwig Feuerbach: Kleinere Schriften I (1835–1839). Berlin 1982. 27. Feuerbach bezieht sich auf Friedrich Julius Stahl: Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. Erster Band: Die Genesis der gegenwärtigen Rechtsphilosophie. Heidelberg 1833. 20 ff.; das von mir angeführte Zitat findet sich ebd. 21.) Berner teilt also die Ansicht Ludwig Feuerbachs: Da, wo wir wahrhaft und nicht bloß formell frei sind, handeln wir aus Einsicht in die Notwendigkeit. Und es ist durchaus möglich, daß auch Berner diese Bemerkung in erster Linie als kritischen Einwand gegenüber Stahl verstanden wissen will, dessen Philosophie des Rechts er in seiner Imputationslehre in anderem Zusammenhang erwähnt (vgl. ebd. 36 f.). 345 Vgl. Neue Revision § 80. 346 Imputationslehre 228. 347 »Die Geistesdumpfheit, Trübheit und Verworrenheit, – das Dämmerlicht, aus dem der Mensch sich herausreißen soll: ist ein unsittlicher, unter Umständen sträflicher Zustand.« (Imputationslehre 229)

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des Begriffs der Handlung gelangt: Obgleich Berner immer wieder deutlich macht, daß die tatsächliche Wirkung des Willens nichts sein kann, was nicht auch gewollt war, so korrigiert er sich an späterer Stelle seiner Ausführungen dahingehend, daß der Zurechnungsbegriff ein Urteil darüber zu treffen habe, inwiefern das Subjektive objektiviert und das Objektive subjektiviert sei. Ein solches objektives Subjektives muß aber keineswegs ein gewolltes sein, es muß lediglich auf das subjektive Tun zurückzuführen sein.348 Eine Verabschiedung von dem Dogma der Deckungsgleichheit von Kausal- und Zurechnungszusammenhang allerdings konnte und wollte Berner letztlich nicht vollziehen. Im Gegenteil: Die Handlung ist für ihn »ganz vom Willen durchzogen und steht unter seiner Herrschaft«349. – Wo Hegel sich bemühte, die Komplexität menschlichen Handelns, die mannigfachen, sich dem willentlichen Zugriff nicht selten entziehenden natürlich-gesellschaftlichen Umstände und sogar die unvorhersehbaren Folgen in seinen Begriff der Handlung zu integrieren, da führt Berner die Handlung auf einen subjektiven Willen zurück, der das natürlich-kausale wie das komplexe soziale Geschehen zu umgreifen und zu determinieren im Stande ist. Auch in seinem fast ein Vierteljahrhundert später (1868) erschienenen Lehrbuch des Deutschen Strafrechts legt Berner die Handlung im Sinne einer lebendigen Vermittlung des Willens zur Tat als final gesteuerte Tätigkeit aus. Der Mensch legt seinen Zweck in die »an sich todten Mittel«350, die diesem Zweck vollkommen dienstbar sind und sich folglich dem Zweck auch nicht widersetzen können. In der Handlung äußert sich die »freie Kausalität« des Menschen, und seine zweckgerichtete Tätigkeit umgreift die angestoßene Kausalreihe. Damit ist jede Handlung nichts weiter als das Indienststellen der Kausalität durch den zwecksetzenden Willen. Eine vollständige Vermittlung von Wille und Tat ist Berner zufolge dann gegeben, wenn der Kausalverlauf die vorgesehene Richtung einhält. (Was heute als Tatherrschaft bezeichnet wird.) – Es ist diese Tradition einer finalen Deutung von Handlung, auf welche die maßgeblich von Hans Welzel geprägte »finale Handlungslehre« des 20. Jahrhunderts rekurriert. Nur die Entscheidung hinsichtlich der Frage, ob Hegel selbst als Determinist oder als Indeterminist aufzufassen ist (wobei sie schwerlich in solcher Gegenüberstellung zu beantworten sein wird), kann darüber befinden, 348

Vgl. ebd. 246 ff. Ebd. 41. 350 A.F. Berner: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. Leipzig 41868. 145. Unter die Bestimmung einer Handlung, »Vermittelung von Wille und That« (ebd.) zu sein, fällt für Berner im übrigen auch die ›Unterlassung‹, denn diese gründet für ihn ebenso wie die aktive Handlung im Willen (nämlich in dem Willen, das Gebotene nicht zu wollen). 349

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inwiefern man das von den hier angeführten, sich zumeist weniger ausdrücklich denn in Diktion und Methode auf Hegel berufenden Strafrechtlern vermittelte Hegelbild für entweder angemessen oder ein ›hartnäckiges Zerrbild‹ hält. Wenn, wie am Beispiel Berners verdeutlicht, die Handlung als Ausdruck der »freien Kausalität« des Menschen bestimmt wird, dann bleibt zu konstatieren, daß sie allesamt den Standpunkt des Indeterminismus vertreten und daher auch nicht zufällig den Handlungsbegriff zum Schlüsselbegriff ihrer indeterministischen Zurechnungslehre erheben.351 Berners emphatische Worte hinsichtlich der Selbsttätigkeit und unbedingten Freiheit als der wesentlichen Eigenschaften des Geistes, mit denen er sämtliche deterministische Positionen abgewehrt zu haben glaubt, wurden bereits angeführt.352 Berner selbst setzt sich in diesem Zusammenhang ebenso ausführlich wie polemisch mit Karl Ferdinand Hommel auseinander353, einem im 18. Jahrhundert bedeutsamen Vertreter des materialistischen Determinismus. Hommel veröffentlicht 1770 unter dem augenzwinkernden Pseudonym Alexander von Joch die sich aus seiner deterministischen Auffassung hinsichtlich des Wesens des menschlichen Willens ergebenden Folgerungen für das Kriminalrecht unter dem Titel: Über Belohnung und Strafen nach Türkischen Gesezen.354 Da Hommel von der uneingeschränkten Geltung des Satzes vom zureichenden Grund ausgeht, weist er die Vorstellung eines Verhältnisses zurück, in dem der Wille frei ist, die Handlung aber dennoch auf Gründen beruht. Hommel gesteht dem Menschen zwar das »unauslöschliche Gefühl der Freiheit« zu, glaubt dieses Gefühl jedoch als eine Täuschung entlarven zu können: Äußere wie innere Gegebenheiten erzeugen mit Notwendig351

Diese Ansicht vertritt auch Michael Ramb in seinem Buch: Strafbegründung in den Systemen der Hegelianer. A. a.O. 144. 352 Daß es aber in dieser Hinsicht eine gewisse Spannung zwischen der eigenen und der von Hegel entwickelten Lehre gab, ist mindestens einem der sogenannten Hegelianer, nämlich Christian Reinhold Köstlin, nicht verborgen geblieben. Kritisch gegenüber Hegel merkt er an, daß der »Spinozismus« des Hegelschen Systems Hegels Neigung zum Determinismus begünstige; jener allgemeinen Substanz des Willens gegenüber werde bei Hegel der Einzelwille »zur bloßen Accidenz herabgesetzt.« (Neue Revision 24) 353 Vgl. Imputationslehre 18 ff. 354 Karl Ferdinand Hommel: Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesezen. Bayreuth und Leipzig 21772. Die von dem Strafrechtler Johann Jakob Schmauß auf der Grundlage der von Christian Thomasius vorgelegten Arbeit über das Natur- und Völkerrecht (erschienen Halle 1709) publizierte Schrift über ein Neues System des Rechts der Natur spielt eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang; neben Schmauß war auch Hommels Vater Schüler von Thomasius in Halle. Hommel selbst hörte in Halle bei Schmauß und das genannte Werk Hommels gilt in der Strafrechtswissenschaft als der erste konsequente Versuch, das Strafrecht angesichts deterministischer Voraussetzungen zugleich zu begründen und einzuschränken.

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keit einen bestimmten Willensentschluß.355 Da also alle Handlungen und alle Verbrechen aufgrund von Notwendigkeit geschehen, sind sie dem Handelnden bzw. dem Verbrecher auch moralisch nicht zurechenbar. Dennoch habe Strafe die allgemeine Funktion, dem Menschen qua Konditionierung bestimmte »Unarten«356 abzugewöhnen. Hommel leitet aus seinen Überlegungen zunächst den Gedanken von Strafe im Sinne der Prävention ab (womit in diesem Fall also in erster Linie die ›negative‹ Prävention gemeint ist). Später trat Hommel allerdings, unter Beibehaltung des Präventivzwecks der Strafe, entschieden für die Milderung des Strafkodex ein und er übersetzte zu diesem Zweck 1778 Beccarias Werk über Verbrechen und Strafe – wobei die präventive Wirkung seiner Ansicht nach von der Strafandrohung, und nicht von der Strafvollstreckung ausgeht.357 Für Berner sind Hommels aus seiner Sicht grundfalsche und in einem naiven Sinne naturalistische Vorstellungen nur aufgrund von dessen »seichtem Geistbegriff« möglich, den dieses Werk Hommels Berner zufolge mit den meisten medizinisch-forensischen Werken der damaligen Zeit teilt. Wenn Hommel vom Geist spreche, dann in einem ausschließlich materiellen Sinne. Überdies sei Hommels Argumentation zirkulär, denn wenn man den Geist erst einmal als natürlich bestimmt voraussetze, dann könne man nur zu dem Ergebnis gelangen, ihn den Naturgesetzen unterworfen zu finden. Berner betont hingegen: Einzig unter Zugrundelegung einer Struktur wie der des Geistes als »von der Materie sich abstoßende[s] Insichsein«358 − dessen negatives Verhältnis zur Natur und sich selbst gegenüber − sei das Phänomen der Freiheit und des »freien Fürsichseins« überhaupt zu begreifen.

6.3.1.4 Christian Reinhold Köstlin Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Berners Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre wurde Christian Reinhold Köstlins359 Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts veröffentlicht. Köstlin, und das wird be-

355

Wie »die Wage ohne eingelegtes Gewicht ewig stille steht, so würde auch der menschliche Wille ewig todt sein, wenn nicht von außen her gewisse, durch nahe gelegene Dinge entsprungene Vorstellungen ihn belebten.« (K.F. Hommel: Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesezen. A. a.O. 32.) 356 Ebd. 207. 357 Vgl. Heinz Holzhauer: Willensfreiheit und Strafe. A. a.O. 32. 358 Imputationslehre 24. 359 Köstlin (1813–1856) studierte von 1829 bis 1834 Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie u. a. in Tübingen und Berlin. 1839 habilitierte er sich in Tübingen für

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reits im Titel seiner Schrift als einer Neuen Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts360 deutlich, sieht das Ende des dogmatischen Vorherrschens der Feuerbachschen Strafrechtslehre gekommen – und ihre Ablösung verdankt sie aus der Sicht Köstlins allein der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels. Hegels Auffassung vom Staat ist aus der Sicht Köstlins als ein Gegenentwurf zum Kantisch-Fichteschen Ansatz zu sehen, demzufolge der Staat nicht in seiner Substantialität anerkannt werde, sondern lediglich das zur Allgemeinheit erhobene »Produkt des Ich«361 sei. Die unvermeidliche Konsequenz dieses Ansatzes sei die Ableitung des Strafrechts aus der Vertragstheorie, wodurch die Strafe jedoch ihren absoluten Zweck im Sinne der Vergeltung von geschehenem Unrecht einbüße. Gleichwohl enthält Köstlins Ankündigung eines solchen ›Paradigmenwechsels‹ in der Strafrechtslehre eine Kritik an Hegel und dem, was Köstlin den »objectiven Idealismus der neueren Philosophie«362 nennt. Auch Hegels Begriff des Staates erweise sich insofern als unzureichend, als darin der »Einzelwille zur bloßen Accidenz herabgesetzt« werde.363 Wenn Köstlin dagegen den Ausgang seiner eigenen Überlegungen vom »freie[n] Ich als d[em] freie[n] Organ der Aktualisierung des substantiellen Willens«364 und das Ziel, das nur darin bestehen könne, den »subjektiven Idealismus« wieder in sein Recht einzusetzen, betont, wird deutlich, daß Köstlins zentraler Vorbehalt gegen Hegel dessen Auffassung von der individuellen Freiheit oder genauer: das Verhältnis des Einzelnen inStrafrecht. Unter dem Pseudonym »Christian Reinhold« publizierte er politische Gedichte, Novellen, Schauspiele und verschiedene, an liberalen Ideen orientierte Stellungnahmen. Diese Arbeiten fanden jedoch nach seinem Tod kaum mehr Beachtung. Anders verhielt es sich mit seiner Neuen Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, welcher mit Blick auf die Rezeption der Hegelschen Rechtsphilosophie durch die deutsche Strafrechtswissenschaft eine weit größere Bedeutung zukommt. Köstlin spielt allerdings auch in der, um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Nationalversammlung 1848 wieder verstärkt geführten Kontroverse um das Schwurgericht eine Rolle: Vier Jahre nach der Neuen Revision legte Köstlin seine Schrift Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens im neunzehnten Jahrhundert vor, worin das gemeinrechtliche Prozeßverfahren einer Kritik unterzogen wird und das mit einer Geschichte des englischen Strafverfahrens und Geschworenengerichts schließt. 360 Köstlins neue Revision bezieht sich auf die von Feuerbach 1799/1800 veröffentlichte Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts (A. a.O.). 361 Neue Revision 6. 362 Ebd. 8. 363 Zu dieser Kritik Köstlins vgl. auch Heinz Holzhauer: Willensfreiheit und Strafe. A. a.O. 81. Holzhauer vermag jedoch nicht zwischen den von ihm kritisierten Ansätzen der sogenannten Hegelianer (insbesondere Berner und Köstlin) und Hegels eigenem Ansatz zu unterscheiden, dem er in dem angeführten Buch so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkt (vgl. ebd. 85). 364 Neue Revision 24.

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nerhalb der staatlichen Ordnung betrifft. Und wenn Köstlin dann auch noch die Indifferenz des Ich gegen alle möglichen Bestimmungsgründe behauptet365, dann mag man sich allerdings fragen, wieso er sich Hegel dennoch verpflichtet glaubt und wie er trotz aller Kritik an Hegel von Hegel aus die Feuerbachsche Rechts- und Straftheorie in wesentlichen Hinsichten korrigieren zu können glaubt. Für Köstlin gehören zum vollständigen Begriff der Handlung einmal das Willensmoment – er spricht, ähnlich wie Berner, zum einen vom denkenden Willen als dem bestimmenden Prinzip der Handlung (was bedeutet, daß sich der Wille die ihm zunächst fremd gegenüberstehende Kausalität zunutze macht) und zum andern vom Tatmoment, mit dem der äußere Kausalverlauf der Handlung gemeint ist. Die Einheit von Willens- und Tatmoment drückt sich im Urteil der Zurechnung aus. Diese immanente Aufgliederung der Handlung als einer Einheit zweier Momente, einer Einheit Differenter, ermöglicht ihm zugleich, die Bestimmungen von Versuch und Fahrlässigkeit aus dem Begriff der Handlung abzuleiten (wie es vor ihm bereits Berner getan hatte). Andererseits kann aus Köstlins Sicht von einer Handlung nur dann die Rede sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind, nämlich wenn erstens das richtige Auffassen der Objekte und zweitens die freie Selbstbestimmung des Willens gegeben ist. Die sich an Berner anschließende Rede von der ›Totalität der Handlung‹ soll Köstlin zufolge insofern ein dynamisches Moment in sich enthalten, als sich in der Handlung der Übergang des bloß subjektiven Willens in die Objektivität vollzieht. Subjektivität und Objektivität sollen sich nicht formell abstrakt gegenüberstehen, sondern durch die Handlung auf eine Weise vermittelt werden, daß sowohl die Subjektivität als auch die Objektivität in ihrer Einheit jeweils »Totalitäten für sich«366 bilden. Köstlin geht es in diesem Zusammenhang um die normativen Voraussetzungen für eine personale Zurechnung, die sich aus seiner Sicht allein auf das bewußte und an den konkreten Gegebenheiten ausgerichtete Wollen beziehen kann, das sich wiederum allein durch ›Wahrnehmung‹, ›Beratschlagung‹ und ›Beschluß‹ herausbilden könne. Aber auch einer solchen rationalen Willensbildung sind nicht sämtliche Folgen des Handelns offenbar: In enger Anlehnung an Hegel betont Köstlin nämlich, daß erst vermittels der Reflexion auf die objektiven Folgen der vorsätzlichen Handlung die abstrakte Betrachtung von Subjektivem und Objektivem überwunden werden könne; und erst in dieser Reflexion läßt sich die Frage beantworten, inwiefern sich ein bestimmter Handlungserfolg als »realmögliche« Folge der Handlung 365 366

Vgl. ebd. 85. Ebd. § 93.

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oder, in Hegels Worten: als die »immanente Gestaltung der Handlung selbst« darstellt und als solche antizipierbar war und daher zurechenbar ist. Das Verbrechen, so führt Köstlin im zweiten Abschnitt der Neuen Revision und unter der Überschrift: »Die Handlung und die Schuld« (unter ausdrücklichem Verweis auf die §§ 107 bis 113 der Grundlinien) aus, ist als das Produkt der freien Willkür anzusehen, sofern diese sich dazu bestimmt, sich als besonderer Wille dem allgemeinen entgegenzusetzen.367 Erst in dem Bewußtsein eines »objektiven Kreis[es] von Pflichten und Gesetzen« ist die Möglichkeit der verbrecherischen Verkehrung des subjektiven Willens gegeben; erst dieses Bewußtsein begründet die Schuld (Hegel selbst behandelt diesen Aspekt des Unrechtsbewußtseins als einen konstitutiven Bestandteil gerichtlicher Zurechnung in § 132 der Grundlinien). ›Schuld‹ (oder genauer: der rechtliche Schuldvorwurf) bedeutet für Köstlin die »Identität objektiver und subjektiver Elemente«368 und diese Identität besteht für ihn allein in der ›freien Kausalität‹. Die Handlung, die von Köstlin als Kausalität des Willens aufgefaßt wird, muß dabei zweierlei umfassen: erstens das Moment des Wissens, d. h. die Voraussicht des Kausalverlaufs und zweitens die subjektive wie objektive Möglichkeit, aufgrund dieses Wissens dem Kausalverlauf die gewünschte Richtung zu geben. Handlung und Schuld werden durch die Zurechnung als teleologisches »Urtheil über die freie Kausalität des handelnden Subjekts«369 aufeinander bezogen. Dies bedeutet: Zugerechnet werden kann nur insoweit, als der Begriff der Handlung – als Synonym der »in der Objektivität mit sich identischen freien Subjektivität« – zur Beschreibung eines objektiven Ereignisses Anwendung findet. Für Köstlin sind die Begriffe Schuld, Zurechnung und Handlung, wie wir gesehen haben, im Grunde miteinander identisch – welche Rolle der Reflexion dann noch bleibt, oder, wie wir es mit Blick auf Hegels (moralische) Schuldkonzeption ausgedrückt haben: welche Bedeutung dem subjektiven Selbstbezug in der vollen Objektivität (und der begriffenen Allgemeinheit) der Handlung noch zukommt, bleibt bei Köstlin allerdings unklar. Wenn die Schuld in der Handlung aufgeht und nicht, wie bei Hegel, letztlich einen Akt der Selbsterkenntnis des Subjekts angesichts der objektivierten Gestalt der Handlung darstellt, dann liegt, so könnte man sagen, ein formal-rechtlicher Schuldbegriff vor, der seinerseits hinter einer philosophischen Auffassung von Schuld zurückbleibt, wie Hegel sie im Rahmen seiner Theorie der moralischen Subjektivität entwickelt, welche sich vermittels ihrer Handlung mit der 367 368 369

Vgl. ebd. § 69. Ebd. § 72. Ebd. § 75.

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Objektivität zusammenschließt und sich selbst in dieser begreift. Denn Hegel faßt die Handlung, wie wir im Zusammenhang der Darstellung der ›Idee des Guten‹ in seiner Lehre vom Begriff gesehen haben, als einen »Schluß« auf, der die Selbstreflexion des Subjekts in der Objektivität des eigenen Handelns in sich konstitutiv in sich begreift.370

6.3.2 Der strafrechtliche Handlungsbegriff im 20. Jahrhundert Erst mit der »Überwindung des Hegelianismus«371 als vorherrschende Lehrmeinung innerhalb der Strafrechtswissenschaft wird die Trennung von Zurechnungs- und Handlungslehre möglich. Die »Überwindung« dieses Paradigmas im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist, wie gesagt, nicht zuletzt auf Rudolf von Jhering und seinen Begriff der »objektiven Rechtswidrigkeit« zurückzuführen. So wurde unter »Unrecht« nunmehr die äußerlich-kausale Rechtsgutverletzung verstanden, während »Schuld« die Seite der Vorsätzlichkeit bedeutet, deren Sinn darin besteht, aus der Tat einen Schuldvorwurf abzuleiten. Die unter dem Begriff der Schuld abgehandelten Gegenstände wurden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein im systematischen Zusam-

370

Im Werk Hugo Hälschners (1817–1889), des letzten bedeutenden Strafrechtlers, der sich in wesentlichen Hinsichten als Hegelianer verstand, zeichnet sich bereits die Ablösung des ›hegelianischen‹ Paradigmas innerhalb der Strafrechtslehre ab. So sieht sich Hälschner einerseits dem Handlungsbegriff Berners und Köstlins verpflichtet, andererseits versucht er mit seiner Schrift zum Gemeinen deutschen Strafrecht (1881), dem aufkommenden Kausalitätsdenken – dessen Implikationen für den strafrechtlichen Handlungsbegriff uns noch beschäftigen werden − gerecht zu werden und verleiht daher dem kausalen Moment innerhalb der Handlung ein größeres Gewicht. (Vgl. dazu auch Eckhart von Bubnoff: Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes. A. a.O. 58 ff.) Diese Spannung innerhalb seines Denkens resultiert nicht zuletzt aus dem beträchtlichen zeitlichen Abstand seiner beiden als Hauptwerke geltenden Schriften von fast einem Vierteljahrhundert und den sich innerhalb dieses Zeitraums vollziehenden dogmatischen Entwicklungen (gemeint sind zum einen das System des preußischen Strafrechts von 1858 und Das gemeine deutsche Strafrecht von 1881). Bemerkenswert sind die Versuche Hälschners insofern, als er zu einer systematischen Unterscheidung von Zurechenbarkeit und Verschuldung gelangt, wie sie von seinen Vorgängern innerhalb der sogenannten Hegel-Schule nicht begründet wurde: Zu differenzieren ist aus der Sicht Hälschners zwischen schuldlosem und schuldhaftem Unrecht, wobei das schuldlose Unrecht das sittlich nicht vorwerfbare, aber willentliche Handeln bezeichnet. (Vgl. Eckhart von Bubnoff: Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes. A. a.O. 79.) Damit prägt Hälschner die für die moderne Tatbestandslehre wesentliche Unterscheidung von psychologischem, d. h. subjektiv-seelischem und normativem Willenselement vor. 371 Hans Achenbach: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre. Berlin 1974. 20.

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menhang der Zurechnungslehre verortet; die Strafrechtswissenschaft sprach von einer imputatio iuris und knüpfte diese nach dem Vorbild des römischen Rechts an dolus und culpa.372 Im Ausgang des 19. Jahrhunderts verändert sich schließlich die Gestalt des strafrechtsdogmatischen Systems in wesentlicher Hinsicht. Der genannten Unterscheidung von »Unrecht« im Sinne objektiver Rechtswidrigkeit und »Schuld« korrespondierte ein Handlungsbegriff, der unter dem Einfluß des positivistischen Denkens und der Naturwissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts erarbeitet wurde. Dieser findet seinen ersten Beleg in der von Maximilian von Buri in seiner 1873 erschienenen Schrift Ueber Causalität und deren Verantwortung. Von Buri argumentiert für einen Begriff der Handlung, in dem die Trennung von Kausalverlauf und menschlichem Willen vollzogen ist; er konnte sich dabei auf Vorarbeiten insbesondere Heinrich Ludens stützen, für den die Zurechnungsfähigkeit nicht ein Begriffsmoment der Handlung selbst bedeutet, sondern lediglich ein Erfordernis der Sanktionierung einer Handlung. Darüber hinaus ist Luden zufolge zwischen der Handlung und der Erscheinung, die aus dieser hervorgegangen ist, zu unterscheiden. Die äußere Erscheinung stellt eine bestimmte Einwirkung auf die ›Sinnenwelt‹ dar, die Handlung dagegen die »Bewegung der körperlichen oder intellectuellen Kräfte des Menschen«373, wobei diese beiden Seiten nicht vollkommen unabhängig voneinander betrachtet werden können. Der eigentliche Bestimmungsgrund der äußeren Erscheinung der Handlung liegt nach Luden gerade nicht in der Handlung selbst, sondern »kann seinen Grund […] nur in Ursachen haben, welche außerhalb des handelnden Menschen liegen, da die bloße Bewegung seiner körperlichen oder intellectuellen Kräfte unmöglich zu derselben hätte führen können, wenn nicht Gesetze oder Kräfte der Natur bestanden hätten, nach welchen es schlechterdings geschehen mußte.«374 Für Luden gelten also auch diejenigen Ursachen, die außerhalb des Handelnden liegen, als Bestandteil der Handlung. Der Wille im Sinne eines inneren Antriebs (dessen systematische Bedeutung in der Handlungslehre Ludens jedoch darüber hinaus recht unbestimmt bleibt) stellt demnach ebenso ein Handlungselement dar wie all jene durch den Willen in Tätigkeit gesetzten Ursachen, durch die der 372

Der Anknüpfungstatbestand der Zurechnung ist jedoch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht als Schuld bezeichnet, sondern als Imputabilität oder er firmiert unter der Bezeichnung »subjektive Gründe der Strafbarkeit« (Hans Achenbach: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre. A. a.O. 20). 373 Heinrich Luden: Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte. Zweiter Band: Ueber den Thatbestand des Verbrechens nach gemeinem teutschen Rechte. Göttingen 1840. 215. 374 Ebd.

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Erfolg der Handlung oder: die äußere Erscheinung der Handlung bewirkt wird. Im Anschluß an die Arbeiten Heinrich Ludens und Maximilian von Buris wurde die kausale Handlungslehre vor allem durch die bereits genannten Rechtstheoretiker Rudolf von Jhering, Franz von Liszt, Ernst Beling und Gustav Radbruch weiterentwickelt. Zur gleichen Zeit setzt nicht zuletzt auch ein allgemeiner Wandel in der Auffassung und Begründung der Strafe ein. Diese Entwicklung innerhalb der Strafrechtsdogmatik wird häufig unter das Motto der »Wende vom Tat- zum Täterstrafrecht«375 gestellt, mit welcher die vergeltungstheoretische Begründung der Strafe deutlich in den Hintergrund tritt. 6.3.2.1 Gustav Radbruch und die ›kausale Handlungslehre‹ Als ein Schüler von Franz von Liszt vertritt der bereits mehrfach genannte Rechtsphilosoph und Rechtspolitiker Gustav Radbruch376 bereits in seiner Habilitationsschrift von 1904 die dezidierte Gegenposition zu einem Vergeltungsstrafrecht, wie es die hier vorgestellten Strafrechtler Abegg, Berner und Köstlin in der Nachfolge Hegels zu verteidigen suchten. Radbruch plädiert dagegen für eine Auffassung von Strafe, die in erster Linie dem Zweck der Besserung des Täters und nach dem Verbüßen der von Radbruch geforderten einheitlichen Freiheitsstrafe – die die Abschaffung der Todesstrafe und des Zuchthauses vorsah377 – dessen Resozialisierung dienen soll. Obgleich Radbruch, wie eingangs angeführt, Hegel als den »Vater des strafrechtlichen Handlungsbegriffes« würdigt, steht er selbst mit seinem Ansatz auf dem Boden des hier dargestellten kausalen Handlungsbegriffs und unterzieht den strafrechtlichen Handlungsbegriff der ›Hegelianer‹ einer funda375

Diese Wende vom Tat- zum Täterstrafrecht impliziert jedoch, daß der Täter nur als Täter einer bestimmten und vom Strafrecht in ihren Merkmalen klar abgegrenzten Tat strafrechtlich in Betracht kommt. Insofern muß man sagen, daß es in gewisser Weise nach wie vor die Tat ist, die dem Strafrecht seine Grundlage und Begrenzung gibt, auch wenn unter ›Täterstrafrecht‹ ein Strafrecht zu verstehen ist, das nicht in erster Linie eine schuldhafte Tat zu vergelten, sondern den Täter seinem konkreten Verschulden gemäß zu behandeln sucht. 376 Gustav Radbruch war von 1920 bis 1924 Reichstagsabgeordneter der SPD und von 1921 bis 1923 Reichsjustizminister. Von 1926 bis 1933 hatte er einen Lehrstuhl in Heidelberg inne, den er im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor. 1945 konnte Radbruch seine Lehrtätigkeit in Heidelberg wieder aufnehmen, starb jedoch bereits 1949. 377 Die Aufteilung in verschieden schwere Formen der Freiheitsstrafe (Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Haft, bis 1945 zudem Festungshaft) wurde in Deutschland erst 1970 aufgegeben.

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mentalen Kritik; preisgegeben ist die Auffassung von Handlung als einem einheitlichen zweckvollen Ganzen, das deren Handlungsbegriff noch weitgehend prägte. Die Handlung wird nicht mehr als im Wesentlichen bestimmt durch den zwecksetzenden und das Kausalgeschehen beherrschenden Willen des Handelnden begriffen. Der naturalistischen Auffassung gemäß, stellt sich die Handlung vielmehr als »reiner Kausalitätsfaktor« dar, als das Bewirken eines Erfolgs mit Hilfe naturgesetzlich beschreibbarer Kräfte. Der Wille tritt in diesem Modell zunächst als bloße Naturkraft auf, welche die Körperkraft in Bewegung setzt, und diese wiederum den äußeren Kausalvorgang. Die Willenswirkung gehört damit dem äußeren Kausalvorgang an und als ein von der kausalen Wirksamkeit des Willens zu unterscheidender Bestandteil der Handlung taucht dann erst der subjektive Willensinhalt auf, der allerdings nicht als ein dem eigentlichen Handlungsgefüge angehörendes Moment betrachtet wird. Auf eine gemeinsame Formel gebracht, bedeutet Handlung im Sinne der Vertreter der naturalistischen Lehre ein willkürliches, d. h. vom Willen kausal bestimmtes menschliches Verhalten zur Außenwelt. Handlung ist, mit anderen Worten: willkürliche Körperbewegung in kausaler Verbindung mit dem Erfolg.378 Retrospektiv betrachtet, so behauptet Radbruch in seinem Aufsatz über den Schuldbegriff (1904), zeigten die älteren strafrechtlichen Systeme, darunter auch die der sogenannten Hegelianer, allesamt eine »gewisse Verschwommenheit aller Konturen«379. Die Handlung zeichnet sich Abegg, Berner und Köstlin zufolge, wie Radbruch ganz zu Recht bemerkt, vor allem dadurch aus, daß sie begriffsnotwendig zurechenbar ist, wodurch der Schuldbegriff, der dem Anspruch nach die vorsätzliche wie die fahrlässige Handlung umfassen soll, ganz im Handlungsbegriff aufzugehen droht. Der Schuldbegriff, welcher ursprünglich nur die beiden Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit bezeichnet habe, werde mit »ihm fremden Bestimmtheiten«, wie der Zurechnungsfähigkeit, der Handlung und der Rechtswidrigkeit vermengt, so daß die Schuld »statt als differentia specifica einer gewissen Art von Handlungen als diese Art selbst aufgefaßt wurde«380. So fließen aus der

378

Willkürliche Körperbewegungen umfassen Radbruch zufolge auch gänzlich ungewollte Körperbewegungen, wie z. B. ungeschickte Bewegungen, und auch diese müssen nach Radbruch, falls sie einen rechtsverletzenden Erfolg zur Folge haben und dieser vorausgesehen werden konnte, objektiv zurechenbar und damit strafbar sein können. (Vgl. Gustav Radbruch: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. A. a.O. 129.) 379 Gustav Radbruch: Über den Schuldbegriff. – In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Vierundzwanzigster Band. Berlin 1904. 333–348; hier 333. 380 Ebd.

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Sicht Radbruchs auch die Begriffe von Zurechnungs- und Schuldfähigkeit ineinander; werde der Handlungsbegriff um das Merkmal der Rechtswidrigkeit erweitert (wie bei Abegg), ergibt sich die konfundierende Bestimmung von Schuld im Sinne einer schuldhaften rechtswidrigen Handlung.381 Die von Radbruch vorgetragene Kritik zielt nun in erster Linie auf die Auffassung, daß eine Handlung objektiv nur dann vorliege, wenn ein Geschehenes gewollt war. Radbruchs Ansicht zufolge ist dagegen jede Bedingung eines Erfolgs dessen Ursache. Der Trennung zwischen der kausalen Beschreibung dessen, was unter einer Handlung zu verstehen ist, und ihrer rechtlichen oder moralischen Bewertung liegt die Auffassung zugrunde, daß ›Wert‹ und ›Wirklichkeit‹ auf getrennt voneinander zu betrachtende Sphären verweisen. Eine der wesentlichen Einsichten Radbruchs in diesem Zusammenhang bezieht sich darauf, daß ein Kausalzusammenhang zwischen Wille und Erfolg gegeben sein kann, ohne daß deshalb auch ein Schuldzusammenhang vorzuliegen braucht.382 Worum es Radbruch also im Wesentlichen zu tun ist, ist die Klärung des Verhältnisses von Handlung und Zurechnung, genauer: eine Klärung der Frage, ob Kausalität und Zurechnung tatsächlich identisch sein können. In seiner ebenfalls 1904 publizierten Monographie über den Handlungsbegriff erinnert Radbruch daran, daß der Sinn des Begriffs der Handlung ein allererst zu ermittelnder sei, denn er erscheine im Strafgesetzbuch keineswegs als ein »durchgebildete[r] Kunstausdruck«383, vielmehr variiere sein Sinn in verschiedenen Kontexten. Bei aller Kritik am Handlungs- und Zurechnungsbegriff der ›Hegelianer‹ mahnt Radbruch jedoch vor einer Wiederholung jenes von Feuerbach begangenen Fehlers, die Zurechnung bloß auf die Seite der Anwendung zu rechnen. Zurechnung ist für Feuerbach – in Radbruchs Formulierung – ein Schluß von »einer strafbaren Handlung […] auf eine dem Strafgesetz widersprechende Willensbestimmung«384 und demnach das Urteil darüber, daß ein vorhandener Wille in konkreter Bestimmung auf eine objektive Tat zu beziehen ist. Diese Bestimmung Feuerbachs übersieht jedoch, so argumentiert Radbruch, was auch von den ›Hegelianern‹ übersehen wird, daß nämlich die Wirkung eines Wollens von dem konkreten Inhalt dieses Wollens zu unterscheiden ist. Aus der Sicht Radbruchs lassen sich lediglich solche Begriffe von Handlung aufstellen, die entweder enger oder weiter sind als der Bereich der Zurechnung. Für Radbruch kommt aller381

Vgl. ebd. Gustav Radbruch: Über den Schuldbegriff. A. a.O. 335. 383 Gustav Radbruch: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. A. a.O. 73. 384 Ebd. 83. 382

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dings einzig die Option in Frage, einen Handlungsbegriff zu entwickeln, der weiter ist als der der Zurechnung. – Allerdings, so kann man zusammenfassend festhalten, muß sich der von Radbruch vorgeschlagene naturalistische oder kausale Handlungsbegriff wohl oder übel die Frage gefallen lassen, worin sich eigentlich die Identität einer Handlung konstituiert, die als ganze einem Handelnden zugerechnet werden soll. Wie hängen der bloße Willkürakt, durch den eine Körperbewegung initiiert wird, und der mit dieser Willensäußerung intendierte Erfolg einer Handlung zusammen?385 Daran knüpft sich des weiteren die hier ebenfalls nicht mehr zu erörternde Frage an, wie überhaupt ein inhaltsleerer Willensakt zu verstehen ist, denn wenn ein Mensch will, will er etwas Bestimmtes. Ist ein Willensakt also tatsächlich unter Absehen seiner ›materiellen‹ oder zweckgebundenen Ausrichtung und allein nach Maßgabe seiner kausalen Wirksamkeit zu beschreiben? − Mit einem rein kausalen Begriff der Handlung als Grundlage für die strafrechtliche Zurechnungslehre scheinen letztlich mehr systematische Schwierigkeiten verbunden zu sein als sich mit ihm lösen lassen. Angesichts der von Radbruch selbst konstatierten Schwierigkeit, auf dem Boden der Kausalgesetzlichkeit die Unterlassungsdelikte zu bestimmen, gibt er schließlich die theoretische Grundlage eines einheitlichen, integrativen Handlungsbegriffs zur Bestimmung von (verbrecherischer) Handlung, Fahrlässigkeit und Unterlassung preis. Der Begriff der Handlung im Sinne einer Integration der Momente ›Wille‹, ›Tat‹ und einer Beziehung zwischen beiden, kann, so Radbruch, nicht zugleich seine Negation in sich aufnehmen, woraus für ihn folgt, daß der Handlungsbegriff dualistisch aufzubauen und in Begehungs- und Unterlassungsdelikte zu unterscheiden ist.386 Die dem Handlungsbegriff naturalistischer Provenienz darüber hinaus innewohnende Begründungsproblematik, wie an ein rein kausales Geschehen strafrechtliche Normen – welche auf der (zumindest relativen) Freiheit des Willens, also der prinzipiellen Option basieren, daß sich der Handelnde anders hätte entscheiden können – zu adressieren sind, führt Radbruch zu der Unterscheidung, daß als Delikt im engeren Sinne nur die nicht-naturalistisch gedachte Handlung gelten könne. Der allgemeine Begriff von Handlung, der von Radbruch auch in späteren Werken als willkürliche, aber inhaltslose Körperbewegung, die eine bestimmte Wirkung innerhalb der Außenwelt erzeugt, bezeichnet wird, ist nicht als Bestandteil eines strafrechtlichen Tatbestandes anzusehen. Strafrechtlich betrachtet wird die Handlung damit zur Tatbestandsverwirklichung. 385

Vgl. Heinz Koriath: Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung. Berlin 1994. 334. Vgl. Gustav Radbruch: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. A. a.O. 132 ff. 386

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6.3.2.2 Hans Welzel und der ›finale Handlungsbegriff‹ »Wir haben keine Handlungslehre mehr.«387 – Mit diesen Worten konstatiert der Rechtsphilosoph und Strafrechtswissenschaftler Hans Welzel in einem 1939 erschienenen Aufsatz zum System des Strafrechts die damalige Situation.388 »Was früher einmal«, und er verweist hier zustimmend auf die strafrechtliche Tradition der ›Hegelianer‹, »einheitliche Handlung war, das ist jetzt aufgespalten und aufgeteilt auf eine dürre Kausalitätslehre, die die ›objektive‹ Handlungsseite wesentlich aufgesogen hat, und auf die Lehre von den psychologischen Schuldbestandteilen, in die die ›subjektiven‹ Handlungselemente eingegangen sind.«389 Bei dieser aus Welzels Sicht durch und durch falschen Form der Zweiteilung der Handlung handele es sich um das seit Radbruch vorherrschende Dogma.390 Der Willensinhalt, der die möglichen Folgen gedanklich antizipiert und den äußeren Geschehensprozeß planmäßig steuert, sei das »bloße ›Spiegelbild‹ des äußeren Kausalvorganges in der Seele des Handelnden«391. Der Begriff der »wirklichen Handlung« im Sinne der »reale[n] sinnvolle[n] Ganzheit innerhalb des wirklichen sozialen Lebens«392, den Welzel jener aus seiner Sicht nivellierenden Aufspaltung der Handlung entgegenzusetzen gedenkt, wie sie von den Vertretern der kausalen Handlungslehre vorgeschlagen wird, beruft sich erneut auf die dominierende Instanz des Willens als des eigentlichen Trägers des Sinn- und Wertgehalts einer Handlung. 387

Hans Welzel: Studien zum System des Strafrechts (1939). – In: Ders.: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. Berlin/New York 1975. 120–184; hier 120; erstmals erschienen in: ZStW 58 (1939). 491–566. 388 Hans Welzel (1904–1977) konnte sich 1935, also während der NS-Zeit, in Köln habilitieren und wurde ein Jahr später in Göttingen zum Professor berufen. Einige Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes (1952) nahm er seine Lehrtätigkeit an der Universität Bonn wieder auf. 389 Hans Welzel: Studien zum System des Strafrechts. A. a.O. 120. 390 Vgl. ebd. Zum andern richtet er sich mit seinem Ansatz auch gegen bestimmte Implikationen einer ›sozialen Handlungslehre‹, die vom bewirkten Erfolg einer Handlung ausgeht und diesen seinem sozialen Sinn nach beurteilt. Die soziale Handlungslehre sucht, verkürzt formuliert, nach einem Mittelweg zwischen der kausalen und der finalen Handlungslehre: So soll sich die Handlungssteuerung weder in der Kausalität erschöpfen noch individuell bestimmt werden; vielmehr geht es ihr darum, die Handlungssteuerung objektiv-generalisierend zu ermitteln, etwa darüber, daß der Handelnde in einer spezifischen sozialen Rolle begriffen wird. Die soziale Handlungslehre wird oder wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein in verschiedenen Modifizierungen vertreten (u. a. von den Rechtstheoretikern Engisch, Jescheck und Maihofer). Vgl. dazu auch Günther Jakobs: Strafrecht. Allgemeiner Teil. A. a.O. 138 f. 391 Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht. A. a.O. 36. 392 Vgl. Hans Welzel: Studien zum System des Strafrechts. A. a.O. 120.

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Welzel sieht sich mit seinem ausdrücklich an der Sinnhaftigkeit menschlicher Zwecktätigkeit orientierten ›finalen Handlungsbegriff‹393 in eben jener von den ›Hegelianern‹ repräsentierten vornaturalistischen Handlungslehre. Welzel allerdings trägt den seitherigen dogmatischen Entwicklungen innerhalb der Strafrechtslehre Rechnung, die die Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld erforderlich machten; er stimmt ausdrücklich »im Endergebnis« mit der von Karl Larenz in Auseinandersetzung mit Hegels Zurechnungslehre entwickelten These überein, daß der bloß kausale Zusammenhang aus dem teleologischen Setzungszusammenhang der Intentionalität und daher auch von vornherein für eine strafrechtliche Beurteilung ausscheide.394 Vielmehr geht Welzel davon aus, daß der Mensch aufgrund seines kausalen Vorauswissens die einzelnen Akte seiner Tätigkeit so zu steuern vermag, daß er das äußere Kausalgeschehen beherrscht und auf ein Ziel hinlenkt. Der Wille ist demnach zweckgerichtet Einfluß nehmender Handlungsfaktor.395 Der Grundgedanke der finalen Handlungslehre beruht auf der Annahme einer »einzigartige[n] Stellung des Willens im Gesamtgefüge der Welt, das ›blinde‹ [Kausal-]Geschehen innerhalb bestimmter Grenzen in ein ›sehendes‹ umzuwandeln, d. h. den kausalen Nexus final zu überdeterminieren.«396 Aus der Sicht Welzels sind zwei Stufen innerhalb der finalen Handlung zu unterscheiden − vergleichbar der, von Welzel jedoch nicht explizit aufgegriffenen aristotelischen Unterscheidung zweier gegenläufiger Richtun393

Namhafte Vertreter dieser ›finalen Handlungslehre‹ sind außerdem: Maurach, Armin Kaufmann, Busch und Stratenwerth. Welzels Handlungslehre hat jedoch durchaus nicht nur Zustimmung erfahren; eine kritische Auseinandersetzung mit dieser findet sich u. a. bei Arthur Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. A. a.O. 83 ff.; Ders.: Das Schuldprinzip. A. a.O. 20 ff. und 165 ff. sowie Ulrich Klug: Der Handlungsbegriff des Finalismus als methodologisches Problem. – In: Ders.: Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht. Bd. 2. Heidelberg/Berlin/New York 1981. 155–172. 394 Hans Welzel: Kausalität und Handlung (1931). – In: Ders.: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. A. a.O. 7–22; hier 20. 395 Vgl. Hans Welzel: Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft (1964). – In: Ders.: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. A. a.O. 345–365; hier 349. 396 Hans Welzel: Naturalismus und Wertphilosophie. Untersuchungen über die ideologischen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft. Mannheim 1935. 94 (Nachdruck Goldbach 1995). Allerdings geht auch Welzel nicht so weit, den Einfluß emotionaler Triebimpulse auf die willentliche Entscheidung zu leugnen, er gesteht im Gegenteil zu, daß jener »(wesentlich kausal bestimmte) Unterbau des Seelenlebens« das Material enthält, »aus dem wir leben, und ohne das wir zu keiner Handlung kommen würden«. Nur hält er daran fest, daß dieser kausale Assoziationszusammenhang nicht mit dem »auf sinnvolle Gründe sich stützende[n] Denkakt« identisch ist. (Hans Welzel: Studien zum System des Strafrechts. A. a.O. 154.)

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gen innerhalb des teleologischen Prozesses: der νόησις und der ποίησις397 −: die erste bezieht sich auf die gedankliche Sphäre und beginnt mit der ideellen Vorwegnahme des Ziels. Vom Ziel her schließt sich die Reflexion auf die erforderlichen Handlungsmittel an; dieser Prozeß wird von Welzel als »rückläufig«398 bezeichnet. Auf dieser Stufe der gedanklichen Vorwegnahme gilt es auch, die Nebenfolgen der Handlung zu berücksichtigen, denn es ist klar, daß das Ziel immer nur einen »Ausschnitt aus den Wirkungen der in Gang gebrachten Kausalfaktoren«399 darstellt. Dieser Gedankengang vollzieht sich im Vergleich zum eben genannten vorlaufend; der auf Zweckverwirklichung gerichtete Wille verhält sich zugleich zu den antizipierten Nebenfolgen, nimmt diese entweder in Kauf oder sucht sie zu vermeiden. Die zweite Stufe der finalen Steuerung einer Handlung besteht in der Verwirklichung der Handlung in der Welt; der Handelnde setzt die planmäßig ausgewählten Mittel ebenso planmäßig in Gang. Um dies zu verdeutlichen, greift Welzel zu der interessanten Formulierung, der Handelnde »verwirklicht […] seine Handlung in der Realwelt.«400 Hinsichtlich Fragen der Zurechnung finaler Handlungen unterscheidet Welzel zwischen solchen Folgen, die von dem finalen Handlungszusammenhang umfaßt werden, und solchen, für die dies nicht gilt. Die zu erwartenden Folgen der Handlung sind dem Handelnden zuzurechnen – und damit gilt für Welzel ebensowenig wie für Hegel, daß dem Handelnden seine Handlung allein hinsichtlich der bewußten Vorsätzlichkeit zuzurechnen ist; oder vielmehr wird der ›Vorsatz‹ auf eine Weise bestimmt, daß er das Wissen um die antizipierbaren und damit notwendigen Folgen einer Handlung umfaßt. Damit sind dem Handelnden also nicht alle Folgen zuzurechnen, die sich an die Handlung anschließen mögen, denn eine solche Auffassung beachte nicht »die Begrenztheit des menschlichen Vorherwissens: Jede Handlung wirkt stets in einen nur unvollständig und unsicher bekannten Weltzusammenhang hinein. Wenn der Handelnde stets mit dem Eintritt aller ihm bekannten und noch unbekannten möglichen Folgen rechnen […] müßte, könnte er überhaupt nicht handeln.« Ein Vertrauen auf das Ausbleiben möglicher Folgen gehöre ebenso zum menschlichen Handeln »wie die zukunftsgestaltende Finalsteuerung selbst.«401 Da man jene Strafrechtsauffassung der Erfolgshaftung (im Sinne der Qualifizierung eines Delikts durch den Erfolg, den es bewirkt, der zugleich den 397

Vgl. Nicolai Hartmann: Aristoteles und Hegel. Erfurt 21933. 31 (auch abgedruckt in: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 2. Berlin 1957. 214–252). 398 Hans Welzel: Das deutsche Strafrecht. A. a.O. 30. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 32.

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Umfang der Schuld beschreibt) längst überwunden habe, stehe das Strafrecht vor der Schwierigkeit, das Prinzip anzugeben, nach welchem sich die für das Strafrecht relevanten Faktoren eines Kausalverlaufs von den gleichgültigen unterscheiden. Wenn nämlich die Strafrechtsordnung »ihre Wertprädikate nicht an jedes reale Geschehen anknüpft, so müssen ontologische Unterschiede bestehen, aus denen diese verschiedene Behandlung folgt.«402 Hinsichtlich dieser Unterscheidung hätten jedoch die Kausaltheorien, denen zufolge alles Geschehen einer einzigen Determinationsweise, nämlich der Kausalität, untersteht, jedoch keine Argumente. Auf der Suche nach einer »neuartigen Determination«403 und dem Wesen der jeder Handlung innewohnenden Akte des Wollens und Erkennens wendet sich Welzel an die philosophische Psychologie seiner Zeit und deren Einsicht in die grundlegende Intentionalität der Akte des Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens und Wollens. Für die Akte des Denkens und Wollens als dynamische Funktionen des Geistes, die sich nicht in der passiven Abbildung der Gegenstände erschöpften, gelte, daß sie sich »nicht nur auf den Gegenstand, sondern gerade nach ihm« richteten.404 Die Intentionalität sei zudem der entscheidende Faktor dafür, daß eine Einsicht im Sinne der Übereinstimmung von Akt und Gegenstand möglich sei. Der Weg, den das Denken im Erkenntnisprozeß zurücklege, könne niemals kausalnotwendig bestimmt sein, da es diese Schritte stets aus dem intendierten Sachverhalt rechtfertigen muß. Die gegenständlichen Bestimmtheiten können demnach aus der Sicht Welzels auch nicht als Realursachen des Erkennens aufzufassen sein, sondern sie sind als logische oder ontologische Grundlagen des Denkens zu bezeichnen. Die Ordnung des Denkens ist für ihn entsprechend »weder kausal noch rein logisch, sondern sinngerichtet, sinn-intentional.«405 Diese denkpsychologischen Ausführungen Welzels, auf die hier nur andeutungsweise Bezug genommen werden kann, sind nun nicht in dem Sinne mißzuverstehen, als sei das Denken der Kausaldetermination gänzlich enthoben, vielmehr bietet Welzel zufolge allein das ›Zusammenbestehenkönnen‹ beider Determinationsformen die Gewähr dafür, daß das intentionale Wahrnehmen und Denken in das kausale Geschehen Eingang finden könne. So unterstehe auch die Willensmotivation der Gesetzlichkeit der Sinnintentionalität, darüber hinaus zeichne sich jedoch durch die Dimension des Wertes aus.406 In dem hier erörterten Zusammenhang ist nun vor 402 403 404 405 406

Hans Welzel: Kausalität und Handlung. A. a.O. 10. Ebd. 11. Ebd. 13 (Hervorhebungen im Original, BC). Ebd. 14. Vgl. Heinz Koriath: Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung. A. a.O. 337.

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allem die Frage von Bedeutung, wie sich Welzel den Übergang vom Willensakt im angezeigten Sinne zur Willenshandlung vorstellt. Die Willensimpulse, so erläutert Welzel, »die über einen noch völlig ungeklärten psychophysischen Mechanismus hinweg die Kausalkette in der physischen Welt in Bewegung setzen, müssen, wenn sie Ausführung des Entschlusses sein wollen, sich in diesem Entschluß gründen.«407 Diese Willensimpulse sind ihrerseits sinn-intentional, d. h. im Hinblick auf ihre Geeignetheit zur Herbeiführung des geplanten Erfolgs teleologisch gesetzt. Ziel der Argumentation ist für Welzel der Nachweis, daß das gesamte Geschehen, das vom Entschluß über die Willensimpulse zum Erfolg führt, eine »gesetzte Sinneinheit« bildet, die sich eben dadurch deutlich und wahrnehmbar vom übrigen kausalen Geschehen abhebt.408 Der kausale Zusammenhang ist damit lediglich ein Moment innerhalb des teleologisch verfaßten Handlungszusammenhangs. Der Erfolg, insofern er im dargestellten Sinne die eigene Tat des Subjekts ist, gehört ihm damit in anderer Weise an als eine bloße Wirkung ihrer Ursache. Von der »im Medium des Sinnes erfolgenden Selbstbestimmung des Ich hängt das Dasein des Erfolges ab. Soweit diese Abhängigkeit reicht, ist das Geschehen dem Subjekt als eigene Tat zugehörig oder, um es anders auszudrücken, (objektiv) zurechenbar. Diese (objektive) Zurechnung bedeutet nicht Zurechnung zur Schuld, sie besagt überhaupt nichts über die Werthaftigkeit des zuzurechnenden Geschehens, sondern führt nur die zur Handlungseinheit zusammengeschlossenen einzelnen Geschehensfakta auf den sie beherrschenden personalen Zentralpunkt zurück.«409 Nur dadurch, daß Intentionalität als eine Determinationsform sui generis aufgewiesen wird, sind für Welzel Zurechnungsprozesse überhaupt erst ontologisch sinnvoll.

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Hans Welzel: Kausalität und Handlung. A. a.O. 19. Koriath kritisiert an Welzels Ansatz den Begriff der Intention selbst; dieser bezeichne bei Welzel letzten Endes den »subjektiv gemeinten Sinn einer Handlung«. Diese Bestimmung habe für den gesamten Ansatz zur Folge, daß sich der allgemeine Sinn, also der Wert einer Handlung lediglich aus dem »privaten Bewußtsein eines Akteurs, aus seiner individuellen Einsicht« ergibt. (Heinz Koriath: Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung. A. a.O. 344.) 409 Hans Welzel: Kausalität und Handlung. A. a.O. 20. Auch an dieser Stelle erhebt Koriath einen kritischen Einwand. Er stellt die nicht unberechtigte Frage, worin, wenn nicht in der Intentionalität des Handelnden, der Vorwurf der Schuld begründet sei. Welzels Ziel scheint zu sein, so argumentiert Koriath weiter, die Zuschreibung des Ergebnisses einer Handlung nicht von der konkreten Intention des Handelnden abhängig zu machen. Damit erhebt sich allerdings die Frage, wie die Intention einerseits zur Begründung von Handlung herangezogen werden kann und wie gleichzeitig von jeder inhaltlichen Bestimmung dieser Intention abstrahiert werden können soll. (Vgl. Heinz Koriath: Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung. A. a.O. 345.) 408

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6.3.2.3 Karl Larenz’ Bestimmung einer ›objektiven Zurechnung‹ Das ausgehende 19. Jahrhundert ist davon geprägt, daß der Positivismus auch die Rechtswissenschaft weitgehend beherrscht, d. h. man bemühte sich um die größtmögliche Trennung zwischen positiven Rechtsbestimmungen und darüber hinausweisenden Rechtsgründen, wie etwa der Idee der Gerechtigkeit. Diese kann aus der Sicht des Rechtspositivismus nicht Gegenstand positiver Rechtsbestimmungen sein und verfällt daher dem Verdikt, daß es überhaupt keine ›objektive Wahrheit‹ als Ergebnis philosophischen Denkens auf dem Gebiet des Rechts gibt. Gegenüber verschiedenen »radikalen Positionen«410 des Rechtspositivismus (Felix Somló, Karl Bergbohm) wurde in den sogenannten Anerkennungstheorien, die übereinstimmend davon ausgehen, daß auch die positiven Rechtsbestimmungen auf der durch Anerkennung erwirkten allgemeinen Geltung basieren, die Macht des Gesetzgebers formal beschränkt (Georg Jellinek), allerdings verfällt die generelle Anerkennungstheorie wiederum dem Verdikt Hans Kelsens, des wohl bedeutendsten positivistisch ausgerichteten Rechtstheoretikers des 20. Jahrhunderts.411 Kelsen sieht in den ›Anerkennungstheorien‹ eine »methodisch unklare Reprise der naturrechtlichen Vertragstheorien«, in denen empirische und normative Momente konfundiert würden. Kelsen geht es dagegen um die Herausbildung einer »reinen Rechtslehre« als einer strikt normativen Wissenschaft; er folgt mit dieser Forderung der Neukantianischen Unterscheidung von Sein und Sollen. ›Recht‹ ist für Kelsen eine »normative Zwangsordnung menschlichen Verhaltens«412. Kelsen kann, aufgrund seiner am Neukantianismus orientierten wertrelativistischen oder wertskeptizistischen Haltung, die Geltung des Rechts auch nur hypothetisch voraussetzen und versucht daher, das Prinzip der Gerechtigkeit als ein Kriterium der als Recht zu bezeichnenden Ordnung auszuschließen, denn eine Rechtsordnung ist Kelsen zufolge stets abhängig von den je herrschenden gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen. – Die rechtsphilosophische Kritik am Gesetzespositivismus wird ab den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts vom ›Neuhegelianismus‹ in Auseinandersetzung mit dem als »Komplementärtheorie 410

Fritz Loos und Hans-Ludwig Schreiber: Artikel: »Recht, Gerechtigkeit«. – In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 5: Stuttgart 1984. 231–311; hier 302. 411 Zu dieser Debatte um die Geltung des Rechts vgl. auch Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. A. a.O. 170–179. 412 Fritz Loos und Hans-Ludwig Schreiber: Artikel: »Recht, Gerechtigkeit«. A. a.O. 302.

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des Positivismus kritisierten Neukantianismus«413 vorgetragen. Zu jener sich in dieser Zeit als ›Neuhegelianismus‹ apostrophierenden Bewegung, in der namhafte und einflußreiche Juristen die »gedankliche Erfassung […] des ›Dritten Reiches‹«414 anstrebten und mit Hegel Antworten auf die sich nun im Zuge der Rechtserneuerung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ergebenden Grundfragen suchten, zählen der ursprünglich selbst vom Neukantianismus herkommende Julius Binder, der in Greifswald lehrende Jurist Walther Schönfeld, Gerhard Dulckeit (mit dem man wohl heute in erster Linie seine in mehreren Auflagen erschienene Römische Rechtsgeschichte verbindet) und schließlich Karl Larenz415, Verfasser einer immer noch maßgeblichen und mehrfach aufgelegten Methodenlehre der Rechtswissenschaft sowie einer Rechtsethik.416 413

Ebd. 305. Andreas Großmann: Recht verkehrt. Hegels Rechtsphilosophie im Neuhegelianismus. – In: Recht ohne Gerechtigkeit? Hegel und die Grundlagen des Rechtsstaates. Herausgegeben von Mirko Wischke und Andrzej Przylebski. A. a.O. 191–208; hier 192 f. Zum Neuhegelianismus in seinem Verhältnis zum NS-Recht vgl. ebenfalls: Hubert R. Rottleuthner: Die Substantialisierung des Formalrechts. – In: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels. Herausgegeben von Oskar Negt. Frankfurt a.M. 1970. 211–264. 415 Karl Larenz gehörte seit 1935 der sogenannten ›Kieler Schule‹ an. (Vgl. dazu den Artikel: »Recht, Gerechtigkeit«. A. a.O. 301–307.) Publizistische Möglichkeiten boten sich ihm als Herausgeber der Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie (ZDK), die das Nachfolgeorgan der Zeitschrift Logos war, deren Herausgeber Kroner seiner jüdischen Abkunft wegen seine Herausgeberschaft abgeben mußte. Das gesamte Bemühen der Binder-Schule darum, »dem Nationalsozialismus eine Rechtsphilosophie zu geben«, ist aus der Sicht von Christoph Mährlein als von vornherein problematisch zu betrachten, da Abgrenzung und Einflußnahme nur zu dem Preis der Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Bewegung überhaupt denkbar waren. So gelangt Mährlein zu dem Schluß: daß »trotz aller Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten und trotz der Bewegung auf sie hin noch eine Eigenständigkeit blieb, zeigen die Texte nicht.« (Christoph Mährlein: Volksgeist und Recht. Hegels Philosophie der Einheit und ihre Bedeutung in der Rechtswissenschaft. Würzburg 2000. 183.) Hier wäre nun eine ganze Reihe von Studien zu nennen, die sich dem Thema ›Recht und Nationalsozialismus‹ widmen, ich beschränke mich hier auf die folgenden: Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. München 1988; Hermann Weinkauff: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 16/I). Stuttgart 1968; Hubert Rottleuthner (Hg.): Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus. – In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 18. Wiesbaden 1983; Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hgg.): Recht und Justiz im »Dritten Reich«. Frankfurt a.M. 1989 und schließlich Michael Stolleis: Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1994. Und näher mit der Rolle von Karl Larenz befaßt sich folgender Beitrag: Michele La Torre: Der Kampf wider das subjektive Recht. Karl Larenz und die nationalsozialistische Rechtslehre. – In: Rechtstheorie 23 (1992). 355–395. 416 Gemeint ist: Karl Larenz: Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik. München 1979. 414

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Gegen den Rechtspositivismus versucht auch Karl Larenz daran festzuhalten, daß das positive Recht als Verwirklichung einer überzeitlich gültigen Rechtsidee zu begreifen ist. Das positive Recht ist seiner Ansicht nach nur deswegen gültig, weil es die Rechtsidee widerspiegelt, und diese ist wiederum das Gestaltungsprinzip für die ›Gemeinschaft‹: »Recht«, so stellt Großmann den Standpunkt von Larenz dar, »ist Recht eines je durch die Rechtsidee geleiteten ›Volksgeistes‹, Ausprägung des sittlichen Willens einer Volksgemeinschaft«417. Mit dieser bereits 1929 erklärten politischen Ausrichtung seiner Rechtstheorie an der ›Volksgemeinschaft‹ fiel es Larenz dann auch wenige Jahre später nicht schwer, sich − noch immer guten Gewissens auf Hegel berufend − unumwunden in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes zu stellen. Sehr deutlich macht sich die Distanz zu Hegel bemerkbar – die trotz aller Inanspruchnahme von Seiten der ›Neuhegelianer‹ größer nicht sein könnte –, wenn an Larenz‹ Befürwortung einer ungeschriebenen Verfassung als der »konkreten Rechtsidee seines Volkes« erinnert wird, die nunmehr ihre Bestimmungen durch den durch Blut und Rasse bestimmten völkischen Gemeinwillen erfährt.418 Damit geht ein grundlegender Paradigmenwechsel im Blick auf die rechtlichen Grundbegriffe einher, denn Larenz behauptet, die ›deutsche Rechtsidee‹ müsse an die Stelle subjektiver Rechte der Individuen treten. Oder anders formuliert: Die Gemeinschaft und nicht mehr das einzelne Subjekt soll nunmehr als der Träger des Rechts ausgewiesen werden, was zugleich impliziert, daß die Rechtsfähigkeit jedes Menschen, qua seines Menschseins, bestritten wird, denn als Rechtsgenosse gilt nunmehr allein derjenige, der auch Volksgenosse ist, und »Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist.«419 417

Andreas Großmann: Recht verkehrt. A. a.O. 194 f. Großmann bezieht sich mit dieser Bemerkung auf Karl Larenz: Das Problem der Rechtsgeltung. Darmstadt 1967 (=Nachdruck der Ausgabe von 1929). 40 f. 418 Vgl. Karl Larenz: Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie. Tübingen 1934. 34. 419 Karl Larenz: Rechtsperson und subjektives Recht. A. a.O. 241. Als einen Versuch der Überwindung des Positivismus kann man darüber hinaus die 1934 erschienene Programmschrift Carl Schmitts sehen: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Schmitt – und darin wird ihm Karl Larenz später folgen − stellt dem Normativismus das »konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken« als Grundlage einer nationalsozialistischen Jurisprudenz entgegen. Der Vorrang des Gesetzes wird unter Berufung auf ein ungeschriebenes, übergesetzliches Recht neuen Typs in Frage gestellt. Als Voraussetzung für rechtliches Gelten soll nunmehr die Lebensnorm der Volksgemeinschaft herhalten. Allerdings wirkten rechtspositivistische Tendenzen und Vorstellungen auch während der Zeit des Nationalsozialismus fort, die auch durch das Argument der Bindung an den »Führerbefehl« gestützt wurden. Diesen rechtspositivistischen Resten innerhalb des NSRechts »wurde nach 1945 – […] verzerrend – die Verantwortung für das nationalsoziali-

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Mit der bereits angesprochenen 1927 erschienenen Dissertation von Karl Larenz mit dem Titel Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung420 findet − wie Wolfgang Schild behauptet hat − der von Hegel entwickelte Begriff der Zurechnung schließlich Eingang in die Strafrechtswissenschaft.421 In dieser Schrift von Larenz ist seine kurz darauf einsetzende vehemente rechtspolitische Stellungnahme, die den Weg einer nationalsozialistischen Rechtserneuerung vorbereiten soll, noch nicht absehbar. Auch Larenz setzt mit seinen Ausführungen bei der Kritik an jenen strafrechtlichen Lehren an, die sich an naturalistischen oder positivistischen Auffassungen orientieren.422 Grundsätzlich lautet seine Kritik an der naturalistischen Strafrechtsdoktrin, daß diese das Prinzip der objektiven Zurechenbarkeit mit dem naturalistischen Urteil über das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs identifiziere.423 Larenz bezeichnet als objektive Zurechnung das Urteil über die Frage, »ob ein Geschehen die Tat eines Subjekts sei.«424 Larenz will darauf hinaus, daß nicht erst die Zurechnung zur Schuld, sondern bereits die Zurechnung zur Tat den Begriff der Person als freies, sich selbst bestimmendes Subjekt zur Voraussetzung habe. Auch die Zurechnung zur Tat kann für stische Unrechtssystem zugeschrieben.« (Fritz Loos und Hans-Ludwig Schreiber: Artikel: »Recht, Gerechtigkeit«. A. a.O. 307. Vgl. dazu auch Wolf Rosenbaum: Naturrecht und positives Recht. Neuwied/Darmstadt 1972. 143 ff.) 420 Im Folgenden wird dieser Band angeführt als: HZ mit entsprechender Seitenzahl. Die Hervorhebungen, die sich im Original finden, wurden in aller Regel getilgt. 421 Vgl. Wolfgang Schild: Der strafrechtsdogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels. A. a.O. 446. 422 Larenz setzt sich außerdem in einer ganzen Reihe späterer Schriften ausdrücklich mit Hegels Rechtsphilosophie auseinander, um hier nur auf eine Auswahl hinzuweisen: Karl Larenz: Staat und Religion bei Hegel. Ein Beitrag zur systematischen Interpretation der Hegelschen Rechtsphilosophie. – In: Ders. (Hg.): Rechtsidee und Staatsgedanke. Festgabe für Julius Binder. Berlin 1930. 243–263; Ders.: Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. – In: Julius Binder, Martin Busse, Karl Larenz (Hgg.): Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. Berlin 1931; Ders.: Hegelianismus und preußische Staatsidee. Hamburg 1940. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Larenz‹ Vervollständigung der von Günther Holstein begonnenen Rechts- und Staatsphilosophie. O. O. 1933 (in diesem Beitrag stellt Larenz unter Berufung auf Hegels Theorie des Krieges den ›Machtstaatsgedanken‹ dar, den er auf Hegel zurückführt (vgl. ebd. 155 f.). In dem Buch Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie rückt Larenz Hegel in die Tradition des Irrationalismus (sic!), meint dies aber positiv und sucht mit diesem Argument einen Gegensatz zwischen Hegels Philosophie und dem rationalistischen Geist der Aufklärung zu statuieren; diesen rationalistischen Geist der Aufklärung sieht Larenz noch in Feuerbach und Marx am Werke (vgl. ebd. 8). Was Larenz damit im Sinn hat, liegt auf der Hand: Er will Hegel zum Vordenker einer Rechtserneuerung im nationalsozialistischen Sinne machen. 423 Vgl. Isabel Voßgätter genannt Niermann: Die sozialen Handlungslehren und ihre Beziehung zur Lehre von der objektiven Zurechnung. Frankfurt a.M. u. a. 2004. 37. 424 HZ 60.

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Larenz nicht von einer Beziehung zwischen einem Geschehen und einem Willen abstrahieren. Hegel habe lediglich vermocht, die Tat »als eine kausale zu verstehen« und daher habe er »an die Stelle der Zurechnung zur Tat die Kausalität gesetzt.«425 – Diese Behauptung von Larenz bedarf indes einer Korrektur: Auch für Hegel bedeutet die (Zurechnung zur) Tat keineswegs bloße Kausalität, oder genauer: es handelt sich um eine bestimmte Erscheinung von Kausalität, die auf einen personalen Willen zurückzuführen ist: »Die That setzt eine Veränderung an diesem vorliegenden Daseyn und der Wille hat Schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Daseyn das abstracte Prädicat des Meinigen liegt.«426 Auch die Tat ist Hegel zufolge, wie wir gesehen haben, als Willensschuld aufzufassen. Worum es Larenz hier also zunächst einmal zu tun ist, ist der Versuch einer Abgrenzung des zufälligen Geschehens vom willentlich bewußten Geschehen der objektiven Zurechnung (nichts anderes besagt der Terminus der Zurechnung hier zunächst einmal). Anders als die Ursache, die gegenüber der von ihr hervorgerufenen Wirkung »nichts eigenes« darstellt, sondern »Glied in einer unendlichen Reihe [ist], deren jedes gleich-wertig, gleich-gültig neben dem anderen steht, keines die anderen beherrscht«427, ist der Urheber einer Sache im Kantischen Sinne causa libera.428

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Ebd. 61. GPR § 115. 427 HZ 61. 428 Was Larenz an Hegels Theorie der Handlung und der ihrer Anhänger auszusetzen hat, ist einerseits, daß Hegel und seine ›Nachfolger‹ auf dem Gebiet der Strafrechtswissenschaft die Unterscheidung zwischen der imputatio facti und der imputatio iuris für obsolet angesehen hätten; Hegels Epigonen hätten die faktische Zurechnung mit der aus ihrer Zurechnungslehre ausgeschlossenen Kausalität verwechselt und den Kausalbegriff schlechthin »für bedeutungslos« (HZ 70) angesehen. Weiter beanstandet Larenz, daß Hegel die Fahrlässigkeit nicht zu bestimmen versucht habe. Wenn Hegel im ›Zusatz‹ zu § 117 der Grundlinien die Zurechnung an die bewußte Willensäußerung knüpft, so begeht er damit aus der Sicht von Larenz den Fehler, zu verkennen, daß das Wissen selbst bereits »Tat der Freiheit« ist, woraus für ihn folgt, daß auch das Nicht-Gewußte insofern zugerechnet werden kann, als das Wissen der Umstände ein mögliches war (vgl. HZ 53). Erst wo die Möglichkeit dieses Wissens und nicht schon das Wissen selbst endet, findet auch der Bereich des Zurechenbaren seine Grenze. Durchaus richtig sei zwar die von den »Hegelianern« vertretene Ansicht, daß Zurechnung ein Urteil über die Einheit des subjektiven Willens und des durch diesen herbeigeführten äußeren Daseins impliziert (vgl. HZ 51); falsch »oder wenigstens voreilig« sei es jedoch gewesen, die Beziehung auf den Willen, also das subjektive Moment der Tat sogleich mit dem rechtlichen Werturteil zu verbinden, so daß die Zurechnung zur Schuldzurechnung wurde (vgl. HZ 70). Demgegenüber macht Larenz deutlich, daß die imputatio facti weder mit dem Schuld-, noch mit einem bloßen Kausalzusammenhang gleichgesetzt werden darf; für ihn geht es also zunächst einmal darum, in der objektiv zurechenbaren Tat eine Grundlage für das Werturteil zu schaffen. 426

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Die große Nähe von Larenz’ eigenem Ansatz und der im vorangegangenen Abschnitt dargestellten ›finalen Handlungslehre‹ wird deutlich, wenn Larenz konstatiert, der Wille (im Sinne des Urhebers der Tat) zeichne sich dadurch aus, daß er die Fähigkeit besitzt, Zwecke zu setzen und zu realisieren, was bedeutet, daß er in der Lage sein muß, »dem Kausalverlauf die Richtung auf ein vielleicht fernes, aber gewußtes und gewolltes Ziel zu geben, sich ihn dienstbar zu machen«, um dadurch das Naturgeschehen zu »beherrschen« und es schließlich in seine eigene Tat zu verwandeln.429 Von einer Verwirklichung des subjektiven Willens in und durch die Handlung könne also nur insofern die Rede sein, als sich der Wille als das bestimmende Prinzip der Tat erweist, die einzelnen Glieder der Tat auf sich und sich wiederum auf die Tat zu beziehen vermag, er sie also gleichsam mit seinem Zweck durchwirkt und sie sich ganz dienstbar macht; nur so kann sich die Handlung als »teleologisches Ganze[s]« darstellen, als ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung also, welcher auf die Beziehung zu Zweck und Willen verweist. In expliziter Anlehnung an die Handlungstheorie Hegels bei gleichzeitiger Kritik an derselben, heißt es bei Larenz, man dürfe den Zweckbegriff nicht rein subjektiv begreifen, sondern müsse ihn objektiv fassen, »d. h. man darf dabei nicht stehen bleiben, dasjenige zuzurechnen, was gewußt und gewollt war, sondern muß auch das zurechnen, was gewußt und damit vom Willen umspannt werden konnte, was als Gegenstand des Willens möglich war.«430 Damit wird jedoch die »Beherrschung [des Kausalverlaufs] durch den Willen« zum Maßstab der Zurechnung. Mit anderen Worten: Für Larenz bedeutet der »Begriff der Tat« die »Selbstverwirklichung des Willens«431. So ergibt sich für Larenz konsequenterweise die Notwendigkeit, den Willensbegriff, wie er bei Hegel verwendet wird, durch den der »objektiven Bezweckbarkeit« zu ersetzen.432

429

Vgl. HZ 67 f. Ebd. 68. 431 Ebd. 432 Obgleich auch Larenz vordergründig von der »inneren Dialektik des Zurechnungsproblems« als dem »Kernproblem der objektiven Zurechnung« spricht, das sich darin äußert, daß sich zufällige und eigentümliche Folgen der Tat miteinander vermischen und ineinander übergehen, hält er an einem starken und diese Widersprüchlichkeit der Natur umfassenden und beherrschenden Zweckbegriff fest. Larenz glaubt diesen Zweckbegriff Hegels Bestimmung der Absicht als des allgemeinen Inhalts der Handlung entnehmen zu können; dieser allgemeine Inhalt einer jeden Handlung läßt sich für Larenz also offenkundig auf dessen »teleologische Bestimmtheit« reduzieren. Die Absicht enthält natürlich das Moment der teleologischen Gerichtetheit, aber es ist hier daran zu erinnern, daß das teleologisch Gesetzte das, was seine Natur ist, allein im »äußerlichen Zusammenhang« zeigt, woraus sich aus Hegels Sicht wiederum ergibt, daß es »die Natur der endlichen That 430

438

Strafe und Gnade

Abschließend läßt sich sagen, daß Larenz nach einem Weg der Begründung von objektiver Zurechenbarkeit und objektiver Rechtswidrigkeit jenseits der beiden von ihm genannten Extreme der Betrachtung sucht, wonach die Tat entweder ganz in natürliche Kausalität aufgelöst werde (wie er es im rechtswissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit beobachte), oder allein die subjektiv zurechenbare Willensbetätigung als rechtswidrig gelte.433 Jedoch sind Larenz zufolge erst objektive Zurechnung und objektive Rechtswidrigkeit einerseits und subjektive Zurechnung und subjektive Rechtswidrigkeit andererseits zusammengenommen als voll zurechenbares ›Verschulden‹ zu bezeichnen.434 Denn die objektive Zurechnung besagt nicht mehr, als daß ein Geschehen »auf eine Person als Täter bezogen ist«, nicht aber, daß es dem »wirklichen Willen des Täters entspricht, daß es ihm nach seiner Einsicht und Absicht auch subjektiv zugerechnet werden kann.«435 Aus der Sicht von Larenz kann demnach objektive Rechtswidrigkeit auch dann vorliegen, wenn der Schuldvorwurf nicht erhoben werden kann. Larenz argumentiert an dieser Stelle dafür, daß auch dem Unzurechnungsfähigen, da er Person und mithin »Träger eines Willens und Bewußtseins« ist, sein objektiver Rechtsverstoß objektiv, wenn auch nicht subjektiv, zugerechnet werden kann – welche rechtlichen Konsequenzen sich aus solcher ›objektiven Zurechnung‹ ergeben sollen, läßt Larenz allerdings offen.436

selbst [ist], […] Absonderungen der Zufälligkeit zu enthalten.« (GPR § 119) Das teleologische Moment, von dem Hegel in diesem Zusammenhang spricht, steht daher auf recht tönernen Füßen und enthält in sich selbst die Möglichkeit der vollkommenen Verkehrung. 433 Einen Vertreter dieser Auffassung sieht Larenz in Hold von Ferneck, welcher lediglich die subjektiv zurechenbare Pflichtverletzung als rechtswidrig betrachte (vgl. HZ 93). 434 Vgl. HZ 90. 435 Ebd. 92. 436 Diese beiden voneinander verschiedenen Zurechnungsprinzipien finden, so Larenz, auch in zwei verschiedenen Sphären des Rechts Anwendung: Während das Strafrecht auf der Schuldzurechnung basiere, orientiere sich das Privatrecht eher an der Zurechnung zur Tat (vgl. HZ 98 f.). Das Strafrecht habe »die volle Anerkennung des Einzelnen als Persönlichkeit zur Voraussetzung« und müsse ihn daher nach seiner individuellen Persönlichkeit werten (subjektive Zurechnung). Das Schuldprinzip im Strafrecht aber zur einzig legitimen Bedingung für die Strafe zu erklären, ist für Larenz schlicht »eine für unsere Zeit charakteristische Übertreibung der Berücksichtigung der Subjektivität« (HZ 96).

7. Schlußbemerkungen

Zum Abschluß meiner Überlegungen will ich noch einmal auf die beiden von mir zu Beginn genannten und im Hauptteil dieser Arbeit ausgeführten Thesen zurückkommen, die sich zum einen auf Hegels Versuch einer Vermittlung der beiden schuldbegründenden Prinzipien durch seinen Begriff der Handlung und zum andern auf die Logik des Übergangs von der Sphäre der ›Moralität‹ zu der der ›Sittlichkeit‹ beziehen. Zur ersten These: Die zwei traditionellen Modelle, die Hegel vermittels seines dialektischen Handlungsbegriffs miteinander zu vermitteln sucht, sind erstens das einer – vereinfachend gesprochen − Willens- oder Gesinnungsschuld (Selbstreflexivität) und zweitens das einer an objektiven Maßstäben orientierten ›Erfolgshaftung‹. Diese beiden unterschiedlichen Auffassungen versucht Hegel in einen die subjektive wie die objektive Seite gleichermaßen umfassenden Begriff von Schuld zu überführen. Das subjektive Moment steht für das von Hegel so bezeichnete Recht des modernen Subjekts auf Geltendmachen des eigenen Wissens und Wollens, das objektive Moment hingegen begründet das »Recht der Objectivität der Handlung« und bringt damit den normativen Anspruch der Gesellschaft an den Handelnden zum Ausdruck. Um beide Prinzipien in einer einheitlichen Schuldkonzeption miteinander vermitteln zu können, benötigt Hegel einen sowohl dem Recht der Subjektivität als auch dem der Objektivität Rechnung tragenden Begriff der Handlung − einen Begriff von Handlung, der zwischen Einzelnem und Allgemeinem zu vermitteln vermag. Die allgemeine Relevanz eines solchen Begriffs der Handlung zeigt sich sowohl mit Blick auf die von Hegel analysierte wirtschaftliche Sphäre der Gesellschaft (das »System der Bedürfnisse«) als auch im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie; hier wie dort sind es Einzelne, die aufgrund subjektiver Interessen handeln, und in beiden Sphären ist zugleich eine ›List der Vernunft‹ am Werke, die sich im Erfolg der einzelnen Handlung und ihre bloße Besonderheit transzendierend geltend macht. Eine diesem Begriff von Handlung entsprechende Theorie der Schuld darf demnach die Schuld auch nicht in einem bloß subjektiven Sinn auflösen oder sie allein auf die Seite der Innerlichkeit der Handlung beziehen, sondern muß in gleicher Weise die objektive Dimension der Handlung oder die Entfaltung ihres immanent allgemeinen Charakters im allgemeinen Zusammenhang erfassen.

440

Schlußbemerkungen

Zu Beginn dieser Arbeit habe ich von Hegels Konzeption der Handlung als Ausdruck oder Manifestation einer ›objektiven Finalität‹ gesprochen. Mit dieser Formulierung will ich auf die Grundeinsicht der Hegelschen Handlungslehre hinaus, mit der er auf die Entsprechung von subjektivem Zweck in seiner immanenten Allgemeinheit und dessen äußerlicher Entfaltung im allgemeinen Zusammenhang der jeweiligen Handlung aufmerksam macht. Der sich vermittels der Handlung realisierende subjektive Zweck enthält also notwendig nicht nur eine subjektive, sondern eine objektive Intention in sich. Jede Handlung als individuelle Willensäußerung steht damit in wesentlichen Hinsichten in einem Bezug auf die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihrerseits in der objektiven Gestalt der Handlung offenbar werden. Die Struktur zweckgerichteter Tätigkeit, basierend auf dieser Entsprechung ihres immanent allgemeinen Charakters im Element der äußerlichen Entfaltung ihrer Wirksamkeit, ließe sich – um einen Ausblick zu formulieren – anhand einer Rekonstruktion von Hegels dynamischem Begriff der Wirklichkeit in der Logik konkretisieren. Denn das Handlungssubjekt wirkt stets innerhalb eines Bedingungsgefüges, das – um mit Georg Lukács zu sprechen – einen Prozeß »prozessierender Komplexe«1 darstellt. − Ein Bedingungsgefüge, das den Zweck wie die Wahl der zur Verwirklichung des Zwecks geeigneten Mittel jederzeit mitbestimmt. Diesem dialektischen Begriff der Handlung entspricht die von Hegel entwickelte Schuldkonzeption insofern, als Schuld im Sinne eines Sich-Wissens des Subjekts in der vollen Objektivität seines Handelns nur sinnvoll als ein Prozeß zu denken ist. Und da die Objektivation des Subjekts sich nur über sein Sich-Entäußern vollziehen kann, spreche ich mit Blick auf die hier genannte Schuldauffassung Hegels auch von einem ›Bildungsprozeß der Entfremdung‹. Dieser Bildungsprozeß ist an die Entfaltung des immanenten Charakters der Handlung in der Zeit und im allgemeinen Zusammenhang natürlich-gesellschaftlicher Verhältnisse gebunden und stellt damit dasjenige dar, was ich als die erste von drei von Hegel thematisierten Bedeutungen von Schuld begreife, nämlich die Reflexion auf die willentliche Entäußerung des Subjekts in seinem Handeln oder die auf dem Selbstentwurf des moralischen Subjekts basierende Objektivation desselben. Diese reflexiv eingeholte Objektivation des Subjekts oder sein Sich-Wissen in der Objektivität des äußeren Handlungszusammenhangs ist nun freilich – wie der Standpunkt der Moralität überhaupt, von dem aus Hegel seine Handlungs- und Schuld1

Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins (Prolegomena). A. a.O. 151 f. (Allerdings versucht Lukács, sich mit seiner Konzeption des »prozessierenden Seins« gerade von Hegels Wirklichkeitsauffassung abzustoßen; vgl. dazu ebd. 150 ff.)

Schlußbemerkungen

441

lehre entwickelt – nicht frei von Selbsttäuschung. Zugleich, und man kann in diesem Zusammenhang sicherlich sogar von einem ideologiekritischen Moment der Hegelschen Handlungslehre sprechen, ist das schuldbegründende Sich-Wissen des Subjekts an die Objektivität rechtlich-moralischer Verhältnisse gebunden, wie auch die Handlung als immanent Allgemeines stets an die allgemeine Beurteilung und soziale Sinngebung nach Maßgabe des jeweiligen Normhorizontes verwiesen ist. Die Selbstzuschreibung von Schuld, so könnte man sagen, ist für Hegel immer und notwendig an die Fremdzuschreibung von Schuld und Verantwortung gebunden, wenngleich Hegel in seiner Zurechnungslehre von dem Sich-Wissen des Subjekts in der ›ideellen Vorwegnahme‹ wie im Vollzug seiner Handlung als dem absoluten Grund der Imputabilität ausgeht. ›Schuld‹ im hier angezeigten Sinne, als der Selbstreflexion des Subjekts in der Objektivität der Handlung und somit in seiner »Verschuldenswirklichkeit«2, ist für Hegel ein wesentliches Moment innerhalb des Konstitutionsprozesses moralischer Subjektivität. Die beiden weiteren von Hegel thematisierten Bedeutungen von Schuld sind zum einen die Schuld im Sinne der geistigen Disposition oder genauer des ›Zustandes des Menschen‹ aufgrund seiner Geistnatur, wobei es sich um eine Bedeutung von Schuld handelt, die Hegel vornehmlich in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion herausarbeitet und im Zusammenhang seiner Theorie der Sünde bzw. des ›Sündenfalls‹ diskutiert. Die ›eigentliche‹, d. h. dem Menschen die seiner Bestimmung als Geistwesen angemessene Seinsweise ist demnach die, um den Unterschied von Gut und Böse zu wissen oder: die Schuld für sein Tun zu tragen − erst dieses Wissen macht, wie wir im Zusammenhang der Hegelschen Aufnahme der biblischen ›Sündenfall‹Erzählung gesehen haben, den »sittlichen Zustand« des Menschen aus. Mit der Erkenntnis des Unterschiedes von Gut und Böse, die ihren Grund in der Entzweiung des Bewußtseins von seiner Unmittelbarkeit hat, trägt das Subjekt schlechthin, wie es in den Grundlinien heißt, »die Schuld seines Bösen«3 und mithin die Verantwortung für all das, was seiner inneren Willensbestimmung entspringt. Diese Erkenntnis ist Hegel zufolge als der absolute Grund normativer Selbstverantwortung anzusehen, zu deren Ausprägung 2

Ludger Honnefelder: Zur Philosophie der Schuld. – In: Theologische Quartalsschrift. Herausgegeben von den Professoren der Katholischen Theologie an der Universität Tübingen. München 1975. Jg. 155. 31–48; hier 32. Honnefelder unterscheidet einen dreifachen Sinn von ›Schuld‹; erstens nennt er die oben angeführte »Verschuldenswirklichkeit« im Sinne des bösen oder schlechten Resultats des Tuns, zweitens die Willensschuld (das Wissen und Wollen oder die Selbstreflexivität) und drittens die Schuld als das »Gesollte« (debitum) oder das normativ Vorgegebene. 3 GPR § 139 Anm.

442

Schlußbemerkungen

aber selbstverständlich Bildung und Erziehung hinzutreten müssen. Die dritte Bedeutung von Schuld ist das im juristischen Sinne relevante subjektiv ›vorwerfbare‹ Verhalten; für Hegel ist es zweifellos so, daß sie ihren Grund allein in jener Bedeutung von Schuld im Sinne des Sich-Wissens des Subjekts in der objektiven Sphäre seines Handelns haben kann und letztlich auf die dem Menschen aufgrund seines Geistseins zukommende Möglichkeit der Reflexion auf die Bestimmung von Gut und Böse zurückzuführen ist. Alle drei genannten Dimensionen des Schuldbegriffs ergeben sich somit aus der konkreten Selbstbestimmung des Menschen. Wenn im ersten Kapitel dieser Arbeit unter Berufung auf Friedrich Nietzsche die Genese unseres moralischen Verständnisses von Schuld als ursprünglich tauschrechtliche Kategorie skizziert wurde, so ist mit Blick auf Hegel an dieser Stelle zu ergänzen, daß er die ökonomische Bedeutungsdimension nur auf den (straf-)rechtlichen Schuldbegriff bezieht. Denn eine Theorie strafrechtlicher Wiedervergeltung von Unrecht, wie sie von Hegel begründet wird, benötigt Kriterien für einen wertmäßigen Ausgleich der Rechtsverletzung, die ihm zufolge nach Maßgabe des positiven Willens des Täters zu eruieren ist und ihrerseits Umfang und Maß der vergeltenden Strafe vorgibt. Schuld in einem moralischen Sinne, als Ausdruck subjektiver Selbstbestimmung, entspringt zwar auch für Hegel einem Verhältnis des Sollens und der Forderung, in dem der Einzelne dem Allgemeinen gegenüber steht, aber die Sphäre der Moralität ist (für Hegel) im weitesten Sinne Ausdruck für die Reflexionsform, vermittels derer sich das selbstbewußte moralische Subjekt – entweder kritisch oder affirmativ – auf die sittliche Struktur und die tradierte ethische Ordnung der jeweiligen Gesellschaft bezieht. Oder anders formuliert: Hegel betrachtet die Sphäre des Moralischen (zumindest in den Grundlinien) von ihrer systematisch-spekulativen Bedeutung her und eben gerade nicht, wie Nietzsche es tut, in ihrem historischen Gewordensein. Bei Kant hingegen ist der Zusammenhang zwischen der »Schuldigkeit« oder dem debitum als der reinen Leistungspflicht und der moralischen Verschuldung noch ganz offenkundig. So heißt es in der Einleitung zur Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten: »Was jemand pflichtmäßig mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzteren angemessen tut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger tut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum).«4 Wie bereits mehrfach angesprochen, liegt auch für Hegel der 4

Kant: Metaphysik der Sitten. A. a.O. 334 (Hervorhebungen von mir getilgt, BC). Mit Blick auf Kants Bestimmung von Schuld fällt allerdings auf, daß sich ihre Bedeutung in die Extreme einer »angeborenen Schuld« oder einer originären Verschuldung einerseits und einer »Schuldigkeit« im angezeigten Sinne andererseits aufspannt.

Schlußbemerkungen

443

Grund moralischer Schuld letztlich in dem Verhältnis, in dem sich der Einzelne dem Allgemeinen gegenüber weiß – und dieses Verhältnis macht den moralischen Standpunkt ganz wesentlich aus −, nur würde ich sagen, daß jenes ›Sollen‹ als umfassender normativer Anspruch an den Einzelnen für Hegel mehr bedeutet als die gesetzliche Pflicht zu einer bestimmten Leistung, und zwar insofern, als sich das ›Sollen‹ für Hegel zunächst einmal aus der in sich teleologischen Gerichtetheit des Willens selbst ergibt. Der Wille bleibt so lange »abstract, beschränkt und formell«5 und damit an die Sphäre des Verhältnisses und der äußerlichen Forderung gebunden, bis er sich zum »Begriffe des Willens« fortgebildet hat, was für Hegel die Gestalt eines Willens bedeutet, der sich in seiner Freiheit, die ihn wesentlich ausmacht, selbst zum Gegenstand seines Wollens macht. Man könnte auch sagen: Das ›Sollen‹, von dem Hegel mit Blick auf die Sphäre der Moralität spricht, ist im Wesentlichen ein dem Willen immanentes Streben und Sollen. Das im Sinne eines dem Willen immanenten Strebens gefaßte Sollen enthält mit Blick auf Hegels Theorie der Schuld die Implikation, daß ›Schuld‹ zunächst einmal das reflexive Selbstverhältnis des Subjekts bezeichnet; ein Selbstverhältnis allerdings, das für Hegel immer nur über das das einzelne Handeln beurteilende Allgemeine vermittelt ist. Was die zweite, bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit formulierte These betrifft, so ist meiner Ansicht nach ein genaueres Verständnis von Hegels Handlungs- und Schuldlehre Voraussetzung dafür, die Logik des Übergangs von ›Moralität‹ zur ›Sittlichkeit‹ in der gedanklichen Folge der Grundlinien angemessen zu verstehen. Die Handlung im Sinne der Willensäußerung des moralischen Subjekts sowie die subjektive Reflexion auf das durch die Handlung ins Werk Gesetzte (also die Selbstzuschreibung moralischer oder rechtlicher Schuld) sind dort notwendig, wo das Subjekt seine unmittelbare Subjektivität und bloß moralische Perspektive überwinden soll, um sich zu einem ›sittlichen‹ Standpunkt zu erheben. Es mag zirkulär erscheinen, aber das Subjekt kann nur dadurch zu einer Orientierung am Guten im Sinne der konkreten Allgemeinheit sittlicher Maßstäbe gelangen, daß es sich in der objektiven Gestalt seiner Handlung auf den von ihm verwirklichten Zweck bezieht. Was das ›sittliche‹ Subjekt gegenüber dem moralischen Subjekt nach Hegel wesentlich auszeichnet, ist die Erkenntnis, daß das Gute in seiner bereits verwirklichten Gestalt sittlicher Verhältnisse nicht in einem unvermittelten Gegensatz zu der sich am Guten orientierenden Subjektivität steht. Selbstverantwortung, so wird hier deutlich, ist keine theoretische, sondern eine praktische Gestalt der Selbstbezüglichkeit. Diese moralische Selbstbe5

GPR § 108.

444

Schlußbemerkungen

züglichkeit des Subjekts ist wesentlich negativer Art; sie ist Reflexion auf das von ihm objektiv Hervorgebrachte nach Maßgabe der ursprünglichen subjektiven Intention. Mit anderen Worten: Mit dem von Hegel formulierten Begriff der Schuld im Sinne der Anerkennung eigenen Verschuldens ist erst eine Anerkennung der objektiven Verhältnisse und der jeweiligen gesellschaftlichen Normen in praktischer Hinsicht möglich, die dann zur Orientierung für das individuelle Handeln werden können. Diese Erkenntnis oder Anerkennungsleistung ist auch gemeint, wenn Hegel davon spricht, daß der »Prozeß« der Moralität wesentlich darin besteht, daß sich das Subjekt mit dem allgemeinen Willen zu identifizieren lernt6 − daß es den Unterschied zwischen sich als einem Besonderen und dem allgemeinen Willen in seiner eigenen Willensbestimmung selbst aufhebt. Umgekehrt vermag die Reflexion auf das Resultat des eigenen Handelns auch zu erhellen, daß das Hervorgebrachte ein Allgemeines ist: Die sittlichen Verhältnisse, in die sich der Einzelne auf praktische Weise eingebunden weiß, sind ihm aufgrund dieses Wissens um den eigenen Anteil am Zustandekommen dieser Verhältnisse auch nicht mehr (gänzlich) fremd. Wo das Hervorgehen des von Hegel in den Blick genommenen ›sittlichen Subjekts‹ in seinen Möglichkeitsbedingungen erfaßt werden soll, ist ein systematisches Verständnis seiner Handlungs-und Schuldlehre unerläßlich.

6

Vgl. GPR § 106 Anm.

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