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German Pages 614 Year 2022
Schriften zum Strafrecht Band 395
Schuld und Strafmaß Modelle der Bestimmung rechtlicher Schuld im Strafrecht und die Methodik der Strafmaßfindung im Rahmen der Sanktionsentscheidung
Von
Fabian Klahr
Duncker & Humblot · Berlin
FABIAN KLAHR
Schuld und Strafmaß
Schriften zum Strafrecht Band 395
Schuld und Strafmaß Modelle der Bestimmung rechtlicher Schuld im Strafrecht und die Methodik der Strafmaßfindung im Rahmen der Sanktionsentscheidung
Von
Fabian Klahr
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.
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© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-18412-5 (Print) ISBN 978-3-428-58412-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meiner Familie
Vorwort Diese vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover als Dissertation angenommen. Dies markierte den (vorläufigen) Abschluss einer gedanklichen Entwicklung, die schon im Jahre 2008 ihren Anstoß genommen hatte. Am Anfang stand nicht weniger als die Idee, eine geschlossene Theorie des Schuldstrafrechts und seinen Sanktionen zu entwickeln, um letztlich der Praxis in den Gerichtssälen ein Arbeitsmittel an die Hand geben zu können. In (weiterer) Anlehnung an die berühmten Antrittsworte von Niklas Luhmann hätte man dem Projekt auch eine dreißigjährige, jedenfalls großzügige Laufzeit gönnen wollen, so dass ich nunmehr das Ergebnis trotz intensiver Befassung allenfalls als eine Art ersten Entwurf begreifen kann, dessen Abschluss denn wohl auch kaum zu erreichen ist. Auch über den vorbezeichneten Zeitraum hat die Suche nach einer dogmatischen Fundierung nichts an Tragweite und Aktualität verloren. Schuld und Strafzumessung sind Themen der Strafrechtswissenschaft, die nach wie vor nur annäherungsweise erfasst werden können. So mögen diese Zeilen einen wichtigen Beitrag zur Anknüpfung und Fortschreibung liefern, so wie ich einen breiten Fundus an Ideen vorfinden konnte. Mein aufrichtiger Dank gilt dann Schirmherr, Begleiter des Projekts und Begutachter Herrn Professor Dr. Henning Radtke, der neben seiner Tätigkeit für das höchste deutsche Gericht Zeit gefunden hatte, meine Ideen in der Tiefe zu erschließen. Gleichsam Dank sagen möchte ich dem Zweitgutachter Herrn Professor Dr. Bernd-Dieter Meier, dessen immer offenes Ohr für einen Diskurs und dessen Sichtweise wertvolle Anregungen liefern konnten. Auch Freunde und Kollegen haben sich um so manche Inspiration verdient gemacht. Frau Professorin Dr. Petra Buck-Heeb gilt mein Dank für die Übernahme und Organisation des Prüfungsvorsitzes und ihre ermutigenden Worte in einer für den Hochschulbetrieb fordernden Zeit. Unermesslichen Dank schulde ich meiner Familie, ohne deren Rückhalt, Verständnis und Ansporn dieses Ergebnis niemals möglich gewesen wäre. Ihr soll dieses Buch gewidmet sein. Ronnenberg, im Februar 2022
Fabian Klahr
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Prolegomena (Vorbemerkungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 III. Zur Arbeitsweise und Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1. Teil Die Schuld
28
1. Kapitel Der Schuldbegriff
28
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I. Prolog: Schuld – von einer alltagssprachlichen Annäherung zum Rechtsbegriff 28 1. Schuld als soziales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Sprachliche Implikationen von Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die Transformation zum Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Schuld als Terminus rechtlicher Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Schuld als strafrechtlicher Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Die strafrechtliche Schuld – rechtsdogmatische und ideengeschichtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Die Anthropologie der Schuldidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Kirchlich-theologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 b) Schuld in der (Rechts-)Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 aa) Die Tradition der Zurechnungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 bb) Zurechnung im deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 cc) Die Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 (1) Hans Welzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 (2) Arthur Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 (3) Eberhard Schmidhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 dd) Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 ee) Exkurs: Utilitarismus und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
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Inhaltsverzeichnis ff) Indeterminismus vs. Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 gg) Fazit: Rechtsphilosophische Strömungen der Schuldbegründung . . . 55 c) Die soziologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Verfassungsrechtliche Implikationen im Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Vorbemerkungen: zur Methodik der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . 59 b) Schuldprinzip als Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 c) Schuldprinzip als Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 d) Schuldprinzip als Untermaßverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 e) Ersetzung des Schuldprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 aa) Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 bb) Die „Umkehrprobe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 f) Folgerungen für das Schuldprinzip und verfassungsrechtliches Fazit . . . 84 3. Rechtstheoretische Ableitungen: Anmerkungen zur Bedeutung des „Prinzips“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Die strafrechtliche Schuld – die entwicklungsgeschichtliche Perspektive . . . . 90 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Wahl des dargestellten Zeitrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Schuld als Terminus technicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Die Trennung von Unrecht und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Der Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Der geistesgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Naturalistische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Die Rolle der Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Die Phase des Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Der geistesgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5. Der Irrationalismus der dreißiger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Der geistesgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Allgemeine Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) Auswirkungen auf den Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6. Der Finalismus der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Der geistesgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Der Finalismus als Systemwende zum personalen Unrechtsbegriff 116 bb) Stellung des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Inhaltsverzeichnis
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cc) Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 7. Von der Strafrechtsreform bis in die Neuzeit: „Post-Finalismus“ . . . . . . . . . 122 a) Der geistesgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Der dogmatische Status quo: eine normativ-funktionale Dichotomie . . . . . . . . 129 1. Typen der Vorwerfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Schuld als „Andershandelnkönnen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Schuld als Ausdruck rechtlich missbilligter Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Schuld als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit . . . . . . . 134 d) Der Sonderfall: Einheit von Schuld und Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 e) Dispositionsschuldlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Schulddefinition über deren Funktionalität („Funktionale Schuldlehren“)
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a) Der systemtheoretische Schuldbegriff (G. Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Der sozialpsychologische Schuldbegriff (F. Streng) . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Der diskursive Schuldbegriff (U. Kindhäuser, K. Günther) . . . . . . . . . . . 146 d) Die grundlegenden Einwände gegen den Funktionalismus . . . . . . . . . . . 148 3. Kritiker des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Abschaffen des Strafens? Abolitionistische Perspektiven . . . . . . . . . . . . 150 b) Unsicherheitsrelation des Schuldstrafrechts: Maßnahmenrecht als Antwort am Beispiel der Prinzipien der Sozialverteidigung . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Prinzipien der „Défense Sociale“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Schuld als Sühnefähigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Ideologische Gegnerschaft des Schuldprinzip: Strafen ohne Vorwurf (Hassemer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 d) Gefährdungshaftung im Strafrecht? Ansätze einer strict liability . . . . . . 157 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4. Der Status quo der Schuldtheorie: zugleich eine Analyse des Theoriendualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5. Ergebnis: Schuld – Resultat einer Mehrebenendiskussion . . . . . . . . . . . . . . 166 B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Das Ostinato der Diskussion und die Omnipräsenz des Themas „Willensfreiheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Begrifflichkeiten und Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Erkenntnisse und offene Fragen der Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 II. Normative Relevanz der (neueren) Debatte um eine Willensfreiheit . . . . . . . . 174 1. Strategien der „Determinismusabwehr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Naiver Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Epistemischer Agnostizismus I: Die Wahlfreiheit des Gesetzgebers . . . . 176 c) Epistemischer Agnostizismus II: Kompatibilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhaltsverzeichnis d) Schwächen der Determinismusabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Deterministisch geeignete Alternativen zum Schuldstrafrecht? . . . . . . . . . . 179 3. Konsequenzen und Perspektiven für das (Straf-)Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 III. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
2. Kapitel Der Unrecht-Schuld-Konnex 190 A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Schuld als Entscheidungsstufe im Deliktsaufbau – formeller Schuldbegriff . . 191 II. Die Schuld als Werturteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Der „Schuldtatbestand“ – materialer Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Das Unrecht als Schuldbestandteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Die Struktur des § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Dogmatische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 d) Schuld- vs. Vorsatztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 e) Inhalt des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 f) Sachlicher Bezugspunkt für das Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . 207 g) Grundsätze der Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 h) Unrechtsbewusstsein und Fahrlässigkeitstat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 i) Fazit zum Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3. Steuerungsfähigkeit als das „voluntative“ Schuldmoment . . . . . . . . . . . . . . 223 a) Vom Verhältnis Freiheit zur Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Zur möglichen Konzeption eines voluntativen Schuldmoments . . . . . . . 225 c) Die Eingangsmerkmale des § 20 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 aa) Krankhafte seelische Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Tiefgreifende Bewusstseinsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 cc) Die schwere seelische Abartigkeit und der Schwachsinn . . . . . . . . . 236 d) Die rechtstheoretische Bedeutung der Merkmale respektive des Krankheitsbegriffes des § 20 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 e) Zusammenfassung: Steuerungsfähigkeit als juristischer Metabegriff . . . 253 4. Die „Entschuldigung“ als Folge der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 a) Zum Begriff der Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Teleologie der Entschuldigung im strafrechtlichen System: Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 c) Die Semantik der Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Inhaltsverzeichnis
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d) Typenbildung von Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 aa) Entschuldigender Notstand § 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 bb) Notwehrexzess § 33 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 cc) Privilegierungen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs . . . . . . . . 266 dd) Numerus clausus der Unzumutbarkeitstopoi im Strafrecht? . . . . . . . 266 5. Die sog. objektiven Schuldmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6. Die Existenz von sog. speziellen Schuldmerkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7. Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 IV. Bedeutung der Erkenntnisse für die Architektur der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 284 B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem . . . . . . . . . . . . . . . 285 I. Notwendigkeit der Zusammenführung von Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 II. Möglichkeiten und Problemfelder einer Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Problemeinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Lösungsstrategien zur Auflösung der Schulddichotomie . . . . . . . . . . . . . . . 288 a) Die deduktive Methode auf Basis des Straftatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Die induktive Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Zwischenergebnis: Ein erweiterter Tatbegriff auf Unrechtsbasis . . . . . . . . . 302 III. Konsequenzen für den Straftataufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Unrechtsrelevanz außertatbestandsmäßiger Strafzumessungsfaktoren . . . . . 303 a) Unrechtsrelevanz von mittelbaren Straftatfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 b) Unrechtsrelevanz der Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 c) Unrechtsrelevanz von Vor- und Nachtatverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Rechtsfriedensstörung als (immaterielles) Substrat der Strafzumessungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Rechtsfriedensstörung als zentrales Moment der Straftat . . . . . . . . . . . . . 314 b) Das Verhältnis von Rechtsfriedensstörung zur Prävention . . . . . . . . . . . . 317 c) Die Rolle des Rechtsanwenders in Bezug auf den Rechtsfrieden . . . . . . 318 3. Die Dynamik der Rechtsfriedensstörung – der Zeithorizont im Recht . . . . . 320 a) Beispiel Nachtatverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 b) Beispiel Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 c) Beispiel Reststrafaussetzung: die Schwere der Schuld in § 57a StGB . . 322 d) Exkurs: Die Korrespondenz von Rechtsfriedensstörung und Strafdauer 325 4. Trichtermodell der Verbrechenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Bisherige Straftatmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Das Trichtermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 c) Selbstähnlichkeit der Systeme im Recht: Offene Fragen der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
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Inhaltsverzeichnis 2. Teil Die Dogmatik der Strafzumessung
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1. Kapitel Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung 334 A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 I. Straftheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Von der Stufenlogik der Zweckverfolgung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Die Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 a) Absolute vs. relative Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 b) Die sog. Antinomie der Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 II. Angewandte Straftheorie: Die Strafbemessungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 1. Punktstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Spielraumtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Stellenwerttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4. Tatproportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 a) Faktoren der Tatschwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 b) Bemessung und Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 c) Zweckindifferenz von Tatproportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 5. Strafzweckorientierte Strafbemessungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 a) Strafzumessung als „Derivat der Generalprävention“ (Jakobs, HartHönig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 b) Strafzumessung im Sinne der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 aa) Präventionsrelevanz von Strafzumessungsgründen . . . . . . . . . . . . . . 356 bb) Eingriffsrelevante Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 c) Sonstige präventive Hybridtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 d) Strafbemessung aufgrund spezialpräventiver Zielsetzung? . . . . . . . . . . . 359 e) Eignung strafzweckorientierter Strafbemessungskonzepte . . . . . . . . . . . . 360 6. Theorie vom sozialen Gestaltungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 III. Resümee und eigener Ansatz: „Differentielle Strafbemessung“ als Synkretismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 1. Theorienanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 a) Struktur der Strafbemessungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 b) Leitprinzipien der Strafbemessungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 aa) Strafartwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 bb) Zumessung der Strafgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 c) Rang von Präventionserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 2. Methodische Schlussfolgerungen für die Strafbemessung . . . . . . . . . . . . . . 373
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B. Die Strafzumessungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 I. Beweggründe und Ziele des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Differenzierungspotential im Entstehungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 2. Differenzierung in Wertigkeit und Intensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3. Differenzierung nach dem Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 4. Zurechenbarkeit der Motive und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 II. Erkannte Tätergesinnung sowie -wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 1. Gesinnung, die aus der Tat spricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 2. Der aufgewendete Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 III. Das Maß der Pflichtwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 IV. Die Art der Ausführung und Auswirkungen der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Die Art der Ausführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Auswirkungen der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 a) Ausprägungen des tatbestandlichen Erfolgsunwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 b) Mittelbare Straftatfolgen – Zurechenbarkeit von Folgen . . . . . . . . . . . . . 394 c) Sonderfall: die Folgen bei Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 V. Das Vorleben des Täters und seine Lebensumstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 1. Grundsatz: keine Verwertung des Vorlebens außerhalb der Strafbarkeit . . . 399 2. Die Bedeutung vorheriger Straffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 3. Normative Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 4. Vortatverhalten in bonam partem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 VI. Nachtatverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 1. Entlastendes Nachtatverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2. Belastendes Nachtatverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 VII. Sonstige Strafzumessungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 1. Beteiligung anderer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 2. Opferdisposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 3. Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 4. Zeitablauf zwischen Tat und Urteil, insb. die lange Verfahrensdauer . . . . . . 414 a) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 b) Verfahrensverzögerung: Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . 414 VIII. Beschränkungen der Sanktion aus Erwägungen der Verhältnismäßigkeit . . . . . 416 1. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters . . . . . . . . . . 418 2. Folgen der Tat für den Täter, insb. „Strafsurrogate“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 3. Sanktionskonkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 a) Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB) sowie Einziehung (§ 73 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 b) Nebenstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 c) Mehrheit von Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 aa) Das System Gesamtstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
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Inhaltsverzeichnis bb) Zur Ermittlung der Gesamtstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 4. Die erwarteten Wirkungen der Strafe (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB) . . . . . . . . . . . 436
5. Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 C. Der Vorgang der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 I. Strafzumessungstheorien als Beschreibung des Strafzumessungsvorgangs . . . 438 II. Die Bestimmung des Strafrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 1. Der gesetzliche Strafrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 a) Die Bedeutung des gesetzlichen Strafrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 b) Die absolut bestimmte Strafe: lebenslange Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . 441 2. Sonderstrafrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 a) Strafrahmenänderungen aus dem Allgemeinen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 b) Strafrahmenänderungen aus dem Besonderen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 aa) „Besonders schwere Fälle“: zur legislatorischen Methode der Regelbeispielstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 bb) Die Konkretisierung der sonstigen besonders schweren Fälle . . . . . . 449 cc) Die minder schweren Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 dd) Konkurrenzen von Milderungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 III. Einstellung und Gewichtung der relevanten Strafzumessungstatsachen . . . . . . 453 1. Das Einstellen relevanter Strafzumessungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 a) Prozessuale Grundsätze der Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 b) Verbot der Doppelwertung (§§ 46 Abs. 3, 50 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . 453 c) Das Problem der „Bewertungsrichtung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 2. Die Abwägung (als Gewichtung der Faktoren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 IV. Die Umwertung in den Strafrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 1. Die Ausdifferenzierung der Strafe – die eigentliche „Abwägung“ . . . . . . . . 460 2. Die Problematik der Einstiegsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 3. Strafzumessungsrichtlinien als Ausweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 V. Die Präventionsaspekte als finale Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 1. Modifikation aus generalpräventiven Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 2. Modifikation aus spezialpräventiven Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 3. Zusammenfassung: Strafzumessungspotential von Zweckerwägungen . . . . 476 VI. Die Anrechnung erlittener Einbußen im Erkenntnisverfahren . . . . . . . . . . . . . 478 VII. Absprachen und Strafzumessung – eine neue Strafzumessungsmethodik? . . . 479 D. Die Strafbemessung in der Urteilsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
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2. Kapitel Die Strafzumessung in der Revision 483 A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 I. Grundlagen der Strafmaßrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 1. Die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 2. Verfassungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 a) Gesetzliche Richter Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 b) Recht auf Instanzenzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 c) Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 II. Bestimmung der Kontrolldichte – Punktstrafe vs. Strafrahmenmodelle . . . . . . 488 III. Fehlertypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 1. Fehler bei der Bestimmung des Strafrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 a) Missachtung der gesetzlichen Strafandrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 b) Verkennung einer Strafrahmenverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 2. Verstoß gegen Strafzumessungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 a) Verstoß gegen Schuldgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 b) Beachtung der Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 c) Erheblichkeit der Strafzumessungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 d) Bewertungsrichtung der Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 e) Fehler in Gewichtung und Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 f) Unrichtige Umwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 3. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 4. Fehlerhafte Beurteilung der Konkurrenzverhältnisse/Bildung der Gesamtstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 IV. Fehler bei der Strafzumessungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 V. Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 B. Eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 I. Das Recht zur eigenen Sachentscheidung – die Grundsatznorm des § 354 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 II. Die Anwendungsfälle des § 354 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 1. Freispruch (1. Alt.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 2. Einstellung des Verfahrens (2. Alt.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 3. Absolut bestimmte Strafe (3. Alt.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 4. Gesetzlich niedrigste Strafe und Absehen von Strafe (4. u. 5. Alt.) . . . . . . . 506 III. Erweiterung der Sachentscheidungsbefugnis durch § 354 Abs. 1a StPO . . . . . 507 IV. Kritik an der Ausdehnung der revisionsrechtlichen Strafzumessung . . . . . . . . 508 1. Die Modellhaftigkeit der Neuregelung für die gesamte Strafmaßrevision 508 2. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 3. Anforderungsprofil durch die Leistungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 a) These von der defizitären Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
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Inhaltsverzeichnis b) Informationsvorteil über Erfahrungswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 4. Rechte des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 b) Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 c) Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 d) Gesetzliche Richter Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 5. Konsequenzen für die Auslegung des § 354 Abs. 1a StPO . . . . . . . . . . . . . . 521 V. Lösung über die Etablierung eines Rechtsmittels sui generis? . . . . . . . . . . . . . 521
3. Kapitel Perspektiven für Schuld und Strafmaßfindung – Ergebnisse und Metabetrachtungen –
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
„Man kann ohne Übertreibung sagen, dass mein heutiges Thema selbst in mehreren Habilitationsschriften nicht erschöpfend abgehandelt werden könnte“. B. Schünemann1
Einführung I. Prolegomena (Vorbemerkungen) Das Strafrecht ist trotz seiner relativen Eigenständigkeit Teilgebiet des öffentlichen Rechts. Als solches ordnet es sich in die Lenkungsinstrumente der staatlichen Gewalt ein. Das Strafrecht ist das schärfste Lenkungsinstrument, welches die Rechtsgemeinschaft zur Wahrung ihrer Interessen einsetzen kann. Dem Subsidiaritätsgedanken der ultima ratio2 verpflichtet, sollen nur überragende Werte in diesen Schutzbereich gelangen. Diesem Umstand verdankt eine vom Paragraphenbestand vergleichsweise überschaubare Rechtsmaterie ihre überproportionale Repräsentanz in Wissenschaft und Medien. So unterliegen die Fragen „was“ (Rechtsgutdebatte) geschützt werden und „wann“ (Reichweite des Tatbestands, allgemeine Strafbarkeitsvoraussetzungen) dieser Schutz einsetzen soll, einer ständigen, lebhaften, mitunter polemisch geführten Diskussion. Auf kleinem „Schlachtfeld“ – diese martialische Metapher sei gestattet – fallen „Gefechte“ eben umso heftiger aus. Bemerkenswerterweise wurde der Rechtsfolgenlehre diese Aufmerksamkeit bislang kaum zu Teil. Während die „Tatbestandslehre“, verstanden als die Grundfragen der Strafbarkeit und der Inbegriff der Strafbarkeitsvoraussetzungen, auf lange geistige Tradition (Beling, Binding, Welzel, Jescheck, Roxin, u. v. a.) zurückblicken kann, fristet das Strafzumessungsrecht ein Dasein als Annex zu dieser. Man könnte auf die Idee kommen zu denken, die Strafbarkeitsfrage als philosophischer Ausgangspunkt wäre Angelegenheit der Wissenschaft, die konkrete Strafzumessung gehöre (ausschließlich) in die Säle der Gerichte. Eine solche Vorstellung sieht die Wissenschaft in einer Existenz als autopoietisches System gefangen, dessen Praxisbezug und ergo dessen Praxisrelevanz gering ist.3 Man darf der Wissenschaft aber durchaus unterstellen, dass ihr Ideenmotor nicht nur die eigene Maschinerie anfeuert, sondern und auch 1 Zum Thema Schuldlehre in Deutschland. In: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147. 2 Das Prinzip soll hier (noch) als konstituierend vorausgesetzt werden. Selbstredend, so möchte man sagen, gibt es an dieser Gewissheit Zweifel. Vgl. jüngst die Darstellung bei Prittwitz, FS Roxin II (2011), S. 23 (29 ff.). 3 Zum beschriebenen Spannungsverhältnis vgl. auch H. Radtke, „Gestörte Wechselbezüge? – Zum Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung“, ZStW 119 (2007), S. 69 – 92.
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insbesondere Impulse für die Rechtspraxis, „der Wirklichkeit“, anliefern will. Darüber hinaus greift der Umstand, dass Wissenschaft sich als kritische Instanz versteht. Die kritische Begleitung der Rechtspraxis dient vor allem der Kontrolle, selbst dann, wenn der hierarchische Entscheidungsprozess in dem Verfahrensgeschehen, sprich Instanzenzug, ein Ende gefunden hat. Jedes Recht muss sich der kritischen Diskussion stellen (können). Dieser Prozess – wie die „Verrechtlichung“ der Materie selbst – hat im Bereich der Strafzumessung erst relativ spät eingesetzt. Mit Bruns’ Strafzumessungsrecht4 erschien erst 1967 erstmalig eine umfassendere dogmatische Auseinandersetzung mit der Strafzumessung im Allgemeinen, wie überhaupt die Strafzumessung (§ 46 StGB, zuvor § 13 StGB a. F.) als Rechtsvorschrift tatsächlich erst im Jahre 1970 Eingang in das Gesetz gefunden hat. Seinen „Stiefkindcharakter“ hat das Strafzumessungsrecht gegenüber der allgemeinen Straftat – bzw. Verbrechenslehre dennoch nicht ganz verloren. Die Wissenschaft des Strafzumessungsrechts hat dieses Defizit aufzuarbeiten. Der seither stetige Fortschritt lässt sich daher eher in Einzelbereichen bzw. Detailfragen verzeichnen. Aufgabe ist nun, diesen Bestand an Erkenntnis zusammenzutragen und einer systematischen Darstellung zuzuführen. Weitergehend soll der Versuch unternommen werden, diesen Wissensbestand mit eigenen Ideen fortzuentwickeln. Am Ende dieses Prozesses steht weniger die Vorstellung, eine integrative Meta-Theorie mit (möglicherweise) nur spärlichem Nutzen zu entwerfen, als vielmehr die Idee mit einem dogmatischen Leitfaden das Strafzumessungsrecht zu strukturieren.
II. Gang der Untersuchung Entsprechend dem Titel „Schuld und Strafmaß“ sind zwei gedankliche Haupteile zu unterscheiden. Beide Teile sollen selbständigen Charakter erhalten und dennoch nicht unverbunden zueinander stehen. In Umkehrung der beschriebenen wissenschaftlichen Verhältnisse kann man die Straftatlehre auch lediglich als Vorfrage für die Rechtsfolgenentscheidung behandeln, denn die wenigsten Verfahren erschöpfen sich mit der Fragestellung des „ob“ der Strafbarkeit. Regelmäßig und weitaus diffiziler ist zu entscheiden „wie(viel)“ gestraft werden soll. 1. „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung“. Die Zentralnorm des § 46 Abs. 1 StGB zeichnet damit den Weg für die hiesige Untersuchung vor. Jede Strafentscheidung verlangt als Vorfrage die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Schuldprinzip. Dabei betrifft die Strafzumessung nur eine Facette des
4 Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974); 1(1967); später noch in verkürzter Form als „Leitfaden des Strafzumessungsrechts“ (1980) und „Das Recht der Strafzumessung 2(1985). Eine Neuauflage letzterer Ausgabe ist mittlerweile unter Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018) erschienen.
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Schuldprinzips. In Anlehnung an Achenbach5 lassen sich drei funktionelle Diskussionsebenen bilden, namentlich die Schuldidee, die Strafbegründungs- sowie die bereits angedeutete Strafzumessungsschuld. a) Als tragendes Fundament genießt der Ausspruch „nulla poena sine culpa“ unseres Strafrechtssystems Verfassungsrang. Mit der Absage an das aktuelle Recht der Sicherungsverwahrung und der gleichzeitigen Betonung des „Abstandsgebotes“ hat das Bundesverfassungsgericht jüngst die Bedeutung des Schuldprinzips indirekt gestärkt,6 wie auch schon die sog. „Lissabon-Entscheidung“7 die Bedeutung zuvor bestärkt hatte. Doch trotz oder gerade wegen dieses existentiellen Charakters entzünden sich immer wieder Auseinandersetzungen, welche seine Reichweite und Zeitgemäßheit betreffen. Unter dem Topos der „Schuldidee“ vereinigen sich verschiedene Vorstellungen über die Schuld als möglichen Grundpfeiler staatlichen Strafens sowie deren Transformation in rechtsdogmatische Modelle. Die Schuldidee steht als übergeordneter Gedanke über den anderen Schuldbegriffen und liefert letztlich den argumentativen Fluchtpunkt aller Betrachtungen. Im Laufe der Zeitgeschichte haben diese Einflüsse das (heutige) rechtliche Verständnis von „Schuld“ mitgeprägt und bis dato eine Trichotomie von Konzepten der Willensschuld, generalpräventiver Schuld sowie Schuldgegner herausdestilliert. Insbesondere deterministische Schuldgegner sind wesentlich durch außerrechtliche Ideen beeinflusst worden, so dass die Idee einer „reinen Rechtswissenschaft“, frei in Anlehnung an einen Titel Hans Kelsens8, utopisch anmutet. Es sind vor allem die Philosophie, die Medizin in Form der Forensik und soziologisch-empirische Wissenschaften, aus Sicht der Rechtswissenschaft damit die „Nachbar- oder Hilfsdisziplinen“, die ihren Anteil am heutigen Schuldbegriff tragen. Freilich gilt zu bedenken, dass jede Wissenschaft ihre Erkenntnisse aus genuiner Perspektive aufgrund eigenen Erkenntnisziels elaboriert, so dass der interdisziplinäre Transfer von Wissen nur partiell und höchst selektiv geschieht. Die Geschichte der Strafrechtswissenschaft lehrt ohnehin, dass jedes Rechtsverständnis im Diktum ihres Zeitgeistes steht und nicht frei von politischer Couleur ist und schließlich gewissen epochalen Wellenbewegungen zu unterliegen scheint.9 Trotz allem enzyklopädischen Anspruch können nicht sämtliche Stimmen, die sich um die Schuldfrage verdient gemacht haben, zu Wort kommen. Ziel im ersten Hauptteil ist es deshalb, den historischen Weg des Schuldbegriffs zum heute geltenden Recht in seinen Grundzügen nachzuzeichnen. Dabei soll die Wertigkeit des Schuldprinzips für das Strafrecht, nicht zuletzt durch seine verfassungsrechtlichen 5
Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre (1974), S. 3 ff. 6 BVerfGE 128, 326, 2 BvR 2365/09 vom 4. 5. 2011. 7 BVerfGE 123, 267, 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009. 8 Reine Rechtslehre, 2. Auflage 1960. 9 S. M. Kubink – Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel – Habil.-Schr. Univ. Köln 2001.
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Bezüge, aber auch die daraus resultierenden Probleme herausgearbeitet werden. Ziel soll sein, die Kluften der einzelnen „Schuldlehren“ genauer zu beleuchten um diese einer doppelten „Realitätsprüfung“ zu unterziehen. Doppelt in dem Sinne bedeutet, dass einmal die kultivierten Antagonismen auf dogmatische Scheingefechte hin Überprüfung erfahren sollen und zum anderen, ob die Modelle die Faktizität unserer Welt überhaupt abzubilden vermögen. Namentlich neurowissenschaftliche Vorbehalte sind es, die eine Rückkopplung unser gelebten Rechtskultur an die Wirklichkeit wissenschaftlichen Erfahrungswissens in Frage stellen und deterministischen Lehren wieder Auftrieb gegeben haben. Deren Einwänden muss der Schuldbegriff standhalten. b) In Gestalt der Strafbegründungsschuld begegnet uns die Schuld als klassische Entscheidungsfrage des Rechtsanwenders. Aufbauend auf den philosophischen Erkenntnissen der „Schuldidee“ sind die Maßstäbe zu entwickeln, den Schuldigen vom Unschuldigen zu scheiden. Das Recht hat gesetzliche Entscheidungsparameter in Form der §§ 17, 20, 35 StGB niedergelegt. Dabei spielen die Rechtsbegriffe der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sowie der Gedanke der Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens die entscheidende Rolle. Es ist einzugehen auf die Frage, wann von einem wirklichen Defizit zu sprechen ist, bzw. inwieweit dieses bei der Schuldfrage Bedeutung erlangt. Abseits und losgelöst von der Fülle von rechtlichen Detailfragen sind die Zurechnungsmechanismen in ihren Strukturen zu erfassen und darzustellen. Diese Dimensionen rechtfertigen es, von einer zunächst gedanklichen Vorfrage ausgehend, diesen Komplex zu einem selbständigen Hauptteil auszubauen. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“10 2. In einem zweiten Schritt gilt es die beiden Hauptstränge Schuld und Strafzumessung miteinander gedanklich zu verbinden. Es hat nie an qualitativ hochwertigen Bemühungen gemangelt, eine Art „missing piece“ zu konstruieren. Diese Bemühungen gelten vorläufig insoweit als gescheitert. Dieses ehrenvolle Scheitern sollte aber nunmehr vor Augen führen, dass die Suche nach einem belastbaren Scharnier das eigentliche Hauptproblem stellt. Wenn das gedankliche Scharnier der argumentativen Last der herrschenden Dogmatik nicht Herr werden kann, gilt es fortan die Ausgangsgewichte zu verändern. Unter dem paradigmatischen Vorzeichenwechsel des Primats der Strafzumessung soll ein erneuter Versuch der Konzilianz gestartet werden. Dabei steht nicht die „Passform“ der theoretischen Brücke im Vordergrund, sondern die Modellierung der Auflageflächen der Brücke. Es gilt also die beiden dogmatischen Ufer „Straftatlehre“ und „Strafzumessungslehre“ einer Annäherung zuzuführen. Nach den vorstehenden Worten wird deutlich, dass in erster Linie die dominante Straftatlehre den ein oder anderen Raum freigeben werden muss, um Bewegung in die Dogmatik bringen zu können. Dieser gedankliche Zwischenschritt geschieht in der Zuversicht, dass die neue Perspektive neuen Horizont für die Strafrechtswissenschaft sichtbar machen wird. Dabei wird sich zeigen, 10
Anton Bruckner (österreichischer Komponist, 1824 – 1896).
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dass keine „Revolution“ des Strafrechtssystems von Nöten ist, sondern ein taugliches Fundament bereits vorhanden ist. 3. Auf diesem Boden bereitet kann der zweite Hauptteil sich der Strafzumessung widmen. Aufbauend auf bisherigen Erkenntnissen soll eine theoretische Leitlinie für die Strafzumessung erarbeitet werden. Ziel in einem solchen gesteckten Rahmen kann es nicht sein, konkrete Lösungsvorschläge für die Vielzahl der unterschiedlichen Problemlagen auszuarbeiten, die die Lebenswirklichkeit in Rechtsfälle einkleidet. In diesem Sinne steht als anzustrebendes Ergebnis eben nicht eine spezifische oder eine Vielzahl von Einzelerkenntnissen an sich, sondern vielmehr ein heuristisches Modell, welches gleichsam als „Hilfe zur Selbsterkenntnis“ für den Rechtsanwender fungieren soll, damit Strafzumessung nicht zur „Black Box“11 des Strafrechts wird. Als Leitmotiv soll das Modell einer „differentiellen Strafzumessung“ dienen. Dahinter verbirgt sich im Ergebnis nichts weiter als die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes. Gleiches darf nicht ungleich bzw. wesentlich Ungleiches darf nicht gleich behandelt werden.12 Unter Beachtung der Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG muss stets ein Differenzierungskriterium gefunden werden um der Gleichheitsformel gerecht zu werden. Erfolgt Differenzierung nur über den Vergleich, so verspricht Aussicht auf Erfolg nur ein gedanklicher Anschluss an Relationsmodelle13 und ggf. deren eklektischer14 Weiterentwicklung. Denn ein metrisches System der Strafzumessung wird mangels Basisgröße Utopie bleiben müssen. Der zu dem arithmetischen Mittel gehörige „normative Normalfall“ oder Durchschnittsfall ist eine rein fiktive Größe und lässt sich für das Strafrecht als universale Basisgröße nicht operationalisieren. Regressionseffekte bedingen es zudem, dass eine lineare Staffelung von Strafeinheiten nicht sinnvoll ist.15 Was bleibt ist die Skalierung nach dem differentiellen Prinzip. Dieser Teil versteht sich ausdrücklich als anwendungsorientiert. Ohne Frage wird die Rechtsprechung als Herrin der Rechtswirklichkeit Berücksichtigung unter einem solchen Titel finden, dennoch ist weder eine Analyse der Rechtsprechung an sich noch die Ausfertigung eines Stützkorsetts rechtlicher Praxis geplant. Ein solches Unternehmen hätte aus mehreren Gründen wenig Aussicht auf fruchtbaren Ertrag. Das Feld der reichhaltigen Rechtsprechung ist durch Praxishandbücher und Kommentarliteratur zum einen weitgehend erschlossen und maßstabsgetreu abgebildet. In deren Konkurrenz zu treten würde den mühevollen Auf11
In Anlehnung an B.-D. Meier, JuS 2005, S. 879 (881). Vgl. Jarass/Pieroth, GG 14(2016), Art. 3 Rn. 5. 13 M. Maurer, Komparative Strafzumessung, Diss. Freiburg, (2004); T. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung Diss. München, 1999. 14 Ausdrücklich nicht eklektizistisch, wenn auch die pejorative Bedeutung Zur Ursprungsbedeutung vgl. Kluge 24(2002), Etymologisches Wörterbuch S. 237. 15 Progressives Strafdenken stößt an Grenzen: Zwei Morde können nicht mit zweimal lebenslänglich bedacht werden. 12
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wand nicht belohnt wissen. Zum anderen ist mit der Aktualität des rechtlichen Tagesgeschäfts – und Rechtsprechung ist im genuinen Sinne Tagesgeschäft – ohnehin auf diesem Wege kaum Schritt zu halten. Insbesondere Online-Angebote schicken sich an diesen Anforderungen besser gerecht zu werden. Im Gegensatz zur „induktivurteilsanalytischen“ Methode16 stand daher weitgehend die dogmatisch-deduktive Methode im Vordergrund. Zudem kann es nicht darum gehen, die Methode der Rechtsprechung bloß dogmatisch abzusichern. Die Praxis wird diesen Verdienst ob ihrer Nutzbarkeit gerne goutieren, doch degradiert ein solches Verfahren die Wissenschaft in eine reaktive Rolle. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass unbekanntes Terrain erschlossen werden muss. Mitunter genügt es schon, eingetretene (und durchaus bewährte) Pfade durch neue Routen zu ersetzen. Das heißt eben nicht zu behaupten, andere Wege seien schlicht Irrwege. In diesem Sinne sollen sich diese Ideen, mit dem Anspruch der praktischen Verwertbarkeit, – das sei explizit wiederholt – ganz „klassisch“ in den Wettstreit der Ideen einreihen. Für die Umsetzbarkeit wird es im Ergebnis immer einen rechtlichen Spielraum geben. Genau von diesem rechtlichen Spielraum handelt der letzte Abschnitt der Strafzumessung. Die als „Spielraumtheorie“17 bekannte Leitlinie der Rechtsprechung steht exemplarisch für das Vorgehen eines Revisionsgerichts, sich der Strafzumessung per Falsifikationsmethode zu nähern. Die Grenze der Rechtsfindung ist das Recht selbst; entsprechend der Aufgabe eines Revisionsgerichts Rechtsfehler zu rügen, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung den tatrichterlichen Gestaltungsspielraum weitgehend diszipliniert und war damit vielfach Motor für die Ausgestaltung heutiger Rechtspraxis. „Strafzumessung in der Revision“ bedeutet heute aber in zunehmendem Maße auch eigene Strafzumessung durch Revisionsgerichte selbst. „Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung“18 erweitert das Handlungsspektrum des Revisionsgerichts beträchtlich und ist deshalb zumindest in der Reichweite nicht unumstritten. Diese eigenständige Facette rechtfertigt eine abschließende Betrachtung. Die überragende Bedeutung des Schuldprinzips verlangt deshalb eine stetige Vergewisserung seines Inhalts und seiner Daseinsberechtigung. Ganz im Sinne des Luhmann’schen Paradigmas „Legitimation durch Verfahren“ betreibt die Rechtswissenschaft auf diese Weise Legitimationsabsicherung und vollzieht durch diese Überprüfung letztlich ein zentrales Anliegen des Demokratieprinzips. Diesem kontinuierlichen Diskurs, der Inhalte und Auswirkungen des geltenden Rechts zur Diskussion stellt, verpflichtet sich auch dieser Beitrag. 5. Man kommt nicht umhin, der Feststellung, dass eine Arbeit mit der Projektbeschreibung „Strafmaß und Schuld“ generell den Anspruch hegen müsste, ein 16
Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 28. BGHSt 7, 28 – BGH, Urt. v. 10. 11. 1954 – 5 StR 476/54. 18 Vgl. monographisch Th. Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Diss. Augsburg, 2001. 17
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umfassendes Abbild des Systems Strafrecht und seiner Dogmatik abliefern zu wollen. Eine solche Zielvorstellung harrt zwar im Hintergrund, doch ist die Einlösung eines solchen Vorhabens kaum möglich. Der Begriff der Schuld beherbergt einen Zulaufpunkt unterschiedlicher Ideen und wissenschaftlicher Disziplinen. Zu komplex und vielschichtig zeigt sich die zu bearbeitende Materie. In vielerlei Hinsicht trägt die Arbeit daher den Charakter eines Grundrisses, der nicht allen Problemen in der nötigen Tiefe gerecht werden kann. Vollständigkeit kann folglich nicht behauptet werden. Trotzdem liegt gerade in der Bemühung um Abdeckung eines thematisch breiteren Spektrums das Hauptanliegen der Arbeit. Eine inhaltliche Konzentration ist bewusst verworfen worden, um mittels eines solch integrativen Ansatzes die einzelnen Berührungspunkte untereinander aufzeigen und eine Vernetzung der Bereiche vorantreiben zu können. Das Detail ist vor dem Horizont des Ganzen nur schwer zu fassen. 6. Die zur Verfügung stehenden Kapazitäten nötigen gleichwohl, das Okular nicht zu weit auszurichten, da ansonsten Ergebnisse von unkenntlicher Allgemeinheit zu erwarten wären. Das führt dazu, dass einige Bereiche ausgespart werden müssen um eine stringente Darstellung noch zu ermöglichen. In diesem Sinne gänzlich außen vor gelassen wurde der Rechtsvergleich. Schuld als Phänomen ist keine monokulturelle Angelegenheit. In Bezug auf die Idee des Schuldstrafrechts sicherlich nicht zu verkennen gilt, dass gerade der Rechtsvergleich eine reizvolle Perspektive anbietet um einen Baustein solcher Fundamentalität zu ergründen. Strafrecht bleibt dennoch, trotz aller Europäisierungstendenzen im Recht, zunächst eine nationale Angelegenheit. Die Lektüre des Lissabon-Urteils19 bestätigt diesen Kerncharakter nationaler Identität, der auch für das deutsche Strafrecht niedergelegt ist. Ein Strafrecht der Supranationalität ist gegenwärtig nicht in Sicht. Eine Beschränkung auf die nationale Perspektive ist insoweit ausreichend, weil vor allem das geltende Recht mit seinem aktuellen Gestaltungspotential für die Untersuchung leitend sein soll. Die Arbeit ist insgesamt eine solche des materiellen Rechts. Bezüge zum Verfahrensrecht werden nur aufgezeigt, soweit zur Erklärung der materiellen Rechtslage ein Bedarf besteht. „Schuld und Strafmaß“ versteht sich daher – entsprechend des Untertitels – als Allgemeiner Teil, der vordergründig die Methodik der Rechtsfindung für das konkrete Maß in den Blick nimmt. Bei aller Lebhaftigkeit der Diskussion um die Wirksamkeit und Berechtigung von einzelnen Interventionsformen, angefangen bei Diversion bis hin zu lebenslanger Freiheitsstrafe, lässt sich doch sagen, dass die Art der Sanktion eine untergeordnete Rolle für die Bemessung spielen muss. Das Instrumentarium der Sanktionen braucht deswegen im vollen Umfang nicht dargestellt zu werden. Einen allgemeinen Teil charakterisiert auch, dass vor allem die gemeinsamen Merkmale einer Materie abstrahiert werden. Auf Besonderheiten soll 19 BVerfGE 123, 267 (410 ff.), Urt. v. 30. Juni 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09. Dazu Schünemann, StRR 2011 (Heft 4), S. 130 ff.
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deswegen keine Rücksicht genommen werden. Spezielle Rechtsfolgenregime, sei es Jugendstrafrecht, sei es disziplinarisch geprägtes Wehrstrafrecht, mögen deshalb abweichende Prinzipien zu Rate ziehen können. Unter Vorbehalt einer (notwendig) gesonderten Prüfung ob dieser Besonderheiten darf aber zumindest behauptet werden, dass allgemeine strafzumessungsrechtliche Regeln grundsätzlich vor solchen Eigenheiten nicht Halt nehmen dürften. Soweit Schuld und Strafe expressis verbis in Rede stehen, so liegt bereits im Sprachgebrauch eine Vermutung der Übernahme des hier formulierten Allgemeingültigkeitsanspruchs. 7. Zuletzt gilt es als Chronistenpflicht festzuhalten, dass das Meer an Schrifttum nicht ohne Selektion zu bewältigen gewesen wäre. Abstriche dieser Art mögen für Monographien gewiss nichts Ungewöhnliches bedeuten. Für erwähnenswert erscheint es dennoch, da speziell in der Verwertung von Literatur eine deutliche Zäsur in zeitlicher Hinsicht zu verzeichnen sein wird. Für die Schuldlehre heißt dies eine Konzentration auf die Literatur der Nachkriegszeit. Diese Auslese ist keine Frage der Qualität, sondern schlicht der Anschauung. Mancher Leser wird enttäuscht möglicherweise den ein oder anderen „Klassiker“ nicht zu Unrecht vermissen. Die „Reduktion von Komplexität“ erscheint hier allerdings das wichtigere Anliegen zu sein. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs haben die Blickweise auf das Recht nachhaltig verändert. Die Schuldfrage an die Gesellschaft ist generell virulent geworden.20 Dieser unverrückbare Markstein deutscher Geschichte erfordert fortan eine gesonderte Erzählung. Eine Antwort war und ist nach wie vor das Grundgesetz. Diese Axialität ist bis heute ungebrochen, nicht von ungefähr nimmt jede Untersuchung, jede Kommentierung der Schuld Ausgang im verfassungsrechtlichen Schuldprinzip. Selbstverständlich wirft die historische Analyse einen Blick zurück, aber durchaus stark anachronistisch im Hinblick auf die Entwicklungsstufen des heutigen Rechts. Für das Strafbemessungsrecht konzentriert sich die Sichtung, von ausgewählten Ausnahmen abgesehen, auf den Zeitraum beginnend ab 1974. Diese Wahl erklärt sich lediglich aus dem Anlass dieser Untersuchung: sie ist bestrebt, an die Tradition von Bruns strafrechtszumessungsrechtlicher Gesamtdarstellung, letztmalig im Jahre 1974 erschienen, anzuknüpfen. Ein Werk dieses Umfangs hat es seither nicht mehr gegeben. Im Umkehrschluss sieht der Verf. die Dogmenentwicklung eben bis zu diesem Zeitpunkt ausreichend gewürdigt und verarbeitet. Neben anderen hochwertigen Bearbeitungen des Strafzumessungsrechts21 schickt sich dieser Beitrag an, diesen Bestand fortzuschreiben.
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Exemplarisch: Karl Jaspers, Die Schuldfrage (1946). Jüngst Kett-Straub/Kudlich, Strafrechtliche Sanktionen 2(2021); Meier, Strafrechtliche Sanktionen 6(2019); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6(2017); ferner Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012). 21
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III. Zur Arbeitsweise und Benutzung Am Anfang der Bearbeitung stand das Bestreben die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema und die kritische Fortentwicklung des Themas mit der Benutzerfreundlichkeit eines Nachschlagewerks zu verbinden. Dieses Bemühen hat sich auf die Art der Aufbereitung durchgeschlagen. Die bereits erwähnten zwei Teile der Arbeit sollen selbständig lesbar sein. Daher galt es, den Text jeweils in sich weitgehend geschlossen zu präsentieren. Interessierte der Schuldhistorie wie auch Lösungssuchende in Strafzumessungsfragen sollen sich daher gezielt Antworten erschließen können ohne das ganze Werk lesen zu müssen. Die eine oder andere inhaltliche Wiederholung ist aus Darstellungsgründen daher gewollt. Die Kohärenz der wissenschaftlichen Fragestellung soll dabei nach Möglichkeit nicht gelitten haben, denn es geht auch gerade um die Zusammenhänge. Dies hat zur Folge, dass insbesondere der Fußnotenapparat gegenüber der herkömmlichen Quellenfunktion eine zusätzliche, bedeutsame Funktion hat. Er transportiert – mir – wesentliche Gedankeninhalte auf einer Art Subtextebene. Diese weiterzuverfolgen ist erstens – zugegebenermaßen – etwas mühsamer. Zweitens ist überhaupt der Modus, Text dergestalt „auszulagern“, methodisch nicht unumstritten. Die Darstellungsweise besitzt aber trotzdem gute Gründe. Zum einen soll der Leser selbst die Entscheidung haben, Exkurse zu verfolgen oder eben nicht. Der eigentliche Text konnte so auf das Essentielle komprimiert werden. Zum anderen lassen sich einige Aspekte aufgrund der immanenten Wechselwirkung der sachlichen Themen schwer ausschließlich linear erzählen. Bedenkt man zudem, dass sich die Verbrechenslehre und Strafzumessungslehre lange Zeit unverbunden zueinander eigendynamisch entwickelten, so muss deutlich werden, dass ein wissenschaftlicher Versuch eines Panoptikums nicht ohne eine Meta-Ebene auskommt. Es verhält sich wie ein komplexes Farbenspiel, bei dem Farben aus verschiedenen Positionen ineinanderlaufen und ein sich gegenseitig beeinflussendes Gesamtbild ergeben. Eine isolierte „Draufsicht“ wäre da leidlich unvollkommen, weil sie die historisch gewachsenen Verbindungslinien nicht sichtbar machen könnte. Diese einzufangende Mehrdimensionalität spiegelt sich in einem hohen Bedarf von Subtext wider. Daher sei jeder Leser eingeladen, die Querverweise als gedankliche Verknüpfungen und weitergehende Überlegungen als Denkanregungen zu begreifen. Dem evolutiven Charakter verdeutlichend kann die Kapitelzählung auch fortzählend gedacht werden.
1. Teil
Die Schuld 1. Kapitel
Der Schuldbegriff A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik I. Prolog: Schuld – von einer alltagssprachlichen Annäherung zum Rechtsbegriff 1. Schuld als soziales Phänomen „Eine gehörige Schuld lastet auf seinen Schultern“, „sie fühlt sich schuldig“, „er hat Schuld“, „wir sind ihm etwas schuldig“, „sie ist schuld daran“. Dieser Ausschnitt bildet uns alltäglich vertraute Gesprächsfetzen ab; sie könnten aus unterschiedlichsten Lebenssituationen entstammen und selbstredend ließe sich diese Reihe mühelos fortführen. „Schuld“ ist ein uns vertrautes Wort. Die Entwicklung für ein Bewusstsein für Schuld wird schon relativ früh verortet.22 So hielten wir auch schon Kinder für potentielle Urheber solcher Aussprüche. Und diese Kinder selbst würden wahrscheinlich meinen, sie wüssten um die Bedeutung ihrer Worte. Zwei Befunde drängen sich bei diesem Überblick auf: Zum einen lässt die Verankerung in der Alltagssprache darauf schließen, dass Schuld ein allgegenwärtiges Phänomen ist, dessen Bedeutung uns Menschen wohl bekannt sein müsste. Dass die Redeweise von Schuld einen festen Platz in unserem Sprachgebrauch einnimmt, bedarf keiner weiteren Untersuchungsbemühungen – der anfängliche Ausschnitt soll als Beleg ausreichen. Die Schlussfolgerung, die Gesellschaft hätte ein profundes Bedeutungswissen von der Schuld, ist allerdings nicht ohne Grund im Konjunktiv gehalten. Denn die gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Wort „Schuld „zum anderen – das sei bereits vorweggenommen – steht in schillerndem Kontrast zu dem differenzierten Anschauungsgehalt des Rechtsbegriffes „Schuld“.
22 Vgl. auch die Nachweise bei Rössner, FS Schöch (2010), S. 637 (645), zu neurowissenschaftlichen Ansätzen eines universellen Moralsinns.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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2. Sprachliche Implikationen von Schuld Vielleicht sollte diese Selbstverständlichkeit misstrauisch stimmen, denn die syntaktische Struktur der Aussagen über Schuld variieren in den gezeigten Beispielen. „Schuld haben“ und „schuldig sein“ erscheinen bei unbefangenem Zugriff zwar synonym. Doch allein diese grammatikalische Differenzierung öffnet die Tür für semasiologisch gewichtige Unterschiede in der Interpretation.23 Während im sprachphilosophischen Sinne das Adjektiv „schuldig“ nicht mehr als die Rolle eines „Prädikators“ besitzt, könnte der Ausdruck „Schuld haben“ eher auf eine substantiell („substantialistische“) Perspektive hindeuten, bzw. diese wenigstens rechtfertigen, und auf einen (wie auch immer gearteten) ontologischen Charakter der Schuld verweisen.24 Die Schuldmetaphern sind vielfältig und deuten bereits auf einen äquivoken Gebrauch in der Alltagssprache hin. Bereits seit der Antike kann Schuld je nach Kontext die Bedeutung des Geschuldeten25 annehmen, das Verschuldete im Sinne einer Urheberschaft26 bezeichnen oder eine Verfehlung27 ausdrücken.28 In funktioneller Hinsicht wird jeweils ein eigenständiger Umstand angesprochen, der jeweils eine eigene Betrachtung nahelegte. Rechtlich gesehen ist also eine Differenzierung von Nöten. Bei dieser funktionellen Dreigliederung lassen sich indes Verbindungen knüpfen. Die Ausgangsbedeutung im Sinne von „des Geschuldeten“, belegt eine Wortschöpfung kaufmännischen Ursprungs, ein Sinnangebot, welches eher in die Sphäre des Zivilrechts zu passen scheint; so wie das 2. Buch des BGB das „Schuldrecht“ deklariert.29 Allerdings liegt eine Verpflichtungs- und Ausgleichsassoziation auch 23
Vgl. auch die Bemerkungen unter dem Titel Schuldhaftigkeit und Schuld – „allzu leicht verführt die Sprache das Denken“ bei Gropp, FS Puppe (2011), S. 483 ff. Vergleichbare Sprachspiele demonstriert auch Krauss, FS Schüler-Springorum (1993), S. 459, passim. 24 Eine solche „Substantialisierung“ beinhaltet durchaus mehr als ein philosophisches Sprachspiel. Denn je mehr die Ontologie der Schuld im Vordergrund steht, desto weniger erscheint der Rechtsbegriff Schuld positivistisch geprägt. Entscheidend für das Wesen der Schuld wäre dann weniger das Gesetz, sondern ihr vorrechtlicher Bedeutungskern. 25 Aus dem Altgriechischen: ave_kolem (opheilomen): Sollensbedeutung, vgl. Glei, in: HWPh Band 8 (1992), Sp. 1446. Zur deutschen Etymologie s. „Schuld“, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch 24(2002), S. 827. 26 Abgeleitet von aitia, (gr. aQt_a) Ursache, vgl. wie zuvor. 27 Altgriechisch: "laqt\meim (amartanein), vgl. wie zuvor. 28 In der römisch-lateinischen Tradition ist zumindest die Unterteilung in das „Geschuldete“ (debitum) und „Verschuldete“ (culpa) erhalten geblieben, s. dazu LThK/Schuster, Stichwort: Schuld 3(2000), S. 276. vgl. Bron, in: Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon Band 4 3(1996), Stichwort: Schuld, S. 114. 29 Bemerkenswerterweise divergiert hier die Terminologie im internationalen Vergleich. Mit dem Ursprung im lat. obligare – „verpflichten“ läuft das hiesige „Schuldrecht“ z. T. unter dem Titel Obligationenrecht. So lautet beim französischen zivilrechtlichen Pendant die Überschrift des 3. Titel (Art. 1101 bis 2278 C.civ) des Code Civil: „Des contrats ou des ob-
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
nicht fernab jeglicher strafrechtlicher Terminologie. Der Ausgleichsgedanke bspw. offenbart sich in der sog. absoluten Straf(rechts)theorie, deren Strafzweck sich in der Vergeltung des Unrechts erschöpft. Nicht selten wird bei einer Straftat auch von einer Pflichtverletzung gesprochen.30 Der Straftäter wird verpflichtet, sich dem Strafverdikt zu unterwerfen. Insofern erwächst das Erdulden des Strafübels auch aus einer Verpflichtungssituation. Die Rede von der Schuld lässt sich derart wenigstens mühelos in den Kontext einer Vorstellungswelt der absoluten Straf(rechts)theorie einfügen. Damit ist ein möglicher Problemgehalt31 seiner (aktuellen) Verwendung bereits aufgezeigt, befindet sich doch der Vergeltungsgedanke eher auf dem Rückzug.32 Aus heutiger Sicht ist der Begriff der Schuld trotz zivilistischer Ansätze im Grunde vollständig negativ konnotiert,33 er steht für ein Stigma, der den Menschen mit einem Makel belegt.34 Schuld steht demnach im Wesentlichen für die Verletzung einer Norm, bzw. Nichterreichung eines Ideals als ein „Eigentlich-Sollen“. Dieses „Eigentlich-Sollen“ hat für eine normative Wissenschaft wie die des Rechts eine zentrale Bedeutung, denn die strafrechtlichen Normen nehmen die Sein-SollenDiskrepanz einer menschlichen Handlung gerade zum Gegenstand ihrer Beurteilung. Bedenkt man zudem, dass sich das Verb „sollen“ genetisch aus dieser Ausgangsbedeutung „schulden“ entwickelt hat,35 wird deutlich, dass die Rechtswissenschaft sich der Beschäftigung mit Schuld gar nicht entziehen kann. Aus dem Gesagten wird mittelbar offenkundig, dass etwas „sollen“ oder „schulden“ nicht ohne eine Rechenschaft fordernde Instanz gedacht werden kann.36 Die Instanz formt die Bedeutung von Schuld. Der Fortgang der Überlegungen mag sich daher ändern, je nach ob, von krimineller, politischer, moralischer und/oder metaphysischer Schuld die Rede ist.37 Eine Untersuchung des Rechts wird dies zu berücksichtigen haben. ligations conventionnelles en général“; für den deutschsprachigen Raum finden wir in der Schweiz mit dem schweizerischen Obligationenrecht (OR) vergleichbares. 30 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 75 zu den Anfängen dieser Richtung; s. ferner noch Otto, GA 1981, S. 481 (485); Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 20, 75 ff., 90; ders., Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 89 ff.; Zaczyk, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 103 (105) sowie neuerdings Stübinger, FS Paeffgen (2015), S. 49 (51 ff.) mit historischer Linienführung. 31 Vgl. z. B. Schild, in: Müller/Otto (Hrsg.), Damit Erziehung nicht zur Strafe wird (1986), S. 29 (30 f.). 32 Jedenfalls in Reinform wird sie nicht mehr vertreten, s. dazu im 4. Teil. Die Brauchbarkeit für ein „modernes“ Strafrecht steht also noch einer Überprüfung aus. 33 Dass dies nicht zwingend sein muss, zeigt Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 324, anhand der Schuld in Hegelscher Rechtsphilosophie, auf. 34 K. Günther, Der strafrechtliche Schuldbegriff (1997), S. 48 (81 f.) umschreibt dies als „Merk-Mal“ (von „merken“), welches im kollektiven sozialen Gedächtnis gespeichert wird und stets die Irreversibilität vor Augen führt. 35 Lemma „sollen“, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch 24(2002), S. 856. 36 Zum Instanzbezug, vgl. Bron, in: Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon Band 4 3(1996), Stichwort: Schuld, S. 114. 37 Zu diesen vier Schuldbegriffen, Karl Jaspers, Die Schuldfrage (1946), S. 31.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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Mit diesem kurzen, summarischen Einstieg soll die sprachwissenschaftliche Analyse bereits beendet sein. Sie liefert indes eine ausreichende Kostprobe dessen, welche mannigfaltigen Auswirkungen im Detail ein Diskurs über die Schuld hervorbringen kann. Dies lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass Umgangs- und Alltagssprache in ihrer Ausgestaltung porös und vage sind. Die Vagheit meint dabei die begriffliche Unschärfe und daraus resultierende Vielfältigkeit, während die Porosität den Umstand angeben soll, dass die Sprache dem zeitlichen Wandel unterliegt, also gewissermaßen „durchlässig“ ist.38 Während man erstgenanntem Phänomen aus juristischer Perspektive relative Gelassenheit entgegenbringen kann, läuft ein Abfinden mit der Vagheit dem juristischen Bestreben, höchste Bestimmbarkeit und damit Rechtssicherheit zu erreichen, diametral zuwider. Aufgabe und Ziel der Rechtswissenschaft ist es dann, für die Praxis präzise Begriffe zum Zwecke zuverlässiger Arbeitsinstrumente zu modellieren. 3. Die Transformation zum Rechtsbegriff a) Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen Um diese begriffliche Schärfe zu erreichen, gibt es zwei mögliche Wege. Der erste Weg besteht darin, ein selbständiges Begriffssystem zu entwerfen. Es gilt dabei, den wissenschaftlichen Gegenstand auf phänomenaler Ebene zu beschreiben, seine Essentialia zu bestimmen und abschließend für den abgegrenzten Begriffsgegenstand zur Kennzeichnung ein Begriffswort zu bilden. Dieses mündet, wenn auch nicht zwangsläufig, in der Kreation einer Fachsprache, die durch Benutzung artifizieller Sprache eine hohe Akkuranz in der fachspezifischen Verständigung ermöglicht. Die Wahl der Begriffsworte steht einer gewissen Willkür freilich offen. Es ist dann Frage der Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit, die Wortschöpfung so zu wählen, dass nicht stetig irritierende Assoziationen entstehen. Angewandt auf die vorliegende Problemstellung hieße dies, dass das, was „Schuld“ im Rechtsleben bezeichnet, u. U. ein aliud gegenüber dem Verständnis der Umgangssprache sein kann. Dieser Weg soll hier als Anknüpfung am „Bedeutungsmodus“ bezeichnet werden. Der zweite Weg knüpft an die vorgegebenen Sprachwelt an und erreicht Klarheit durch Reduzierung des Bedeutungsumfangs. Sachlich handelt es sich um eine Subtraktionsmethode, die der Vagheit der Begriffe durch Negativformeln begegnet. Wenn es schon nicht gelingt, den Gegenstand vollumfänglich (positiv) zu beschreiben, dann wird jedenfalls all das ausgegrenzt, was nicht Bestandteil der Definition sein soll. Im Gegensatz zu anderen, insb. naturwissenschaftlichen Bereichen 38
Terminologie in Anschluss an B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 8 mit Verweis auf Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, zur Porosität S. 150, zur Vagheit a. a. O., S. 67 und öfter. Zum Begriff der Vagheit genauer: Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft 4(2008). Porosität findet dagegen keine Erwähnung; als Begriff der Linguistik daher hier nur unter Vorbehalt.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
operiert die Rechtswissenschaft häufig nach der zweitgenannten Methode; und dieses nicht ohne Unbehagen. Dem Ideal eines deduktiven, geschlossenen „logischen“ Systems kann die Rechtswissenschaft als Geisteswissenschaft in aller Regel nicht Abbitte leisten. Das Selbstverständnis als Wissenschaft leidet mitunter darunter,39 soll für den Fortgang hier aber nicht weiter interessieren. Denn neben allen möglichen Einwänden bietet die induktive Subtraktionsmethode auch Vorteile. Das Recht mit seinen Institutionen ist stets Teil der gelebten Wirklichkeit einer Gesellschaft. Folglich muss sich das Recht auch stark an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientieren, d. h. in gewisser Weise „volksnah“ sein.40 Die Authentizität eines Strafurteils „im Namen des Volkes“ stünde nachdrücklich in Frage, wenn es sich fernab jeglicher gesellschaftlich verankerter Ideen und Begriffswelt bewegte. Es hat also durchaus Sinn, als Ausgangspunkt die Umgangssprache heranzuziehen. Insofern lässt sich eine reine Beobachterperspektive, die der Wissenschaftstheorie gerne vorschwebt, im Bereich Recht auch nur schwerlich einnehmen, geschweige denn durchhalten. Denn je stärker die generalpräventive Kraft, die man dem Strafrecht zumessen will, eintreten soll, desto mehr muss auch die Umgangs- und Alltagssprache in die Überlegungen integriert werden. Der Umgang mit dem Recht erfordert also wenigstens in letzter Instanz eine Teilnehmerperspektive, um die Adressaten des Rechts, den Bürger, ohne weiteren Transformationsakt zu erreichen. In Anlehnung an die Heck’sche Terminologie41 gilt es nunmehr den weiten Begriffshof abzuschreiten um den Begriffskern der Schuld zu destillieren, der für die Rechtsbetrachtung von Relevanz ist. Der „weite Schuldbegriff“ muss also inhaltlich und systematisch konkretisiert werden, um sie für (möglichst) eindeutige Rechtsentscheidungen fruchtbar zu machen. b) Schuld als Terminus rechtlicher Verantwortung Die vorherigen Überlegungen deuten an, dass die „Rechtsschuld“ kein aliud gegenüber anderen Schuldverständnissen sein soll. Die Betonung liegt daher auf dem kennzeichnenden Präfix „Recht“. Eine von diesem Horizont ausgehende Abschichtung bezieht sich dann auf die Kant’scher Philosophie entnommene Trennung
39 Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft steht mitunter in Frage, soll hier aber selbstbewusst vorausgesetzt werden; entsprechend Ipsen, Staatsrecht II 13(2010), Rn. 531. 40 Das soll nicht zu Missverständnissen verleiten, dass andere Forschungsbereiche außerhalb der Gesellschaft im Sinne einer Lebensfremdheit oder anderer Despektierlichkeit stünden. Man darf allerdings davon ausgehen, dass die wenigsten Menschen, die technische Geräte wie Fernsehen, Mobiltelefon oder Autos nutzen zu wissen, über deren Funktionsweise im Detail Bescheid wissen – bzw. überhaupt daran interessiert sind. Ähnlich dürfte es sich im Bereich der Medizin verhalten: wie der Heilungserfolg zustande kommt, spielt selten eine Rolle. Ganz anders verhält es sich mit dem Recht. Der Jurist muss Überzeugungsarbeit leisten, denn darüber was gerecht ist, wird allseits eine Meinung gebildet. 41 S. bei Engisch, Einführung in das juristische Denken 11(2010), S. 193 f.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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von Recht und Moral.42 Gilt Recht als das sozialethische Minimum einer Gesellschaft43, können sich Recht und Moral selbstredend nicht als zwei isoliert gegenüberliegende Kreise begegnen. Das Recht ist vielmehr Teil der geltenden moralischen Normen.44 Der Unterschied liegt lediglich in formaler Natur begründet: das Recht zeichnet sich durch seine Verbindlichkeit aus.45 Die Verbindlichkeit äußert sich dergestalt, dass die Normen gegebenenfalls mit Zwang durchgesetzt werden können. Für jede Schuldbetrachtung folgt daraus, dass als Gegenstand rechtlicher Betrachtung niemals die Schuld herangezogen werden darf, deren Gehalt ausschließlich moralischer Natur ist.46 Die Rede von der Rechtsschuld erteilt damit im Grunde sämtlichen Ansätzen eine Absage, die (ausschließlich) an ein individualethisches oder lediglich moralisches Versagen anknüpfen. Denn der Blick auf die Garantien der Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 1 GG zeigt, dass der Staat im Geiste der freiheitlichen Entfaltung des Individuums in ethisch-wertender Beziehung Zurückhaltung üben muss.47 Schuldkonstruktionen jeglicher Art müssen dies berücksichtigen. Die Rechtsschuld im Strafrecht bildet nun die gedankliche Brücke von der mit Zwang bewährten Verbindlichkeit zur strafrechtlichen48 Verantwortlichkeit.49 Es 42 Nahezu strafrechtliches Allgemeingut, dazu bei Bielefeldt, GA 1990, S. 108 (111); Kühl, ARSP Beiheft 73 (1990), S. 139 (144 f.); ders., FS Spendel (1992), S. 75 (81); ders., FS Lampe (2003), S. 439 (453); Zaczyk, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 103 (107). 43 Zurückgehend auf Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe (1967/1878), S. 42/5; vgl. auch Welzel, FS für J. v. Gierke, (1950), S. 290 (293); ders., FS für F. Schaffstein, (1975), S. 45 (50); Kühl, FS Schreiber (2003), S. 959 (961). 44 Welzel, FS für J. v. Gierke, (1950), S. 290 (293). In der Formensprache gibt es in der Rechtswissenschaft auch bedeutsame Abweichungen. So wird Recht auch als zum Teil außerhalb des sozialethischen Kreises gesehen, z. B. bei Lampe, Strafrechtsphilosophie (1999), S. 272 ff. Die Rede ist dann von Normen ohne sozialmoralische Fundierung, was insbesondere im Ordnungswidrigkeitenrecht angenommen wird. Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Legitimität von grundrechtsbeschränkenden Verhaltensnormen muss indes zwingend von einem legitimen Zweck, der mit einem Eingriff verfolgt wird, ausgegangen werden. Der Rang des geschützten Rechts und die diesbezügliche Eingriffsintensität können es wiederum erlauben, dass die verfolgten, „sozial-ethischen“ Interessen weniger gewichtig sind. 45 Vgl. bspw. H.-L. Schreiber, FS Dünnebier (1982), S. 633 (635); Kersting, ARSP Beiheft 37 (1990), S. 62 (63). 46 Der Ansatz, der das ethische Substrat der Rechtsschuld herausstellt, findet sich schon früh bei Max Ernst Mayer, Die schuldhafte Handlung (1901), S. 105. 47 Als anschauliches Beispiel aus der jüngeren Rechtsgeschichte dient die Reform des Ehescheidungsrechts durch das 1. EheRG v. 14. 6. 1976, 1976 BGBl I 1421. Die Aufgabe des Verschuldensprinzips zugunsten des Zerrüttungsprinzips erfolgte in der Einsicht, dass ein Abstellen auf die Kategorie „Schuld“ in dem Zusammenhang von der Warte des Rechts wenig fruchtbar ist. 48 Die Philosophie kennt ein breites Spektrum von Verantwortung(sbegriffen), welchem in diesem Rahmen nicht nachgegangen werden kann. Zu Konzepten und Problemen in der Philosophie s. Heidbrink, Kritik der Verantwortung (2003). 49 Der schillernde Begriff der Verantwortung kann als kein Terminus eindeutiger Bestimmtheit gelten. Man wird nicht abstreiten können, dass Verantwortung nur ein anderes
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
bietet sich an, Verantwortlichkeit als Referenzbegriff in die Diskussion einzuführen, da dessen Wurzeln auf die forensische Situation verweisen.50 Dabei dient in hiesiger Nomenklatur Verantwortlichkeit als Begriff einer nur formalen Kennzeichnung. Anders als beispielsweise im französischen Recht des Code pénal51 spielt die Verantwortlichkeit als Rechtsbegriff selbst für das Strafrecht keine hervorgehobene Rolle. Mitunter taucht sie zwar als eigenständiger Terminus wie im JGG, bzw. § 12 OWiG, auf. Es sind dies aber genau die Bereiche, in denen Schuld als Rechtsbegriff eigentlich umgangen werden soll. Das Recht der Ordnungswidrigkeiten muss sich von kriminalstrafrechtlicher Begrifflichkeit distanzieren, im Jugendstrafrecht gilt es, neben pädagogischen Zwecken eine besondere Systematik zu beachten.52 In dieser Form ist Verantwortung ein (neutraler) Kategorienbegriff und kennzeichnet dabei schlicht das Faktum der Haftung.53 Es soll hier lediglich ausgedrückt werden, dass ein Mensch von der Gesellschaft für ein Verhalten zur Rechenschaft gezogen wird. Im ersten gedanklichen Zugriff bleibt eine Verantwortung(szuweisung) ohne Schuld logisch denkbar, denn über den Grund für die Haftung ist nämlich noch keine Aussage getroffen. Dieser könnte aus der Schuld herrühren, wenn man Schuld als Grund für die Verantwortung ausmacht, oder aber die Schuld könnte eine spezifische Form, ein Typus von Verantwortlichkeit selbst sein. Auch wenn die Kriterien der klassischen aristotelischen Definitionsregel als ein Genus proximum zur Schuld zwar nicht zwingend erfüllt werden, genügt die Arbeitshypothese, dass Verantwortung einen umfangreicheren Begriffskomplex darstellt. Soweit auf einen der Schuld übergeordneten Begriff zurückgegriffen werden muss, kann Verantwortlichkeit die Diskussion in geeigneter Weise strukturieren. c) Schuld als strafrechtlicher Systembegriff Über diese erste, inhaltliche Eingrenzung soll des Weiteren eine funktionelle Begriffsbinnendifferenzierung vorgenommen werden. Anknüpfend an die Klassiheuristisches Prinzip als die Schuld umfasst; zu den rhetorischen Implikationen von Verantwortung im Recht ausführlich Klement, Verantwortung (2006), S. 27 ff., 194 ff. Zumindest mit der Abbreviatur der Verantwortung als intendiertes Steuerungsmodell durch des Recht als eine Art Oberbegriff wird sich die Darstellung hier begnügen können, übernommen aus Klement, Verantwortung (2006), S. 29. 50 In seiner ursprünglichen Bedeutung findet man „verantworten“ im Sinne von „sich als Angeklagter verteidigen“. S. „Verantwortlichkeit“, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch 24 (2002), S. 950. 51 Titre II: „De la responsabilité pénale“ (Artt. 121 – 122 Code pénal). 52 Obwohl § 3 JGG ähnlich wie § 17 StGB von Unrechtseinsicht spricht, ist der Mechanismus hinsichtlich der Reifediagnose ein anderer, dazu Walter/Kubink, GA 1995, S. 51 (56 f.). Er ähnelt zwar dem des § 20 StGB, und im Zusammenhang mit § 19 StGB ließe sich eine Art „relative“ Schuldunfähigkeit denken, doch ist es wohl Anliegen, sich nicht in strafrechtlicher Systembegrifflichkeit zu verstricken. 53 Bei Frister, Schuldprinzip (1988), S. 17 mit Rekurs auf das gesellschaftliche Faktum der Selbstbestimmung.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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fikation Achenbachs54 lassen sich Schuldidee, Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld voneinander scheiden. Die Schuldidee55 betrifft die rechtsphilosophische Diskussion nach Grund und Grenze der Strafbarkeit. Sie soll die überpositiven Strukturen offenlegen, die es rechtfertigen, dass die Gesellschaft Strafe verhängen darf. Angesprochen ist damit das Fundament des gesamten (Schuld-)Strafrechts überhaupt.56 Über das Vehikel der Schuldidee finden so schließlich jahrhundertelange Traditionen von Philosophie und Zivilisationsgeschichte Eingang in die verschiedenen Schuldtheorien; wenig überraschend ist es daher, dass dieser Bereich einen breiten Raum in der Diskussion um die Schuld einnimmt.57 Da die Schuldidee begrifflich auf vorrechtlicher Ebene agiert, sind Aussagen zur Schuldidee nicht an positives Recht gebunden, sondern sollen darum gerade auch ihr kritisches Potential entfalten können. Insofern kann man die Schuldidee als metajuristisch auffassen.58 Auf der anderen Seite war es immer Ziel der Strafrechtswissenschaft, die Schuldtheorie zu entwickeln, die das geltende Recht erschöpfend umschreibt. Insofern sind Bemühungen um die „Schuldidee“ auch stets Bemühungen, den (gegenwärtigen) Rechtsgehalt möglichst umfassend auszuschöpfen. In Form der Strafbegründungsschuld tritt die Schuld als strafdogmatischer Systembegriff auf, der sich notwendig auf das positive, wenn auch nicht unbedingt auf das aktuell geltende Recht bezieht.59 Innerhalb der Konzeption des allgemeinen Straftatbegriffs nimmt sie die letzte Stufe60 ein und individualisiert das Strafunrecht. Während bei der objektiven Zurechnung die Verantwortlichkeit auf genereller Ebene („Jedermann“ bzw. „Niemand“) über die Urheberschaft einer Kausalität im Sinne menschlicher Beherrschbarkeit begründet wird, begrenzt diese subjektive Zurechnung den Verantwortlichkeitsmaßstab auf die Sphäre des individuellen, konkreten Täters.61 Auf diese Weise lässt sich die Strafbegründungsschuld als das Komplementär zur objektiven Zurechnung auffassen. Zur Strafbegründungsschuld gehören dann all jene Momente, die das Gesetz für das Vorliegen einer schuldhaften Tat verlangt. Mit dieser fast tautologisch anmutenden Umschreibung ist auch schon der wissenschaftliche Konsens wiedergegeben. Was über diesen Formalbegriff hinaus 54 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 2 ff., dort auch mit Nachweisen zur Diversität terminologischer Begriffsschöpfungen. 55 Achenbach selbst führt den Begriff auf Artur Kaufmann zurück. S. Art. Kaufmann, Das Unrechtsbewusstsein in der Schuldlehre (1949), S. 33 f. 56 S. im Einzelnen Achenbach, a. a. O., S. 3. 57 S. dazu unter II. 1. b). 58 S. Achenbach, a. a. O. 59 S. im Einzelnen Achenbach, a. a. O., S. 4 f. 60 Je nach Anschauung wird ein drei – bzw. zweigliedriger Verbrechensaufbau propagiert. 61 Hassemer, FS Bemmann (1998), S. 175 (179) nennt die Beherrschbarkeit und Verantwortlichkeitsdenken als die beiden basalen Zurechnungsprinzipien. Das soll im Folgenden vorausgesetzt werden.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
denn nun die Schuldhaftigkeit ausmacht, ist umstritten.62 Nicht alle Strafausschließungsgründe müssen Schuldausschließungsgründe sein. Allerdings müssen gemäß dem Satz „nulla poena sine culpa“ alle strafbegründenden Elemente auf die Schuld zurückführbar sein, denn die Schuld entscheidet letztlich über die Strafe. Schließlich entscheidet die Strafzumessungsschuld nach dem „Ob“ der Strafverhängung über das „Wie“. Mit Hilfe der Strafzumessungsschuld soll die Höhe der zu verhängenden Strafe bestimmt werden. Schuld in diesem Zusammenhang liefert ein Maßprinzip. Diese dreiteilige funktionale Autarkie in Maßprinzip, dogmatischen System- und metajuristischen Argumentationsbegriff macht deutlich, dass eine Vereinigung in einem „Schuldoberbegriff“ durchaus nicht ohne Probleme vonstatten gehen kann. Ob dieser Befund allerdings tatsächlich fordert, von drei selbständigen Schuldbegriffen auszugehen,63 soll an dieser Stelle ausdrücklich noch offen bleiben. Geht man davon aus, dass ein gemeinsamer Begriffskern nicht zufällig sein kann, sollte die Suche nach einem geistigen Band, das alle drei Begriffe zusammenhält, trotz unterschiedlicher gedanklicher Ebenen nicht vorschnell verworfen werden. Jedenfalls kann sich diese Aufgliederung als nützlich erweisen, die Argumentation im weiten Feld der Schuld zu organisieren.
II. Die strafrechtliche Schuld – rechtsdogmatische und ideengeschichtliche Grundlagen Wird die Frage nach den Grundlagen des anzuwendenden Rechts aufgeworfen, findet man sich regelmäßig auf die sog. Grundlagenfächer der Rechtswissenschaft verwiesen. Für die Frage, was denn Recht sei, werden die Perspektiven der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie (und/oder Methodenlehre) sowie die Rechtssoziologie herangezogen um das Dunkel zu erhellen. Soweit Schuld als Rechtsphänomen behandelt wird, bietet es sich selbstredend an, eben diese Rechtsschuld von den genannten Perspektiven her auszuleuchten. Entscheidend sind dabei weniger differenzierte Ergebnisse und konkurrierende Theoriebildung an sich. Die juristische Sozialisation ist zwar bestimmt vom Denken in Theorienblöcken, die als einzelne Module zur Verfügung stehen, um letztlich die anstehende Rechtsfrage, gekleidet in einen praktischen Fall, zu lösen. Da nimmt es wenig wunder, wenn sich die Wissenschaft im Ergebnis gerne in Theorienbildung artikuliert. Das schadet nicht, wenn die Wahrheitsorientierung dabei nicht aus dem Blick gerät. Denn verstanden als Wissenschaft kann die Jurisprudenz nur an ihrem Erkenntnisgegenstand arbeiten, es geht also stets um Recht und Gerechtigkeit. Eine monoparadigmatische Ausrichtung birgt deshalb die Gefahr, einen konkreten Gegenstand unzureichend zu erfassen. Eine Synthese wiederum gelingt – (wenn überhaupt) – freilich nur um den Preis 62 63
S. dazu im, 2. Kap. A. III. So Achenbach, der im Ergebnis drei selbständige Schuldbegriffe bildet.
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geringerer Präzision und Detailarbeit in der Darstellung der unterschiedlichen Bausteine. Deshalb soll mit folgender kursorischer Betrachtung nur ein Überblick geleistet werden, der einen Eindruck von einer jeweils möglichen paradigmatischen Ausrichtung geben soll. Idealtypisch64 kann danach die Rechtsphilosophie zur Idee der Gerechtigkeit befragt werden, die Rechtssoziologie zur Wirklichkeit der Schuldpraxis und die Rechtstheorie in Gestalt der Dogmatik nach immanenten Zusammenhängen. 1. Die Anthropologie der Schuldidee Die Omnipräsenz im Alltagsleben65 stellt die Schuldidee als gesellschaftliches Phänomen in den Range eines kulturellen Archetypus, dessen Wurzeln sowohl zeitlich gesehen in unkenntliche Tiefe reichen als auch in der thematischen Breite weit Verzweigungen eingehen können. Analytisch gewendet ist die Schuldidee, wie bereits erwähnt, in zweifacher Hinsicht auf der Metaebene angesiedelt. Die Schuldidee ist erstens ihrer Struktur nach überpositiv,66 das heißt Ausführungen müssen weder aus dem geltenden Recht entwickelt werden noch an dessen Grenzen Halt machen. Aussagen zur Schuldidee sind folglich kontingent. Damit öffnet sich ein weites Feld rechtspolitischer Möglichkeiten, die das jeweils aktuell geltende Recht kritisch begleiten können. Auf diesem Feld bewegen sich letztlich auch, gleichwohl antithetisch, die Schuldkritiker. Die wissenschaftliche, inhaltliche Position in der Schuldidee ist mithin abgetrennt von den Rechtsanwendungsbegriffen.67 Unter Zugrundelegung der geltenden Rechtsanwendungsbegriffe und deren Ausschöpfung nimmt die Schuldidee zweitens den Rang eines dialektisch gewonnenen Oberbegriffs an. Eine Rekonstruktion dieser Kontingenz in Vollständigkeit kann selbstredend nicht angestrebt werden. Es kann im Folgenden infolgedessen auch nicht darum gehen, sich mit den zahlreichen Schuldkonzepten der Menschheitsgeschichte in Breite auseinanderzusetzen. Hervorgehoben werden lediglich einige Marksteine der Evolutionsgeschichte der Schuldidee. Der Beginn der Schuldidee überschneidet sich im Prinzip mit dem Beginn der differenzierten Gesellschaft. In den archaischen Gesellschaften lässt sich in aller Regel entweder noch kein Subjekt nach unserem Verständnis abstrahieren68 oder deren Vorstellungswelt war derart von mythischem Denken geprägt, dass ein Schicksalsglaube ein Bild von individueller Schuld wenigstens noch überlagerte.69 64 S. bspw. das Schaubild zum Verhältnis der Grundlagendisziplinen bei Kunz/Mona, Kap. 2, Rn. 30. 65 Vgl. den Prolog unter A. 66 S. bereits Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 3. 67 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 7 f.; zu älteren Einwänden gegen diese Aufspaltung, a. a. O. bei Fn. 27. 68 Einen Überblick bei Nass, Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs (1963), S. 25. 69 Nass, Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs (1963), S. 34 ff.
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Erst im Zeitalter der griechischen Antike, soweit man in der polis einen prästaatlichen Vorläufer anerkennt, entfaltet sich eine Idee von Schuld. In ihrer Ausgestaltung und Bedingungen findet sie allmählich, oftmals über mystische Erzählungen und Heldensagen transportiert, Einzug in das Denken.70 Von einem Rechtsbegriff der Schuld sind diese Ansätze freilich noch weit entfernt. Dies ändert sich erst mit der Vorherrschaft der Kirche und des kanonischen Rechts. Die Theologie gibt der Schuld die bis heute anhaltenden Grundformen, mit der sich die (Rechts-)Philosophie seit der Aufklärung sowie die soziologische Perspektive im Grunde bis heute auseinandersetzen. Eine kurze essayistische Annäherung soll dieses Wechselspiel mit seinen strukturellen Einflüssen auf die kontemporäre Methodik der Schuldpraxis identifizieren.71 Der daraus gewonnene Horizont von Schuldkonzeption bildet die Basis für den Fortgang der Untersuchung. a) Kirchlich-theologische Perspektive In einem säkularisierten Staat zunehmender religiöser Inhomogenität behandelt die kirchlich-theologische Perspektive im Grunde einen Anachronismus. Die kategoriale Trennung von Kirche und Staat macht eine direkte Einflussnahme ohnehin im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Wertneutralität in Religionsfragen problematisch. Das schließt allerdings nicht aus, dass einzelne Wertvorstellungen über den legislatorischen Willensbildungsprozess der Parteien in Sachen Strafrechtsgesetzgebung dennoch indirekt Eingang können finden. Der Nachweis der Gegenwärtigkeit christlich-abendländischer Wurzeln in unserer Rechtskultur bereitet denn auch kaum Probleme, rudimentär lassen sie sich selbst in der Verfassung beobachten.72 An der historischen Dimension führt jedenfalls kein Weg vorbei, um sich die anthropologischen Wurzeln der Schuldidee zu vergegenwärtigen. Die Religionsgeschichte liefert zwar weder eine lückenlose noch ideologiefreie Darstellung von menschlicher Kulturgeschichte, dürfte aber weiterhin die am besten dokumentierte Tradierung darstellen. Dies gilt im Allgemeinen für die zeitgenössische Perspektive; mit der Wirkung, dass gerade religiöse Vorstellungsinhalte einen relativ hohen Verbreitungsgrad hatten und folglich für vergangene und jeweils darauf folgende Gesellschaften einen besonders nachhaltigen Prägungsgrad aufweisen konnten. Im Besonderen gilt dies für die Zeit des Mittelalters.73 70
Siehe überblicksartig die Zusammenstellung bei Glei, in: HWPh Band 8 (1992), Sp. 1442 ff. unter dem Stichwort „Schuld“. 71 Ziel der Darstellung muss eine Reduktion von Komplexität sein. 72 So die Präambel des GG: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […]“. Vgl. GG-Sachs/Huber 6(2011), Präambel Rn. 38. Die Aufnahme der Formel als solche gilt als fragwürdig, wenngleich rechtlich unbedeutend. Ausführlich GG-Dreier/ Dreier 2(2004), Präambel Rn. 25 ff. Allgemein zu christlichen Sozialisation des Rechts s. N. Horn, Einführung 5(2011), Rn. 84 ff.; Jochen Müller, Religion und Strafrecht (2008), S. 67 f. Zum Menschenbild des Grundgesetzes s. die Diskussion um die „Willensfreiheit“ bei B. II. 3. 73 Wirkeinflüsse mittelalterlicher Kanonistik zeigt Dreier, JZ 2002, S. 1 ff. auf; zum Strafrecht a. a. O., S. 3 f.
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aa) Das theologische Begriffsverständnis weist auf einen engen Zusammenhang von Schuld und Sühne hin. Dabei bildet Sühne eine Form von „Tiefendimension von Schuld“74, so dass die beiden Begriffe in einem Komplementärverhältnis gesehen werden.75 Die Sünde bezeichnet den Bruch mit der Göttlichkeit,76 mit anderen Worten die objektive Verletzung der göttlichen Ordnung. Mit der Verhängung der Strafe galt es diese Ordnung (symbolisch) wiederherzustellen. Soweit ein wörtliches gegenüber einem allegorischen Verständnis der heiligen Schrift herrschte, war der Blick eher auf Erfolgshaftung gerichtet, die wenig Raum für individuelle Schuldüberlegungen ließen.77 Im Zuge der Konstantinischen Wende erlangte das Christentum unter Wirken der römischen Kaiser Konstantin I. und Licinius im Jahr 380 den Rang einer Staatsreligion.78 Damit war der langfristige Einfluss der Kirche auf die politische Herrschaft in Mitteleuropa geebnet. Diese enge Vernetzung von Weltlichkeit und Geistlichkeit war der bahnbrechende Machtfaktor für die römische Kirche mit zunächst symbiotischem Einschlag. Die Einsetzung des weltlichen Herrschers beruhte auf einem actum divinum, dessen Bekräftigung ein Akt der Kirche bedurfte. Im Gegenzug sicherte die politische Herrschaft den Machtbereich der Kirche ab. Der Konservierung dieser Machtstellung willen galt es den Einfluss in der irdischen Welt deutlich zu machen; ein Gebot, das Individuum verstärkt in den Blick zu nehmen. Das rein formale Sündenverständnis reichte dafür nicht aus, so dass die Umstände in persona für die mittelalterliche Kirche zunehmend an Bedeutung gewannen.79 Die Kanonisten machten sich daraufhin den Doppelbegriff aus Sünde und Verbrechen, zurückgehend auf die Theologie Abaelards, zu Nutzen. Das Verbrechen bestand in der Sünde vor Gott und in der Straftat vor der Kirche.80 Das gesinnungsorientierte himmlische Forum war freilich institutionell und dogmatisch nicht fassbar, denn über den Willen zu befinden bleibt der göttlichen Instanz vorbehalten. Das irdische Forum benötigte also ein Scandalum, also Ärgernis, über das zu richten war. Dieses Ärgernis bestand in dem Heraustreten des Willensentschlusses in Form des „Erfolgs“ in der Außenwelt. Die Manifestation des Willens und im Zuge dessen die Sichtbarmachung dieses Willens waren die beiden Wesensmerkmale der Schuldfindung und -beurteilung. Dies erklärt schließlich den Aufstieg des Sündenbekenntnisses („confessio“) zum Hauptbestandteil der kirchlichen Aufarbeitung von Verbrechen. Der Akzent verschob sich von erfolgsverhafteten öffentlichen Bußritualen hin zur Individualisierung von Schuld, dessen Prozess schließlich in der 74
Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 7. Der biblische Sprachgebrauch differenziert nicht im eigentlichen Sinne, vgl. Bron, in: Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon Band 4 3(1996), Stichwort: Schuld, S. 114. 76 LThK/Neubacher, Stichwort: Sünde 3(2000), S. 1118; RGG/Krötke 4(2004), Stichwort: Schuld, S. 1868 sowie Schneider/Flume, in: Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon Band 4 3(1996), Stichwort: Sünde, S. 567. 77 Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 8. 78 Dazu Jochen Müller, Religion und Strafrecht (2008), S. 9 f. mit Nachweisen. 79 LThK/Schuster 3(2000), Stichwort: Schuld, S. 276. 80 Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 9. 75
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let\moia (metanoia), also Umkehrleistung (Reue/Buße) zu münden hatte.81 Dieses Deutungsmonopol der Kirche war angesichts der Illiteratizität weiter Bevölkerungsteile jenseits des Klerus über Jahre hinweg auch nicht zu durchbrechen. Religion war auf diese Weise ein überdauerndes Mittel sozialer Disziplinierung. Die Allianz von Staat und Kirche erwies sich aufgrund deutlicher Konvergenz von weltlichen und religiösen Zielen bis zum Aufkeimen der Epoche der Aufklärung als stabiles Konstrukt.82 Bis in die Gegenwart behält die Reziprozität von Sünde und Schuld mit seinem gedanklichen Fluchtpunkt in der Vorstellung der christlichen Erlösungslehre seine Bedeutung. Beginnend mit der Ursünde und Vertreibung aus dem Paradies degradierte sich der Mensch zum Sünder, der Tod Christi am Kreuz eröffnete gemäß der sog. Satisfaktionslehre die Restitution des Menschen.83 Die christliche Coincidentia oppositorum von Gottesebenbildlichkeit vs. Sünder ist letztlich nur im Begriff der Freiheit, resp. des Missbrauchs derselben, begrifflich aufgehoben.84 Dieses Spannungsverhältnis wird von theologischer Seite noch heute mit dem Begriff der Schuld ausgekleidet. Der sich darin offenbarende Aspekt des debitum kennzeichnet aus theologisch-ethischer Perspektive entgegen kontraphilosophischer Ausrichtung85 weniger die Zwangssituation, sondern prospektiv das freiwillige Bekenntnis zur Übernahme von Verantwortung im Geiste der Verheißung der Erlösung. Die virulente Thematik der Verantwortung soll bewusst nicht einem Vakuum überlassen werden.86 Das Sünden-Sühne Motiv ist mithin auf Versöhnung mit Gott gerichtet.87 Mit dem zentralen Schuldparadigma der Versöhnung steht die Schuld folglich immer im Kontext der prospektiven Schuldvergebung. bb) Die Parallelen zum kontemporären Verständnis von Schuldstrafrecht lassen sich ohne weiteres ziehen, denn die Orientierung am nach außen getretenen, schadhaften Willen bildet nach wie vor das Muster für die Bestrafung der Vorsatztat. Die Charakterisierung als Willensstrafrecht trifft daher eine akkurate Bezeichnung – ungeachtet des heute eher pejorativen Gebrauchs dieser Bezeichnung. Die Straftat ist ein Willensprodukt und folglich tritt Schuld als Willensschuld auf. Phänomenal betrachtet bietet gerade dieser Zusammenhang eine Einbruchstelle bzw. einen An-
81 Zum Ganzen wiederum Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 9 ff. 82 Jochen Müller, Religion und Strafrecht (2008), S. 13 ff. mit weiterführenden Nachweisen. 83 Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 15 f. 84 Vgl. zum Vorstehenden RGG/Gräb-Schmidt 4(2004), Stichwort: Schuld, S. 1020. 85 Im Besonderen und mit nachhaltigem Einfluss, Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887); s. auch ders., Der Antichrist – Fluch auf das Christentum, (1895). 86 LThK/Schuster, Stichwort: Schuld 3(2000), S. 280 ff. 87 Gründel, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 423 (432); Daniela Müller, Schuld und Sünde, Sühne und Strafe (2009), S. 15 ff., 17.
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griffspunkt für Kritiker des geltenden Schuldstrafrechts.88 Die christliche Theologie verwendet Schuld als eine Art Tendenzbegriff. Er beschreibt mehr ein vorläufiges Stadium denn endgültigen Status. Mit der vorweggenommenen Entwicklung gibt es zudem eine Tendenz mit prospektiver Ausrichtung. Im Lichte göttlicher Gnade erweist sich Schuld als tragbare Belastung, weil Versöhnung zu erreichen ist. Einen analogen Gedankengang – wenn auch weder offen noch zwingend religiös motiviert – findet sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977.89 Danach gebieten das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenwürde es, Strafe als potentiell endlich zu gestalten. Im heutigen Strafrecht lässt sich dieser Tendenzcharakter unter dem Aspekt der Resozialisierung wiederfinden. Ein Begriff absoluter, „unendlicher“ Schuld ist obsolet geworden. Auf der anderen Seite verkörpert die generalpräventive Seite der Strafe eine Bekräftigung der verletzten Norm. Dies weist rein strukturell bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu einem Glaubensbekenntnis auf.90 Die Bedeutung der theologischen Perspektive ist also nach wie vor aktuell eine zweifache: neben der Retrospektive als Teil der Rechtsgeschichte liefert sie prospektiv einen Impuls zum Umgang mit Schuld.91 b) Schuld in der (Rechts-)Philosophie In Zeiten eines säkularisierten Staatsmodells verpflichtet sich selbstredend auch das Strafrecht zur religiösen Distanz. Die religiöse Provenienz der Schuldrhetorik ist im Ergebnis auch einer der Gründe, warum die Rede von Schuld im Strafrecht einen schlechten Stand genießt. Vom Gesamtspektrum der Philosophie betrachtet stellt die (christliche) Religion natürlich nur ein Beispiel eines ethischen Pflichtmusters bereit, dessen Behandlung die komplexe Thematik nicht erschöpft. Deren Nachvollzug insgesamt ist in diesem Rahmen nicht zu leisten. In diesem Zusammenhang interessiert lediglich die philosophische Perspektive vom methodischen Ansatz her. Zu stellen ist nämlich die Frage der Legitimation und Begründung von Schuldverhängung und ihre methodische Absicherung. Es geht also entscheidend darum, wie man das richtige Rechtsverständnis in Sachen Schuld aufspürt; was unweigerlich den Blick richtet auf den Fluchtpunkt aller rechtsphilosophischen Überlegungen: die Gerechtigkeit.
88 S. „Die soziologische Perspektive“ unter c). Bemerkenswerterweise wird dabei häufig übersehen, dass selbst von theologischer Seite mit der „Zwei-Regimente-Lehre“ eine Emanzipation des Rechts vorausgesetzt wird, vgl. dazu Beintker, MJTh 14 (2002), S. 41 (44 f.). 89 BVerfGE 45, 187. 90 Dieser Hinweis ergeht bei Montenbruck, FS U. Weber (2004), S. 193 (198 f.). 91 Die rechtliche Seite dieser theologischen Perspektive ist stark mit dem Namen Artur Kaufmann verbunden; dazu noch unten. Lüderssen, GS M. Walter (2014), 867 (874) hält die Theodizee im Strafrecht noch für allgegenwärtig.
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aa) Die Tradition der Zurechnungslehren Mit der frühmittelalterlichen Christianisierung Europas begann die lang andauernde Deutungshegemonie der katholischen Kirche. Erst über die gedankliche Brücke der Theodizee am Ausklang des Mittelalters kommt die Begründung von Schuld (wieder) auf den philosophischen Prüfstand. Im Kontext des Theodizeestreits wurde die Frage nach der Behandlung des Bösen erst virulent,92 denn die Legitimation von Schuld(-zusprechung) an sich kommt bei Rückgriff auf eine göttliche Instanz nicht in den Blick, welches mithin schließlich auf Rechtfertigung(-sversuche) derselben hinausliefe. Gerade dies änderte sich im Zeitalter der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Denken emanzipierte sich von jeglicher apriorischen Autorität. Dagegen sollte die menschliche Vernunft das handlungsleitende Paradigma werden. Staat und Gesellschaft sind nicht mehr vorgegeben, sondern werden durch Lehren vom Gesellschaftsvertrag (Hobbes, Locke, Rousseau) fundiert. Im Geiste rationalistischer Philosophie wird spekulative Metaphysik zugunsten von Empirie und Logik verdrängt, was die Wiederbelebung der Kategorie des Naturrechts befördert.93 Das anthropozentrische Menschenbild betont nunmehr Personalität, relative Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung – ein Befund der die Zurechnung auch am Individuum ausrichtete. Im Zentrum des hiesigen Interesses stehen nun die Zurechnungslehren des Naturrechts. Die fortschreitende Entwicklung des Strafrechts steht im engen Verbund mit der Philosophie der Aufklärung,94 wie generell rechtliche Erörterungen als Teildisziplin der Philosophie zu begreifen waren. Von einer genuinen Rechtswissenschaft kann noch nicht die Rede sein. Schuld selbst existierte weder als dogmatischer Ordnungsbegriff noch als Leitprinzip zu der Zeit,95 die behandelten Sachfragen indes waren größtenteils identisch. Derartige Ideen werden historisch erstmalig bei Samuel Pufendorf verortet. In seinem Werk „De Iure Naturae et Gentium“ von 1672 wird Begriff der Zurechnung (lat. imputatio) zu einer allgemeinen Kategorie innerhalb einer (erstmalig) zusammenhängend formulierten Zurechnungslehre96 erhoben und stieg unter seinem
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Marquard, in: HWPh, Band 4 (1976), Sp. 275, Stichwort Imputatio. Zusammenfassend zum Ganzen, Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie 4(1985), S. 31 ff., s. ergänzend N. Horn, Einführung 5(2011), Rn. 313 ff. 94 Siehe auch Frisch, GA 2007, S. 250 (252 f.); Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 30. 95 Ausführlich Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 378 ff., 401; und bereits Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 19 ff. mit Nachweisen in Fn. 11 u. 12. Des Weiteren Vormbaum, Einführung 2(2011), S. 87; Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 21 f. Zaczyk, ARSP-Beiheft 74 (2000), S. 103. 96 Eine Übersicht seiner Zurechnungsgrundsätze bei Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, (1957), S. 87. 93
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Einfluss zum Zentralbegriff der praktischen Philosophie auf.97 „Imputare“ wird zu dieser Zeit als „anrechnen; jmd. etwas auf die Rechnung schreiben“, ein wenig abseits der ursprünglichen Bedeutung von „putare“ (zu Deutsch: reinigen), verstanden. In deutscher Übersetzung entwickelt sich daraus die Rede von „zurechnen“.98 Die Zurechnung beschreibt in diesem Sinne einen Vorgang, in dem der Mensch als Urheber einer Handlung identifiziert wird und für eben diese Urheberschaft eine Pflicht zur Rechenschaftslegung besteht.99 Dabei gilt eine Handlung (actio) als zurechenbar, „wenn sie in der Macht eines Menschen steht, dass sie geschieht oder nicht geschieht.“100 Dadurch, dass das Geschehen mit einer menschlichen Beherrschbarkeit in Verbindung gesetzt wird, verfestigt sich die anthropozentrische Ausrichtung an einem freiheitlich verstandenen menschlichen Willen.101 Es lässt sich eine Wiederbelebung aristotelischer Zurechnungstradition beobachten,102 wobei zu berücksichtigen ist, dass in der Antike die Verschuldung als Widerspruch zur objektiven Ordnung, als deren Teil der Mensch angenommen, gedacht wurde, während fortan das Subjekt in seiner Personalität im Vordergrund stand.103 Den Grund der Zurechnung bildet die freie normbezogene Willenshandlung,104 der Anknüpfungspunkt ist die Vermeidemacht im Sinne menschlichen Könnens, so dass wir hier den gängigen Legitimationsgrund, das sog. Anders-Handeln-Können, bereits bei Pufendorf angelegt sehen. Geläufig wurde die Unterscheidung von imputatio facti (Zurechnung der Tat – als menschliche Handlung im Sinne von Kausalbeziehung) und imputatio iuris (Zurechnung des Rechts – Bewertung der Tat durch das Recht), wenngleich ursprünglich noch als Zwischenschritt die „applicatio legis ad factum“, die „Anwendung des Gesetzes auf die Tat“ (die heutige Subsumtion) im Zurechnungsmodus beschrieben war.105 In Anschluss an die klassische aristotelische Ethik wird die Tat bewertet als verdienstlich (meritum) oder als Effekt einer schlechten Handlung als Unverdienst (demeritum). 97 Gleichwohl lässt sich der terminologische Gebrauch von „Zurechnung“ noch weiter zurückverfolgen, dazu M. Kaufmann/Renzikowski, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 7 (8 f.). S. auch Hruschka, in: HWPh, Band 12 (2005), Sp. 1446. 98 Hruschka, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 17 f. 99 Hruschka, in: HWPh, Band 12 (2005), Sp. 1446. 100 Übersetzung nach Hruschka, ZStW 98 (1984), S. 661, dort auch im Original mit entsprechenden Nachweisen. 101 Die sperrige Wendung „Dasjenige, welches in jemandes Gewalt/Macht gewesen ist“ – Id quod penes aliquem fuit“ – wird alsbald durch die Formulierung „actio libera“ ersetzt, vgl. Hruschka, ZStW 98 (1984), S. 661 (666) in Fn. 10. 102 Wobei es Pufendorf darum ging, den thomistischen bzw. lutherischen Aristotelismus zu überwinden, so jedenfalls Erik Wolf, Große Rechtsdenker 4(1963), S. 336. 103 M. Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 368 f.; weiter ders., FS Hirsch (1999), S. 65 (66). 104 M. Köhler, FS Hirsch (1999), a. a. O. 105 So bei J. J. Lehmann und Daries, s. bei Hruschka, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 22.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
Das Naturrecht wurde in dieser Weise zur sozialgestaltenden Macht des 18. Jahrhunderts, welche sich u. a. in den Menschenrechtserklärungen der Vereinigten Staaten und Frankreichs niederschlugen und das allgemeine Rechtsbewusstsein der Zeit prägte.106 Die Unterscheidung von imputio facti/imputio iuris sollte den Weg für die Schuldformen dolus und culpa ebnen. bb) Zurechnung im deutschen Idealismus Gleichwohl wird aufgrund der Positivität des Rechtsbegriffs – in Form der Gesetztheit und Durchsetzbarkeit – als Wesensmerkmal desselben die Kategorie des Naturrechts allmählich zurückgedrängt. Wenn auch – im Gegensatz zum Positivismus – die Positivität nicht Alleinmerkmal des Rechts wird, so fand sich die ideellnormative Seite nur noch als Komplementärbegriff des Rechts wieder.107 Im Rahmen der Diskussion von Wille und Vernunft blieb der sachliche Gehalt der Zurechnungslehren jedoch erhalten. In „Die Metaphysik der Sitten (1797)“ teilt Immanuel Kant die menschliche Handlung gemessen am nun pflichtbegründenden Gesetz in Verdienst (meritum), Schuldigkeit (debitum) und moralische Verschuldung (demeritum)108 und nimmt die tradierte Differenzierung damit auf. Bei ihm heißt es: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.“109 Bei Hegel110 findet dieses vernunftorientierte Denken seine Fortsetzung. Analog obiger Zweiteilung scheidet Hegel die reine kausal-evozierte „Tat“ gegenüber der
106 Vgl. zum Gesamten Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit 4(1962), S. 162. Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 73 ff., sieht in den Menschenrechten das Schuldprinzip konstituierende Fundament. 107 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit 4(1962), S. 165 f. 108 S. Hruschka, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 17 (24); Stübinger, a. a. O., S. 383 f.; Zaczyk, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 103 (111). 109 Aus Kant, MdS, Einl. IV (AAVI, S. 227), hier zitiert nach M. Köhler, FS Hirsch (1999), S. 65 (68). 110 Es darf hier schon Erwähnung finden, dass Hegel eine 2. Stufe der Zurechnung, eine Metaebene zur eigentlichen Zurechnung, schon in Ansätzen entwickelt hatte. Jenseits der Bestimmung der Handlung wurde das Verhältnis von Zurechnungsadressat und Zurechnungsinstanz in den Blick genommen und die Zurechnung unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit einer kritischen Revision unterzogen, s. Seelmann, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 85 (87 ff.). Es liegt auf der Hand, diese Gedanken für die heutigen Präventionsüberlegungen fruchtbar zu machen. So denn auch Lesch, Der Verbrechensbegriff: Grundlinien einer funktionalen Revision (1999), S. 185 ff., 205 f.; historische Linienführung auch bei Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 (844); ders., Staatliche Strafe (2004), S. 24 ff.; dazu, inwieweit Hegel tatsächlich als „geistiger Vater“ strafrechtlichen Funktionalismus gelten kann, ausführlich Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 288 ff. insb. S. 334 ff. Vgl. auch zu den funktionalen Schuldlehren unter A. IV. 2. in diesem sowie zu der Hybridbildung neuerer Straftheorien das 1. Kapitel im Teil 2 unter A. I. 2.
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„Handlung“ als vom (freien) menschlichen Willen getragener Tat.111 Im Zuge der nunmehr Deutsch schreibenden Wissenschaft verwendet Hegel in diesem Zurechnungskontext bereits das Wort Schuld. Schuld taucht in der Hegelschen Diktion zweifach auf: einmal das Schuld-sein und das Schuld-haben. Schuld-sein wird dabei als bloßes Kausalitätskonstrukt aufgefasst, Schuld-haben verweist auf den erfolgten Zurechnungsakt.112 Obwohl die heutige Alltagssprache beide semantische Formen kennt,113 dürfte die Differenzierungspotenz Hegelscher Denkweise in der Sprache mittlerweile obsolet sein – durchaus ein zu benennender Grund für die um die Schuld rankende Konfusion. Nicht zu vergessen ist hierbei allerdings, dass Schuld in erster Linie als Übersetzung für das lateinische „culpa“ fungiert hatte. Ein akkurat konturiertes Verständnis dieser culpa konnte in dieser Zeit jedoch noch nicht zu erwarten werden. „Culpa“ stand in Abgrenzung zum „dolus“ auf der einen Seite und markierte des Weiteren die Grenze zum nicht zurechenbaren Zufall („casus“). Schuld in dieser Lesart konnte nur die Mindestvoraussetzung einer Zurechnung bedeuten.114 Schuldhaben in diesem Sinne setzt die Zurechnung zum Willen voraus.115 Für diese Zurechnung zur Willensschuld formuliert Hegel Vorsatz, Absicht und Unrechtskenntnis.116 Der basale Grundgedanke ist freilich der Mensch als Vernunftwesen. Die Teilhabe des Menschen an der Vernunftallgemeinheit ist für Hegel zwingend117 und folglich die Zurechnung ausreichend legitimiert. In seiner Diktion erscheint Schuld als Diskrepanz der eigentlichen Einheit des allgemeinen Willens (das „Sollen“) und besonderen Willens (das „Sein“).118 Die Omnipräsenz der Hegelschule Mitte des 19. Jahrhunderts119 verfestigt die Verknüpfung von Strafrecht und Wille. Anhand der Historiographie der Zeit lässt sich belegen, dass die Ursprünge auch immer an der Bedeutung des Willens zusammen laufen.120 Im System der Hegelianer ging die Zurechnung fortan im Begriff der Handlung auf.121 111
Seelmann, FS Müller-Dietz (2001), S. 859 (860). S. ausführlich zum Vorstehenden Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 323 f. sowie S. 333. 113 S. das 1. Kap. Prolog. 114 S. genauer Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 326. 115 Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 326. 116 Seelmann, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 85 ff. 117 Seelmann, FS Müller-Dietz (2001), S. 859 (861 f.); wobei auch Hegel die Zurechnungsunfähigkeit von Kindern, „Blödsinnigen“ und „Verrückten“ voraussetzt. S. Seelmann, a. a. O., S. 862. 118 Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 391; ders., Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 333. 119 Für die Rezeption Hegels stehen Julius Abegg, Christian Reinhold Köstlin, Albert Friedrich Berner und Hugo Hälschner, s. monografisch aufbereitet von Ramb, Strafrechtsbegründung der Hegelianer (2005). 120 Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 365 a. E. 121 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 20; Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 389. 112
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Diese Tradition der Zurechnungslehren beginnt jedoch mit dem Verlust der Monopolstellung der Philosophie auf die Strafrechtsgestaltung mit dem aufkeimenden Positivismus in der Wissenschaftswelt allmählich abzureißen. Der hegelianische Einfluss schwindet zunehmend und findet mit der Reichsgründung 1871 ein vorläufiges Ende.122 Als wesentlich aus diesem philosophischen Abriss sind zwei Befunde festzuhalten: mit der Unterteilung in imputatio facti und imputatio iuris wird zum einen ein zweistufiger Zurechnungsmodus etabliert, der in seinen Rudimenten dem heutigen Recht noch zugrunde liegt. Zwar lassen sich die nunmehr architektonischen Verbrechensbausteine namens Unrecht und Schuld nicht ohne weiteres in die damalige Nomenklatur übersetzen. Doch von Zurechnung ist noch heute im Verbrechensaufbau die Rede, nämlich bei Fragen der objektiven Zurechnung. Beispielhaft heißt es bei Beulke: „Grundlage jeder Zurechnungslehre ist die Einsicht, dass […] vor allem die Frage wesentlich ist, ob der sozialschädliche Erfolg dem Täter […] als sein Werk zugerechnet werden darf.“123 Die Rede von „dem Werk“ des Täters lässt sich leicht mit der Kantischen „Urheberschaft“ assoziieren. Die „Zurechnung zum Recht“, also die Haftung vor dem Recht, geht heute in zwei Ebenen vonstatten, die der Rechtswidrigkeit und der Schuld. Zum anderen findet sich die hier vordergründig interessierende Schuld aus heutiger Sicht integriert im Zurechnungsbegriff; Schuld ist ein Ergebnis der Zu122 Die einheitsstiftende Funktion der Rechtsphilosophie gegenüber den Partikularrechten verliert mit der Schaffung des RStGB an Bedeutung, vgl. Ramb, Strafrechtsbegründung der Hegelianer (2005), S. 241. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaftszweige und dem positivistischen Wissenschaftsverständnis bleibt der Philosophie ohnehin allenfalls noch die Rolle einer Meta-Wissenschaft. Jenseits der analytischen Philosophie entfaltet die Philosophie kaum Bedeutung. Deren führende Rolle in Rechtsfragen übernimmt die Rechtsdogmatik als angewandte Rechtswissenschaft. Zu diesem Komplex J. Braun 2(2011), Einführung, S. 5 ff.; 14 ff.; 34 ff. Insgesamt befindet sich die Philosophie als primäre Wissenschaft in jenem Zeitkontext auf dem Rückzug. Dazu s. Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 187 ff. Neuerdings gibt es Bestrebungen die hegelsche Philosophie des Geistes wieder für den Schuldbegriff fruchtbar zu machen, vgl. die Ausarbeitung bei Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse (2007). Wenn dort vollmundig von „Krise der Vernunft“ (S. 19 ff.) die Rede ist, und als Ziel eine „systemimmanente Konsistenz“ mittels Vernunftdenken (S. 21) ohne gleichzeitige „Apotheose eines Transzendentalphilosophischen Denkens“ (S. 23) dargeboten werden soll, fordert dies offenbar eine puristische Rückbesinnung idealistischer Zurechnung. Es gelte die strafrechtliche Schuld reflexionslogisch nicht als Konstruktion des Sozialen, sondern als Ausdruck der Personalität des Menschen in seiner Rückführung auf personale Selbstbestimmung zu begreifen (S. 22, 26). Schuld wird zur „Freiheit verfehlenden Weltinterpretation.“ (S. 402 ff.). Auffällig erscheint dabei ein Ringen um authentische Interpretation Hegels (s. bspw. S. 315 f.), deren eigenspezifischer Wert aber nicht klar hervortritt. In seinen unzähligen Sprachblüten wirken die Gedanken für den strafrechtlichen Kontext bisweilen etwas entrückt, was die Aktualität Hegels für das geltende Strafrecht und seine Einzelfragen eher verdunkelt als verdeutlicht. 123 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 247, Hervorhebung auch im Original.
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rechnung. Schuld offenbart sich als ein negativer Saldo, als ein Zurückbleiben hinter den rechtlichen Anforderungen (bzw. Erwartungen). Mit der Betonung des Moments des Debitum steht im Aufklärungszeitalter ein Maßbegriff im Zentrum. Anzeichen der ontologisierenden Hypostasierung des Schuldbegriffs124 waren so gesehen keinesfalls zwingend angelegt. cc) Die Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit Erst die „Renaissance des Naturrechts“125 nach dem 2. Weltkrieg findet wieder Anschluss an die rechtsphilosophische Tradition. In Reaktion auf die jüngst erlebte Katastrophe musste es eine Rechtswahrheit jenseits der Gesetze als Antwort auf das rechtspositivistische Desaster des Dritten Reiches geben. Exemplarisch für Versuche, die Philosophie wieder Herr über die Schuld werden zu lassen, stehen die Konzepte Hans Welzels, Arthur Kaufmanns sowie Eberhard Schmidhäusers. (1) Hans Welzel Auf der Suche nach überdauernden Kategorien im Recht ist Hans Welzel auf sog. sachlogische Strukturen gestoßen. Die Rede ist von ontologischen Gegebenheiten, die jeder Erkenntnis vorgelagert seien.126 Die Grenzen der Sachlogik wirkten danach rechtsimmanent,127 d. h. der Gesetzgeber sei, sofern er eine Regelungsmaterie anknüpfen will, an diese materiale Ausgangslage gebunden. Konkret behandelt die rechtliche Schuld einen Ausschnitt aus der ethischen Schuld, der folglich mit ihr teilidentisch sei.128 Die Schuld liegt in der Entscheidung für das Unrecht trotz der Möglichkeit, sich normgemäß zu verhalten. Über die Sachlogik wird dem Schuldbegriff nun ein konstanter Inhalt zugewiesen, der unabänderlich ist. Eine Besonderheit aber ist hier nun die relative Verpflichtungskraft.129 In der Wertentscheidung für etwas sei der Gesetzgeber nicht gebunden. Entscheidet er sich indes für etwas, muss er gemäß des Prinzips der Folgerichtigkeit konsequent bleiben.130 Rechtsbegriffe tragen dann ihre Begrenzung in sich, stehen also fortan nicht beliebig zur 124
So die Diagnose bei Hruschka, Strukturen der Zurechnung (1976), S. 36. Zur Substanzontologie sogleich. 125 Kühl, FG für Söllner (1990), S. 331 ff. 126 Vgl. Sticht, Sachlogik als Naturrecht (2000), S. 37 ff.; eine Zusammenfassung der Schuldlehre dort a. a. O., S. 331 ff. Überdies B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 34. Die ebenfalls auftauchende Rede von der „Natur der Sache“, vgl. etwa Stratenwerth, Natur der Sache (1957), S. 20 ff., ist wohl synonym zu verstehen, so Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik (1990), S. 41. 127 Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1974), S. 274 (286). 128 Welzel, ZStW 67 (1955), S. 196 (198); in dieser Hinsicht auch Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens (1967), S. 59. 129 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 23; Sticht, Sachlogik als Naturrecht (2000), S. 37. 130 Stratenwerth, Natur der Sache (1957), S. 20. Krit. dazu Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 29 ff.
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Disposition: Nicht-Schuld solle nicht mehr als Schuld deklariert werden können. Soweit der Gesetzgeber Rechtsfolgen an die Schuld knüpfen will, müssten die zugrunde liegenden Gegebenheiten beachtet werden. Dagegen müssen strafrechtliche Rechtsfolgen jedoch nicht an die Schuldhaftigkeit geknüpft werden.131 Ein Verstoß gegen sachlogische Strukturen mache eine Regelung nicht ungültig, sondern lediglich sachwidrig.132 Die Pointe der gesamten Konstruktion liegt freilich in der Apriorität von Welzels Schuldtheorie als Konsequenz der ontologischen Finalstruktur der menschlichen Handlung. Die „sachlogische“ Finalität der Handlung sichert letzten Endes sämtliche Folgerungen aus Welzels Dogmatik logisch ab. Epistemologisch dennoch bemerkenswert ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Rechtspositivismus und den Ideen des Naturrechts,133 der allerdings auf das Evidenzerleben menschlicher Erkenntnis angewiesen bleibt. (2) Arthur Kaufmann Es ist namentlich Arthur Kaufmann134 gewesen, der sich leidenschaftlich in Kontrast zur Depersonalisierungserfahrung der NS-Diktatur um den überpositiven Gehalt der Schuld bemühte.135 Das Schuldprinzip gilt nach ihm als absoluter und unveräußerlicher Grundsatz und gehört geschichtlich gesehen in eine Reihung mit den Regeln eines „suum cuique“, „neminem laedere“ sowie die „goldene Regel“ der praktischen Ethik.136 Gleich Welzel137 sieht Kaufmann das Wesen der Schuld in der Rückführung auf die sittliche Schuld.138 Schuld könne nur material verstanden werden: als sittliche Schuld resultierend aus einer freien, selbstverantwortlichen Willensentscheidung gegen eine erkannte sittliche Pflicht.139 Aus dem Wesen des Menschen überhaupt, seiner Personalität, seiner Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und Selbstbestimmung erwachse die Fähigkeit zur Schuld.140 In klarer Abgrenzung zu Kantischer Selbstgesetzgebungsdoktrin wird der Mensch nicht sittlich autonom gedacht, sondern seinem transzendenten Schöpfer unterworfen.141
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S. Sticht, Sachlogik als Naturrecht (2000), S. 38 mit Nachweisen. Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1974), S. 274 (286). 133 Vgl. dazu Hassemer, FS Rudolphi (2004), S. 61 (64). 134 Das Schuldprinzip, 1(1961), 2(1976). 135 Vgl. etwa F. Herzog, ARSP-Beiheft 100 (2005), S. 139 (141). 136 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 110; 115 ff. 137 Welzels Sachlogik lehnte er dagegen als schlichte Ontik ab, s. Das Schuldprinzip 2 (1976), S. 37, 115. 138 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 127. 139 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 129. 140 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 116 f.; F. Herzog, ARSP-Beiheft 100 (2005), S. 139 (140). 141 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 122. 132
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Kaufmann zufolge gibt es also eine Anthropologie der Schuld. In konkreter Gestalt lasse sich Schuld indes nicht adäquat, sondern nur mittels analoger Begriffe fassen.142 Bedeutung in diesem Kontext gebührt insbesondere der Methode der philosophia negativa: die Bestimmung von Nicht-Schuld gelingt eher als die Herausstellung eines positiven Begriffs.143 Dagegen sei Vorwerfbarkeit in diesem Modell nur eine Eigenschaft, ein Relationsbegriff einer substantiell verstandenen Schuld.144 Deshalb fälle der Richter das Schuldurteil als Konsequenz der Schuld, das Schuldurteil ist aber nicht die Schuld selbst.145 In diesem Sinne fungiert das Strafurteil als „stellvertretendes“ Gewissensurteil.146 Kaufmanns Entwurf lässt sich als Rechtsphilosophie katholisch-thomistischer Provenienz kennzeichnen,147 die die Schuldfrage (wieder) auf die Ebene der Metaphysik zurückverlagert. Offenbar hat man es mit einer Art Heisenbergscher Unschärferelation auf dem Gebiet des Rechts zu tun, wenn auf eine endgültige Bestimmung der Schuld zwingend verzichtet werden muss, andererseits die rein gesetzespositivistische Haltung zum Recht aber verworfen wird. Denn der Relativismus hat seine Berechtigung nicht als ontologische Kategorie, sondern nur erkenntnistheoretisch.148 Folglich gibt es eine Gegenüberstellung von Sein und Sollen allenfalls ontisch, nicht ontologisch.149 Die Polarität von Absolutheit und Relativität, in Kaufmanns Diktion die ontologische Differenz, überwindet dann die Geschichtlichkeit des Rechts.150 Dahinter stehe letztlich der Gedanke, dass menschliche Erkenntnis, die nicht zu den Noúmena vordringen kann, dennoch Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinne sein kann.151 Durch die Erkenntnis mittels Vernunft sei die rationale Wissenschaftlichkeit gewahrt, der Vorwurf des viel beschworenen Subjektivismus treffe in erster Linie die rein normativistische Schuldlehre, die allein das Schuldurteil am Täterverhalten bemisst und das Werterleben (im Sinne von Nachvollzug, Verstehen) verfehle.152 Konvergenz als Methode soll dagegen den Subjektivismus überwinden: am Ende 142
Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 79; 213. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 16, 20. 144 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 182. 145 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 179. 146 Arthur Kaufmann, Jura 1986, S. 225 (232); vgl. auch ders., Das Schuldprinzip, S. 197 ff. 147 Koriath, Grundlagen Strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 548. 148 Vgl. bei Kühl, FG für Söllner (1990), S. 331 (346). 149 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 34 f. 150 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 85, 99 ff. 151 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 63 ff., 67: „Absolutes Nichtwissen wäre … [nur] … ein Nichtwissen dieses Nichtwissens [scil. über die Noumena]“; Ergänzungen jeweils durch Verf. Insofern verfolgt die Metaphysik keine reine Spekulation, sondern ist stets um Annäherung bemüht. 152 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 70 f. Die Relativität der Erkenntnis räumt Kaufmann indes ein. Es gehe aber nur um „gnoseologische Relativität (Perspektivität)“. Der Relativität des Seins sei damit indes noch nicht das Wort geredet: Relativität (scil. der Erkenntnis) kann es stets nur auf einen absoluten Bezugspunkt (scil. das Sein) geben; relative Bezugspunkte verlören ihre Eigenschaft als solche. Dazu a. a. O., S. 75. 143
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eines rationalen Diskurses stünde eine Synthese der Einzelmeinungen, nicht die additive Häufung von Ideen.153 Laut Kaufmann könne das Recht auf eine metaphysische Anreicherung demgemäß nicht verzichten: ein monistisches Rechtsverständnis, gleich ob rein positivistisch oder rein ideell-materiell verstanden, kann das reale Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Recht und Macht sowie Gültigkeit (Legitimität) und Wirksamkeit (Faktizität) nicht allein auflösen. Stets umfasse das Naturrecht nur das Essentielle, der Positivismus nur das Existentielle. Damit verhalten sich die Aspekte nicht antinomisch, sondern als aufeinander bezogen gedachte polare Kräfte.154 Als methodische Essenz lässt sich ein starkes Plädoyer für die Wiederbelebung der Metaphysik festhalten, verbunden mit der Hoffnung, dass der Mensch durch diese Rückbesinnung das „richtige“ Recht erkennt. Ähnlich wie bei Welzel tritt ein starkes Bedürfnis auf, eine objektive Unveränderlichkeit von Rechtswerten in das Recht selbst zu integrieren. Freilich kann dies nicht gelingen, so dass Schuld vor allem den Charakter eines rechtlichen Programmsatzes erhält. Allerdings wird damit auch die Prozesshaftigkeit auf dem Weg zum richtigen Recht zum tragenden Merkmal (s)einer Rechtsphilosophie.155 (3) Eberhard Schmidhäuser Ein weiteres axiologisches Schuldverständnis156 der Nachkriegszeit lässt sich bei Schmidhäuser vorfinden. Als Derivat deontologischer Ethik kommt es für die Beurteilung von Schuld auf die intrinsische Motivation an. Rechtsschuld wird dort als das Negativum der sittlichen Gesinnung157 bezeichnet, folglich sei unrechtliche Gesinnung das gedankliche Substrat der Schuld.158 In Anknüpfung an Max Scheler und Nicolai Hartmanns Werteethik wird der Mensch als geistiges Wesen gesehen.159 In diesem Zusammenhang soll die geistige Werthaltung von dem seelischen Erleben separierbar sein. Die seelische Gefühlswelt sei rein intrapersonell, während der Gedankeninhalt einer geistigen Haltung objektiv und interpersonell vermittelbar sei.160 153
Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 76 f. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 44. 155 Vgl. auch Kühl, FG für Söllner (1990), S. 331 (347). Auch ohne ausdrückliches Bekenntnis zu entsprechenden Ideen, zeigen Kaufmanns Gedanken Vorläufer zu (modernen) Theorien des rationalen Diskurses, insbesondere der der Prinzipientheorie des Rechts: Schuld als Programmsatz (Optimierungsgebot). 156 So per Selbstklassifizierung bereits Schmidhäuser, FS Jescheck I (1985), S. 485. 157 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), S. 173; ders., FS Gallas (1973), S. 81 (90 ff.). 158 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), S. 175, passim. 159 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), S. 43 ff. 160 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), S. 46, 69; ders., FS Jescheck I (1985), S. 485 (491). 154
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Dass sich diese Trennung von seelischem Erleben und geistiger Anschauung in toto durchhalten lässt, ist sicherlich anfechtbar.161 Denn dies setzte im Grunde voraus, dass ein Werterleben auf anderer Stufe162 stattfindet als seelisches Empfinden; am überzeugendsten wäre dies Konzept gar, wenn Werterleben keine seelische Empfindung ist. Dieser Trennung wird man sich eher nicht anschließen können. Die eigentümliche Zwei-Welten-Lehre deutet allerdings etwas anderes, einen für die heutige Anschauung wesentlich bedeutsameren Umstand, an: das Element der Kommunikation einer geistigen Haltung. Verdeutlichen lässt sich dies an einem außerstrafrechtlichen Beispiel von Trauer. Neben dem traurig-sein als Gefühl (seelisches Erleben) gibt ein trauriger Mensch eine Information an seine Umwelt weiter. Der Inhalt dieser Information kann wertend interpretiert werden, etwa wenn der Empfänger (als ein Beispiel) dies als Grund für Mitgefühl auffasst, wenn die traurige Person zuvor eine sie betreffende Unglückssituation schilderte. Diese Teilhabe an einer bestimmten objektiven Geisteshaltung (hier: Trauer, wenn Mitgefühl angebracht erscheint) dürfte Schmidhäuser gemeint haben – und beschreibt damit das, was heute als die kommunikative Dimension der Straftat gesehen wird. Rezipiert wird dies schulddogmatisch in dem Gesinnungsunwert der Schuld.163 dd) Diskursethik Diskursethik im Recht ist eng mit den Namen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas der Frankfurter Schule verwoben. Im Geiste der sog. „Kritischen Theorie“164 beschreibt die Diskursethik einen Versuch im Spannungsfeld von szientistischer Empirie und Werterelativismus eine praktische Philosophie für die Gesellschaft zu entwickeln. Umschrieben ist damit das Projekt einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit. Verkürzt lässt sich das Vorhaben dergestalt beschreiben, dass (einzig) aus dem Procedere rationaler Kommunikation die Wahrheitsfähigkeit, resp. Richtigkeit, von normativen Aussagen gewonnen werden kann.165 Für das Recht und dessen Wahrheitsanspruch bedeutet dies, dass es nur mittelbar darum geht, was das „richtige Recht“ ist, sondern vielmehr der Prozess der Rechtsfindung, die Herstellungsbedingungen von Gerechtigkeit, in den Fokus rücken. Um die Transformation in die Rechtswissenschaften bemühte sich vor allem Robert Alexy166, im Bereich der Schuldbegründung wurden die diskursethischen 161
Kritisch in etwa auch Koriath, Grundlagen Strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 547 f. Gemeint ist in diesem Sinne keine neurologische Lokalisierung. 163 Etwa bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 38 III 2, S. 422 u. § 39 II 1, S. 426; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 612 f. 164 Zurückgehend auf Max Horkheimers Schrift „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937). 165 S. Arthur Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 17 ff.; Neumann, Juristische Argumentationslehre (1986), S. 78 ff. 166 Grundlegend: Theorie der juristischen Argumentation 1(1978); 2(1990). 162
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Ideen von Klaus Günther167 und Kindhäuser168 rezipiert. Im Zentrum Günthers Argumentation steht die Verbindung des Schuldbegriffs mit der Idee der demokratischen Legitimation. Die Schlüsselfunktion nimmt dabei das Konzept der „deliberativen Person ein“, welche die Brückenfunktion zwischen der demokratisch legitimierten Norm und individueller Zurechnung eines Normverstoßes einnimmt.169 Das Individuum wird in seiner Doppelrolle als Normautor (Staatsbürger) und als Adressat von Normen (Rechtsperson) gesehen.170 Die deliberative Person selbst zeichnet sich durch ihre Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme aus. Diese Fähigkeit bildet den Zurechnungsgrund171, denn aus diesem Potential erwachse die Möglichkeit, die Normen der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und in der Rolle als Staatsbürger in einem demokratischen Verfahren gegebenenfalls zu ändern.172 Das bezeichnet Günther als „kommunikative Freiheit“173 des Normunterworfenen. Mit diesem Teilhaberecht korrespondiere – oder genauer: aus diesem Teilhaberecht – resultiere die Verpflichtung zur Normeinhaltung.174 Die im Teilhabeprozess errichtete Norm genießt bis zur ihrer Aufhebung den Status vorläufiger Vernünftigkeit175 und einer deliberativen Person sei es zumutbar, diesen demokratischen Willensbildungsprozess zu nutzen, um die Ablehnung der Norm geltend zu machen.176 Darin liege die Schuld der Normverletzung. Umgekehrt solle die Schuld entfallen, wenn ein solches Verfahren nicht zur Verfügung steht.177 Ungeachtet dessen, dass Günther selbst die Anforderungen an diese deliberative Person unterbestimmt lässt,178 dürfte sie als gedanklicher Platzhalter in hohem Maße auf die „ideale Sprechsituation“ habermascher Prägung verweisen. In diesem Sinne darf man das Konzept wohl auch als idealistisches kennzeichnen. Die Legitimität der 167 Insb. in: Schuld und kommunikative Freiheit (2005); s. auch ders., in: JRE 2 (1994), S. 143 ff. 168 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (713 ff.); ders., FS Hassemer (2010), S. 761 (762 ff.). 169 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 245 ff. 170 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 249; ders., JRE 2 (1994), S. 143 (146); ebenso Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (720); ders., FS Hassemer (2010), S. 761 (762). 171 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 247, 255. 172 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 252. 173 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 248. 174 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 252; Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (717); Vgl. ähnlich im Tenor, Lampe, Strafrechtsphilosophie (1999), S. 244: über die repräsentative Demokratie stimmt auch der Beschuldigte mittelbar der Normeinhaltung zu. 175 K. Günther, JRE 2 (1994), S. 143 (147); Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (722). 176 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 255, 257. 177 K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 256. 178 Vorausgesetzt wird die Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme; im Übrigen bleibt der Begriff der „deliberativen Person“ explizit offen, vgl. K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 246 Fn. 2.
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Schuld beruht auf dem prozeduralen Prinzip, welches sich verkürzt als „Legitimität der Schuld durch Verfahren“ darstellt. Die Legitimität des Verfahrens wiederum setzt freilich notwendig die Gleichordnung und Freiheit aller Teilnehmer voraus.179 Umgekehrt suspendiert ein fehlendes diskursives Verfahren die Legitimität der Schuldzuschreibung.180 Inwieweit sich die Ideen des praktischen Diskurses auf das juristische Denksystem übertragen lassen, ist in Generalität strittig,181 braucht aber nicht weiterverfolgt zu werden. Insbesondere kann hier nur angedeutet werden, dass gerade der Anspruch der Überwindung des individual-sozialethischen Antagonismus in Sachen Gerechtigkeitsfindung es ist, dessen Einlösung in Zweifel gezogen wird. Vielfach gelten die Problemstellungen als schlicht verlagert, seien es die Einwände gegen den verwendeten Wahrheitsbegriff182 oder die Form des Diskurses an sich.183 Fernab möglichen Einwänden verdient der Ansatz indes gesonderte Erwähnung, weil Makroansätze in der Tendenz das Schuldparadigma eher verwerfen, denn stützen wollen.184 Die Diskursethik liefert gegenüber den individualethisch geprägten vorgestellten Vorgängern ein kollektiv orientiertes Begründungsmuster für die Schuld und steht deshalb exemplarisch für einen Perspektivenwandel für die Gerechtigkeitsidee innerhalb des Spektrums der Schuldidee. ee) Exkurs: Utilitarismus und Schuld Ebenfalls kollektivistisch orientiert argumentieren philosophische Richtungen des Utilitarismus.185 Eine explizit utilitaristische Schuldlehre ist bislang noch nicht vorgelegt worden. Im Gegenteil konzentriert sich die Diskussion im Bereich des Strafrechts auf die Möglichkeit einer utilitaristischen Straf- bzw. Strafrechtsbe179
Staatsbürger treten einander als freie und gleiche Personen gegenüber und entscheiden darüber wie sie einander als Freie und Gleiche anerkennen; von K. Günther selbst als „praktischer Zirkel“ beschrieben, a. a. O. 180 Entsprechend dann K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 256. 181 S. exemplarisch Neumann, Juristische Argumentationslehre (1986), S. 84 ff. 182 Vorherrschend und durchaus konsequent im Ansatz wird die „Konsenstheorie“ der Wahrheit bemüht. Zu den Einwänden indes Arthur Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 19. 183 Weder der Ausgangspunkt noch die Argumentationsschritte der Diskursregeln sind en detail festgelegt, z. T. sind die Bedingungen nur approximativ erfüllbar. Dazu Alexy selbst, Theorie der juristischen Argumentation 2(1990), S. 411 ff. Ebenso steht das postulierte Auskommen ohne Letztbegründungen in der Kritik, vgl. auch hier Arthur Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Andererseits ist diskussionswürdig, ob schon in Theorie eine Immunisierung gegen solches Vorbringen erbracht werden muss, vgl. dagegen Alexy, a. a. O., S. 359: „Juristen können zwar zur Realisierung von Vernunft beitragen, […] vermögen sie jedoch nicht isoliert zu verwirklichen. Dies setzt eine vernünftige und gerechte Ordnung der Gesellschaft voraus.“ 184 Dies gilt in erster Linie für soziologische Ansätze, dazu noch sogleich folgend unter c). 185 Vornehmlich begründet durch Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873) im englischsprachigen Raum.
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gründung.186 Mittelbar können jedoch utilitaristische Ideen die Schuld beeinflussen,187 so denn die Straftheorie den Charakter der Schuld bestimmt. Insoweit können zweckorientierte Schuldlehren mit utilitaristischer Philosophie wenigstens assoziiert werden.188 In diesen Fällen wird zweckbezogen und damit letztlich nutzbezogen und folgeorientiert argumentiert. Entsprechend liegen die Vorzüge und Einwände sachlich nah beieinander. Das Prinzip der (Handlungs-)Utilität misst die Güte einer Handlung an ihrem Nutzen für die Gesamtheit. In diesem Sinne wäre es möglich, dass das Schuldprinzip gegenüber dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer Strafe zurücktritt.189 Dieser Gedanke bietet Inspiration dazu, klassische Schuldausschlusstatbestände, wie etwa in § 20 StGB niedergelegt, rechtlich hinten an zu stellen. Die Bestrafung eines „Schuldlosen“ bereitet im Allgemeinen Unbehagen und widerstreitet eigentlich jeglicher gängiger Alltagsmoral. Insofern dürfte man annehmen, dass es der Plan sein müsste, eine solche Konsequenz diskret zu behandeln.190 Das vorangegangene Gedankenspiel zeigt, dass der Utilitarismus eher nutzbar gemacht wird um sich vom klassischen Schuldgedanken zu entfernen, als denn mittels der utilitaristischen Philosophie ein originäres Schuldkonzept zu entwerfen. Für die Konturierung der Schuld ist die Strömung weitgehend ohne Bedeutung geblieben. ff) Indeterminismus vs. Determinismus Schuld gilt nach dem bisher Gesagten vielfach als Kehrseite der menschlichen Freiheit, die negative Ausgestaltung der Freiheit durch den freien Willen. Die Essenz von Schuld steht damit im Kontext von alternativer Handlung. Die Freiheit des Willens oder anders formuliert die Bedingungen freiheitlicher Willenshandlungen betrifft eine der zentralen philosophischen Fragen der Menschheit. Die für diesen Zusammenhang interessierende Prämisse, die Möglichkeit des Menschen in einer Situation anders handeln zu können als getan, steht als Streitfrage eigentlich epistemologisch unbeantwortet im Raum. Vom Blickpunkt eines strengen oder universalen Determinismus ist der Ablauf eines Geschehens denknotwendig und alterna186
Etwa Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit (1981), S. 19 ff.; ders., Zweckrationalität und Strafrecht (1987), S. 191 ff. Eine Handlungs- und regelutilitaristische Beleuchtung des Schuldprinzips entwirft Burkhardt, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung (1983), S. 51 ff. Nur erstere ist hier von Interesse, da die deontologische Regelutilitaristik mit den Prinzipien der Individualphilosophie konvergiert. Überlegungen aus neuerer Zeit skizziert auch bei Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 29 f. 187 Frister, Schuldprinzip (1988), S. 19 ff. untersucht z. B. inwieweit der Utilitarismus das Schuldprinzip voraussetzt. 188 So auch Burkhardt, GA 1976, S. 321 (324). 189 Burkhardt, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung (1983), S. 51 (68). 190 Burkhardt, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung (1983), S. 51 (74).
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tivlos, weil durch die Naturgesetzlichkeiten in einer Ursachenkette fixiert.191 Freiheit als menschliche Potenz kommt in dem Konzept nicht vor. Nach wie vor ist es so die virulente Problematik, ob auf Tadel basierende Strafe in Unkenntnis der Wahrhaftigkeit der Willensfreiheitsprämisse verhängt werden darf. Während im indeterministischen Weltbild mit der freiheitlichen Schuldkonzeption problemlos gearbeitet werden kann, fehlt dem „klassischen“ Schuldkonzept bei der Gegenposition die Stringenz. Folglich ließen sich sämtliche Schuldkonzepte, die auf einem freien Willen aufbauen, nicht aufrechterhalten. Zwischen den beiden inkompatiblen Polen eines strengen Determinismus und eines libertarischen Freiheitsbegriffs hat sich eine mediatisierte Zwischenform eines sog. Kompatibilismus, gemeinhin auch als weicher Determinismus bezeichnet, herausgebildet, welcher eine gewisse Vereinbarkeit beider Position annimmt.192 Auf der basalen Ebene der Diskussion begleitet die Indeterminismus-Determinismus-Debatte im Prinzip jegliche Strafdiskussion. Determinismus als Weltbild existiert seit Menschengedenken,193 spätestens mit Beginn der ätiologisch orientierten Kriminologie im 19. Jahrhundert hat sich die Thematik auch strafrechtlich verfestigt. Seitdem treffen regelmäßig Zweifel an der Übertragbarkeit der naturwissentlichen Denksysteme auf Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Systems des Schuldstrafrechts.194 Im Zeichen der neuen Hirnforschung hat die Debatte wieder neue Nahrung erhalten. An anderer Stelle soll diesem Phänomen gesondert nachgegangen werden.195 gg) Fazit: Rechtsphilosophische Strömungen der Schuldbegründung Der Ausschnitt aus der rechtsphilosophischen Begründungslandschaft zeigt verschiedene Strategien auf: idealtypisch lassen sich die Ideen nach ihrer Grundausrichtung, entweder einer kollektivistischen Direktive oder einer individualethischen Verpflichtung, unterscheiden. Im Zentrum der Überlegung steht jeweils das Legitimationsproblem. Während Verbindlichkeit für individualethische Modelle einer apriorischen, ontologischen Struktur entspringt, bemüht eine sozialisiert-orientierte Fundierung den Akzent auf die Prozeduralität hin zu verschieben.
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Keil, Willensfreiheit und Determinismus (2009), S. 35 ff. Einführend in die Problematik und Positionen Keil, Willensfreiheit und Determinismus (2009), S. 10 ff. 193 Stübinger spannt den Bogen der Kontinuität vom mythologischen Schicksalsdenken über den theologischen Fatalismus, die wissenschaftlich-philosophische Beschäftigung der Post-Aufklärung hinüber in die Neuzeit. In: Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 347, mit weiterführenden Nachweisen. Eine überblicksartige Zeittafel bei Keil, Willensfreiheit und Determinismus (2009), S. 136 ff. 194 Als kontemporäres Zeitzeugnis etwa Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 56 f. und Eisenberg, Strafe und freiheitsentziehende Maßnahme (1967), S. 73 ff. mit Nachweisen aus entsprechender Zeit. 195 Ausführlich behandelt unter B.: „Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften“. 192
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Demgegenüber steht die Strömung des Determinismus für eine generelle Methodenkritik der Schuldbegründung. Aus dieser Grundmatrix philosophischer Grundideen werden im Wesentlichen die Konzepte von Schuld abzuleiten sein. c) Die soziologische Perspektive Die Rechtssoziologie der Schuld erschließt gedanklich zwei Themenfelder. Es kann um die Entstehungsbedingungen als auch um die Folgewirkungen der Schuldverhängung gehen. Die Folgewirkungen der Schuldpraxis beziehen sich zeitlich auf Geschehnisse nach dem Schuldspruch, womit inhaltlich De- und Resozialisierungspotentiale der Strafe angesprochen sind. Eine solche evaluative Auswertung betrifft im Grunde eine Wirksamkeitsanalyse des Strafrechts selbst, welche die kriminologische Forschung zur Präventionstüchtigkeit der Strafe auf den Plan ruft. Deren Ertrag kann in diesem Rahmen nicht umfassend verarbeitet werden, ist aber auch für die Schuldmethodik von nur mittelbarer Bedeutung. Die Folgen der Strafe (und damit der Schuld), insbesondere die der Inhaftierung im Strafvollzug, sollen hier deswegen ausgeblendet werden.196 Auch soll es hier nicht unmittelbar um die Geltung der Normen zur Schuld im Strafrecht gehen. Der soziologische Geltungsbegriff197 untersucht die Faktizität des Rechts. Man könnte z. B. empirisch untersuchen wie die Einstellungen der Bevölkerung zu einzelnen Schuldelementen bzw. der Schuld selbst beschaffen sind. Auch könnte ein Ansatz die Praxis dahingehend überprüfen, „wie ernst“ es der Rechtspraxis mit der Umsetzung des Schuldbegriffs im Detail ist.198 Dass Schuld als Maßstab aber grundsätzlich im Strafrecht „gilt“, dürfte von soziologischer Seite kaum in Zweifel gezogen werden. Im Gegenteil entzündet sich eher am Schuldbegriff als Zurechnungsideal vehement Widerstand.199 Deshalb interessiert am soziologischen Ansatz für diesen Abriss dessen idealtypische Herangehensweise von der Makroperspektive, der die Schuldpraxis und ihre Entstehungsbedingungen untersucht. Als „verstehende“ Sozialwissenschaft200 werden die beteiligten Institutionen in den Blick genommen. Während in den bisherigen Ausführungen regelmäßig die Schuldzurechnung vom Individuum, und damit von der Täterperspektive gedacht 196
Dennoch gibt es insofern mittelbar eine Art Rückkopplung, denn die soziologische Sichtweise speist ihre Forderungen im Wesentlichen aus dem aus empirischen Material gewonnenen kriminologischen Erkenntnissen. 197 Dazu Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie 5(2009), S. 237 ff. 198 So könnten die Schuldparamater der § 17 StGB und § 20 StGB auf ihren tatsächlichen Anwendungsbereich untersucht werden. Zum rechtlichen Inhalt der Paragraphen ausführlich beim materialen Schuldbegriff im 2. Kapitel unter A. III. 199 Allen voran Kargl, Kritik des Schuldprinzips (1982); des Weiteren Dux, Der Täter hinter dem Tun (1988), S. 57 f. sowie Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts (1985); ders., Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems (1987). 200 Zur „verstehenden“ Sozialwissenschaft als methodischen Ansatz, vgl. Kunz/Mona, Kap. 3 Rn. 34, Kap. 4 Rn. 302 ff.
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wird, gewinnt nun der Zurechnungsprozess von Seiten der Gesellschaft an Bedeutung. Diese Makroperspektive hinsichtlich der Entstehungsbedingungen von Schuldverhängung vollzieht sich in zwei möglichen Stufen. Man kann in einem ersten Schritt nach dem Wirken der Gesellschaft im Kontext der Schuld und damit letztlich nach deren Beitrag am Verbrechen fragen. In einem zweiten Schritt spielt dann die gesellschaftliche Reaktion auf Verbrechen als Regulationsprozess eine bedeutende Rolle. Denn Schuld kann wie gezeigt nur von einer urteilenden Instanz her begriffen werden. Es hängt also an der Einstellung dieser Instanz wie diese bereit ist, das Phänomen Kriminalität zu deuten. Seit dem Aufkeimen der „sozialen Frage“ Mitte des 19. Jhdt. hat die Kriminologie neben individualzentrierter Verbrechenserklärung zunehmend strukturelle und institutionelle Erklärungsebenen in den Blick genommen.201 In diesem Kontext begriffen ist Kriminalität hauptsächlich gesellschaftlich vermittelt. So ist es vor allem der kriminologische Ansatz des „labeling approach“, auf deutscher Seite wesentlich mit dem Namen Fritz Sack verwoben, der im Fahrwasser der Bewegung der „kritischen Kriminologie“202 der 1970er die Rolle der staatlichen Institutionen bei der Phänomenologie von Kriminalität kritisch hinterfragt. In der angesprochenen Zwei-Stufenlogik fallen Ursache und Regulation in einem Attributionsprozess zusammen. Aber auch weniger radikale Ansätze kritisieren den fehlenden Einfluss kriminalätiologischen Wissens.203 Denn trotz Säkularisierung und Fortschritt empirischer Forschung lässt sich kein oder zumindest kaum hinreichender Wandel in der Zurechnungspraxis der Schuld feststellen. Vom Prinzip her beruht das Schuldmodell des Rechts (weiterhin) auf dem Modell des persönlichen Versagens moraltheologischer bzw. deontologischer Ethik. So steht als Hypothese, dass zur individuellen Zurechnung weithin auf die alltagspsychologischen Attributionsprozesse204 zurückgegriffen wird. Sozialpsychologisch unterscheidet man dann zwischen internaler Attribution und externaler Attribution auf der Basis des Modells des „naiven Wissenschaftlers“.205 Intuitiv und mithilfe von Erfahrungswissen werden jegliche Geschehnisse des Alltags auf ihre ursächlichen Zusammenhänge analysiert. Daraus zieht der Mensch in „naiver Weise“ seine Rückschlüsse. Man nennt die Attribuierung internal, wenn man für den Ursachenzusammenhang wesentlich die Person des Handelnden als verantwortlich zeichnet. Dagegen spricht man von externaler Attribution, wenn die Situation, in der sich der Handelnde befand, als determinierend betrachtet wird. Soweit für den Beobachter situative Faktoren schlüssig als Erklärung erscheinen, werden keine weiteren per201
Übersicht bei Kaiser, Kriminologie 3(1996), S. 187. Zum labeling approach s. stv. B.-D. Meier, Kriminologie 6(2021), § 3 Rn. 91 ff. 203 Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts (1985), S. 8 ff.; 64 ff., passim. 204 Zum Begriff der Attribution bzw. Attributionsfehler s. die Stichworte bei Dorsch, Psychologisches Wörterbuch 15(2009). 205 Zum ganzen Komplex: Bierbrauer, Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit, in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III (1978), S. 131 (134). 202
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sönlichen Erklärungsmuster herangezogen. Andernfalls ergibt sich regelmäßig die Tendenz auf persönliche Dispositionen (wie Wille, Motive, Charakter, etc.) zurückzugreifen.206 Ein solches Erklärungsmuster ist geeignet auch Zerrbilder zu produzieren, weshalb dann von einem Attributionsfehler gesprochen wird.207 Sozialpsychologen bezeichnen einen solchen Effekt als sog. actor-observer-bias, d. h. Beobachter tendieren zur persönlichen Verursachung, während Handelnde eher zur situativen Erklärung neigen.208 Auf die Schuldproblematik gewendet heißt dies, dass aufgrund bevorzugter individueller Verantwortungszuweisung sozialpsychologisch eine Tendenz zur „Schuldvermutung“ bestehen müsste. Tatsächlich können Untersuchungen belegen, dass die personelle Komponente bei der Entstehung von deviantem Verhalten systematisch überschätzt wird.209 Im Umkehrschluss bedeutet das freilich auch, dass an der Validität der produzierten Ergebnisse Zweifel aufkommen müssten. Ein an der Realität ausgerichtetes Normensystem wäre an und für sich angehalten, sich diesen Befunden zu stellen und sie zu verarbeiten. Nicht von ungefähr resultiert deshalb von soziologisch-empirischer Seite häufig eine grundsätzliche Distanziertheit, teilweise auch eine paradigmatische Gegenposition zum geltenden Schuldstrafrecht. Schuld spielt in dem Konzept die Rolle einer „personalisierenden und moralisierenden Beschämung“.210 Nicht selten wird eine Revision des Strafrechts erwogen,211 welche im Extremfall mitunter in abolitionistischen Forderungen mündet.212 Letzteres liegt insbesondere auch in der Konsequenz für Ansätze des labeling approach. Wenn man Kriminalität als gesellschaftlich induziert begreift, existiert Schuld lediglich als reines Zurechnungsprodukt der regulierenden Macht. Aber schon ganz grundsätzlich
206 Zum Vorstehenden Bierbrauer, Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit, in: Hassemer/ Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III (1978), S. 131 (136). 207 Vgl. dazu Dorsch, Psychologisches Wörterbuch 15(2009), Stichwort Attributionsfehler. 208 Wie Fn. zuvor, ferner Oswald, GA 1988, S. 147 (151 f.) mit Nachweisen. 209 Vgl. dazu Bierbrauer, Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit, in: Hassemer/Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III (1978), S. 131 (147 ff.) anhand des sog. Milgram-Experiments. Anschaulich dazu insbesondere Zimbardo, Der Luzifer-Effekt (2007). Ein abweichendes Bild mag indes die Untersuchung von Heitzmann, ZfRSoz 29 (2008), S. 205 (211 ff.) nahelegen. Innerhalb eines Interviews mit Rechtslaien zu fiktiven Fällen zeigte sich dort durchaus die Bereitschaft situative Faktoren als entlastend anzuerkennen. Allerdings hing dies stark von einem normativen Vorverständnis ab. Die Bereitschaft korrespondierte mit gravierender Zunahme der Folgen eines Delikts einerseits und den vorab erwarteten Kompetenzen des fiktiven Täters andererseits, (a. a. O., S. 223). Insoweit belegt auch diese Untersuchung eine Selektivität im Entscheiden der Probanden; mit anderen Worten scheint auch hier eine Schuldvermutung zu bestehen, die nur u. U. aufgehoben wird. 210 So beschrieben von Frommel, FS Kargl (2015), S. 129 (130). 211 Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems (1987). 212 Man lese dazu Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts (1974), S. 293 ff.
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wird ein Postulat individueller Verantwortlichkeit umso weniger plausibel, je mehr die Ursache gewichtig jenseits des Individuums verortet wird.213 Im Kontrast zu dieser schleichenden „Erosionsthese“214 steht allerdings die Stabilität des geltenden Strafrechtssystems. Das wirft die Frage nach ihren Gründen auf. Eine Antwort könnte in der autopoietischen Struktur des Rechts215 liegen. Die Selbsterhaltungskräfte eines Systems müssen daher auch immer mit dem Begriff der Macht216 verknüpft werden. Schuld steht folglich immer auch im Kontext der Macht.217 Das heißt nichts anderes, als dass gesellschaftspolitisches Machtkalkül die Ausgangsbedingungen für Schuld im Sinne eines strikten Konservatismus konstant hält.218 Die Kritik am Schuldprinzip wird deshalb regelmäßig als Kritik an den (ungleichen) gesellschaftlichen Verhältnissen formuliert.219 Die weitere Untersuchung hat deshalb die Träger politischer Macht innerhalb des Rechtssystems immer im Blick zu halten.220 2. Verfassungsrechtliche Implikationen im Schuldbegriff a) Vorbemerkungen: zur Methodik der Verfassungsauslegung Über das Verfassungsrecht wird in vielerlei Rechtsbereichen die Rechtsdogmatik eingeleitet. Rechtssätze, die dem Dogma der Verfassung nicht gehorchen, dürfen im Ergebnis keine Berücksichtigung finden. Die Verfassung als die hierarchisch höchste 213 Vgl. Lüderssen, in: ders./Sack (Hrsg.), Bd. I (1980), S. 737 (740); Günther/Prittwitz, FS Hassemer (2010), S. 331 (352). Dazu passt, dass die Bereitschaft, niedrigere Strafen zu verhängen, mit externalen Attribuierungsstil korreliert, so die Untersuchung bei Oswald, Psychologie des richterlichen Strafens (1994), S. 126. 214 Vgl. dazu Hilde Kaufmann, Was lässt die Kriminologie vom Strafrecht übrig?, JZ 1962, S. 193 – 199. 215 Dazu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 30, 45 ff., passim. 216 Zum Machtbegriff in der Soziologie Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie 5(2009), S. 280 ff. 217 S. auch den Hinweis bei K. Günther, Der strafrechtliche Schuldbegriff (1997), S. 48 (87 ff.). Vor allem Lüderssen stellt den staatlichen Strafanspruch – und letztlich damit den Schuldspruch – in den Kontext vor-konstitutionalistischen Staatswesens, beispielhaft in: Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs (1989), S. 32, passim. 218 In diese Richtung Kargl, Kritik des Schuldprinzips (1982). 219 Nach Dux, Der Täter hinter dem Tun (1988), S. 55 f. kann autonome Moral der Schuld nur eine Egalität der Moral sein. Eine prinzipielle Gleichheit (gemeint: gültige Regeln für alle Menschen) mittels Statuierung von Vernunftsätzen ist nur über Egalität der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichbar, welche eine vernunftgeleitete Einsicht in solche Regeln erst plausibel macht. 220 Das gilt namentlich in erster Linie für die Gesetzgebungsorgane im Spektrum politischer Mehrheiten. Ausführlich zu den gesellschafts- und kulturhistorischen Bedingungen der Schuld deshalb unter III. Aber auch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung zählt zu den politisch bedeutsamen Akteuren, dazu sogleich.
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Rechtsquelle liefert also einen Allgemeinen Teil vor dem StGB, bevor die Schuldvorschriften des StGB – in dieser Relation den Besonderen Teil – die allgemeine Schulddogmatik fortsetzen.221 Das Schuldprinzip genießt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG Verfassungsrang.222 Im Schrifttum wird diese Einschätzung durchweg geteilt.223 Man wird diesen Grundsatz daher als kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen können. Über diesen Grundkonsens hinaus herrscht allerdings wenig Klarheit. So denn überhaupt Aussagen konkretisiert werden, bleiben Fragen über deren Inhalt bzw. dessen Grenzen, resp. Reichweite, offen. Nun ist es müßig darauf hinzuweisen, dass der Verfassungstext in diesem Regelungszusammenhang das Wort „Schuld“ gar nicht erwähnt. Dieser Mangel suspendiert Versuche der Verfassungsexegese sicherlich nicht, dennoch ist daran zu erinnern, dass detaillierte Vorgaben aus der Verfassung für die konkrete Rechtsgestaltung dann eigentlich nicht zu entnehmen sind. Fraglos besitzt damit jegliche über den Text hinausgehende Deutung lediglich heuristischen Wert; insoweit bewahrheitet sich ein juristisches Sprichwort, dass sich „viel in die Verfassung hinein- aber nicht heraustragen lässt“. Man könnte diese Interpretationsoffenheit als ein hermeneutisches Problem zur Kenntnis nehmen und dieses als eben solches schlicht abhandeln. Die Hermeneutik trifft aber noch auf einen besonderen methodischen Aspekt: den Macht-Faktor der Verfassung. Die Verfassung selbst sagt wenig, ihr Wort aber hat Gewicht. Innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion mögen die interpretatorischen Bemühungen deshalb in erster Linie dazu dienen, der eigenen Argumentation die Dignität der Verfassung zu verleihen. Im Bereich einer (konkreten) Entscheidung bedeutet dies indes, dass das hohe Maß an Verbindlichkeit der Verfassung zur Geltung kommt. Die Frage ist dann, mit welcher Reichweite eine solche Verbindlichkeit zur Sprache kommt. Die Antwort gibt (auch) Auskunft über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Strafrecht insgesamt. Dabei geht es weit weniger um die Abgrenzung akademischer Rechtsdisziplinen, als um die konkrete Machtfrage wie die Kompetenzkreise von Gesetzgebung, Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit voneinander abzuschichten sind. Damit ist schließlich die Rolle des BVerfG ins Spiel gebracht. Die verfassungsrechtlichen Implikationen eines Rechtsbegriffes sind dabei im eigentlichen Sinne das A und O der Hermeneutik: Sie stehen am Anfang und markieren das mögliche Ende der Überlegungen. Neben der semasiologischen 221 Dieses Denken im Allgemeinen und Besonderen gilt als Ausweis gelungener Gesetzgebungstechnik. Dieser „Klammer“-Algorithmus lässt sich systemintern quasi beliebig fortführen. 222 BVerfGE 6, 389 (439); E 7, 305 (319); E 9, 167 (169); E 20, 323 (331); E 28, 386 (391); E 45, 187 (228, 259 f.); E 50, 125, (133); E 50, 205, (214 f.); E 86, 288 (313); E 95, 96 (140); E 96, 249; E 109, 133 (171); E 110, 1 (13). 223 Nahezu flächendeckende Zustimmung im Bereich verfassungsrechtlicher Literatur. S. bspw. Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG 6(2010), Art. 20 (III), Rn. 324; diesseits auffällig ist allerdings die spärliche Diskussionskultur, die sich regelmäßig auf (schlichten) Verweis auf die Rechtsprechung beschränkt; einst schon angemerkt von H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55 (56 f.).
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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Schwierigkeit, verbindliche Wertaussagen mit dem Text der Verfassung zu begründen, steht also der hohe Grad von Verantwortung, der mit der immensen Entscheidungskraft einhergeht. So darf man über den Determinierungsgrad seitens der Verfassung im Hinblick auf das Strafrecht auch keine Einigkeit erwarten. Protektionistisch anmutende Selbstbehauptung der Strafrechtslehre trifft auf Strafrechtsdogmatik aus der Verfassung.224 Das gilt namentlich insbesondere für die Rechtsprechung des BVerfG. So wird bisweilen die Enthaltung in Sachen Strafzwecktheorie beklagt225 oder eine generelle Unterrepräsentation bzw. Zurückhaltung strafrechtlicher Themen attestiert.226 Auf der anderen Seite wird der Herleitung von dogmatischen Maßstäben aus dem Grundgesetz durchaus mit Skepsis gegenübergetreten.227 Dogmatik wird seitens der Strafrechtslehre als eigene Domäne proklamiert, welche sich indes notwendig für einen aus der Verfassung motivierten kriminalpolitischen Impetus offen hält.228 Je nach Ausrichtung könnte sich die Letztentscheidungskompetenz auch im Strafrecht beim BVerfG konzentrieren und kumulieren; insbesondere, weil seit dem ElfesUrteil229 eine treffsichere Bestimmung von genuinen, spezifischen Verfassungsrecht kaum aufrechterhalten lässt.230 Um das BVerfG schließlich nicht in den Rang einer Superrevisionsinstanz zu erheben, bedarf es einer prinzipiellen Unterscheidung von Gestaltungs- bzw. Herstellungsperspektive vs. gerichtlicher Kontrollperspektive;231 ein Befund der nicht selten vernachlässigt wird. Dies alles berücksichtigend macht Strafrecht nicht zu einem verfassungsabsenten Rechtsraum. Das verfassungsrechtliche Schuldprinzip ist indes nach dem Gesagten im Hinblick auf dessen Folgewirkungen behutsam zu entwickeln. Jenseits dieser Prolegomena sind in einem zweiten Schritt konkrete Überlegungen zur Ausgestaltung des Schuldprinzips notwendig. Dass eine schriftliche Niederlegung fehlt, ist für das Verfassungsrecht weder ungewöhnlich noch hinderlich.232 In zahlreichen Entscheidungen233 des BVerfG hat das Schuldprinzip jedenfalls Er224
Den jüngsten Versuch, ein Strafrechtssystem über die Verfassung zu reproduzieren, liefert Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014). 225 Dazu aus letzter Zeit Roxin, FS Volk (2009), S. 601 (606 ff., 612 ff.). 226 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 28 bzw. 32 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 51 ff. 227 Naucke, Strafrecht 10(2002), § 2 Rn. 99 ff. „Kolonialisierung“ durch Verfassungsrecht beklagt Arzt, GS Armin Kaufmann (1989), S. 839 (848); zumindest als Ausdruck eigener Begründungsschwäche. 228 Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 5 f. 229 BVerfGE 6, 32 (35 ff.) Urt. v. 16. Januar 1957 – 1 BvR 253/56. 230 Vgl. auch Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 7. 231 Vgl. diesbzgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts (1995), Rn. 569 ff. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2012), S. 100. 232 Ähnlich H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55 (57). 233 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: E 6, 389 (439); Bes. v. 10. 05. 1957 – 1 BvR 550/52 – strafbare Homosexualität.
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wähnung gefunden.234 So sind denn auch die Grundannahmen weitgehend von der Rechtsprechung geprägt worden. Das BVerfG stützt seine Herleitung auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)235 als auch auf die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)236 bzw. das APR aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (APR).237 Da beide Verfassungssätze alternativ238 als auch kumulativ239 E 7, 305 (319); Urt. v. 05. 03. 1958 – 2 BvF 4/56 – Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge. E 9, 167 (169); Bes. v. 04. 02. 1959 – 1 BvR 197/53 – Wirtschaftsstrafgesetz. E 20, 323 (331); Bes. v. 25. 10. 1966 – 2 BvR 506/63 – ,nulla poena sine culpa‘. E 25, 269 (285); Bes. v. 26. 02. 1969 – 2 BvL 15, 23/68 – Verfolgungsverjährung. E 28, 386 (391); Bes. v. 09. 06. 1970 – 1 BvL 24/69 – Kurzzeitige Freiheitsstrafe. E 41, 121 (122, 125); Bes. v. 17. 12. 1975 – 1 BvL 24/75 – Verfassungsmäßigkeit des § 17 StGB. E 45, 187 (228, 259 f.); Urt. v. 21. 06. 1977 1 BvL 14/76 – Lebenslange Freiheitsstrafe. E 50, 5 (12); Bes. v. 25. 10. 1978 – 1 BvR 983/78 – Lebenslange Freiheitsstrafe bei verminderter Schuldfähigkeit. E 50, 125, (133); Bes. v. 16. 01. 1979 – 2 BvL 4/77 – Strafschärfung bei Rückfall § 48 StGB. E 50, 205, (214 f.); Bes. v. 17. 01. 1979 – 2 BvL 12/77 – Strafbarkeit von Bagatelldelikten. E 54, 100 (108); Bes. v. 16. 04. 1980 – 1 BvR 505/78 – Verstrickung in ein Unrechtssystem. E 57, 250 (275); Bes. v. 26. 05. 1981 – 2 BvR 215/81 – V-Mann. E 73, 206; Urt. v. 11. 11. 1986 – 1 BvR 713/83, 921, 1190/84 und 333, 248, 306, 497/85 – Sitzblockaden I. E 80, 244 (255); Bes. v. 15. 06. 1989 – 2 BvL 4/87 – Vereinsverbot. E 80, 367 (378); Bes. v. 14. 09. 1989 – 2 BvR 1062/87 – Tagebuch. E 86, 288 (313); Bes. v. 03. 06. 1992 – 2 BvR 1041/88; 2 BvR 78/89 – Strafaussetzung bei lebenslanger. Freiheitsstrafe. E 90, 145 (173); Bes. v. 09. 03. 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 – Cannabis. E 91, 1 (27); Bes. v. 16. 03. 1994 – 2 BvL 3/90, 4/91 und 2 BvR 1537/88, 400/90, 349/91, 387/92 – Entziehungsanstalt. E 95, 96 (140); Bes. v. 24. 10. 1996 – 2 BvR 1851/94, 1853/94, 1875/94 u. 1852/94 – Mauerschützen. E 96, 249; Bes. v. 09. 07. 1997 – 2 BvR 1371/96 – Besonders schwerer Nachteil § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG. E 109, 133 (171); Urt. v. 05. 02. 2004 – 2 BvR 2029/01 – Sicherheitsverwahrung. E 110, 1 (13); Bes. v. 03. 03. 2004 – 1 BvF 3/92 – Erweiterter Verfall (§ 73d StGB). E 123, 267 (413); Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09 – Lissabon. E 128, 326, 374 ff. (376); Urt. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09; 2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; 2 BvR 1152/10; 2 BvR 571/10 – Abstandsgebot der Sicherungsverwahrung. 234 Als eigentliche Geburtsstunde – daher auch die entsprechende Kennzeichnung- gilt BVerfGE 20, 323, z. B. bei Hörnle, FS für Tiedemann (2008), S. 325 (326). Vorher wird vom Schuldprinzip expressis verbis nicht gesprochen. Gleichwohl gehören die behandelten Inhalte zum Schuldprinzip. Infolgedessen kann man von einer „Rückdatierung“ sprechen, vgl. H. A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz (2000), S. 225 in Fn. 207. Das ist für sich genommen aber unschädlich. 235 Z. B. BVerfGE 20, 323 (331). 236 Z. B. BVerfGE 96, 249; E 50, 125, (133); E 50, 205, (215); E 80, 244 (255); E 91, 1 (27), E 95, 96 (140). 237 BVerfGE 45, 187 (228, 259 f.); E 50, 5, (12); E 86, 288 (313).
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herangezogen werden, drängt sich mitunter auch eine gewisse Beliebigkeit auf.240 Ein solcher Rückschluss fällt aber ein zu vorschnelles Verdikt. Trotz der Dekontextualisierung in der Entscheidungspraxis des BVerfG wird vor allem die konkrete Entscheidungsbegründung des Rechtsfalls die Auswahl der Rechtssätze anleiten. Sophistisch nuancierte Differenzierungen sind in der Sache letztlich auch gar nicht entscheidend. Eine Kanonisierung einzelner Entscheidungen dürfte deshalb gar nicht zu sachgerechten, weil inkonsistenten Leitlinien gelangen. Zudem machen die vielfältigen Interdependenzen innerhalb der Verfassung eine strikte Verortung schwierig, einzelnen Textstellen Grundaussagen mit Bestimmtheit zuzuweisen.241 Schließlich ist daran zu erinnern, dass unter dem Gedanken der „Einheit der Verfassung“ ohnehin die argumentative Kraft häufig einer Gesamtheitsbetrachtung entlehnt wird. Gleiches stünde als Hypothese für das Schuldprinzip im Raum. Nichtsdestotrotz sollen Einzelbetrachtungen angestellt werden, die sich aber sinnvollerweise auf die verschiedenen Wirkungen bzw. Funktionen des Schuldprinzips beziehen. Ungeachtet etwaiger Subprinzipen lassen sich dabei zwei wesentliche Ausprägungen unterscheiden: einmal die strafbegründende Funktion als notwendige Bedingung der Verhängung von Kriminalstrafe sowie seine Begrenzungsfunktion mit der Wirkung als Maßprinzip für die verhängte Strafe.242 b) Schuldprinzip als Institutsgarantie Wenn hier in diesem Zusammenhang die Rede von Institutsgarantie ist, dann meint dies die Pflicht des Gesetzgebers, einen Grundbestand von Zurechnungsregeln bereitzustellen, die eine Zurechnung der Tat zum Individuum überhaupt erst ermöglichen. Angesprochen ist damit zuvorderst das Herausbilden eines vorhersehbaren Zurechnungsmaßstabes, Haftungsregeln, auf die sich der Bürger einstellen und 238 Entscheidungen, die primär oder ausschließlich das Rechtsstaatsprinzip heranziehen: BVerfGE 6, 389 (439) – strafbare Homosexualität; E 7, 305 (319), Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge; E 9, 167 (169), Wirtschaftsstrafgesetz; E 20, 323 (331); (,nulla poena sine culpa‘); E 41, 121 (125) – Verfassungsmäßigkeit des § 17 StGB. Entscheidungen, die primär oder ausschließlich auf die Menschenwürde rekurrieren: BVerfGE 25, 269 (285) Verfolgungsverjährung; E 57, 250 (275) – V-Mann; E 80, 367 (378) – Tagebuch; E 90, 145 (173) – Cannabis. Vor allem in jüngster Zeit hat sich das Schwergewicht auf die Menschenwürde hin verschoben. Vgl. E 123, 267 (413) – Lissabon. E 128, 326 (376) – Abstandsgebot der Sicherungsverwahrung. 239 Entscheidungen, die sich auf beide Verfassungsaussagen berufen: bspw. E 80, 244 (255) – Vereinsverbot. 240 So Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 387. S. auch Hörnle, FS Tiedemann (2008), S. 325 (327) mit Nachweisen. Anders H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, (77), der eine Unterscheidung in Kriminalstrafen und Sanktionen im weiteren Sinne ausmacht. 241 Ähnlich verfahrend Frister, Schuldprinzip (1988), S. 18; den „unterschiedlichen Rechtsgrundlagen entsprechen […] keine unterschiedlichen Sachargumente“. S. auch Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 27 f. 242 Vgl. dazu Radtke, GA 2011, S. 636 (640).
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ausrichten kann; mithin die Strafbegründung als solche. Für Strafen ist dies im Grunde bereits im nullum-crimen des Art. 103 Abs. 2 GG angelegt,243 denn Strafbarkeit hängt seit jeher von subjektiven Voraussetzungen ab. Ergänzend dazu dürfte demnach unter dem Gesichtspunkt der „Objektformel“ ein reines „Erfolgsstrafrecht“ für unvereinbar mit der Menschenwürde (Art. 1 GG) gelten. Der subjektiv-gestaltende Faktor des Menschenseins wird in einer ausschließlichen Erfolgsbetrachtung ausgeblendet. Es bedarf daher Leitlinien über eine objektive Zurechnung hinaus. Diese müssen so aufgebaut sein, dass das Individuum – unter der Voraussetzung einer generellen Planbarkeit – die Auslösung der Rechtsfolge durch sein Verhalten beeinflussen kann.244 Zusätzlich gebietet der Willkürschutz einen einheitlichen Zurechnungsmaßstab. Dies folgt bereits aus Art. 3 Abs. 1 GG. Neben der individual-rechtlichen Fundierung dürfte die strafbegründende Funktion der Schuld auch im Rechtsstaatprinzip institutionell abgesichert sein. Ein Rechtsstaat, der die gezeigten Parameter nicht berücksichtigt, dürfte nicht vorstellbar sein.245 Über den konkreten Zurechnungsmodus, sprich über das „wie“, und seine Reichweite im Detail entscheidet dann allerdings das einfache Recht, denn es existiert kein verfassungsrechtlicher materieller Schuldbegriff.246
243 So auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 283. 244 Man müsste in diesem Kontext die Frage gestatten, welchen verfassungsrechtlichen Begriff von Plan- oder Vorhersehbarkeit dann das Grundgesetz implizit eigentlich voraussetzt. Die Problematik des Anders-Handeln-Könnens in einer Situation würde damit bereits auf Verfassungsebene virulent. Eine schlichte Paraphrase immanenter Voraussetzungen über Verfassungsrecht verfehlte nämlich ohne Zweifel eine Lösung. Der Schlüssel liegt hier wohl noch immer im Menschenbild der Verfassung; dazu B.III. Nichtsdestotrotz gestattet die abstrakte Perspektive der Verfassung per se größeren argumentativen Spielraum. Dies lässt sich kursorisch an einem Beispiel umreißen: Die (umstr.) Auswirkungen auf die Rechtsfolge im Falle einer durch den Verzehr alkoholischer Getränke hervorgerufenen Intoxikationspsychose auf die Strafbarkeit lassen sich nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene über das Schuldprinzip lösen. Die Rechtsfigur der „actio libera in causa“ kann zwar mit dem Schuldprinzip in Verbindung gebracht werden. Es hilft jedoch nicht mehr weiter, wenn der Gesetzgeber einen Gefährdungstatbestand im Vorfeld bezüglich des Alkoholkonsums schaffen würde. Denn die Wirkungen des Alkohols sind hinlänglich bekannt und ein Bürger kann sich darauf einstellen. (Die Verfassungsmäßigkeit im Übrigen steht hier nicht zur Debatte). Diese Vorhersehbarkeit hingegen fehlt, wenn der Wirkmechanismus von Substanzen (bspw. Wechselwirkung von Medikamenten) unbekannt ist. Vom verfassungsrechtlichen Schuldprinzip wäre dieser Fall also geschützt. Es kommt die bekannte „jedenfalls dann, wenn“- Logik als Begründung zum Tragen. Solche Gedankenspiele sind nur begrenzt ergiebig. 245 An dieser Stelle zeigt sich deutlich die Verflechtung innerhalb des Verfassungsgefüges. Ein Stück weit handelt es sich um Redundanzen im Verfassungsrecht, denn selbst Verletzungen „nur“ des Rechtsstaatsprinzips blieben über die Praxis des Art. 2 I GG stets justitiabel. 246 So auch Radtke, GA 2011, S. 636 (645).
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c) Schuldprinzip als Übermaßverbot In seiner Begrenzungsfunktion wirkt das Schuldprinzip als Übermaßverbot. Die Rechtsgrundlage des Übermaßverbots wird überwiegend im Rechtsstaatsprinzip gesehen.247 Im Einzelnen leiten sich im Namen des Schuldprinzips daraus das Gebot schuldangemessenen Strafens248 sowie das Verbot erniedrigender Strafen249 ab. In der ersten Variante geht es um den klassischen Proportionalitätsgedanken; insoweit ist die Kongruenz mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip offenkundig. Die Relata Strafquantum und Tat müssen derart ins Verhältnis gesetzt werden, dass das Ergebnis des Strafübels noch als plausible Reaktion des Staates aufgefasst werden kann. Das ist üblicherweise gemeint, wenn ausgesagt wird, die Strafe dürfe das Maß der Schuld nicht überschreiten.250 Dieser Gedanke baut ersichtlich auf dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit und der daraus resultierenden Vorstellung, ohne Kongruenz werde gewissermaßen ohne Schuld gestraft, auf.251 Zwei Aspekten ist dabei Beachtung zu schenken: auf Ebene der Sanktionsnorm müssen Tatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein.252 Schließlich muss auf Rechtsanwendungsebene bei der Strafmaßfindung für eine konkrete Tat vor exzessiven Strafen geschützt werden. aa) In der Lesart eines Übermaßverbots kann es bei der Abstimmung von Tatbestand und Rechtsfolge nicht um die gesamte Systemarchitektur der Straftatbestände gehen. Ob sich ein Strafrahmen harmonisch in das Gesamtkonzept strafbarer Handlungen einfügt oder ob andere Strafrahmen treffender wären, ist vom Standpunkt des Übermaßverbots unmittelbar nicht zu entscheiden. Relevant ist nur, ob sich innerhalb des Strafrahmens überhaupt eine schuldadäquate Strafe finden lässt. Gewiss fließen zur Beurteilung mittelbar Systemerwägungen mit ein. Im Fokus steht demnach die Mindeststrafandrohung. Soweit diese das Schuldprinzip noch wahrt, ist 247 Stv. GG-Sachs/Sachs 6(2011), Art. 20 Rn. 146. Insbesondere die Rechtsprechung neigt zu dieser Begründung; in der Literatur mehren sich Ansätze, die auch Grundrechte bemühen, s. H. A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz (2000), S. 236 ff. mit Nachweisen zu verschiedenen Begründungswegen. 248 BVerfGE 50, 125, (134); E 73, 206 (253 f.); BVerfGE 92, 277 (327). E 50, 125, (140) mit Verweis auf BVerfGE 34, 261 (266). s. zu den einzelnen Entscheidungen auch Fn. 233. 249 BVerfGE 1, 332 (348), Urt. v. 13. 06. 1952 – 1 BvR 137/52 – Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Vollstreckung eines sowjetzonalen Strafurteils in der Bundesrepublik. BVerfGE 50, 205 (215), repliziert in BVerfGE 50, 205 (205), Bes. vom 17. 1. 1979 – 2 BvL 12/ 77 – Strafbarkeit von Bagatelldelikten. 250 Vgl. dazu noch BVerfGE 6, 389 (439); E 28 386 (391); E 34 261 (267); E 50, 125 (140). Allgemein anerkannter Grundsatz, aus dem Schrifttum z. B. Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens (1967), S. 36; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz (1960), S. 51; Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 48; B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (187). 251 Frister, Schuldprinzip (1988), S. 39. 252 BVerfG, 2 BvR 1350/08, Bes. v. 18. 03. 2009, HRRS 2009 Nr. 460. Grundlegend: BVerfGE 45, 187 (259 f.); 50, 125 (133); E 50, 205 (215), s. zu den einzelnen Entscheidungen Fn. 233.
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der Tatbestand verfassungskonformer Auslegung zugänglich und seitens der Verfassung nicht zu beanstanden. Nicht zuletzt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, als Zugeständnis der verfassungsgerichtlichen Kontrollperspektive, bietet angesichts der legislativen Praxis weitgespannter Strafrahmen wenig Anlass zum Eingreifen verfassungsrechtlicher Übermaßrhetorik. Bei fehlender Rechtsfolgenflexibilität wird diese Problematik eher virulent. Aufgrund dessen ist das Institut der lebenslangen Freiheitsstrafe verfassungsrechtlich grundsätzlich problematisch. So ist sowohl der Automatismus ihrer Auslösung in manchen Fällen (Mord), aber auch die verfassungsrechtliche Legitimität253 ihrer Verhängung per se nicht frei von Einwänden. Die „Rechtsfolgenlösung“ des BGH254 für Mordtatbestände ist bis heute die Antwort auf die Problematik im ersten Fall.255 Die lebenslange Freiheitsstrafe beurteilt das BVerfG als verfassungsmäßig, soweit dem Verurteilten jenseits der Aussicht auf eine Begnadigung die Möglichkeit einer Strafaussetzung offen steht.256 Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dieser Problematik kann hier nicht geleistet werden.257 Dennoch entschärft die „Aussetzungslösung“ die Problematik wesentlich, da in deren Konsequenz die Umwandlung in eine Zeitstrafe steht.258 Auf alle Fälle bewirkt dieser entgegengesetzte Mechanismus keinen Widerspruch zur Ausgangsprämisse der Zulässigkeit ihrer Verhängung.259 Darüber hinaus kann die Ausgewogenheit von Tatbestand und Rechtsfolge allein schon deswegen gestört sein, wenn die Kriminalisierungsentscheidung seitens des Gesetzgebers selbst fragwürdig ist. Dies war die Situation in der sog. Cannabis253 Zu Gegnerschaft vgl. H.-M. Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe: für eine Durchsetzung des Verfassungsanspruchs, (1999), S. 407 ff. mit Nachweisen passim. 254 BGHSt 30, 105, Bes. v. 19. 05. 1981 – GSSt 1/81. 255 Die Rechtsfolgenlösung ist seit jeher umstritten, vgl. StGB-Fischer 67(2020), § 211 Rn. 47 mit Nachweisen, des Weiteren Rn. 101 ff. Sie fällt methodisch betrachtet gegenüber dem ebenfalls praktizierten Modell der restriktiven Merkmalsauslegung erheblich ab. Vom Schuldprinzip aus sind gegen diese Entscheidung allerdings keine Einwände zu erheben, so dass sich eine Erörterung hier erübrigt. Dennoch ist der Reformbedarf im Bereich der Tötungsdelikte unbestritten und nahezu legendär. Auf Veränderung wartet man bislang vergeblich; vielversprechende Vorlage vom Arbeitskreis AE mit dem AE-Leben in GA 2008, S. 193 ff. 256 BVerfGE 45, 187 (228) – Urt. v. 21. 06. 1977 1 BvL 14/76. 257 Eine Einführung gibt Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe (2011), S. 46 ff. 258 S. zum Komplex der Schuldbetrachtung noch die Ausführungen im 2. Kapitel unter A. III. 3. c). 259 Die Stringenz wird immer wieder bestritten, krit. z. B. H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, (66). Die überspitzte Formel, es werde die Verurteilung zur, aber nicht der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe verfassungsmäßig gestattet (Wolff, a. a. O.), verkennt das wahre Anliegen der Entscheidung. Der Vollzug ist sehr wohl zulässig, sofern die (realistische) Chance auf Freiheit verbleibt. Darin liegt kein Bruch mit dem oder eine Abtrennung vom Schuldgedanken. Wenn das Schuldprinzip eine Vollstreckung unter bestimmten Umständen zulässt, heißt das nicht, dass diese stets erfolgen müsste. Sozialstaatliche Gesichtspunkte können ergänzend herangezogen werden. Denn Schuldprinzip und Sozialstaatlichkeit stehen nicht im Widerspruch zueinander. (An anderer Stelle verweist selbiger Autor selbst auf die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips, a. a. O., S. 63).
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Entscheidung.260 Hier findet in der Begründung ein fließender Übergang vom Gebot schuldangemessenen zum Verbot unverhältnismäßigen Strafens statt. In Rede steht dann meist eine übertriebene, ggf. gar menschenunwürdige staatliche Reaktion an sich. Das ist gemeint, wenn in alternierender Verwendung bestimmte Adjektive („grausam“, „hart“ „unmenschlich“, etc.)261 die Entscheidung tragen. Es geht dann weniger um eine treffende Attribuierung an sich, sondern um die Intention, dass für Strafen gedanklich eine absolute Grenze errichtet ist.262 Seit der Abschaffung der Vollzugsdifferenzierung263 betrifft das nicht mehr die Art der Strafe, sondern nur noch deren Höhe. Zu dem Gebot schuldangemessenen Strafens besteht folglich lediglich ein gradueller Übergang. Hier verzahnt sich der objektive Gewährleistungscharakter der Rechtsstaatlichkeit mit der subjektiv-rechtliche Seite des APR in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Wählt man als Ausgangspunkt die Objekt-Formel, wird deutlich, dass erstens nicht jede Gesetzesübertretung eine Kriminalstrafe nach sich ziehen kann und zweitens auch im Falle („echten“) Strafunrechts nicht beliebig in der Sanktionshöhe vorgegangen werden kann; mag auch ein innersystematisches Gleichgewicht herstellbar sein. Die Erfahrungen der NS-Zeit wiederum lehren, dass eine „natürliche“ Grenze von menschlichen Missetaten und vermittelter Demütigung nicht zu erwarten sind. In Abgrenzung zu diesem finsteren Kapitel war und ist es Aufgabe, das „Subjekt Mensch“ mit unveräußerlichen Rechten wieder in den Vordergrund zu stellen. Dieses gilt insbesondere für das in seiner Eingriffsintensität hohe Strafrecht. bb) Vom gedanklichen Ausgangspunkt müssten diese Überlegungen auch für die Aburteilung einer konkreten Tat anwendbar sein. Dennoch lässt sich das Gesagte nicht ohne weiteres ohne Einschränkung übertragen. Denn der Gedanke der Verhältnismäßigkeit lässt sich nämlich nur in der Theorie konturscharf formulieren. Praktisch gesehen fördert dies keine wesentliche Erkenntnis zu Tage. Wenn als Konkretisierung die Rede von „Verhältnis der Schwere der Tat und Maß der Schuld264 im Verfassungsrecht bemüht wird, zeugt dies eher von systematisch unbedarften Gebrauch. Denn ungeklärt bleibt damit in welchem Verhältnis die Begriffe Unrecht und Schuld auf Verfassungsebene zueinander stünden.265 Man wird eine solche Aussage als hendiadyoinische Paarformel kennzeichnen müssen, die keinen wesentlichen dogmatischen Aufschluss bietet, sondern bewusste Offenheit sucht. Es steht nämlich kaum zu vermuten, dass eine genuine verfassungsrechtliche Begriff260
BVerfGE 90, 145 ff., Bes. v. 9. 3. 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92. S. auch H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55 (72) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung zu äquivalenten Aussagen; z. B. Gebot des „sinnvollen Strafen“ in BVerfGE 45, 187 (253 ff.). 262 Ebenso H. A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz (2000), S. 221. Weitergehende, internationale Perspektive diesbezüglich, namentlich das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK), zeigt Radtke, GA 2011, S. 636 (650 ff.), auf. 263 Dazu Laubenthal, Strafvollzug 6(2011), Rn. 111 ff. 264 Vgl. BVerfGE 50, 5 (12), E 45, 187 (228). 265 Ähnlich wohl H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55 (60). 261
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lichkeit auf die Art und Weise ausgebildet werden sollte, denn die wäre, wollte man Schuldprinzip über Schuld konkretisieren, unweigerlich tautologisch. Aber auch eine Verweisung auf das einfache Recht scheint in diesem Zusammenhang eher unwahrscheinlich, denn eine solche dogmatische Positionierung wäre für das Verfassungsgericht gänzlich untypisch, weil gehörig folgenrelevant. Folgenrelevant und bedeutungsschwer wäre eine umfassende Nachprüfungskompetenz (un)verhältnismäßigen Strafens, denn das BVerfG würde somit unumstößlich zur gefürchteten „Superrevionsinstanz“ aufsteigen. Um dem zu entgehen, wird in Anwendung der „Heckschen Formel“ die Prüfungskompetenz auf spezifisches Verfassungsrecht266 reduziert. Projiziert auf die vorliegende Konstellation bedeutet dies, dass die Grundrechtsrelevanz überhaupt oder wenigstens die Reichweite des geschützten Bereichs völlig verkannt würde. Man müsste also innerhalb eines (verfassungsgemäßen) Strafrahmens für einen (unerkannt) denkbar leichten Fall die denkbar schwerste Sanktion sich vorgestellt wissen. Das ist abgesehen von Fällen der Rechtsbeugung kaum naheliegend und daher eine eher akademische Gefährdungslage. Anders als bei konkreten Merkmalsfragen267 bedingt die Finalstruktur des § 46 Abs. 1 StGB nur die Beachtung seines Handlungsgebots. Dies ist durch den Vorrang des Gesetzes allein aber schon ausreichend abgesichert. Wenn aber das (verfassungsrechtliche) Schuldprinzip Fehler in der (einfachen) Rechtsanwendung in aller Regel verfassungsgerichtlich nicht justitiabel machen soll, hat es für die konkrete Strafmaßfindung kaum nennenswerte Bedeutung. d) Schuldprinzip als Untermaßverbot? In der wissenschaftlichen Diskussion taucht das Schuldprinzip als Untermaßverbot eigentlich nicht auf. Als Untermaßverbot besehen kehrte es den Satz „nulla poena sine culpa“ in „keine Schuld ohne Strafe“ um. Insoweit scheint ein Untermaßverbot implizit vorausgesetzt zu werden. Andernfalls macht es die Diskussion
266 Bes. v. 10. 06. 1964 – 1 BvR 37/63 – BVerfGE 18, 85 (93 f.): „Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. […]. Allgemein wird sich sagen lassen, dass die normalen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Eine Grundrechtswidrigkeit liegt noch nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den hierzu zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über dessen „Richtigkeit“ (in dem allgemeinen Sinne von „Sachgemäßheit“ oder „Billigkeit“) sich streiten läßt […]“, Herv. d. Verf. 267 Berühmtes Beispiel: Bes. v. 10. 01. 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 – BVerfGE 92, 1 ff. (Sitzblockaden II): Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
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um eine „generalpräventive Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe“268 ohne ein derartiges Verständnis kaum nachvollziehbar. Dies erweckt mithin den Eindruck, als verwandele sich das Schuldprinzip in ein den Bürger belastendes Phänomen – einhergehend mit einer affirmativen Reaktion seiner Gegner. Umgekehrt könnte schließlich aus einem potentiellen Charakter eines Untermaßverbots die brisante Überlegung erwachsen, ob das Schuldprinzip nicht nur den Rang einer Institutsgarantie (Operationalisierung von Zurechnung), sondern darüber hinaus eine Bestandsgarantie beansprucht. Eine solche Feststellung hätte weitreichende Konsequenzen zufolge, nämlich dergestalt, dass Modelle, die gegen das Schuldprinzip opponieren, nicht hinter den Anforderungen des Schuldprinzips zurückbleiben dürften. Mit anderen Worten: Jedes Alternativmodell müsste sich gegenüber dem Schuldprinzip als verfassungsgerecht erweisen. Ein Untermaßverbot, in dem Sinne verstanden, dass aus dem Schuldprinzip einzelne Schutz- und Leistungspflichten des Staates269 zu gerieren wären, unterfällt in zwei denkbare Gruppen. Der eine, hier zu vernachlässigende Teil reflektiert dabei den abwehrrechtlichen Charakter auf verfahrensrechtlicher Seite. Bspw. lässt sich die Unschuldsvermutung auch als Kehrseite des Schuldprinzips entwickeln. Das Schuldprinzip verlangt, dass Rechtsfolgen mit Strafcharakter eben auch nur an den Schuldnachweis geknüpft werden. Es bereitet also keine Probleme, dem Schuldprinzip auch einen legislatorischen Gestaltungsauftrag zu entnehmen. Dieses Beispiel zeigt jedoch deutlich, dass solche Leistungspflichten aufgrund ihrer komplementären Hintergedanken derivativer Natur sind. Sie werden von der Institutsgarantie staatlicher Zurechnungsmodi schlicht vorausgesetzt.270 Ein originäres, „echtes“ Untermaßverbot betrifft nach hiesiger Auffassung eher das materielle Recht. Es steht zu überlegen, aus welchem Grund Schutzpflichten ausgelöst werden können. Einfach gesprochen könnte „dort wo Schuld vorliegt“ der Staat zum Handeln verpflichtet werden. Zu statuieren wären also einmal an die Adresse des Gesetzgebers gerichtete Pönalisierungspflichten bestimmter Verhaltensweisen. In aufsehenerregender Weise wurden bereits Pönalisierungspflichten aus der Verfassung heraus entwickelt.271 Ohne die Bedingungen speziell eines Einsatzes 268
Allgemein und mit den Nachweisen dazu Tomforde, Die Zulässigkeit einer Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe aus präventiven Gesichtspunkten (1999), S. 136 ff. Den Anstoß zu solchen Überlegungen hat die Rechtsprechung gegeben mit der Aussage, eine schuldangemessene Strafe im Hinblick auf eine Maßregel nicht zu unterschreiten, vgl. BGHSt 24, 132 (134), Urt. v. 27. 10. 1970 – 1 StR 423/70. Zur Schuldunterschreitung zuvor schon bei Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976); 1(1961), S. 205. Zur strafzumessungsrechtlichen Diskussion im 2. Teil, 1. Kapitel, C. V. 2. b). 269 Die genaue Herleitung der Schutzpflichten hat hier nicht zu interessieren. Überblick bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 60 ff. 270 Einzelheiten derart sollen nicht weiterverfolgt werden. Soweit die Verfahrensseite Berührungspunkte zum Schuldprinzip herstellt, ist dies auf diesen Reflex zurückzuführen. 271 BVerfGE 88, 203 (257 ff.) – Urt. v. 28. 05. 1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – (Schwangerschaftsabbruch II) in Fortführung von BVerfGE 39, 1 ff., Urt. v. 25. 02. 1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – (Schwangerschaftsabbruch I).
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von Strafrecht zum Schutz von Grundrechten zu diskutieren,272 wird man jedenfalls das Schuldprinzip in diesem Zusammenhang ausscheiden können.273 Am Beispiel des Mords kann dies einfach nachvollzogen werden. Die notwendige Strafbarkeit des Mords ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag das Leben zu schützen (Art. 2 Abs. 2 GG) und nicht aus dem Umstand, dass ein Mörder „schwere Schuld auf sich lädt.“ Denn zum Schutz angehalten werden kann der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nur über den Schutz von Grundrechten. Ein Grundrecht ist das Schuldprinzip freilich nicht. Die Argumentation über die Schuld ist vom Verfassungsstandpunkt her stets unselbständig, da Schuld sich nur über die Verletzung von dahinterstehenden Rechtsgütern ausbilden lässt. Dann geht es aber entschieden über die Wertigkeit der Rechtsgüter selbst, und nicht erst um die damit in Zusammenhang stehende Schuld. Über den Begriff der Schuld selbst lässt sich auch nichts ausrichten, denn ein subsumtionsfähiger, für allzeiten feststehender Begriff ist dem Verfassungsrecht nach dem bisher Gesagten mindestens ebenso fremd wie dem Strafrecht selbst. Die im Strafrecht angelegte Fragmentarität ist nicht dazu geeignet, aus einem System von Schuldgehalten zuverlässig Informationen darüber zu schöpfen, welche Verhaltensweisen strafbar sein sollen. Soweit – wovon bislang auszugehen ist – ein moralphilosophisches und verfassungsrechtliches Schuldprinzip derart in Einklang stehen, dass letzteres im ersteren aufgehoben ist, kann die Verfassung über die Statuierung einer Regel oder deren Transformation von (bloßer) Moral zum Recht mit Hilfe des Schuldprinzips keine Antwort finden. Zur Moral verhält sich die Verfassung wegen ihres (weltanschaulichen) Neutralitätsgebots indifferent. Zur rechtlichen Relevanz eines Sachverhalts gelangt man indes wieder nur über die Grundrechte. Nun könnte man dann, wenn der Schuldcharakter einer Verhaltensweise wenigstens rechtlich fundiert ist, über eine Verfolgungspflicht des Staats aufgrund des Schuldprinzips nachdenken. Die Verfolgungspflicht von Unrecht ist aber bereits durch das Gewaltmonopol des Staates274 ausreichend und umfassend legitimiert. Des Weiteren ist ein „weiter“ Begriff dieses Gewaltmonopols zugrunde zu legen: ein solcher beinhaltet auch die Möglichkeit von Zwangsmaßnahmen mit Strafcharakter abzusehen (z. B. Diversion). Sofern das Maß der Schuld die Auswahl einer Diversionsmaßnahme leiten sollte, geht es dabei in Wahrheit um den Ausgleich von Individual- vs. Generalprävention. Das Schuldprinzip steht dabei als Entscheidungsmaßstab außen vor.275 272 Eine Aufstellung von Topoi findet sich bei Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 262 ff. Zur allgemeinen Diskussion auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 77 f. mit Nachweisen. 273 Auch Armin Kaufmann, ZfRV 1964 S. 41 (44) verneint ebenfalls solche Schlussfolgerungen aus dem Schuldprinzip – freilich noch nicht mit dem heute grundrechtlichen Argumentationsimpetus. 274 Zur Verankerung im Rechtsstaat vgl. nur GG-Sachs/Sachs 6(2011), Art. 20 Rn. 77 i. V. m. Rn. 162. 275 Noch unbeantwortet ist damit allerdings die Frage, inwieweit ein Opfer ein Recht auf eine Bestrafung des Täters im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des allgemeinen Per-
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Das Schuldprinzip als Untermaßverbot zu bemühen ist nach alledem vielleicht nicht ausgeschlossen, aber nicht sonderlich zielführend. Das liegt vor allem daran, dass der Kerngehalt des Schuldprinzips in seiner Abwehrwirkung liegt. In dieser freiheitlichen Dimension ist es auf die Staat-Bürger-Konstellation zugeschnitten. Zutreffend wird das Schema: „in dubio pro libertate“ jedenfalls für mehrpolige Grundrechtsverhältnisse, wie sie den Schutzpflichten zugrunde liegen, nicht für geeignet gehalten.276 Ähnliches gilt auch hier. Die freiheitliche Argumentation des Schuldprinzips trägt zum Thema Schutzpflichten nichts Originäres bei. Die Verortung von Schutzpflichten ist in anderem Kontext aussagekräftiger aufgehoben. „Geistige“ Anleihen bei anderen Rechtssätzen sind folglich nicht nur unnötig, sondern auch kontraindiziert. Denn eine solche Verwässerung bewirkt offenbar, dass das Schutzprinzip der Schuld auch zu Lasten des Bürgers gelesen wird. Letztlich ist dahinter ein fundamentales Missverständnis bzgl. des Verhältnisses von Schuld und Prävention auszumachen.277 Was den hier als „Institutsgarantie der Schuld“ postulierten Zurechnungsmodus betrifft, steht die Begründung eines Untermaßverbotes freilich noch aus. Soweit sich gerechte Zurechnung und Sanktionspraxis nur über (eine bestimmte) Schuld artikulieren ließen, käme die Verfassung ohne ein eigenes, solches Schuldverständnis nicht aus; insofern wäre die Rede vom Untermaßverbot berechtigt. Da dies in abstracto nicht dargestellt oder gar beschieden werden kann, soll es beim Aufwerfen dieses Gedankens bleiben. Im Fortgang wird die Verfassungsmäßigkeit einzelner Schuldmodelle bzw. seiner Alternativen bei der Vorstellung derselben die Untersuchung weiter beschäftigen und in dieser Hinsicht Klarheit bringen. e) Ersetzung des Schuldprinzips? aa) Die Ausgangslage Ein erster Schritt in Richtung Klarheit könnte die Suche nach der verfassungsrechtlichen Substituierbarkeit bringen. Wegen der Unklarheiten und konnotativen Vorbelastungen des Schuldbegriffs sind Versuche, sich vom Schuldgedanken zu lösen, immer in der Diskussion. Auf Ebene der Verfassung hat ein solches Unterfangen eine gehobene Attraktivität, denn das beharrliche Festhalten am verfassungsrechtlichen Schuldprinzip ist der nachhaltige Grund, weshalb alternative Konzepte bislang zum Scheitern verurteilt sind. Mit dem BVerfG bleibt dieses Ergebnis vorgezeichnet: sönlichkeitsrechts geltend machen kann, vgl. bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 86 ff. 276 Vgl. dazu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 13, des Weiteren Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 55. Insoweit auch Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 152. 277 Einzelheiten zu den begrifflichen Implikationsmöglichkeiten unter A. IV.; s. auch das 2. Kapitel bei B. zur hiesigen Lösung.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff „Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. […]. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 [140]). Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250 [275]; 80, 367 [378]; 90, 145 [173]). Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“278
Nun muss man sich nicht mit dieser apodiktischen Begründung begnügen. Die Aussichten auf eine alternative Begründung stehen von vorneherein nicht derart schlecht, da der Verfassungstext das Wort Schuld gar nicht gebraucht. Das Schuldprinzip wird aus verschiedenen Grundsätzen hergeleitet; im ersten Ansatz spricht nichts dagegen allein auf deren Basis schutzäquivalente Aussagen zu treffen. Die Unveränderlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gilt für das Schuldprinzip nämlich allenfalls mittelbar über die Menschenwürde. Sehr leicht mündet der Schluss in einer petitio principii: wenn die Unersetzlichkeit des Schuldprinzips gedanklich vorausgesetzt wird, steht zu erwarten, dies auf die Menschenwürde zurückführen zu wollen. Denn Unersetzlichkeit muss im Grunde auf einen integralen Bestandteil der Verfassung verweisen. Aber diese gedankliche Prämisse (Unersetzlichkeit) hat sich einem Beweis erst zu stellen. Denn die oben dargestellten Gehalte gelten zwar als verfassungsverbürgte Ausprägungen des Schuldprinzips. Nicht gesagt ist damit jedoch, dass diese Ausprägungen ausschließlich über Schuld zu begründen wären. Ein derartiger Schluss ist formallogisch nicht impliziert. Aus dem bisherigen festzuhalten ist: „Schuld ist (,fordert‘) legitime Strafbegründung und Strafmaßbegrenzung.“ Die Umkehrung: „legitime Strafbegründung bzw. Strafmaßbegrenzung ist (,fordert‘) (immer) Schuld“ ist aus dem bisher geleisteten Begründungszusammenhang nicht sicher zu schließen. Möglicherweise kommen andere Wege ebenfalls zu diesen Ergebnissen. Soweit gezeigt werden kann, dass solche anderen Wege die Unantastbarkeit der Menschenwürde in gleicher Weise wahren können, ist das Schuldprinzip von der Verfassung aus besehen lediglich kontingent.279 278
BVerfGE 123, 267 (413) – Lissabon, Hervorhebung durch Verf. Vom Standpunkt der Lissabon-Entscheidung erübrigte sich die folgende Diskussion, denn die Passage liest sich insoweit anscheinend überraschend eindeutig. Das ist an sich schon bemerkenswert, denn eine Standortbestimmung dieser Tragweite würde man nicht in derart kurzer Abhandlung weniger Zeilen vermuten. Zugleich hinterlässt die Kürze den Dogmatiker reichlich unbefriedigt. Man könnte sich darüber hinwegtrösten, dass § 31 BVerfGG wenigstens keine Beschränkung wissentlicher Beschäftigung auferlegt, vgl. i. d. S. bereits Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 51. Es spricht aber weiterhin manches dafür, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit verbindlich gar nicht gesprochen wurde. Dafür ist das Risiko auf Seiten des BVerfG im Grunde zu hoch weit über den eigentlichen Entscheidungsgegenstand hinaus einerseits als dogmatischer Pate herangezogen zu werden, andererseits zukünftigen Vorhalten ausgesetzt zu sein. Es ist gänzlich untypisch für das BVerfG, die Interpretationsherrschaft der eigenen Kontrolle derart preis zu geben. Um diesen Befund einordnen zu können, bedarf es dem Ausholen einiger Worte eines lohnenswerten Seitenblicks. Mit der Methode der Maßstabsbildung gibt sich das BVerfG selbst ein über den Einzelfall hinausweisendes Gestaltungsinstrument an die Hand, vgl. dazu im Folgenden jeweils 279
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Ein zweiter, in diesem Zusammenhang möglicherweise zu beachtender Aspekt ist der verfassungsrechtliche Begriff der Strafe. Strafe und Schuld korrelieren in ihrem Sprachgebrauch – das gilt es im Hinblick auf das Schuldprinzip zu untersuchen.
O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt (2011), S. 161 (167 ff.). Rechtstechnisch bewegt sich ein solcher Maßstab zwischen Normtext und Normauslegung, der Konkretisierung einer generell-abstrakten Verfassungsnorm, der zugleich dennoch eine Generalisierung der individuellkonkreten Entscheidungsfrage ermöglicht, s. O. Lepsius, a. a. O., S. 176. Dieses Mittel eignet sich vorzüglich für den Eintritt auf das Terrain der (Rechts-)Politik, s. wiederum O. Lepsius, a. a. O., S. 173. Auf diese Weise kommt das BVerfG seiner selbstauferlegten „Integrationsaufgabe“ recht kontinuierlich nach. In dieser Hinsicht wandelt auch „Lissabon“ wenigstens ein Stück weit auf politischem Bankett. Denn es galt durchaus nervöse Gemüter, die einen Souveränitätsverlust des deutschen Staates im Zuge fortschreitender Europäisierung fürchteten, nachhaltig zu beruhigen. Das Strafrecht, seit jeher rechtsethische Visitenkarte einer Gesellschaft und Inbegriff der staatlichen Souveränität, spielt in diesem Zusammenhang eine gehobene Rolle. Ein Abbild dessen liefert nun BVerfGE 123, 267 (406 f.): „Namentlich die neu übertragenen Zuständigkeiten in den Bereichen der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen […] können und müssen von den Organen der Europäischen Union in einer Weise ausgeübt werden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene sowohl im Umfang als auch in der Substanz noch Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen, die rechtlich und praktisch Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind. […] Es kommt für die verfassungsrechtliche Beurteilung […] darauf an, dass der Bundesrepublik Deutschland für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche substantielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben.“ Das ist gleichzeitig ein strategisch kluger Schachzug in eigener Sache, denn es untermauert den Machtanspruch des BVerfG. Das macht es wahrscheinlich, dass das Schuldprinzip in erster Linie funktionell den Vorbehalt der Kontrollherrschaft transportieren soll. Denn das Schuldprinzip weist aufgrund seiner Allgemeinheit eine potentielle Begriffsweite mit hoher Aufnahmefähigkeit verschiedentlicher Thematiken auf. Das macht es in der Diskussion gefügiger als bspw. das formale Prinzip des „Nulla poena sine lege“, dessen Anwendungsbereich eher ausgereizt ist. Die – ansonsten eher beklagte – Vagheit lässt sich zu Nutze machen. In diesem Sinne liest sich die ausgewählte Passage als direktive Fortsetzung der „Solange“-Rechtsprechung (BVerfGE 37, 271 – Solange I [1974] und BVerfGE 73, 339 – Solange II [1986]). In diesem Licht beschienen leuchtet auch das z. T. prätentiöse, ausgedehnte Verständnis von der skizzierten „Verfassungsidentität“ ein, krit. dazu Lepsius, a. a. O., S. 228 ff. Es gibt also gute Gründe, die Tragweite für das Strafrecht bereits im Vorfeld zu relativieren. Die Strategie dazu ist freilich noch offen, doch Erfindungsreichtum ist da, so demonstriert im Wunsiedel-Beschluss (2009), BVerfGE 124, 300 (327 f.), beträchtlich. (Zur Möglichkeit verfassungsimmanente Ausnahmen von Maßstäben zu kreieren, vgl. Lepsius, a. a. O., S. 253 ff.). Der Ausweg ist vielleicht selbst angelegt: BVerfGE 123, 267 (413): „Die Zuständigkeiten der Europäischen Union im Bereich der Strafrechtspflege müssen zudem in einer Weise ausgelegt werden, die den Anforderungen des Schuldprinzips genügt.“ Anforderungen können möglicherweise auch schutzäquivalent formuliert werden. Das Schuldprinzip muss also gar nicht als änderungsresistentes Verfassungsgewohnheitsrecht tituliert werden, so noch H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, (84). Das Schuldprinzip kann hier funktional im Sinne einer Abbreviatur eines Schutzstandards verstanden werden. Insofern steht die Rechtsprechung noch offen für einen sog. „Verfassungswandel“; zum Begriff GG-Sachs/Sachs 6(2011), Einführung Rn. 27; H. A. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz (2000), S. 87 ff., 96.
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bb) Die „Umkehrprobe“ Ganz generell ließe sich nämlich die Frage aufwerfen, ob das Schuldprinzip – analog zu der Diskussion um das Rechtsstaatsprinzip280 – nur die Summe einzelner Subprinzipien des Rechtsstaates bildet oder ein integrales Verständnis anregt werden kann. Denn soweit das Schuldprinzip rein additiven Charakter aufweist, müsste dies von der Grundidee die Möglichkeit eröffnen, die nicht unumstrittene Fundierung über den Topos der Schuld zu umschiffen, indem auf die zugrunde gelegte Herleitung direkt zurückgegriffen wird. Dass, worauf es beim Schuldprinzip letztlich ankommt, sind die in ihm verbrieften Schutzgehalte. Wenn andere Verfassungsinhalte diese Aufgabe funktionell übernehmen können, ist kein wirklich eigenständiger Gehalt des Schuldprinzips über die Verfassung sichtbar zu machen.281 Das Verfahren ähnelt einer Umkehrprobe: sobald die alternativen Erklärungsansätze auf den Gedankeninhalt der Schuld zurückgreifen, ist die Unverzichtbarkeit des Schuldprinzips auf indirektem Wege erwiesen. Als aussichtsreichster Kandidat für eine Substitution gilt schon länger der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.282 Um die Leistungsfähigkeit tatsächlich abprüfen zu können, muss das Begriffsverhältnis von Schuld und Verhältnismäßigkeit geklärt werden. Dort wo sich die Inhalte entsprechen, ist das Schuldprinzip nicht mehr von Nöten. Wie sich Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeit allerdings zueinander verhalten, wird völlig kontrovers beurteilt. Das Spektrum reicht von Identität283, sprich, dass der eine Rechtssatz vollständig im anderen aufgeht, über Teilidentität284 hin zu partieller Inkommensurabilität.285 280 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HBStR II 3(2004), § 26 Rn. 7; GG-MD/ Grzeszick (48. Lfg. 2006), Art. 20 Rn. 42 ff. 281 Es geht hier – das sei in Deutlichkeit wiederholt – nicht darum um die Opposition zum Schuldprinzip oder deren Negation an sich. Ein Nachweis bezieht sich lediglich auf die zwingende Rückführung auf das Schuldprinzip. Ein Verzicht kann durchaus legitimatorischen Gewinn nach sich ziehen, denn die Heranziehung des ethisch nicht-neutralen Schuldgedankens stellt die Strafrechtswissenschaft vor erheblichen Begründungsaufwand. Vgl. insbesondere die Kritik unter A. IV. 3. in diesem Kapitel. 282 Vorschläge, die auf einen Verzicht des Schuldprinzips zugunsten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gehen erstmalig zurück auf Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 27 ff. (= Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten, II, 1975, S. 266 ff. Neuerdings rezipiert bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 324 ff., mit eigenem Ansatz S. 329 ff. und passim. Zur propagierten Überlegenheit (a. a. O., S. 339 f.) hier auch im Folgenden. 283 So firmiert im verfassungsrechtlichen Schrifttum teilweise das Schuldprinzip unter dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit oder wenigstens unter gleicher Überschrift. Vgl. dazu die Kommentierung bei GG-Jarass/Pieroth 12(2012), Art. 20 Rn. 103 f.; s. auch MüKo-StGB/ Franke 1(2005), § 46 Rn. 7; Hassemer, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, (1983), S. 89 (100); Kau, FS Kriele (1997), S. 761 (768); Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 371 ff. (385). 284 Arthur Kaufmann, FS R. Lange (1976), S. 27 (31 f.); ders., Jura 1986, 225 (227); Paulduro, Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen (1992), S. 205; Weigend, FS Hirsch (1999), S. 917 (929). 285 In diesem Sinne wohl Schild, FS Lenckner (1998), S. 287 (295, 309 f.).
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(1) Was die strafbegrenzende Funktion angeht, so scheint zumindest das Gebot des schuldangemessenen Strafens über die Verhältnismäßigkeit gesichert. Dieses Gebot ist angewandte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung des BVerfG.286 Die Frage lautet allerdings, wie eine absolute Grenze herzuleiten ist, ähnlich wie es das Schuldprinzip vorgibt. Nicht selten wird Verhältnismäßigkeit als rein formales Maßprinzip zweier Relata verstanden.287 Ein lediglich innersystematisches Begrenzungsgefüge könnte jedoch nicht vor einer Bestrafung bagatellhafter Gesetzesübertretungen schützen oder absolute Schranken einer Bestrafung errichten. Aber dieser Formalitätseinwand führt nur auf das Rechtsstaatsprinzip, welchem es an materiellen Kriterien288 ermangelt um als Korrektiv von außen wirken zu können, zurück. Zudem vernachlässigt diese Sichtweise die Grundrechtsverflochtenheit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.289 Verhältnismäßigkeit gewinnt seine Gestalt erst in Ansehung der verschiedenen Schutzbereiche der Grundrechte. Insofern ist Verhältnismäßigkeit in der Rechtsanwendung auch systematisch in größeren Kontext eingebunden. Als rein formales Prinzip hat es auch das BVerfG nie verstanden.290 Die Verhältnismäßigkeit wurzelt in ihrem Ursprung als Rechtsprinzip 286
Aus der in der Entscheidungsbegründung herangezogenen „insoweit“-Logik schon fehlende Deckungsgleichheit auszumachen, erscheint zu weit gehend. So jedoch Paulduro, Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen (1992), S. 206 mit Verweis auf BVerfGE 34, 261 (266); E 50, 125 (133); E 50, 205 (215) und E 73, 206 (253). 287 Arthur Kaufmann, FS R. Lange (1976), S. 27 (33); erneuert in: Jura 1986, 225 (228); Roxin, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 519 (532); Seelmann, Jura 1980, S. 505 (511); auch Frisch, NStZ 2013, S. 249 (253): „[bloß] bipolare Betrachtungsweise“. Einwände auch bei Weigend, FS Hirsch (1999), S. 917 (928 f.) hinsichtlich der Möglichkeit tatschuldfremder Abwägungsdirektiven. 288 Zwar wird seit langer Zeit auch ein Begriff „materieller“ Rechtsstaatlichkeit thematisiert. Dazu AK-GG/Frankenberg 3(2001), Art. 20 Rn. 22, 52; GG-MD/Grzeszick (48. Lfg. 2006), Art. 20 Rn. 41; GG-Dreier/Schulze-Fielitz 2(2006), Art. 20 Rn. 48 f.; Sommermann, in: GG-Mangoldt/Klein/Starck 6(2010), Art. 20 III Rn. 231 ff.; Der Wert dieser Diskussion kann und soll an dieser Stelle gar nicht ausgeführt werden. Verkürzt konvergiert sie letztlich im Gerechtigkeitsdenken, dem Fluchtpunkt aller rechtlichen Argumentation. Freilich ist die Sezierung einzelner Verfassungsprinzipien stets ein wenig überspitzt. Sie wird dem holistischen Ansatz der Verfassung schlicht nicht gerecht werden können. So begleiten vielfältige Interdependenzen in Art und Zahl bereits die originäre Verfassungsinterpretation. Zum Menschenwürdegehalt eines Rechtsstaates s. exemplarisch Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, HBStR II 3(2004), § 26 Rn. 30; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 III Rn. 238. Ein Auffächern in einzelne Gedankenstränge hat eher Systematisierungs- und Ordnungsfunktion. 289 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 20. Von daher mag der Einwand der Bipolarität von Frisch, NStZ 2013, S. 249 (253), nicht überzeugen. Wir reden in dem Zusammenhang immer über multipolare Grundrechtsbeziehungen vieler Bürger. Im Übrigen reicht ein Blick auf die „Erforderlichkeit“ um zu wissen, dass mehrdimensionale Beziehungen vergleichend untersucht werden müssen. 290 Beleg dafür BVerfGE 73, 206 (254): „Zur Vermeidung unverhältnismäßiger Sanktionen wird es in der Regel genügen, dass der Gesetzgeber dem Richter die Verhängung schuldangemessener Strafen innerhalb eines entsprechenden Strafrahmens bei der Strafzumessung er-
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im Polizeirecht,291 in dessen Rahmen es um die Frage einer konkreten Eingriffsberechtigung zu einem bestimmten Ziel geht und nicht lediglich um eine systeminterne, abstrakte Ordnung hinsichtlich der Eingriffsintensität von Ermächtigungsgrundlagen. Beim Thema Grundrechtsschutz wäre der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folglich auf verlorenem Posten, denn ein Rückgriff auf die Schuld ist für das Gefahrenabwehrrecht unerheblich. Das Polizeirecht verdeutlicht, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerade auch auf eine absolute Eingriffseinschränkung abzielt. Deshalb geht der Hinweis auf das Maßregelrecht im Grunde fehl: Man kann keinen höheren Schutzumfang allein deswegen beim Schuldprinzip verorten, weil das Maßregelrecht (offenbar) intensivere Eingriffe in die Rechtsstellung des Bürgers zulasse.292 Mit dieser Argumentation werden Ursache und Wirkung vertauscht: das System der Zweispurigkeit setzt diese Differenz in der Schuld offenkundig voraus. Gerade weil es schuldindifferente Maßnahmen sein sollen, kommt das Schuldprinzip per definitionem nicht zum Tragen. Dem Rechtseingriff liegt (in der Theorie) eine andere Legitimation zu Grunde. Im Verzicht auf die Schuld liegt eine intendierte Härte, die aber nicht in unzureichendem Schutz über die Verhältnismäßigkeit zu suchen ist.293 (2) Als Hauptproblem in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass es in der Breite der Diskussion offenbar „Übersetzungsprobleme“ gibt, was die Denksysteme des Strafrechts und Verfassungsrechts angeht. Eine Inkommensurabilität ist freilich kaum plausibel zu machen, wenn auch das Strafrecht dem Verfassungsrecht unterstellt ist. Es gibt keinen verfassungsfreien Raum im öffentlichen Recht, so dass keine verfassungsrechtliche Sonderbehandlung für Strafen angezeigt wäre.294 Einigkeit lässt sich noch insoweit leicht in dem allgemeinen Hinweis feststellen, dass es um die Legitimität der Strafhöhe geht. Der Ausgangspunkt einer grundmöglicht. […] Die Möglichkeit zur Verhängung milder Strafen würde aber dann nicht ohne weiteres genügen, wenn die weite Fassung eines Straftatbestandes zur Folge hätte, dass auch solche Verhaltensweisen pönalisiert würden, für welche die angedrohte Sanktion nach Art und Maß unverhältnismäßig wäre.“ 291 Zu den Wurzeln des Verhältnismäßigkeitsprinzips, stv. GG-Sachs/Sachs 6(2011), Art. 20 Rn. 145; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2 (1994), S. 765 ff., mit zahlreichen Nachweisen zur Geschichte. 292 So jedoch Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 58. Krit. zu Recht Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 812 i. V. m. S. 297. 293 Man kann die Parallelität von Schuld und Verhältnismäßigkeit in dem Kontext auch nicht überzeugend in Frage stellen, in dem man eine schuldüberschreitende Strafe aus Gründen der Resozialisierung für verhältnismäßig hält, so jedoch H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, (69). Denn diese Argumentation paraphrasiert im Grunde nur die Ausgangssituation von Maßregeln und reproduziert damit nur das Gefälle in der darin begründeten Eingriffsintensität. Soweit auf Gefährlichkeit in diesem Beispiel als legitimierendes Moment verzichtet werden soll, bleibt unklar, wie der Eingriffszweck legitimerweise beschaffen sein soll. Ein bloßes Sozialisationsdefizit, welches Resozialisierungsbedarf verheißt, dürfte eine verhältnismäßige Relation kaum plausibel begründen können. 294 Insoweit übereinstimmend Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 142.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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rechtsgeleiteten Argumentation liegt stets in der Bestimmung eines legitimen Eingriffszwecks. Der Zweck, mithin die Aufgabe des Strafrechts, liegt im Bestreben des Rechtsgüterschutzes. Nun wird behauptet, über das Schuldprinzip ließe sich keine Zweckerfüllung erreichen. Das liege daran, dass der Schuldgedanke sich notwendig retrospektiv ausrichten müsse und daher nicht an einer prospektiven Zweckausrichtung teilhaben könne. So würde die Schuldstrafe nur eine Anlass-Mittel-Reaktion anstelle einer Zweckprüfung bereitstellen. Als Beleg für diese These diene die sog. Cannabis-Entscheidung295, in der durch das (sprachliche) Nebeneinander von Schwere der Schuld und Nutzen für den Rechtsgüterschutz eine ansonsten unverständliche Aufspaltung bewirkt würde.296 Die Betrachtung der Schuldgewichtung steht nach der Lesart offenbar jenseits der Strafaufgabe. Der Ansatz über die Verhältnismäßigkeit stehe demgegenüber für umfangreiche Integration der Zweckhaftigkeit und biete zudem ein Mehr in Sachen Grundrechtsschutz in Form der Geeignetheit und Erforderlichkeit gegenüber dem Teilaspekt der bloßen Angemessenheit schuldangemessenen Strafens.297 Durch solche Rhetorik meint man das Schuldprinzip in eine prekäre Situation bringen zu können. Aber ein solcher Rückschluss ist in mehrerlei Hinsicht übereilt. Denn dieser zementiert den Schuldgedanken unnötig in ein antiquiertes Vergeltungsstrafrecht. Ein solches trägt in aller Regel das Verdikt von Zweckfreiheit. Abgesehen davon, dass selbst „klassische“ Vergeltung nie und nimmer zweckfrei ist,298 ist es aber auch gar nicht zutreffend, dass Strafrecht unter der Ägide des Schuldprinzips im neueren Zweckverständnis nicht Anschluss finden könnte. Richtig ist allenfalls, dass über den Gedanken der Schuld an sich der Zweck nicht in den Blick kommt. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass eine „Schuldpraxis“ sich keines Zweckes bedienen würde.299 Ein solches Implikationsverhältnis besteht nicht. 295
BVerfGE 90, 145 (Cannabis). Zum Vorstehenden Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 287 f.; S. 310 f., 348. 297 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2012), S. 285. 298 Die Dichotomie von Straftheorien blickt offenbar auf reiche Geschichte zurück. Relative Straftheorien verstehen sich als auf einen Zweck bezogen; „Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur“ („Kein Verständiger straft, weil gesündigt [gefehlt] worden ist, sondern damit nicht gesündigt werde“) heißt es schon bei Seneca. „Absolute Straftheorien“ (abgeleitet von lateinisch absolutus „losgelöst“) sollen ohne Zweck arbeiten. Das ist aber contra jegliche Logik. Selbstverständlich haben die Straftheorien Kants und Hegels eine Zweckvorstellung, nur ist es eine idealistische, welche lediglich nach heutiger Vorstellung nicht ausreichend ist, vgl. auch die Diskussion im 1. Kapitel des 2. Teils unter A. I. 2. Treffender wäre von einer Zweckobsoleszenz in diesem Zusammenhang zu sprechen. Wenn Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 206, davon spricht, dass auch kriminalpolitisch zwecklose Strafe ihre Berechtigung habe, weil dem sonst drohenden gesellschaftlichen Ungleichgewicht und der Gesinnungsdegeneration der Herrschaftsanspruch der Rechtsordnung entgegengesetzt werden müsse, dann meint dies nichts anderes als Generalprävention heute. 299 BVerfGE 45, 187 (253 ff.) stellt auch ohne eindeutiges theoretisches Bekenntnis klar, dass keine Vorstellung einer zweckfreien Strafe im Raum schwebt. Zu früheren Entschei296
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Selbst in der strittigen Redeweise von „Schuldausgleich“ bleibt offen, zu welchem Zweck dies geschehen könnte. Hier dürfen nicht Zweck und Mittel in Eins gesetzt werden. Weiterhin muss das Stufenverhältnis in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beachtet werden. Geeignetheit und Erforderlichkeit sind der Angemessenheitsprüfung logisch vorgelagert; das heißt aber auch, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis die nachfolgende Stufe determiniert. Verkürzt gesprochen: Sobald man die Angemessenheit erreicht, steht die Geeignetheit und Erforderlichkeit bereits fest. Der gröbere kann gegenüber dem feineren Filter gar keinen Schutzzuwachs entfalten. Der Rationalisierungsgewinn über die Vorstufen ist somit eher in der Begründungsökonomie und ihrer Strukturierungsleistung zu suchen, nicht in einer Kriterienanreicherung. Schließlich streitet auch die Entscheidung zur DDR-Spionage300 nicht zwingend für die Überlegenheit der Verhältnismäßigkeit. Die Verallgemeinerung dieser Sondersituation unterliegt durchgreifenden Bedenken.301 Neben der wohl einmaligen politischen Umbruchsituation beschreibt die Strafbarkeit von Auslandsspionage ohnehin ein Sonderphänomen im Deliktsspektrum.302 Abgesehen davon bleibt eine Erfassung mit strafrechtlichen Instrumenten indes denkbar.303 Ein Gleichlauf der Ergebnisse auf Ebene der Strafbegrenzung wäre also durchaus herstellbar. Das muss im Übrigen aber auch für die umgekehrte Begründungsrichtung funktionieren. Dass das Schuldprinzip eine präzise Beziehung von Tatunrecht und Strafe fordere, wohingegen man sich auf Seiten der Verhältnismäßigkeit darauf beschränken könne, dass die Strafhöhe sich noch im Rahmen der Kosten-NutzenAnalyse bewege,304 ist eine sehr wagemutige Behauptung. Zum einen ist nicht gesagt, dass sich die Prüfung mit dem Finden „irgendeiner“ Verhältnismäßigkeit zu erschöpfen hätte. Wenn man klar vor Augen hätte, (genau) welche Strafe das Tatunrecht abbildet, dann würde man dies auch über Verhältnismäßigkeit ausdrücken dungen, die mehr (Schuld-)Vergeltung akzentuieren, s. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 302 mit Nachweisen in Fn. 154. Vgl. auch BGHSt 24, 40 (42). 300 BVerfGE 92, 277 – Bes. v. 15. 5. 1995 – 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93(DDR-Spionage). 301 Man beachte dazu das abweichende Votum der Richter Klein, Kirchhof, Winter, BVerfGE 92, 277 (341 ff.). Den politischen Charakter des Urteils unterstreicht: „Die Strafverfolgung der so betroffenen DDR-Spione ist auch darum unangemessen, weil es der Gestaltung der staatlichen Einheit entgegenwirkt …“, BVerfG, a. a. O., S. 333. 302 Das strafbare Unrecht offenbart „janusköpfigen“ sozial-ethischen Unwertgehalt, weil ein Staat selbst zum Mittel der Spionage greift, siehe BVerfGE 92, 277 (328). 303 Man mag nämlich überlegen, ob diese Situation nicht eher der Argumentation von Obsoleszenz näher steht. Das Strafrecht der Schuld steht einem solchem Sachverhalt nicht zwingend statisch gegenüber, wie die Regeln § 2 III, IV StGB belegen. Selbst wenn eine direkte Anwendung nicht greift, ist eine analoge Anwendung zugunsten eines Täters möglich. Es kommt entscheidend auf die Gegenwärtigkeit des im Normbruch liegenden Konfliktes an, vgl. Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 232. Zur Dynamik der Schuld s. auch unten, 2. Kapitel, B. III. 3. 304 So jedoch Frisch, NStZ 2013, S. 249 (253 f.).
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können. Das gelingt aber nicht durch natürliche Anschauung. Insofern ist die Präzision des Schuldprinzips (eine Schuld – eine Strafe) ein rein fiktives Konstrukt. (3) Die Rekonstruktion der Ebene der Strafbegründung über die Verhältnismäßigkeit gestaltet sich dagegen schwieriger. Die Argumentation über den Topos Verhältnismäßigkeit stößt methodisch an ihre Grenzen, wenn multipolare Grundrechtsverflechtungen auftauchen. Verhältnismäßigkeit als Prinzip folgt in seiner Grundstruktur einem bipolaren Muster305, was man sich bildlich in der Anschauung einer Waage vergegenwärtigen kann. Welchem Interesse (Eingriffszweck vs. Grundrechtsträger) Ausschlag gegeben wird, hängt von der Wertigkeit der konkreten Einzelinteressen ab. Die Konstruktion baut von der Idee her darauf auf, dass eindeutiges Abwägungsmaterial gesichtet werden kann. Dies gerät dann zu einem komplizierten Unterfangen, wenn sich Interessen nur diffus benennen lassen. Aktuell ist der Strafzweck der positiven Generalprävention in der strafrechtlichen Diskussion vorherrschend, was bedeutet, dass die konkrete Zurechnungsentscheidung in Beziehung zu diesem verfolgten Strafzweck gesetzt werden müsste. Die Diffusität der Relation liegt nun aber darin, dass die Funktionsmechanismen von Generalprävention zu einem Großteil noch unerschlossen sind. In die Vorstellung von Generalpräventionen gehen die Anschauungen von Normstabilität und Sicherheitsinteressen aller Menschen in unbekanntem Ausmaße ein. Die Frage lautete nämlich, wann Zurechnung notwendig ist, um diesen generalpräventiven Zweck zu erreichen. Formuliert ist dann zwar im Grunde ein klassisches Problem der Erforderlichkeit, das mit dem relativ mildesten Mittel aufzulösen wäre. Die Dimensionen dieser Zweckbetrachtung sind jedoch nicht eindeutig in ihren Grenzen abgesteckt. Der konkrete Inhalt der Strafbegründungsschuld wird insoweit auch nicht vom Verhältnismäßigkeitssatz erfasst gesehen.306 Während nämlich das Schuldprinzip einen Grenzsatz formuliert, strebt die Verhältnismäßigkeit einen Ausgleich durch einen Abwägungsvorgang an. Der Ausgang dieser Abwägung ist aus Warte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sicher nicht beliebig, aber prinzipiell ergebnisoffen – sonst wäre jegliche Abwägung schließlich überflüssig. Ausgehend vom Zweckgedanken der Generalprävention und seiner intendierten Verbrechensverhütung scheint es zumindest nicht (begriffs-)notwendig stets die gleichen (Eingriffs-)Schwellen eines Verantwortungsausschlusses zu bedürfen wie beim Schuldprinzip. Daher rührt letztlich die Besorgnis, aus eben diesen generalpräventiven Gründen könne über dem Niveau gestraft werden, welches das Schuldprinzip zu disziplinieren versucht. An dieser Stelle soll nun die eigentliche „Umkehrprobe“ zum Tragen kommen: soweit Strafen ohne Schuld ihre Zweckmäßigkeit verlöre, wäre die Notwendigkeit des Schuldprinzips begründet. Von einem utilitaristischen Ansatz307 her lässt sich 305
O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt (2011), S. 161 (235). Die Konsequenz bei Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 489, 523; Roxin, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 519 (532). 307 Frister, Schuldprinzip (1988), S. 19 in Fn. 2 betont, dass eine utilitaristische Herleitung des Schuldprinzips keinen generalpräventiven Begriff der Schuld voraussetze. Das ist zutref306
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nämlich durchaus fragen, ob Strafe ohne Schuld sich zielführend einsetzen lässt. Die Bestrafung eines Unschuldigen wird zwar seit jeher als „Inbegriff der Ungerechtigkeit“308 postuliert, doch dürfte dieses Postulat in erster Linie dann zutreffen, wenn es um die Urheberschaft der Tat geht. Dass die Geeignetheit zur Normverdeutlichung per se abhandenkommt,309 wird man kaum automatisch schlussfolgern können.310 Für die daraus resultierende konditionierende Wirkung darf man erwarten, vielseitige Anzeichen zu finden. Die angestrebte psychologische Verhaltenssteuerung bezieht sich schließlich nur auf den Gedanken der Normbewährung, welche durch staatliche Reaktion vollzogen wird. Das mutet zunächst nach staatlichem Despotismus an, doch sollte nicht vergessen werden, dass auch die Schuldunfähigkeit Rechtsfolgen nach sich ziehen kann. Schuldindifferente Maßnahmen können hohe Eingriffsintensität erreichen. Man darf zudem annehmen, dass der laienhafte Zugang zu staatlichen Reaktionen im Hinblick auf eine Straftat nicht unbedingt die theoretische Unterscheidung in Strafe und Maßregel reflektiert.311 Bei genauerem Blick heißt das aber möglicherweise nur, dass lediglich das strafrechtliche System der Zweispurigkeit nicht in gleicher Weise wie in der Rechtsdogmatik abgebildet wird. Ein solcher Befund lässt mehrere Deutungen zu: die fehlende Differenzierungskraft könnte auf ein „erweitertes Strafverständnis“ in der Bevölkerung hinweisen. Das wäre weit mehr als ein bloß terminologisches Problem. Denn der Strafbegriff im Sinne des Grundgesetzes determiniert Rechtswirkungen mit unterschiedlicher Konsequenz und muss als Rechtsbegriff feste Konturen aufweisen. Umgekehrt werden die Maßregeln so zum neuralgischen Punkt des Schuldprinzips: unterstellt, freiheitsentziehende Maßregeln können verhältnismäßig sein, dann bleibt unklar wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Differenz zu Strafen (im engeren Sinne) abbilden kann. Pointiert gesprochen fehlte der Verhältnismäßigkeit die Sensorik („Blindheit“) für das Trennungsprinzip. (4) Der Satz „nulla poena sine culpa“ legt bereits nahe, im Kontext der Schuld auch nach dem verfassungsrechtlichen Begriff von Strafe zu fragen. Im Gegensatz fend. Umgekehrt macht eine utilitaristische Strafbegründung ohne Schuld generalpräventive Erwägungen unumgänglich. 308 So Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), im Vorwort. 309 So Grünwald, ZStW 80 (1968), S. 89 (94); Noll, FS H. Mayer (1966), S. 219 (220); Roxin, FS Henkel (1974), S. 171 (186); ders., FS Bockelmann (1979), S. 279 (300 f.); ders., ZStW 96 (1984), S. 641 (646); Rudolphi, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 69 (72); Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 30; Streng, ZStW 101 (1989), S. 273 (292 f.). 310 Zu diesem Aspekt Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit (1981), S. 27; ders., Zweckrationalität und Strafrecht (1987), S. 272; Burkhardt, GA 1976, S. 321, (336); Frister, Schuldprinzip (1988), S. 20; leicht modifiziert in: ders., Die Struktur des ,voluntativen‘ Schuldelements (1993), S. 81; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 377 f.; Maiwald, GA 1983 S. 49 (63); ders., FS Lackner (1987), S. 149 (163); Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 (351); B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (177). 311 So bei Frister, Schuldprinzip (1988), S. 21 f.; im Ansatz ebenso Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 66.
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zum Schuldprinzip ist „Strafe“ im Grundgesetz ausdrücklich niedergeschrieben. Da Strafe als Institution von Art. 103 Abs. 2, 3, Art. 104 Abs. 2 GG vorausgesetzt wird, liegt die Annahme nahe, dass eine Konnexität von Strafe und Schuld – weil historisch vom Gesetzgeber vorgefunden – von diesem übernommen wurde.312 Bei diesem historischen Argument sollte man aber nicht stehen bleiben, zumal damit über die inhaltlichen Kriterien von Strafe nichts ausgesagt ist. Weit mehr von Interesse ist es, die teleologische Schutzrichtung dieser Verfassungsgarantien herauszuarbeiten. Eine abschließende Definition der Strafe legt die Rechtsprechung des BVerfG nicht vor. Sicher ist nur, dass es auf die Bezeichnung selbst nicht ankommen kann, denn sonst würde der Gesetzgeber die Schutzvorrichtungen des Grundgesetzes unterlaufen können. An materialen Kriterien hat sich das BVerfG versucht, ohne diese zu einem kohärenten Abschluss bringen zu können.313 Dieses uneinheitliche Strafkonzept stellt lediglich im Einzelfall Merkmale heraus. Im Übrigen bleibt vieles Gemengelage.314 Dies sollte zwar davor warnen, unbedarft Ableitungen auf axiomatischer Basis zu treffen. Für diesen Zusammenhang versprechen aber die folgenden Erörterungen ausreichend Gewinn. Die Rechtsprechung des BVerfG kennzeichnet Strafe als wesensnotwendige Übelzufügung315, die sich im Bereich der Kriminalstrafe als „ehrenrühriges autoritatives Unwerturteil“316; verbunden mit einem ethischen Schuldvorwurf (gegenüber bloßem ordnungsrechtlichem Vorwurf), darstellt.317 In dieser Umschreibung hat der Übelscharakter nicht die durchschlagende Bedeutung. Auf die Wirkung einer Maßnahme, im Sinne von tatsächlichem Betroffensein, kann es dann im Grunde nicht entscheidend ankommen. Denn strafrechtliche Maßnahmen wie Sicherungsverwahrung oder präventive Untersuchungshaft wären in ihrer (faktisch) strafähnlichen Wirkung von der ausdrücklichen Freiheitsstrafe nicht zu unterscheiden.318 Es verbleibt dann noch die Möglichkeit von ihrer Zweckbestimmung her auf die „normative Wirkung“319 abzustellen. Es ist freilich daran zu erinnern, dass der Zweck 312
Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 2 f. Vgl. auch H. A. Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, (59); Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 18. 314 Zum Strafbegriff des BVerfG ausführlich Volk, ZStW 83 (1971), S. 405 ff.; i. E. Volk zust. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 17. 315 BVerfGE 22, 125 (132) – Bes. vom 04. 07. 1967 – 2 BvL 10/62 – gebührenpflichtige Verwarnung im Straßenverkehr. 316 BVerfG, 43, 101 (105); Bes. v. 9. 11. 1976 – 2 BvL 1/76 (Beugehaft); E 22, 49 (80) – Urt. v. 6. Juni 1967 – 2 BvR 375, 53/60 und 18/65 – keine Strafgewalt der Finanzämter; BVerfGE 9, 137 – Bes. v. 3. 02. 1959 – 2 BvL 10/56 – Einfuhrgenehmigung. 317 BVerfG 27, 36 (42), 16. 07. 1969 – 2 BvL 11/69 – Fahrverbot bei Ordnungswidrigkeit; E 22, 125 (132). 318 Zu den Nachweisen der (deswegen nicht vorbehaltlos gültigen) Entscheidungen bei Volk, ZStW 83 (1971), S. 405 (406 f.). 319 Volk, ZStW 83 (1971), S. 405 (411). 313
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der Strafe gemäß der Schutzaufgabe des Strafrechts präventiv, nur die Gestalt repressiv ist. Insofern ist es durchaus berechtigt, der Klarheit wegen Aufgabe und (vermeintliches) Wesen320 der Strafe auseinanderzuhalten.321 Prävention gibt dabei von Begriffs wegen – ähnlich wie bei Maßregeln – zunächst nur das Ziel an. Das spezifische Mittel, der Präventionsweg, soll in bestimmten Fällen die Strafe sein. Es geht also nicht nur um einen Zweck im abstrakten Sinne, sondern schon um eine spezifizierte (konkrete) Intention. Damit lässt sich schon der Schuldspruch an sich als eigenständige Sanktion hervorheben.322 Der Tadel in der Sanktion scheidet die Strafe nun von anderen staatlichen Übelzufügungen. Hinter diesem Tadel verbirgt sich unweigerlich die Annahme, dass diese Zurechtweisung nicht von vorneherein ins Leere verläuft. In dieser „Hoffnung“ auf Einsicht wird die Steuerungsverantwortung323 – aus gemeingesellschaftlicher Perspektive – dem Individuum aufgebürdet.324 In dieser – paradox anmutenden325 – Weise transportiert der strafrechtliche Vorwurf seiner Idee nach einen Freiheitscharakter, weil ein rein technokratisches Modell eines Social Engineering letztlich im Polizeistaat münden müsste.326 Die Strafe bedient sich also mittels Eingriff in das APR (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) einer finalen Diskriminierungswirkung.327 Die Betonung liegt daher auf dem 320 Überhaupt empfiehlt es sich, bei aller suggerierenden Evidenz, essentialistische Aussagen in diesem Zusammenhang nicht über zu bewerten, vgl. Volk, ZStW 83 (1971), S. 405 (421). Das BVerfG betreibt so unnötige Begriffsfixierung, Volk, a. a. O., S. 425. 321 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2012), S. 138 f. dort auch mit Nachweisen zur in Rede stehenden Rspr. 322 Frühzeitig hervorgeben bei Eser, FS Maurach (1972), S. 257 (268); Neufelder, GA 1974, S. 289 (303 f.). Das dürfte inzwischen allgemein anerkannt sein. 323 Steuerungsverantwortung in diesem Zusammenhang bezieht ich allein auf die gesellschaftliche Verarbeitung resp. Lösung des Konflikts, der im Normbruch und Rechtsgutsverletzung liegt. Das ist ein rein formales Verständnis und hat noch nichts mit einer Steuerungsfähigkeit im konkreten Sinne zu tun. 324 Ebenso ist noch nichts darüber ausgesagt, ob die zugrunde liegenden Annahmen zutreffend sind. Zum Problem, inwieweit sich die Verfassung zu diesem Problem positioniert, s. unten im B. II./III. 325 Dieser Zusammenhang wird häufig mit einem „belastenden Schuldprinzip“ und negativem Ausfluss aus der Menschenwürde gleichgesetzt. Zu dieser Fehlinterpretation, s. unten, wie vor. 326 S. auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 286. Vertraut man – als welchen Grund auch immer – diesem repressiven Muster nicht mehr, dann ist das reaktive System aufgrund der dann (!) evidenten Ineffizienz gewissermaßen „verbrannt“. Das fordert im Grunde proaktives Handeln voraus, welches überzeugend – im Sinne von Konsistenz und Effizienz – wohl nur im Polizeirecht zu verorten wäre. 327 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 110, 118 ff. Roxin, FS Volk (2009), S. 601 (603 f.) hält das Kriterium der sozial-ethischen Missbilligung aufgrund der Verletzung der kategorialen Trennung von Recht und Moral für ungeeignet, um Strafen von anderen Maßnahmen abzuheben. Stattdessen sei auf die qualifizierte Sozialschädlichkeit abzustellen. Aber diese quantitative Abgrenzungsformel beschreibt lediglich ein Legitimationsmodell für die Auswahl von Strafrecht, kommt aber darüber nicht hinaus. Insbesondere müssten dann Sanktionen „automatisch“ in Strafen umschlagen, wenn dies nach diesem Maßstab angezeigt wäre; selbst wenn sie rechtstechnisch vom Gesetzgeber (sozusagen „irrig“)
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Unwerturteil in der Strafverhängung, welches in der Deklaration von Schuld transportiert werden soll. Schuld selbst kann sich systematisch nur auf eine Vorstellung von Verschulden gründen, sprich auf einen möglichen menschlichen Einfluss auf die eigene Handlung. Schuld und Strafbegriff gehen in der Entscheidungspraxis eine untrennbare Allianz ein. Man operiert also nur mit dem Begriff der Strafe, weil in der menschlichen Vorstellungswelt ein Gegenbegriff in Form eines Grenzbegriffs existiert, der der Vorstellung der Strafe erst „Sinn“ verleiht. Das Schuldprinzip gilt, weil Strafe vom Sinngehalt her persönliches Fehlverhalten impliziert. Eine solche Erklärung steht fraglos nahe an der Tautologie. Frister328 hat deshalb an sich nicht Unrecht, wenn er dies in einem Ableitungszusammenhang als petitio principii ausweist. Offenbar zeitigt jedoch die deduktive Herangehensweise in diesem Kontext ihre Grenzen. So ist das zirkelhafte Begründungsmuster, welches strafähnliche Maßnahmen am Schuldprinzip misst und Strafähnlichkeit technisch mit Verschuldenserfordernissen begründet,329 womöglich methodisch als eine Art hermeneutischer Zirkel auffassbar. Es geht dann mehr um eine typusfixierte, funktionsgebundene Verwendung des Strafbegriffs, der nicht logische Klassifikationen nutzt, sondern über Ähnlichkeiten argumentiert.330 In das Feld einer derartigen Gedankenassoziationskette gehören offenbar Schuld und Strafe. Der Strafcharakter offenbart sich durch einen finalen Eingriff. Umgekehrt führt die Finalität, welche im Akt des Tadelns liegt, auf Vorwerfbarkeit zurück. Man tadelt nicht ohne eine Vorwurfsidee, weiter bedingt ein Vorwurf die Vorstellung von schuldhaften Verhalten;331 ansonsten ginge es um einen schlichten Vorhalt.332 Das Schuldprinzip bildet derart den Komplementärbegriff zur Strafe.333
als Ordnungswidrigkeiten ausgestaltet sind. Das widerstreitet der rechtstaatlich geforderten Bestimmtheit. Auch Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 483 ff., hält ein sozialtethisches Unwerturteil angesichts kontingenter Ethikkonzepte in einer pluralisierten Gesellschaft als Maßstab für Strafen ungeeignet Auf der einen Seite sei (Sozial-)Ethik eine außerrechtliche Kategorie, auf der anderen Seite dürfe aus Legitimitätsgründen davon ausgegangen werden, dass jede Regel, die den formalen Statuts des Rechts erreiche, ethisch fundiert sein müsse (S. 485 f.). Folglich sei der Maßstab zur Binnendifferenzierung im Recht untauglich. 328 In: Schuldprinzip (1988), S. 25. 329 So moniert von Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht (1991), S. 15 ff. (18). 330 Volk, ZStW 83 (1971), S. 405 (429 f.). 331 Auch hier gilt der nochmalige Hinweis, dass die Ausführungen eine logische Ordnung von Begriffen versuchen. Die der Vorwerfbarkeit zugrunde liegenden Prämissen werden von der Verfassung nicht auf Gültigkeit untersucht. 332 Vorhalt meint gegenüber Vorwurf die Konfrontation mit einem Sachverhalt ohne Wertung. Der Strafprozess baut auf dieser Differenz erkennbar auf. Der Vorhalt ist jedenfalls konstruktiv nicht als Urkundenbeweis gedacht, sondern als Vernehmungshilfe. Beweiserheblich ist nur die Reaktion auf diesen Vorhalt, vgl. stv. Beulke, Strafprozessrecht 12(2010), Rn. 421 und StPO-Meyer-Goßner 53(2010), § 249 Rn. 28. Jenseits etwaiger praktischer Problematik dient also der Vorhalt gerade nicht dazu, dass Geschehen zu werten. 333 Im Ergebnis auch Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedanken (1967), S. 31; Neumann, FS Jakobs (2007), S. 435 (442).
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f) Folgerungen für das Schuldprinzip und verfassungsrechtliches Fazit Aus diesem komplexen Geflecht ergeben sich nun wesentliche Erkenntnisse, die im Folgenden zusammengefasst werden. (1) Die Strafe ist vom Tadel begrifflich nicht ablösbar. Strafen ohne Schuldvorstellung meint letztlich Tadeln ohne einen erkennbaren Grund. Ohne einen sachlichen Grund in Individualrechte (hier: APR aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) einzugreifen, ist notwendig willkürlich und ein Verstoß gegen das Instrumentalisierungsverbot, vor welchem die Menschenwürde schützen soll. Auf irgendeine Zweckverfolgung kommt es dann schon gar nicht an; jedenfalls muss ein Eingriff in das APR schon ungeeignet sein, wenn man sich vom Tadelsmoment von vorneherein keine Wirkung verspricht. Folglich lässt sich das Schuldprinzip als Abbreviatur eines grundrechtlichen Schutzstandards formulieren, welches den Menschenwürdegehalt für den Bereich des Strafrechts vollzieht. Die Menschenwürde, gemeinhin als Grundrecht behandelt, ist eigentlich Negativ-Schranke: dort, wo die Würde beginnt, enden unweigerlich die Einschränkungen von Grundrechten. Man kann dies als eigentlichen Kern von Grundrechten überhaupt sehen. Funktionell handelt es sich treffender gesprochen um eine definitive Grenze staatlicher Handlungskompetenz;334 auf die Nomenklatur der Grundrechtsdogmatik gewendet: absolute SchrankenSchranke. Die Menschenwürde formuliert deswegen eine Grenzregel. Aufgrund seiner dortigen Fundierung teilt das Schuldprinzip jenen Charakter. Das Schuldprinzip hat damit den Charakter einer Grenzregel. Von daher ist es zutreffend, das Schuldprinzip als vermittelndes Subprinzip der Menschenwürde zu begreifen.335 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, um auf den Ausgangspunkt der Schuld-StrafenKonnexität zurückzukommen, bleibt von diesen Erwägungen nicht unberührt. Nun spricht zwar nichts dagegen, dieses Schutzniveau auch über eine Argumentation mit der Verhältnismäßigkeit zu erreichen. Jede Verhältnismäßigkeitsprüfung muss prinzipiell in der Lage sein die Menschenwürde zu integrieren. Aber eine solche Argumentation würde den Eingriff in das APR nur über die klassischen Schulderwägungen plausibel machen können, denn sonst könnte innerhalb des Beziehungsgeflechts eine Differenz von Strafen und Maßregeln nicht sichtbar gemacht werden. Wie gezeigt wurde, bedingen sich Schuld und Strafe wechselseitig. Nun könnte man sich zwar durch geschickte Wortwahl im Hinblick auf das Wort Schuld auf ein Verwendungstabu einigen, doch das ist ohne Nutzen. Denn sachlich kann sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Kontext von Strafen nicht von der Schuldidee ablösen. Erreicht wird allenfalls eine Paraphrasierung eines identischen Sachver334 Hier ist nicht der Ort um die brisante These auszuführen. Sie ist im Ansatz weder neu (s. GG-Dreier/Dreier 2(2004), Art. 1 Rn. 124 ff. mit Nachweisen) noch sonderlich provokant, weil inhaltlich im Grunde folgenlos. Insbesondere ist kein Rechtsschutzdefizit mit dieser Aussage verbunden. Mit der Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat sich die Notwendigkeit, die Menschenwürde als subjektives Recht zu begreifen, geschichtlich überholt. Nicht ohne Grund tut sich die überkommene Grundrechtsdogmatik bei Anwendung ihrer Lehrsätze im Bereich der Menschenwürde schwer. 335 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff (1990), S. 155.
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halts. Darin liegt eher die Gefahr begründet, dass der Sachzusammenhang von Strafe und Schuld verdunkelt wird, indem die Diskriminierungswirkung nicht ausreichend in den Blick kommt. Das spricht für den Erhalt des Schuldprinzips gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, auch wenn sachlich keine Unterschiede zu erwarten wären. (2) Um diesen Diskriminierungsgehalt von Strafen kreisen die meisten Missverständnisse und Fehlschlüsse in der strafrechtlichen Diskussion. Die beklagten Aporien des Schuldprinzips spiegeln nämlich eher die (scheinbar) paradoxe Situation der Zweispurigkeit des deutschen Sanktionssystems wider. Gerade weil die Diskriminierung erst im Schuldprinzip seine Grenze findet, erweckt dies den Eindruck, dass Schuldprinzip hätte einen höheren Schutzgehalt als das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil Maßregeln schuldindifferent verhängt werden können.336 In einer solchen Anschauung erscheinen Maßregeln als der intensivere Eingriff, da auf die intendierte Begrenzung der Schuld verzichtet darf. Wie erwähnt steht indes das Verhältnismäßigkeitsprinzip per se einem äquivalenten Schutzniveau nicht begrifflich im Wege. Zum zweiten setzt ein solch postuliertes Schutzgefälle unausgesprochen die Prämisse voraus, dass Maßregeln stets über Verhältnismäßigkeit begründet (legitimiert) werden könnten – und deswegen grundsätzlich das Schuldprinzip höheren Schutz verspricht. Dies ist in dieser Abstraktheit gar nicht zu beantworten, mag man sich auch an die tradierte Begründungskultur gewöhnt haben. Umgekehrt rührt die Idee der Einrichtung eines reinen Maßregelrechts337 gerade aus dem Gedanken heraus, dass man den institutionalisierten Vorwurf in Form des Tadels aus der staatlichen Reaktion auf Kriminalität eliminieren könnte. Bleibt man im Bereich des Freiheitsentzugs, dann haben Maßregeln und Strafhaft zwar partielle Eingriffsidentität im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 GG. Strafe hat aber offenbar einen zusätzlichen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff zu bewältigen, wenn in den personellen Achtungsanspruch eingegriffen werden soll. Auf dieser Ebene erscheint die Strafe auf einmal als das gewichtigere Übel. Das erklärt einmal, warum Gegner der Strafe in der Verfassung einen Verbündeten ausmachen und zum anderen warum sich Diskussionen insgesamt leichter in Obskurität verlieren können. Dass „erst die volle Entfaltung des Schuldprinzips die Notwendigkeit einer zweiten Spur mit voller Schärfe ins Bewusstsein hob“338, bedarf als Aussage einer entscheidenden Ergänzung bzw. Korrektur. Erst das System der Zweispurigkeit verleiht dem Schuldprinzip seine Kontur, weil ansonsten das kontrastierende Moment fehlt. In einem reinen Maßregelrecht ein Schuldprinzip etablieren zu wollen, verfehlt dessen Sinngehalt bereits im Ansatz. Solange der Gesetzgeber diese zwei kriminalpolitischen Gestaltungmittel vorhalten will, ist der Erhalt des Schuldprinzips wenigstens der Klarheit wegen geboten.
336 337 338
Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 58. Zu den Vorschlägen s. weiter unten IV. 3. b). Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems (1979), S. 70.
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(3) Das Schuldprinzip begrifflich zu Fall bringen wollen meint eigentlich die Revision des derzeit gültigen Sanktionssystems in toto. Weder steht dies – entgegen der obiter dictum Bekundung des BVerfG zu „Lissabon“ – von vorneherein außer Frage, noch kann davon ausgegangen werden, dass die vermeintlichen Aporien eines Schuldstrafrechts mit einem Maßregelrecht geheilt werden können. Denn der Plan, die Diskriminierungswirkung einer Maßnahme per Definition ausschließen zu wollen, wird der Problematik nicht gerecht.339 Die verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit eines einspurigen Systems kann hier nicht überprüft werden. Leichterdings lässt sich jedoch mit einigen Illusionen schon im Vorfeld aufräumen: man entkommt der Strafwirkung nicht schon dann, wenn man sich entschließt, das Tadelsmoment als staatliche Etikette abzuschaffen. Denn der Grundrechtsrelevanz hängt nicht notwendig von der Finalität einer Maßnahme ab.340 Die Intensität der Belastung kann einem klassischen Eingriff durchaus gleichkommen. Das mindert aber die Verlässlichkeit einer nomologischen Trennung von Maßregeln und Strafen. Auf internationaler Ebene hat sich denn unlängst auch eine qualitativ-quantitative Betrachtung durchgesetzt.341 Und auch im deutschen Recht wächst die Beachtlichkeit der faktischen Betrachtungsweise. Unzweifelhaft ruft das BVerfG mit der Betonung des Abstandsgebots342 die noch vorherrschende Diskrepanz von Legitimation und Umsetzung im Rahmen des Maßregelrechts in Erinnerung.343 339 Mit diesem Ansatz noch BVerfG 27, 36 (42), 16. 07. 1969 – 2 BvL 11/69 (Fahrverbot bei Ordnungswidrigkeit). 340 Sog. erweiterter Eingriffsbegriff, bei Epping, Grundrechte 5(2012), Rn. 379 ff. Ausführlich Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2 (1994), S. 104 ff., insb. S. 114 ff. Weiterhin GG-Dreier/Dreier 2(2004), Vorb. Rn. 127; für das Strafrecht Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 126 f. 341 So entscheiden im Rahmen des Art. 6 I EMRK über den Begriff der strafrechtlichen Anklage insbesondere materielle Kriterien („Engel-Kriterien“) anstatt einer formalen Zugangsweise. S. dazu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention 5(2011), § 24 Rn. 17 ff. 342 BVerfGE 128, 326 (374 ff.) – Urt. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09; 2 BvR 2365/09; 2 BvR 740/10; 2 BvR 2333/08; 2 BvR 1152/10; 2 BvR 571/10 (Abstandsgebot der Sicherungsverwahrung). 343 Richtigerweise ist das Abstandsgebot keine reine Vollzugsanforderung, sondern bereits in der Legitimation integriert und damit an und für sich schon Anordnungsvoraussetzung. Daher sind Bedenken ob der gesetzgeberischen Kompetenz des Bundes unbegründet, vgl. Schöch, GA 2012, 14 (15) mit Gegenstimmen in Fn. 12. Aber auch deswegen sind die „7 Gebote“ im Sinne des Abstandsgebots, vgl. BVerfGE 128, 326 (378 ff.), noch zu zögerlich formuliert. Denn soweit die Berechtigung zur Anordnung und zum Vollzug freiheits-entziehender Maßregeln aus dem Prinzip des überwiegenden Interesses hergeleitet werden, vgl. MüKo-StGB/Radtke 4 (2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 69 f., müsste im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung vielmehr noch der Rechtsausgleich im Sinne des Abstandsgebots thematisiert werden. Denn die Begründung im Geiste des überwiegenden Interesses kann nur über die Konstruktion eines persönlichen Sonderopfers funktionieren. Ein entschädigungsloses Sonderopfer führt indes zwangsläufig zu einer völligen Entwertung der Rechtsposition. Eine Entschädigung im Hinblick auf die begangene Straftat zu versagen, führt letztlich zu dem Eingeständnis, dass es nicht um reine Zustandshaftung aus Gefährlichkeitsaspekten, sondern immer auch um Fortwirkung von Schuld gehen müsste.
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(4) Ein kriminalpolitisches System allein aus der Verfassung entwickeln zu wollen,344 stößt, ob mit oder ohne Schuldprinzip, an Grenzen. Zwar ist die Wertebildung durch Verfassung seit der Lüth-Rechtsprechung unbestritten. Jede Argumentation läuft aber Gefahr zwischen (vermeintlichen) Verfassungsvollzug bzw. Beliebigkeit zu oszillieren.345 Letztlich ließe sich auch die Abschaffung des Strafrechts mit Gedanken aus der Verfassung fruchtbar machen.346 Um höchst mögliche Individualfreiheiten zu garantieren, muss eine Verfassung neben einigen bestimmten Grundwertentscheidungen im Übrigen eine tendenzielle Wertneutralität an den Tag legen. Ein solches Verfassungsverständnis lässt Ableitungen für die Rechtsgestaltung – mit dieser entsprechend hohen Verbindlichkeit – eben nur in Grenzen zu. Unitarisierung und Pluralismus können nämlich in gleicher Weise nicht verwirklicht werden. Eine Expansion des Grundrechtsinhalts über den Textbefund hinaus ist deswegen generell problematisch.347 Der Gestaltungsauftrag im Detail obliegt letztlich der Politik,348 und muss es auch, soll es einen legislativen Spielraum überhaupt geben. Die Überzeugung, dass verfassungsrechtliche Argumentation im Hinblick auf ihren positivierten Bezugspunkt „freischwebenden rechtsphilosophischen“ Überlegungen überlegen seien,349 hat nicht nur ein viel zu negativ behaftetes Bild von der Rechtsphilosophie als pragmatischer Wissenschaft, sondern täuscht auch darüber hinweg, dass das Grundgesetz als positiviertes Recht auf eine rechtsphilosophische Tradition zurückblickt. Verfassungsinterpretation hat nicht nur Methode, Verfassungsinterpretation ist selbst Methode um Unhinterfragbares wenigstens hinauszuzögern.350 In diesem Wissen sind Topoi aus der Verfassung stets mit dem Respekt vor dem Gesetzgeber zu entwickeln. Dies dürfte auch erklären, warum dem Strafrecht in der Rechtsprechung des BVerfG eine relative Zurückhaltung widerfährt. Die scheinbar paradoxe Situation, ausgerechnet beim eingriffsintensiven Strafrecht strenge(re) Maßstäbe aufzufinden, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass hier der Gesetzgeber mit qualifizierter Stimme gesprochen hat. Wenn das Strafrecht „Visitenkarte“ einer Gesellschaft sein soll, dann ist dies nur in engen Grenzen von einem Gericht zu beanstanden; so denn der Spruchkörper nicht bloß seine eigenen Wertvorstellungen dagegensetzen will. Im Hinblick auf die Gewaltenteilung wäre dies ohne Zweifel
344 So die Arbeitshypothese bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 49. 345 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 4, 50. 346 In dieser Weise pointiert Naucke, Strafrecht 10(2002), § 2 Rn. 100. 347 So Kaspar selbst, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2012), S. 71. 348 Ebenso resümiert Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 597. 349 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 41. 350 Zu dieser Tendenz stichwortartig bereits Stächelin, Strafgesetzgebung und Verfassungsstaat (1998), S. 25.
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problematisch. Deshalb ist es prinzipiell nicht zu beanstanden, das Verdikt der „harten Verfassungswidrigkeit“351 ein Stück weit zu scheuen. Die Verfassung übt im Strafrecht aufgrund dessen nicht mehr als eine Grenzfunktion in Form der Garantiebereichs von Individualrechten aus. In der Konsequenz steht eine Absage an ein Sonderstrafrecht, welches sich in der Ausgestaltung generell352 am Täter und seiner Disposition orientiert. Die Unbestimmtheit von Strafen (im Hinblick auf ihre Herstellung) ist kein eigentliches verfassungsrechtliches Problem, es sei denn man will gerade die Unbestimmtheit als verfassungsrechtlichen Makel erkennen.353 Dann ist aber auch zu bekennen, dass die Verfassung in der Hinsicht nicht „klüger“ ist als Recht auf einfacher Ebene. Die Ausführungen zum Verfassungsrecht verweisen daher auf eine relative Offenheit bei der Ausgestaltung eines Schuldstrafrechts. Bis auf die unveräußerlichen Grenzprinzipien bei der Sanktionsverhängung präjudiziert die Verfassung das Strafrecht also nicht.354 Damit bleibt das Strafrecht zwar konkretisiertes Verfassungsrecht, aber eben auch nur eine mögliche Form desselben. Aus diesem Grund – und nicht zuletzt weil das Grundgesetz selbst auf eine noch vergleichsweise junge Geschichte zurückblickt, darf man erwarten, dass die verfassungsrechtliche Begriffsbildung von Schuld eher die Prägung zeitlich älterer Vorstellungsbilder reflektiert und aufnimmt als das einfachrechtliche Verständnis genuin355 auszugestalten. Es ist daher verfassungsrechtlich besehen eine Frage der (politischen) Zweckmäßigkeit, inwieweit das Schuldprinzip seine „Vorherrschaft“ gegenüber Substituierungsversuchen behauptet. Gerade aber wenn abweichende Ergebnisse nicht erzielt werden bzw. werden sollen, tut der Gesetzgeber wohl eher gut daran, bewährte Konzepte nicht zu verwerfen. 3. Rechtstheoretische Ableitungen: Anmerkungen zur Bedeutung des „Prinzips“ Die zweite Seite der Beleuchtung des Schuldprinzips verschiebt den Fokus von der „Schuld“ zum Epitheton des „Prinzips“. Die Essenz solcher Überlegungen hängt 351
S. 42. 352
Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014),
Ob nicht trotzdem einzelne täterschaftliche Elemente im Delikt verwendbar sind, bleibt damit noch offen. 353 Das Bestimmtheitsgebot wird auch für Rechtsfolgen im Allgemeinen für anwendbar gehalten, s. Dannecker, FS Roxin II (2011), S. 285 (302); Roxin, Strafrecht AT 4(2006), § 5 Rn. 81. Welche Konsequenzen im Besonderen gelten, bleibt unklar. Zu diesem Aspekt auch das 1. Kapitel, C. II. 2. b) im 2. Teil zum Thema Regelbeispiele. 354 Ebenfalls Radtke, GA 2011, S. 636 (645). 355 Das meint natürlich nicht die Umkehrung der Normenhierarchie. Die Rede ist allein von zeitlicher Apriorität. Die Zäsur des Grundgesetzes darf indes nicht eine fehlende Kontinuität im Rechtswesen suggerieren. Zur Kontinuitätsthese des Bundesverfassungsgerichts dieses selbst s. BVerfGE 36, 1 ff. (2 BvF 1/73; Urt. v. 31. Juli 1973).
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natürlich davon ab, was die sprachliche Codierung als Prinzip in der Sache bewirken soll. Rechtsprinzipien tragen einen Doppelcharakter von Modell und Direktive.356 Phänomenologisch kann eine Sache nach einem bestimmten Modell aufgebaut sein (resp. werden). Das Prinzip ist dann Strukturprinzip. Wenn man von Schuldstrafrecht spricht, ist eindeutig auch das Schuldprinzip als dessen Struktur angesprochen. Das ist selbstbeschreibend und insoweit trivial. Für die Ableitungen aus dem Schuldprinzip hilft das nicht weiter, sondern setzt spezifische Inhalte voraus. Von Seiten einer Direktive werden Inhalte erwartet, die eine Leitfunktion übernehmen können. Es geht dann konkret um einen Normgeltungsanspruch. In dieser Hinsicht hat man im Anschluss an anglo-amerikanische Rechtstheorie Bemühungen angestellt um Prinzipien von Regeln strukturell zu unterscheiden. Prinzipien werden dabei mit Optimierungsgeboten identifiziert.357 Das impliziert, dass eine Erfüllung u. U. gar nicht vollständig erreicht werden kann. Das kann zum einen auf den hohen Abstraktionsgrad eines Prinzips zurückzuführen sein, z. B. wenn das Prinzip einem bestimmten, strukturell infiniten Ideal unterstellt wird. Zum anderen kann ein Prinzip in Konflikt mit anderen geraten. Ein solcher Konflikt soll über Anwendungsvorrang (Ausgleich und Abwägung) gelöst werden. Regeln dagegen beanspruchen unbedingte Geltung, sofern ihr Anwendungsbereich ausgelöst wird. Andernfalls erwiese sich die Regel als ungültig. Aus der Warte dieser Unterscheidung wird der Begriff „Schuldprinzip“ freilich einem unreflektierten Sprachgebrauch preisgegeben.358 Als Optimierungsgebot fungiert das „Schuldprinzip“ gerade nicht.359 Als Schutzmechanismus ist es, soll es denn Bestand haben, ausnahmefeindlich. Eine Konstruktion als Optimierungsgebot – wollte man dies wirklich durch die Bezeichnung erreichen – dürfte auch nicht möglich sein. Jedenfalls ad hoc erscheint die Vorstellung schwierig, dass eine Regelung besser oder schlechter dem Schuldprinzip entsprechen solle. So ist z. B. die Zulässigkeit der Rechtsfigur der actio libera in causa nicht über das sog. Ausnahmemodell zu begründen, wenn man die Koinzidenz von Tat und Schuld über das Schuldprinzip abgesichert meint. Selbst wenn man eine Ausnahme rechtspolitisch für vertretbar hält, ist eine Suspendierung des Schuldprinzips über die „Effektivität der Rechtspflege“ nicht sinnvoll. Beide Topoi wurzeln (auch) im Rechtsstaatsgedanken, so dass im Kollisionsfalle eine Art Konfusion drohte. Das Schuldprinzip als eine Regel in diesem Sinne, wäre allenfalls über die über ein Rangverhältnis zu degradieren. Eine qualitative Hierarchie von Rechtsstaatsprinzipien scheint in dieser Hinsicht aber problematisch – wenn sie sämtlich integrale Bestandteile sein sollen. Versuche, das Schuldprinzip zugunsten anderer Prinzipien einzuschränken, lassen 356
Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), § 33, S. 283 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte 3(1996), S. 72 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982), S. 97 ff.; Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 68. 358 Hörnle, FS Tiedemann (2008), S. 325; als „Regel“ bei Neumann, FS 50 Jahre BGH Bd. IV (2001), S. 83. 359 A. A. Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 578. 357
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sich folglich nur vordergründig als Gedankenspiele betreiben. Eine Argumentation, die das Schuldprinzip durch Abwägung verdrängen wollte, leidet daher rechtssystematisch an einem Syntaxfehler. Eine Regelung kann nur auf die Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip befragt werden. Die Antwort kennzeichnet entweder die Wahrung oder eine Verletzung. Tertium non datur. Das deckt sich mit dem verfassungsrechtlichen Ergebnis: das Schuldprinzip ist dort als absolute Rechtsfolgenschranke charakterisiert worden. Rechtstheoretisch muss die Schranke eine Regel sein: argumentativ bewegt man sich entweder vor oder hinter dieser Schranke. Erkenntnisgewinn über die rechtstheoretische Klassifikation stellt sich also nicht ein.360
III. Die strafrechtliche Schuld – die entwicklungsgeschichtliche Perspektive 1. Vorbemerkungen361 Die Ausführungen zu den ideengeschichtlichen Grundlagen deuten an, dass es Probleme bereiten dürfte, die Genese des geltenden Schuldstrafrechts nachzuzeichnen. Die Einflüsse sind zum einen im Grunde zu vielschichtig, aber vor allem auf einen zu langen Zeithorizont erstreckt, als dass „die“ Historie der aktuellen strafrechtlichen Schulddiskussion treffsicher verortet werden könnte. Zum anderen ist es auch eine Definitionsfrage, welche Essentialia man begriffsnotwendig mit einem Strafrecht in Verbindung bringt. Zieht man gerade die Schuld als Definitionsmerkmal des öffentlichen Strafrechts heran, gelingt eine Trennung der Ge-
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Wahrscheinlich sollte man von vorneherein in dieser Hinsicht Zurückhaltung walten lassen. Der strenge Dualismus von Regel und Prinzip lässt sich in voller Konsequenz wohl insoweit nicht aufrecht erhalten, da die logische Analyse auf Sprache trifft, von der man nicht ohne weiteres annehmen kann, dass sie eben diese Klassifizierung zuverlässig abbildet. Einschränkend ebenfalls Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), § 33, S. 289. Radikal a. A. sogar Poscher, Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., der Alexys Ansatz vollkommen verwirft. Nach dessen Ansicht müssen Optimierungsregeln selbst Regeln sein, a. a. O., S. 369. Das ist insofern plausibel, als dass sie zumindest auf logische Regeln zurückführbar sein müssen, die darüber entscheiden, ob ein Optimierungsgebot vorliegt oder nicht. Das zeigt aber auch, dass man sich in einem infiniten Regress zu verfangen droht sobald man dieses Gedankenspiel fortführt. 361 Eine eigenständige Analyse der historischen gesetzlichen Vorläufer ist nicht angedacht. Für den Fortgang der Darstellung genügt es die historischen Entwicklungslinien mit ihrem Niederschlag auf das heutige System nachzuzeichnen. Dieser Maßstab bedingt es, dass die Detailfülle von Ansichten nicht abgebildet werden kann. Auf Aufarbeitung und Verwendung der Primärquellen wird daher nahezu gänzlich verzichtet. Es wird auf die verdienstvollen Vorarbeiten, insb. von Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre (1974), Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001); sowie Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999) zurückgegriffen.
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schichte der Schuld und des öffentlichen Strafrechts ohnehin nicht.362 Je nachdem welche Aspekte des Schuldstrafrechts ans Licht gebracht werden, lassen sich schon frühzeitige geistige Vorläufer erkennen. Einzelne Vorstellungen von Schuld dürften schon so lange existieren wie die zivilisierte Menschheitsgeschichte selbst, unbesehen davon, ob die gelebte Rechtskultur Erfolgshaftung praktizierte.363 Daher existieren unterschiedliche Angebote für die Anfänge des Schuldstrafrechts, so dass Wurzeln schon im Hoch-364, Frühmittelalter365 oder gar schon in der Germanenzeit366 ausgemacht werden. Über die Rolle der kirchlichen Tradition sind Ausführungen an anderer Stelle erfolgt.367 Diese Befunde sind beredtes Zeugnis der überragenden Bedeutung des Schuldprinzips; zugleich zeigen sie auf wie diese lange Tradition leicht dazu anregt, die Schuld im Strafrecht ob dieser Unkenntlichkeit zu mystifizieren. Dazu gesellt sich das Problem, dass die Schuldgeschichtsschreibung auch mit den dogmatischen Voraussetzungen zusammenhängt, die heute gelten.368 Die Nomenklatur der Straftatsystematik determiniert jeweils die Perspektive des retrospektiven Blicks. So können Phänomene, die einst mit Schuld gekennzeichnet wurden, dieses Etikett nicht mehr tragen. Umgekehrt gilt dies genauso. Historisch gesehen sind Begriffskonstanten keine Notwendigkeit,369 so dass durch die Konfusion von Begriffswort und Begriffsgegenstand leicht verzerrte Darstellungen zustande kommen können. Obendrein entspricht es dem natürlichen Selbstverständnis kontemporärer Forschung, immer „klüger“ zu sein als die vorangegangene. Als Ausgangspunkt kann dennoch der Verständnishorizont des Status quo gewählt werden, da diese Untersuchung keinen historiographischen Ansatz verfolgt, so dass hier, um mit Stübingers 362 So Stübinger, Der Stellenwert der Schuld (2002), S. 187; ders., Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 14. 363 So mag eine Schuldfrage nach heutigem Verständnis nicht angestellt worden sein; nicht zuletzt deshalb, weil das „Erkenntnisverfahren“ vergangener Zeit darauf nicht ausgerichtet war. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass ein zu Tage getretener Wille bedeutungslos war. Vgl. dazu E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 31 f. 364 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 117 ff. 365 Ekkehard Kaufmann, Die Erfolgshaftung (1958), S. 10, passim. 366 Gerade im Geiste der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts gab es durchaus Versuche der (durchaus politisch motivierten) Wissenschaft, Artefakte von Schuldpraxis schon bei den Germanen nachzuweisen, um frühe Kulturleistungen im nationalen Einigungsprozess heraufzubeschwören. Dazu Stübinger, Der Stellenwert der Schuld (2002), S. 190, zum unterschiedlichem Ertrag, S. 191 ff. Zur eher kritischen Haltung der zeitgenössischen Wissenschaft zur historischen Methode im Strafrecht, s. wiederum Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 152 ff. 367 Siehe oben II. 1. a). 368 Siehe auch Stübinger, Der Stellenwert der Schuld (2002), S. 187 (202 f.). 369 Stübinger, Der Stellenwert der Schuld (2002), S. 187 (203 f.). Zum Problem der anachronistischen Begriffsverwendung, s. Lüderssen, Zur Aspektabhängigkeit strafrechtshistorischer Forschung, (2002), S. 235 (240 f.).
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Worten zu sprechen, tatsächlich mehr das Bemühen um „die Vergangenheit des eigenen Wissens als um das authentische Wissen der Vergangenheit“370 im Vordergrund stehen darf. Dies erlaubt eine Konzentration auf die Genese der zeitgenössischen Schulddogmatik. a) Wahl des dargestellten Zeitrahmens Für dieses Unterfangen bereitet indes schon die Wahl des Anfangszeitpunkts, den man zur Darstellung heranzieht, grundsätzlich Probleme. Denn die Genese lässt sich auf dem Koordinatensystem der Zeit beliebig nach vorne vorverlegen. Der Bearbeiter der Fragestellung sieht sich dann allenfalls vor faktische Hindernisse gestellt, was zum Beispiel den Zugang zu validen historischen Primär- und Sekundärquellen betrifft. Abgesehen von dieser „natürlichen“ Begrenzung erscheint es allerdings zwingend, eine Zäsur aus arbeitsökonomischen Gründen zu definieren, die den Rahmen der Aufgabenstellung wahren kann. Als eine derartige sinnvolle Zäsur bietet sich das Jahr 1871 an. Die Überwindung der Partikularrechte, welche in der Kodifikation eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs in Form des RStGB von 1871 mündete, zusammen mit der Gründung eines großen deutschen Flächenstaates, markiert einen historischen Wendepunkt in der Strafrechtsgeschichte. Dieser Wandel machte sich auch und insbesondere in der Strafrechtswissenschaft bemerkbar, als die konstitutiv-gestaltend Strafrechtsphilosophie zunehmend der interpretativen Dogmatik wich.371 Darüber hinaus wird die Entwicklung des Strafgesetzbuches ungeachtet jeglicher Neubekanntmachung372 auch stets in dieser Kontinuitätslinie zum Reichstrafgesetzbuch betrachtet, so dass man davon ausgehen kann, dass dieser Zeitrahmen die juristische Zeitgeschichte der gegenwärtigen Strafrechtsepoche abbildet.373 In Anschluss an B. Schünemann374 sollen weitere Untereinheiten strafrechtlicher Systembildung unterschieden werden, die zwar nicht ohne Pauschalierung auskommen, dafür aber die Darstellung strukturieren helfen werden. Es sind dies der Naturalismus bis zur Jahrhundertwende, die Phase des Neukantianismus bis zum Jahre 1930, der sich daran anschließende Irrationalismus mit dem Ende 1945, der Finalismus der Nachkriegszeit und abschließend sowie überleitend der Übergang in die Gegenwart heutiger Strafrechtsmodelle. Dabei ist zu beachten, dass eine Entwicklung der Schuldmodelle selten isoliert vonstatten ging, sondern immer im Zusammenhang mit der allgemeinen Architektur strafrechtlicher Dogmatik gesehen werden muss. Die Arbeit im Detail war stets die Arbeit am System. Soweit es angezeigt erscheint, 370
Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 16 f. Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 185 f. Siehe auch schon oben II. 1. b) die Ausführungen zu den rechtsphilosophischen Grundlagen der Schuldidee. 372 Zuletzt in der Neufassung v. 13. 11. 1998 (BGbl.I S. 3322). 373 Anders jedoch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte 2(2010), S. 18 f., dort auch zur Begrifflichkeit, S. 6 – 9. 374 Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 18 f. 371
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rundet eine abschließende Bewertung der Zeiteinheiten die Darstellung ab. Als Leithypothese mag dafür die Annahme gelten, dass die Durchsetzungsfähigkeit eines Modells im Wesentlichen davon abhängen wird inwiefern es in der Lage ist, die je aktuellen Anforderungen sozio-rechtlicher Natur im System verarbeiten zu können. b) Schuld als Terminus technicus Der gewählte Untersuchungszeitraum wird obendrein durch die Beobachtung gestützt, dass der Gebrauch Schuld in der juristischen Fachsprache sich just zu dieser Zeit endgültig etablierte.375 Die behandelten Materien waren, wie eingangs angedeutet, schon lange Themen der Philosophie und damit letztlich auch der Strafrechtswissenschaft. Nur firmierten diese nicht unter Schuldgesichtspunkten, sondern waren Teil der allgemeinen Imputationslehren.376 Um die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert taucht Schuld zunächst nur als Übersetzung vom lateinischen culpa auf und bezeichnet überwiegend das Gegensatzpaar Fahrlässigkeit (Versehen) vs. dolus (Vorsatz).377 Neben der Abgrenzung zum Vorsatz konkurrierten zwei weitere Bedeutungen von Schuld, nämlich zum einen die als Grenzmarke zum Zufall, zum anderen als Bezeichnung für das Resultat des Strafverfahrens, wobei diese nicht ausschließlich im rechtlichen Kontext Verwendung erfuhren.378 Diese Mehrdeutigkeit war bereits in dem lateinischen Wort culpa angelegt und wurde durch die Rezeption römischen Rechts für den deutschen Rechtsraum entsprechend übernommen.379 Es besteht Grund zur Annahme, dass im Besonderen die Äquivozität nicht als hinderlich empfunden wurde, sondern Gelegenheit bot, die Alltagssprache in das Begriffskonzept einzuholen. Die Rede von Schuld und Entschuldigung waren bereits geläufig, eine Entsprechung in strafrechtlichen Systembegriffen fehlte allerdings noch.380 Der Wille dominierte die strafrechtliche Rhetorik; Vorsatz und Fahrlässigkeit bezeichneten jeweils Facetten des verbrecherischen Willens, die sich dann alsbald unter der Kennzeichnung Schuld vereinigten.381 Der sich so herauskristallisierende Schuldbegriff profitierte gleichzeitig von der Krise des Zurechnungsbegriffs der 375 Ausführlich Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 378 ff., 401; und bereits Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 19 ff. mit Nachweisen in Fn. 11 u. 12. Ferner Vormbaum, Einführung 2(2011), S. 87 und Schlosser, Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (1961), S. 21 f. 376 S. oben oben II. 1. b) bb). 377 Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 378. 378 Stübinger, a. a. O., S. 381 f. 379 Stübinger, a. a. O., S. 386 f. 380 Zur entsprechenden Integration mittels „Ethisierung“ der Schuld s. Stübinger, a. a. O., S. 382 f. Zu Tendenzen bzgl. Schuld/Unschuld in der (allgemeinen) Philosophie, ebenda, Fn. 1179. Vgl. auch Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 20 f. mit Nachweisen. 381 Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 395.
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naturrechtlichen Imputationslehre und des hegelianischen Handlungsbegriffs.382 Schuld bahnte sich so allmählich den Weg zum Systembegriff. 2. Die Trennung von Unrecht und Schuld Den endgültigen Durchbruch erlebt die Schuld als Verbrechensmerkmal in der Dekade unmittelbar vor der Reichsgründung.383 Als Katalysator fungiert die Marburger Kontroverse zwischen Adolf Merkel vs. Rudolf v. Jhering384 um die Möglichkeit schuldlosen Unrechts. Rudolf v. Jhering entwickelte den Fall des unrechtmäßigen (gutgläubigen) Besitzes auch ohne Verschulden. Entdeckt war damit eine objektive Rechtswidrigkeit, die an einen Rechtszustand anknüpft und von einer Handlung gelöst betrachtet wurde. Folglich mussten die Kategorien von Unrecht und Schuld unabhängig voneinander gedacht werden können.385 Im System der Hegelschen Philosophie – die Schuld ging im Handlungsbegriff selbst auf386 – ließ sich diese Erkenntnis nicht abbilden. Es brauchte also einen Impuls von „außen“, durch das vom Ausgleichsdenken bestimmte Zivilrecht, um die Strafrechtsdogmatik zu novellieren.387 Die Loslösung vom Hegelianismus stand im Zuge einer allgemeinen Emanzipation des Strafrechts von der Philosophie388 und überantwortete die Beschäftigung mit dogmatischen Problemen zunehmend einer genuin denkenden, positiven Rechtswissenschaft. Im wissenschaftlichen Methodenstreit zwischen Philosophie und Historismus wurde auf Seiten des Strafrechts zwar lange Zeit philosophische Deduktion gegenüber der induktiven Methode der historistischen Rechtsschule favorisiert,389 doch auch und insbesondere im Strafrecht zeichnete sich der Siegeszug des Naturalismus ab.
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Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 16, 397. Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 399 f. 384 Vgl. dazu Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 260 ff. sowie Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 24 f.; Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 399 mit Nachweisen in Fn. 1274. 385 Für Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 264 f., ist diese Entkopplung lediglich das Resultat einer (im Hinblick auf die zivilrechtliche Gütersituation) TäterOpfer-Perspektivenkonfusion geschuldet, die für die eigentliche strafrechtliche Überlegung (Strafbarkeit des Delinquenten) keine Aussagekraft besitzt. 386 S. oben II. 1. b) bb). 387 Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 28. Beachte aber auch Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 25, der eine ähnliche Tendenz im Wirken des Hegelianer Hugo Hälschner erkennt. 388 Vgl. ausführlich Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte, (1999), S. 187 ff. 389 Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte (1999), S. 29 f. Zur historischen Schule im Strafrecht ders., a. a. O., S. 170 ff. 383
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3. Der Naturalismus a) Der geistesgeschichtliche Kontext Die nachfolgende, naturalistische Strafrechtsschule ist untrennbar mit der geistigen Strömung des Positivismus verbunden. Im Geiste des Positivismus stand ein strenger Empirismus mit Ablehnung jeglicher Metaphysik aufgrund ihres spekulativen Charakters. Für das Recht bedeutete dies stilistisch eine generelle Abkehr sowohl von der Philosophie des deutschen Idealismus als auch vom rational-deduktiven Denken der Naturrechtslehren.390 In methodischer Perspektive sollte das vermeintlich unwissenschaftliche Werte- und Gerechtigkeitsdenken zugunsten einer strikten Orientierung an beobachtbaren Tatsachen weichen. Eine ursprünglich holistische Anthropologie verlor gegenüber der voranschreitenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften zunehmend an Boden. Allen voran die Naturwissenschaften proklamierten den Menschen nun als empirisches Phänomen. Inspiriert u. a. von Darwin’scher Forschung stand die gesetzmäßige Erforschung des Menschen auf dem Plan. Ein für das Strafrecht bedeutsamer Niederschlag dieser Ideen bedeutete die Geburtsstunde wissenschaftlicher Kriminologie.391 Auf deutscher Seite ist der Einzug naturalistischer Lehren mit dem Namen Franz von Liszt verbunden. Seine eklektische Ausrichtung kombinierte die Kriminalbiologie der italienischen Schule Lombrosos mit der Lyoner Kriminalsoziologie um Lacassagene und Tarde zu der noch heute geläufigen Anlage-Umwelt-Formel zur Entstehung des Verbrechens.392 Gesellschaftlich ebnete sich ein tiefgreifender Wandel den Weg fort von der agrarisch feudalen Gesellschaft hin zur Industriegesellschaft.393 Die industrielle Revolution brachte allerdings nicht nur technischen Fortschritt und steigende Produktivität, sondern veränderte nachhaltig die Lebensbedingungen der Menschen. Die „soziale Frage“ stand nunmehr im Raum. Dies hatte Einfluss auf die Anforderungen an den herrschenden Staat: war der liberale Rechtsstaat als Produkt des Vernunftrechts der Aufklärung gerade aus Sorge vor dem staatlichen Leviathan errichtet worden um dem Bürgertum Freiraum fernab politischer Herrschaftsgewalt zu sichern, erwuchs nun die Forderung nach einem Interventionsstaat, der sich der Belange der Bevölkerung annimmt. Die Idee vom Staat vollzog eine Metamorphose vom Rechtsstaat als Ordnungsverband formaler Ausrichtung (Freiheit in nationaler Einigung) zum lenkenden Verwaltungsstaat. Der pathetische Dualismus von Staat
390 Zum „Einbruch“ des Positivismus in die Rechtswissenschaft auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 36 f. 391 Zum Einfluss des Positivismus vgl. Bock, in: Göppinger, Kriminologie 6(2008), § 2 Rn. 7 ff. und Meier, Kriminologie 6(2021), § 2 Rn. 5 ff. 392 Vgl. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 91. 393 Zum Folgenden instruktiv: Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 49 ff.
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und Gesellschaft des Idealismus wich der Vorstellung einer planvoll lenkenden Funktionseinheit.394 Im Zuge der gesellschaftlichen Umstrukturierung gewann die Sozialpolitik als neues Erschließungsfeld an Bedeutung. Es war nun vor allem Franz von Liszt, der die Kriminalpolitik als Teil dieses Programms identifizierte. Nach ihm war nicht nur Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik,395 sondern es musste auch die Umkehrung gelten: Kriminalpolitik war wie alles Staatshandeln diesem Lenkungsinteresse zu unterwerfen.396 Der „Zweckgedanke“ für das Strafrecht war geboren. Die sich daran entzündende Kontroverse sollte als der sog. „Schulenstreit“ das Strafrecht bis in die Neuzeit prägen: der „moderne“ Präventionsgedanke opponierte gegen den bis dahin herrschenden „klassischen“ Vergeltungsgedanken absoluter Straftheorien, sei es Vergeltung im Sinne des ius talionis von Schuld (Kant) oder Strafe als Negation von Unrecht (Hegel).397 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen Das RStGB von 1871 beruhte im Wesentlichen auf dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851, welches die liberal-staatliche Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts reflektierte.398 Im Geiste des kriminalpolitischen Impetus der modernen Schule jedoch erschien die Kodifikation wissenschaftlich obsolet.399 Deshalb galt ein großer Teil der dogmatischen Überlegungen – je nach Lager – Reformbestrebungen entsprechend voranzutreiben. Die positivistische Grundhaltung verleitete alsbald die Rechtswissenschaft zum Anschluss an die Taxonomie naturwissenschaftlichen Denkens. Als Folge war insgesamt ein Rückgang der dialektischen Methode des Hegelianismus zu verzeichnen, welche zunehmend deduktiven Begriffspyramiden klassifikatorischer Natur zu weichen hatte.400 Ergebnis war dann die semantische Definition der Straftat als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung. Der logische Forma394 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 34; zusammenfassend S. 200 ff., mit soziologischen Interpretationsansätzen, S. 208 ff. 395 v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 (1905), S. 230 (246). 396 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 76 f. 397 Vgl. zusammenfassend zur Straftheorie vor der Reichsgründung Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte 6(2011), Rn. 219 ff. Heute wird der Schulenstreit überwiegend mit einer Auseinandersetzung von und über Straftheorien assoziiert, welche insbesondere das Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht thematisiert und in welchem vor allem die Diskussion betreffend des Determinismus virulent ist, vgl. z. B. Schöch, in: Kaiser/Schöch 7(2011), Fall 1. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die strafrechtliche Kontroverse Ausdruck des Gegensatzes liberal-sozialstaatlicher Auffassung zum Rechtsstaat war, s. dazu E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 387. 398 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 344. 399 Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 4 Rn. 3. 400 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 22.
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lismus des Positivismus einte die unterschiedlichen Vertreter unter einem gemeinsamen Nenner. Dies führte entsprechend dazu, dass keine gravierenden Abweichungen in der Systemarchitektur der Straftat festzustellen war. Der Schulenstreit um die „Willensfreiheit“, mithin die Schuldidee, betraf nur die Ausgestaltung.401 Darüber hinaus hielten die meisten Autoren am Konzept der Einzeltatschuld fest.402 Zwar stand die Zweckorientierung als Steuerungsmechanismus der Gesellschaft im Vordergrund, dem positivistischen Weltbild entsprach es aber durchaus, staatliches Handeln im Lichte eines „Naturgesetzes“ zu sehen, dessen Aufgabe (allein) der Freiheitssicherung des Individuums gilt. Dazu gehörte die Akzentverschiebung vom ideellen Staatspathos hin zur technischen Betrachtung der Steuerungseinheit.403 Mit diesem liberal-rechtsstaatlichen Ansinnen korrespondierte eine strikte Bindung an den (Rechts-)Begriff innerhalb eines geschlossenen Systems;404 eine Bindung, die wohl aus diesem Grund die Verbindung zur Einzeltat unangetastet ließ. Die Merkmale der Straftat galt es freilich allein durch die Anschauung der Realität fernab richterlicher Wertungsakte zu gewinnen. Für die Rechtswidrigkeit glaubte man dies gesetzespositivistisch lösen zu können,405 während auf Seiten des Tatbestands, in dessen Zentrum der Kausalitätsbegriff in Gestalt der Äquivalenztheorie Maximilian von Buris rückte,406 (ausschließlich) das wahrnehmbare, außenweltliche Geschehen deskriptiv abgebildet sein durfte. Die Schuld dagegen kennzeichnete die subjektive Tatseite als psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat, welche sich in Vorsatz und Fahrlässigkeit äußern konnte. Der Begriff der Schuld wurde auf diese Weise Oberbegriff für seine beiden Erscheinungsformen. Schuld selbst haftete gemäß naturalistischer Diktion kein substantieller ideeller Inhalt an. Das taxonomische Schema setzte folglich als Fixpunkt des Verbrechens die Handlung fest. Schuld kennzeichnete als Attribut diese Handlung. aa) Naturalistische Schule Die genaue Erforschung dieser verbrecherischen Handlung war das Ziel der naturalistischen Richtung. Die Anfänge der naturalistischen Schule im Strafrecht lassen sich auf den bereits erwähnten Begründer der Äquivalenztheorie (condicio 401
Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 49. Anders die charakterologischen Schuldlehren Ottokar Tesarˇs und Horst Kollmanns. Im Gegensatz zu den naturalistischen Lehren in der Gefolgschaft Franz von Liszts wurde die Schuld völlig von der Einzeltat gelöst. Die Tat lieferte mithin nur noch ein Erkennungssymptom. Das Begriffsverhältnis wurde damit umgekehrt. Die Schuld kennzeichnet nicht die Tat, sondern die Tat entlarvt den Schuldigen. Schuld tritt auf als psychischer Defekt (Tesarˇ) bzw. als antisozialer Willenszustand (Kollmann). Mit dem RStGB war dies nicht mehr zu vereinbaren. Ausführlich Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), § 15, S. 123 ff. 403 Dazu vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 30 f. 404 Dazu vgl. E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3 (1965), S. 383. 405 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 20. 406 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 21. 402
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sine qua non), Maximilian von Buri, zurückführen,407 welcher neben dem Kausalzusammenhang den Willenszusammenhang als zweite Stufe der Zurechnung entwickelte408 und damit einen ersten Prototyp psychologischer Tat-Täter-Beziehung ausformte. Der Durchbruch folgte indes erst unter dem Wirken Franz von Liszts. Das deterministische Menschenbild der Zeit allerdings fand nur schwer Zugang zu der tradierten Schuldlehre. Schuld stellte sich quasi als „Übersetzungsproblem“409 dar, was letztlich als Reaktion darauf die kriminalpolitische Überformung dogmatischer Begriffe bedeuten musste.410 Exemplarisch411 nachvollziehen lässt sich dies anhand der Schuldlehre ihrer Koryphäe Franz von Liszt. Das deliktische Geschehen wurde aufgeteilt in Außenwelt und Innenwelt. Danach wies Schuld die innere Beziehung zwischen dem (äußeren) Tatgeschehen und Täter aus, die als Mangel an sozialer Gesinnung zu Tage tritt.412 Zurechnungsfähigkeit dagegen ist im naturalistischen System keine Kategorie der Schuld selbst, sondern deren Voraussetzung in Form einer übergreifend gedachten Handlungsfähigkeit.413 Diese Orientierung an der Innenwelt des Täters begründete die Konzeption eines „psychologischen Schuldbegriffs“414, welche als Rechtsprodukt mit der „ethischen Schuld nichts als den Namen gemein hat.“415 Die naturalistische Vorstellung weist der Schuld ebenfalls einen empirisch feststellbaren Sachverhalt zu, dessen zugrundeliegenden Tatsachen mit Hilfe der Wissenschaft, im speziellen der Psychologie, zu erforschen seien.416 Verbrechen lässt sich dann stets als symptomatisch für ein bestimmtes defizitäre Gesinnung bestimmen. Nach Franz von Liszt galt es diese Pathologie des Verbrechens im Ganzen aufzuschlüsseln, um aus dessen Befund darauf dann die geeignete Maßnahme seines kriminalpolitischen Programms der Spezialprävention (Abschreckung, Besserung bzw. Unschädlichmachung417) entgegenzusetzen. von Liszt präsentiert damit das erste Modell einer Charakterschuld. Der Charakter ist (vor)gegeben und die Strafe hat durch gezielte Motivbeeinflussung an der Formung 407
Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 37 f. Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 32 f. 409 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 68. 410 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 67 f. 411 Als weiter Vertreter seien in alphabetischer Reihenfolge genannt: Hermann Basedow; Moritz Galliner, Eduard Kohlrausch, Alexander Löffler, August Mirˇicˇ ka und Gustav Radbruch, vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 50; mit ausführlichen Darstellungen zu Basedow (S. 64 ff.), Kohlrausch (S. 71 ff.), Löffler (S. 62 ff.) und Radbruch (S. 67 ff.) Dem einheitlichen naturalistischen Ansatz in der Methodik zum Trotz standen allerdings divergierende Auffassungen in der dogmatischen Ausgestaltung, dazu wiederum Achenbach, a. a. O. 412 Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 41 f. und Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 35, jeweils mit den Nachweisen. 413 Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 41. 414 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 42. 415 So von Liszt selbst, hier zitiert nach Achenbach, wie zuvor. 416 S. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 40 zu den entsprechenden Nachweisen. 417 Bei v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, (1905), S. 126 (163 f.). 408
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desselben anzusetzen. In diesem Entwicklungshorizont sah Franz von Liszt schließlich die Überlegenheit seines spezialpräventiven Ansatzes gegenüber der primitiven Vergeltungsstrafe.418 Die Einsichten fußten selbstredend auf einer prinzipiellen Besserungsfähigkeit des Menschen. Dies alles war freilich nicht einlösbar ohne einen von der Evolutionstheorie beförderten Fortschrittsglauben. Und gerade die Evolutionsperspektive bietet für v. Liszt die „Synthese des Seienden und Seinsollenden“, also eine Verbindung von empirischer Wirklichkeit und klassischer juristischer Denkweise in normativen Werten.419 So ergab sich eine bemerkenswerte Synthese vom Empirismus und Telos.420 bb) Die Rolle der Klassik Die klassischen Zurechnungsmodelle wurden allerdings nicht umfassend verdrängt. Basierend auf einem indeterministischen Schuldmodell konnten sie sich im Schulenstreit behaupten, so dass allein das Schuldartendogma, nicht der psychologische Schuldbegriff in Gestalt von Liszts, eine dominierende Rolle einnahm.421 c) Kommentar Die naturalistische Ära hat das Strafrecht nachhaltig geprägt. Der naturalistische Impetus war jedoch nicht in der Lage einen vollständigen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Die Kernthemen des Schulenstreits, die Frage nach der Zweckhaftigkeit des Strafens und der Bedeutung des Willens für das (Schuld-)Strafrecht beschäftigen die Strafrechtswissenschaft in gleicher Weise bis heute.422 Die Aufspaltung der Handlung von Buris in einen Kausal – sowie einen Willenszusammenhang423 setzt den Trend des systematisch-analytischen Denkens im Strafrecht fort, der mit der Überlegung einer Trennung von Unrecht und Schuld eingeläutet wurde. Die Ausdifferenzierung von Argumentationsstufen steht nunmehr im
418 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 70 mit Primärquellen. 419 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 367 f. 420 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 71; Naucke, ZStW 92 (1982), S. 525 (534). Ob dies als Inkonsequenz im Ansatz gedeutet werden kann oder ob dies schlicht der Transformation in die juristische Ideenwelt geschuldet ist, soll hier offenbleiben. 421 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 56 f. Zu Bindung, vgl. Achenbach, a. a. O., 27 ff. 422 Dabei darf nicht verkannt werden, dass die Diametralität der Diskussion, welche bis heute fortlebt, zu großen Teilen eine Art Selbstinszenierung war, zur Relativierung des Schulenstreits, Frommel, Präventionsmodelle (1987), S. 49 ff., 104, 191. 423 Dazu Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 37 f.
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Hauptinteresse der Strafrechtsdogmatik und befördert den analytischen Zugang vom Aufbau des Verbrechens – welcher ebenso bis heute vorherrscht.424 4. Die Phase des Neukantianismus a) Der geistesgeschichtliche Kontext Die Strömung des Neukantianismus, der Name deutet sein Programm schon an, betreibt die Wiederbelebung der Philosophie Kants. Unter diesem Sammelbegriff vereinigen sich allerdings Ansätze, die sich in Ausrichtung und im Grad der Fortentwicklung Kantischer Philosophie unterscheiden.425 Es ist zum einen der „logizistische“ Neukantianismus der Marburger Schule um Hermann Cohen und Paul Natorp, aus der die Strafrechtler Rudolf Stammler und Alexander Graf zu Dohna hervorgehen.426 Auf der anderen Seite gibt es den Neukantianismus südwestdeutscher Prägung in personae Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und Emil Lask. Für die Rezeption im Strafrecht stehen Max Ernst Mayer, Erik Wolf, Max Grünhut, Erich Schwinge sowie der „späte“ Gustav Radbruch.427 Nicht zuletzt ist chronologisch zu beachten, dass sich diese Entwicklung zwar als Gegenmodell zum Positivismus verfestigte, ihr aber entgegen der hier darstellungsbedingten Suggestion nicht zeitlich in vollem Umfang nachfolgte.428 Das Hauptanliegen bestand darin, ein Konzept von Kultur und Axiologie darzulegen, welches gleichsam Legitimation und Gültigkeit versprach.429 Der Wertbegriff wurde in der Wissenschaft etabliert, welcher die methodische Unabhängigkeit von naturwissenschaftlichem Denken absichern sollte.430 Diese Rückkehr zum Wertedenken hatte zum Ziel den „naturalistischen Fehlschluss“ zu revidieren und Werturteile in der Diskussion zuzulassen; denn die Sein-Sollen-Diskrepanz ließ sich über einen strengen Gesetzespositivismus nicht auflösen.431 Die Teleologie in Begriff und System kam auf.432 Die Befürwortung der Wertephilosophie im Rechte spaltete 424 Man wird das Bestreben zur Kategorisierung (zuvorderst Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) als grundlegendes Kennzeichnen der Strafrechtsdogmatik einschätzen müssen. 425 Vgl. Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken (2009), S. 23. 426 Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 42; Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 50 f. 427 Zum Ganzen Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken (2009), S. 28 ff.; zu den einzelnen Autoren S. 84 ff., 106 ff. 428 Der Beginn der Rezeption Kants reicht in die 50/60er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, vgl. Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken (2009), S. 27. Die Hochkonjunktur auf juristischer Seite wird in den 1920er Jahren verortet; so bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 131. 429 Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken (2009), S. 56 ff., 70 ff. 430 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 51. 431 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 25 f. 432 Vogel, Einflüsse (2004), S. 59; zum Einfluss der teleologischen „Tübinger Schule“ auch Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 52.
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die Lager: die Fürsprache der Wertelogik schürte die Angst vor einem wertefreien Gesetzgeber als potentiellen Despot, dagegen fürchteten die Positivisten durch diese Einbruchstelle um die Souveränität des Gesetzgebers.433 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen Wichtigste Novation dieser Öffnung für Wertentscheidungen war die Herausbildung der materiellen Rechtswidrigkeitsdoktrin.434 Diese Neuorientierung ebnete die Bahn für den sog. normativen Schuldbegriff. Erst dies ermöglichte eine Differenzierung der sog. Notstandsfälle nach heute herrschender Nomenklatur.435 Das vom psychologischen Schuldbegriff proklamierte Schuldartendogma wies zahlreiche Ungereimtheiten auf: Zum einen ließen sich Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht überzeugend unter einem Dach vereinen: gerade im Falle unbewusster Fahrlässigkeit lässt sich die psychologische Beziehung des Täters zur Tat nicht ohne dogmatische Brüche beschreiben.436 Die unbewusste Fahrlässigkeit definiert sich 433
Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 45. B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 28 f.; Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 43 ff. 435 1927 fanden diese Überlegungen fruchtbaren Ertrag bei der Entwicklung der Abwägungslösung im Rahmen eines übergesetzlichen Notstands mit rechtfertigender Wirkung, RGSt 61, 242 (Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt zur Lebensrettung einer suizidgefährdeten werdenden Mutter). Rechtfertigender Notstand war bis zur Entscheidung des Reichsgerichts unbekannt. Ein besseres Verständnis erreicht in diesem Zusammenhang ein Vergleich des RStGB mit heutiger Gesetzeslage. Die §§ 52 – 54 StGB a. F. differenzierten nicht nach Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründen. Das Gesetz verwandte nur die Wendung „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden“ (s. Hervorhebung unten) und bezeichnete terminologisch nur Strafausschließungsgründe. Die Ausdifferenzierung erfolgte innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Dazu ein Auszug aus dem RStGB: § 52 StGB „(1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genöthigt worden ist.“ (2) […] § 53 StGB (1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung durch Nothwehr geboten war. (2) […] (3) Die Überschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar, wenn der Thäter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Vertheidigung hinausgegangen ist. § 54 StGB Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist.“ 436 So u. a. bspw. bei F. v. Liszt, s. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 40 u. 43. 434
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gerade über die fehlende kognitive und voluntative Beziehung. Zum anderen konnte der psychologische Schuldbegriff den nunmehr entwickelten Entschuldigungsgründen keinen Platz innerhalb der Schuldsystematik zuweisen.437 Diese Erkenntnis reifte bei Reinhard Frank heran, der deswegen gemeinhin als Begründer der normativen Schuldlehre und Überwinder des psychologischen Schuldbegriffs angesehen wird.438 Frank verwirft das taxonomische Denken von Art und Gattung als unerheblich und ebnet damit den Weg für die Elementelehre.439 Bahnbrechend dafür war der Umstand, dass neben Vorsatz und Fahrlässigkeit auch die äußeren Umstände einer Tat den Bewertungsgegenstand prägen konnten. Angesprochen waren die Fälle entschuldigenden Notstands, die im bisherigen System der Schuld nicht abbildbar waren, obwohl sie den Schuldcharakter einer Tat beeinflussen konnten.440 Vorsatz und Fahrlässigkeit werden deswegen lediglich zu Teilaspekten der Schuld, ebenso wie die Zurechnungsfähigkeit als konstitutives Schuldmoment.441 Es kristallisiert sich die Vorwerfbarkeit bei Frank als Essenz der Schuld heraus.442 Mit der Vorwerfbarkeit war jene schlagwortartige Abbreviatur443 gewonnen, die die normative Wende einleiten sollte. Die Vorwerfbarkeit bildet nunmehr das Substrat des Schuldurteils, ist aber nicht Teil des Schuldtatbestands selbst. Normtheoretisch gefasst trat neben die Bestimmungsnorm des Strafgesetzes verstärkt die Bewertungsnorm.444 Der Schlüssel lag fortan in der Bewertung der Tatmotivation, wodurch weiterhin die innere Beziehung des Täters zur Tat von Bedeutung blieb, jedoch ohne den Fokus rein naturalistisch auszurichten.445 Im Einzelnen bildeten sich mehrere unterschiedliche „normative Gruppen“ heraus, die jedoch die Übereinstimmung in der neukantianischen Methodik446 und Wertorientierung einte.447 437 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 29; Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 53 f. 438 Gegen diese geläufige Annahme: Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 57. Mit der Einführung der Vorwerfbarkeit sei Frank zwar pointiertester Vertreter der sich vollziehenden Entwicklung, aber es sei weniger „die normative Schuldlehre“ an sich, als vielmehr der philosophische Umschwung mit methodischer Neuausrichtung (Werte) innerhalb des Neukantianismus der in der Lage war, die naturalistische Auffassung zu überwinden; s. auch S. 104. Dazu Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 19 Fn. 23. 439 Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 103. 440 Dazu Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 97 ff., zur im Verlauf der Jahre vorgenommenen Relativierung seitens Frank, a. a. O. S. 100. 441 Dazu R. Frank, FS f. die juristische Fakultät in Gießen (1907), S. 519 (527 f.). 442 Vgl. R. Frank, FS f. die juristische Fakultät in Gießen (1907), S. 519 (529). 443 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 99. 444 Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 49 f. 445 Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 51. 446 Zum Methodenaspekt: s. wiederum Ziemann, Neukantianisches Strafrechtsdenken (2009), S. 33 ff. 447 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 57; 134 f. Zur Frage der Beschaffenheit des Schuldcharakters bzw. -urteils. S. 141 ff.
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Um die Jahrhundertwende tauchten noch vor Frank erste normativ geprägte Schuldlehren auf. Sie bestimmen Schuld als ethische Moral- oder Pflichtwidrigkeit der Motive der Tat.448 Die Gruppe um Frank zeichnet sich durch ihre Schwerpunktsetzung bezüglich der rechtlichen Wertung aus; sie postuliert den normativen Charakter der Schuld in toto.449 Davon abzugrenzen sind die Lehren, welche die Schuld nicht insgesamt als normativ etikettieren, sondern ein eigenständiges normatives Merkmal der Schuld herausstellen. Sie stehen für die Einführung der Zumutbarkeit als allgemeines Merkmal in die Schulddiskussion. Angetrieben wurde diese Entwicklung von James Goldschmidts „Pflichtnormentheorie“, welche (anfänglich) auf dem Gedanken des Billigkeitsrechts aufbaute. Goldschmidts Überlegungen schalteten die Errichtung der Entschuldigungsgründe als eigenständiges strafdogmatisches Rechtsinstitut frei. Denn die Differenzierung der Notstandsfälle eröffnete nunmehr eine straftatsystematische Unterscheidung. Die Entschuldigungssituation machte die Handlung zwar nicht rechtmäßig, die billigenswerte Tätermotivation konnte allerdings in der Schuldfrage in Form des Strafausschlusses berücksichtigt werden.450 Im Übergang zu und dann fortwährend in der Weimarer Republik rückte die Zumutbarkeit als das normative Moment der Schuld in den Fokus über die Arbeit am Schuldbegriff.451 Die Ansichten zur Ausrichtung der Zumutbarkeit indes divergierten: individualisierende trafen auf generalisierende Ansätze, welche jedoch alsbald die Vorherrschaft übernahmen.452 Der generalisierende Maßstab führte die Maßfigur des Durchschnittsmenschen in der speziellen Tatsituation in die Schuldbetrachtung ein.453 Eberhard Schmidt454 sowie nachfolgend Eduard Kohlrausch und
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Als „ethisierende“ Theorien bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), § 10 S. 75 ff.; namentlich Max Ernst Mayer, Alexander Graf zu Dohna und Friedrich Sturm. 449 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 105 ff. Neben Reinhard Frank sind zu nennen Ernst Beling und August Hegler. Beling verarbeitete die idealistische Tradition der Willensfreiheit und verband sie mit dem naturalistischen Psychologismus. Deswegen nimmt er im Spektrum des Schulenstreits eine Mittlerrolle ein; Achenbach, a. a. O., S. 95. In die Reihung gehören auch Robert von Hippel und Edmund Mezger, welche Schuld als Inbegriff von Elementen oder Merkmalen auffassen; zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Achenbach, a. a. O., S. 163 ff. 450 Zu Goldschmidt vgl. insgesamt Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 114 ff., 121. 451 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 143 ff. Vgl. auch Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 54 – 56. 452 Für die individual-ethische Perspektive standen Berthold Freudenthal und James Goldschmidt sowie dessen Schüler Hans Tarnowski, vgl. Fn. wie zuvor. Letzterer war auch der Einzige, der diese Ausrichtung konsequent fortführte. 453 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 147. 454 Zu E. Schmidt, s. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 149 ff.
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Karl Marcetus455 verbanden das Werturteil der Schuld erstmalig mit einer sozialen Rollenerwartung des Bürgers und der aus der Normverfehlung resultierenden Erwartungsenttäuschung.456 Nicht zu verkennen gilt es allerdings, dass sich im Übergang zu den 1930ern auch massive Kritik an der Ausweitung der Zumutbarkeitsdoktrin formierte.457 Diese galt durchaus als Ausdruck einer (allzu) liberalen Staatsauffassung, die von der antiliberalen Stoßrichtung innerhalb der Weimarer Republik zum Anlass genommen wurde, die „Erosionsthese“ eines „verweichlichten Staates“ auf Seiten des Strafrechts fruchtbar zu machen.458 Ein wenig im Schatten der Zumutbarkeitsdebatte entwickelte sich die Problematik um das Unrechtsbewusstsein und den Verbotsirrtum. Das RStGB verfügte mit dem § 59 a. F. nur über eine einzige Irrtumsregelung, deren Reichweite obendrein strittig war.459 Der Aufstieg der Vorwerfbarkeit als Schuldleitaspekt460 sowie die Überlegung, dass der Gedanke einer materiellen Rechtswidrigkeit im Grunde eine Spiegelung im subjektiven Bereich verlangte,461 warfen die Frage auf, inwiefern der Vorsatz vom Rechtswidrigkeitsbewusstsein abhängt.462 Das Reichsgericht versagte dem Verbotsirrtum heutiger Dogmatik noch jegliche Anerkennung und positionierte die Konstellation jenseits der Vorsatzfrage.463 Die Literatur der 1920er dagegen bot ein anderes Bild: Zahlreiche Autoren plädierten für eine Integration des Unrechts-
455 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 187 ff. Kohlrausch und Marcetus beschränkten allerdings die Zumutbarkeit nicht auf einen normativen Teilaspekt neben einem psychologischen Moment der Schuld, sondern erblickten in der Zumutbarkeit überhaupt den Wesenskern der Schuld, vgl. Achenbach, a. a. O., S. 192. Sie fallen daher eigentlich aus der Gruppierung heraus. Ihre generalisierende Schuldlehre steht eher in gedanklicher Verwandtschaft zu Alexander Hold von Fernecks generalisierender Schuldlehre, welche regelmäßig eine gegebene subjektive Beziehung des Täters zur Tat postulierte, ohne jedoch dabei psychologische Ausrichtung des Schuldbegriffs fallen zu lassen; s. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 55 f., S. 127 ff., 129, weiterhin S. 139. 456 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 152 f. 457 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 155 – 162. 458 Das sich abzeichnende Scheitern der Weimarer Republik verschaffte dieser antiliberalen Strömung entscheidenden Auftrieb. Die Probleme der jungen Republik wurden nicht zuletzt auf die unvertraute Staatsform projiziert. Es benötigte deshalb keines großen Aufwands um auch einen Meinungsumschwung innerhalb der Strafrechtswissenschaft zu sorgen. Zum Ganzen Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 57 ff., 76 ff. Beleg und nahezu symbolisch zu sehen ist die Entscheidung RGSt 66, 397 (11. 11. 1932), welche die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als außergesetzlichen Schuldausschließungsgrund mit Nachwirkung die Anerkennung verweigerte. 459 Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1 8(1992), § 23 Rn. 11. 460 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 29. 461 Zu den Facetten eines solchen Rechtswidrigkeitsbewusstseins s. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 52. 462 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 53, 171 ff. 463 Maurach/Zipf, AT 1 8(1992), § 37 Rn. 5 ff. Die strikte Auftrennung nach error facti und error iuris wurde freilich durch die Relevanz eines außerstrafrechtlichen Irrtums aufgeweicht.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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bewusstseins in den Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsbegriff464, andere gar bauten die Unrechtskenntnis als selbständiges (Kern-)Merkmal der Schuld auf.465 Insgesamt blieb die tradierte Abschichtung Unrecht/Schuld nach dem Binärcode objektiv/subjektiv grundsätzlich erhalten, Einbrüche waren allerdings bereits durch die Anerkennung subjektiver Unrechtsmerkmale wie z. B. Zueignungsabsicht beim Diebstahl (Mezger und Hegler)466 sowie auf der anderen Seite mit den sog. objektiven Schuldmerkmale467 zu verzeichnen. c) Kommentar Am Ende der Weimarer Republik findet man ein breites Spektrum verschiedenartiger Schuldkonzeptionen vor, dennoch war den wichtigsten Entwicklungsschritten zu heutiger Schulddogmatik bereits der Weg bereitet. Die Vorwerfbarkeit als Schuldgegenstand hatte sich in breiter Form durchgesetzt, gleichwohl aber ohne Übereinstimmung im Einzelnen was Adressat, Inhalt und Gestaltung anbelangte. Mit dem Schuldartendogma verliert dagegen der täterstrafrechtlich orientierte Psychologismus insgesamt seinen prägenden Charakter.468 Ausweis neukantianischer Philosophie war es vielmehr, jeder Deliktsstufe einen Wertbegriff zuordnen zu können.469 Nicht von ungefähr war der Aufstieg der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens nur in antipositivistischer Stimmung möglich. Die normative Wende hat bis heute Bestand. Und auch wenn die Zumutbarkeitsdoktrin mit dem Ende der Weimarer Republik gleichsam unterging, so wird die nachfolgende Untersuchung noch belegen, dass gerade darin der entscheidende Erkenntnisbaustein heutiger Strafrechtsdogmatik schon konzipiert worden war. Das gilt namentlich für die generalisierenden Schuldauffassungen, die als Bezugspunkt für die Schuld die individual-psychologische Verankerung verwerfen. Nichts anderes prägt heute die Diskussion im Hinblick auf „soziale Schuldlehren“ und mannigfaltige Formen strafrechtlichen Funktionalismus.
464 Als bekannte Vertreter nennt Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 172, Robert von Hippel, Hermann Kantorowicz, Eduard Kohlrausch, Edmund Mezger und Eberhard Schmidt. 465 Als Pioniere dieser Entwicklung können Wilhelm Sauer, Rudolf Hirschberg, Paul Merkel und Otto Berg gelten. Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 171 ff., 186. 466 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 31 mit Nachweisen in Fn. 65 und Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 136 Zur Etablierung der subjektiven Unrechtsmerkmale, E.-J. Lampe, Das personale Unrecht (1967), S. 34 ff. 467 Vgl. dazu die Nachweise bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 140. 468 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 137. 469 Ähnlich Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 104.
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5. Der Irrationalismus der dreißiger Jahre Mit dem gedanklichen Übergang in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhundert wird einem gewahr, dass die anstehenden politischen Umwälzungen nicht ohne Konsequenz für das Recht bleiben konnten. Wenn das Schuldprinzip in seinem Ausfluss aus der grundgesetzlichen Menschenwürde gerade auch als Antwort auf die nationalsozialistische totalitäre Diktatur gesehen wird,470 darf man erwarten, dass Schuld im Nationalsozialismus keine nennenswerte Rolle gespielt hat. In der Tat ebbte die Diskussion um den Schuldbegriff ab, sie verlagerte sich auf die Verbrechenslehre im Allgemeinen, so dass sich keine genuin nationalsozialistische Schuldlehre herausbildete.471 Dennoch sollte man sich nicht vorschnell zu einer „Einbruchsthese“ verleiten lassen, die sämtliche Kontinuitäten in der Wissenschaft außer Acht lässt. Denn eine Isolierung des Phänomens nationalsozialistischer Gewaltherrschaft würde historisch ein falsches Bild zeichnen. Ohne gleichsam eine Relativierung oder Banalisierung der Geschehnisse anzustreben, hat sich die These der Kontinuität,472 welche die Entwicklung hin zur NS-Diktatur in einem organischen Prozess beschreibt, im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt. Dass im Zuge der Gleichschaltung allen gesellschaftlichen Lebens natürlich die Rechtswissenschaft nicht unberührt bleiben sollte, versteht sich im Grunde von selbst. Die erzwungene personelle Diskontinuität in Teilen der Strafrechtswissenschaft473 änderte unweigerlich die dogmatische Ideenlandschaft. Auf der anderen Seite machte die politische Umwälzung Assimilierungsprozesse auf dem Gebiet des Rechts zumindest wahrscheinlich. So mussten in der Tat nicht alle wirkenden Personen glühende Verfechter nationalsozialistischer Ideologie sein um trotzdem ihre dogmatischen Ideen der politischen Herrschaft anzubieten. Noch heute besteht lebhaft Streit darüber, welches Recht tatsächlich originär nationalsozialistischer Weltanschauung entsprang und welches Recht sich schlicht in den politischen Kontext einfügte.474 Dies gilt natürlich auch für die handelnden Protagonisten der Zeit. Sicher belegen lässt sich freilich eine personelle Kontinuität hinein in die Nachkriegszeit,475 ein Faktum, das zuallererst die Kontinuitätsthese stützt. Eine Vermutung streitet dafür, dass Opportunismus weite 470
S. dazu A. II. 2. c) aa). Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 203 f. 472 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 235; Naucke, NSStrafrecht: Perversion oder Anwendungsfall moderner Kriminalpolitik? S. 361 (367 ff.); Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte 6(2011), Rn. 303. Auch Vogel, Einflüsse (2004), S. 43 ff., passim zeigt eine übergreifende Entwicklung anhand der Phänomene Expansion, Materialisierung, Ethisierung, Subjektivierung und soziale Funktionalisierung auf. 473 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 427, nennt als Betroffene namentlich James Goldschmidt, Max Grünhut, Richard Honig, Hermann Kantorowicz, Friederich Kitzinger und Hermann Mannheim. 474 Vogel, Einflüsse (2004), S. 7 ff., insb. S. 21 ff. mit Nachweisen zu alliierten „Entnazifizierungsbemühen“ einerseits und apologetischer Rhetorik von Rechtsprechung und Lehre andererseits (S. 26 ff.). 475 S. die Auflistung bei Vogel, Einflüsse (2004), S. 28 ff.; dazu auch Wagner, NS-Ideologie im heutigen Strafrecht (2002), S. 36 ff. 471
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Kreise ergriffen hatte,476 eine Aufteilung in ideologische Wortführer, Sympathisanten oder Mitläufer kann und soll hier aber nicht angestrebt werden. a) Der geistesgeschichtliche Kontext Die Anfänge des „Irrationalismus“477 reichen zurück in das 19. Jahrhundert als Antwort auf die allein rationale Lebensbeschreibung der Naturwissenschaften. Im Irrationalismus fanden sich Denkrichtungen wieder, die die menschliche Vernunft als unzureichend erachteten um die Welt in ihrer Gestalt vollständig zu erfassen. In diesen Kontext lässt sich die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys (1833 – 1911) und Henri Bergsons (1859 – 1941), aber auch die Phänomenologie Edmund Husserls (1859 – 1938) nennen.478 Gegenüber der analytischen Zugangsweise wurde ein ganzheitlicher Ansatz des Verstehens ausgewählt.479 Die Ideenwelt dieser Philosophie war im Grunde unpolitisch; etwas, was sich in einem Politisierungs- und Vulgarisierungsprozess der Zwischenkriegsjahre ändern sollte.480 Die als schlagwortartig postulierte „Demokratie ohne Demokraten“ der Weimarer Republik hatte in der Bevölkerung nahezu keinen Rückhalt und besaß durch die Kriegsniederlage, begleitet von der Wirtschaftskrise, denkbar schlechte Rahmenbedingungen. Diesen Aufgaben Herr zu werden, war angesichts pluralistischer politischer Interessenlandschaft kaum möglich.481 Die Depression und der Fortschrittspessimismus als Vermächtnis des Ersten Weltkriegs stellten zudem das gesellschaftliche Entwicklungsparadigma auf eine Belastungsprobe.482 Diese Identitätskrise der deutschen Nation beförderte schließlich die Suche nach stabilisierenden Kulturwerten, gefunden wurde sie im Kulturbegriff der Wertephilosophie. Zwar verlor die Neukantianische Rechtsphilosophie im Strafrecht deutlich an Boden,483 doch behauptete die Wertphilosophie in Form der Kulturwertlehre ihre Opposition gegenüber der Wertindifferenz des Positivismus.484 Menschliche Kulturleistungen 476
So bereits Telp, Ausmerzung und Verrat (1998), S. 255. Aufgrund der negativen Konnotation des Begriffs und der Ansammlung heterogener Autorenansichten und Strömungen ist eine solche Deklarierung mit Vorsicht zu tätigen, die Berechtigung soll trotzdem hier nicht beschäftigen. 478 Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 47 ff. 479 Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 51. 480 Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 51 ff. 481 Vgl. die Analyse bei Böckenförde, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: Recht, Staat, Freiheit 3(2006), S. 333. 482 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 242. 483 So das Fazit von Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 199. 484 Bemerkenswerterweise suchten Vertreter in scharfer Form eine Abgrenzung zum Neukantianismus. Die (ausschließlich) analytische Methode neukantianischer Prägung galt zur Erkennung der Wahrheit als unzureichend. So bei Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung (1935), S. 17, der die „ganzheitliche Wesensschau“ verlangte. Vgl. auch ders., Zur Problematik der teleologischen Begriffsbildung im Strafrecht (1934), S. 8 ff. Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935), S. 42 (= Abhandlungen, S. 72), geißelte den 477
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ließen sich nicht in naturalistischen Formeln darstellen, bezeugten aber nachhaltig die überdauernden Werte einer Gesellschaft. Die Tendenz zur Idealisierung und die Unbestimmtheit dessen, was wahre Kultur denn sei, gab indes diese Ansicht für jegliche Ideologieanfälligkeit preis und erlaubte eine dezisionistische Rechtfertigung ihrer Wahrheiten.485 Als der Kulturwert wurde die Staatsgemeinschaft486 auserkoren und alsbald im Glauben an die Einzigartigkeit und Überlegenheit ideologisch überformt. Das Kulturverständnis der Nation wird über biologische Bande geknüpft; von dort aus folgt der Brückenschlag zu sozialdarwinistischer, nationalsozialistischer Rassenlehre.487 Ein Produkt dieser Ideologie war die proklamierte Ewigkeitsvorstellung („1000jähriges Reich“), die gewissermaßen den „sozialdarwinistischen Endzustand“ vorwegnahm und dem Staat den Auftrag zuwies, das Volk gegen Degeneration zu bewahren. Das Zweckprogramm v. Liszts wurde radikal erweitert zu einem Strafrecht der „Sozialprävention“.488 Ziel war daneben die Überwindung des liberalen Dogmas der Trennung von Staat und Gesellschaft. Gesellschaft und Bürger wurden in der holistischen Philosophie in eins gesetzt; sie wurde in bewusster Abkehr und in lebendiger Anschaulichkeit zum Gegenpol des liberalen Bürgertums ausgebaut. Weimars Scheitern galt als Beleg genug für die antiliberale Staatstheorie.489 Mit dem Leitbild des Arbeiters bzw. des Treuhänders der Gemeinschaft schließlich sollte eine klassenlose Gesellschaft in sozialer Einheit demonstriert werden.490 Die suggerierte Einheitsstiftung des totalen Neukantianismus gar als „Komplementärtheorie zum Positivismus“. Fraglos suchte Welzel eher Anschluss an die materiale Wertethik Max Schelers (1874 – 1928) und Nicolai Hartmanns (1882 – 1950), die den Relativismus der subjektiven Wertebestimmung überwinden strebte. Ferner richtete Welzel, a. a. O., S. 55 ff. (= Abhandlungen, S. 84 ff.), die Kulturfrage dementsprechend ontisch aus. Die Polemik überzeichnet freilich die Gegensätze. Vgl. dazu Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 245, Fn. 75. Zu den Facetten der Wertephilosophie genauer Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Recht, Staat, Freiheit 3(2006), S. 71 ff. Den Einfluss materialer Wertethik auf das phänomenologische Denken des Strafrechts beleuchtet Augsberg, ARSP 89 (2003), S. 53 ff. 485 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 244 ff., 246. 486 Die Idealisierung der Staatsgemeinschaft nimmt in ihrer Tendenz Anleihen bei Hegel, vgl. Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte 6(2011), Rn. 274; Kasseckert, Straftheorie im Dritten Reich (2007), S. 13. Der bekannte Hegel-Ausspruch: „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ – Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1972, S. 11, wurde durchaus auch als Leitgedanke und Rechtfertigung des eigenen Programms in Anspruch genommen, vgl. aus der Zeit z. B. Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935), S. 57 (= Abhandlungen, S. 86). 487 Das aufklärerische Ideal des gleichen Menschen wurde unter Einfluss der Rassenlehren Gobineaus und Chamberlain vollständig verworfen, die Evolutionstheorie wurde fruchtbar gemacht für ein antagonistisches Prinzip der Nationen, Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte 6(2011), Rn. 273. 488 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 258 ff., 289 ff. 489 Vgl. zur Staatstheorie Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, (1975), S. 57, 60 ff. 490 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 241.
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Staates stand im merklichen Kontrast zum Führerprinzip und Gehorsamsverlangen praktischer Politik,491 welcher sich aber über die folkloristisch anmutende Ikonisierung Adolf Hitlers offenbar überwinden ließ. b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen aa) Allgemeine Strafrechtsdogmatik Das überlieferte Strafrecht stand weithin für die zu überwindenden liberalen Begrenzungen der Verwirklichung des deutschen Volkes. Die aus Menschenrechtsperspektive als Abwehrrecht formulierten strafrechtlichen Garantien, die „Magna Charta des Verbrechers“ im Sinne von Franz von Liszt,492 galt als entarteter Freibrief. Recht in diesem Geiste war für die kriminalpolitischen Vorstellungen also deutlich hinderlich. Es verwundert daher nicht, dass die Bedeutung der Schulddogmatik in Qualität und Quantität abnahm. Strategen des Rechts waren im Grunde auch nicht gefragt, sondern das Feld war bestellt für Propagandisten, die mit aggressiver, teils martialischer Rhetorik, sich der Aufgabe annahmen, den rechtlichen Rahmen, der Sache nach aber Potemkinsche Dörfer, zu bereiten. Dienliche Stilmittel dazu waren die Diffamierung von Gegenpositionen und die Artikulation eigener Ideen in griffigen, einprägsamen Schlagwörtern.493 Exemplarisch dafür stehen die Kampfschrift von Dahm und Schaffstein.494 Die kriminalpolitischen Vorstellungen suspendierten deshalb weitgehend die strafrechtinterne Dogmatik, erforderten aber wenigstens deren Unterordnung.495 Aufgerufen wurde schließlich zur umfassenden Reform des Strafrechts. Ein erster Baustein war die Aufgabe der rechtsstaatlichen Formenstrenge. Das Analogieverbot wurde zugunsten des neuen Leitsatzes „nullum crimen sine poena“ aufgegeben. Über den neuen § 2 RStGB496 als Grundstein des „Völkischen Strafrechts“ konnte die NS-
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Ebenso Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, (1975), S. 57. Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, (1905), S. 75 (80). Siehe aber auch Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S. 97 ff., zu dessen Ambivalenz von Freiheit und Zweckgedanke. 493 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 293 f. 494 Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht? (1933). 495 Vgl. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 288; B. Schünemann, Einführung, in das strafrechtliche Systemdenken (1984), S. 34, kennzeichnet die Epoche der dezionistischen Ganzheitsbetrachtung deshalb als „Selbstabschaffung“ der Strafrechtswissenschaft. 496 § 2 RStGB v. 1935: „[1] Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. [2] Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“ 492
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Ideologie Einzug erhalten und im Prinzip ungehemmt zur Entfaltung gebracht werden.497 Unter diesem Paradigma wurde das Recht zunehmend der Materialisierung und Ethisierung unterzogen. So konzentrierte sich die Diskussion über das Recht auf materiale Topoi wie „gesundes Volksempfinden, „nationalsozialistische Weltanschauung“, „Wohl der Gemeinschaft“ sowie materielle Gerechtigkeit, ohne dabei aber Konkretheit oder autorenübergreifenden Konsens zu erreichen.498 Die Programmsätze wurden ausgefüllt durch das Führerprinzip.499 Zum anderen führte die totale Politisierung des nationalsozialistischen Kollektivismus zur vollständigen Einebnung von Recht und Moral.500 Folge jener Ethisierung des Rechts war es, dass gesinnungsorientierte Ethik die Vorherrschaft zur Bestimmung der Straftatsystematik übernahm. Ausdruck dieser Neumodellierung war die subjektive Wendung zum Willensstrafrecht, die Willensrichtung und Tathandlung in eins setzte. Die neue Konzeption der Ehrenstrafe501 vertrat einen neuen Stil staatlichen Strafens. Prototyp des Delinquenten war damit das Bild des Verräters. bb) Auswirkungen auf den Schuldbegriff Das Schuldverständnis im Dritten Reich stand selbstredend unter dem Eindruck der veränderten staats- und straftheoretischen Ausgangslage. Die Architektur des Verbrechens musste diesem Umstand angepasst werden. Eine die Unabhängigkeit verlierende Wissenschaftskultur war, wenig überraschend, bemüht, die Geeignetheit oder wenigstens eine Verwertbarkeit ihrer dogmatischen Arbeiten für den Systemwandel zum Willensstrafrecht auszuweisen. Dieser Systemwandel hatte vor allem Bedeutung für die Ausarbeitung des Unrechtsbegriffs. Mit den darin dargelegten Unterschieden divergieren schließlich auch die Folgen für das Schuldverständnis. Mit Achenbach502 lassen sich drei Entwicklungslinien bestimmen: Eine konservative, die radikale Erneuerung durch die sog. Kieler Schule sowie moderate Reformansätze. 497 Wagner, NS-Ideologie im heutigen Strafrecht (2002), S. 5 ff., zu Anwendungsbeispielen s. ders., a. a. O., S. 26 ff. 498 Vgl. Telp, Ausmerzung und Verrat (1998), S. 251. Der Prozess der Materialisierung war durchaus ambivalent: Die Generalklauseln eröffneten den gewünschten weiten Spielraum in der Rechtsanwendung, den daraus resultierenden Freiraum der Richter galt es allerdings zu kanalisieren, vgl. Vogel, Einflüsse (2004), S. 66 f. Denn der Volksgeist war im autoritären Staat nur durch „den Führer“ verkörpert. Einzelheiten und Nachweise bei Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 212 ff. Zum Begriff der Materialisierung und Ethisierung Vogel, a. a. O., S. 15 – 18, S. 43 ff. 499 Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, (1975), S. 57. 500 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 234; Vogel, Einflüsse (2004). S. 73. 501 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 265 ff. 502 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 203 ff. Aus der Perspektive des Unrechtsbegriffs s. E.-J. Lampe, Das personale Unrecht (1967), S. 37 ff.
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(1) Die konservative Richtung, welche vor allem die Kommentar- und Lehrdarstellungen betraf, begnügte sich in großen Teilen mit der Fortschreibung des bisherigen Erkenntnisstands.503 Diese Bewahrung bzw. Wiederbelebung der klassischen Ideen wies in aller Regel den klassischen Vergeltungsgedanken als am besten vereinbar mit dem autoritativem Staatskonzept aus.504 Auswirkungen auf die strafrechtliche Schuld sind zu vernachlässigen. (2) Das Willensstrafrecht als Kennzeichen nationalsozialistischer Straftatlehre trat am deutlichsten hervor in der Kieler Schule. Dahm und Schaffstein standen für einen völligen Neuaufbau der Verbrechenslehre. Das Verbrechen wurde definiert als Pflichtverletzung.505 Diese Terminologie nahm bewusst Anleihen beim Militärstrafrecht, indem das Bild des „politischen Soldaten“506 im allgemeinen Rechtsbewusstsein beschworen werden sollte. In seiner Funktion als Spiegelbild des Staatswesens musste das Strafrecht den einzelnen Bürger in die Rolle des Treuhänders der Volksgemeinschaft drängen.507 Entsprechend war das Verbrechen eine individualistische Erscheinung, welche unvereinbar mit dem Kollektivgedanken war und ein Exempel des starken Staates herausforderte.508 Überflüssig wurde infolge dieses Ganzheitsgedanken eine Differenzierung der unterschiedlichen Deliktsstufen, die obendrein als Relikt der Rechtsgutslehre mit nationalsozialistischem Strafrecht inkompatibel seien.509 Der Zentralbegriff der Pflichtverletzung dagegen entspräche dem Konzept des Willensstrafrechts am besten.510 Auf diese Weise ging die Schuld in dem neuen Gesamtkonzept auf. Funktionell gesehen spielte sie also keine Rolle mehr. (3) Die Reformansätze stehen gedanklich in der Mitte dieser beiden gegensätzlichen Pole. Die subjektive Neuausrichtung des Verbrechens im Sinne des Willensstrafrechts wurde im Grundsatz mitgetragen. Auf der Agenda stand allerdings kein revolutionäres Programm, sondern nur die Neuordnung der systematischen Deliktsstufen. In diesem Zusammenhang verdienen Alexander Graf zu Dohna,511 503
Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 204 f. Kasseckert, Straftheorie im Dritten Reich (2007), S. 169 f. 505 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung (1935), S. 7 ff. (= Grundfragen, S. 108 ff.). S. dazu auch Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 185 ff. Eine Steigerung erfuhr der Begriff durch die Einführung des „Verrats“ als Kategorie des Verbrechens. Die Kennzeichnung als Verräter verfüge über deutlich mehr Plastizität. Einzelheiten bei Marxen, a. a. O., S. 187 ff. 506 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung (1935), S. 27 f. (= Grundfragen, S. 130 f.). 507 Vgl. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 234. 508 Vgl. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 251. 509 S. dazu Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 222 ff. 510 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung (1935), S. 29 ff., 35 (= Grundfragen, S. 130 f.). 511 Der Aufbau der Verbrechenslehre (1934), ZStW 52 (1932), S. 96 – 117. Neukantianisch inspiriert unterteilt Graf zu Dohna die Verbrechenselemente in das Objekt der Wertung (namentlich menschliche Handlung, insb. Vorsatz) und Wertung des Objekts (betreffend 504
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
Hellmuth von Weber512, Hellmuth Mayer513 und insbesondere Hans Welzel Erwähnung. Denn es waren ihre Arbeiten, die die Dogmatik in der Nachkriegszeit anschoben, da ihre Gedankenäußerungen nicht – zumindest nicht im gleichen Ausmaß wie die anderer – den Vorwurf nationalsozialistischer Kontamination trugen. Den gewichtigsten Beitrag in diesem Zusammenhang stellt Hans Welzels finale Handlungslehre. Die phänomenologisch-ontologische Neubestimmung der Handlung über einen den Kausalnexus überdeterminierenden Finalnexus sollte die traditionelle Dogmatik nachhaltig überformen.514 Vorsatz und Fahrlässigkeit waren danach nunmehr als Seinsformen der Handlung im Unrechtstatbestand verankert,515 was in der Konsequenz für die Schuld nur die Bedeutungskenntnis der Tat übrig ließ.516 (4) Die Verlagerung von einem rechtsgutorientierten zum Gesinnungsstrafrecht zeitigte noch auf anderer Ebene Revisionsbedarf. Letztlich in der Konsequenz eines gesinnungsorientierten Willensstrafrecht liegend löste man sich mit der Lehre vom generellen/normativen Tätertyp517 Stück für Stück vom Dogma der Einzeltatanbindung.518 Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen: erstens lässt sich straftheoretisch das radikale Abschreckungskonzept am Modell des Tätertyps plastischer und nachhaltiger vor der Bevölkerung inszenieren und exerzieren. Das Tatstrafrecht heutiger Prägung zielt auf eine Isolierung der Tat vom Täter ab um die Tat einer maßvollen Sanktionierung zuzuführen. Dies dient der Wahrung der personalen Identität, letztlich der Menschenwürde. Die gegensätzliche Intention verfolgte das Strafrecht im Dritten Reich. Der Täter war subversive Einheit, Volksschädling, mithin Staatsfeind. Mit dieser radikalen Ausstoßungsrhetorik sollte der Täter vor der Gemeinschaft isoliert werden. Das NS-Strafrecht steht damit für (negative) SpezialRechtswidrigkeit und Schuld). Schuld wird bestimmt als pflichtwidrige Willensbestimmung. Deren Kern wird in der Zumutbarkeit gesucht. Zum Vorstehenden Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 206 f. mit Nachweisen. 512 Zum Aufbau des Strafrechtssystems (1935). v. Weber verwirft das dichotome Paar Unrecht/objektiv und Schuld/subjektiv. An dessen Stelle tritt das Begriffspaar Sollen vs. Können in Gestalt der Rechtswidrigkeit bzw. Schuld, a. a. O., S. 11. 513 Das Strafrecht des deutschen Volkes (1936). In neo-idealistischer Ausrichtung wird die attributive Beschreibung der (Verbrechens-)Handlung zugunsten dialektischer Logik aufgegeben. Unrecht und Schuld sollen im höherstufigen Begriff des Verbrechens, resp. Handlung aufgehoben sein. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 207 mit Nachweisen. 514 Die Anfänge sind dargelegt in Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935) sowie ZStW 58 (1939), 431 (501 ff.). 515 Welzel, ZStW 58 (1938), S. 431 (501 ff.). 516 Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der (1974), S. 208. 517 Georg Dahm, Der Tätertyp im Strafrecht (1940). Siehe auch die Beiträge „Tatstrafe und Täterstrafe, insbesondere im Kriegsstrafrecht“ in der ZStW 60 (1941) von Edmund Mezger (S. 353 – 374) und Wilhelm Gallas (S. 374 – 417). 518 Vogel, Einflüsse (2004), S. 84 f. mit Nachweisen. In der Konsequenz lag vor allem auch die Etablierung von Sonderstrafrechtsregimen, vgl. Vogel, a. a. O., S. 86.
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und Generalprävention in ihrer schärfsten Form.519 Weder die Idee der Resozialisierung noch die Sühneidee klassischen Vergeltungsrecht durften eine Rolle spielen.520 Denn der Strafgrund war letztlich im Täter selbst verortet. Beleg dafür war die expansive Subjektivierung durch Vermehrung von Absichts- und Gesinnungsmerkmalen oder Eingang „weicher“ Wertungsformeln wie die des „gesunden Volksempfinden“.521 Die Subjektivierung diente – technisch gesprochen – einer „optimalen“ Steuerung im Hinblick auf die faschistoide Gesellschaftsideologie. Zweitens wurden Täterschuldkonzepte notwendig, um eben die zahlreichen politischen Tendenzen überhaupt ins Strafrechtssystem eingliedern zu können. Das galt vor allem für Auswüchse des Kriegsstrafrechts522, aber auch zahlreiche Tatbestände des RStGB, die auf einen unsteten Lebenswandel gemünzt waren,523 gehören in diesen Kontext. Lehren von Lebensführungs-524 bzw. Lebensentscheidungsschuld525 konnten in diesem Fahrwasser vermehrt Beachtung finden.526 Die Einebnung von Recht und Moral erlaubte den Zugriff des Rechts auf das komplette Leben jedes 519 Vgl. „Umwertung der Zwecke“ bei Vogel, Einflüsse, S. 94. Nach Kasseckert, Straftheorie im Dritten Reich (2007), S. 197, entfernt sich das nationalsozialistische Konzept von Prävention durch ihre ausschließliche Staatsschutzorientierung soweit von den tradierten Ideen, so dass er von einer eigenständigen nationalsozialistischen Straftheorie ausgeht. Dabei darf angemerkt werden, dass gerade die Ineinssetzung von Gesellschaft und Staat bewirkt, dass die intakte Gesellschaft nur über den Staat zu erreichen ist. Zu den Zwecklehren aus zeitgenössischer (NS-)Sicht die Nachweise bei Telp, Ausmerzung und Verrat (1998), S. 49 ff., passim, zusammenfassend S. 248 f. 520 Auf dem Papier (scil. Gesetz) war der Sühnegedanke zwar noch präsent. Praktisch indes steht Strafrecht allein unter dem Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt des Staatsschutzrechts, vgl. E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3(1965), S. 437 f. Im Sinne des Wortführers Freislers bestand der Sühnecharakter in einer Art rituellen „Reinwaschung“ des Volkes; s. Kasseckert, Straftheorie im Dritten Reich (2007), S. 19. 521 Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989), S. 709 f. 522 U. a. die Volksschädlingsverordnung vom 5. 9. 1939 und die Gewaltverbrecherverordnung vom 5. 12. 1939, dazu Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989), S. 708 ff. (712 f.). Dort auch zur „Schrittmacherfunktion“ (S. 709) des Kriegsstrafrechts für die allgemeine Strafrechtsdogmatik. Weiterhin Vormbaum, Einführung Strafrechtsgeschichte 2(2011), S. 206 ff. 523 Nachweise bei Vogel, Einflüsse (2004), S. 85 in Fn. 309. 524 Bspw. Mezger, ZStW 57 (1938), S. 675 (688). 525 Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht 2. Teil (1940), S. 153 ff. 526 Trotz diesen Umstands sollte nicht verkannt werden, dass der Gedanke einer solchen Schuldbestimmung keine Novation eines nationalsozialistischen Strafrechts ist. Die Modellierung einer Charakterschuld war bereits Thema in der Weimarer Zeit. So u. a. bei Karl Engisch, Max Grünhut, Ferdinand Kadecˇ ka, Edmund Mezger sowie Eberhard Schmidt, nachgezeichnet bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 139 f.; dort mit Nachweisen. Dies verdient mit Nachdruck Beachtung, da diese Konzepte heutzutage nahezu zwingend mit dem Nationalsozialismus assoziiert werden. Richtig ist natürlich, dass im herrschenden politischen Klima diese Ideen leicht adaptiert werden konnten, da sie höchste Kommensurabilität mit der faschistoiden Ausgrenzungsideologie aufweisen.
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Einzelnen, der allerdings mit den herkömmlichen dogmatischen Instrumenten nicht mehr einleuchtend zu fassen war. Drittens galt es die vom Wahn der Rassenideologie motivierte Diskriminierung ausgewählter Bevölkerungsgruppen begrifflich in das Strafrecht einzuholen. Das Tatstrafrecht wurde damit aber nicht überflüssig. Formell war die Tat in erster Linie „zuständigkeitsbegründend“ für die Gerichte. Die Gerichte führten dann das aus, was aus dem „Bereinigungsgedanken“ des NS-Führungsstabs ohnehin notwendig war. Materiell ermöglichte ein Oszillieren zwischen den Polen Tat vs. Täter eine hohe Flexibilität in Bezug auf die gewünschten Rechtsfolgen. Je nach Bedarf konnte ein Herausstellen der Tat als Abschreckungsexempel fungieren oder die Anknüpfung an die Täterperson das nationalsozialistische Programm vollziehen.527 Die Klassifizierung nach Tat bzw. Täterstrafrecht beschreibt die Verhältnisse dementsprechend nur unvollkommen. Treffend gesprochen handelte es sich um WillkürStrafrecht, welches das autokratische System widerspiegelt. (5) Damit ist im Prinzip auch schon angedeutet, dass der Schuldbegriff weder in seiner eigentlichen Haftungs- noch in seiner Schutzfunktion nennenswerte Bedeutsamkeit aufweist. Eine Auseinandersetzung substantieller Art mit der Schuld war unter der rechtspolitischen Prärogative zwingend unergiebig. Allenfalls in der Außendarstellung, heute bezeichnet als die kommunikative Funktion des Strafrechts, ergab das Festhalten am Schuldbegriff Sinn. Dies erklärt die Verquickung des ethischen Pathos des Schuldgedankens mit deterministischer Rassenlehre und faschistoiden Weltbilds.528 Auf die hohe ideologische Eignung eines in der Bevölkerungsanschauung verwurzelten und in der Wissenschaft etablierten Begriffs wie der Schuld konnte – insofern nachvollziehbar – kaum verzichtet werden.529 Die Kurzform „Schuld als Staatspflichtwidrigkeit“530 ist dafür so einleuchtend wie nichtssagend. c) Kommentar Das faschistische Deutschland war charakterisiert durch ein kompliziertes Gemenge von Herrschaft und Anomie.531 Die formale Struktur des Rechts wurde nie aufgelöst, besaß aber nicht mehr als eine Feigenblattfunktion. Der nationalsozialistischen Weltanschauung, verkörpert durch das Führerprinzip, musste Rechtsstaatlichkeit nach heutigem Vorbild freilich zuwiderlaufen. Die Prozesse der Ma527 Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989), S. 714 f. 528 Vgl. Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht (1975), S. 149. 529 Vgl. zu dieser Einschätzung zeitgenössisch Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht 1. Teil (1939), S. 136: „Im Schuldbegriff liegt der Schwerpunkt des Strafrechtssystems. Wird dieser Begriff vom Täterprinzip bestimmt, so scheint dessen Vorherrschaft auch im Bereich der Strafvoraussetzungen gesichert.“ 530 E. Wolf, Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, (1933), S. 38 f. 531 Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte 6(2007), Rn. 303.
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terialisierung, Ethisierung und die Idee einer völkischen Gerechtigkeit strebten allein eine eigens verstandene Ergebnisrichtigkeit, notfalls auch jenseits vom Gesetz, an.532 In der Anschauung heute steht die NS-Diktatur deshalb für eine modellhafte Antagonistin des Schuldstrafrechts, wobei die strikte Subjektivierung des Rechts methodisch gewendet einer funktionalen Rechtsdeutung durchaus zugänglich ist:533 es handelte sich um ein Zweckstrafrecht im Dienste der Sozialpolitik. Vom Grade der Funktionalität besehen bediente es sich rechtstechnisch gleicher Steuerungsmechanismen wie moderne generalpräventive Konzepte; freilich um eines unter nationalsozialistischen Vorzeichen, welches die Rechtsidee pervertierte. Aber dieses Gefahrenpotential ist es schließlich, welches funktionale Schuldlehren aktuell unter erhöhten Rechtfertigungsdruck stellt. 6. Der Finalismus der Nachkriegszeit a) Der geistesgeschichtliche Kontext Das Deutschland der Nachkriegszeit stand unter dem Zeichen der Restauration. Im Geiste einer eher unpolitischen Nachkriegsgesellschaft betraf dies zuvörderst den Wiederaufbau einer am Boden liegenden Wirtschaft.534 Restauration in dem Zusammenhang meint aber auch die Rückbesinnung auf alte Tugenden konservativbürgerliche Sozialethik. Für das Recht bedeutete das eine Renaissance des Naturrechts im großen Stil.535 Nach dem Desaster des NS-Regime galt es die Sehnsucht nach unverrückbaren Werten, die eine erneute Auslieferung an Gesetzespositivismus zu verhindern mochten. Prägnant für diese Forderung steht die Radbruch’sche Formel.536 Eine zentrale Rolle dieser Entwicklung sollte mittelfristig dem Grundgesetz vom 23. 5. 1949 zukommen, das als Kontraentwurf sowohl zur zurückliegenden Schreckensherrschaft als auch zur Weimarer Reichsverfassung unter der Schutzherrschaft des Bundesverfassungsgerichts wertbildende Kraft entfalten
532
Vogel, Einflüsse (2004), S. 15 – 18; S. 43 ff. Vgl. Vogel, Einflüsse (2004), S. 16 f. 534 Der Geist des „Wirtschaftswunders“ vgl. dazu Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 315 ff. 535 Kühl, FG für Söllner (1990), S. 331 ff. S. bereits zur Rechtsphilosophie oben, II. 1. b). 536 „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat […] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ SJZ 1946, S. 105 (107); Hervorhebung durch Verfasser. 533
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konnte.537 Die Menschenwürde an der Spitze der Verfassung war prädestiniert zum Leitparadigma der Rechtswissenschaft aufzusteigen. Im programmatischen Bekenntnis zum Individuum, der Menschenwürde eines jeden Einzelnen, sollte rechtlich und symbolisch die Abgrenzung gegenüber dem Totalitarismus gesucht werden.538 Wiedererstarkte Moralphilosophie rückte die Topik des Menschenbilds ins Zentrum rechtlicher Überlegungen. Rein naturgebundene Betrachtungen, fußend auf strengen empirischen Objektivismus konnten sich diesen Forderungen nur schwerlich öffnen, so dass indeterministische Konzepte bevorzugt Gehör finden konnten;539 eine Begebenheit, welche die „ontologische Notwendigkeit“ menschlicher Freiheit540 beinahe selbst schon als Tatsache ausweisen konnten. Das Strafrecht im Speziellen vollzog deshalb einen ideologischen Wandel mit der Abwendung von der Kriminalpolitik und Hinwendung hin zur (vorgeblichen) unpolitischen Strafrechtsdogmatik klassischer Vorbilder.541 Der klassische Schuld- und Vergeltungsgedanke sah sich weniger mit der Last der Exzesse der NS-Zeit konfrontiert.542 b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen Um diesen Anforderungen im geltenden Recht gerecht werden zu können, wurden die langwährenden Reformbestrebungen der Weimarer Zeit wieder aufgenommen. Die Vorbereitung und Durchführung der „Großen Strafrechtsreform“ strukturierte die wissenschaftliche Diskussion des Strafrechts der sechziger Jahre.543 aa) Der Finalismus als Systemwende zum personalen Unrechtsbegriff Seinen Durchbruch erlebte in dieser Phase der strafrechtliche Finalismus unter dem Wirken Hans Welzels. Welzel richtete die Straftatsystematik unter dem Primat seiner finalen Handlungslehre neu aus. Dieser Handlungsbegriff, Hauptprodukt seiner ontologischen Axiologie von „sachlogischen Strukturen“544, nahm seinen 537
Vgl. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 320 ff. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 324 ff. 539 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 385. 540 Repräsentativ Würtenberger, Über das Menschenbild im Strafrecht, in: Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat (1970), S. 23. 541 Vogel, Einflüsse (2004), S. 37. 542 „[…] dass es durch die geistige Situation unserer Zeit gefordert ist“ so explizit Heinitz, ZStW 70 (1958), S. 1 (2). Ähnliche Einschätzung bei Krauss, FS Schüler-Springorum (1993), S. 459 (463 f.); Lackner, FS Kleinknecht (1985), S. 245 (246 f.); H.-L. Schreiber, FS der Dt. Richterakademie (1983), S. 73 (76); Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 8; ders., SchwZStr 101 (1984), S. 225 (237). 543 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001) zu den sich stellenden Problemfeldern der Entmoralisierung des Strafrechts (insb. Sexualstrafrecht und Recht der Ordnungswidrigkeiten) einerseits (S. 329 ff.) und der Ausgestaltung des Sanktionensystems im Spannungsfeld von „Moderne“ und Restauration andererseits. (S. 336 ff.). 544 S. bereits zur Rechtsphilosophie oben II. 1. b) cc) (1). 538
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Ausgangspunkt in der phänomenologischen Philosophie Husserls. Das bevorzugte Erkenntnisprinzip bildet dabei die konkrete Wesensschau, die es erlaube, dem Rezipienten sich offenbarende Dinge unmittelbar (theoriefrei) zu beschreiben.545 In einem zweiten Schritt steht die Rezeption der Ethik Nicolai Hartmanns. Dessen Ansicht von der Intentionalität menschlicher Handlung macht Welzel schließlich fruchtbar für das Strafrecht. Neben den Kausalnexus der Außenwelt wird die höhere Realisationsebene des Finalnexus gestellt. Der Finalnexus bezeichnet die kognitive Fähigkeit des Menschen zur Antizipation der Kausalität, aufgrund derer die Überdeterminierung eines Geschehens durch den menschlichen Willen möglich werde. Im Ergebnis steht die Konstruktion einer zweckgeleiteten Handlung.546 Die menschliche Handlung zeichnet sich folglich durch ihre Zweckbestimmung aus. Da die Handlung im tradierten taxonomischen Denken eine zentrale Rolle bei der Verbrechensdefinition einnimmt, waren für das strafrechtliche System einschneidende Änderungen zu registrieren. Zum einen bewirkte normentheoretisch die Finalstruktur der Handlung eine Akzentverschiebung: Erfolgsverbote hatten unter den Vorzeichen dieses Handlungsbegriffs keinen Sinn, da sie die menschliche Intentionalität in Form einer zwecksetzenden Motivation überhaupt nicht ansprechen konnten.547 Strafrechtsdogmatisch bedeutete dies den Durchbruch des personalen Unrechtsbegriffs. Wenn es für die Unrechtshandlung entscheidend auf die Zwecksetzung ankommen sollte, konnten nicht mehr ausschließlich die objektiven Umstände einer Straftat systematisch dem Unrecht zugeordnet werden. Dem „Erfolgsunwert“ musste (wenigstens) komplementär ein „Handlungsunwert“ beistehen. Diese Rolle sollte, da Welzel Finalität mit Vorsatz gleichsetzte, eben selbiger übernehmen. Die Ausgliederung des Vorsatzes aus der Schuld war die Folge. Dies war gewissermaßen der Schlussakkord der normativen Wende im Schuldverständnis; eine Entwicklung, die im Grunde bereits mit der Normativierung unter Frank angelegt war.548 Schuld wird nunmehr zur Vorwerfbarkeit der Willensbildung, kurz Schuld ist Willensschuld.549 Prüfmaßstäbe der Vorwerfbarkeit werden neben der Zurechnungsfähigkeit die Möglichkeit der Unrechtseinsicht und die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens.550 545
Vgl. dazu Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 62 f. mit Nachweisen. Zum Ganzen wiederum zusammenfassend Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 65 ff. 547 Als generalpräventive Schlüsselfunktion bei B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 39. Der Sache nach unterfüttert die Binding’sche Normentheorie den Finalismus; vgl. Renzikowski, ARSP 87 (2001), S. 110 (112). 548 So Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 60. Vgl. auch B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 37 und Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 141 in Fn. 40 mit Nachweisen zu entsprechenden Entwicklungsstufen in den 1930ern. 549 Welzel, Das deutsche Strafrecht 11(1969), S. 139. 550 Zu der Zurechnungsfähigkeit, (S. 152 ff.), der Möglichkeit der Unrechtseinsicht (S. 157 ff.) sowie Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (S. 178 ff.) jeweils Welzel, a. a. O. 546
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bb) Stellung des Unrechtsbewusstseins Ein weiteres Diskussionsfeld erschloss das Ringen um die systematische Stellung des Unrechtsbewusstseins. Dabei profilierte sich Welzel als akribischer Verfechter551 der sog. „Schuldtheorie“, die – unter der Prämisse der finalen Handlungslehre – das Unrechtsbewusstsein der Schuld zuwies. Die Gegnerschaft wurde unter dem Schlagwort der „Vorsatztheorie“ versammelt. In Gemeinsamkeit lehnten ihre Vertreter die Abtrennung des Unrechtsbewusstseins vom Vorsatz als Schisma ab. In ihrer Ausrichtung konnten sich die Vertreter indes unterscheiden. Besonders für die Opponenten der finalen Handlungslehre war die Ausgliederung des Vorsatzes keine Notwendigkeit. Vorsatz und Unrechtsbewusstsein konnten vereint in der Schuld verbleiben. Soweit Welzels Handlungslehre mitgetragen wurde, bedeutete dies jedoch, dass das Unrechtsbewusstsein dem tatbestandlichen Unrecht zugeschlagen werden musste. In der Konsequenz war ein Irrtum über die Rechtswidrigkeit über die bis dato einzige Irrtumsvorschrift des § 59 StGB a. F.552 zu lösen.553 Die dogmatische Weichenstellung in diesem Zusammenhang übernahm letztlich der BGH selbst. In seiner heute berühmten Grundsatzentscheidung554 verwarf der BGH die Vorsatztheorie. Ohne sich damit gegenüber der finalen Handlungslehre zu bekennen, ebnete der BGH den Weg für die Vorherrschaft des Finalismus im Strafrecht der Nachkriegszeit. Es bildete sich eine „Schule von Finalisten“ heraus, zu deren prominentesten Vertretern Armin Kaufmann555, daneben Günter Stratenwerth, 551
Im Einzelnen: Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, SJZ 1948, Sp. 368 – 372; Um die finale Handlungslehre (1949), S. 22 ff.; Schuld und Bewusstsein der Rechtswidrigkeit, MDR 1951, S. 65 – 67. 552 § 59 a. F.: (1) Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Tatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Tatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. (2) Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntnis selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist. 553 Zur Diskussion über die Vorsatztheorie s. noch unten 2. Kapitel, A. III. 2. d). 554 Bes. vom 18. März 1952 g. H. – GSSt 2/51 – BGHSt 2, 194, (200 f.): „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist. Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht.“ 555 Lebendiges und totes, in: Binding, Normentheorie (1954), S. 284. Ders., FS Welzel (1974), S. 393 (396). Zur Schuldtheorie ders., Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959), S. 138 ff.
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Wilhelm Gallas und Hans-Joachim Hirsch gehören.556 Dass Vorsatz und Fahrlässigkeit als Momente der Handlung nicht länger (ausschließlich) der Schuld zugehörig sein konnten, setzte sich insgesamt,557 auch über die Reichweite der finalen Handlungslehre hinaus, durch. Weniger war es also die finale Handlungslehre, die Gefolgschaft fand, als vielmehr die dogmatischen Schlussfolgerungen für den Deliktsaufbau.558 Dennoch blieb auch die neue subjektive Ausrichtung des Unrechtsverständnisses kontrovers. Denn die dadurch angelegte Dominanz des Handlungsunwerts war und ist in der Lage die Erfolgskomponente nahezu vollständig zu überlagern.559 cc) Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums Die Reformulierung des Unrechtsbegriffs rund um den Vorsatz fand seinen Niederschlag auch in der Diskussion um den Erlaubnistatbestandsirrtum. Dem dreigliedrigen Verbrechensaufbau (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) standen mit dem dichotomischen Denken in Unrecht (Objekt der Wertung) und Schuld 556 Obwohl Jakobs zu den Welzel-Schülern zählt, passt er nicht in diese Reihung. Zur „Häresie“ Jakobs’ vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 90 mit Verweis auf Dencker, GS Armin Kaufmann, (1989), S. 441 (443). Dazu auch Schmidhäuser, JZ 1986, S. 109 (114 ff.). Schmidhäusers zeitgenössische Bestandaufnahme a. a. O. zeigt auch, dass es die finale Handlungslehre in Welzels Ursprungssinne ohnehin schnell überlebt hatte. 557 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 (839). Nur wenige Autoren knüpften an den dogmatischen Bestand vor den dreißiger Jahren an, siehe näher Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 211. Zu beobachten waren indessen schon frühzeitig Vermittlungsversuche zwischen Finalismus und traditierter Auffassung; wiederum Achenbach, a. a. O. S. 212, dort auch mit Nachweisen. Folge war letztlich die Geburt der Doppelstellung des Vorsatzes. Dazu unten im 2. Kapitel, A. III. 7. 558 S. Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 80 mit Nw. zu Kritik an der Handlungslehre, S. 72 ff., 76 ff. Vgl. überdies Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 23 III 2, S. 220 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 8 Rn. 17 ff. (26). Zu den bleibenden Errungenschaften zusammenfassend B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 37. 559 Exemplarisch für eine solche Dominanz steht die Konzeption bei Zielinski, Handlungsund Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff: Untersuchungen zur Struktur von Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluss (1973). In Zielinskis Modell wird dem Erfolg nur die Rolle einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit zugemessen. Der Versuch wird zum Prototyp des Unrechts. Versuch und Vollendung werden letztlich in diesem Konzept nur durch den Zufall getrennt, welchem sich das Strafrecht gegenüber prinzipiell indifferent verhalten müsste. So Zielinski, a. a. O., passim. Diese radikale Ausrichtung wurde nicht selten mit einem Monismusvorwurf goutiert, vgl. z. B. Gallas, FS Bockelmann (1979), S. 155 (159 f.). Denn so einleuchtend Prämissen und Folgerungen in der Sache auch sind, sie vertragen sich nicht umfassend mit dem geltenden Strafrecht. Versuchsstrafbarkeit ist nicht die Regel. Weiterhin müsste dieser subjektive Unrechtsbegriff den Ausbau von Gefährdungsdelikten vorantreiben. Eine Konsequenz, die, zumindest die abstrakten Gefährdungsdelikte betreffend, schon in der Tendenz heftigen Widerstand in der wissenschaftlichen Diskussion auslöst, s. Kindhäuser, Strafrecht AT 7(2015), § 8 Fn. 38 und Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 26 II 2, S. 264 f. mit Nachweisen. Im Allgemeinen Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 11 Rn. 147 ff. Eindringliche Kritik am Handlungsunwert auch bei Spendel, FS U. Weber (2004), S. 3 (15), der die nationalsozialistische Provenienz nicht abgelegt sieht.
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(Wertung des Objekts im Hinblick auf die Vorwerfbarkeit) nur zwei Systembausteine gegenüber. Dem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen kommt deshalb in der Kasuistik der Irrtümer nicht nur eine gedankliche Zwischenrolle zu, sondern an diesem Punkt wird die Modellfrage in concreto virulent. Er ist Tatsachenirrtum und Irrtum über die Rechtswidrigkeit gleichermaßen. Im Sinne der (strengen) Schuldtheorie ist der Erlaubnistatbestandsirrtum ein Verbotsirrtum; eine Schlussfolgerung, die jedoch aus Wertungsgesichtspunkten nicht durchgehend mitgetragen wird, selbst wenn der Vorsatz als Merkmal des tatbestandlichen Unrechts anerkannt wird. Stattdessen soll wegen der Sachverwandtschaft zu Tatumstandsirrtümern dessen Rechtsfolge übertragen werden. In der Konsequenz entstehen deswegen zahlreiche Differenzierungsmodelle zur Problemlösung,560 allerdings ohne in allen Punkten dogmatische Kohärenz wahren zu können.561 In Gefolgschaft Welzels waren solche modellarischen Zugeständnisse abwegig, da sie die Grundprämisse der Finalität wieder in Teilen zurücknehmen mussten. Gerade zu legendär sollte in diesem Zusammenhang Welzels „Mückeneinwand“ werden, dahingehend, dass eine Tötung eines Menschen in Notwehr rechtlich nicht die gleiche Bedeutung wie die Tötung einer Mücke haben könne.562 Die Anschauung in Regel-Ausnahmeverhältnis und dessen rechtliche Relevanz ist bis heute aktuell.563 Für die Evolution des Schuldverständnisses ist dies insofern von Bedeutung, als dass nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des BGH564 zur Harmonisierung dieser Brüche das „doppelfunktionale“ Vorsatzverständnis entwickelt
560
Die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums ist unzweifelhaft einer der Streitigkeiten, der Wissenschaft und Ausbildung auf das Intensivste beschäftigt. Ein Ende ist Stand heute noch nicht absehbar. Zum Theorienspektrum exemplarisch Roxin, Strafrecht AT 1 4 (2006), § 14 Rn. 52 ff. und Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 697 ff. mit entsprechenden Nachweisen. Zur Bewertung s. unten, 2. Kapitel, A. III. 7. 561 Als einer der wenigen Theorien gelingt es der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen diesen Umstand ohne Brüche in der Systematik zu verarbeiten, weshalb diese – schon weitaus früher entwickelte – Lehre in diesem Kontext wieder Auftrieb erfahren konnte. Zum zweistufigen Deliktsaufbau s. Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 10 Rn. 16 in Fn. 37 mit zahlreichen Nachweisen. 562 Das deutsche Strafrecht 11(1967), S. 81. 563 Vgl. etwa Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 96. Andererseits wiederum B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 42 f. Dass die Richtigkeit der strengen Schuldtheorie wie diese überhaupt nach Schünemann nicht aus finalistischer Prämisse herleitbar sei, mag da zutreffen. Das Gegenteil ist damit aber auch nicht bewiesen. 564 Mit der analogen Anwendung der Vorschrift zum Tatbestandsirrtum belegen zahlreiche Entscheidungen eine Tendenz zur eingeschränkten Schuldtheorie. Andererseits wird ggf. eine str. Prüfungspflicht der Rechtfertigungssituation statuiert, womit die Lösung in die Nähe der strengen Schuldtheorie rückt. Der BGH enthält sich freilich einer Theoriediskussion auf Metaebene. Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 14 Rn. 62 f. u. 83 mit den entsprechenden Nachweisen.
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wurde. Der Vorsatz hat danach als Verbrechensmerkmal sowohl für den Tatbestand als auch für die Schuld Bedeutung.565 c) Kommentar Die durch Welzel eingeleitete Systemwende ist nach der Normativierung des Schuldbegriffs der zweite große Meilenstein der Entwicklung heutiger Schulddogmatik. Die (bis heute) vorherrschende Appellfunktion strafrechtlicher Normen (Bestimmungsnorm) harmonisiert weitaus besser mit der Annahme eines personal konstruierten Unrechtsbegriffs. Das subjektive Element (Vorsatz) konstitutiv für das Unrecht auszugestalten liegt dabei auf der Hand. Die konstituierenden Elemente des Unrechts samt ihrer genaueren Profilierung der Deliktstypen herauszustellen, muss als nachhaltiger Verdienst des Finalismus gelten.566 Die Sachgebundenheit der Ausgestaltung dürfte es deshalb auch zugelassen haben, die zeitliche Herkunft dieser Ideen nicht über zu bewerten.567 Des Weiteren präjudiziert die Position in Sachen Handlungslehre nicht das Unrechtsverständnis, so dass die Ablehnung der finalen Handlungslehre in großen Teilen der Wissenschaft für die weitere Entwicklung nicht hinderlich werden musste. Die für die Schuld zweite bedeutsame Änderung ist die Abtrennung des Unrechtsbewusstseins vom Vorsatz. Bis heute ist diese Annahme vorherrschend, verfügt allerdings bei weitem nicht über die Stringenz wie die Logik eines schuldindifferenten Tatvorsatzes. Denn die Folgen sind weitreichend. Die „strenge“ Schuldtheorie ist nämlich in doppeltem Sinne streng: einmal in der konsequenten Gültigkeit, zum anderen in der Rigidität der Rechtsfolge. Die Vorsatzstrafe passt nach vielfacher Überzeugung gerade nicht bei einem Täter in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Diese Achillesferse verhalf deswegen vermittelnden gegenüber puristischen Ansätzen stärker Gehör. Selbst im Bereich des schlichten Verbotsirrtums geht dieser Regelungsmechanismus ungeachtet der inzwischen erfolgten Kodifizierung (§ 17 StGB) zunehmend der Überzeugungskraft verlustig.568
565
Bockelmann, Über das Verhältnis von Täterschaft und Teilnahme, (1949), S. 40 ff. (= strafrechtliche Untersuchungen, 1957, S. 31 – 87); Engisch, DJT I (1960), S. 401 (435); ders., FS Rittler (1957), 165 ff. (173); Roxin, GS für Radbruch (1968), S. 260 (266); ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem 2(1973), S. 42 f. Aus heutiger Sicht Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 200 ff. (203). In Besonderheit gilt dies auch für Schmidhäuser. Als Vertreter der Vorsatztheorie teilt er allerdings den Vorsatzgegenstand nach voluntativer und kognitiver Komponente nach Unrecht und Schuld auf, in: Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, S. 177; ders., GS für Radbruch (1968), S. 268 (279); ders., Studienbuch AT 2(1984), S. 188; Strafrecht AT 2(1975); Rn. 10.3. 566 So Roxin, FS Lampe (2003), S. 423 (426). 567 Welzels Lehren gelten gemeinhin als Kompromiss zwischen Tätertyplehre und altliberalen Strafrecht, so z. B. bei Wesel, Geschichte des Rechts 3(2006), S. 502 und ähnlich Wagner, NS-Ideologie im heutigen Strafrecht (2002), S. 102 f. 568 Zam Ganzen ausführlich im 2. Kapitel, A. III. 2. a) – d).
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Allerdings lieferte diese strenge Haftung gerade einem um moralische Rekonsolidierung bemühten Staat ein effektives Handlungsinstrument. Die Norm stand nicht zur Disposition des Adressaten und schob insbesondere erwogener Exkulpation etwaiger NS-Vergangenheit großflächige Riegel vor. Dass die Rechtsprechung unter dem neuen Bundesgerichtshof sich die wichtigste dogmatische Weichenstellung Welzels zu Eigen machte, dürfte deswegen nicht von ungefähr kommen. Exemplarisch für den proklamierten Zeitgeist steht die Metapher der „Gewissensanspannung“569, die es erlaubte gewisse ethische Standards für verbindlich zu erklären.570 Auf diese Art und Weise wird die „Verfassungstreue über das Strafrecht“ einer Überprüfung zugänglich.571 Aller Anleihen bei unverfänglicher Klassik zum Trotz war deshalb die Neuausrichtung der Strafrechtsdogmatik in Wahrheit mitnichten unpolitisch. Konservatismus wie auch Reformbestrebungen standen unter dem Zeichen der Abgrenzung zum Dritten Reich. 7. Von der Strafrechtsreform bis in die Neuzeit: „Post-Finalismus“ Die Große Strafrechtsreform der Jahre 1969 – 1975572 markiert den Übergang in die strafrechtsdogmatische Epoche der Gegenwart und reicht bis in die Neuzeit. Die Veränderungen des Allgemeinen Teils stellen weiterhin die gesetzliche Ausgangslage für jegliche Schulddiskussion dar. Die Große Strafrechtsreform ist das Produkt eines liberal-sozialen Kräfteringens zur Positionierung des deutschen Strafrechts.573 Die Reformbedürftigkeit des (R)StGB war seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein in der Wissenschaft virulentes Thema gewesen, deren Umsetzung in erster Linie durch den Ausbruch der beiden Weltkriege und die daraus resultierenden politischen Umbrüche immer wieder Aufschub erfuhr. Der Regierungsentwurf E 1962574 war nun das Ergebnis der Großen Strafrechtskommission, einem Verbund, bestehend aus 24 Repräsentanten aus Wissenschaft und Praxis, welcher im Zeitraum 1954 bis 1959 tagte. 1966 folgte der „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches“ (AE) von mehreren deutschen und schweizerischen Professoren. Pauschal gesprochen stand der E 1962 für eine konservative Linie, während der AE deutlichere Reformen vor Augen hatte.
569
BGHSt 2, 194 (201), Bes. vom 18. 03. 1952 g. H. – GSSt 2/51. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 328 f. 571 Kubink, a. a. O., S. 329. 572 1. Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645), in Kraft getreten am 1. September 1969 bzw. am 1. April 1970. Nachfolgend: 2. StrRG vom 4. Juli 1969 (BGBl. I S. 717), in Kraft getreten am 1. Juli 1975; 3. StrRG vom 20. Mai 1970 (BGBl. 1970 I S. 505), in Kraft getreten am 22. Mai 1970; 4. StrRG, vom 23. November 1973 (BGBl. 1973 I S. 1725); 5. StrRG, vom 18. Juni 1974 (BGBl. 1974 I S. 1297), in Kraft getreten am 22. Juni 1974. 573 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 407. 574 BT-Drs.IV/650. 570
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a) Der geistesgeschichtliche Kontext Dieser Reformgeist stand unter dem Eindruck eines gesellschaftspolitischen Klimawandels, welche die junge Bundesrepublik auf allen Ebenen erreichte. Die Integration in West-Bündnissen575 ließ die BRD vom ideologischen Kräftezerren des Kalten Krieges zwangsweise nicht unberührt. Mit dem Rückgang des ökonomischen Wachstums ebbte indes die Erfolgsgeschichte des sog. deutschen Wirtschaftswunders allmählich ab, so dass der Kapitalismus seine ideologisch propagierte Überlegenheit nicht einlösen konnte. Diese aufkeimenden Systemzweifel beförderten die Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Industriegesellschaft und Themen wie Arbeitslosigkeit und soziale Gleichheit erlangten wieder höhere Aufmerksamkeit. Diese antikapitalistischen Themen gingen eine eigentümliche Verschmelzung mit einer neuen Mündigkeit der Nachkriegsgeneration ein, deren Einordnung heute unter dem Schlagwort „1968er“-Bewegung geschieht. Ein Aufrechterhalten der Verschwiegenheit über die faschistische Vergangenheit Deutschlands fand keine breitengesellschaftliche Akzeptanz mehr, die Macht der „alten“ Autoritäten wurde mit antiautoritären Denken herausgefordert.576 Insbesondere die Soziologie der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer stand für ein Aufbrechen alter Denkstrukturen, unter deren Eindruck ein Paradigmenwechsel des Strafrechts angestrebt wurde. Das geistige Klima einer Reformeuphorie unter Regierung einer sozial-liberalen Koalition (1969 – 1982) sollte erst mit dem Beginn der achtziger Jahre abrupt enden. So harrten viele Ideen weiterhin ihrer Umsetzung und verblichen im Zeitablauf allmählich zu Utopien. Diese Ernüchterung konnten neokonservativ-liberale Kräfte nutzen. Mit dem bevorstehenden Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs standen weltweit politische Umbrüche bevor, die das Ende der ideologischen Spannungen und den Eintritt in das Fortschrittsalter der Globalisierung verheißen sollten. Diese Dynamik läutete aber gleichfalls den Übergang zur Unsicherheitsgesellschaft („Risikogesellschaft“) ein, welche schleichend den Verlust gesellschaftlicher Haltstrukturen im Pluralismus einer globalisierten, hoch technisierten Welt zu beklagen hatte.577
575 Die sog. Westintegration betraf verschiedene Maßnahmen, als wichtigste zu nennen die Aufhebung des Besatzungsstatuts (Pariser Verträge), der Beitritt zur NATO sowie die Mitgliedschaft in den Vorgängerorganisationen der heutigen Europäischen Union. 576 Zum Ganzen Themenkomplex s. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 408 ff.; zusammenfassend S. 497 ff. 577 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 524 ff., 528 ff. Zu den kriminalpolitischen Strömungen der 1990er und der Zeit nach der Jahrtausendwende s. den Überblick bei Stäcker, Die Franz-von-Liszt-Schule und ihre Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsentwicklung (2012), S. 333 ff., u. 364 ff.
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b) Strafrechtsdogmatische Konsequenzen Das „klassische“ Strafrecht, für das auch der E 1962 stand, trug in den Augen der Reformer stark retardierte Züge. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Legitimität der Strafverhängung an sich als Instrument staatlichen Handelns nicht mehr völlig außer Frage stand. Die einzelnen Forderungen unterfächern sich indes in ein breites Spektrum, das hier nur vergröbernd wiedergegeben kann. Auf den gedanklichen Prüfstand kam das Rechtsinstitut Strafe vor allem durch die Entwicklung in der Kriminologie. Die Kriminologie emanzipierte sich vom Bild der „Hilfswissenschaft des Strafrechts“.578 Dieses neue Selbstverständnis monierte in der Folgezeit verstärkt die fehlende Transformation kriminologischer Erkenntnisse. Wenn auch abolitionistische Tendenzen wie aus Teilen der deutschen Kritischen Kriminologie um Fritz Sack Randphänomene waren,579 so bestand doch weitgehend Einigkeit darin, dass wenigstens ein Vergeltungsstrafrecht überholt sei. Strafe in einem aufgeklärten, säkularisierten Staat könne nur zweckgebunden verhängt werden mit der Aussicht, künftigen Straftaten entgegenzuwirken. Die Strafzweckdiskussion lebte in der Reformdiskussion zunächst wieder auf. In der Phase bis Mitte der Siebziger Jahre dominierte der Gedanke der Spezialprävention. Die sozialstaatlichhumanistische Strömung sah in weiten Teilen für die Kriminalpolitik eine Orientierung am Behandlungsparadigma vor.580 Neben Ideen der „Défense Sociale“581 war auch der hier interessierende AE im Wesentlichen spezialpräventiv motiviert.582 578 Im Gegensatz zur Entwicklung in Nordamerika kam die Kriminologie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Entfaltung, welche sich in zunehmender institutioneller Selbständigkeit ausdrückte, vgl. Schneider, Kriminologie (1987), S. 141. 579 Wenn Kriminalität ausschließlich über die an der Aufarbeitung beteiligten staatlichen Institutionen vermittelt würde, dann ist mit der Abschaffung der Strafe das eigentliche Übel freilich getilgt. Für das Phänomen primärer Devianz bietet dieser Ansatz des sog. labeling approach allerdings kaum eine Antwort. Die einseitige Radikalität in der Rezeption Sacks hat dann im Übrigen wenig mit den amerikanischen Vorbildern gemein, dazu Bock, in: Göppinger, Kriminologie 6(2008), § 10 Rn. 65 ff. Zur Einschätzung auch Neubacher, Kriminologie (2011), 10. Kap. Rn. 11. 580 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 417 ff.; s. auch Häßler, Abolitionismus (2006), S. 98 ff. mit Überblick zu Stimmen aus neuerer Zeit. 581 Dazu unten IV. 3. a) aa). 582 Exemplarisch (Hervorhebungen durch Verf.): § 2 Zweck und Grenze von Strafe und Maßregel (1) Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft. (2) Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten, die Maßregel nur bei überwiegendem öffentlichen Interesse angeordnet werden. § 59 Grundsätze der Strafzumessung (1) […] (2) Das durch die Tatschuld bestimmte Maß ist nur insoweit auszuschöpfen, wie es die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft oder der Schutz der Rechtsgüter erfordert.
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Schuld sollte in diesem Konzept nicht mehr konstitutiv, sondern nur noch regulativ eine Rolle spielen.583 Diese Begrenzungsfunktion drängte die Schuld auch buchstäblich an den Rand der Debatte – um damit den Schuldbegriff vom pharisäerhaften Pathos alter Metaphysik zu befreien.584 Gerechtigkeit kam nicht länger als unerreichbares Absolutum daher, sondern war über Sozialisierung zu erreichen.585 Auf diese Weise schloss der AE einen breiten Kompromiss zwischen Schuldstrafrecht und Konzepten sozialer Verteidigung, der eine Abschichtung von individueller und kollektiver Verantwortlichkeit ermöglichte.586 Dagegen hielt der E 1962 am klassischen Konzept des ethischen Vorwurfs fest. Stilistisch-methodisch bedeutete die Zweckanreicherung eine Zusammenführung von Begriff und Kriminalpolitik.587 Schuldinterpretation betrieb keine Wesenskunde mehr, sondern ermittelte den Sinn im Hinblick auf die Aufgabenorientierung. Diese Entwicklung beendete auch die einsetzende Ernüchterung um den Resozialisierungsgedanken nicht. Die Thesen des „nothing works“ und der „Austauschbarkeit der Sanktionen“588 versetzten dem Behandlungsoptimismus zwar empfindliche Rückschläge. Anders als in anderen Ländern589 führte dies aber nicht zwangsläufig zu einem Wiedererstarken des (schlichten) Retributivismus. Die einsetzende Depression um den Behandlungsoptimismus Ende der siebziger Jahre verhalf generalpräventiven Strafkonzepten zum Aufstieg. Die Rechtsordnung und deren (vermeintliches)590 Steuerungspotential wurde unter dem Aspekt der Identitätsstiftung 583 Federführend Roxin, etwa in: MschrKrim 56 (1973), S. 316 (318 f.). Vgl. auch Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 10 ff. Kritik zu diesem Ansatz frühzeitig bei Gallas, ZStW 69 (1968), S. 1 (4 f.); Jescheck, ZStW 69 (1968), 54 (58 f.). 584 Instruktiv bei: Baumann, Schuld und Sühne als Grundproblem heutiger Strafrechtspflege? in: Weitere Streitschriften zur Strafrechtsreform (1969), S. 110 (116). Sittliche und/ oder religiöse Schuld verliert nicht seinen Platz in der Welt, sondern nur die Berechtigung im Strafrecht. 585 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 429. 586 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 430. 587 Grundlegend Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem 2(1973), S. 10 ff.; s. auch B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 46; ders., FS Schmitt (1992), S. 117 (126). 588 Dazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 278 und B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 32 f., jeweils mit differenzierenden Nachweisen. Kritisch dagegen Bock, ZStW 102 (1990), S. 504 (506 f.). 589 Überblick bei Roxin, FS Sten Gagnér (1996), S. 341 (345 ff.). 590 Gesellschaftliche Problemlagen bzw. Konfliktsituationen stiften Angst und Unruhe in der Bevölkerung. Lindern soll dies der Gesetzgeber, in dem er Antworten zur Lösung anbietet. Diese kommunikative Aufgabe übernehmen immer häufiger Gesetze, ohne dass sie den Steuerungsanspruch einlösen können. Nur hingewiesen werden kann hier auf die weite Problematik der symbolischen Gesetzgebung. Untersuchung bei Klement, Verantwortung (2006), S. 532 ff.; speziell für das Strafrecht s. Schroeder, Symbolisches Strafrecht – symbolische Straftaten, in: FS Hassemer (2010), S. 617 – 624; Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung im Lichte der positiven Generalprävention (2007); Diez Ripolles, Symbolisches Strafrecht und die
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(wieder-591)entdeckt. Die Idee der Generalprävention nimmt sich der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung592 als diesem Ziel an. Die Implementierung der Generalprävention erschließt nunmehr zahlreiche Vorteile: sie genießt über den Zweckgedanken einen Legitimationsvorsprung vor klassischen Vergeltungs- und Sühneideen, ist damit verfassungsrechtlich abgesichert und vom theoretischen Ansatz kaum falsifizierbar.593 Es nimmt daher nicht Wunder, dass neben der Diffusion von Präventionsangeboten594 als Strategien der staatlichen Bewältigung für Kriminalität die Makroebene betreffend, auch auf Mikroebene für den Teilaspekt der Schuld der Gedanke fruchtbar gemacht wird. Der Zweckrationalismus schreibt Annahmen nicht axiomatisch fest, sondern ist Methode einer Systembildung.595 Der Idee nach lässt sich jedem Verbrechensmerkmal systematisch eine kriminalpolitische Funktion zuordnen. Für die Schuld heißt das eine Ausrichtung nach dem Strafbedürfnis.596 Für diese funktionale Wende stehen exemplarisch die Namen Roxin und Jakobs. Das Konzept der Willensschuld (Anders-Handeln-Können) wird verlassen, um das argumentative unversöhnliche Patt in Fragen der Beweisbarkeit aller Determinusdebatten umschiffen zu können. An Stelle einer indeterministischen Prämisse597 wird Wirkungen der Strafe, in: ZStW 113 (2001), S. 516 – 538; Hassemer, FS Roxin I (2001), S. 1001 – 1019; Böllinger, Grenzenloses symbolisches Strafrecht in: KJ 1994, S. 405 – 420. 591 Man ist geneigt darin ein Wiederaufgreifen der „sittenbildende Kraft“ des Strafrechts im modernen Gewand zu erkennen. Die angestaubte, pathetische Rhetorik darf dabei über die inhaltliche Verwandtschaft nicht hinwegtäuschen. Vgl. exemplarisch Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform (1957), S. 8: „Das, was im Hinblick auf unser Gesamtschicksal in den letzten Jahrzehnten not tut, ist vor allem ein kraftvolles Strafgesetz, das sittliche Werte kennt und anerkennt, die Existenz und Verbindlichkeit sittlicher Pflichten voraussetzt und dem Volke wie in einem Spiegel das Bild seines besseren Selbst vor Augen führt.“ Vgl. auch Kühl, ARSP Beiheft 73 (1990), S. 139 (153). 592 Zur Generalprävention s. stv. Roxin, Strafrecht AT I4 (2006), § 3 Rn. 26 ff.; Zipf, FS Pallin (1989), S. 479 (481). Unterschiedliche Facetten bilden dabei der sozialpädagogische Lerneffekt (Einübung in Rechtstreue), der Vertrauenseffekt sowie der Befriedungseffekt (Integrationsprävention); Roxin, a. a. O., Rn. 30. 593 K.-L. Kunz, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 187 (194); Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 30; siehe zur Generalprävention und zum Ganzen auch das 1. Kapitel im 2. Teil unter A. I. 594 So die Einschätzung zu der ab den achtziger Jahren einsetzenden Entwicklung bei Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 739. Zu den einzelnen Stufen detailliert Kubink, a. a. O., S. 527 ff., passim. Nur stichwortartig kann erwähnt werden, dass die Konzepte zur Rücknahme des Staates (z. B. Diversion, Prärogative der ambulanten Maßnahme) auch hier wieder eine Entsprechung in der allgemeinen politischen Entwicklung vorfinden können. Der wirtschaftliche Neoliberalismus, verbunden mit Namen wie Thatcher und Reagan, stand für einen weitgehendsten abstinenten Staat. 595 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 55. 596 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem 2(1973), S. 33 f.; ders., FS Kaiser (1998), S. 885 (890). 597 Zur Irrelevanz der „Willensfreiheit“ für den Funktionalismus, vgl. stv. Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 17/23 ff.; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 39 ff.
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die Motivierbarkeit des Durchschnittsbürgers598 gesetzt. Roxin integriert dabei die individuelle Vorwerfbarkeit als Substrat des traditionellen Schuldbegriffs unter dem Dach der Systemstufe Verantwortlichkeit. Die Verantwortlichkeit vereint die klassischen Kriterien der Zurechnung mit der generalpräventiven Notwendigkeit der Strafe.599 Der Nachweis generalpräventiver Imprägnierung wird in erster Linie über die §§ 33, 35 StGB nachvollzogen, Normen, die allein mit Schuldgesichtspunkten nicht zu erklären seien. Beleg dafür sei die spezielle Pflichtentragung einzelner Berufe, die die Entschuldigung (trotz etwaiger gleicher Motivation) gegenüber dem „quivis ex populo“ versage.600 Jakobs601 radikalisiert diesen funktionalen Ansatz noch dahingehend, dass Schuld als „Derivat der Generalprävention“ mit eben dieser vollständig gleichgesetzt wird. Schuld wird als reine Zuschreibung verstanden, die vom Bedürfnisgrad der Konfliktverarbeitung einer jeweiligen Gesellschaft abhängt.602 Mit dieser Radikalisierung stehen die Äußerungen Jakobs’ synonym für den Funktionalismus im Strafrecht überhaupt. c) Kommentar Dieser Untertitel illustriert zwei Entwicklungsschübe, die sich durchaus stark voneinander unterscheiden (können). Spezial- und Generalprävention stehen nicht in einem logischen Gegensatz, dennoch kann die Ausgestaltung im Detail antinomische Züge tragen.603 Trotzdem stehen sie beide insgesamt für die Renaissance der Zweckstrafe. Mehr noch stehen sie für die nachhaltige Etablierung des Zweckgedankens. Die Anreicherung der Schuld um die Zweckdimension steht für ein Wiederaufgreifen neukantianischen Denkens sowie dessen Fortentwicklung. Das zweckrationale Systemdenken schickt sich an, bei strikter Werteorientierung den Werterelativismus durch sozialwissenschaftlichen Wissenstransfer zu überwinden.604 Man wird präzisieren dürfen, dass der Überwindungsversuch gerade unter die Ägide einer starken Verfassung fällt. Konzeptionen von Zweckstrafe finden sich in der Historie sowohl in der Individualperspektive (Franz von Liszt) als auch in der Kollektivbetrachtung (Philosophie des Utilitarismus). Aber erst das Grundgesetz mit seinem Grundrechtskatalog schaffte in der Diskussion eine hohe Verbindlichkeit in der Straftheorie. War die Verfassung der Weimarer Republik dort ohne Einfluss 598 Soweit noch übereinstimmend, Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 17/18 ff., Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 36; zusammenfassend B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 48 ff. 599 Im Einzelnen s. sogleich, IV. 600 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 48 f. 601 Schuld und Prävention (1976), passim, genauer unter IV. 2a). 602 Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), Rn. 17/22. 603 Dahinter steckt die vielbeschworene These der „Antinomie der Strafzwecke.“ 604 So B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 51.
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geblieben,605 so kann dieser Befund für das Bonner Grundgesetz nicht gelten. Zwar kümmerte sich die Strafrechtswissenschaft der frühen Nachkriegszeit anfänglich hauptsächlich um die philosophische Fundierung ihrer Positionen,606 der nachhaltige Einfluss der Verfassung zeichnete sich aber früh ab. Nicht ohne Grund etablierte sich frühzeitig die Rede vom „Strafgesetz als Ausführungsgesetz“ zum Grundgesetz.607 Es ist die (teilweise) expansive Grundrechtsdogmatik unter dem mächtigen Bundesverfassungsgericht,608 der Motor für die Rechtsfortbildung wird. Die Reflexion über die Grundrechtserheblichkeit einer staatlichen Maßnahme durchdringt sämtliche Rechtsmaterien. Die Strafe steht deswegen nicht als selbstverständliche Reaktion auf eine Strafe von vorneherein fest, sondern die Einschränkung der Rechtspositionen muss über einen legitimen Zweck gerechtfertigt werden. Über die Verzahnung von Grundrechtedogmatik und allgemeiner Straftheorie steht die Erwartung, nun einen Legitimationsvorsprung in der Strafbegründung erzielen. Die spezialpräventive Orientierung der sechziger und siebziger Jahre lässt die geistigen Wurzeln Franz von Liszts hervordringen. Die wiederentdeckte „Moderne“ der gezielten Sozialsteuerung schmiedete im lodernden Feuer des allgegenwärtigen Fortschrittsoptimismus eine Vision einer besseren, humanitären Gesellschaft. Diese ideologische Motivierung trägt allerdings eine gewisse Ambivalenz in sich. Hinter dem Konzept „Heilen statt Strafen“ steckt einerseits das schlechte Gewissen einer Gesellschaft, die ihren Part an dem soziologischen Phänomen des Verbrechens zunehmend anerkennt und auf Ausgleich und Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit sinnt. Dem traditionellen Schuldbegriff wurde aufgrund seiner moraltheologischen Provenienz dieses Potential nicht zugestanden.609 Er stand zu Großteilen für eine autoritäre, unsolidarische Gesellschaft. Man kann dies durchaus als Aufruf zu menschengerechterer Strafpraxis, welche letztlich im Dienst der Menschenwürde steht, auffassen. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, dass solche Lösungen einer Expansion des Sanktionswesens im Prinzip Vorschub leisten. Denn eine an der Resozialisierung ausgerichtete Strafe, hat eben diese als Erfolg vor Augen. Ohne Erreichen dieses Ziel kann die Maßnahme aber nicht als abgeschlossen gelten. Begrifflich durchaus umfasst, aber rechtsstaatlich ausgeschlossen, ist schließlich 605
Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 135. Das Resümee von Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 203, fällt dementsprechend reservierter aus. Freilich ist aus dem damaligen Zeithorizont eine heute vergleichbare Einschätzung nicht zu erwarten. 607 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: HB der Grundrechte III/2 (1959), S. 909 (910); Zipf, Die Geldstrafe (1966), S. 18. 608 Zum Machtfaktor des Bundesverfassungsgerichts siehe die Beiträge in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht. 609 Frommel, FS Kargl (2015), S. 129 (139) benennt bezeichnenderweise als Motor der Weiterentwicklung des Strafrechts vor allem die rechtsfolgenorientierten Innovationen (Aussetzung zur Bewährung, Tagessatzsystem und Diversion). Schulddiskurse endeten demgegenüber statisch. Das Rechtsfolgenrecht als Katalysator für Änderungen im Strafrecht ist ein Grundanliegen dieser Arbeit. Siehe mehr unter B. des 2. Kapitels. 606
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eine in der Laufzeit offene Sanktion. Ob dieses Modell nicht im Grunde noch darüber hinausgehen und die Tatanbindung vollständig aufgeben könnte, lässt sich nicht allein aus dem Modell heraus beantworten. Der eigene Ansatz wird obendrein partiell konterkariert, da unterschwellig natürlich auch das Resozialisierungsmodell eine Art Kontraideologie transportiert. Resozialisierung kann nicht ohne Leitmodell arbeiten (Wann ist und wie wird man zu einem geachteten Mitglied der Gesellschaft?). Von ethischer Neutralität kann also schwerlich die Rede sein.610 Diese Tendenz wurde durchaus erkannt, weshalb schuld-eliminatorische Ansätze einer Défense Sociale folglich eher ein Randgeschehen bildeten. Das Ziel einer Zurückdrängung des Schuldgedankens in seiner Begründungs-, aber seine gleichzeitige Beibehaltung in seiner Begrenzungsfunktion kommt dann allerdings nicht ohne inhaltliche Brüche aus.611 Von einem bewusst entmachteten Begriff – sei es auch nur als legislatorische Kompromissformel – Disziplinierungsmacht zu erwarten, erweist sich zumindest als theoretisch ambitioniertes Vorhaben. Sinnbildhaft für diese Entwicklung steht das Ringen um die Einrichtung der sozialtherapeutischen Anstalt (§§ 69 AE-StGB, 65 StGB a. F.) als Ausdruck für konstruktive, zukunftsgerichtete Intervention des Staates.612 Genauso steht freilich das Scheitern der sozialtherapeutischen Anstalt als eigenständige Maßnahme im StGB sinnbildlich für die Desillusionierung spezialpräventiver Strafrechtsprogramme. Die Entdeckung der Generalprävention wiederum ist in diesem Zeitkontinuum zu sehen. Sie konnte zum einen das drohende Vakuum in der verfestigten Zweckdiskussion abwenden, zum anderen die nunmehr vorgefundene Gesellschaftsstruktur besser abbilden. Diese Positionierung des Strafrechts in seiner affirmativen Funktion passt zu einer Gesellschaft am Übergang zur Unsicherheitsgesellschaft, welche den Verlust gesellschaftlicher Haltstrukturen durch simple Mechanismen zu kompensieren hatte. Insgesamt zeigt sich, dass das Strafrecht das viel berühmte Spiegelbild der Gesellschaft und des kontemporären Staatsverständnisses613 liefert.
IV. Der dogmatische Status quo: eine normativ-funktionale Dichotomie Mit der Aufgabe des strengen Psychologismus (Normative Wende), den Tatvorsatz als unrechtskonstituierenden Baustein und eben der Zweckrationalität in der Strafbegründung sind die drei nachhaltigen Entwicklungsschritte kontemporärer 610 Konsequenz dieser Ideologieüberfrachtung ist eine Entmündigung der Probanden. Ein Grund der Krise spezialpräventiver Ideen ist in dieser Haltung zu suchen, s. Roxin, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 519 (530 f.). 611 S. unten IV. 3. b) aa). 612 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 742. 613 Zum Spiegelbildgedanken die Einschätzung auch bei Müller-Dietz, FS Jescheck (1985), S. 813 (813 f., 823). Als Menetekel gezeichnet bei R.-P. Calliess, NJW 1989, S. 1338 (1339 f.).
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Schulddogmatik markiert. Da sich diese Erkenntnisse insgesamt durchgesetzt haben, umschreiben sie gewissermaßen die „Phylogenese“ heutiger Schuldkonzeptionen. Schuldverständnisse, die auf diesen Bestand nicht zurückgreifen, gelten (aktuell) als obsolet.614 Darüber hinaus bereitet die Ordnung der Fülle von Ansichten aber nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Die attestierten „Irrungen und Wirrungen“615 der Schuldlehre beruhen in erster Linie, dafür aber wesentlich auf terminologischen Differenzen. Der äquivoke Gebrauch von Ordnungsbegriffen616 stiftet in diesem Zusammenhang eine Unklarheit, die weit über die wirklichen inhaltlichen Differenzen hinausgehen dürfte. Das gilt zum einen für das Begriffspaar formell/materiell617 in der Diskussion, des Weiteren für das logische Abhängigkeitsverhältnis von Vorwerfbarkeit und Schuld,618 fängt aber im Grunde schon bei der proklamierten Dichotomie von normativen und funktionalen Schuldlehren an. Die Lehrbuchliteratur pflegt regelmäßig diese beiden Schuldtypen gegenüber zu stellen.619 Dies ist aber, selbst aus bloß didaktischen Erwägungen, eher verfehlt. Denn die Terminologie ist in dieser Hinsicht reichlich ungenau und daher in der Abgrenzung ungeeignet. Die Kennzeichnung einer Schuld als „normativ“ belegt im Grunde nur die Abkehr von dem als psychologisch titulierten Vorgänger.620 Das gilt im Grundsatz für alle ge614
Ein anachronistisches Fortleben des psychologischen Schuldbegriffs dennoch bei Koriath, GA 2011, S. 618 (619 ff.); in der Tendenz wohl auch Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), die sämtliche normative Schuldbegriffe aufgrund eines Verstoßes gegen das Bestimmtheitsverbot verwirft (im Einzelnen: S. 126, 129, 132, 134, 137, 140, 143). Ob der eigene Schuldbegriff, als sog. Beziehungsungleichgewicht des Täters mit dem Opfer (S. 158) dem Problem Abhilfe schaffen kann, erscheint mehr als fraglich. Jedenfalls scheint die tiefenpsychologische Herleitung (S. 147 ff.) im Groben für einen neuen Psychologismus zu sprechen, der in Form eines psychologischen Schuldbegriffs in der Klassifizierung eingehen müsste. 615 So ein Aufsatztitel von H.-J. Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 – 329. 616 Das Stammwort Schuld kennt in der Rechtssprache zahlreiche Epitheta. Zur Erinnerung und Verdeutlichung eine Aufzählung – freilich ohne ihre Quellennachweise: Schuldbegriff, Schuldelement, Schuldfähigkeit, Schuldform, Schuldidee, Schuldgegenstand, Schuldgrund, Schuldmaßstab, Schuldmerkmal, Schuldprinzip und Schuldurteil. Siehe auch die von hier abweichende Klassifizierung bei Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedanken (1967), S. 45 ff. 617 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 38 III, S. 422 bezeichnet die Zurechnungsvoraussetzungen als formellen Schuldbegriff; dagegen bei Kindhäuser, Strafrecht AT 7 (2015), § 21 Rn. 5, ist dieser formell nur das Ergebnis einer Zurechnung, das Schuldurteil, (Faktum, dass zugerechnet wird, nicht warum). 618 So bleibt die Reihenfolge, ob die Vorwerfbarkeit aus der Schuld oder die Schuld aus der Vorwerfbarkeit folgt, heftig umstritten. Mitunter wird auch synonymer Gebrauch praktiziert. Angesichts dieser Begriffskonfusion ist eine topologische Sortierung kaum möglich, obwohl es gerade keinen Fall von zirkulärer (zyklischer) Abhängigkeit betrifft. 619 Z. B. Ebert, Strafrecht AT 2(2001), S. 92 f.; Kindhäuser, Strafrecht AT 7(2015), § 21 Rn. 7 f.; Otto, Grundkurs Strafrecht 7(2004), § 12 Rn. 13 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 619 f. 620 So ist inzwischen schon die Rede von einem „rein“ normativen Schuldbegriff, so bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 38 II 4, S. 421; Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts 2(2008), Rn. 506; Gropp, Strafrecht AT 4(2015), § 6 Rn. 22 f. Gemeint ist damit die finalistische Prämisse, dass der Vorsatz keine Bedeutung mehr für die Schuld haben kann. Ein
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genwärtigen Schuldkonzepte, also auch für funktionale Schuldlehren. Der normative Schuldbegriff gründet sich auf dem Konzept der Vorwerfbarkeit; folglich wird der Inhalt der Schuld über die Definition oder Bestimmung der Vorwerfbarkeit konstituiert. Traditionell beruht der Schuldbegriff auf dem Prinzip individueller Vorwerfbarkeit des Willens. Ob die Willensbildung individuell vorwerfbar erscheint, betrifft die heftig umstrittene Debatte in Sachen (In)Determinismus. Um diesen Aporien zu entgehen, ist die Wissenschaft dazu übergegangen, sich von dem nicht überprüfbaren, individuellen Ansatz in Teilen zu lösen. Methodisch wird, wie in der Geschichte der juristischen Schuld bereits geschehen,621 die Individualität zugunsten eines generellen Maßstabs ausgetauscht. Das argumentative Stützkorsett wird nun über die Funktionalität des Schuldbegriffs gesucht. An dieser Stelle tritt der Topos der Funktionalität in die dogmatische Diskussion ein. Funktionalität schließlich kann in diesem Rahmen verschiedene Gestalt annehmen. Deshalb ist die einseitige Betonung von „funktional“ tendenziell übertrieben, so sie denn darüber hinwegtäuscht, dass gegenwärtig über die Zweckabhängigkeit der Strafe stets auch die Schuldverhängung dem Sinn nach funktional iSv „zweckgerichtet“ sein muss.622 Der Grundgedanke der Vorwerfbarkeit muss (und wird z. T.) deswegen nicht axiomatisch verworfen werden. Besser ist es deshalb im Allgemeinen nur von einer funktionalen Modifikation623 zu sprechen. Wenn allerdings auf die Vorwerfbarkeit in diesem Zusammenhang gänzlich verzichtet wird, dann hat jenes Schuldverständnis nichts mehr mit dem ursprünglichen normativen Schuldbegriff gemein; freilich bleibt er aber durch seine askriptive Struktur dennoch „normativ“.624 Entscheidend sind also Gegenstück bildet etwa der „komplexe“ Schuldbegriff, der empirische und normative Elemente vereint; so bei Baumann/Weber/Mitsch, AT 1 1(2003), § 18 Rn. 19 ff.; ebenso bei Börchers, Schuldprinzip und Fahrlässigkeit (2010), S. 20 ff. und passim; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1 8 (1992), § 30 Rn. 22 ff.; letzterer mit deutlicher Kritik der hybriden Begriffsbildung. 621 Zu erinnern ist hier die Bestimmung bei der Unzumutbarkeit, s. oben III. 4. b). 622 Soweit der Schuldbegriff mittels (irgendeiner) Generalisierung operationalisiert wird, kommen unweigerlich präskriptive Elemente zur Geltung. Diese präskriptiven Elemente sind methodisch über ihre Zweckgebundenheit abgesichert; ansonsten wäre dies Willkür im Recht. Dann werden diese Elemente aber „funktional“ gebildet“, vgl. Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 17/18 in Fn. 4: „Soweit aus dem Scheitern der individualpsychologischen Betrachtungsweise […] die Konsequenz gezogen wird, Schuld als Zuschreibung zu verstehen, ist das vom Ansatz des funktionalen Schuldbegriffs nicht verschieden.“ (Hervorhebung nicht im Original). Aus gleichem Grund kann es nicht überzeugen, Normativität und Funktionalität undifferenziert gleichzusetzen, so indes offenbar Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik (1990), S. 152 ff. 623 Gropp, Strafrecht AT 4(2015), § 6 Rn. 26 ff. 624 Das Problem ist hierbei, dass es verschiedene Bedeutungen von Normativität (Ni) im Recht geben kann. Normative Sätze können „Sollens-Sätze“ sein, e. g. „Du sollst nicht töten“ (N1). Daneben gibt es Normativierung in Bezug auf wertausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe als Gegenstück zu deskriptiven Begriffen (N2). Schließlich werden Dinge auch normativ benannt, die rein definitorisch im Recht gebildet werden. Gemeint sind askriptive Urteile, die nicht auf einer Feststellung, sondern auf einer Zurechnung fußen. (N3). Ein vertrautes Beispiel ist die objektive Zurechnung im Strafrecht. S. bei Hilgendorf, Naturalismus im (Straf-)Recht, JRE 11 (2003), S. 83 (97) Fn. 39. Neumann, ZStW 99 (1987), 567 (577 ff., Fn. 41), merkt an,
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vielmehr der Inhalt dieser Normativität und der korrespondierende Grad funktionaler Ausrichtung, welcher je nach Konzept variieren kann.625 Über den Typus von Vorwerfbarkeit lassen sich demnach auch heterogene Ansichten unter einer Gruppenbezeichnung vereinigen. 1. Typen der Vorwerfbarkeit a) Schuld als „Andershandelnkönnen“ Das Dogma des „Andershandelnkönnen“ beschreibt in dieser Abbreviatur das Schuldmodell des klassisch indeterministischen Strafrechts. Das Schuldurteil baut auf einem sittlich-ethische Vorwurf auf, welcher auf der Annahme gründet, der Täter hätte das Unrecht vermeiden können, so er denn nur gewollt hätte. Der Vorwurf beruht thematisch auf einem Dafür-Können. Charakteristisch für diese Position ist die wegweisende Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1952: „[…] Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden …“.626
Die einleuchtende Einfachheit, mit Roxin627 wird man sie deshalb als Alltagstheorie auf Plausibilitätsniveau beschreiben dürfen, ist freilich auf die intuitive Zustimmung der Basisprämisse angewiesen. Mit dem Herausstellen der freien Entscheidung für das Unrecht bekennen sich Vertreter628 dieser Ansicht im Grunde zu dem Axiom der dass das Verhältnis von Schuldvoraussetzungen und Schuldvorwurf nicht (ohne Zirkularität) durch den Begriff der Normativität eingeholt werden kann. Das dürfte sich letztlich über die beschriebenen Ebenen klären lassen. Überdies lag das bedeutendste Kennzeichen der normativen Wendung in ihrer nicht-naturalistischen Ausrichtung. Diese nicht-naturalistische Ausrichtung gilt fort. 625 Einen anderen Weg wählt Neumann, in: Klaus Lüderssen, (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. 1 (1998), S. 391 (391 f.). Er unterscheidet drei Methoden der Begriffsbildung. Die ontologische (Bewertungsschema: wahr vs. falsch), die den Schuldbegriff über Seinsaussagen erfasst, die funktionale (zweckmäßig vs. unzweckmäßig) und eine dritte Kategorie, eine sozialethische (gerecht vs. ungerecht) Modellierung der Schuld. Diese Dreiteilung bietet sich nur insofern an, als man einen aspektgeleiteten Zugang zu der Schuldbegriffsbildung darstellen will. Selbst unter Zugeständnis einer gewissen Idealtypik wird man kaum annehmen können, dass kategoriale Unterschiede derart bestehen können. Welcher Rechtsbegriff würde sich denn nicht an dem (hier: sozialethischen) Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen? Zu der Bedeutung Neumanns These aber noch unten, IV. 5.). 626 BGHSt 2, 194 (200), Bes. vom 18. März 1952 g. H. – GSSt 2/51. 627 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 21. 628 Aus neuerer Zeit allen voran B. Schünemann in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Schuld, s. dazu auch die Nachweise im Fortgang der hiesigen Untersuchung. Im Gegensatz zur klassischen Dogmatik begreift er Schuld aber lediglich als notwendiges, nicht
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„Willensfreiheit“ – und tragen damit sämtliche, bis zur Erschöpfung vorgetragene Streitpunkte zur Schuldidee in den dogmatischen Begriff herein. Dass dabei zwangsläufig eine Art Glaubensbekenntnis mit dem Rechtsbegriff einhergeht, ist dabei nur ein sekundäres Problem. Gewichtiger an der Stelle ist, dass die Rechtspraxis vor forensisch unlösbare Schwierigkeiten gestellt wird. So es denn zur Schuldfrage im Prozess kommt, muss die Verurteilung empirisch abgesichert werden. Der Beweis der Handlungsalternative und der Entscheidungsprozess kann nur schwerlich rekonstruiert werden – so es denn überhaupt möglich sein sollte. Der vielfach anzutreffende agnostische Standpunkt629 ist für das Strafverfahren unbrauchbar. Stünde in der Konsequenz ein Freispruch in „dubio pro reo“630, wird allemal nur das Strafrecht preisgegeben. Das Problem lässt sich – für dieses Modell – auch nicht durch das Einbauen der Maßfigur des „Durchschnittsmenschen“ anstelle des Angeklagten nicht lösen.631 Ob ein solches analoges Erkenntnisverfahren – prinzipiell und legitimerweise – im Strafrecht angewendet werden kann, ist dabei ohne Belang und kann hier dahinstehen. Ein solches Vorgehen verträgt sich schlichtweg überhaupt nicht mit der Ausgangsprämisse. Ob ein anderer als der Täter anders gehandelt hätte, steht in diesem Kontext außerhalb der Diskussion. Wer mit dem Anspruch auftritt, eine individuelle Verfehlung zu begründen, kann den Beweis nicht über andere führen.632 b) Schuld als Ausdruck rechtlich missbilligter Gesinnung Eine auf Gallas633 zurückgehende Formulierung definiert Schuld als „Vorwerfbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich missbilligte Gesinnung.“ Ähnlich stellt Schmidhäuser auf „unrechtliche Einzeltatgesinnung“634 bzw.
hinreichendes Kriterium der Strafbarkeit. Expressis verbis, in: Lahti/Nuotio (1992), S. 157 (170). Im Übrigen steht er der kriminalpolitischen Zwecklehre Roxins nahe. 629 Begründet von der Schulrichtung Kurt Schneiders, in personae neben Schneider dessen Schüler Haddenbrock, Witter, Langelüddeke, Bresser; s. die Aufzählung mit Nachweisen bei Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 106; 5 (2009), S. 98. 630 Entsprechend Roxin, ZStW 96 (1984), S. 641 (643). 631 S. P.-A. Albrecht, GA 1983, S. 193 (215); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 37 I 2 b), S. 411; Tiemeyer, GA 1986, S. 203 (214) mit weiteren Nachweisen; eher relativierend jedoch Maiwald, FS Lackner (1987), S. 149 (164 f.). 632 Zum Ganzen so auch Otto, ZStW 87 (1975), S. 539 (583 f.); Roxin, Strafrecht AT I 4 (2006), § 19 Rn. 21. 633 Gallas, ZStW 67 (1955), 1 (45). Ihm folgen Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 38 II 5, S. 421; Sch/Sch-StGB/Eisele 30(2019), Vorbem §§ 13 Rn. 119; SK-StGB/Rudolphi (38. Lfg. April 2003), Vor § 19 Rn. 1 a. E.; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 612 f.; krit. Otto, ZStW 87 (1975), S. 539 (581), ders., GA 1981 S. 481 (484); Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (310 ff.). 634 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale in Strafrecht (1958), S. 177 f., ders., FS Gallas (1973), S. 81 (93); ders., Studienbuch AT 2(1984), 7/6, S. 188; ders., FS Jescheck I (1985), S. 485 (491).
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rechtsgutsverletzendes geistiges Verhalten635 als Substrat der Schuld ab. Einen Anhaltspunkt findet diese Ansicht in § 46 Abs. 2 StGB, welche die quantitative (Strafzumessungs-)Schuld u. a. an der „Gesinnung, die aus der Tat spricht“, festmacht.636 Soweit ausschließlich auf den kommunikativen Aspekt abgestellt wird, ist diese Position nicht auf eine Stellungnahme in Sachen Determinismus angewiesen.637 Nach der Genese der Gesinnung wird in dieser formalen Konstruktion nicht gefragt. Natürlich bleiben die inhaltliche Komponente und somit die Strukturierungsleistung als Systemstufe eher blass. Denn der „Gesinnungsunwert“ gibt eigentlich stets nur den Gesetzesverstoß wieder.638 Besonders im Bereich unbewusster Fahrlässigkeitsdelikte lässt sich das vor Augen führen. Wie dort das geistige Verhalten ablösbar vom Sorgfaltsgeschehen zu bestimmen sein soll, bleibt doch eher diffus.639 Der fehlende Akt von Kommunikation bildet gerade die Differenz zum Vorsatz. Außer in den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums kann diese Konstruktion als Filterregel im Übrigen nicht herhalten.640 Wird inhaltlich eine Rückanbindung an das Können gesucht,641 führt dies lediglich zur inhaltlichen Übereinstimmung und zu den Einwänden erst genannter Ansicht.642 c) Schuld als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit Der Topos „Unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit“ verarbeitet den Befund, dass die meisten Menschen grundsätzlich in der Lage sind, Informationen von Strafnormen aufzunehmen und sich dementsprechend zu verhalten. Diese Ansicht643 spricht daher von Schuld, wenn der Täter zur Zeit der Tat für den von der Norm ausgehenden Appell zugänglich war. In dieser angenommenen, grundsätzli635
Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 6/16 ff. S. 148 u. 10/2 ff. S. 365. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 613. 637 Ausdrücklich Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 10/6, S. 369. Unbenommen davon freilich ist es, die Gesinnung trotzdem mit der Möglichkeit des „Andershandelnkönnens“ in Verbindung zu stellen, denn die Ansichten sind kompatibel. 638 S. Kühl, ARSP Beiheft 73 (1990), S. 139 (158). Die eigentliche Bedeutung der Gesinnung kann daher nur in der Erfolgskomponente in der Stufe des Unrechts liegen; siehe dazu im 2. Kapitel B. III. 1. b). Ablehnend generell auch Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (316 f.), der das Kriterium der Gesinnung als ideologieanfällig ansieht. 639 Vgl. Roxin, ZStW 83 (1971), S. 389; ders., FS Henkel (1974), S. 171 (178). Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 10/99, S. 441, spricht in diesen Fällen von Potentialität von Tatbewusstsein. 640 Ebenso Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (314). 641 Gallas, ZStW 67 (1955), 1 (45). 642 Wiederum Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 24 ff. 643 Stv. zum Folgenden Hoyer, FS Roxin II (2011), S. 723 (726 ff.) und grundlegend Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 36 ff., ders., FS Brauneck (1999), S. 385 (388 ff.); jüngst ders., GA 2015, S. 489 (490 ff.) dort auch mit weiteren Nachweisen (S. 493) zu weiteren Vertretern dieses Ansatzes. 636
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chen Fähigkeit liegt das empirische Substrat des Schuldbegriffs und ist gleichwohl eine normative Setzung. Zentralbegriff in diesem Kontext ist der der Steuerungsfähigkeit. Dieser ist in der forensischen Nachbearbeitung zu rekonstruieren und an erforschbaren Tatsachen zu messen. Im Übrigen wird von einer prinzipiellen Einwirkungsmöglichkeit (Steuerung) gerade durch die Normbefehle ausgegangen. Ob dieser Normennachvollzug auf einer freien Entscheidung des Individuums beruht oder beruhen kann, ist dabei nicht originär von Interesse. Denn zur Problematik des freien Willens wollen sich die Vertreter ausdrücklich enthalten. Von diesem agnostischen Standpunkt aus gelten beide Positionen in Sachen Willensfreiheit als möglich, aber unbeweisbar. Die Zuschreibung der gegenseitigen Steuerungsfähigkeit nimmt dabei den Charakter einer stillschweigenden kollektiv-gesellschaftlichen Vereinbarung, einer sozialen Spielregel des menschlichen Miteinanders an.644 Schuld als Rechtskategorie wird nicht auf eine ontologische Wahrheit zurückgeführt, sondern auf dem Freiheitsbewusstsein als Alltagserfahrung aufgebaut. Diese gedankliche Mittlerrolle von Empirie und Normativismus hat von In- wie deterministischer Seite wenig Zustimmung erfahren. Von Seiten des Indeterminismus ist zumindest in der Konsequenz kein inhaltlicher Widerspruch zu verzeichnen, so dass die Differenzen im philosophischen Horizont zu vernachlässigen sind. Richtigerweise kann es auf ein derartiges Freiheitsbekenntnis in einem Rechtsraum von weltanschaulicher Neutralität nicht ankommen.645 Schwerwiegender sind Einwände vom deterministischen Standpunkt aus, welche die inhaltliche Selbstständigkeit dieser Konzeption anzweifeln. In Wahrheit werde die freiheitliche Prämisse nicht verlassen und immanent vorausgesetzt646 oder nur wenig bedeutsam paraphrasiert.647 Mit Freiheit als Setzbegriff wird naturgemäß inhaltlich nicht neuer Boden bereitet. In der Ausgestaltung der Rechtsinstitute kann sich die Ansicht also nicht wesensmäßig von einem indeterministischen System absetzen. Von daher ist es nicht überraschend, dass dies „strenge“ Deterministen nicht befriedigen kann. Argumentativ entkräften kann und will diese agnostische Haltung die Gegenposition nämlich keineswegs. Nicht zuletzt dieser Befund hat dazu geführt, dass die Bedeutung des Schuldbegriffs in der Rolle der Bestrafung gelegentlich reduziert wird. Obwohl am Konzept der Vorwerfbarkeit insgesamt festgehalten wird, wird die Legitimation der Strafe an sich nicht auf die Schuld als Grund zurückgeführt, sondern auf die Zweckhaftigkeit der Strafe. Auf diese Weise wird der Schuldbegriff gewis644
Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 37; ders., ZStW 96 (1984), S. 641 (650 f.); ders., FS Arthur Kaufmann (1993), S. 519 (521); H.-L. Schreiber, Nervenarzt 48 (1977), S. 242 (245). 645 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 41; Schöch, in: Eisenburg (1998), S. 82 (91 f.). 646 So Haddenbrock, Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (1992), S. 314; Tiemeyer, ZStW 100 (1988), S. 527 (535). 647 Kargl, Kritik des Schuldprinzips (1982), S. 246. Zur Kritik auch T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 113, der allerdings den Roxin’schen Ansatz deswegen nicht als unhaltbar verwirft.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
sermaßen generalpräventiv angereichert.648 Schuld soll nur der Begrenzung der präventiven Bestrafungsnotwendigkeit dienen.649 Dies ist als Idee auch nicht zu beanstanden, nur wird über dieses Manöver den Zweifeln am Schuldkonzept nicht ausgewichen. Der Versuch, Schuld in seiner Unsicherheit dann wenigstens nur zu Gunsten des Beschuldigten wirken zu lassen, geht in seiner Vollständigkeit nicht auf. Schuld als notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für die Strafverhängung650 lässt die Schuld in diesem Modell denknotwendig strafbegründend.651 Denn auch Schuld als maßbegrenzendes Prinzip verlangt doch, dass sich Schuld genau in der Höhe begründen lässt. Die Vorwerfbarkeit bleibt also als argumentatives Gerüst grundsätzlich erhalten. Sie wird nur in Teilen über die Straftheorie „normativiert.“652 Mit dieser Rückbindung wird der Sache nach eine Brücke zum (rein) funktionellen Schuldbegriff geschlagen. d) Der Sonderfall: Einheit von Schuld und Unrecht Einer Abhandlung in diesem Kontext bedarf noch eine Besonderheit im Spektrum der Schuldlehren, nämlich derjenigen Lehre, welche die Auftrennung von Unrecht und Schuld revidiert.653 Damit wird die Dogmengeschichte der Schuld quasi wieder auf den Anfang zurückgeführt.654 Inhaltlich baut diese Theorie sich auf der Impe648
Anders Roxin, Strafrecht AT I4 (2006), § 19 Rn. 1 ff., ders., FS Henkel (1974), S. 171 (182); ders., FS Bockelmann (1979), S. 279 (282), der beide Aspekte dialektisch in einer höheren Systemstufe, der Verantwortlichkeit, getrennt aufgehen lässt. Diese Vorgehensweise dient eigentlich einer begrüßenswerten didaktischen Klarheit. In der Rechtslehre ist dieser Idee kaum gefolgt worden; wohl auch deswegen, weil die Gesetzessprache des StGB keinen Begriff der Verantwortung kennt. Auf der anderen Seite – das kann an dieser Stelle schon gesagt werden – lässt sich die strikte terminologische Trennung von „Schuld“ und „Generalprävention“ nur in der Theorie durchhalten. Denn das empirische Substrat der Schuld, die normative Ansprechbarkeit, wird in den „Grenzfällen“ normativ durch Wertungen beeinflusst, die z. T. nicht ohne generalpräventive Deutung auskommen. (Andeutungen diesbzgl. bei Roxin, a. a. O., Rn. 46, selbst.) Ist in der aktuellen Gesetzessystematik eine logische Unabhängigkeit nicht gegeben, widerspricht dies sicherlich nicht der Durchführung von Roxins Vorhaben. Aber es mindert dadurch den intendierten Nutzen des Erklärungsansatzes. 649 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 48; B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (176). 650 Achenbach, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 135 (140). 651 Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (757); Arthur Kaufmann, Jura 1986, S. 225 (228). 652 Nun muss man dazu sagen, dass auch Vertreter des klassischen Anders-Handeln-Können-Dogmas sich in der Straftheorie nicht zwingend einem absolutistischen Vergeltungsstrafrecht anschließen müssen. Umgekehrt steht dem Modell der normativen Ansprechbarkeit diese Systemfrage allerdings nicht offen. Der Agnostizismus ist mit einem Vergeltungsgedanken gänzlich inkompatibel, so dass die normative Setzung eine argumentative Abstützung über das Normsystem verlangt. 653 T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 116 ff. G. Freund, Strafrecht AT 2(2009), § 4 Rn. 1 ff.; Lesch, JA 2002, S. 602 (608); ders., Der Verbrechensbegriff (1999), S. 1 ff., S. 198 ff. (205), passim. 654 Zur Genese der Trennung von Unrecht und Schuld, oben III. 2.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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rativentheorie auf.655 Adressat einer Norm kann nur derjenige sein, der beeinflussbar von ihr ist. Vom Ausgangspunkt stehen sie gar dem zuvor vorgestellten Modell eigentlich am nächsten, denn es wird davon ausgegangen, dass der Normappell nur den zurechnungsfähigen Menschen betrifft. Die Ansprechbarkeit durch Normen wird schließlich ins Zentrum gerückt. Nur der Begründungsweg wird leicht vertauscht. Die Zurechenbarkeit wird verneint, wenn die Ansprechbarkeit fehlt; insofern liegt Übereinstimmung vor. Die Zurechenbarkeit steht indes bereits am Anfang der Argumentationskette, denn eine spezifische Norm gibt es der Theorie nach schon gar nicht, wenn der potentiell geeignete Adressat fehlt. In der Theorie bedeutet es immense Abweichungen in der Schuldfrage, denn nicht mehr die Vorwerfbarkeit des Unrechts steht im Raum, sondern die der Handlung. Unrecht ist begrifflich ohne Schuld nicht denkbar. Praktisch kann zu vorherigen Konzepten allerdings keine nennenswerte Differenz entstehen, wenn inhaltlich die Vorwerfbarkeit das Maß der Schuld bleibt.656 Über Umwege verweist das vorwerfbare Unrecht natürlich auch auf eine vorwerfbare Handlung. So konzentriert sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Spielart der Vorwerfbarkeit letztlich auf die Grundprämisse der Lehre.657 Auf eine 655 Vgl. auch Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (319); Renzikowski, ARSP-Beiheft 104 (2005), S. 115 (133). 656 Eine Sonderrolle nimmt Hoyer, Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann (1998), S. 84 ff. ein, der auf der Imperativentheorie aufbauend sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen dem Unrecht zuschlägt, die „Schuld“ dagegen nach dem Gedanken kriminalpolitisch sinnvoller Bestrafung modellieren will (S. 90 ff.). Das ist im Kern die funktionelle Schuldlogik, dazu sogleich. Hoyer selbst will den Begriff der Schuld dafür aufgeben und durch die Verbrechensstufe der Strafzweckmäßigkeit ersetzen, (S. 119 f.). 657 Die einst als „wichtigster dogmatischer Fortschritt der letzten zwei, drei Menschenalter“ (Welzel, JuS 1966, S. 421) gerühmte Trennung von Unrecht und Schuld ist in der wissenschaftlichen Debatte durchaus wieder streitbar geworden. Siehe zur Diskussion außer den in Fn. 653 genannten auch AK-StGB/Schild, Vor § 13 (1990), Rn. 64 ff.; Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 (864 f.), beide in Annäherung an den Hegelschen Straftatbegriff; Greco, GA 2009, S. 636 (642 ff.); Hoyer, Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann (1998), S. 84 ff.; Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994), S. 258 ff., 328 f.; Loos, FS Maiwald (2010), S. 469 (477 ff.); Pawlik, FS Otto (2007), S. 133 (140 ff.); ders., FS Paeffgen (2015), S. 13 (17); Renzikowski, in: ARSP Beiheft 104 (2005), S. 115 (133 ff.); B. Schünemann, Coimbra-Symposium (1995), S. 149 (158 ff.); Sinn, FS Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 321 (323 ff.). Diese Grundsatzfrage zeitigt auf den ersten Blick tiefgreifende Konsequenzen. Nicht jede Rechtsfolge nimmt auf die Schuldhaftigkeit einer (Straf-)Tat Rücksicht. Mit B. Schünemann, GA 1986, S. 293 (302), kann man drei Funktionen dieser Auftrennung beobachten: ein Irrtum in Bezug auf eine Entschuldigungssituation wirkt sich anders aus als ein Tatumstandsirrtum („Irrtumsfunktion“), im Teilnahmebereich wie im Maßregelrecht wird nur auf die rechtswidrige Tat abgestellt („Akzessorietäts-funktion“ bzw. „Zweispurigkeitsfunktion“). Das hat aber genau genommen nur heuristischen Wert. Denn das System wirft in der Gestaltung auch nur das aus, was vorher hineingesteckt wurde. Eben weil diese Rechtsfolgen als sachgerecht empfunden werden, sind die Systembausteine so auch stimmig gewählt. Nicht gesagt oder nachgewiesen ist damit, dass diese Ergebnisse sich nicht auch anders über andere Argumentationsmuster erzielen lassen (dazu Pawlik, FS Otto, a. a. O., S. 148 ff.); soweit jene Ergebnisse denn überhaupt überzeugend sind. Letzteres wird insbesondere im Bereich der Irrtumsdogmatik moniert, an anderer Stelle bieten die fließenden Übergänge von Täterschaft
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
gesonderte Positionierung im Spektrum der Typen der Vorwerfbarkeit kann deshalb hier verzichtet werden.658 e) Dispositionsschuldlehren Hinter dem hier gewählten Konglomerat der „Dispositionsschuldlehren“ stehen einige heterogene Ideen, die im Prinzip zwingend auseinander gehalten werden müssten, weil sie schon im Ansatz divergieren. Mitunter werden Lehren von Lebensführungs-659 bzw. Lebensentscheidungs-660 und Charakterschuld661 als Synund Beihilfe bzw. von Anstiftung zu mittelbarer Täterschaft Argumentationspotential. Lediglich die Maßregeln scheinen dann ein neuralgischer Punkt im strafrechtlichen System zu sein. Maßregeln sollen ganz klar schuldindifferent sein. Allerdings muss man die Frage gestatten, inwieweit es beim Maßregelrecht überhaupt noch um genuin strafrechtliche Sanktionen (vs. polizeirechtliche Maßnahmen!) geht. Auf der anderen Seite sind die Maßregeln selbst auch ein Beispiel dafür, dass man den deduktiven Leistungen der gepriesenen Systemarchitektur nicht ganz trauen will. Dies mag die (eigentlich systemwidrige!) Frage, ob ein defektinduzierter Irrtum i. S. v. § 16 StGB eine rechtswidrige Tat i. S. v. § 63 StGB ausschließen kann, eindrucksvoll belegen. Die (umstr.) Rspr. verneint dies; entsprechende Nachweise bei StGB-Fischer 67(2020), § 63 Rn. 3, des Weiteren Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 77 II 2a, S. 808 f. Dieser kleine Exkurs soll mit dem Hinweis schließen, dass man sich einem Irrglauben hingibt, wenn man postuliert, ein Strafrecht könne nur so und nicht anders sein. Eine endgültige und unbedingte Axiomatik (im philosophischen Sinne) eines Strafrechtssystems kann es bei Verzicht auf ontologische Wahrheiten nicht geben. Von daher verliert man sich schnell im Karussell von These-Erwiderung-Replik-usw. Die dabei sprießenden rhetorischen Stilblüten (bspw. „die Äußerungen eines Geisteskranken bedeuten dem Recht soviel wie Sonne oder Regen“, bei T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 116) sind letztlich nach dem dazu gehörigen Maßprinzip zu bewerten: nämlich ihrer rhetorischen Überzeugungskraft. 658 T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 117, übernimmt bspw. inhaltlich die „klassische“ Position des BGH. Wenn das individuelle Handlungsvermögen überhaupt der einzige Verbrechensbaustein sein soll, ist dies auch mehr als naheliegend. Eine Gleichsetzung zur Position zu a) ist allerdings vom theoretischen Ausgangspunkt nicht zwangsläufig. Eine Verbindung mit Gesinnungslehren oder der Bezug auf den Typus einer „Lebensführungsschuld“ bleibt daneben selbstverständlich offen, wenn auch gegenwärtig, soweit ersichtlich, derzeit nicht vertreten. 659 Bspw. Mezger, ZStW 57 (1938), S. 675 (688 ff.); Hall, ZStW 70 (1958), S. 41 (46 f.). 660 Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht Teil 2 (1941), S. 153 ff. Ähnlich auch Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), S. 220 (242 f.): Schuld heißt „Einstehenmüssen für die Persönlichkeit […], Persönlichkeit als Ausdruck der Entscheidung des Menschen über sich selbst“. 661 Engisch, ZStW 61 (1942), S. 166 (174); ders., ZStW 66 (1954), S. 339 (363); ders., Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart (1963), 2 (1965), passim; ders., MschKrim 50 (1967), S. 108 ff.; Graf zu Dohna, ZStW 66 (1944/54), S. 505 (508 f.); Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 57 (71 ff.); Eb. Schmidt, FS für Julius von Gierke, (1950), S. 201 (230); ders., ZStW 66 (1957), S. 359 (387). Rein pathologisch motiviert bei Rahn, SJZ 1947, S. 534 (535 f.); ders., JZ 1954, S. 316. Die Charakterschuldlehren rezipiert bei bei B. Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, in: Lüderssen, Klaus/Fritz Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980, S. 87 (103 ff., 124). Aus jüngerer Zeit etwa Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 96 ff.; 113 ff. Zu letzterem eingehend R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (745 ff.).
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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onyme betrachtet, die auf dem Gedanken des Täterstrafrechts fußen würden. Das führt deswegen häufig zu einseitiger Assoziation mit nationalsozialistischem Rechtsverständnis. Diese ist aber in mehrfacher Hinsicht ungenau. aa) Die Anfänge einer Dispositionsschuld liegen bei Franz v. Liszt begründet: die sich im Charakter offenbare Gefährlichkeit bilde den materiellen Kern der Schuld.662 Das Bestreben seine kriminologischen Ansichten und seine Strafrechtsdogmatik miteinander zu vereinbaren, liegt dabei auf der Hand. Die häufig anzutreffende, einseitige Assoziation mit dem Nationalsozialismus verfremdet daher die historischen Gegebenheiten. § 20a RStGB663, der paradigmatisch für das Konzept eines Täterstrafrechts stehen soll, speiste sich aus langen Vorarbeiten664 und entsprang nicht originär nationalsozialistischer Weltanschauung. Richtig ist allerdings, dass zeitgenössische Autoren versucht haben, diese Vorschrift in ein Modell einer Lebensführungsschuld zu pressen.665 Hier galt es Täterprinzip der NS-Ideologie und Schulddogma zu vereinbaren. Aber schon in jener Zeit vermochten diese Versuche rein dogmatisch nicht zu überzeugen.666 Lebensführung an sich kann kein legitimer 662 Liszt/Schmidt, Lehrbuch 25(1927), S. 216 f.; 26(1932), S. 231; s. auch die weiteren Nachweise bei Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedanken (1967), S. 22 in Fn. 85. 663 § 20a RStGB: (aufgehoben durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts v. 25. 6. 1969, BGBl I S. 645) (1) 1Hat jemand, der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen. 2Die Strafschärfung setzt voraus, daß die beiden früheren Verurteilungen wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens ergangen sind und in jeder von ihnen auf Todesstrafe, Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten erkannt worden ist. (2) Hat jemand mindestens drei vorsätzliche Taten begangen und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen im Abs. 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. (3) 1Eine frühere Verurteilung kommt nicht in Betracht, wenn zwischen dem Eintritt ihrer Rechtskraft und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. 2Eine frühere Tat, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt ist, kommt nicht in Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. 3In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in der der Täter eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. (4) Eine ausländische Verurteilung steht einer inländischen gleich, wenn die geahndete Tat auch nach deutschem Recht ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen wäre. 664 E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3 S. 431. Vgl. auch Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 295. Zu den einzelnen Etappen der Maßregeln, die dem Liszt’schen Leitbild des Gewohnheitsverbrecher folgen, a. a. O., S. 157 ff. (VE 1909); S. 171 (KE 1913 u. E 1919); S. 175 (ME 1922); S. 180 (E 1925 u. E 1927). 665 Allen voran Mezger, Nachweis bei Fn. 524. 666 Die Rechtsfigur der Lebensführungsschuld hatte insgesamt keinen brauchbaren Erklärungswert und muss als Verlegenheitskonstruktion gelten. Zur Kritik schon aus zeitgenössischer Sicht eingehend Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht 2. Teil (1940), S. 131 ff.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
Gegenstand strafrechtlicher Haftung sein. Man mag sich dies – möglicherweise – als ethische Kategorie vorstellen können.667 Aber damit würde die kategoriale Trennung von Recht und Moral missachtet werden. Eine Bilanz über menschliche Biographien zu ziehen ist nicht der Anspruch des Strafrechts. bb) Die Lehre von der Lebensentscheidungsschuld entfernt sich von diesem Ansatz marginal. In der Entscheidung zum Verbrecher vollzieht der Verbrecher die „Wendung zum Bösen, die über das Unrecht der einzelnen Tat hinausreicht, [sie] macht den Täter verantwortlich.“668 Hier wird zwar punktuell auf eine Entscheidungssituation abgestellt, in der der Täter entweder seine falsche Prägung erlangt oder eben seine Anlagen nicht erfolgreich pariert hat. Im Gegensatz zur Lebensführungsschuld, die bilanzierend sämtliche Momente des Lebens festhält, glaubt Bockelmann, die Sache damit auf einen Unrechtskern reduzieren zu können. Das Leben wird quasi vom Dauerdelikt (Mezger) zum Erfolgsdelikt (Bockelmann). Insgesamt wird damit aber nur terminologisch Boden gut gemacht. Auch auf diesem Wege holt man eher die Symptomatik der Tat für eine Persönlichkeit ein, als dass man gezielt einen (schuldhaften) Entscheidungsprozess darstellen, geschweige denn beweisen kann.669 Es dürfte auch nicht machbar sein, eine Indizkonstruktion für das Strafrecht fruchtbar zu machen. cc) So gibt es denn auch Versuche, eine Einstandspflicht für den eigenen Charakter im Generellen zu postulieren. Die Charakterschuld auf deterministischer Grundlage kann mit Schopenhauer670 und Aristoteles671 auf prominente philosophische Vorläufer verweisen. Das Modell einer solchen Charakterschuld antwortet auf die Unsicherheit in Sachen der freien Willensbestimmung mit einer Haftung der Persönlichkeit.672 Wenn schon die Tat als notwendige Folge der Konstitution des 667
So bei Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2(1976), S. 189 f. Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht 2. Teil (1940), S. 153. 669 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2(1976), S. 190. Zu Bockelmann bereits Engisch, Zur Idee der Täterschuld ZStW 61 (1941), S. 166 (177). 670 Nachweise bei Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit 2(1965), S. 46 ff. 671 Den Verweis findet man z. B. Welzel, ZStW 60 (1941), S. 428 (459 f.). 672 Vgl. B. Burkhardt, Lüderssen/Sack (1980), S. 87 (103). Die Konstruktion variieren hier beträchtlich. In gewisser Vereinfachung kann man sagen, dass regelmäßig ein Regressmodell betrieben wird. Ein Rückgriff auf die Schuld abseits der konkreten Tatsituation ist über die sogewordene Persönlichkeitsstruktur stets möglich. Inwieweit Pathologien und situative Konstellation dann zur Sprache kommen können, hängt vom einzelnen Autor recht individuell ab. So stellt Welzel, ZStW 60 (1941), S. 428 (435 ff., 464) auf das Persönlichkeitsschichtenmodell Rothackers ab und sucht nach Gründen für die Haftung in tiefenpsychologisch fundierten Motiven – bemüht aber bei der Regresslogik gleichwohl das individuelle Steuerungsvermögen. Heinitz – dem Schichtenmodell nahestehend – nuanciert diese „Charakterschuld“ und fragt nach der Persönlichkeitsadäquanz. Je mehr sich in der Handlung die Persönlichkeit manifestiere desto schuldhafter sei diese, in: ZStW 63 (1951), S. 57 (71 ff.). In dieser Fassung scheint diese Ansicht die „Brückenfunktion“ zur Gesinnungsschuld zu bilden. Die Modelle für untauglich unter dem Licht der neurowissenschaftlichen Forschung hält Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (65 f.). 668
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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Täters zu betrachten ist, so kann doch dieses Faktum dem Täter angelastet werden: „Das Motiv entlastet, der Charakter belastet“.673 Der Vorwurf kann sich im Grunde nur darauf beziehen, dass man zu dem geworden ist, was man ist. Zu unterscheiden wären dann eigentlich wiederum schicksalhafte von schuldhaften Verstrickungen. Die praktische Problematik trifft sich mit den oben erörterten Lehren. In Differenz zu Lebensführungs- und Lebensentscheidungsschuld soll es nach Engisch674 genau darauf aber nicht ankommen. Die „echte“ Charakterschuld blendet den Aspekt des Dafür-Könnens aus. Eine Einstehenspflicht, ohne Rücksicht auf einen etwaigen Ursprung müsste aber wohl konsequenterweise als Haftung ohne Vorwurfsintention ausgestaltet werden.675 Ferner wird die Kategorie der Schuldunfähigkeit generell fraglich.676 Zwei Grundsatzprobleme konterkarieren dabei nämlich die innere Logik. Zum einen ist unklar, warum eine genetische Anlage gegenüber (nur) empfangener Krankheit belasten kann. Dass sich zum anderen Pathologie gedanklich stets von der Persönlichkeit abstrahieren lässt,677 ist als Aussage in dieser Allgemeinheit sicher nicht gültig.678 Krankheiten oder Gebrechen kann überdies die Erlebniswelt eines Menschen durchaus verändern. Es ist das Erlebte, was den Charakter nachhaltig prägt. Die Hilfserwägung, dass in bestimmten Fällen mangels Strafempfänglichkeit und -bedürfnis eine Strafe keinen Sinn ergebe,679 verweist dagegen eindeutig auf (spezial-)präventive Überlegungen.680 Mit dem Konzept der Charakterschuld besteht da in der Theorie gar kein Berührungspunkt. Dass dies terminologisch unter dem Begriff Schuld darstellbar ist, ist im Grunde ausgeschlossen.681 673 Engisch, ZStW 66 (1954), S. 339 (357); zurückgehend auf M. E. Mayer, Schuldhafte Handlung (1901), S. 190. 674 Engisch, MschKrim 50 (1967), S. 108 (110); ders., Die Lehre von der Willensfreiheit (1963), 2(1965), S. 50; ders., bereits auch ZStW 61 (1942), S. 166 (171 ff.). 675 Das übersieht (resp. ignoriert), Engisch bei den genannten Veröffentlichungen vollends, wenn er in seinem Konzept den Begriff des Vorwurfs aufrechterhält. Mit der herkömmlichen Semantik ist das nicht zu vereinbaren. 676 Ebenso Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2(1976), S. 190; Roxin, Strafrecht AT 1 4 (2006), § 19 Rn. 31. Die Hinfälligkeit bestreitet Engisch, MschKrim 50 (1967), S. 108 (116 f.). 677 Zu den beiden Aspekten: Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart (1963), 2(1965), S. 57 f.; siehe auch Anm. zuvor. Großzügiger gar noch ders., ZStW 66 (1954), S. 339 (362 f.): der Gesetzgeber solle „Mut zum scheinbaren Widerspruch“ haben dürfen. 678 Gegen die Dichotomie Charakter-Krankheit auch R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (747 ff.). 679 Engisch, a. a. O. 680 B. Burkhardt, Lüderssen/Sack (1980), S. 87 (115). 681 Offengelassen bei Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 19 Rn. 30 und B. Burkhardt, Lüderssen/Sack (1980), S. 87 (111); Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 222. Anders jedoch Engisch, MschKrim 50 (1967), S. 108 (111), der einen Vorwurf auch im Hinblick auf die prospektive Wirkung erheben will: „Die spezifische Eignung der Strafe zur Charakterbildung wird […] vorausgesetzt.“ So wie hier Ebert, FS Kühl (2014), S. 137 (149 f.).
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
dd) Ein Abstellen auf Dispositionsschuld lässt sich also nach alledem in diesem Kontext bereits vorab verwerfen. Entweder fehlt ein adäquater Anknüpfungspunkt für das kontemporäre Tatstrafrecht oder aber es wird ein soziales Haftungsmodell vorgeschlagen, das im Grunde den Typus der Vorwerfbarkeit aufgibt und mit Anleihen am Begriff der Schuld völlig falsch bezeichnet ist. Insgesamt verbirgt sich dahinter nur der verfehlte Versuch, Schuldstrafrecht und Gefährlichkeitsschutzrecht auf einen Nenner zu bringen.682 2. Schulddefinition über deren Funktionalität („Funktionale Schuldlehren“) Unter der Überschrift „funktionale Schuldlehren“ sollen alle Schuldlehren versammelt werden, deren Inhalt sich (allein) nach dem Zweck bestimmt. Zweck in dieser Hinsicht bezeichnet dabei zweierlei: einmal abstrakt die gesellschaftliche Funktion, die eine Begriffsbildung zur Schuld zu erfüllen hat und zum zweiten in konkreter Weise die Integration dieser Aufgabe des Strafrechts in den Schuldbegriff. Es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Funktionalität (oder Zweckrationalität) allein kein gültiges Unterscheidungskriterium im Bereich der Schuldlehren ist. Jeder Schuldlehre dürfte ein Zweckverständnis immanent sein, denn eine Sinnfreiheit strebt selbst kein metaphysisches Modell an, so dass ein geistiges Band zur allgemeinen Strafrechtszwecktheorie geknüpft wird und somit auch Funktionalität in abstrakter Form immer vorherrscht. Deutlicher wird die Unterscheidungskraft schon in einer konkreten Betrachtungsweise, nämlich nach ihrer Integration der Aufgabe des Strafrechts in die Begrifflichkeit der Schuld. Genauer gesagt geht es um die (general-)präventiven Anteile an der Begriffsbildung. Generalprävention erklärt sich letztlich (wenigstens in der Theorie) über ihre Wirkung am gesellschaftlichen Kollektiv. Das unverwechselbare Kennzeichen jeder „funktionalen“ Schuldlehre ist damit der Perspektivenwechsel in der Methodik.683 Nicht mehr das Individuum ist der Ausgangspunkt der Schuldbetrachtung, sondern die Gesellschaft an sich. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied zu Individualschuldlehren mit lediglich „generalpräventivem/soziologischem Einschlag“. Referenzsubjekt bleibt dort immer das Individuum, nur die inhaltliche Konkretisierung der Vorwerfbarkeit geschieht mittels Modellierung einer speziellen Maßfigur aus der Gesellschaft. Man bedient sich bloß eines analogen Verfahrens zur Erkenntnis einer wie auch immer verstandenen Individualschuld. Die Makroperspektive der funktionalen Schuldlehren will dagegen anderes. Der Schuldbegriff wird vom System (Gesellschaft) her interpretiert und konstruiert. In einem Folgeschritt bedeutet dies, dass es auf das Individuum für die Schuldkon682
So auch Mushoff, Strafe – Maßregel- Sicherungsverwahrung (2008), S. 168; s. bereits Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: HB der Grundrechte III/2 (1959), S. 941. Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung (1963), S. 18 ff. 683 S. auch Maiwald, FS Lackner (1987), S. 149 (150 ff.).
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struktion (eigentlich) nicht mehr ankommt. Die Schuldlehre dockt dann gewissermaßen argumentativ an die Systemtheorie der Soziologie an. Dies ist der Kern und innovative Ansatz eines funktionalen Schuldverständnisses. In der Konsequenz wird der klassische, „normative“ Ansatz, der Bezug auf die individuelle Vorwerfbarkeit einer Tat, zurückgedrängt. Schuld kann nicht festgestellt, sondern nur festgeschrieben werden.684 Insofern ist die terminologische Opposition zum dogmenhistorischen normativen Schuldbegriff zwar berechtigt. Gleichwohl arbeitet ein solches Konzept ausschließlich mit normativen (askriptiven) Begriffen und muss dies im Grunde auch. Im Ausgangspunkt hat die Schuld damit einen reinen instrumentellen Charakter: Schuld im Rechtssinne ist zu verstehen im Hinblick auf einen erwünschten Zielzustand; hat mithin dienenden Charakter. Dieser erstrebte Zielzustand deckt sich (regelmäßig) mit der präventiven Aufgabe des Strafrechts, dem Rechtsgüterschutz.685 Die Identität von Schuld und Zweck verheißt im ersten Zugriff einen elementaren Vorzug: Die Vorwerfbarkeit kann im Begriffssystem als unerheblich eliminiert oder zumindest neu deklariert werden. Die Einwände am Schuldgedanken, die in der Hauptsache im Hinblick auf eben diese traditionelle Vorwerfbarkeit formuliert werden, dringen gegen diese Imprägnierung nicht durch. Gleichzeitig ist über den Zweck die Legitimation der Schuldpraxis abgesichert. Ein Gelingen dieser Integration vorausgesetzt, eröffnete dies eine hervorragende Perspektive. Alle Aussagen zur Schuld wären also bis zur Letztbegründung auf das nächsthöhere Prinzip (Generalprävention) zurückzuführen. Einer solchen Konstruktion gelänge dann die Verwirklichung eines wissenschaftlichen Ideals, nämlich einer axiomatischen Deduzierbarkeit des gesamten Strafrechtssystems. Im Folgenden sollen exemplarisch funktionale Schulddeutungen anhand ihrer profiliertesten – gewiss nicht ihrer einzigen686 – Vertreter aufgezeigt werden. a) Der systemtheoretische Schuldbegriff (G. Jakobs) Jakobs entwickelt seine Schuldkonzeption im Anschluss an die Systemtheorie Luhmanns.687 Seine Grundidee besteht in der Ankopplung des Schuldbegriffs an die 684
Neumann, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. 1 (1998), S. 391 (396). 685 Pointiert Frister: „die Schuld begründet nicht mehr die Zulässigkeit der (zweckmäßigen) Bestrafung, sondern die Zweckmäßigkeit der Bestrafung begründet die Schuld“, in: Schuldprinzip (1988), S. 17. 686 Neben den jeweils genannten Personen haben generalpräventive Deutungen der Schuld zahlreiche weitere Anhänger, nahestehend etwa Achenbach, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 135 (144); H.-L. Schreiber, in: Immenga (Hg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (1980), S. 281 (287 f.). Der Darstellungsfortgang soll nicht mit der Frage, wer sich im Detail um welchen Gedankengang verdient gemacht hat, überfrachtet werden, so dass mit der Auswahl der Autoren keine abschließende qualitative Aussage einhergeht. 687 Die entsprechenden Referenzen finden sich bei Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 9 f.
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generalpräventive Straftheorie.688 Schuld bewegt sich gestreng nach Luhmann’scher Denkweise in einem autopoietischen System. In Übertragung der Ideen wird die Schuld allein der Systemstabilität (Gesellschaft) nach generalpräventiven Bedürfnissen zugeschrieben. Die einzelnen Schuldinhalte seien daher zweckbestimmt auszudeuten.689 Schuld werde damit zum „Derivat der Generalprävention“.690 Generalprävention versteht Jakobs als „Einübung in Rechtstreue“ zum Zwecke der „Stabilisierung des Ordnungsvertrauens“ der Bevölkerung.691 Soweit die Erwartungsenttäuschung der Gemeinschaft über den Normbruch nicht anders verarbeitet werden könne, werde diese Enttäuschung über die Strafe kompensiert. Schuld folge insgesamt einer Logik der Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinschaft und Individuum für das geschehene Unrecht.692 Schuld sind dann diejenigen motivatorischen Gründe, für die der Täter als zuständig angesehen werden kann;693 im Übrigen trägt die Gesellschaft das deliktische Ereignis als „Zufall“694. Diese Abschichtung von Zuständigkeitssphären sei dann ein Aushandlungsprozess einer jeweils konkreten Gesellschaft, d. h. vom Zustand der je aktuellen695 Gesellschaft hängt es ab, welche Situationen und Verhaltensweisen akzeptabel als „ohne Schuld“ codiert werden können. Dieses Zuständigkeitsdenken rührt aus einem synallagmatischen Verständnis politischer Freiheit her: die Kehrseite politischer Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat ist die Einhaltung des (gesellschafts-) vertraglichen Anspruchs von Normentreue.696 Schuld wird also an die Idee des Bürgers geknüpft.697 Formal verworfen wird damit gleichzeitig die klassische Li688
Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 3 ff. Schuld und Prävention (1976), S. 14; ders., ZStW 118 (2006), 831 (839 f.). 690 Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 32. 691 Expressiv verbis zur „Einübung“ Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 1/17. Inhaltlich zuvor schon ders., in: Schuld und Prävention (1976), S. 24. Die systemtheoretische Generalprävention rezipiert bei Hauschild, Die positive Generalprävention und das Strafverfahren (2000), S. 115 ff. 692 Zum Ganzen, Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 17/21 f.; ders., in: Dieter Henrich (Hrsg.), Aspekte der Freiheit (1982), S. 69 (73 f.) sowie ders., ZStW 118 (2006), 831 (841). 693 Zum Verbotsirrtum Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 17/21; für § 20 StGB s. ders., in: Göppinger/Bresser (Hrsg.), Sozialtherapie (1982), S. 127 (128). 694 „Sinn vs. Natur“ in Worten Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 (863 f.), ders., System der strafrechtlichen Zurechnung (2012), S. 59; bzw. ders., FS Kühl (2014), S. 281 (285): Nur das Sinnhafte habe Kommunikationscharakter, im Übrigen gehe es um Natur; zust. Haddenbrock, GA 2003, S. 521 (530). Übersetzt meint dies wohl, dass lediglich das Sinnhafte die Norm verletzen kann. Der Unzurechnungsfähige kommuniziere nicht, dazu Jakobs, in: ZStW 107 (1995), S. 843 (864). Letzteres trifft m. E. in Pauschalität sicher nicht zu. Gerade wenn man Kommunikation vom Empfänger her denkt, kann es zu – wenn auch verzerrten – Botschaften kommen. 695 Dieser Hinweis jüngst bei Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft 3(2008), S. 99; ders., FS Kühl (2014), S. 281 (288). 696 Jakobs, Das Schuldprinzip (1993), S. 29, 35. 697 Jakobs sucht in jüngerer Vergangenheit mit seiner Idee der Person Anschluss an die Rechtsphilosophie Hegels, vgl. ders., Das Schuldprinzip (1993), S. 27 f.; in deutlichster Form: 689
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mitierungsthese der Schuld, die aber Jakobs zufolge ins Leere greifen muss. Denn stelle man Schuld außerhalb des straftheoretischen Ansatzes könne es kein positives Argument für eine bestimmte Strafe mehr geben, da sich Schuld dann nicht zur präventiven Aufgabe verhalten könne. Entweder gingen Schuld und Prävention konform – mit der Folge der Obsoleszenz der Limitierungsthese – oder eine Schuldstrafe ohne präventives Anliegen müsse sich vor der eigentlichen Aufgabe als ineffektiv erweisen.698 Stützen seiner Thesen findet Jakobs in der vielfach offenen Normativierung von vorgeblich psychischen Schuldsachverhalten, namentlich in Bekräftigung der Schuld von Gewohnheitsverbrechern trotz habitualisierter Enthemmung, der selektiven Auswahl bestimmter Defekte im Bereich des § 20 StGB sowie der Ausschluss von Entschuldigung (§ 35 Abs. 1 S. 2 1. HS 2. Alt.) aufgrund sozialer Verpflichtung trotz identischer psychischer Belastungssituation.699 b) Der sozialpsychologische Schuldbegriff (F. Streng) Streng700 deutet die Schuld generalpräventiv-sozialpsychologisch: Schuld reflektiere die innerpsychologischen Stabilisierungsbedürfnisse eines jedes Einzelnen.701 Strafe ist dann der Ausdruck des tiefenpsychologisch fundierten Wunsch nach Vergeltung seitens der Bürger im Hinblick auf den Normbruch innerhalb ihrer verletzten Werteordnung.702 Die Gemeinsamkeiten zum systemtheoretischen Modell sind unverkennbar. Wie bei Jakobs bestimmen die Anforderungen der Sozialgemeinschaft den Schuldbegriff, nur erschöpft die Schuldbetrachtung sich nicht in diesem Befund, sondern wird quasi auf das Individuum wieder „heruntergebrochen“. Die soziologische Rechtsanalyse Jakobs’ wird um die Perspektive der (Tiefen-)Psychologie ergänzt und erweitert.703 Das ist vom Grundgedanken mit den Ideen Jakobs durchaus kompatibel, ändert aber die Ausrichtung an einem Punkt: anstelle der Systemstabilisierung an sich geht es hier konkret um die Bedürfnisbefriedigung des Bürgers. Das Individuum wird in die Schuldkonzeption zurückgeholt. Das macht das Ganze aber noch nicht zur Schuld
„Handlung als sich schuldig machen“, Zitat aus Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff (1992), S. 41 ff. (44); ders., Norm, Person, Gesellschaft 3(2008), S. 87 ff.; sowie ergänzend in (historischer Perspektive); ders., Staatliche Strafe (2004), S. 28 f. 698 Zum folgenden Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 4 ff. sowie ders., Das Schuldprinzip (1993), S. 8. 699 In der Abfolge der Beispiele, Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 15, 18, 21. 700 Zum Folgenden Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 (642 ff.); ders., ZStW 101 (1989), S. 273 (287 ff.); MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 23. 701 Etwa auch Haffke, MschrKrim 58 (1975), S. 40 (53 f.). Zur tiefenpsychologischen Fundierung der Generalprävention s. ders., Tiefenpsychologie und Generalprävention (1976), S. 44 ff. 702 Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 (656 f., 660); Streng, ZStW 101 (1989), S. 273 (288). 703 Vgl. Streng, JRE 13 = FS Hruschka (2005), S. 697 (710).
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aus der Sicht des Individuums.704 Die einzelnen Vergeltungsbedürfnisse werden nämlich kollektiviert zu einem Ganzen. Das verhält sich in etwa wie ein Mosaikstein zum Gesamtbild. Mit dem Rückbezug auf ein „reales“ Substrat (Rechtsgefühle der Bürger) will diese Ansicht indes dem regelmäßig gegen funktionale Lehren erhobenen Einwand der Verwendung reiner, leerer Begriffshülsen entgehen. Im Gegensatz zu Jakobs gibt sich so verstandene Schuld prinzipiell nicht empirieimmunisiert. Ein konkreter Stabilisierungserfolg muss zur Erforschung ausgerufen werden. Ferner spielen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger in der Schuldfrage ausdrücklich eine Rolle.705 Das häufig beklagte Wertevakuum eines reinen Funktionalismus soll damit vermieden werden. Auf diese Weise werden nun Brücken zum traditionellen Schuldbegriff gebaut. Relativ offenkundig wird hier das retributive Element kommuniziert, welches aller Bekundungen zum Trotz jeglicher Generalprävention zugrunde liegt.706 Daneben findet über den „normalen“ Bürger freilich auch „das Freiheitsbewusstsein“ Eingang in die Wertung. Das eigene Freiheitserlebnis wird als Beurteilungsschema für andere Menschen genutzt.707 Das wiederum nähert sich in der Sache dem Prinzip der „normativen Ansprechbarkeit“. c) Der diskursive Schuldbegriff (U. Kindhäuser, K. Günther) Die Rezeption der Diskursethik708 hat den Boden für dieses Schuldverständnis bereitet. Die innere Verbindung von Schuld und der Legitimität der Norm soll dabei herausgestellt werden.709 Schuld reguliert sich dann über den Demokratieprozess. Soweit „Schuld als Mangel rechtstreuer Motivation“710 definiert wird, steht es der Variante „Manko an Rechtstreue“ in Person Jakobs711 schon terminologisch sehr nahe. Inhaltliche Verwandtschaft zur systemtheoretischen Schuldlehre ist erkennbar, wie gleichwohl die Idee der demokratischen Fundierung für den systemtheoretischen Ansatz eine attraktive Begründungsstütze findet. Fernab unverkennbarer Wechselwirkung steht die in dem Zusammenhang wichtige Erkenntnis, dass die Schuldbasis im Demokratieprinzip jedenfalls über das (Gesellschafts-)System abgesichert ist. Schuld trägt folglich nach hiesigem Ver704
Der klassische individualethische Zugang bleibt verworfen; s. auch Streng, ZStW 101 (1989), S. 273 (282). 705 Als „straflimitierende“, indirekte Schuldaspekte, vgl. Streng, ZStW 101 (1989), S. 273 (289, 292). 706 Kalous, Positive Generalprävention durch Vergeltung, (2000), S. 141, 147, 251, s. auch Streng, JRE 13 = FS Hruschka (2005), S. 697 (711), selbst. 707 Streng, JRE 13 = FS Hruschka (2005), S. 697 (713). 708 Zur rechtsphilosophischen Diskursethik innerhalb der Schulddogmatik s. oben II. 1. b) dd). Es soll deswegen bei kurzen Anmerkungen bleiben. 709 Kindhäuser, Strafrecht AT 7(2015), § 21 Rn. 9; ders., FS Hassemer (2010), S. 761 (762, 773); ders., ZStW 107 (1995), S. 701 (713). 710 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (725 f.); ders., FS Schroeder (2006), S. 81 (91). 711 Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 17/18.
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ständnis auch Systemcharakter. Diese Bezugnahme wird von ihren Vertretern in aller Regel zwar nicht gezogen. Dies mag auf die teilweise pejorative Konnotation oder auch im Bemühen um Eigenständigkeit zurückzuführen sein. Die Tragfähigkeit der Argumentation, das muss an dieser Stelle angemerkt werden, ruht indes gerade entscheidend auf ihrem Systemcharakter. Die Ausgestaltung der Schuld im Detail kann in unterschiedlicher Intensität (auch) auf das Individuum zurückgeführt werden.712 Das ändert aber nichts daran, dass demokratietheoretisch Schuld über das Kollektiv kodiert wird. Eine Besonderheit ergibt sich in diesem Kontext dagegen, wenn man den „Sachgrund der Schuld […] in der Fähigkeit des Einzelnen zur Teilnahme an der Kommunikation über Normen“713 benennt. Dann müsste man konsequenterweise nach den realen Möglichkeiten dieser Kommunikation fragen. Dabei geht es primär nicht um über das praktische Problem, was der einzelne Bürger konkret in einer Demokratie verändern kann. Selbst in Vorstellung einer idealen Ausgangslage fordert ein solches Schuldverständnis erhebliche Brüche im Gesamtrechtssystem heraus. Wenn es tatsächlich darauf ankommen soll, ob der Einzelne am diskursiven Prozess teilnehmen kann, dann müsste die Schuld(fähigkeit) des Einzelnen von seiner „Diskursfähigkeit“ abhängen.714 Abgesehen davon, dass es einen solchen Rechtsbegriff der „Diskursfähigkeit“ (noch) nicht gibt, ist zweifelhaft, ob eine Rechtsordnung ernstlich davon Gebrauch machen würde. Das Wahlrecht zum deutschen Bundestag als praktisches Beispiel erhärtet diese Zweifel. Das deutsche Wahlrecht kennt in Form von Art. 38 Abs. 2 GG und § 13 BWahlG715 zwar auch Ausschlüsse von der Wahlberechtigung. Kongruenz zur strafrechtlichen Haftung weisen diese gerade aber nicht auf. Geht man davon aus, dass Strafmündigkeit und die Beschränkung im Wahlrecht genau für jene Altersgrenzen begründet sind, dann geht das Konzept schon nicht auf.716 Eine kollektive Orientierung erscheint mir da 712 So tendenziell noch bei Kindhäuser, in: GA 1989, S. 493 (499): „Schuld als personales Versagen“. 713 So geschehen von B. Schünemann bei Zieschang, ZStW 107 (1995), S. 907 (911), Hervorhebung nicht im Original. 714 So tatsächlich K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit (2005), S. 256: „Ohne solche Verfahren keine Normbefolgungspflicht und auch keine Schuld im Falle der Normverletzung!“ 715 § 13 Ausschluß vom Wahlrecht Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, 1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfaßt, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet. 716 De lege ferenda schließt das eine Harmonisierung sicher nicht aus. Im Einzelnen müsste das Schuldkonzept also noch verfeinert werden. Abwegig ist ein solcher Gedanke sicherlich nicht, wie auch § 13 Nr. 3 BWahlG Interdependenzen von Strafrecht und Wahlrecht aufzeigt.
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insoweit unausweichlich. Aufgrund dieser ist eine Kennzeichnung als funktionale Schuldlehre, so denn streitbar,717 jedenfalls gerechtfertigt. d) Die grundlegenden Einwände gegen den Funktionalismus Ob der Richter im Alltag der Notwendigkeit einer generalpräventiven Analyse gerecht werden kann oder Überforderung718 droht, kann hier zunächst außen vor bleiben. Die Lösung über einen funktionalen Schuldbegriff befreit den Schuldbegriff von intern-systemischen Problemen. Vorwerfbarkeit ist zumindest ohne theoretischen (Ab-)Bruch zu begründen. Auf der anderen Seite (re)produziert diese spezielle, operative Geschlossenheit ein doppeltes Gefahrenmoment einer jeden Funktionalität. Während schon rein formal die Frage im Raum steht, inwieweit eine rein präventive Ausrichtung sich noch von den Maßregeln distanzieren könne, begegnet die funktionelle Konstruktion in materieller Hinsicht der Not einer argumentativen Letztbegründung mit Selbstreferentialität. Das führt jede Argumentation zwangsläufig in die Nähe einer Tautologie. Wenn Schuld die präventiven Bedürfnisse disziplinieren soll, dann ist die Erforderlichkeit einer Schuldverhängung kein taugliches Begrenzungskriterium.719 Die präventiven Bedürfnisse werden durch eine Schuld begrenzt, die nach präventiven Bedürfnissen gestaltet wird. Die Begrifflichkeit ist notwendig auf das System abgestimmt, so dass ein kritisches Potential der einzelnen Begriffe nicht erwartet werden kann.720 Anstelle der Aufgabe realen Rechtsgüterschutzes stünde nunmehr allein die Systemstabilität eines Normgefüges.721 Das Folgeproblem liegt damit auf der Hand: es mangelt an genuinen inhaltlichen Kriterien der Schuld. In dieser Offenheit steht das System sinnvoller Gestaltung wie auch kriminalpolitischer Manipulation offen. Ohne ein korrektives Gegenprinzip ist das Individuum einer Instrumentalisierung durch ein kollektiv nützliches Schuldsystem im Prinzip schutzlos ausgeliefert. Die angedachte Aber die Begründungsrichtung ist da noch eine andere. Das Wahlrecht folgt gewissermaßen dem Strafrecht und nicht vice versa. Eine Umkehrung des Begründungsgangs wäre möglich, aber ohne historisches Vorbild ein ehrgeiziges Unterfangen. Jedenfalls würde die Begrifflichkeit im Hinblick auf strafrechtliche Konfliktbewältigung evident auf normative Setzungen hinauslaufen, die funktionell gebildet würden. Das ist letztlich der gleiche Zuständigkeitsgedanke wie bei Jakobs. 717 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (712), lehnt eine Klassifizierung als „funktional“ ausdrücklich ab. 718 So bei Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 (352) und Seelmann, Jura 1980, S. 505 (510); relativierend mit guten Gründen Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, (1993), S. 63 f. 719 An diesem Punkt kumuliert sich die Kritik, vgl. auszughaft Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (753); Sch/Sch-StGB/Eisele 30(2019), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 117; Naucke, Wechselwirkung (1985), S. 165 (189); SK-StGB/Rudolphi (38. Lfg. April 2003), Vor § 19 Rn. 1; Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 (362); zur problematischen Usurpationstendenz der Prävention im Allgemeinen NK-StGB/Hassemer/Neumann 5(2017), Vor § 1 Rn. 347. 720 Bock, ZStW 103 (1991), S. 636 (643 f.). 721 So jedenfalls Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (753).
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Schutzfunktion für das Individuum kann der Schuldbegriff in dem Konzept folglich kaum übernehmen, da er systemgebunden gewissermaßen „blind“ für Einzelbelange ist. Diese systembedingte De-Individualisierung solle indes dem Menschenbild und damit der Verfassung widersprechen.722 Gerade aus den leidvollen Erfahrungen kollektivistischer Einheitsideologien des NS-Rechts der deutschen Geschichte mag dieser Ansatz geradezu eine Korrumpierung des Schuldbegriffs ermöglichen.723 Die Exemplifizierung am eifrig vorgetragenen Sprachspiel des Schuldig-Sprechen des „an-und-für-sich Schuldlosen“724 bildet in diesem Kontext die einschlägige Gefahrenvision, die der Funktionalismus aus eigener Argumentation nicht entkräften kann. Die trotzende Annahme, solche Mechanismen müssten die generalpräventive Aufgabe des Strafrechts unterminieren, wird allerdings nur vor dem Hintergrund plausibel, wenn „Common Sense“ Erwägungen als erfahrungsgemäß sowie stillschweigend dennoch vorausgesetzt werden,725 obwohl dessen Immanenz im System nicht sichtbar gemacht wird. Dass ein „Terrorrecht“ nicht grundsätzlich evoziert werden muss, dürfte also damit zusammenhängen, dass die meisten funktionalen Schuldverständnisse verdeckt mit ethisch-gehaltvollen Präsuppositionen, ggf. gar als vorgelagerte Prinzipien vorpositiver Art, operieren.726 Ein solches Vorgehen wiederum lässt am eigenständigen Gehalt des systemischen Ansatzes zweifeln, wenn die Entscheidung letztlich an anderer Stelle getroffen wird. Denn Funktionalität im strengen Sinne kennt kein ethisches Prinzip, an dem die Lösungen an den moralischen Kategorien „gut“ oder „schlecht“ auszurichten wären. Die Überprüfbarkeit am und im System beschränkt sich insoweit auf eine Richtigkeit in Form einer Systemstimmigkeit. Als (dys-)funktional kann nur das ausgewiesen werden, was dem System als Programm vorgegeben wird. Die operative Geschlossenheit des Systems umgeht das Problem der empirischen Validierung, aber um des Preises willen, dass mit einem Konzept (bloß) normativer Richtigkeit der Anspruch der Wahrhaftigkeit aufgegeben wird.
722 Häufig vorgetragener Einwand, s. etwa Krey, Strafrecht AT 1 3(2008), Rn. 644; Schild, in: Müller/Otto (Hrsg.), Damit Erziehung nicht zur Strafe wird (1986), S. 29 (34). In der Pauschalität sicher fraglich, vgl. auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 375. 723 So Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (753, Fn. 40). 724 Dieses Szenario wird immer wieder entworfen, so bei Baurmann, Strafe im Rechtsstaat (1990), S. 109 (137 ff.). Mitunter wird dabei aber nicht klar zwischen Polizei- und Strafrecht getrennt, etwa das „Bürgerkriegsszenario“ bei Baurmann, a. a. O., S. 140. Siehe zum allgemeinen Potential der schuldabsenten Prävention bereits die Nachweise hier bei Fn. 309. 725 Vor allem Frister, Struktur des voluntativen Schuldelement (1993), S. 79 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 10 Rn. 7. 726 Bereits Schöneborn, ZStW 92 (1980), S. 682 (689, 696 f.); ähnlich Maiwald, FS Lackner (1987), S. 149 (165): Schuld müsse es auch prinzipiell dort geben, wo sie unerkannt bliebe.
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3. Kritiker des Schuldprinzips Die Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten des Schuldgedankens haben seit jeher immer wieder Kritik am Schuldstrafrecht an sich hervorgebracht. Bevor die Vorschläge zur Schuldtheorie abschließend bewertet werden, soll die Kritik am Schuldstrafrecht zur Sprache kommen. Sie betrifft die Unsicherheitsrelation des Indeterminismus, den damit eng verbunden ethischen Schuldvorwurf sowie die Herkunft des Schuldgedankens aus dem Vergeltungsstrafrecht im Generellen. Man kann also grundsätzlich drei Dimensionen benennen,727 wobei diese Aspekte derart miteinander zusammenhängen, dass eine Aufgliederung kaum sinnvoll erscheint. In der Argumentation gegen das Schuldprinzip tauchen sie denn auch meist kumulativ, ansonsten regelmäßig alternativ auf. Eine Matrix der verschiedenen Personen und Positionen würde die Darstellung nicht nur überfordern, sondern auch kaum Erkenntnisgewinn versprechen. Es lohnt daher auch weniger, das Hauptaugenmerk auf die Berechtigung und Stichhaltigkeit der Kritik am Schuldprinzip als solcher zu richten. Vielversprechender ist die Untersuchung auszurichten im Hinblick auf eben jene Wege, welche dem bestehenden System dargeboten werden um die Kritik überwinden zu können. Denn nur eine überlegene Lösung kann sich anschicken, dass Strafrecht in der bisherigen Form zu novellieren. a) Abschaffen des Strafens? Abolitionistische Perspektiven Die in der Theorie einfachste, indessen radikalste und folgenschwerste Forderung stellt die Abschaffung des Strafens in den Raum. Besinnt man sich auf die ureigentliche Aufgabe des Strafrechts, Straftaten verhüten zu wollen, so fragt man sich, wohin diese staatliche Aufgabe delegiert werden soll, wenn der Staat sich einer strafenden Reaktion enthält. Man wird einen solchen Ansatz nur vor dem Hintergrund des labeling approach und der prinzipiellen Desillusionierung in Bezug auf die Wirksamkeit der Strafe an sich („nothing works“) verstehen können. Strafen haben bislang nicht den (erhofften) Nachweis ihrer Effektivität erbracht. Soweit die staatlichen Institutionen sogar erst das Übel hervorbringen, so scheint die Abschaffung eine probate Erledigungsstrategie zu sein. Die Überzeugungskraft steht und fällt aber unumwunden mit der Reichweite dieses Erklärungsansatzes von Kriminalität. Die monokausale Deutung des radikalen labeling approach lässt dabei viele Phänomene von Kriminalität unerklärt. Wie nun das Modell eines „radical nonintervention“ Edwin M. Schurs728 diese Symptome kurieren kann, bleibt vom straftheoretischen Horizont her dunkel. Dies erhellt sich nur, wenn man das bestehende System als „Klassenstrafrecht“ identifiziert und die gesellschaftlichen Be727
S. bereits Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 19 Rn. 51. Darstellung und Nachweise bei Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts (1985), S. 178 ff.; zusammenfassend Haft, Strafrecht AT 9(2004), S. 126. Weitere abolitionistische Ansätze nachgewiesen bei P. A. Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 831 (833, Fn. 10); Häßler, Abolitionismus (2006), S. 21 ff. 728
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dingungen für kriminelles Verhalten verantwortlich macht. Abweichendes Verhalten sei dann Teil des strukturierten Sozialsystems und als solches tendenziell hinzunehmen. Anstatt ein beschränktes Normensystem durchzusetzen, gelte es vielmehr die Gesellschaft möglichst weitreichend an die Bandbreite von menschlichen Verhalten zu gewöhnen.729 Als Generalparadigma fungiert die System- anstelle einer Individualzurechnung.730 Man kann ein solches Programm mehr als gezielte Provokation, denn realistisches Vorhaben verstehen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Maxime der Toleranz auch bei Schwerstkriminalität wie Verbrechen gegen die Rechtsgüter Leben oder sexuelle Selbstbestimmung Anwendung finden soll. Soweit ersichtlich, ist auch keine Formulierung zu diesen Extremen hin erhoben worden.731 So ist es eher ein Hinweis auf den expansiven Charakter des Strafrechts insgesamt und der daraus resultierende inflationäre Gebrauch von Schuld, welcher Konfliktlösungspotential außerhalb des Strafrechts ungenutzt lässt. Reduktion von Strafrecht in Form von Entkriminalisierung und umfangreiche Nutzung von Diversionskonzepten können in diesem Zusammenhang als ernsthaftes Vorbringen festgehalten werden. Ein genereller Systemwechsel von der Individual- zur Gesellschaftszurechnung kann dabei aber nicht ernstlich erwogen werden. Erstens bricht ein globales „Abfinden“ mit der gelebten Rechtskultur. Noch kann davon ausgegangen werden, dass eine Konfliktbewältigung per Strafrecht möglich und notwendig ist. Die Reprivatisierung von Konflikten, dürfte ohne flankierendes Legalitätsprinzip eher Privatheit kosten denn zurückgewinnen.732 Denn die Machtrückgabe des Staates hinterlässt ein Herrschaftsvakuum, das zielsicher von seinen Profiteuren genutzt würde. Umgekehrt erscheint auch die utopistische Vorstellung einer „Gesellschaftsschuld“ wenig erstrebenswert zu sein. Gegen einen humanen und integrativen Umgang mit Rechtsbrechern wird schwerlich etwas einzuwenden sein. Von daher kann ein differenziertes Reaktionsrepertoire des Staates wünschenswert sein. Allerdings lädt die Aneignung eines generellen, externen Attributionsstils dazu ein, die Ursachen für eine Entwicklung regelmäßig „bei anderen“ zu suchen.733 Dem allgemeinen Verantwortungsbewusstsein dürfte dies stark abträglich sein.
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Vgl. Scheffler, a. a. O. Sack, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten II, S. 346 (363). 731 Mit Abstrichen Lüderssen, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 487 (491 ff.), dieser zu der Idee einer zumindest teilweisen Überführung in ein „soziales Interventionsrecht“; jüngst den Rückzug bekräftigend, ders., FS Hassemer (2010), S. 467 (470 f.). 732 So Kaiser, FS Lackner (1987), S. 1027 (1043 f.); ähnlich Haffke, FS Roxin (2001), S. 955 (963). 733 Als Attributionsprozesse beschreiben Sozialpsychologen die menschliche Eigenart Verhalten von anderen Menschen oder ihr eigenes Verhalten mittels (mitunter laienhaften) Ursachenzuschreibungen zu erklären. 730
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b) Unsicherheitsrelation des Schuldstrafrechts: Maßnahmenrecht als Antwort am Beispiel der Prinzipien der Sozialverteidigung Deterministen wie auch Vertreter agnostischer Positionen sehen häufig in einem Maßnahmenrecht den Ausweg aus den Unwägbarkeiten der Metaphysik der Schuld. Weil ein Maßnahmenrecht auf den ethischen Vorwurf verzichtet, kann es sich von dem Makel eines selbstgerechten Moralismus abheben. Die Kriminologie erwies sich dabei weithin als Motor für Konzepte jenseits des Schuldstrafrechts.734 aa) Prinzipien der „Défense Sociale“ (1) In dieses Spektrum gehören insbesondere die vielfach rezipierten Ideen der sog. Sozialverteidigung735. Auf „Gesellschaftsschutz“ über ein Prinzip der „Défense Sociale“ haben sich Vertreter der Société internationale de défense sociale (SiDS)736 verständigt. In diesem Konglomerat relativ heterogener Vorstellungen haben insbesondere die Ausarbeitungen von Filippo Gramatica737 und Marc Ancel738 im deutschsprachigen Raum Beachtung gefunden. Eine vergleichsweise hohe Übereinstimmung wiesen die Programme in ihrer Verabschiedung des Schuldstrafrechts zu Gunsten eines auf den speziellen Täter gemünzten therapieorientierten Maßnahmenrechts auf. Diese spezialpräventive Orientierung des (Straf-)Rechts ist dabei keineswegs eine Novation gewesen, doch hatten die prominenten Vorgängerversuche739 weniger die Revision des Rechtssystems in toto als Zielvorgabe. In radikaler Form proklamierte Gramatica (als Vertreter der sog. Genueser Schule) dagegen die Abschaffung des Strafrechts in herkömmlicher Form. Weder ein traditioneller Schuldbegriff noch ein Schuldsurrogat sollten dabei zur Anwendung gelangen. Grundlage des staatlichen Eingriffs bildet stattdessen die Gefährlichkeit des Täters. Darüber hinausgehend sollten Sanktionen nicht mehr auf eine Rechtsverletzung an sich reagieren, sondern das in der Tat zu Tage tretende Potential von Antisozialität sollte mit einer staatlichen Reaktion belegt werden.740 Die staatliche Reaktion erfolgt nicht wegen, sondern anlässlich einer Tat. Für dieses Programm bedarf es einer ausführlichen Persön734
S. bereits oben die Nachweise zu sozio-empirisch fundierter Kritik des Schuldstrafrechts, II. 1. c), Fn. 199. 735 Zum Begriff siehe die Einführung bei Melzer, Die neue Sozialverteidigung (1970), S. 1 ff. 736 Die SiDS wurde 1949 in Lüttich gegründet. Schon zwei Jahre zuvor hatte sich der Verbund in einem ersten internationalen Kongress im ligurischen San Remo herauskristallisiert. 737 Principi di difesa sociale (1961). 738 La défense sociale nouvelle (11954, 21966, 31981). 739 Eine Aufarbeitung der geistigen Vorläufer wie der ital. scuola positiva sowie der IKV um Franz von Liszt findet sich jüngst bei Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 21 ff., 40 ff. 740 Zum Ganzen Gramatica, Grundlagen der Défense Sociale I (dt. Übers. 1965), S. 44 ff. (50) bzw. S. 74. Dazu Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 112 ff.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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lichkeitsexamination zur Feststellung der Antisozialität, um die erforderlichen erzieherischen Maßnahmen ergreifen zu können. Die Tat hat in diesem Konzept allenfalls symptomatische Bedeutung und verliert dementsprechend neben ihrem Charakter als zentralen Entscheidungsgegenstand dessen Begrenzungsfunktion.741 Etwa könnte nur potentielle Antisozialität bei Kindern oder Heranwachsenden Erziehungsmaßnahmen rechtfertigen.742 Auch ist eine Beendigung der Maßnahmen, unabhängig von einem bestimmten Resozialisierungserfolg, im Prinzip systemfremd. Das Gefährlichkeitsparadigma, welches bereits für die Ideen Franz von Liszts leitend war, erfährt folglich eine nicht unbedeutende Erweiterung. (2) Trotz aller Novationsbeteuerung bleibt Gramatica letztlich in seiner Gedankenwelt dem Schuldprinzip verhaftet.743 Insbesondere die Eliminierung der Begriffe von Strafe und Gefängnis erweist sich bei genauerer Hinsicht als Feigenblatt.744 Denn eine euphemistische Umtaufe ändert an den substanziellen Einbußen des Betroffenen nichts. Und konstruktiv darf man schon von einem Vorverständnis bezüglich der Antisozialität ausgehen, das geistige Anleihen im Schuldstrafrecht nimmt. Die Zurechnungsfähigkeit als Voraussetzung von Antisozialität745 steht deutlich im Widerspruch zum Bestreben ein Einheitssystem746 von Maßnahmen etablieren zu wollen.747 Zudem unterläuft ein unbeschränkter Besserungs- und Erziehungsanspruch des Staates ohne Tatbezug zwangsläufig rechtsstaatliche und gleichheitsrechtliche Grundsätze.748 (3) Das Modell der „Neuen Sozialverteidigung“749 nimmt von diesen radikalen Vorstellungen eines reinen Täterinterventionsrechts Abstand.750 Aufgrund ihres humanistischen Ideals argumentiert die „Neue Sozialverteidigung“ non-deterministisch751 und weist dem Zentralbegriff der Verantwortung752 die entscheidende Bedeutung zu. Die subjektive Verantwortlichkeit eines jeden Menschen, ein Kon741
H. Kaufmann, FS von Weber (1963), S. 418 (434). Vgl. Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 70. 743 H. Kaufmann, FS von Weber (1963), S. 418 (435 f.). 744 H. Kaufmann, FS von Weber (1963), S. 418 (427). 745 Gramatica, Grundlagen der Défense Sociale I (dt. Übers. 1965), S. 90. 746 Gramatica, Grundlagen der Défense Sociale II (dt. Übers. 1965), S. 200. 747 Vgl. H. Kaufmann, FS von Weber (1963), S. 418 (429). 748 Rechtsstaatlich tritt das Problem der Expansion in Quantität (unbestimmte Dauer) und Qualität (Amoralität als Vorstufen sozialer Gefährlichkeit) von Eingriffen auf. Unklar bleibt auch, inwiefern eine selektive Diversion aufgrund fehlender Antisozialität vor dem Gleichheitssatz Bestand haben kann. Vgl. dazu Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 421, seinerseits mit Bezug auf Frey, SchwZStr. 68 (1953), S. 405 (408). Des Weiteren Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 109. 749 Ausführlich bei Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 144 ff. 750 Ancel, Die Neue Sozialverteidigung (dt. Übers. v. Michael Melzer, 1970), S. 206 ff. 751 Melzer, Die neue Sozialverteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion (1970), S. 34 ff.; 60. 752 Ancel, Die Neue Sozialverteidigung (1970), S. 277 ff., S. 294. 742
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
strukt aus Freiheitsbewusstsein und (grundsätzlicher) Empathiefähigkeit des Menschen, korrespondiert mit einer kollektiven Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft.753 Bleibt das Individuum hinter dem Mindestmaß an gesellschaftlicher Verantwortung zurück, besteht Resozialisierungsbedarf in Form von Strafe oder Maßnahme zum Individual- wie auch Gesellschaftsschutz. Innerhalb dieses Verantwortungsgefüges kommt jedoch stets ein subjektives Recht des Rechtsbrechers auf Resozialisierung aus seiner Menschenwürde zum Tragen.754 Das Ziel ist also ein soziales Kriminalrecht als Mittelweg zwischen Kollektivismus und Individualismus, dessen Ziel die moralische Korrektur, nicht der Tadel der klassischen Schuldvergeltung wegen sein soll.755 Es ist erkennbar, dass auf diesem Wege bestehender Strukturen des Strafrechts mit der Idee der Sozialverteidigung in Synthese gebracht werden sollen.756 Allerdings ist damit die Differenz zum Schuldstrafrecht keine prinzipielle, sondern nurmehr eine graduelle Abstufung in der Ausgestaltung. Deswegen entfernt sich der Ansatz bedeutend von einer Neuordnung des Kriminalrechts, mag auch der Ansatz Ancels durch die gemeinsame Ablehnung der Metaphysik757 den Ideen der Sozialverteidigung verbunden bleiben. Im Zeichen neuerer Schuldkonzepte ist die Ablehnung von Metaphysik kein Wesensmerkmal eines Opponenten zum Schuldstrafrecht. Unabhängig davon, ob sie der Bewegung der Défense Sociale explizit zugehörig sind, lassen sich auch die anderen Ansätze, die eine Strafe nach Gefährlichkeit758 bzw. Resozialisierungsbedarf759 fordern, in dieses inhaltliche Konglomerat der Kritik einordnen. bb) Schuld als Sühnefähigkeit? Eine besondere Nuance der Prospektivität kreiert freilich Haddenbrock, wenn die Voraussetzung einer Schuldstrafe an die Sühnefähigkeit des Täters geknüpft werden soll.760 Zwar mag die Aufgabe einer ex-ante-Schuldbegründung von seinem deter753
Melzer, Die neue Sozialverteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion (1970), S. 72 f. 754 Ancel, Die Neue Sozialverteidigung (1970), S. 287. Eine gewisse Renaissance dieser Idee bei G. Merkel/Roth, in: Grün/Friedman/Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts (2008), S. 54 (80 ff.), Wahlrecht des Delinquenten zur Therapie statt Strafvollzug. 755 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2001), S. 422 f. 756 Verschiedene Nachweise dazu bei Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts (1985), S. 153. S. auch die Berührungspunkte zum AE-StGB 1966 bei Melzer, Die neue Sozialverteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion (1970), S. 102 ff. 757 Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 158. 758 Bspw. noch Nowakowski, FS Rittler (1957), S. 55 (82). 759 Brauneck, Mschrkrim 41 (1958), S. 129 (142 f.). 760 Zuletzt in: MSchrKrim 79 (1996), S. 50 (54), ders., FS Salger (1995), S. 633 (645 ff.); ders., MschrKrim 77 (1994), S. 44 (54 f.) und MschrKrim 77 (1994), S. 324 (325 f.); ferner ders., Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (1992), S. 123, 244 ff.; ders., FS Sarstedt (1981), S. 35 (41).
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ministischen Standpunkt761 im Ausgangspunkt schlüssig sein. Dies erklärt allerdings noch nicht ausreichend den Perspektivenschwenk. Die Sichtweise post-delictum erscheint mit der Aufgabe des Strafurteils, einen Schlichtungsspruch in einem Konflikt mit Blick auf die Vergangenheit zu fällen, nur bedingt vereinbar. Denn die positiv zu bewertende und wünschenswerte Reflexivität eines Täters in der Nachbetrachtung der Tat belastet den Täter mit dem Tadel eines Schuldspruchs, während andernfalls wohl zumindest ein Freispruch aus Schuldgründen erfolgen müsste. Der ohnehin kleine Anreiz, Verantwortung für eine Tat zu übernehmen, dürfte noch beträchtlich gemindert werden. Die Gerechtigkeit droht empfindlich auf der Strecke zu bleiben, wenn abgestumpfte Täter auf diesem Weg sich dem Schuldspruch entziehen könnten. Der gleichwohl brauchbare Kern dieses Ansatzes762 liegt auf einer anderen Ebene: die Idee von einer verantwortungsbewussten Tataufarbeitung passt besser in ein Konzept eines gestalterischen Strafvollzugs763, der auf hohe Resozialisierungsbereitschaft mit einem (hier nicht zu diskutierenden) Bonussystem Belohnung aussprechen könnte. In ein Modell kompensatorischer Rechtsfriedensstörung lässt sich dies integrieren.764 Das Schuldverdikt an sich wird sich in der Weise aber nicht umdeuten lassen. c) Ideologische Gegnerschaft des Schuldprinzip: Strafen ohne Vorwurf (Hassemer) aa) Der Ansatz von Ellscheid/Hassemer setzt nach eigener Aussage direkt bei den „Aporien des Schuldvorwurfs“ an. Das gängige Tadelskonzept beruhe auf Schuld als Kehrseite menschlichen Freiheitsdenkens, welches nur insoweit Plausibilität aufweise, soweit die Determinanten von menschlichem (kriminellen) Verhalten unerschlossen blieben. Eine solche Freiheit entziehe sich der Beweisbarkeit.765 In der Dogmatik sei Vorwerfbarkeit zudem nur als Ordnungsbegriff, der exkulpierende Tatbestände vereinigt, von Bedeutung. Über diese Sammelbezeichnung hinaus besitze er keine Funktion, weil kein eigenständiger juristischer Begriff vorherrsche.766 Bereits der Gedanke des Vikariierens zeige, dass Vorwerfbarkeit keinen unmittel-
761
Haddenbrock, Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (1992), passim. In der Diktion Haddenbrocks geht es wohl in erster Linie um Nutzbarmachung der humanistischen, idealistischen Beziehung von Schuld und Sühne; vgl. in: FS Salger (1995), S. 633 (647). Für die Zurechnungslehre führt das aber nicht weiter. 763 Der Aspekt des Vollzugs wird deutlich in Haddenbrock, GA 2003, S. 521 (532). 764 Zum Abbau der Rechtsfriedenstörung in einem Sanktionssystem, s. unten im 2. Kapitel, B. III. 3. 765 Zum Ganzen Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), 29 ff. (= Lüderssen/Sack, (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten, II, 1975), S. 268 ff. Ähnlich Neufelder, GA 1974, S. 289 (303 ff.). 766 Dies., Civitas 9 (1970), S. 35 f. (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 274 f. 762
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baren Gestaltungseinfluss innerhalb der Sanktionspraxis haben könne.767 Der Entscheidung für den Rechteeingriff beim Verurteilten könne nicht dem Grunde nach aus dem Schuldprinzip erfolgen,768 denn das Schuldprinzip mache weder das Interesse des Täters an einem schonenden Umgang mit seinen Grundrechten, noch den eingriffsrelevanten Zweck des höher gerichteten Guts769 sichtbar. Das Schuldprinzip stütze daher unkritisch das Vergeltungsprinzip.770 Erst eine Eliminierung des ethischen Vorwurfs könne die Problematik der Grundrechtsbeeinträchtigung und dadurch den Legitimationsbedarf von Strafe offenlegen.771 Es könne nur darum gehen, kriminalpolitische Ziele mit der Freiheit und dem Eigentum des Täters im Sinne praktischer Konkordanz zum Ausgleich zu bringen.772 Schuld könne deswegen nur in einem objektiven Sinne begriffen werden. Es ginge allein um die Verfehlung einer Pflicht im Sinne einer obligatio.773 Ein so verstandenes Strafrecht könne die Rechtsfriedensaufgabe gegenüber der Bevölkerung unter Berücksichtigung der Grundrechte wahrnehmen.774 Die Kriterien der Zurechnungsfähigkeit könnten fortbestehen,775 ein System der Zweispurigkeit776 wäre mit Fortfall des Vorwurfs obsolet. bb) Die sog. Strafe ohne Vorwurf777 baut auf einer unrealistischen Prämisse auf. Ähnlich wie zum Konzept Haddenbrocks gilt festzuhalten, dass der Strafbegriff einer definitorischen Neubestimmung kaum zugänglich ist. Den Tadelscharakter aufheben zu wollen ohne dabei den staatlichen Eingriff wesentlich zu modifizieren,778 er767
Dies., Civitas 9 (1970), S. 38 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 277. Gemeint ist, dass eine konsequente Schuldhaftung keine Durchbrechung des Schuldgedankens zugunsten kriminalpolitischer Opportunität zulassen könnte. Soweit allerdings Durchbrechungen möglich sein solle, könne dies nicht aus dem Schuldprinzip heraus erklärt werden. Vgl. dies., Civitas 9 (1970), S. 39 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 276 u. 278 f. 769 Dies., Civitas 9 (1970), S. 42 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 282. 770 Dies., Civitas 9 (1970), S. 47 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 287. 771 Dies., Civitas 9 (1970), S. 46 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 286. 772 Dies., Civitas 9 (1970), S. 45 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 284 f. 773 Dies., Civitas 9 (1970), S. 40 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 279 f. Die Anlehnung an das Zivilrecht ist dabei gewollt. Zustimmung aus neuerer Zeit bei Schroth, FS Roxin II (2011), S. 705 (717). 774 Dies., Civitas 9 (1970), S. 47 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 287. 775 Dies., Civitas 9 (1970), S. 48 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 288. 776 Hassemer, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, (1983), S. 89 (104 f.). Denkbar wäre ein monistisches System der Haftung, Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 48 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 288. 777 Dagegen auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 371 ff. Unklar demgegenüber Tiemeyer, GA 1986, S. 203 (226); ders., ZStW 105 (1993), S. 483 (512), der Schuld „neutral“ auf ein einfaches Werturteil reduzieren will. Wenn damit ein überschießendes Moralisieren gemeint ist, soll dem beigepflichtet werden. 778 An späterer Stelle opponiert Hassemer nicht mehr gegen den Schuldgedanken an sich, sondern nur gegen den Vorwurfscharakter, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, (1983), S. 89 (104). 768
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scheint insoweit unmöglich.779 Eine neue Nomenklatur, das zeigen die vorherigen dargestellten Versuche, ändert an einem substantiellen Charakter nichts. Die Tatsache, dass man logisch mehrere Grundrechtseingriffe bei einer Strafe verorten kann, sollte nicht vorschnell zu der Idee verleiten, dass sich diese Eingriffe isolieren und separat aufheben lassen. Das Strafübel transportiert den Tadel ebenso faktisch, auch ohne Begleitung eines kommunikativen Sprechakts. Ohne Vorwurf begibt sich die Argumentation auf eine andere Ebene: Präventionsrecht ohne Strafcharakter ist letztlich materiell Polizeirecht.780 In dieser Konsequenz mag es sich um eine taugliche Konstruktion handeln, freilich sollte es der Klarheit wegen dann auch aus dem Kontext des Strafrechts genommen werden. Soweit allerdings dem Erhalt von Strafrecht das Wort geredet werden soll, überzeugen solche Surrogatlösungen nicht. Ein Gewinn gegenüber einer Strafgewaltdisziplinierung über den Schuldbegriff verflüchtigt sich dementsprechend. Man wird allerdings zugeben müssen, dass die Ausführungen Hassemer/Ellscheids einer Zeit entstammen, in der sich die Rhetorik des BVerfG noch wesentlich im Kontext eines reinen Vergeltungsstrafrechts bewegte.781 Darin liegt das unumwundene Verdienst verfassungsrechtlicher Pionierarbeit. Das Verfassungsrecht hat seitdem die Grundrechtssensibilität im Bereich strafrechtlicher Eingriffe kontinuierlich fortentwickelt, so dass wesentliche Kritikmomente ihre Aktualität verloren haben.782 d) Gefährdungshaftung im Strafrecht? Ansätze einer strict liability Einen Verzicht oder zumindest eine Aufweichung des Schuldprinzips aus anderer Richtung erwägen Stimmen, die über eine Aufnahme der anglo-amerikanischen Rechtsfigur der strict liability in das deutsche Recht nachdenken. Zurückgehend auf das lateinische „ligare“ meint es in diesem Zusammenhang strenge Verbindlichkeit oder Haftung. Sachlich geht es dabei im Grunde nicht um die Umsetzung eines Straftatsystems ohne subjektive Voraussetzungen, sondern um eine Umkehr der Beweislast: auf den Nachweis subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen wird in Teilen verzichtet;783 nicht zwangsläufig soll jeglicher Einwand abgeschnitten werden. Das utilitaristisch und prozessökonomisch beeinflusste784 Haftungsprinzip vermag besonders im Bereich der Massendelinquenz wie in Bereichen des Verkehrsstrafrechts oder Betäubungsmittelkriminalität Attraktivität bieten auch für das 779
S. die Erörterungen der verfassungsrechtlichen Implikationen oben A. II. 2. e) bb) (4). Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 285. 781 Hinweis von Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 372. 782 Die gesellschaftspolitische Dimension des Beitrags bleibt allerdings von hohem Interesse, da deutlich wird, dass individuelle Schuld als Placebo für Beruhigung und Stabilisierung der Gesellschaft geeignet ist, ursachenbezogene Reformen zu blockieren. Man lese Ellscheid/ Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 36 (= Lüderssen/Sack, 1975), S. 275. Zu der rechtssoziologischen Perspektive weiter oben, II. 1. c). 783 Hörster, Die strict liability des englischen Strafrechts (2009), S. 17 und passim. 784 Zu beiden Aspekten Hörster, Die strict liability des englischen Strafrechts (2009), S. 33 ff. 780
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deutsche Recht. Die Effizienzsteigerung der Strafrechtspflege durch schnellere Bearbeitung ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Aber die Reichweite eines solchen Prinzips dürfte auch de lege lata nur auf diesen kleinen Bereich beschränkt bleiben. Prozessual kann ein solches System im geltenden Verfahrensrecht (noch) nicht umgesetzt werden. Abgesehen davon, dass sich funktionelle Äquivalente bereits ausmachen lassen,785 müssen diese (ggf. materiellen) Lösungen für Einzelfallgerechtigkeit offen halten. Sonst steht sie weder mit dem Schuldprinzip786 noch mit dem Verhältnismäßigkeitsgedanken im Einklang. Will man nicht gänzlich dem Atavismus eines Erfolgsstrafrechts verfallen, lässt sich den Anforderungen eines Schuldstrafrechts auch auf diesem Wege nicht ausweichen.787 e) Zwischenfazit Die Lösungsvorschläge, die den Schwächen des Schuldbegriffs beikommen wollen, können diesem Anspruch bislang nicht gerecht werden. Radikale Lösungen erzielen durch ihren pauschalen Ansatz zwar eindeutige Ergebnisse. Die Klarheit der Resultate ersetzt aber nicht die Sachgerechtigkeit. Weder die Abschaffung des Strafrechts noch eine unbedingte Haftung dürften in Allgemeinheit konsensfähig sein. Eine paradigmatische Neubestimmung des Strafrechts erscheint demgegenüber möglich, aber nicht unbedingt erfolgsversprechender. Eine wirkliche Neubestimmung findet selbstredend nur statt, wenn man sich nicht nur begrifflich vom bisherigen Strafrecht emanzipiert. Das dürfte freilich bedeuten, dass auch in diesen Fällen Strafe als Institut aufgegeben werden muss. Das Gefährlichkeitspostulat verschiebt die Kompetenzen in das Polizeirecht. Ein Zugewinn an Entscheidungsrationalität ist damit aber nicht wirklich verbunden. Die Schwierigkeiten eines Schuldnachweises werden formal durch das Prognoserisiko lediglich ersetzt.788 Gegenüber den Prognoseinstrumenten kann das retrospektive Strafrecht faktenorientiert argumentieren. Als weithin ungeklärte Frage muss auch gelten, inwieweit ein Maßregelrecht die Befriedungsaufgabe einer Konfliktverarbeitung wahrnehmen kann bzw. – soweit dies nicht möglich sein sollte – wie dieser Verlust kompensierbar
785 Zu Bereichen in der Praxis, die einer strict liability nahekommen, Hörster, Die strict liability des englischen Strafrechts (2009), S. 163 ff. 786 Vgl. Hörster, a. a. O., S. 91 f. 787 Ein solches Stück anglo-amerikanische Rechtskultur lässt sich also nicht ohne weiteres jenseits seines Herkunftsrechtssystems verpflanzen. Nicht zu verkennen ist jedenfalls, dass die strict liability dort ihre tragfähigsten Argumente vorbringen kann, wo es darum geht, Lücken der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit unterhalb der Kategorie der „recklessness“ zu kompensieren bzw. Kriminalstrafrecht im eigentlichen Sinne gar nicht zur Debatte steht, (sog. regulatory offences“), vgl. Hörster, a. a. O., S. 32 f., 86, resp. S. 16 Fn. 60, 63. 788 Insoweit auch B. Schünemann, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (162); Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 38.
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wäre.789 Dieser Befund stellt den Schuldstrafrechtsalternativen ein tendenziell schlechteres Zeugnis aus. Inwieweit dennoch Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung diesem Ideenansatz eventuell (doch noch) zum Durchbruch verhelfen können, soll an anderer Stelle verfolgt werden.790 4. Der Status quo der Schuldtheorie: zugleich eine Analyse des Theoriendualismus An eine gegenwärtige Schuldtheorie werden zwei Aufgaben gestellt: einmal muss sie die bestehende Rechtslage erklären können, wenn sie als Basis derselben auftreten will. Zum anderen muss in der Schuldtheorie der Grund für eine subjektive Zurechnung gefunden werden können. a) Eine traditionell individual-psychologische Schulddeutung kann beiden Parametern nicht gerecht werden. Zu eindeutig tauchen in einzelnen gesetzlichen Regeln Elemente auf, die nur schwer ohne Heranziehung generalpräventiver Erklärungen plausibel erscheinen. Ohne vorab in die Materie der einzelnen Schuldfacetten einzusteigen, lässt sich dies am Falle des entschuldigenden Notstands demonstrieren. Käme es allein auf ein individuelles Vermögen oder die psychologische Motivationslage an, wäre der Ausschluss nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB für besondere Rechtsverhältnisse der Sache nicht zu begründen und dementsprechend fehlplatziert. Dieser Denkschritt war in der Wandlung vom psychologischen zum normativen Schuldbegriff bereits vollzogen worden. Damit war im Ansatz die Aufgabe des Konzepts der Feststellung einer Schuld zugunsten eines Zuschreibungsmodells angelegt, denn die normative Verantwortungszuweisung ist eine reine Angelegenheit der Wertung. Das Bemühen um eine Ontologisierung der Schuld ist daher ebenso unnötig wie unergiebig: Schuld wird demnach stets zugeschrieben.791 789 Bockelmann, FS R. Lange (1976), S. 1 (2 f.), verwies schon auf das Legitimationsdefizit in der anti-strafrechtlichen Kritik. 790 Dazu sogleich unter B. 791 Zu diesem Ergebnis auch Achenbach, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 135 (144), und Hruschka, Strukturen der Zurechnung (1976), S. 37 f. Kindhäuser, FS Hassemer (2010), S. 761 (762 f.). Die Performativität des Schuldspruchs darf man aufgrund der Unschuldsvermutung auch durchaus wörtlich nehmen. Das konstative Moment betrifft nur die den Schuldspruch tragenden tatsächlichen Feststellungen, auf denen das Urteil beruht; missverständlich insoweit Stübinger, KJ 1993, 33 (47) und auf der anderen Seite auch Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“ (1987), S. 69, der seine Rede von „möglicher“ Schuld wohl einem „echten“ Existentialurteil entgegenstellen will. Der Gedanke, dass ein Schuldurteil stets ein Existentialurteil fällt, so Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 45 ff., muss damit hier nicht bestritten werden. Hinter einem Zurechnungsprozess steht in aller Regel durchaus eine Seinsbehauptung, nur ist sie nicht auf ontologische Kategorien zurückführbar. Mit Jakobs, FS Welzel (1974), S. 307 (318), wird man dies eine Feststellung von Differenz nennen können; nämlich eine zwischen Anspruch (Norm) und Wirklichkeit (zurechenbarer Normverstoß). Ausführliche Dekonstruktion der Substanzontologie der Schuld auf philosophischer Basis von Wittgenstein und Hei-
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b) Eine Konsequenz daraus ist, dass ein individualpsychologisches Substrat als Gegenstand der Schuld die Vorwerfbarkeit bloß unzureichend beschreibt. Jenseits der Verifizierbarkeit des Anders-Handeln-Können-Dogmas stellt sich jedenfalls die legitimatorische Frage, warum dies als Wertekonzept bindend ist. Dessen Deontik baut wesentlich auf einem individual-ethischen Bezugspunkt auf, der die in der Schuld liegende Pflichtverletzung als individual-moralisches Versagen kennzeichnet. Das kann leicht zur Ungenauigkeit verleiten: die Pflichtverletzung kann nämlich nur gegenüber der konkreten Rechtsgemeinschaft begangen werden, mit der Folge, dass es stets nur Relativität in Schuldhinsicht geben kann. Schuld als Werteverfehlung des Menschen zu begreifen792 erscheint nicht nur zu hoch gegriffen, sondern auch falsch deklariert: die beurteilende Instanz, die Instanz der gegenüber der Schuldige Rechenschaft ablegen muss, kann nur die Gesellschaft selbst sein.793 Ein Schuldurteil in Absolutheit ist epistemologisch unerreichbar und kann auch nicht überzeugend analog gebildet werden. Aus dieser sozialethischen Orientierung folgt zwangsläufig, dass der Schuldbegriff soziologisch gebildet werden muss. c) Ein soziologischer Schuldbegriff vereint rein formal zwei wesentliche Elemente: der Referenzpunkt des Schuldurteils muss die Rechtsgemeinschaft selbst sein. Eine Ebene über der Rechtsgemeinschaft und ihres Rechtsstaates ist in einem demokratischen Rechtsstaat nicht denkbar.794 Der moderne Mensch ist – in Differenz zur Antike – in Recht und Gesellschaft verwurzelt. Zum zweiten erfüllt ein solcher sozialer Schuldbegriff in diesem Rechtsstaat eine kommunikative Aufgabe.795 Die Begriffsbildung spiegelt diesen dienenden Charakter wider. Soll Recht als Steuerungsmodell der Gesellschaft herangezogen werden, kann es im Zeitalter der Nachmetaphysik schwerlich eine Zweckunabhängigkeit im Recht geben.796 Mit der Normativierung des Schuldbegriffs ist auch grundsätzlich die Diskussion für funktionale Steuerungselemente geöffnet wurden. Die generalpräventive Anreicherung kann dementsprechend auf der aktuell herrschenden normativen Basis weder geleugnet noch als Fremdkörper aufgewiesen werden.797 Die bisweilen polemische degger bei Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 136 ff. Zum fundamentalontologischen Schuldverständnis Heideggers, a. a. O., S. 167 ff.; zum Zuschreibungscharakter der Schuld (S. 239 f.). 792 In aller Deutlichkeit Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 127 ff.; der an späterer Stelle verstärkt auf den Sühne-/Resozialisierungsgedanken abstellt, a. a. O., S. 266 ff., 274; auch Henkel, FS Larenz I (1974), S. 3 (22 f.). 793 Bereits Bockelmann, GS Radbruch (1968), S. 253 (257); Roxin, ZStW 96 (1984), S. 641 (643); ders., FS Arthur Kaufmann (1993), S. 519 (524 f.); Neumann, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. 1 (1998), S. 391 (393). 794 Ein solcher Staat müsste sich schon als „Gottesstaat“ ausrufen – mit entsprechend zweifelhafter Legitimation. 795 In diesem Zusammenhang auch Haft, Der Schulddialog (1978), S. 9, 28 ff. 796 Vogel, Einführung (2004), S. 98. 797 Entsprechende Schlussfolgerung insoweit bei Krümpelmann, GA 1983, S. 337 (344). Widersprüchlich demgegenüber Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (325, 327), der ein erwartendes
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Kritik am funktionalen Schuldbegriff, insbesondere an der Konzeption Jakobs’798, beruht daher teils auf einem Fehlschluss,799 teils auf einem fundamentalen Missverständnis. Jakobs wesentliches Anliegen dürfte es primär gewesen sein, eine Deskription von Funktionsbedingungen in Bezug auf die Schuld anzubieten,800 die erklärt, warum Schuldvorschriften eine bestimmte Ausgestaltung erfahren haben. Das ist zunächst einmal lediglich eine soziologische Analyse der Schuld im Sinne einer Bestandsaufnahme, die auf anderer Ebene erklärt, nämlich sich bemüht, die methodologischen Mechanismen einer Schuldpraxis offenzulegen. Das ist im Grunde ein metatheoretischer Ansatz, der sich in der Schulddiskussion in gewisser Weise überparteilich verhält. Die Kritik, dass somit ein sozialethischer Gehalt außen vor bleibe,801 tangiert den Erklärungsansatz Jakobs’ nicht. Denn dies ist, ähnlich hinsichtlich des Individuums im Falle der Gesellschaftstheorie Luhmanns, letztlich theorieimmanent durch die „Überparteilichkeit“ angelegt.802 Der fehlende sozialethische Gehalt kann dann zumindest kein Mangel der soziologischen Beobachterperspektive sein. Wer dies moniert, vermengt oder vergleicht inkommensurable Diskussionsebenen zu einem Kategorienfehler.803 Dass eine so autopoietisch organisierte Schuld den Blick nur auf eine Bestands- und Systemfunktionalität richtet,804
(Herv. d. Verf.) Können im Rahmen des § 35 StGB als schuldrelevant ansieht, womit letztlich die Position des individuellen Könnens aufgeweicht wird. 798 Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 747 (752); ders., FS Otto (2007), S. 307 (322 f.); Köhler, FS Hirsch (1999), S. 65 (71 f.); Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems (1979), S. 22 ff.; Roxin, SchwZStr, Band 104, (1987), S. 356 (365 ff.); vor allem B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (170 ff., 180 ff.); ders., FS Schmitt (1992), S. 117 (135 f.); ders., in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (158 f.); ders., FS Lampe (2003), S. 537 (541 ff.); Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 32 ff.; Stübinger, KJ 1993, S. 33 (47 f.); Tiemeyer, ZStW 100 (1988), S. 527 (550 ff.). 799 Gegenteilig kontert B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 59 f., ders., a. a. O., S. 153 (186) mit einem „normativer Fehlschluss“ des beliebigen Aushandelns. Der Zweck komme erst dann zum Tragen, soweit Gesetzestermini überhaupt Spielraum lassen. Das kann aber kaum funktionieren. Schon die Schöpfung des Begriffs steht im Zeichen des Telos. Eine Nachrangigkeit von Zwecken gibt es nur dergestalt, dass die hierarchische Organisation von Zwecken untereinander Primarität, Sekundarität, usw. ergeben kann. 800 S. Jakobs selbst, ZStW 118 (2006), 831 (852). Richtig insoweit bei Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 92. Diese Aspektdifferenzierung wird in der Diskussion regelmäßig vernachlässigt. Beachte allerdings Neumann, FS Jakobs (2007), S. 435 (437). 801 Stv. etwa Lampe, Strafrechtsphilosophie (1999), S. 263, Fn. 109 m. w. N.; B. Schünemann, FS Roxin I (2001), S. 1 (17 ff.). 802 Jakobs betont selbst, dass die funktionelle Sicht auf kein bestimmtes Modell festgelegt sei. Vgl. ders., in: ZStW 107 (1995), S. 843 (853). 803 Die Vermengung von Sinnebenen produziert erst Paradoxien, zu Recht in diesem Kontext B. Schünemann, FS Lüderssen (2002), S. 323 (340). 804 So Bock, ZStW 103 (1991), S. 636 (647).
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
ist gleichwohl richtig. Das schließt aber eine wertimprägnierte „Personenfunktionalität“805 nicht aus.806 Der (von Jakobs erkannten) Selbstreferentialität kann der Schuldbegriff allerdings trotzdem kaum entkommen: das potentielle Zurechnungssubjekt entstammt der Gesellschaft, die (verletzten) Rechtsnormen sind Produkt der Gesellschaft wie auch die Regeln der Schuld nach gesellschaftlichen Vorstellungen moduliert werden.807 Dieses Prinzip kann nicht durchbrochen werden, so man denn nicht die Legitimationskette kappen will. Diese Erkenntnis ist für die Idee der Schuld aber keinesfalls schädlich. Im Gegenteil liegt darin in gewisser Weise die Stärke des Funktionalismus: er legt die Verwundbarkeit eines Rechtssystem bereits in der Begriffsarchitektur gnadenlos offen.808 d) Die inhaltliche Offenheit bedeutet aber auch, dass Funktionalität als Programm für die Schuld im Strafrecht zu wenig ist. Denn eine solche Aussage bietet inhaltlich theoretisch beliebige Ergebnisse.809 Die Folgenorientierung hat deshalb einen bedeutenden Rang bei der Rechtsmodellierung. Über Evidenz in der Begrifflichkeit wird ohnehin kein Gewinn zu verzeichnen sein. Die einzelnen Erkenntnisse sollten genutzt werden um ein integrales System der Schuld auf den Weg zu bringen.810 Schuld und Prävention statuieren in ihren Modellen keine zwingende Gegensätzlichkeit. Ohne methodisch einer Geschichtsphilosophie anhängig sein zu müssen, hilft schon der Blick auf die Schuldgeschichte um sich diese Versöhnlichkeit vor Augen zu führen: Schon bei Hegel lassen sich gedankliche Vorläufer identifizie-
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Die Personenfunktionalität, also die Hervorhebung des Subjektcharakters innerhalb eines Rechtsbegriffs, fordert nicht zu Unrecht Bock, ZStW 103 (1991), S. 636 (648). 806 A. A. wohl Hendrik Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? (2004), S. 56 ff., 340. Ob die angeführte Kritik (S. 84 ff., passim) im Einzelfall zutreffend ist, mag dahinstehen. Unklar ist, ob und warum daraus ein Methodenpurismus folgen muss. 807 So man Recht als autopoietisches System begreift, – vgl. dazu G. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 112 ff.; zust. K.-L. Kunz, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 187 (189) – folgt dies aus der Konstruktion der Schuld als Rechtsbegriff; Kritik zum methodischen Ansatz dazu bei Sacher, ZStW 118 (2006), S. 574 (597 ff.); Stübinger, KJ 1993, S. 33 (42 f.). 808 Vgl. Neumann, ZStW 99 (1987), S. 567 (574): Funktionalisierung der Begriffe ist dort ein Gewinn, wo hinsichtlich des Ergebnisses der Zurechnung kaum Divergenzen bestehen, aber eine konsensfähige Begründung durch dogmatische Begrifflichkeit gehindert ist. 809 Insoweit zutreffend Roxin, SchwZStr, Band 104 (1987), S. 356 (366); Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 31. Nach Heitzmann, ZfRSoz 31 (2010), S. 9 (16) fördert ein funktionales Rechtsverständnis (dort: funktionale Koordination durch Recht) offenbar die Bereitschaft von Rechtslaien externale Faktoren eines Rechtsbruchs auszublenden. Der Automatismus Rechtsbruch – Strafe wird also augenfällig selbstverständlicher und weniger in Frage gestellt. 810 Bereits Arthur Kaufmann, Festschrift für R. Wassermann (1985), S. 889 (896); Vereinbarkeit attestiert auch Frister, Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 88 ff., 98.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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ren.811 Strafe steht auch in Hegels Idealismus nie „für sich“, denn das widerspräche diametral Hegels Begriffsverständnis von Recht.812 Schuld wird stets bezogen auf Recht und Gesellschaft gedacht.813 So kann nach Hegel Zurechnung dort unterbleiben, wo die Gesellschaft als gefestigt genug gilt und kein symbolisch expressiver Widerspruch notwendig ist.814 Die tradierten Zurechnungsregeln müssen demnach weder aufgegeben noch funktionalistisch überformt werden. Umgekehrt muss die Vorstellung von Prävention nicht aus dem Schuldbegriff ferngehalten werden. Verinnerlicht man, dass das postulierte autopoietische System auf einer Differenz von System und Umwelt basiert, gilt das Augenmerk eben nicht nur dem System, sondern auch der Umwelt. Ein System selbst ist in einem solchen Modell nämlich gegenüber von Einflüssen aus seiner Umwelt nicht abgeschottet, sondern durchlässig. Umgemünzt auf das Strafrecht bedeutet dies, dass das kritische Potential, welches von den Begriffen selbst gerne erwartet wird, allen kritischen Beobachtern einer Gerechtigkeit als gemeinsame Aufgabe zuteil wird. Zur kritischen Distanz zum System können alle Beobachter argumentativ beitragen. Es spricht prinzipiell nichts gegen die Möglichkeit, den (systemisch unterbelichteten) Aspekten der Personalität, Legitimation und Rechte der Betroffenen als Forderung815 Nachdruck von „außen“ zu verleihen.816 An einer Tendenz und der Latenz eines Systems, bestimmte Machtpositionen einzunehmen und diese permanent (re-)konsolidieren zu wollen, wird die Kritik als solche nichts ändern. Ziel kann daher nur sein, den Druck so zu gestalten, dass das System der Schuldspruchpraxis gehalten ist, sich den Anforderungen anzupassen. Mit anderen Worten: eine Diskussionskultur über Schuld in einem verfassungsrechtlichen Rechtsstaat verspricht die bessere Absicherung als ein Heil allein in der Begrifflichkeit zu suchen.817 Man wird die Begriffe vergeblich suchen, die die Schuld so konstituieren, dass kein Missbrauch mehr möglich und für Allzeiten der Gerechtigkeit ausgesorgt sein wird. Denn die Merk811 Zweckmäßigkeit als dritte Stufe der Zurechnung, bei Seelmann, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 85 (88 ff.); ders., FS Müller-Dietz (2001), S. 859 (867 f.). 812 Vgl. Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 306 f. 813 Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 337. 814 Seelmann, Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 85 (89). Vgl. auch das Verzeihen als die höchste gegenseitige Anerkennungsform, Nachweise bei Seelmann, a. a. O., S. 91. 815 Zu den klassischen „Mängeln“ des systemtheoretischen Ansatze in der Abfolge Sacher, ZStW 118 (2006), S. 574 ff. (597, 602, 609). 816 Der Antagonismus zwischen Soziologie und Philosophie des Rechts, etwa bei Stübinger, KJ 1993, S. 33 (39 ff.), ist damit strukturell eher überhöht. 817 Insofern ist m. E. entgegen Hendrik Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? (2004), S. 323 seine im Anschluss an die Soziologie Mertons formulierte Kritik an der Überführung von latenten Funktionen in manifeste Begriffe nicht durchschlagend. Gleiches gilt für den theoretischen Ansatz an sich. Resilienz irgendeiner Theorie gegen Missbrauch ist kaum begründbar, vgl. auch Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 123.
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male der Schuldüberprüfung, so sie denn nicht auf der Natur der Sache beruhen sollen, spiegeln stets eine Auswahlentscheidung, sei es de lege lata des Gesetzgebers, de lege ferenda seitens der Kriminalpolitik, wider. Schuldausschließungsgründe und Entschuldigungsgründe sind dann politisch motiviert immer auch anders gesetzlich definierbar.818 Die klassische Schulddogmatik war – entgegen ihres eigenen Vorbringens – nie unpolitisch.819 Das Aufreiben der Diskussion um das für und wider der Prävention ist daher zu einem wichtigen Punkt ahistorisch. Begrifflichkeit in diesem Kontext erscheint ohnehin selbst manipulativ, so man die Beobachtung Lampes teilt, dass je nach Argumentationsstruktur und rhetorischen Geschick die Notwendigkeit der Generalprävention aus der Schuld bzw. die Schuld aus der Notwendigkeit der Generalprävention heraus erscheint.820 Tatsächlich gibt es einerseits stets eine grundsätzliche Idee des „Schuldhaften“, sprich der Beeinflussbarkeit des Geschehens durch das menschliche Dasein.821 Deren Bestehen setzen die Theoriegebäude von Generalprävention immanent voraus. Auf der anderen Seite stehen die normativen Einflüsse der strafrechtlichen Schuld, deren Begründung mit der Idee des Strafrechts einhergeht. Soweit mit der Analyse auf einen rechtstheoretischen Wesenskern vorgedrungen werden soll, wird man dann unweigerlich auf das Begriffspaar Zweckmäßigkeit vs. Gerechtigkeit stoßen. Dabei hängt es vom Rechts- bzw. Gerechtigkeitsbegriff selbst ab, wie sich diese Begriffe zueinander verhalten.822 Nicht alles was zweckmäßig ist, muss gerecht sein; umgekehrt mag das Gerechte (als ideeller Wert) nicht stets zweckmäßig sein.823 Jedenfalls sind die Begriffe zur Deckung gebracht, wenn gerade (und nur) das Zweckmäßige das Gerechte sein soll. Auf einem Boden utilitaristischer Philosophie werden deswegen keine unterschiedlichen Früchte des Denkens zu erwarten sein. Das grundlegende Verhältnis von Schuld und Prävention deutet daher eher auf eines der Wechselwirkung (Korrelation) hin.824 818
Zu der Ausgestaltung im Einzelnen im Dritten Teil. Eindrücklich zu den präventiven Implikationen der „prä-präventiven“ Ära, Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 12 ff. 820 So angemerkt von Lampe, Strafrechtsphilosophie (1999), S. 263 Fn. 109. 821 Umfangreich ausgeleuchtet bei Frister, Die Struktur des ,voluntativen‘ Schuldelements (1993), S. 53 ff., 81 ff., 90. Ähnlich nimmt Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“ (1985), S. 274 ff. die alltagsmoralischen Zurechnungsregeln in Bezug. 822 Der Hinweis ergeht bereits bei Neumann, ZStW 99 (1987), S. 567 (592 f.), vergleichbar auch bei Puppe, FS Grünwald (1999), S. 469 (481). 823 Das ist im Kern der Dualismus von absoluter und relativer Straftheorie. Wie und ob überhaupt eine Überschneidung der Klassen von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit zu bilden sind, hievt die Diskussion in die Höhen der Rechtsphilosophie. Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit vgl. etwa Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit (1971), S. 176 ff., 227. 824 Arthur Kaufmann, Festschrift für R. Wassermann (1985), S. 889 (896) zum hermeneutischen Zirkel dergestalt ebenda. Wechselwirkung (Kriminalpolitik vs. Schuldgedanke) auch als Quintessenz bei Kunz, ZStW 98 (1986), S. 823 (831); Roxin, FS Bockelmann (1979), S. 279 (297 f.). 819
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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e) Einen Vermittlungsversuch integraler Schuld hat bereits K. Günther vorgelegt. Über den demokratietheoretischen Ansatz können die materiellen Begründungsdefizite der Zwecklehre mit der Moralität einer Zurechnungslegitimation verquickt werden.825 Der Eindimensionalität der Normunterworfenheit einer Rechtsperson ist komplementär die gleichzeitige Autorenrolle der Rechtsperson vorzuhalten.826 In der Autorenrolle kann die Rechtsperson als autonomes moralisches Subjekt die idealistische Idee der Vernunft im Recht (die Selbstwiderspruchsthese Hegels) verfolgen, ohne dass es dabei auf eine innere Zustimmung des je einzelnen Normunterworfenen ankäme.827 Der Schlüssel liegt in der kommunikativ-expressiven Bedeutung des Schuldurteils: mit einer (vernunftgetragenen) Begründung des Schuldurteils erfolgt die Zurechnung einer Tat als Schuld zu der Rechtsperson; im Strafverfahren soll ein Perspektivenwechsel des Denkens angeregt wie auch an die Rolle des Staatsbürgers828 appelliert werden.829 Mit der Erinnerung an den (fiktiven) Gesellschaftsvertrag830 innerhalb einer Gemeinschaft hat auch das Zuständigkeitsmodell Jakobscher Provenienz831 schließlich seine Berechtigung. Das (formale) Zuständigkeitsprinzip steckt die einzelnen Verantwortlichkeitsbereiche der Gesellschaftsmitglieder ab.832 f) Innerhalb dieses Legitimierungsprozesses greifen allerdings nicht (notwendig) ausschließlich rein normative Heuristiken Platz. Entsprechend der Konsensorientierung eines solchen Diskurses ist es zumindest hoch wahrscheinlich, dass explizite Gründe gefunden werden müssen, wann ein Schuldausschluss im Einzelnen in Betracht kommen, um dem jeweils anderen zu vermitteln, warum ein Haftungsausschluss gerecht ist. Neben einer funktional gestellten Aufgabe gehört ein kon-
825 Eingehend K. Günther, Der strafrechtliche Schuldbegriff (1997), S. 48 (65 ff.), ders., Schuld und kommunikative Freiheit (2005), passim. In der Diktion Günthers auch die Zusammenführung interner mit externer Rechtfertigung, vgl. ders., in: Uppsala-Symposium (1998), S. 153 (155); in diesem Kontext Internalität repräsentiert durch die klassischen Zurechnungsmuster des Schuldhaften, und Externalität als das zweckgeleitete Procedere einer Gesellschaft. In diesem Spektrum sehe ich auch Momsen, FS Jung (2007), S. 569 (570 ff.). 826 K. Günther, JRE 2 (1994), S. 143 (155); Kindhäuser, FS Hassemer (2010), S. 761 (762, 773). 827 Dazu und zur Motivneutralität rechtskonformen Handelns, K. Günther, JRE 2 (1994), S. 143 (150 f.) bzw. (148). S. auch oben (II. 1. b) dd)) zur Diskursethik als Rechtsmodell mit dem neuralgischen Punkt der Diskursfähigkeit. Ohne Präsuppositionen wird auch hier kein Auskommen sein. Die reelle Teilnahmemöglichkeit am Diskurs wird natürlich ein Stück übergangen. Zumindest darf erwartet werden, dass ein jedes Gesellschaftsmitglied den Teilnehmerstatus automatisch erhält. 828 Als Teil der Gemeinschaft. Der Teilhabegedanke taucht auch bei Lackner, FS Kleinknecht (1985), S. 245 (262), auf. 829 K. Günther, JRE 2 (1994), S. 143 (156); Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 701 (714). 830 Dazu Momsen, FS Jung (2007), S. 569 (575 f.). 831 Erinnert sei an Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 17/21 f. 832 Auch das (formale) Prinzip der Verantwortlichkeit ist als Teil der gesellschaftlichen Realität kaum suspendierbar. Das dürfte darin begründet sein, dass es Exkommunikation als Rechtsform nicht (mehr) gibt.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
ditional bestimmtes Normenprogramm.833 Für diese Konditionalprogrammierung können Kriterien aufgestellt werden, die einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zugänglich sind. Empirisch nachvollziehbares Wissen hat, das darf man dem generellen Ringen um einen substantiierten Schuldbegriff entnehmen, eine tendenziell höhere Chance sich in dem rationalen Diskurs über die Schuld durchzusetzen. De facto und de iure sind dies ein (prinzipiell) merkmalorientierter § 20 StGB sowie die Irrtumsvorschrift des § 17 StGB. Empirische Begründbarkeit hat damit nachdrücklich eine argumentative Relevanz, deren Kraft innerhalb der Argumentation allerdings an der Güte und Validität der gefundenen Kriterien hängt.834 Ob diese Kriterien selbst als vollkommen gelten dürfen, ist eine nachgelagerte Frage.835 In diesem Sinne gibt es dann keinen Gegensatz von Normativität und Empirie, sondern nur Komplementarität. Normative Heuristiken werden aber die Unzulänglichkeit von empirischen Nachweisstrategien stets überlagern (müssen).836 5. Ergebnis: Schuld – Resultat einer Mehrebenendiskussion Die Schulddiskussion kreist um die Frage der Vorwerfbarkeit eines strafbaren Handelns. Die Argumentationsstrukturen lassen sich in folgende Zuordnungsmatrix überführen: Referenzsubjekt Verhaltenskompetenz Konkret
Abstrakt (generell)
Individuum
„klassische“ Schuld im Sinne des Indeterminismus
Individuell-pragmatische Schuld (u. a. normative Ansprechbarkeit)
Gesellschaft (Kollektiv)
soziologische (System-) Schuldlehren
Normebene (Gesetzesbefehl)837
Als Ergebnis dieser Untersuchung kennzeichnet Schuld sozialpsychologisch ein Zurückbleiben hinter den gesellschaftlichen Anforderungen, welches dem Täter dann zurechenbar ist, wenn die Erwartung der Einhaltung der gesellschaftlichen Anforderungen prinzipiell (kontraktualistisch) gerechtfertigt ist. Man kann dies als einen Typus von Vorwerfbarkeit auffassen, da eine solche Schuld stets individuell 833
Anknüpfung an die Unterteilung von Lampe in funktionale und konditionale Legitimation, FS Claus Roxin I (2001), S. 45 (58, 63). Ich verstehe dies allerdings rein rechtstheoretisch; in dem Sinne, dass ein, – aber kein bestimmtes – Konditionalprogramm das Zweckverfahren absichern muss. 834 Man wird P.-A. Albrecht, GA 1983, S. 193 ff., zustimmen können, dass psychologischer Wissenstransfer so weit wie möglich (rein) generalpräventive Argumentation zurückdrängen soll, (215 ff.). An der Methodik und deren Legitimität am Verfahren ändert dies nichts. Das Recht ist niemals klüger als die Gesellschaft die es erzeugt hat und anwendet. 835 Eine Annäherung dazu im dritten Teil. 836 Ähnlicher Befund bei P.-A. Albrecht, GA 1983, S. 193 (204 f.) in Bezug auf den Standpunkt des Agnostizismus. 837 Trifft nur zu unter Maßgabe der Trennung von Unrecht und Schuld.
A. Das Schuldprinzip als Axiom einer Strafrechtsdogmatik
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adressiert wird. Der Hintergrund des Vorwurfs ist und bleibt die Erwartungsenttäuschung einer Gemeinschaft. Ob dies auf einem idealistisch-motivierten gegenseitigen Anerkenntnis oder fiktiven Vertragstheorem gründet, bleibt dafür sekundär. Die Erwartungshaltung basiert jeweils auf dem gesellschaftlichen Fundament, dass in einer gleichgeordneten Gemeinschaft eine grundsätzliche Teilhabe an gleichen Rechten und Pflichten vorherrscht. Dieses normative System mündet deshalb in einer (rechtlichen) Idee von einer Zumutbarkeit der Normbefolgung. Die Zumutbarkeit untersteht insgesamt letztlich zwar funktioneller Diktion. Die Konkretisierung dessen, was denn Zumutbarkeit ausmacht, soll aber anknüpfen an ein empirisches Substrat anhand bestimmter, nachprüfbarer Kriterien.838 Schuld bleibt dabei im Grunde Willensschuld, die entscheidende Frage ist jedoch, welchen Zugang man zum Willen wählt. Unterstreicht man die externe, kommunikative Dimension des schadhaften Willens, kommt es auf eine Internalität (Selbstbestimmung) entsprechend dem Substrat klassischer Schuldbegründung, als Initiator des Willens, rechtstheoretisch nicht primär an. Diese kommunikative Dimension macht Schuld zum Inhalt einer Diskussion, Schuld ist damit etwa nicht einfach nur Kommunikation. Sie steht als Ergebnis am Ende des Kommunikationsprozesses.839 Mit Kommunikation ist zunächst rein formal argumentiert. Für die Soziologie Luhmanns, und ferner für die Konstruktion G. Jakobs’ war die Formalität das entscheidende Erkenntnisziel. Formalität allein wird aber der Rechtsidee nicht gerecht. Daher muss zusätzlich noch nach dem Inhalt der Kommunikation gefragt werden. Es muss also ein Deutungsschema parat stehen, welches die kommunikative Komponente analysiert. Eine vorsätzliche Tötung beispielsweise transportiert höhere Schuld als eine fahrlässige gerade deswegen, weil im Willen der Tötungshandlung eine negativer(er) Kommunikationsinhalt in Bezug auf das Rechtsgut Leben ausgedrückt wird. Das Deutungsschema kann tiefenorientiert natürlich weiter fragen, welche Ursachen einen solchen Willen begründet haben. Insofern kann inzident in einem sozialpsychologischen Modell der Schuld auch die Frage eines AndersHandeln-Könnens bemüht werden. Die Schulddiskussion muss daraufhin aber nicht finalisiert werden. Das Deutungsschema kann thematisch zuvor abgebrochen werden.840 Auf Basis eines Agnostizismus, der sich der Antwort auf eine Frage nach einer 838 De facto und de iure sind dies die klassischen Prüfungsgesichtspunkte der Schuld, dazu im 3. Abschnitt der Untersuchung. 839 Dass es dabei um Ersetzung der Realität durch „Kommunikation über Realität“ gehen soll, ist nicht recht einsichtig; so allerdings B. Schünemann, FS Lampe (2003), S. 537 (542 f.). So genommen ist Kommunikation ja schon selbst Realität. Schließlich kann man sich fragen, für was der Begriff der Realität sonst (noch) vorbehalten bleiben soll. Wenn am Ende eine endgültige und zeitüberdauernde Wahrheit der Schuld stehen soll, muss dies skeptisch machen. Man landet damit letztlich nur beim Ontologismus der Welzel’schen Schule. 840 Hierin liegt auch die Crux der Vorwerfbarkeit. Selbstverständlich kann man sich vornehmen, Vorwerfbarkeit als rhetorisches Topos zu vermeiden. Bedenken sollte man aber auch, dass Kommunikationsinhalte nicht allein vom Sender bestimmt werden.
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konkreten Handlungsalternative enthalten muss, kann auch gar nicht anders reagiert werden. Einen gangbaren Weg hat Roxin841 aufgezeigt. Mit der normativen Ansprechbarkeit wird der Inhalt einer Kommunikation auf einen Grad zurückgeführt, der forensisch (gerade noch) zu bewältigen erscheint. Allerdings muss sich dieser Schuldzugang neu positionieren, um als methodenehrliches Modell zu gelten. Die normative Ansprechbarkeit bleibt die Schuld einer Maßfigur. Versuche, mittels eines analogen Schlussverfahrens das deliktische Geschehen zu rekonstruieren, ersetzen den klassischen Dezisionismus der Freiheitsbehauptung nur formal, nicht materiell. In der Sache geht es bei jeder Tatrekonstruktion eigentlich um eine individuell-generelle Schuldbetrachtung.842 Denn Aussagen über Kompetenzen eines Täters in einer Situation wie der Tatsituation betreffen eine generelle Fähigkeit. Dennoch bleibt es eine individuelle Betrachtung, sofern nicht ein Durchschnittsmensch zum Träger dieser Fähigkeiten gemacht wird. Für die Schuldpraxis hat sich dieses Modell längst etabliert.843 Das bedeutet, dass der bekannte Regel-Ausnahme-Mechanismus aus der Normentheorie im Hinblick auf das strafrechtliche Unrecht (Tatbestand/ Rechtswidrigkeit) auch im Bereich der Schuld gilt: Ist der Täter grundsätzlich in der 841 Zum Modell normativer Ansprechbarkeit unter IV. 1. c). Zustimmend zum Leitprinzip R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (760); ders., in: Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe (2012), S. 39 (56). Kritischer Frister, FS Frisch (2013), S. 533 (544 f.), der das Modell bei steigender moralischer Indifferenz von Normen scheitern sieht. Falls sich Menschen durch weniger selbstverständliche Normen abseits des Kernstrafrechts nicht motivieren ließen, könne dies noch nicht hinreichend als pathologischer Zustand ausgewiesen werden. Ein klassischer Binärcode („richtige“ vs. „falsche“ Entscheidung) kann im Übrigen im Recht nicht stets postuliert werden. Die rechtliche Konstituierung der Testierfähigkeit bspw. könne nicht vom Ergebnis her, der konkreten Erbeneinsetzung, beurteilt werden. Die Einwände sind beachtenswert, vor allem, weil sie deutlich machen, dass eine Verkürzung der Betrachtung auf das Ergebnis als solches („Normbruch“) durchaus eine kurzsichtige sein kann. Die Subsumtionstechnik im Recht kann sich letztlich aber auch nicht selbst überprüfen. Das Prozesshafte (Genese, Dynamik) einer Entscheidung kann nur wieder von außen in Sicht gebracht werden. Dafür wird hier nachdrücklich eingetreten. Im Übrigen sehe ich gleichwohl – faktisch – sehr wohl die Möglichkeit, dass ein gesellschaftlicher Wandel in der Anschauung das Bild einer normativen Ansprechbarkeit auch immer modellieren kann. „Die“ normative Ansprechbarkeit als solche gibt es demnach auch nicht. Hier fließen immer auch die Vorstellungen von (mehr oder weniger) bestimmten Störungsbildern der menschlichen Psyche ein. Das verdeutlicht den Kommunikationscharakter ausdrücklicher Schuldausschließungsgründe, dazu im 2. Kapitel, A. III. 3. d) und e). 842 Krümpelmann, GA 1983, S. 337 (349). H.-L. Schreiber, in: Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (1980), S. 281 (289); ders., allerdings später eher in Richtung der hier abgelehnten Maßfigur, in: FS der Dt. Richterakademie (1983), S. 73 (78); ders., in: Thomas (Hrsg.), Schuld: Zusammenhänge und Hintergründe (1990), S. 61 (65 f.) und in: Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich (2000), S. 81 (86 f.). Siehe auch Venzlaff, Nervenarzt 48 (1977), S. 253 (255). Auf das gleiche läuft die ex-ante-Diagnose bei Hoyer, FS Roxin II (2011), S. 723 (736), hinaus. Ein solches Potentialurteil hält Haddenbrock, MschrKrim 77 (1994), S. 324 (325 f.) freilich für nicht möglich, zu seinen Konsequenzen s. IV. 3. b) bb). 843 Eine Persönlichkeitsbegutachtung kann gar keinen anderen Ausgangspunkt als den personellen Status quo wählen. Zu den gutachterlichen Zugangsmöglichkeiten noch im 3. Teil.
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften
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Lage, Normen zu befolgen (Konstruktion eines generell-individuellen Ansatzes), kann daraufhin eine spezifische Betrachtung erfolgen, ob eine Ausnahme (speziell definierte Ausschlussgründe) im konkreten Fall greift. Dieser normativ-empirische Schmelztiegel hat seinen gedanklichen Fluchtpunkt in der Idee von Zumutbarkeit, welche jeweils prozessgeleitet ermittelt wird. Ein Konvergenzprozess, welcher mit einem solchem hybriden Schuldbegriff angestrebt wird, mündet folglich in einem Schuldverständnis, welches in der Zumutbarkeitsdoktrin der 1930er Jahre bereits angelegt war und nun weiterentwickelt wird. Es zeigt sich zudem, dass die Klassifizierung Neumanns844 recht genau die Evolutionsgeschichte des Schuldbegriffs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt: Der idealistische Wertkonservatismus (ontologisch) wird durch funktionale Rechtsbetrachtung abgelöst. Um aber die Legitimität in das System wieder einzuholen, wird der funktionelle Herstellungsmechanismus axiologisch (sozialethisch) angereichert.
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften I. Das Ostinato845 der Diskussion und die Omnipräsenz des Themas „Willensfreiheit“ Die Diskussion um eine mögliche Willensfreiheit des Menschen beschäftigt die Menschheit seit Urgedenken. In Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft hat sie zu allen Zeiten – mit unterschiedlicher Intensität – regen Austausch gefunden. In der jüngeren Neuzeit hat sich die Neurologie846 in den Diskurs eingeschaltet. Den Forschungsberichten folgten alsbald Veröffentlichungen, zum Teil mit Hang zur Populärwissenschaftlichkeit847, für eine Breite Öffentlichkeit mit großem Widerhall. Die Repliken der Philosophie848 wie auch interdisziplinäre Standortbestimmungen849 ließen nicht lange auf sich warten. 844
Unterteilung in ontologisch, funktional, und sozialethisch, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. 1 (1998), S. 391 (391 f.). 845 Ostinato (lat. obstinatus, hartnäckig) entstammt eigentlich begrifflich der Musik und beschreibt eine sich stetig wiederholende musikalische Figur. Beobachter der strafrechtlichen Szenerie werden sich mit diesem Bild anfreunden können. 846 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (2001); ders., Aus Sicht des Gehirns (2003); Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung (2002); ders., Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung (2003). 847 Stephan Schleim: „Die Neurogesellschaft – Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert“ (2010); vgl. auch in unregelmäßigen Abständen die aufbereiteten Beiträge in dem seit 2002 zur Hirnforschung erscheinenden Magazin „Gehirn und Geist“. 848 Aus einer reichen Auswahl seien beispielhaft genannt: Peter Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung (2009); Michael Pauen, Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes; ders., Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung (2004).
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
In diesem Panorama der Ideen findet sich das Strafrecht nun als besonders aufmerksamkeitsreiche Projektionsfläche wieder. Man wird nicht sagen können, dass die Diskussion über das Strafrecht hereinbricht, denn dafür war sie seit jeher steter Begleiter.850 Bemerkenswert ist dennoch die Vehemenz mit der sich das Strafrecht konfrontiert sieht. Als historisch gesehen junge Wissenschaft steigt die Neurologie dabei nicht nur argumentativ unverbraucht ein, sondern weiß sich auch im Zeitalter der „digitalen Revolution“ dank ihrer technischen Zugangsmethoden mittels bildgebender Tomografie und encephalographischen Messverfahren außerordentlich zu profilieren. In einer fortschrittsorientierten Gesellschaft, die Fortschritt wesentlich über Technik definiert, verspricht dieser Ansatz fraglos nachhaltiges Gehör. Man kann dies für eine wissenschaftliche „Mode-Erscheinung“851 halten. Allein die Geschichte des Schuldstrafrechts852 hat viele „Trends“ und deren Gegenbewegungen erlebt, so dass mit der Prognose einer ultimativen Metamorphose des Schuldstrafrechts Vorsicht angebracht wäre.853 Damit sich die Rechtswissenschaft nicht in dem unübersichtlichen Diskussionsfeld verirrt, gilt es das Terrain wissenschaftstheoretisch genau abzustecken. Denn es wird nicht immer ganz deutlich, worin der Diskussionsgegenstand gesehen wird und warum welche Konsequenzen zu ziehen sind. Soweit es darum geht, neuronale Korrelationen von menschlicher Entscheidungstypik und Verhaltensweise nachzuweisen, befindet man sich im Bereich empirischer Tatsachenforschung. Es werden Zusammenhänge beobachtet, aus denen letztlich Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden sollen zur Stützung oder Widerlegung von zugrunde liegenden Hypothesen. Schlussfolgerungen und Bewertungen in dieser Hinsicht betreffen zunächst einmal nur den elaborierenden Wissenschaftszweig. Diesbezüglich formuliert die Rechtswissenschaft grundsätzlich keine Methodenkritik, da dies eine „interne“ Angelegenheit jener Forschungszweige ist, deren nur externer Beobachter und Empfänger der jeweiligen Ergebnisse das Strafrecht schließlich ist. Sobald allerdings aufgrund der Schlussfolgerungen Forderungen auf normativer Ebene erhoben werden, verlässt dies den eigentlichen Bereich der Empirie. (Potentielle) Wertentscheidungen sind für die Rechtswissenschaft von Interesse. Nur gilt es sich stets zu vergegenwärtigen, dass dies erstens keine unmittelbaren Erkenntnisse 849 Michael Pauen/Gerhard Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung: Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit 2(2010); „Willensfreiheit und rechtliche Ordnung“ (2008) von Ernst-Joachim Lampe/Michael Pauen/Gerhard Roth (Hrsg.), und „Entmoralisierung des Rechts“ (2008) von Klaus-Jürgen Grün/Michel Friedman/Gerhard Roth (Hrsg.) sowie weitere, zahlreich erschienene Sammelbände. 850 Lüderssen, FS Puppe (2011), S. 65 (65 f.) weist der aktuellen Debatte den Rang des fünften Verstoßes zu; zur geschichtlichen Entwicklung im Rahmen des Naturalismus, III. 3. und zum Topos innerhalb der Rechtsphilosophie einführend bereits oben II. 1. b) ff). 851 Etwa Zaczyk, GA 2009, S. 371 (375) im Rahmen der Rezension zu Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008). 852 S. ausführlich unter III. 853 Das periodische Auftreten von Omnipotenzphantasien innerhalb einzelner Wissenschaftszweige beschreibt Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 342 ff.
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften
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der Hirnforschung sind, sondern es handelt sich bereits um Rechtspolitik. Zweitens sind solche Werturteile nicht im empirischen Sinne wahrheitsfähig. Allenfalls die Konsensfähigkeit könnte man tatsächlich überprüfen. Insofern gilt es wachsam zu bleiben, was noch Wissenschaft und was bereits Weltanschauung vermittelt. 1. Begrifflichkeiten und Konzeptionen Generell leidet die Diskussion an zu wenig reflektierter Sprache. Zu beobachten ist in Regelhaftigkeit eine kategoriale Konfusion von Handlungs-, Willens-, Wahlund Entscheidungsfreiheit sowie der Freiheit von Zwang als Topoi.854 Das erschwert sowohl das Verständnis als auch ihre Zuordnung zu den einzelnen Meinungen. Terminologisch ist die Bezeichnung „Willensfreiheit“ nämlich irreführend.855 Am einfachsten kann man sich das mit dem Schopenhauer-Zitat856 verdeutlichen, dass ein Mensch „nicht wollen könne, was man will“ ohne sich in einem zirkelhaften Erklärungsvorgang zu bewegen. Bedürfnisse, Antriebe und Wünsche stehen nicht in der Verfügungsmacht des Menschen; es ist auch nicht ersichtlich, dass dies behauptet würde. Der Wille ist ein „Endprodukt“ von verschiedenen Faktoren.857 Im strengen Sinne kann es daher nie um eine Freiheit des Willens gehen, jedenfalls nicht in der Vorstellung einer Abwesenheit kausaler Determination. Das analytische Denken vollzieht sich notwendig in Kausalbeziehungen, ohne auffindbaren Grund erweist sich jede Entwicklung als Zufall858. Zufall als Ursprung des Willens ist aber nicht gemeint. Die Vorstellung bezieht sich ja gerade auf das Gegenteil, nämlich die Beherrschbarkeit des Willens. Gemeint ist vielmehr eine mögliche Steuerung von Vorgängen durch Überdeterminierung oder Selbstdetermination durch den Menschen.859 In Rede steht also eine Art Entscheidungsfreiheit oder Selbstbestimmung des Menschen. Freilich ist außer dieser Präzision für das Sachproblem nicht viel gewonnen.860 Die Erklärungsparameter verschieben sich lediglich. Was konstituiert dieses „Selbst“ und wann spricht man von Freiheit? Freiheit lässt sich als positives Vermögen, als eine Freiheit zu etwas, aber auch negativ, als eine Form von Abwesenheit, als eine Freiheit von etwas, formulieren.861 Die Konzeption des „Selbst“ fragt nach dem Bild des Menschen an sich: nach dem „Ich“, der Person, dem Subjekt. 854 So auch Müller-Dietz, GA 2006, S. 338 (341); bereits Tiemeyer, GA 1986, S. 203 (207 f.). 855 Ebenso T. Walter, FS Schroeder (2006), S. 131 (133). 856 Über die Freiheit des menschlichen Willens (1839), S. 519 (542). 857 Zum Modell des Willens als Perseveranz, siehe Fn. 1142 später im Text. 858 Oder auch: Wunder. So bei Herzberg, FS Kühl (2014), S. 259 (271), ders., GA 2015, S. 250 (258). 859 Goschner, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 241. 860 Der Terminus „Willensfreiheit“ soll der Anschaulichkeit wegen hier nicht aufgegeben werden. 861 Keil, Willensfreiheit und Determinismus (2009), S. 21 ff.; R. Merkel, FS Phillips (2005), S. 411 (416 ff.). Jakobs, ZStW 117 (2005), S. 247 (262) spricht vom „Fehlen außergewöhnli-
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
Dieser summarische Umriss dürfte ausreichen um aufzuzeigen, dass sich an diesen begrifflichen Weichenstellungen die Thematik vielfältig verzweigen kann. Die einzig rechtlich brisante Fragestellung in diesem Konglomerat ist, ob die Befunde der Hirnforschung zu so etwas wie einer anthropologischen Neuordnung zwingen, die sich in neuen Rechtsformen niederschlagen (müssen). Dabei geht es vor allem auch um einen drohenden Verlust der Subjektqualität des Menschen, denn anders als mit der Vermutung, resp. ggf. Befürchtung, einer „Verdrängung der Philosophie des Geistes“862 durch die Neurowissenschaften lässt sich die bisweilen überhitzte Debatte kaum begreifen. Mit einer Matrix nach Keil863 lassen sich die Positionen auf ein Grundschema reduzieren: Der Wille ist
frei
unfrei 864
determiniert:
Kompatibilismus „weicher“ Determinismus
Inkompatibilismus: „harter“ Determinismus
nicht determiniert:
Inkompatibilismus Libertarismus
–
Die Positionen eines Inkompatibilismus kann man auch als die jeweiligen Gegensätze bezeichnen, die sich logisch gegeneinander ausschließen. Der Libertarismus pocht auf einen freien menschlichen Willen und weist den Determinismus als falsch zurück, mutatis mutandis gilt das für den hier als „harten“ Determinismus bezeichneten. Der „weiche“ oder relative Determinismus erkennt die deterministische Prämisse grundsätzlich an, setzt aber ein spezifisches Freiheitsverständnis daneben. 2. Erkenntnisse und offene Fragen der Hirnforschung Rein intuitiv erlebt der Mensch die Urheberschaft einer Handlung als seine eigene, bewusste Entscheidung. Trifft die indeterministische Prämisse zu, dann initiiert die bewusste Entscheidung in Form einer „mentalen Verursachung“ die Kausalkette einer Handlung. Der Ausgangspunkt der Untersuchungen neurobiologischer Hirnforschung ist also die Frage nach einem Kausalwerden einer bewussten chen Zwangs“. Klassifizierung von „Freiheiten“ auch bei Tiemeyer, GA 1986, S. 203 (221 ff.). Der Bedeutungsgehalt von Freiheit ist also nicht ohne weiteres klar. Schon gar nicht wird der Rückgriff auf eine „optionale Freiheit“ genügen. Kontingenzsteigerungen bewirken keinen Zugewinn an Freiheit, s. Arthur Kaufmann, Fundamenta Psychiatrica Bd. 3 (1988), S. 146 (147). 862 So bei Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 342. 863 Keil, Willensfreiheit und Determinismus (2009), S. 10, mit Differenzierungen auf S. 11. Eine ähnliche Grundunterscheidung findet sich bei R. Merkel, FS Phillips (2005), S. 411 (422 ff.). 864 R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 23 f., benennt als weitere kompatibilistische Form die Offenheit für ein Schuldstrafrecht trotz einer (möglichen) Maßgabe der Unfreiheit.
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften
173
Entscheidung für die Ausführung einer menschlichen Handlung. Vorreiter der nun einsetzenden Untersuchungen waren die Libet-Experimente865 : es wurden elektrophysiologische Korrelate einfacher Willkürbewegungen gemessen. Die Probanden sollten eine Fingerbewegung nach spontanem Belieben ausführen und den Zeitpunkt ihrer Entscheidung zu Protokoll geben. Dabei zeigte sich, dass bereits vor der Bewusstwerdung der Entscheidung Aktivität in den Hirnregionen motorischer Steuerung zu verzeichnen war.866 Diese Versuchsanordnung bildet nach wie vor den Grundstein für die Annahme, dass ein bewusster Wille als Entscheidungsgrundlage eine Illusion sein muss. Doch erweitert diese Aussage die tatsächlichen Befunde beträchtlich. Nachgewiesen ist bislang lediglich das Phänomen unbewusster Steuerung.867 Dass generell und ausnahmslos unbewusste Steuerungsprozesse ablaufen, lässt sich aus diesen Ergebnissen dagegen nicht folgern.868 Dafür ist bereits der Aufbau des Versuchs ungeeignet, da das Bereitschaftspotential, welches elektronisch vor einer Bewusstwerdung messbar ist, ebenso durch Instruktionen vor Versuchsbeginn aktiviert werden könnte. Zudem lässt sich diese neuronale Vorbereitung nicht mit der eigentlichen Entscheidung gleichsetzen. Weiterhin lässt sich ein bewusster Wille nicht deswegen als Illusion ausweisen, weil bewusstes Willenserleben mitunter manipulationsanfällig ist: so lässt sich zwar zeigen, dass das Gehirn Vorgänge irrtümlich als Produkt eigenen Handelns attribuiert.869 Dies erfolgt in der Wahrnehmung einer Korrelation von Gedanke und Handlung, so dass bewusstes Willenserleben schließlich diesbezüglich nur ein Ergebnis eines Schlussfolgerungsprozesses ist. Über Kausalität ist damit aber nichts gesagt, sondern dokumentiert ist nur ein Wahrnehmungsfehler. Ergo ist Bewusstseinserleben trügerisch, selbiges Phänomen ist aber im Grunde aus optischen Täuschungen hinreichend bekannt;870 bemerkenswerterweise ohne die drastische Forderung, dem Menschen die Wahrnehmungsfähigkeit abzusprechen. Ein empirischer Durchbruch für den „harten Determinismus“ steht folglich noch aus.
865
Man kann die Anfänge auch in die 60er Jahre rückdatieren, als das sog. Bereitschaftspotential entdeckt wurde, so berichtet bei T. Walter, FS Schroeder (2006), S. 131 (136). 866 Dazu Libet, The Behavioral and Brain Sciences 8, (1985), S. 529 ff.; repliziert durch Haggard/Eimer, Experimental Brain Research 126 (1999), S. 128 – 133. 867 Goschke, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 245. 868 Zu dieser Kritik im folgenden T. Walter, FS Schroeder (2006), S. 131 (140); Schroth, FS Roxin II (2011), S. 705 (708 f.); Frisch, FS Kühl (2014), S, 187 (202). A. A. freilich auf neurobiologischer Seite z. B. G. Roth, FS Lampe (2003), S. 45 (50). 869 Nach diesem Prinzip sind Spielautomaten konstruiert: der Spieler soll glauben, dass es auf seinem Geschick beruht, zu gewinnen. 870 Zum Ganzen Goschke, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 248 f.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
II. Normative Relevanz der (neueren) Debatte um eine Willensfreiheit Die Erkenntnisse der neueren Hirnforschung sind bei genauerer Hinsicht weitaus unspektakulärer als gemeinhin angenommen wird. Das liegt aber weniger an der begrenzten Aussagefähigkeit der Ergebnisse – deren Gehalt offensichtlich Phantasien anzuregen vermag. Ungeachtet einer respektvollen Anerkennung ihrer Forschung bedeutet eine Zuwendung zu den Neurowissenschaften aus normativer Perspektive keine Novation. Bestätigt werden kann schließlich allenfalls das, was ein Teil der Meinungen schon immer propagiert hat: der Mensch ist determiniert. Die Anreicherung der Determinismusmodelle um einen „Neurodeterminismus“ erweitert das Lösungsspektrum in normativer Hinsicht nicht. Abgesehen von einer tendenziellen Ausrichtung871 kann man insgesamt die Irrelevanz der aktuellen Erkenntnisse festhalten.872 Am Grundproblem, was da heißt eine Art „Endbeweis“ zu liefern, ändern sie zunächst nichts. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Streitfrage(n) rund um die Gestaltung eines (Schuld-)Strafrechts nicht endgültig ausgefochten sein kann bzw. können. Das Rechtsproblem ist indes keine Frage der Empirie (mehr), sondern die Frage von Legitimität eines Werturteils. Werturteile sind nicht wahrheitsfähig, sondern lediglich konsensfähig.873 Allein indirekt könnte die Wahrhaftigkeit zur Sprache kommen, nämlich in dem Sinne, dass die Überzeugungskraft einer Argumentation in einer belastbaren Tatsachengrundlage wurzeln müsste. Nicht zuletzt stellen die meisten Diskurstheorien auf einen vernunftbegabten Teilnehmer ab, so dass eine Diskussion fernab jeder Tatsachenvorstellung schwer nachvollziehbar wäre. Am Grundcharakter der Entscheidung ändert dies jedoch nichts. Juristische Aufgabe kann also nur sein, auf Basis des kontemporären Erkenntnisstands die notwendigen Voraussetzungen eines legitimen Schuldurteils festzulegen. Dafür stehen sowohl eine in- wie deterministische Basis im Raum. Dabei stellt sich generell die Frage, ob ein Schuldstrafrecht auf die Philosophie eines Indeterminismus als seinen Grundbaustein angewiesen ist. Mittelbar davon berührt ist die Konsequenz der nicht-prozessualen, argumentativen Beweislast. Dass im Strafprozess die Überführung des Beschuldigten Angelegenheit des Staates ist, kann als unstrittig vorausgesetzt werden. Nicht geklärt ist damit jedoch, ob ein etwaiges indeterministisches Vorstellungsbild – als ein etwaiges Teilmoment dieser Beweislast – beweiserheblich wäre oder ob man sich mit einer normativen Festsetzung begnügen darf. Die Plausibilität der Argumentation entscheidet letztlich 871 Natürlich eignen sich die Ergebnisse im Diskurs eher dazu, die deterministische Perspektive zu stützen. 872 Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 4. 873 Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 243; Wesche, Wahrheit und Werturteil (2011), S. 80, spricht davon, dass in der Ethik Wahrheit mit der bestmöglichen Begründung zusammenfällt. Ich möchte diesen Gedanken im Folgenden lediglich als Überzeugungskraft einer Argumentation innerhalb eines Diskurses aufnehmen.
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften
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über die Legitimität des Modells. Die möglichen Argumentationsstile sind dabei vorgezeichnet: beruht unser Strafrecht auf einem inhärenten Indeterminismus, so hängt der Bestand des gültigen Schuldstrafrecht von der Überzeugungskraft eben dieses Modells ab. Ein solches Modell der Willensschuld kann man gegen die Diskussion nicht immunisieren. Da traditionell die Doktrin der Willensschuld die Dogmatik des Schuldstrafrechts beherrschte, besteht deren Kernaussage, die Vorwerfbarkeit einer fehlbaren Willensleistung, auf diesem Prüfstand. Ein strenger Determinismus verneint die Möglichkeit einer Fehlbarkeit des Willens mangels Entscheidungsalternative. Aus dieser Prämisse folgt der Rückschluss, dass ein Schuldstrafrecht vor seiner Weltanschauung keinen Bestand haben kann. Die Forderungen müssen daher konsequent auf die Abschaffung eines Schuldstrafrechts drängen.874 1. Strategien der „Determinismusabwehr“ Zur Verteidigung des Schuldstrafrechts müssen also Erklärungsmodelle feilgeboten werden, die auf legitime Weise den Erhalt des Status quo rechtfertigen. Im Anschluss an die Terminologie Herzbergs875 sollen unter dem Namen „Determinismusabwehr“ die wesentlichen Strategien für das Strafrecht vorgestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Einordnung nur eine grobe Orientierung anhand von Argumentationsmustern ermöglichen soll und dafür etwaige Heterogenität in Positionen und Einzelheiten ausblendet. a) Naiver Realismus Eine Gruppe der Determinismus-Gegner eint ihre Positionierung im Geiste eines naiven Realismus. Der Grundgedanke besteht hier in der Bekräftigung eines indeterministischen Strafrechts. Dafür dient in erster Linie die Berufung auf ein subjektives Freiheitsbewusstsein876 des Menschen, welches einstweilen als gesellschaftliches Kulturerbe gepriesen877 und zudem sprachwissenschaftlich878 fundiert 874 Die Positionen der prominenten Vertreter der Hirnforschung skizziert Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (26 ff.) mit entsprechenden Nachweisen. Auf deren Darstellung im Einzelnen kommt es hier nicht an. 875 Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 18. 876 Hierfür etwa B. Burkhardt, FS Lenckner (1998), S. 3 (6, 24); ders., FS Eser (2005), S. 77 (84 ff., 98); ders., FS Maiwald (2010), S. 79 (86 ff.), Dölling, FPPK 2007, S. 59 (61); Dreher, Die Willensfreiheit (1987), S. 383; ders., Grasnick, JR 1991, S. 364 (365); Hirsch, FS Otto (2007), S. 307 (321); LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 22 ff. 877 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (163). Kulturspezifisch argumentiert auch Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 49 ff. 878 B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (164); fortgeführt in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (151 ff.); ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 259 (280, 284); ders., FS Lampe (2003), S. 537 (547 ff.), ferner Dreher, Die Willensfreiheit (1987), S. 384.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
gesehen wird. Letzteres bezieht sich auf die subjektbezogenen Ausdrucksformen innerhalb von Sprachen weltweit. Die Ausprägungen reichen hier – ausgehend von unterschiedlichen Graden von Gewissheitsvorstellung(en), wie diese etwa für den klassischen Indeterminismus prägend sind – abschwächend hin zu einem Alltagspragmatismus, der sich damit begnügt, dass die eigene Erlebnisperspektive bislang keine verfestigte andere Vorstellungswelt kennt.879 b) Epistemischer Agnostizismus I: Die Wahlfreiheit des Gesetzgebers Soweit der agnostische880 Standpunkt dazu herangezogen wird, um den Determinismus als letzten Schluss zurückzuweisen, handelt es sich um eine Strategie der Determinismusabwehr. Der Determinismus wird zwar als für möglich, aber nicht bewiesen befunden. Dieses non-liquet in der Beweissituation berechtige den Gesetzgeber, mit einer normativen Setzung zu arbeiten.881 Im Zuge dieser normativen Setzung wird der Mensch ungeachtet einer empirischen Validierung als „frei“ behandelt. Im Ergebnis wird so die Debatte für das Strafrecht für bedeutungslos gehalten.882
Kritisch dazu Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (761); Hoyer, FS Roxin II (2011), S. 723 (730); relativierend Hörnle, Symposium für B. Schünemann (2005), S. 105 (125). 879 Frister, Strafrecht AT 7(2015), 3. Kap. Rn. 8; StGB-Lackner/Kühl/Heger 29(2018), Vor § 13 Rn. 26; MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 61 f.; ders., FS Jakobs (2007), S. 675 (685); Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 1 Rn. 7; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45 (2015), Rn. 608, dort jeweils mit entsprechenden Nachweisen. 880 Agnostizismus bezeichnet an und für sich eine Grundposition der Nicht-Erkenntnis, wurzelnd im griechischen Wort agno¯stikismós (!cmystijisl|r), abgeleitet von a-gnoein (!cmoe?m) „nicht wissen“, zum entsprechend Artikel, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. I (2005). 881 Bspw. Dreher, Die Willensfreiheit (1987), S. 379; ders., FS Spendel (1992), S. 13 (22); Hillenkamp, JZ 2015, S. 391 (401) und ZStW 127 (2015), S. 10 (80), zuvor schon ders., in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung- neues Strafrecht (2006), S. 85 (110) und in: JZ 2005, S. 313 (319). Ferner Reinelt, NJW 2004, S. 2792 (2793); Weißer, GA 2013, S. 26 (36 f.): Verantwortlichkeitszuweisung aufgrund gesellschaftlicher Übereinkunft. Ein Sonderfall ist die Position von Frisch, FS Kühl (2014), S, 187 (210 f.). Er verarbeitet die diskurstheoretische Schuldfundierung mit der Annahme einer frei gewählten Diskursfähigkeit. Die Diskursfähigkeit beruhe von vorneherein nur auf einer „Selbsterfahrung“. Er verknüpft damit die Position des naiven Realismus’ (Selbsterfahrung) mit der normativen Setzung eines epistemischer Agnostizismus’. Insofern kann man hier von einer Zwischenposition sprechen. 882 Gilt insoweit als die „herrschende“ Meinung, vgl. Backes, FS für Maihofer (1988), S. 41 (55); Braum, KritV 2003, S. 22 (28); StGB-Fischer 67(2020), Vor § 13 Rn. 8; MüKo-StGB/ Freund 4(2020), Vor §§ 13 Rn. 242; Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 (764 f.); Rengier, Strafrecht AT 7(2015), § 24 Rn. 2; s. auch Lackner/Kühl-StGB 27(2011), Vor § 13 Rn. 26 m. w. N.
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c) Epistemischer Agnostizismus II: Kompatibilismus Die agnostische Variante findet sich noch weitergehend in den kompatibilistischen Thesen. Kennzeichnend hierfür ist eine prinzipielle Anerkennung von deterministischen Ansätzen, aufgrund derer eine Vereinbarkeit mit der freiheitlichen Prämisse gesucht wird. Es wird also jeweils ein spezifischer Begriff von (Rest-) Freiheit neben ein gültiges deterministisches Modell gestellt.883 In diesem Sinne wird auch von einem „relativen Indeterminismus“ gesprochen.884 d) Schwächen der Determinismusabwehr Es ist das Grundproblem jeder Determinismusabwehr: es muss ein Modell entworfen werden, welches zum einen den gesicherten Erkenntnissen nicht widerspricht885 und zum zweiten die eigenen Ergebnisse theoretisch unterfüttert. Es ist nicht zu verhehlen, dass deterministische Vertreter so etwas wie einen Beweis des erstens Anscheins verbuchen können, da ihre Ableitungen eben auf dem Kausalprinzip beruhen, dessen Dispensierung das Schuldstrafrecht nicht anstreben kann. Diesen Anscheinsbeweis zu entkräften, gelingt den Strategien nur mühselig. Das subjektive Erleben allein kann die Freiheitsthese nicht umfänglich stützen, so denn „die Willensfreiheit“, die gerne als selbsterlebte Wirklichkeit postuliert wird, eben reine Illusion sein soll.886 Gerade wenn unstrittig willensunabhängige Motive durch
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In diese Richtung: Heun, JZ 2005, S. 853 (859); C. Jäger, GA 2013, S. 3 (7 ff.); Koriath, GA 2011, S. 618 (628); Krey/Esser, Strafrecht AT 5(2012), Rn. 689; H.-L. Schreiber, FS Laufs (2006), S. 1069 (1076 f.); T. Walter, FS Schroeder (2006), S. 131 (141); dialektisches Zusammenspiel auch bei Krauß, FS Jung (2007), S. 411 (430). Ferner Jakobs ZStW 117 (2005), S. 247 (261), der mit der Konstruktion der Rechtsperson arbeitet und neben das (natürliche) Individuum eine (gesellschaftlich vermittelte) Rollenfigur: die Person stellt, Jakobs, a. a. O. (256, 259, 261). Vgl. auch den Hinweis bei Lüderssen, FS Puppe (2011), S. 65 (71) zur „philosophy of mind“. Von psychologischer Seite etwa Kuhl, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und menschliche Ordnung (2008), S. 99 (121), aus der Philosophie Pauen, Illusion Freiheit? (2004), S. 165 ff., 175 f. Weniger in diese Reihung passt Herzberg, der geschlossen deterministisch argumentiert, aber von einer Art „normativer Freiheit“ ausgeht, in: FS B. Schünemann (2014), S. 391 (397). „Freiheit“ heißt dann „frei [sein] von bestimmten Faktoren der Beeinflussung“. Diese rein fiktive Freiheit ist assoziiert mit der „Defektlogik“ in den §§ 20 StGB bzw. 3 JGG. Dazu noch im folgenden Kapitel A. III. 3. a) und d). 884 Spilgies, Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits (2004), S. 40; Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 483 (484). 885 Vgl. Schiemann, NJW 2004, S. 2056 (2058): „Gute Philosophie muss […] auf historischem und empirischem Boden verankert sein.“ 886 In diesem Sinne Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip (1998), S. 42; G. Merkel, FS Herzberg (2008), S. 3 (12); G. Roth, FS Lampe (2003), S. 45 (54); differenzierend Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 483 (506) und vor allem in GA 1986, S. 203, der die Beweistauglichkeit verwirft (205), aber das subjektive Freiheitsgefühl nicht als Täuschung auffasst (223).
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einen spezifischen Willen gehemmt werden können,887 muss die Frage beantwortet werden, wie sich diese Willensleistung von schlichten Gegenmotiven abgrenzen kann.888 In Wahrheit sei das Freiheitsgefühl ein Verantwortungsgefühl für etwas, welches rückdatiert eine Wahl attribuiert.889 Der Rekurs auf die Sprache jedenfalls dürfte zu unergiebig sein. Die Subjektstellung ist in der Sprache manipulierbar, sei es einerseits durch Passivkonstruktion, sei es andererseits durch Personifikationen unbelebter Materie. Eine Subjektivierung bewirkt noch keine Willensassoziationen.890 Die Überlegungen bleiben in einem methodologischen Solipsismus stecken, der nur durch ein Glaubensbekenntnis gestützt wird. Die beiden agnostischen Positionen vermeiden rhetorisch geschickt891 ein grundlegendes Bekenntnis, erleiden aber dadurch ein leichtes Plausibilitätsdefizit. Auf der einen Seite wird jede Hirnaktivität stets auch mit neuronaler Aktivität assoziiert.892 Wenn nun auf der anderen Seite das deterministische Kausalitätsprinzip zur Erklärung nicht hinreichend sein sollte, müsste zur Legitimation an und für sich alternative Erklärungen angeboten werden. Ohne Erklärung droht ein „kausales Vakuum“,893 d. h. einem Phänomen stehen keine Erklärungen gegenüber. Es hilft in diesem Zusammenhang auch nicht, dass man sich bei Chaostheorie und Quantenphysik mit einer solchen Situation konfrontiert sieht,894 denn für das Recht ist eine solche Lage besonders misslich, da „Rechtsrichtigkeit“ stets eine Frage der Begründung ist. Sofern man nicht auf eine echte creatio ex nihilo oder sonstige argumentative Leerstellen verweisen will, fällt es schwer sich von dem Kausalitätsdenken zu emanzipieren.895 887
Sog. „Veto-Theorie“, bei Libet, Mind Time (2004), S. 179; rezipiert auch von Heun, JZ 2005, S. 853 (856); Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (17); Lampe, ZStW 118 (2006), S. 1 (30 f.), Streng, FS Jakobs (2007), S. 674 (684). 888 Auf diesen Gedanken wesentlich abstellend Herzberg, ZStW 124 (2012), S. 12 (49 ff.); zuvor schon ders., in: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 12 f.; 38 f. 889 So Herzberg, ZStW 124 (2012), S. 12 (22 f. u. 53). 890 Herzberg, FS Achenbach (2011), S. 157 (163); s. ders., Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 20 f. 891 Frei nach Luhmann „Wer schweigt, kann immer noch reden. Wer dagegen geredet hat, kann darüber nicht mehr schweigen“, s. Reden und Schweigen (2001), S. 105, bleiben mögliche Argumentationen in Reserve. 892 G. Merkel, FS Herzberg (2008), S. 3 (9). 893 Wie will man eine Wirkung ohne Ursache denn erklären? Am nachdrücklichsten dergestalt Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 9 ff.; 28 – 34; ders., FS Achenbach (2011), S. 157 (169); ders., ZStW 124 (2012), S. 12 (34); ders., FS Kühl (2014), S. 259 (271, 279), ders., GA 2015, S. 250 (258), aber auch Tiemeyer, ZStW 100 (1988), S. 527 (532). 894 Der Hinweis auf die Heisenberg’sche Unschärferelation gilt gemeinhin als der letzte argumentative Fluchtpunkt, etwa bei Fahl, ZRph 10 (2012), S. 93 (114). Die Reichweite dieses Gedanken muss hier offen bleiben. 895 Zwar bemerkt R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (740, Fn. 13), dass die „Denkform“ des Verstands (gemeint: Kausaldenken) nicht zwingend etwas über die Ontologie der Welt
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Ein Versuch dieser Leerstelle zu begegnen, besteht in einer Aufspaltung der Kausalität in Akteurs- und Ereigniskausalität. Vereinfacht gesprochen beschreibt Akteurskausalität das intelligible Gegenstück einer Person gegenüber einer Verursachung von Dingen oder Ereignissen.896 Strafrechtlich erinnert dieses Modell an das finalistische Konzept Welzels.897 Gibt es eine Art sehende Kausalität initiiert durch den menschlichen Willen?898 Das ist sicherlich Anschauungsfrage. Gegenüber der Neurophysiologie ist damit aber kein Boden gewonnen. Wenn über Umwege das erreicht, was über den Neuronen bereits (besser) erklärt wird, dann tragen sämtliche gedankliche Zwischenstufen nur den Charakter eines retardierenden Moments.899 Ein anderer Versuch ist es, auf die „probabilistische Determiniertheit“ im Sinne der Skinner’schen Verstärkerdiktion zurückzugreifen.900 Es bleibt letztendlich nur der Rückzug auf Freiheitsverständnisse in einen Bereich, der noch nicht durch neuronale Erklärungsmuster besetzt ist.901 Eine solche kompatibilistische Strategie ist bislang noch nicht vorgelegt worden. Die Möglichkeit soll hier nicht ausgeschlossen werden. Auf diese Weise werden freilich die Freiheitsbegriffe nach Diktat anderer Erkenntnisse moduliert. Die Philosophie der Freiheit wird zur philosophia negativa. Ob dies ein „Makel“ per se ist, sei dahingestellt. Als eine Konstante kann sie jedenfalls in die Diskussion um ein Schuldstrafrecht nicht eintreten.902 2. Deterministisch geeignete Alternativen zum Schuldstrafrecht? Zumindest in der Tendenz scheint dem Schuldstrafrecht die Philosophie eines Indeterminismus zugeneigt zu sein. Die agnostischen Varianten müssen in unbeaussagt. Das kann man philosophisch stehen lassen. Für das Recht allerdings gibt es eine „formengebundene“ Arbeitsweise. 896 Umfangreiche Einführung von Kant bis zur Neuzeit bei. R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 51 ff. 897 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht 11(1969), S. 33: Kausalität ist blind, Finalität ist sehend. 898 Bei H.-L. Schreiber, FS Laufs (2006), S. 1069 (1075) heißt dies Überdetermination durch „Sinn“. 899 R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 79, nennt dies einen Haseund Igel-Wettlauf. 900 Dazu Witmann, FS Szwarc (2009), S. 147 (156 ff.). 901 Freiheitsangebote z. B. bei Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip (1998), S. 80 ff.; Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 159 ff.; Freiheit im Sinne der hiesigen Idee von Autor und Adressat bei Mohr, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 225 (240). Siehe auch Oswald, GA 1988, S. 147 (159 f.), die im zunehmenden Wissen über Determinanten menschlicher Handlungssteuerung gerade das Potential von „Wahlfreiheit“ – wohl im Sinne von Kompetenzerweiterung – sieht. 902 Tatsächlich ist die „Freiheitsphilosophie“ gerade im Fluss. Das Angebot an Freiheitsverständnissen wird dementsprechend in Zukunft noch zunehmen.
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friedigender Weise viele Fragen offen lassen. Aus diesem Befund wird – im Grunde seit jeher – die Ablösung des Schuldstrafrechts gefordert. An die Stelle soll gemeinhin ein „wertneutrales“ Maßnahmenrecht treten.903 Doch mit den Schwächen des Schuldstrafrechts allein ist die Überlegenheit eines solchen Systemwechsels nicht dargetan. Das häufig angestimmte Sprachspiel von der „Befreiung von der Illusion Willensfreiheit“ nimmt einen merkwürdig missionarischen Charakter an, der aber eine solche Überlegenheit in Bezug auf die Lösung strafrechtlicher Probleme anspruchsbewusst erwarten lässt.904 Die Einlösung jenes Anspruchs bereitet allerdings noch Schwierigkeiten. a) Rein methodisch lässt sich einwenden, dass jedes deterministische Modell im Determinismus selbst „gefangen“ ist: aufgeklärte Einsicht in die Dinge erscheint schwer möglich. Der Determinist steht nicht „über den Dingen“, denn eine „gestufte“ Form der Erkenntnis passt nicht recht zur Ausgangsthese eines vollständig determinierten Systems. Jede Kontrolluntersuchung oder -überlegung wäre ebenso determiniert.905 Der Status eines unabhängigen Beobachters kann nur fiktiv eingenommen werden. Die Systemgebundenheit der Aussage bewirkt indes, dass der Beweis, so denn die These wahr sein soll, nicht angetreten werden kann. Hier trifft man auf die von den philosophischen Wahrheitsbegriffen bekannte Paradoxie.906 b) Jenseits der Gewissheit, dass sich eine Strafbegründung nicht aus dem tradierten Verbrechensbegriff deduzieren lässt907, müssen strafdogmatische Implikationen ausbleiben; abgesehen davon, dass sich längst Schuldmodelle ohne Bezug auf die klassische Willensschuld herausgebildet haben. Das liegt an der systemimmanenten Kopplung des Schuldbegriffs an den Begriff der Strafe. Strafe ohne Vorwurf ist undenkbar.908 Wer ein neues staatliches Lenkungsinstrument etablieren will, muss sich nicht nur von der lexikalischen Begrifflichkeit distanzieren, sondern substan903
Vgl. bereits die Forderungen im vorhergehenden Text bei A. IV. 3. Zu diesem Aspekt vor allem Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 364. Ein „Strafrecht für Limbier“ vermisst Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (59). 905 Vgl. Hruschka, Strukturen der Zurechnung (1976), S. 39; LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 8; Art. Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 282 = JZ 1967, 553 (560); ders., Fundamenta Psychiatrica Bd. 3 (1988), S. 146 (147); LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 8; Lüderssen, FS Puppe (2011), S. 65 (67). In besonderer Spezifität bemüht Welzel, FS Engisch (1969), S. 91 (95 f.), den Gedanken, dass „Einsicht“ in Relation auf den Erkenntnisgegenstand nur denkbar ist, wenn dieser Erkenntnisakt von kausaler Determination losgelöst ist. 906 Ein Wahrheitsbegriff kann nicht zum Beweis seiner eigenen Widerspruchsfreiheit herangezogen werden. 907 Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 386. 908 Wie hier für viele stv. LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 10; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedanken (1967), S. 31; B. Schünemann, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (154). Insoweit wohl auch Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf (2013), S. 49 ff., 55, 59, wenn(gleich) sie den Schuld- durch einen Unrechtsvorwurf substituiert. Letzteres erscheint allerdings als rein terminologische Differenz, so auch Roxin, GA 2015, S. 489 (501). Zur Wechselwirkung von Strafe und Vorwurf s. die eigene Untersuchung im vorhergehenden A. II. 2. e) bb) (4). 904
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tielle Veränderungen in der Ausgestaltung der Sanktion vornehmen. Rein faktisch gälte es jeden Attributionsprozess zu unterbinden, der eine Maßnahme in der Empfindung als Strafe und vorwurfsbelastet hinterlässt. Diese Aufgabe ist bereits im Maßregelvollzug aktuell und dort auf absehbare Zeit vorerst gescheitert.909 Denn die Vollzugswirklichkeit muss eine andere sein, wenn sie nicht eine tadelbehaftete „Lektion“ für den Täter sein soll. Empirisch gestützter Argumentation wird man einen Rückzug auf Etiketten der Begrifflichkeit hier nicht gestatten können. Zum zweiten erscheint ein Verzicht auf ein Wertelement, wie im Tadelscharakter der Strafe verinnerlicht, wenig erstrebenswert. Denn das Recht soll schließlich ein Werturteil fällen; wie dies ohne Wertprädikat von statten gehen soll, ist rätselhaft. Der logischen Symmetrie wäre dem Grunde nach dann auch kein Raum mehr für Lob innerhalb der Gesellschaft, wenn man persönliche Erfolge als „ursächlich notwendig“ attribuiert; die Idee einer Belohnung hätte ebenfalls wenig Plausibilität für sich. Der Verzicht auf einen Tadel zwänge also zu einem artifiziellen gesellschaftlichen Umgang miteinander, der mehr als wirklichkeitsfern zu sehen ist.910 Diese Konsequenzen führen vor Augen, dass sich Strafe als Kommunikationselement nur theoretisch wegdenken lässt. Denn Strafe, wie Sanktionen im Allgemeinen, üben eine Ordnungsfunktion innerhalb der Gemeinschaft aus.911 c) Ungeachtet dessen droht ein sinnfreies Legitimationsvakuum, wenn nicht ein Grund für die strafrechtliche Haftung angegeben wird. Die hauptsächlich angedachte Strategie, strafrechtliche Eingriffe auf Gefährlichkeit912 zu begrenzen, hinterlässt zahlreiche Probleme. Das kleinste davon wird sein, den bislang noch zu unkonturierten Begriff der Gesellschaftsgefahr zu präzisieren. Bedeutsamer ist da noch das praktische Pro-
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Hintergrund des Abstandsgebots, BVerfG, Urt. v. 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09. B. Schünemann, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (155). Ebenso – und das verdient auf deterministischer Grundlage besondere Beachtung, Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 90 ff.; ders., FS Achenbach (2011), S. 157 (182); ders., FS Kühl (2014), S. 259 (275): die Determiniertheit des Daseins sind gleichsam für Lob und Tadel bedeutungslos. In diese Richtung lassen sich auch die Ausführungen von Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf (2013), S. 51 f. verstehen. Am Symmetriebild stören sich vor allem C. Jäger, GA 2013, S. 3 (11) und R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (744 f.) mit Replik Herzberg, FS Kühl (2014), S. 259 (277 f.). Inwieweit es hierbei um Symmetrie geht, lässt sich gewiss zurückstellen. Dringlicher ist die Frage, warum das Sprachspiel von Lob und Tadel (und mehr ist es auf deterministischer Basis nicht!) beibehalten werden soll oder muss. 911 Luthe, SchwZStr 103 (1986), S. 345 (362) spricht von der stabilisierenden Wirkung der (gerechten) Strafe. 912 Eine Ausnahme bildet G. Merkel, FS Herzberg (2008), S. 3 (30 ff.), die allein der positiven Generalprävention dienend ein (Aggressiv-)Notstandsrecht des Staates als Legitimationsgrundlage postuliert, s. Fn. 928. 910
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gnoseproblem.913 Die – je nach Sichtweise – unsichere oder abzulehnende Schuldfrage wird ersetzt durch ein unsicheres Attest über Gefährlichkeit. Man mag die Perspektiven hier günstig sehen, soweit und sobald man hier die Forschung in der Lage sieht, die Treffgenauigkeit der Prognose zu erhöhen. Ein neuronaler Determinismus wird dies als langfristige Entwicklung auch nicht als ganz unbegründet ausrufen können, doch kurz- wie mittelfristig wird die Entschlüsselung der Determinanten auch (noch) nicht gelingen. Einem solchem Rudiment eine rechtliche Leitfunktion zuweisen zu wollen, muss daher mindestens als verfrüht gelten. Es kommt noch hinzu, dass eine Reduktion auf Gefährlichkeit als rechtlicher Fixpunkt den strafrechtlichen Aufgabenbereich nur unvollkommen umschreibt. Denn es ist eine Vielzahl von Fällen denkbar, in denen aus dem begangenen Unrecht keine konkrete Gefahr resultieren würde, aber eine staatliche Reaktion nicht unerwünscht sein dürfte. Den Legitimationsgrund auf eine abstrakte Gefahr auszuweiten, dürfte auszuschließen sein, denn dies bedeutete einer bloßen Verdachtshaftung statt zu geben. Eine Anreicherung des Konzepts um ein generalpräventives Moment scheint in diesen Fällen zwingend notwendig, ist aber vom theoretischen Ausgangspunkt nicht ohne weiteres einzuholen. Obendrein sollte augenfällig werden, dass eine Differenz zum Schuldstrafrecht dann sehr gering ausfallen müsste. Denn gegenwärtig zeigt sich gerade die aktuelle Entwicklung im Schuldstrafrecht gegenüber generalpräventiver Anreicherung bemerkenswert aufnahmefähig.914 Konzepte, die inhaltlich den Anschluss an das gegenwärtige Recht suchen, werden den propagierten Systemwechsel nicht plausibel einlösen können. Denn ohne Vergeltungsintention muss die generalpräventive Haftung wie eine zynische Barbarei vorkommen.915 Der Verzicht auf ein unrechtskompensierendes Moment mag dabei sogar fortschrittlich gedacht, allerdings einstweilen wenig realistisch sein. d) Die Forderungen eines Maßnahmenrechts ähneln den Ideen einer Défense Sociale. Dennoch fragt sich, ob zusätzlich zu den bekannten Einwänden, die neurophysiologisch inspirierten Ansätze nicht sogar hinter ihren Vorgängern zurückbleiben. Eine Inhumanisierung durch Vorherrschaft eines Maßregelrechts ist gängige Befürchtung.916 Ein humanitärer Anspruch ist einem Naturalismus jedenfalls nicht inhärent.917 Ein eigenständiges Erziehungs- bzw. Besserungsparadigma wie913 Einen aktuellen Forschungsbericht zur Validität legt H.-J. Albrecht, FS Frisch (2013), S. 1063 (1070 ff.) vor; zu den Standards der Qualitätssicherung, Boetticher/Kröber/MüllerIsberner/Böhm/Müller-Metz/Wolf, NStZ 2006, 537 (541 ff.). 914 Der „klassische“ Willensschuldbegriff ist schon längst nicht mehr vorherrschend, vgl. zu dem Aspekt auch Frisch, FS Kühl (2014), S. 187 (197 f.). 915 Herzberg, FS Achenbach (2011), S. 157 (161). 916 Exemplarisch Dölling, FPPK 2007, S. 59 (62); Streng, FS Jakobs (2007), S. 675 (687). 917 Das wird bei G. Merkel/Roth, in: Grün/Friedman/Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts (2008), S. 54 (82) ein wenig vernachlässigt, auch wenn gegen die Erinnerung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für einen humanen Umgang mit den Straftätern sachlich nichts einzuwenden ist. Den Optimismus, dass gerade die Hirnforschung und ihre Ursachenfokussierung die soziale Determinierung von Kriminalität (besser) herausstellen wird, so G. Merkel, in: Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe (2012), S. 19 (34), vermag
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derum erscheint ohne eigene Ideologie kaum postulierbar. An welchen Zielen sollte sich ein Maßregelvollzug ausrichten, wenn Selbstbestimmung als Kategorie der Freiheit wegfällt?918 Daran muss es notwendig mangeln, wenn „menschlicher Sinn“ als Deutungskategorie nur peripher in Sicht kommt. Die virulente und für viele besorgende Frage ist, wie das Subjekt, das „Ich“, in einem Konzept unter dem Primat des neurologischen Gehirns noch stattfinden kann.919 Es war stets die Philosophie des Subjekts, die Raum für Schuldbegründung geschaffen hat. Demgegenüber stand die Schuld gleichzeitig mit ihrer Schutzfunktion für das Subjekt ein. Letztlich kommt somit das altbekannte philosophische Leib-Seele-Problem in neuem Gewand daher920 – kann aber genauso wenig als gelöst gelten. Denn jede Wertelehre hat ihre Basis in einer Subjektvorstellung gefunden. Es ist also unklar, wie überhaupt ein normatives Modell Berechtigung unter dem Dach eines strengen Determinismus beanspruchen will921 – wenn nicht gleichzeitig ein axiologisches Grundgerüst bereitsteht. Die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung verbinden sich mit der Sorge, dass von der Idee einer Subjektqualität des Menschen nichts mehr übrig bleibt. Rationalität in diesem Sinne ist im Rahmen des Determinismus nicht abbildbar. Das streng verstandene Denken von Determination im Binärcode von Anlage und Umwelt lässt eigentlich keinen Raum für ein kritisches Subjekt,922 folglich bleibt der Begriff der Person oder der Handlung an sich unterbestimmt, wenn diese überhaupt eine Berechtigung im Konzept haben. Wer diese Dystopie zeichnet, wird für die Zukunft allenfalls ein technokratisches „Social Engineering“ vermuten können. Eine Gesellschaft des Rechts scheint in diesem Modell einstweilen sehr unwahrscheinlich. e) Eine solche „fatalistische“ Perspektive ist natürlich eine immense Überzeichnung dessen, was als Forderung von irgendjemandem tatsächlich in den Raum gestellt würde. Insofern wird nicht zu Unrecht von deterministischer Seite bemerkt, dass die kommunizierte Perhorreszenz eine ungeheuerliche Übertreibung ist.923 Doch ist es gerade die Radikalität im Denken, welche die Ausgangsprämisse am konsequentesten durchsetzt. Dass dennoch nicht einem Nihilismus verfallen wird, kann seine Ursache eigentlich nur in einem zwischenzeitlichen Wechsel von der Beobachter- in die Teilnehmerperspektive haben. Nämlich derart, dass die Ergebich vorerst nicht zu teilen. Wie hier Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 353, vgl. zur Kritik einer Substitution durch Maßregelrecht auch K. Günther, KJ 2006, S. 116 (131); Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (51 ff.). R. Merkel, in: Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe (2012), S. 39 (58) bemängelt die „rationale“ Alternative. 918 Mohr, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 225 (235). 919 Gegen die Auseinanderdivision von „Ich“-Vorstellung und Gehirn bspw. Baltzer, FS Kargl (2015), S. 25 (39). 920 R. Merkel, FS Phillips (2005), S. 411 (412); T. Walter, FS Schroeder (2006), S. 131 (141). Zur Diskussion Merkel, a. a. O., S. 446 ff. 921 Streng, FS Jakobs (2007), S. 675 (689); bereits Burkhardt, GA 1976, S. 321 (332); Witter, FS Leferenz (1983), S. 441 (443). 922 Hruschka, Strukturen der Zurechnung (1976), S. 39. 923 Spilgies, Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits (2004), S. 78 ff.
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nisse mit einer gesellschaftlichen Idee verbunden werden.924 Die Stringenz der Argumentation erleidet damit aber einen empfindlichen Abbruch. Einen grundlegenden Kategorienfehler beginge, wer aus dem Sollen auf das Sein schlösse. Umgekehrt lässt sich aber aus einem determinierten Sein kein Sollen herleiten.925 Folglich lässt sich aus der neueren Hirnforschung eigentlich gar kein Rechtsmodell her- oder ableiten. Der Sprung hin zu einem rechtspolitischen Vorschlag bleibt zwar als freie Meinungsäußerung unbenommen, steht aber zu der ursprünglichen Negierung einer „freien“ Person ohne Zusammenhang. Auf einem naturalistischen Standpunkt lässt sich konsequent lediglich wertfrei926 argumentieren. 3. Konsequenzen und Perspektiven für das (Straf-)Recht Das Grundproblem besteht auch hier in dem Phänomen, dass zwei unabhängige Erklärungsebenen konfundiert werden. Man muss die Ergebnisse der Hirnforschung nicht anzweifeln, um sie für das Recht im Wesentlichen (bislang) für indifferent zu halten. Der Perspektivenwechsel von einem naturalistischen, kausalen Denksystem in ein Wertesystem ist aus der Warte des Rechts unvermeidlich, um rechtlich argumentieren zu können. Dieser Wechsel ist aber nicht voraussetzungslos: er geschieht um des Preises willen, dass nicht mehr unmittelbar argumentativer Gewinn aus etwaigen Forschungsergebnissen erzielt werden kann. Mittelbar erreicht man eine Verwertung, wenn gezeigt werden kann, dass die eigene Position auf Basis der Forschungsergebnisse plausibler ist. Das ist vorliegend nicht umfassend gelungen. Man mag ein Schuldstrafrecht diskreditiert sehen, ein Maßregelrecht ist damit nicht automatisch begründet. Die Schwierigkeiten, ein Maßregelrecht überzeugend auf Basis der Zweispurigkeit des Sanktionensystems zu etablieren, soll dafür ausreichend Beleg sein. Zudem mündet der Versuch, zu einer „Entmoralisierung“ des Rechts aufgrund von Ergebnissen der Hirnforschung zu kommen, in einem fundamentalen Missverständnis. Zwar gilt eine kategoriale Trennung von Recht und Moral. Recht verkörpert damit aber keine Amoralität. Im Gegenteil: Recht vertritt die Moral mit dem Anspruch ihrer Verbindlichkeit. Wer gänzlich die Moral im Recht
924 So zu finden auch bei Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 342 ff. Die Annahme, dass die Determinismusthese kein allgemeines Zurechnungsverbot statuiere, beruht letztlich darauf, dass mit (beachtlichen) Gründen eine Axiologie auf phänomenologische Philosophie gegründet wird. Das ist rechtstheoretisch nicht zu beanstanden, zeigt aber mehr als deutlich auf, dass methodologisch der Neurodeterminismus nicht so innovativ ist wie es den Anschein erwecken will. Denn phänomenologische Philosophie (Husserl, Heidegger, Sartre oder eben hier: Strawson) hat als strafrechtlicher Ansatz schon Vorläufer, s. oben A. III. 5. a). Zum Restrukturierungsargument sogleich. 925 Angedeutet bei Hassemer, in: Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe (2012), S. 7 (11) und Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (79). 926 Nach Wesche, Wahrheit und Werturteil (2011), S. 78 f. ist die Teilnehmerperspektive Grundvoraussetzung für moralisches Urteilen. Als Internalität von Moral bei Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 313 ff. und öfter.
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eliminieren will, beginnt das Recht letztlich aufzulösen.927 Die Aufrechterhaltung (irgendeines) Rechtssystems kann ohne eine Basismoral nicht auskommen.928 Bislang erscheint so die Erosion eines Rechtssystems in toto bei Verneinung einer Subjektvorstellung des Menschseins unausweichlich.929 Das Grundproblem besteht dann nach wie vor darin, dass Kontrolle-Urheberschaft-Dilemma930 in eine Richtung erfolgreich aufzulösen. Und diese Lösung kann keine exklusiv strafrechtliche sein. Wer die Diskussion also ins Strafrecht trägt, müsste sie im Übrigen gleichsam in das Recht insgesamt tragen.931 a) Vielleicht ist aber gerade vor dem Hintergrund dieser Konsequenz einer Dekonstruktion die Auflösung der Subjektqualität sehr unwahrscheinlich,932 so dass
927 Zur Erinnerung sei gesagt: Es gibt Sätze der Moral, die nicht legitim Recht beanspruchen können. Allein in diesem Sinne ist Moral auszuscheiden. 928 Darin liegt auch die Problematik des Modells G. Merkels. Utilitaristische Rechtfertigungslogik löst das Legitimationsdilemma nicht auf. Abgesehen davon, dass Generalprävention und Schuld ineinander aufgehen ausführlich unter A. IV. 4., gleichsam im 2. Kapitel B. III. ist es mit dem (reinen) Verzicht auf die Schuldrhetorik auch nicht getan. Denn warum in einem determinierten System „Mensch“ einige Rechtsregeln nicht verbindlich sein dürfen – wie die konventionelle Schuldzurechnung – vgl. G. Merkel, in: FS Herzberg (2008), S. 3 (22), (andere) Prinzipien von Notstand und Fairness dagegen schon (a. a. O., S. 32, 35), obwohl in beiden Fällen eine Letztbegründung ausfallen muss, erschließt sich mir kaum. Der Einwand, Verantwortung als quasi-transzendentale Konstante zu behandeln, wird in der Tat erhoben, vgl. Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise (1980), S. 168, relativierend Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 292 ff. 929 Mit den gleichen Fragen, aber mit weniger radikaler Antworten Klement, Verantwortung (2006), S. 32. s. aber auch zum Verhältnis Recht und Freiheit Schild, in: Müller/Otto (Hrsg.), Damit Erziehung nicht zur Strafe wird (1986), S. 29 (38). 930 Der klassische Schuldbegriff erfüllt theoretisch zwei Grundprinzipien von Verantwortung. Er weist der Handlung einen Urheber (Subjekt) zu und propagiert die Beherrschbarkeit (Kontrollbedingung) dieser Handlung. Während einerseits bei strikter deterministischer Sichtweise die Tat als Summe von Umständen darstellbar ist, droht auf diese Weise die Urheberschaft zu verschwinden. Andererseits bekommt ein rein indeterministischer Zugang (zumindest heutzutage) Probleme, wenn eine Erklärung über die Beherrschbarkeit ausschließlich über den Willen gesucht wird. Die Beherrschbarkeit dieses Willens kann entweder nur diffus oder gar nicht erklärt werden, wenn das Kausalprinzip nicht hinreichend ist. Auf diese Weise geht die Kontrollbedingung verloren. Zu diesem Aspekt ausführlich Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 257 f., zum Grundprinzip moralischen Urteilens a. a. O., S. 106. 931 So auch K. Günther, KJ 2006, S. 116; Hirsch, ZIS 2010, S. 62 (62 f.); Mohr, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung (2004), S. 225 (240) und Hillenkamp, JZ 2015, S. 391 (392). Letzterer mit Nachweisen a. a. O. zum Schrift im Zivilrecht (Fn. 5) und mit Überblick zu Rezeption aus dem öffentlichen recht, in: ZStW 127 (2015), S. 10 (40). 932 Treffend dazu Nedopil, FS Schöch (2010), S. 979 (985): „Wenn es schon nicht gelingt, eine neurobiologische Grundlage für ein Krankheitskonzept zu belegen, wie viel weniger wahrscheinlich ist es dann, eine neurobiologische Grundlage für ein philosophisches oder juristisches Konstrukt zu entwickeln …“; s. auch Lüderssen, FS Puppe (2011), S. 65 (75).
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man der mitunter vehement geführten Auseinandersetzung933 etwas Gelassenheit empfehlen kann. Es bleiben nämlich noch zwei weitere Deutungen übrig. Die eine, restaurative Entwicklung sieht den viel beschworenen Antagonismus zwischen dem „Vorrang des Gehirns“ vor einer Idee des Geistes letztlich in einer Synthese konvergieren bzw. auflösen. Das heißt nichts anderes, als dass die vermuteten Umwälzungen in der Sache als Restrukturierungen eines alten Prinzips relativ klein ausfallen werden. Die kopernikanische Wende zum heliozentrischen Weltbild war ebenso ein gewaltiger Einschnitt im Weltbild, dürfte aber „den Menschen“ nicht vollständig neu erfunden haben. Von daher wird es wohl immer menschliche Konstanten geben, zu denen möglicherweise immer auch eine Art von Selbstbestimmung934 des Menschen gehört. Man wird zudem in der „Desillusionierbarkeit von Illusion“ immer auch ein Stück Realität erkennen müssen.935 Exemplarisch für eine restaurative Variante stehen die Ausführungen Herzbergs936, die in einer Rückführung auf strenge Kau-
933 Als Beispiel diene die Kontroverse zw. Kudlich, HRRS 2004, S. 217 (220) in Bezug auf Spilgies (Fn. 923), Replik in HRRS 2005, S. 43 (48 ff.); Duplik in HRRS 2005, S. 51, einerseits und Spilgies, ZIS 2007, S. 155 (156) vs. B. Burkhardt, Bemerkungen zu den revisionistischen Übergriffen der Hirnforschung auf das Strafrecht (2004/10) (http://virtualwww.rz.unimann heim.de/ionas/n/jura/burkhardt/materialien/archiv/bemerkungen_revisionistische_uebegriffe/be merkungen_zu_den_revisionistischen_abergriffen_der_hirnforschung_auf_das_strafrecht_8_ 7_10.pdf, Stand 24. 03. 2014), andererseits. 934 Für ein Konzept der Selbstbestimmung auch B. Burkhardt, in: Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften (1987), S. 319 (337), als Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung bei Frister, FS Frisch (2013), S. 533 (546 f.). Im weitesten Sinne auch bei Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (74), der ein mit einem kompatibilistisches Konzept von Person arbeitet. 935 Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 364. Ähnlich B. Burkhardt, FS Maiwald (2010), S. 79 (95 f.) und Weißer, GA 2013, S. 26 (37 f.), ablehnend wohl Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (61 f.). Ohne Rekurs auf die hiesige Thematik findet man einen interessanten Denkanstoß auch bei Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung (1966), S. 29 f., formuliert, der eine Art Fundamentalsatz des „Sollens“ dergestalt aufstellt, dass eine Rechtsordnung immer auch die gegenseitige personelle Anerkennung als Mindestvoraussetzung vorfinden muss. Wenn schon Sollenssätze nicht beweisbar seien, so könne man danach doch wenigstens aufzeigen, dass sie in dem Sinne „wahrhaftig“ seien, als eine Gesellschaft ohne sie nicht auskomme. Diese Folgenbetrachtung als eine Spielart der philosophia negativa macht deutlich, dass evtl. nicht nur das Recht auf Erkenntnisse der Hirnforschung reagieren muss, sondern auch umgekehrt unter Zugrundelegung neuronaler Deutungsmuster eine Art „Subjekt“ angeboten werden muss, so denn die Neurowissenschaft nicht unvollkommen bleiben will. Dies spricht nachhaltig für „Konvergenzmodelle“. 936 In: ZStW 124 (2012), S. 12 (58 f.); grundlegend ders., Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 83 ff. Unausgesprochen scheint dies auch Spilgies, Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits (2004), S. 171, zugrunde zu liegen; jedenfalls, wenn man die Konsequenz aus den Ergebnissen zieht.
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salität (und damit Unfreiheit) gerade die notwendige Voraussetzung eines Schuldurteils erkennen.937 b) Eine andere Entwicklung mag zwar augurenhaft eine Revolution zumindest prophezeien wollen, kann jedoch vorläufig (!) noch kein neues Verständnis (oder Surrogat) des Rechtssubjekts anbieten. Mit Leerstellen oder Platzhaltern kann das Recht aber nicht operieren. Das Recht ist auf ein vorhandenes Menschenbild angewiesen,938 anhand dessen es die Gesellschaft ordnen kann. Eine grundlegende Revision kann einmal kein elitäres Oktroi sein, sondern muss gleichsam „von unten her“, d. h. grundlegend und auf demokratischer Basis organisiert sein. Eine solche „Revolution des Rechts“ hätte daher sowohl „oben“ wie „unten“ anzusetzen. Das Wissen und entsprechende Einstellungen müssen sich dann erst perspektivisch noch ausbilden. Ohne eine Verankerung der neuen Philosophie in breiter, repräsentativer Bevölkerung scheint es einstweilen kein „Recht des Volkes“ zu sein.939 Verfassungsrechtlich wäre dies aufgrund Art. 20 Abs. 1 GG untragbar.
937 Es ist zu erinnern, dass gerade die moderne Zurechnungslehre in Form der Kausalitätslehre von Buris ihren Anfang genommen hat, dazu A. III. 3. b). Naturalismus und Strafrecht waren also historisch schon keine Gegensätze. Ob die Zukunft in der Wiederbelebung einer Charakterschuld zu sehen ist, vgl. die Meinung bei Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf (2010), S. 113 f.; ders., ZStW 124 (2012), S. 12 (63), kann hier offen bleiben. Dies erforderte eine gründliche Untersuchung einer solchen Standortbestimmung. Jedenfalls auf Basis des hiesigen Tatbegriffs (unten B. II. 3.) stellt sich diese Frage in einer abgeschwächten Dringlichkeit, da das Koinzidenzprinzip der Tatschuld dort neuer Auslegung zugeführt wird. 938 Zur axiomatischen Bedeutung Blau/Franke, Jura 1982, S. 393 (395); Frisch, FS Kühl (2014), S. 187 (208 f.); Griffel, ZStW 98 (1986), S. 28 (30 f.); Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (38, 47 ff., 73, 95); Hirsch, ZIS 2010, S. 62 (65); Otto, GA 1981, S. 481 (489 ff.). Zutreffend gesehen auch von Ruske, Ohne Schuld und Sühne (2011), S. 238, der gleichwohl ob der Probleme des Schuldgedankens für die Wiederbelebung der Défense Sociale plädiert (S. 274 ff.). Beachte auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff (1990), S. 157, die aufgrund des Prinzipiencharakters das verfassungsrechtliche Schuldprinzip für empirieunabhängig hält. 939 Hassemer, FS P. Kirchhof (2013), S. 1337 (1341, 1343), zuvor schon ders., FS Bemmann (1998), S. 175 (178), ist beizupflichten, dass stets eine gelebte Kultur der Zurechnung den Ausschlag geben wird. Gegen diese kann sich ein Konzept nur schwer als rational behaupten. Im Übrigen wird selbst von deterministischer Seite mitunter eingeräumt, dass eine politische kategorial eine andere als eine psychologische sein kann. Man findet dies bei Prinz, in: von Cranach/Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns, 1996, S. 86 (98, 100); ders., in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung- neues Strafrecht (2006), S. 51 (59, 62). Es wird Probleme bereiten, aus einer Theorie eine Praxis aufzubauen ohne dabei die (bisherige) Praxis zu verarbeiten. Die Theorie folgt der Praxisanalyse, nicht die Praxis (ohne weiteres) einer Theorie. So pointiert bei Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 269, mit Verweis auf die Philosophie Strawsons. Ders., a. a. O., S. 385, verfolgt dementsprechend einen systeminternen Ansatz. Verantwortlich zu machen, bedeute demnach, einen Täter anhand der in der moralischen Praxis akzeptierten Bedingungen zu bewerten, (Herv. nicht im Original). Rezeption von Strawson auch bei Erber-Schropp, Schuld und Strafe (2016), S. 115 ff., 134 f.
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1. Teil, 1. Kap.: Der Schuldbegriff
Daher muss gewissermaßen „von oben“ her, rechts-hierarchisch betrachtet, erst die Verfassungsrealität veränderte Prämissen aufwerfen, bevor das Strafrecht sich Gedanken einer Novellierung zuwendet. Es mutet etwas aberwitzig an, die Diskussion auf das Strafrecht beschränken zu wollen, auch wenn die Konsequenzen auf diesem Rechtsgebiet die eingriffsintensivsten sein dürften. Auf die Verfassung projiziert mag die Rede von Freiheitsrechten bereits ohne ein Freiheitsaxiom wenig sinnvoll erscheinen,940 so dass es ob der Schwierigkeit der Kreation eines neuen Menschenbilds (vorerst) keiner weiteren Worte bedarf. Das verfassungsrechtliche Bild der Menschenwürde bleibt im Ergebnis einstweilen maßgebend.941 Ob auf lange Sicht hier Änderungen eintreten, muss abgewartet werden. Jedenfalls kann dieses Bild der Freiheit nicht isoliert von einer Teilrechtsordnung hintergangen werden.942 940 So Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 388 f. Auf den Zusammenhang von Freiheit und Menschenwürde stellt auch Kelker, FS Puppe (2011), S. 1673 (1681 f.). 941 Zur Verdeutlichung ein Originalauszug aus der „Lissabon“-Entscheidung BVerfGE 123, 267 (413): „[…] Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Dieser setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187 [227]). Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 [140]). Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250 [275]; 80, 367 [378]; 90, 145 [173]). Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist“ (Hervor. jeweils d. Verf.). 942 Neufelder, GA 1974, S. 289 (303 ff.) und ähnlich Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip (1998), S. 49 f. vermitteln daher ein schiefes Bild der Verfassung, wenn sie aus der Unbeweisbarkeit der „Willensfreiheit“ eine Pflicht aus Art. 1 GG ableiten wollen, ohne Unwerturteil zu strafen. Der „Neutralitätsansatz“ ist zwar methodisch nicht zu beanstanden. Aber es ist nicht so, dass es kein Menschenbild gäbe, auf welchem die Verfassung aufbaut, so dass eine „freie Konkurrenz“ von Philosophien zur Konkretisierung notwendig wäre. Zum anderen ist es nicht richtig, den Schuldgedanken in ein belastendes Moment umzukehren. Die menschliche Würde bedingt nicht irgendeine Zurechnungsfähigkeit vor dem Gesetz. Folglich steht der Begriff der Schuldunfähigkeit nicht direkt im Zusammenhang mit der Würde. Ein Verlust derselben gibt es im Gerichtssaal dementsprechend nicht. Der Schuldvorwurf ist dagegen nicht negative Folge vom Schuldprinzip. Der Vorwurf wird durch den kommunikativen Akt des Strafens automatisch transportiert, ob nun erwünscht oder nicht. Das Schuldprinzip soll lediglich die Praxis des Strafens disziplinieren, indem es die Strafe mit Vorwurf nur an bestimmte Bedingungen knüpft. In diesen Bedingungen spiegelt sich ein Schutzniveau wider, welches durch das Schuldprinzip plausibilisiert werden soll. Dieser Schutzmechanismus – und nur dieser als ein solcher – folgt aus der Verfassung; zu undifferenziert daher an dieser Stelle Detlefsen, Grenzen der Freiheit (2006), S. 100 ff. Die Konfusion in der Hinsicht zeigt einmal mehr, dass es nicht sinnvoll ist, die Verfassungsgarantie des Art. 1 GG mit positiven Gehalten zu assoziieren. Art. 1 GG lässt sich nur in der Funktion einer absoluten Grundrechtsschranke handhabbar machen. Wer schließlich meint, es könne diesen Vorwurf nie geben, folgert richtig, dass Art. 1 GG die Praxis der Schuldstrafe verbieten würde. Das führte aber nur dazu, dass das Schuldprinzip selbst
B. Das Schuldparadigma im Kreuzfeuer der Neurowissenschaften
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III. Epilog Hier schließt sich der argumentative Kreis, der in den verfassungsrechtlichen Implikationen des Schuldbegriffs seinen Ausgangspunkt hatte:943 Das Schuldprinzip ist eine Verantwortungsheuristik, die dem gegenwärtigen Menschenbild der Selbstbestimmung am ehesten gerecht wird. Das Schuldprinzip ist schließlich als Grenzschranke der Rechtsanwendung formuliert worden. Diesen Charakter teilt das Schuldprinzip – eben aufgrund seiner Verwurzelung in derselben – mit der Rechtsschranke der Menschenwürde. Man kommt nicht umhin, kritisch festzustellen, dass dieses Ergebnis auch ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der philosophischen, medizinischen und juristischen Literatur zu erreichen gewesen wäre. Diese praktische Sichtweise bringt etwas in die Diskussion, das in Vernachlässigung gerät: die justizielle Aufgabe der Entscheidung. Gerichte müssen Entscheidungen treffen, vielfach auch auf Unsicherheitsbasis. Und vor allem: die Anforderung an eine Entscheidung ist stets konkreter und aktueller Natur. Es muss eine Lösung für eben den Fall und zum jetzigen Zeitpunkt getroffen werden. Man stelle sich einen Architekten vor, der auf der Suche nach dem perfekten Haus vorschlägt, einstweilen auf der Straße zu nächtigen. So mutet es allerdings an, wenn auf der einen Seite die gängige Schuldpraxis diskreditiert wird, ohne dass eine umsetzbare Alternative zur Verfügung steht. Man mag dies als herrschende Meinung944 ansehen, gleichwohl darf ein solcher Diskurs nicht von vorherein im selbstzufriedenen Rückzug enden. Zu einer guten Entscheidungspraxis gehört es schließlich, alles an entscheidungsrelevantem Argumentationsmaterial zusammenzutragen, welches aktuell zur Verfügung steht. Insofern hat der aktuelle Diskurs seine Berechtigung, aber eben noch nicht die Kraft veränderte Ergebnisse hervorzubringen. Am Ende eines solchen Prozesses dürfen Näherungskonstruktionen stehen, wenn diese ihre Aufgabe erfüllen.945 Von daher ist das Schuldstrafrecht in seiner kontemporären Gestaltung durchaus legitim. Dabei steht indes keine inhärente Vorläufigkeit in Rede, sondern eine abschließend gedachte Entscheidung an; eine Entscheidung, die allerdings revidiert werden obsolet, weil nichtssagend, würde. Die Grenze (!), die Art. 1 GG aufstellt, würde sich daher verschieben müssen. Diese Grenzposten müssen aber genauestens markiert werden. Dieses Procedere würde beinhalten, nachzuweisen, dass es dem Geiste des Menschen widerspricht, (tadelnde) Sanktionen an ein missbilligtes Verhalten anzuschließen. Ein solches Menschenbild gibt es vorherrschend (noch) nicht. Abweichend, aber beachtenswert Detlefsen, a. a. O., S. 115 f., die mit stringentem Gedankengang Ansätze für eine Neubestimmung illustriert. Als Konfliktlösungsmechanismus sind diese m. E. aber utopisch, da dies völlig andere Gesellschaftsstrukturen bedingt, die alsbald nicht zu erwarten sind. 943 S. A. II. 2. 944 Vgl. als Ansatz die Auflistung bei Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (72, Fn. 228). Eine quantitative Analyse hat die hiesige Untersuchung nicht vorgenommen. 945 Angewandte Mathematik, als Ausfluss der akkuratesten Wissenschaft überhaupt, lebt dies vor: wenn die konkrete Aufgabe es erfordert, eine kreisförmige Fläche zu betonieren, dann wird man dieser Aufgabe keine Absage erteilen müssen, nur weil p keine rationale Zahl ist.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
kann. Dies kann aber nur unter veränderten Umständen der Fall sein. Methodisch besehen ist die Semantik der bekannten Solange-Rechtsprechung946 keine andere. Insofern kann dergleichen übertragen werden: solange das (noch) kontemporäre Menschenbild947 in seiner Vorstellung über den Begriff der Menschenwürde in der Verfassung abgebildet ist, und solange das Schuldprinzip in der Verfassung verortet wird, solange ist auch das Schuldstrafrecht über die derivative Argumentationskette abgesichert. Gemessen am axiomatischen Aufbau des Rechts ist dies sogar zwingend. In diesem Sinne besteht von strafrechtlicher Warte aus keine Notwendigkeit zur Revision seines Systems. 2. Kapitel
Der Unrecht-Schuld-Konnex A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld Die Bedeutung des Schuldprinzips ist nach dem vorstehenden Kapitel vergleichbar mit einem Fundament, welches die Architektur des Strafrechts trägt. Es ist damit in erster Instanz ein leitendes Prinzip, in dem Aussagen über das Strafrechtssystem oder in Auslegungsfragen materieller Art sich stets an den Schuldgedanken anknüpfen und orientieren. Gleichzeitig ist es dabei ein begrenzendes Prinzip höheren Ranges, welches ihr widersprechende Aussagen und Regelungen verbietet. Das Schuldprinzip ist im wahrsten Sinne ein Dogma, zu dem einzelne Instanzen der Rechtsgestaltung (Gesetzgebung) bzw. Rechtsanwendung ein Bekenntnis ablegen können und im Lichte der Verfassungsrechtsprechung wohl auch sollten. Ein Bekenntnis lautet entweder auf ja oder nein, doch zu was genau bekennt man sich? Es stellt sich damit unweigerlich die nächste Gretchenfrage des Strafrechts, einer philosophischen Frage nach der „Substanz“, nach dem „Wesen“ oder auch der „Essenz“ der „Schuld“. Dabei spielt es keine Rolle, ob man Schuld im Sinne eines natürlichen Phänomens oder als Produkt gesellschaftlicher Zuschreibung einer funktional-soziologischen Lehre begreift. Jeweils ist die Frage, was genau man denn vorfindet oder einem Delinquenten zuschreiben will. Sich einer oder gar der Ontologie der Schuld zuzuwenden, kann – wenn überhaupt – wohl nur näherungsweise gelingen, denn eine Omniszienz, die alle Facetten der multidimensionalen Verständnisse in einem übergeordneten Begriffssystem vereinigen kann, kann sich die vorliegende Arbeit nicht anmaßen.948 Der Ansatz ist indes auch ein im Grundsatz 946 Bes. v. BVerfG, 29. 05. 1974 – 2 BvL 52/71 – BVerfGE 37, 271 (Solange I); Bes. vom 22. 10. 1986, Az: 2 BvR 197/83 (Solange II). 947 Dieses Menschenbild voraussetzend auch Baltzer, FS Kargl (2015), S. 25 (34); Radtke, GA 2011, S. 636 (640 f., 646). Für Zeitlosigkeit des Menschenbildes sogar Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 104. 948 Treffend Safferling, Vosatz und Schuld (2008), S. 212: „Aussagen über das Wesen der Schuld sind Legion“.
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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bescheidenerer. Da hier in erster Linie Strafzumessungsfragen interessieren, lassen sich die ersten Gehversuche wohl am sichersten vom positivistischen Boden des Gesetzestextes aus beschreiten. Die wichtigste Norm in diesem Zusammenhang ist dabei die des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB, nach der die Schuld des Täters Grundlage der Zumessung der Strafe ist. In derselben Terminologie, wenn auch fraglich ist, ob in demselben Bedeutungsgehalt, taucht der Begriff der Schuld auf in den Vorschriften der §§ 17, 19 u. 20 sowie 35 StGB. Die letztgenannten Vorschriften bilden die „drei Säulen“949 der strafrechtlichen Schuldzurechnung, die einem in der Strafrechtswissenschaft unter der Bezeichnung der sog. „Strafbegründungsschuld“ begegnen. Sie gilt als der Inbegriff von den sachlichen Voraussetzungen, unter denen Kriminalstrafe überhaupt erst verhängt werden darf (Schuldgrundsatz des nulla poena sine culpa) und ist systematisch ein Element der Verbrechenslehre.950 Der Begriff steht neben dem der Schuld im Sinne der Schuldidee951 und der Strafzumessungsmessungsschuld952. Die Klärung des Verhältnisses der Begriffe zueinander ist urdogmatische Aufgabe der Strafrechtswissenschaft und soll im Folgenden auch nachvollzogen werden. Entsprechend der Chronologie der Begriffe gilt es zuvorderst den der Strafbegründungsschuld als Element des klassischen Verbrechensaufbaus näher zu beleuchten.
I. Schuld als Entscheidungsstufe im Deliktsaufbau – formeller Schuldbegriff953 Die Schuld hat hier unabhängig von ihrer Ausgestaltung954 jedenfalls die Funktion, die Voraussetzungen für die individuelle Zurechnung einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen Handlung zu leisten. Diese Zurechnungsmaßstäbe gelten gemeinhin als Inhalt des Schuldbegriffs. Genauer bezeichnet geht es hierbei um die Schuldhaftigkeit einer Handlung.955 Je nach Vorverständnis der Schuld divergieren die philosophischen Begründungsansätze, doch einig sein dürfte man sich in der Schlussfolgerung sein: Es muss die Frage beantwortet werden, wann ein Individuum aus Sicht der Rechtsgemeinschaft, deren Bestandteil es ist, für die Tat verantwortlich gemacht wird oder gemacht werden kann. Abstrakt gesprochen geht es um den 949
Safferling, wie vor, S. 213. MüKo-StGB/Radtke, 2(2012), § 38 Rn. 15. 951 S. dazu die Diskussion im 1. Kapitel dieser Arbeit. 952 Dazu das 2. Kapitel unter B. 953 Terminologie in Anschluss an Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 38 III 1; zum Verständnis der „formellen Schuld“ als Ergebnis der Zurechnung auch bei Kindhäuser, Strafrecht AT 7(2015), § 21/5; abweichend Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedanken (1967), S. 47 f. 954 Zu den Schuldbegriffen und zu der normativen Annahme des grundsätzlichen „AndersHandeln-Könnens“ im 1. Kapitel unter A. IV. dieser Arbeit. 955 Gropp, FS Puppe (2011), S. 483 (495 f.); AK-StGB/Schild (1990), Vor § 13 Rn. 24. 950
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
strafrechtlichen Haftungsbegriff. Haftungsgrund im deutschen Strafrechtssystem ist die Schuld – insofern lässt sich dieses als formeller Schuldbegriff bezeichnen. Entsprechend diesem Haftungsgedanken begegnet einem im Rechtsalltag die Schuld als Entscheidungsfrage: Die delinquente Handlung ist als schuldhaft auszumachen oder eben nicht. In ihrer Struktur ist die Schuld damit ähnlich der Rechtswidrigkeit konstruiert. In der praktischen Arbeit nähert man sich der Frage vom Negativstandpunkt her, nämlich ob die Zurechnung ausnahmsweise ausgeschlossen ist. Diese Herangehensweise liegt ganz in der Konsequenz des Gesetzes, dessen schuldrelevante Vorschriften der §§ 17, 20, 35 das Regel-Ausnahme-Verhältnis bereits vorgeben. Dieser Prüfungsmechanismus ist vielleicht der Grund, warum es solche Schwierigkeiten bereitet, das Wesen der Schuld im Sinne eines (angeblichen) Positivums zu erfassen. Als Folge der dogmatischen Trennung von Unrecht und Schuld956 gelangt man zu der Feststellung, dass mit der „Schuldfeststellung“ ein zusätzliches Urteil über die Tat gefällt wird. Neben dem Widerspruch der Tat zur Rechtsordnung (Rechtswidrigkeit) steht nun die Vorwerfbarkeit in Form eines sozial-ethischen Tadels.957
II. Die Schuld als Werturteil Dass eine „sittliche Missbilligung der Tat“ als Ergebnis des Zurechnungsprozesses erfolgt, kann als gemeinhin anerkannt gelten.958 Gegenstand des Schuldurteils muss qualitativ etwas anderes sein als die Ahndung einer Tat im Recht der Ordnungswidrigkeiten, denn dieses ist kein „Strafrecht light“, sondern selbstständige Rechtsmaterie.959 Bezeichnenderweise meidet § 12 OWiG den Begriff der Schuld, obwohl substantiell kein anderer Gegenstand geregelt wird.960 Eine Unterscheidung soll nun über das Werturteil der sittlich-ethischen Missbilligung möglich sein.961 Dies ist freilich etwas unpräzise. Bei näherem Licht betrachtet enthalten auch die Ordnungswidrigkeiten eine sozial-ethische Missbilligung. Dies folgt schlicht aus ihrem Repressionscharakter, den der Staat zur Verhaltenssteuerung seiner Bürger einsetzt. Betrachtet man Recht an sich als das Minimum sozial-ethischer Regeln einer Ge956 Die Trennung gilt laut Jescheck/Weigend, AT 5(1996), § 39 I als Angelpunkt der geltenden Verbrechenslehre, s. aber auch die Einheitslehren im 1. Kapitel A. IV. 1. d). 957 B. Heinrich, Strafrecht AT 4(2014), Rn. 529; Kühl, JRE 11 (2003), S. 221 (230 f.); ders., ZStW 116 (2004), S. 870 (876); ders., FS Kühne (2013), S. 15 (17). 958 Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 261 (265); Kühl, FS Lampe (2003), S. 439 (441 f.), ders., FS Eser (2005), S. 149 (154); ders., FS Maiwald (2010), S. 433 (441); Radtke, GA 2011, S. 636 (646). Kühl, FS Otto (2007), S. 63 (73) unterstreicht zu Recht, dass es dabei um keine moralische Abqualifizierung als „Schurken“ geht, sondern um die Feststellung eines Widerspruchs zum geltenden Recht. 959 BGHSt 38, 138 (141); KK-OWiG/Bohnert 3(2006), Einl. Rn. 160. 960 S. auch Thieß, Ordnungswidrigkeitenrecht (2002), Rn. 175. 961 S. auch Geiger, Rechtsnatur der Sanktion (2006), S. 82; Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 16.
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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sellschaft,962 so ist ein Verstoß gegen das Recht eben auch ein solcher gegen dieses Minimum.963 Die Normverdeutlichung per Bußgeld transportiert dann folglich auch eine Missbilligung. Entscheidender in diesem Zusammenhang ist, dass die Rechtsfolgen im Ordnungswidrigkeitenrecht zwar ein Übel darstellen, aber keinen Strafcharakter besitzen sollen. Angesprochen ist damit die Finalität der Strafe.964 Nach dem ultima-ratio Gedanken setzt der Gesetzgeber Strafe nur ein, wenn er die Ahndung mittels Ordnungswidrigkeit nicht als ausreichend zum Schutz von Rechtsgütern ansieht. Neben die finanzielle Einbuße tritt eine gezielte Einschränkung der persönlichen Ehre.965 Letztere soll eine eindringlichere Normverdeutlichung bewirken. Der Staat wählt erkennbar eine andere, schärfere Kommunikationsebene um den Bürger „zurecht“ zu weisen. Dieser „Strafmakel“ ist letztlich die Essenz und das Ergebnis des Schuldurteils, d. h. Schuld setzt schon begrifflich eine Straftat voraus.966 Andererseits sieht man die Strafgewalt insgesamt durch das verfassungsrechtliche Schuldprinzip begrenzt. In dieser Lesart wird man nicht Opfer einer Tautologie, sondern schlicht einer weiteren Ungenauigkeit. Der Sache nach geht es um die Strafwürdigkeit von Sachverhalten, deren Einschätzung sich nach der Schwere der Verfehlung und Rang des betroffenen Wertes richtet.967 Man könnte dies als einen materiellen Verbrechens- oder Unrechtsbegriff968 auffassen, als dessen Essenz auch eine Art materieller Schuldbegriff stehen könnte. Dies berücksichtigt, können Strafe und Schuld durchaus als Korrespondenzbegriffe aufgefasst werden.969 Die Schuld folgt in diesem Sinne der Kriminalisierungsentscheidung des Gesetzgebers und der Tadel liegt in der besonderen sozial-ethischen Missbilligung. Im engen Zusammenhang stehend, aber systematisch zu trennen davon ist die Frage, ob diese Tadelsbelegung seitens der Rechtsgemeinschaft auch legitim ist. Gerade von Kritikern des Schuldprinzips wird die Berechtigung des Staats zu tadeln, angezweifelt.970 Dieses Unbehagen ist im Geiste der spezialpräventiven Strafbe962 Grundlegend Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe (1967/1878), S. 45. 963 Ebenso Geiger, Rechtsnatur der Sanktion (2006), S. 85. 964 Vgl. die verfassungsrechtlichen Erörterungen, 1. Kapitel, A. II. 965 Vgl. auch Geiger, Rechtsnatur der Sanktion (2006), S. 32. 966 Es ist allerdings unbenommen, die Wirkungen einer Strafe trotz Straftat zu unterbinden. Dies zeigt ein Blick auf § 13 III JGG. Insofern kann sich der Gesetzgeber die Steuerungsmacht hinsichtlich der Ehreinschränkung vorbehalten. Ob der Adressat einer Maßnahme dieses genauso sieht, ist selbstverständlich eine andere Sache. 967 Eine Übersicht zu Legitimitätskonzepten bei Frisch, FS Stree/Wessels (1993), S. 69 (82 ff.). 968 Z. T. auch „materieller Straftatbegriff“ genannt, vgl. Lampe, FS R. Schmitt (1992), S. 77 ff. Als dogmatische Kategorie gibt es diesen freilich nicht, Lampe, a. a. O., S. 77 (92). 969 S. zur verfassungsrechtlichen Konnexität schon oben im 1. Kapitel unter A. II. 2. e) bb) (4). 970 Siehe zur Diskussion schon das 1. Kapitel.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
gründung durchaus verständlich, soll doch jegliches unnötige Stigma – im Hinblick auf die Rechtsverkürzung – vermieden werden. Im Zentrum des Urteils soll, ganz im Einklang mit unserem Tatstrafrecht, ausschließlich die Tat und nicht der Täter stehen. Jedoch wird die Trennung von Täter und Tat nie vollständig gelingen können. Im Gegenteil: gerade die Schuld in Form von Verantwortlichsprechung soll diese Verbindungslinie von Tat und Individuum schließlich erst herstellen. Das Interesse, dieses Band so dünn wie möglich zu halten, wird unweigerlich die Legitimierungswirkung der Strafe untergraben müssen. Mit anderen Worten bedeutete der Verzicht auf Vorwurf in letzter Konsequenz die Aufgabe des Strafrechts. Wenn der Einsatz von Strafe im Sinne des ultima-ratio-Gedankens zum Schutze der elementaren Gemeinschaftswerte erfolgen soll, muss diese Wertverfehlung auch als solche hervorgehoben werden. Die Bestrebungen das Schuldurteil dabei so „nüchtern“ wie möglich zu halten und unnötige Herabstufungen des Täters zu vermeiden sind gleichwohl richtig. Die Emphase liegt dabei allerdings entscheidend auf dem Attribut „unnötig“. Im Ergebnis wird es keine Theorie der Welt trotz Fundierung auf Säkularisierung und Gesellschaftsnotwendigkeit gelingen, dass Strafe nicht auch als Strafe wahrgenommen wird. Es kann nur das Ziel sein annähernd zu vermitteln, dass die Strafe im Grunde nicht desintegrativ gemeint sein soll. Dass der Täter in Aussicht des Übels sie nicht als Wohltat empfangen wird, bedarf keiner weiteren Erläuterung.971 Es liegt also in der viel beschriebenen „Natur der Sache“. Aus ähnlichen Gründen kann der umgekehrte Versuch Günthers,972 den Übelcharakter aus der Strafe eliminieren und sich auf den Ausspruch der Missbilligung beschränken zu wollen, nicht gelingen. Zwar liegt einzig in dem Tadel die kommunikative Aufgabe des Strafausspruchs.973 Erwägungen der Normbekräftigung werden aber dazu veranlassen, dass eine deutliche (Tadel) und spürbare (Übel) Reaktion auf Unrecht erfolgt, damit der Tadel seine Nachdrücklichkeit besitzt. Festzuhalten ist damit, dass mit dem Schuldausspruch gerade die Ehreinschränkung erfolgt, die mit der Strafbelegung bezweckt ist. Das verhängte Übel sichert die kommunikative Maßnahme ab.974
971
Der psychologische Wunsch nach Strafe soll an dieser Stelle ausgeklammert werden. K. Günther, FS Lüderssen (2002), S. 203 (219). Angedacht auch bei Trüg, FS Kerner (2013), S. 675 (677). 973 So zutreffend Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 261 (267); kritisch zum Kommunikationsparadigma Puppe, FS Grünwald (1999), S. 469 (474). 974 Vgl. Jakobs, FS Tolksdorf (2014), S. 281 (284 f.); Lüderssen, StV 2011, S. 378 (380). Es kann hier nur flankierend erwähnt werden, dass die Idee an eine Evolution der Moralität, eine Entwicklung von der belehrenden Strafe zur Belehrung ohne Strafe, verschiedentlich für möglich gehalten wird, so Ellscheid, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 77 (86 ff.) unter Verweis auf den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Man muss die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, doch es bleibt die Frage wie weit sich solche Konzepte abseits der (gegenwärtigen) Realität bewegen. Zukünftiges Potential kann nicht aktuelles Konfliktlösungsinstrumentarium sein. 972
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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III. Der „Schuldtatbestand“ – materialer Schuldbegriff Die Rede vom „Schuldtatbestand“975 verliert in der Strafrechtswissenschaft zunehmend an Bedeutung. Zum einen ist es der Historie geschuldet, denn die finalistische Dogmatik weist dem vormals bedeutsamen Vorsatz – wenn überhaupt976– nur noch eine marginale Rolle in der Schuld zu. Zum anderen fällt die Redeweise in diesem Zusammenhang etwas schwerer, da die Assoziation eines „Tatbestandes“ einen anderen Mechanismus zugrunde legt. Anders als beim objektiven Tatbestand werden bei der Schuldprüfung nicht die Merkmale aus der gesetzlichen Vorschrift herausdestilliert und sodann mit der Subsumtion unter diese Merkmale begonnen, sondern es wird nach ausnahmsweise vorliegenden Ausschlussgründen gefragt.977 In der dritten Verbrechensstufe wird gewissermaßen ein anderes Programm verfolgt.978 1. Das Unrecht als Schuldbestandteil Man kann sich die Negativperspektive der Prüfung entsprechend einem Filter979 vorstellen, der zurechenbares von nicht-zurechenbarem Unrecht scheidet. Mit dieser Betrachtung lässt sich eine wesentliche Erkenntnis gewinnen. Das (verschuldete) Unrecht ist das eigentliche Substrat der Schuld. Eine scheinbar triviale Erkenntnis980, die manch vergebliches geistiges Streben nach dem „Wesen der Schuld“ zunächst als überflüssig erscheinen lässt. Gewiss liegen die Dinge so einfach nicht. Es gilt sich nur ständig zu erinnern, dass die Begriffe Schuld und Unrecht über die Kulturgeschichte auf das Engste miteinander verwoben sind.981 So ist die Frage nach der Abhängigkeit der Begriffe untereinander nicht von vorneherein klar. In der strafrechtlichen Systematik folgt die Frage nach der Schuld zwar der nach dem Unrecht. Aber spätestens sobald die Diskussion daraufhin erweitert wird, was der Gesetzgeber denn für Unrecht erklären darf, erreicht sie auch hier die Metaebene der Philosophie und evtl. auch Theologie, die die Schuldfrage als existentielles Problem behandelt. Wir er975
17/43. 976
Schmidhäuser, Studienbuch AT 2(1985), 4/9; s. aber auch Jakobs, Strafrecht AT 2(1993),
Zur Problematik des Vorsatzes in der Schuld s. hier III. 7. Hinweise zum Prüfungsaufbau: Kindhäuser Strafrecht AT 7(2015), § 21 Rn. 11; Gropp, Strafrecht AT 4(2015), § 6 Rn. 34; Krey/Esser, Strafrecht AT II 5(2012), Rn. 687; B. Heinrich, Strafrecht AT 4(2014), § 17 Rn. 531 ff. 978 Diese unterschiedliche Wirkweise ist letztlich Folge der zugrunde gelegten Norm- und Unrechtstheorie. 979 Zum Filter-Modell noch unten, B. III. 4. 980 Man findet diese (ausdrückliche) Feststellung eher selten. s. aber Jakobs, Strafrecht AT 2 (1993), Rn. 17/47; SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 41 ff.; Gropp, Strafrecht AT 4 (2015), § 6 Rn. 42; Hardwig, JZ 1969, 459 (463); Stratenwerth, FS für H. v. Weber, (1963), S. 171 (182); Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 98. 981 Nicht zufällig wird ihre Trennbarkeit immer wieder in Frage gestellt, jüngst bei T. Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 116 ff. und passim; zur Diskussion s. die Nachweise bei Fn. 653). Es begegnet uns hier die weitere ur-rechtsphilosophische Frage nach dem schuldlosen Unrecht. 977
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
kennen darin die bereits angedeutete (rechts-)philosophische Suche nach dem materiellen Verbrechensbegriff, welche nach Kriterien zur Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“, Recht und Unrecht strebt. An dieser Stelle kann dieser Überlegung nicht nachgegangen werden. Es ist aber ausreichend sich zu vergegenwärtigen, dass Schuld und Unrecht im strafrechtlichen Sinne – soweit systematisch aufgespalten – eine untrennbare Symbiose eingehen. Genauso wie der Appellcharakter einer Norm nur bei einem zurechnungsfähigen Menschen einen geeigneten982 Adressat vorfindet, so lässt sich nur sinnvoll von Schuld sprechen, sofern begangenes Unrecht vorliegt. Keinesfalls bedarf es einer Eruierung eines speziellen moralischen Versagens oder unrechtgelösten Pflichtverletzung. Die Schuld drückt nur insofern die Moralwidrigkeit aus wie der Verstoß gegen Werte ohnehin schon Regelungsgedanke der Norm selbst ist; gleiches gilt für eine etwaige behauptete (gesonderte) Pflichtwidrigkeit. Die Schuld fällt zwar ein separates Werturteil, bestätigt inhaltlich aber nur das tatbestandliche Vorbehaltsurteil. Der Inhalt des Werturteils wird durch die Individualisierung nicht verändert. Auf eine „Verdoppelung“ des oder Einführung eines spezifisch neuen Unwerturteils ist das Strafrecht daher nicht angewiesen.983 Der Bezug zum Unrecht klärt auch die „Doppelnatur“ der Schuld: Schuld steht je nach Perspektive einmal für das Ergebnis eines Schuldtatbestands als Produkt einer Zurechnungsoperation. Zum anderen geht es mittels des Unrechts auch um eine quantifizierbare Verwirklichung von Schuldgehalt.984 Die Sache verhält sich nicht anders als beim Unrecht. Der Unterschied ist nur, dass das Unrecht in der Systematik der h. M. durch die Systemstufen Tatbestand und Rechtswidrigkeit diesen Unterschied abbilden kann. In der Schuld wiederum findet sich kein entsprechendes Korrelat.985 2. Das Unrechtsbewusstsein in der Rechtsdogmatik a) Die Struktur des § 17 StGB § 17 StGB legt das Unrechtsbewusstsein bzw. wortgetreuer die -einsicht als einen Moment der Schuld fest.986 Fehlt diese Einsicht, befindet sich der Täter in einem Verbotsirrtum. Der Gesetzgeber folgte damit der sog. Schuldtheorie, die sich mit der
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In diesem Zusammenhang sei an das Anliegen der sog. „Einheitslehre“ erinnert; im 1. Kapitel, A. IV. 1. d). 983 Vgl. auch Hörnle, Symposium für B. Schünemann (2005), S. 105 (121): „Die Inhalte des persönlichen Vorwurfs ergeben sich aus dem zugrunde liegenden Unwerturteil.“ 984 Vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 17/46. 985 Denkbar wäre Schuldhaftigkeit von der Schuld zu scheiden, dies ist aber nicht durchgehend üblich. 986 § 20 1. Alt. StGB und § 3 Satz 1 1. Alt. JGG formulieren einen Spezialfall eines Verbotsirrtums und betreffen inhaltlich das Unrechtsbewusstsein, welches auf einem bestimmten Defizit beruht.
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Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1952 durchgesetzt hatte.987 Nunmehr schreibt der Gesetzgeber nach fast einhelliger Auffassung988 verbindlich fest, dass der Vorsatz durch einen Verbotsirrtum unberührt bleibt. Ursprünglich war der Verbotsirrtum nicht geregelt und der altrömische (Rechts-) Satz „error iuris nocet“ beanspruchte im Wesentlichen seine Geltung.989 Seine Überzeugungskraft konnte dieser Ausspruch nur im Angesichte einer überschaubaren Materie beziehen, heute gleichsam noch als sog. „Kernstrafrecht“ aktuell. Allein schon wegen des Umfangs der Regelwelt wird jedoch kaum jemand erwarten können, dass der Bürger sämtliche Rechtsverbote kennt. Die gegenteilige Behauptung wirkt realitätsfern und verpflichtet sich dazu einem strikt obrigkeitsstaatlich geprägten Denken. Das Schuldprinzip im Verfassungsstaat gebietet es, das wenigstens ein unvermeidbarer Irrtum über sein Unrecht den Täter von Strafe freistellen muss.990 Dies entspricht dem klassischen Dogma des Anders-Handeln-Könnens. Denn wer nicht die Möglichkeit hat Kenntnis von der Norm zu nehmen, der ist von ihrer Appellwirkung auch nicht erreichbar.991 Auch aus funktionaler Schulddeutung erscheint die Bestrafung des unvermeidbaren Verbotsirrtums höchst dysfunktional, denn sie wäre eher geeignet Unverständnis und Solidarisierungsgedanken in der Bevölkerung auszulösen. Ob darüber hinaus die Reichweite des Schuldprinzips es gebietet, jeden Irrtum zu entschuldigen, steht indes in Streit. Bezeichnet man das Unrechtsbewusstsein als „Kernstück des Schuldvorwurfes“, weil der Tatentschluss bei voller Unrechtskenntnis den Mangel an Rechtsgesinnung offenbare,992 dann wirft § 17, S. 1 StGB verfassungsrechtliche Zweifel auf. Offenbar kann auf das aktuelle Unrechtsbewusstsein und damit auf den angeblichen Kern verzichtet werden, wenn bereits die potentielle Einsicht genügt. An diesem Punkt knüpfen denn schließlich auch die 987
BGHSt 2, 194; Bes.s v. 18. 03. 1952 g. H. – GSSt 2/51. S. etwa Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT 1 1(2003), § 20 Rn31; SK-StGB/Rudolphi (37. Lfg. 2002), § 17 Rn. 1. Langer, GA 1976, S. 193 ff., bestreitet nachdrücklich eine solche Festlegung. Er begründet diese mit redaktionellen Änderungen gegenüber dem auf der Schuldtheorie aufbauendem E-1962, a. a. O., S. 196, 215 f. Diesbzgl. Auseinandersetzung bei Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (1987), S. 276 ff.; Loos, FS Wassermann (1985), S. 123 (126). Unklar demgegenüber die schlichte „Rechtsfolgenrelevanz“ bei Arthur Kaufmann, FS Lackner (1987), S. 185 (186 f.). 989 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 5; LK-StGB/Schroeder 11(1994), § 17 Rn. 1. Das Reichsgericht stellte einen außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum dem seinerzeit einzig geregelten Tatbestandsirrtum (§ 59 StGB a. F.) gleich. Dies erforderte die kaum trennscharfe Abgrenzung zum genuin strafrechtlichen Irrtum. Dazu Art. Kaufmann, Unrechtsbewusstsein (1949), S. 46 ff. 990 LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 1. 991 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 6. 992 So die Aussage bei Jescheck/Weigend AT 5(1996), § 41 I S. 451. 988
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Bedenken der sog. Vorsatztheorie993 an, die das Unrechtsbewusstsein zum integralen Bestandteil der Vorsatzstrafbarkeit zählt. b) Verfassungsrechtliche Diskussion Das BVerfG994 ließ in dieser Frage berechtigterweise Zurückhaltung walten. Wenn Schmidhäuser995 meint, die Vorsatztheorie bringe den Schuldgrundsatz besser zur Geltung, dann könnte er mit dieser Einschätzung zwar noch Zustimmung finden. Daraus allein folgt allerdings noch kein verfassungsrechtliches Votum für die Vorsatztheorie. Das Schuldprinzip bekommt in seiner Lesart irrtümlicherweise den Charakter eines Optimierungsgebotes zugewiesen. In einer solchen Funktion wird es aber über Gebühr ausgedehnt.996 Das Schuldprinzip wirkt – negativ – als Übermaßverbot und – positiv – als Untermaßverbot. Im letzteren Sinne bedeutet dies, dass ein Mindestmaß an Schuld für die Rechtsfolge Strafe vorgefunden werden muss. Unter dem Aspekt der Fahrlässigkeit(sschuld) kann nämlich auch ein Verbotsirrtum diesen Mindestgehalt vorweisen.997 Dem unterschiedlichen quantitativen Schuldgehalt kann auch über die Strafrahmenmilderung Rechnung getragen werden. Der Gesetzgeber bewegt sich also noch im Raum zulässiger legislativer Ausgestaltung. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive besehen ist dieser Hinweis allemal ausreichend.998 Über die Zweckmäßigkeit und Sachgerechtigkeit in strafrechtsdogmatischer Hinsicht ist damit selbstverständlich noch nichts ausgesagt; Erwägungen dieser Art, daran ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, liegen aber ohnehin außerhalb des Aufgabenbereichs des BVerfG.
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Als Vertreter vor allem Schmidhäuser und Langer, (s. Nachweise im Folgenden); Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht (1969), S. 307 ff., mit Nachweisen; ders., FS Geerds (1995), S. 95 (109). Siehe auch Lampe, ZStW 118 (2006), S. 1 (27) und Spendel, FS Küper (2007), S. 597 (602). Ob dieser einheitliche Vorsatzbegriff der Schuld oder dem subjektiven Tatbestand angehört, ist wiederum umstritten; für letzteres Spendel, a. a. O.; ders., FS Tröndle (1989), S. 89 (99). In der Schuld bei Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 10/31; ders., Studienbuch 2(1984), 7/35. 994 Bes. v. 17. 12. 1975 – 1 BvL 24/75; BVerGE E 41, 121. krit. zur Methodik, Langer, GA 1976, S. 196 (197 ff.). 995 Er gewinnt diesen Bezug aus der Zusammenschau von Gesetzesauslegung, Gesetzgebungswille, Schuldprinzip und Kriminalpolitik; in: JZ 1979 S. 361 (365 ff., 368). 996 Entsprechend seines Grenzcharakters eignet sich das Schuldprinzip nicht als Optimierungsgebot. Es kann also Schmidhäuser nur dahingehend gefolgt werden, dass eine strengere Grenze „Schuld“ auf einen engeren Kern – und damit womöglich „eindeutigeren“ Kern zurückführt. 997 Frisch, Vorsatz und Risiko (1983), § 3 Fn. 72; BeckOK-StGB/Heuchemer (Ed. 50 – Mai 2021), § 17 Rn. 2.1. 998 Vgl. auch LK-StGB/Vogel 12(2007), §17 Rn. 2. Die Diskussion nachzeichnend Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (1987), S. 291 ff., mit hiesigem Ergebnis, a. a. O., S. 298. Anders Koriath, Jura 1996, S. 113 (124), der die „Gleichordnung“ vor dem Gesetz als Verfassungsverstoß rügt.
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c) Dogmatische Probleme Vom strafrechtlichen Standpunkt bleiben allerdings einige Ungereimtheiten. Weiterhin bedarf der Klärung wie man über einen Fahrlässigkeitsvorwurf zu einer Vorsatzstrafbarkeit gelangt. In der bipolaren Struktur des § 17 StGB liegt es begründet, dass Unrechtsbewusstsein für die Schuld zwar hinreichend, aber keineswegs notwendig ist. Die endgültige Strafbarkeit klärt sich erst dann, wenn feststeht, welche Anstrengungen der Täter hätte anstellen sollen um seinen Verbotsirrtum in der Sache zu vermeiden. Darin steckt nichts anderes als die Suche nach der Fahrlässigkeit in der Vorsatzstraftat. Und so wundert es nicht, dass die Kommentarlandschaft für die Vermeidbarkeit die Dogmatik der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. bemüht.999 Man muss sich vergegenwärtigen, dass damit zwei qualitativ unterschiedliche Parameter zur Beurteilung herangezogen werden. Das Unrechtsbewusstsein beschreibt an und für sich einen kognitiven Aspekt auf empirischer Basis. Unabhängig davon welche Qualität von Unrechtsbewusstsein verlangt wird,1000 setzt die jeweilig gewählte Begrifflichkeit in ihrem Kontext der Interpretation Grenzen. Anders bei der Vermeidbarkeit. Sie folgt der Logik eines „Sollensmodell“ und tritt somit als ein eher quantitativer Begriff auf, der einen Umschlagpunkt markieren soll. Ein natürliches Maß ist selbstredend nicht vorhanden, sondern muss gesellschaftspolitisch festgelegt werden, welches die Beliebigkeit mancher Gerichtsentscheidung widerspiegelt. Schließlich ist genau genommen bis auf höhere Gewalt nahezu alles vermeidbar.1001 Dort den Umschlagpunkt zu finden bzw. zu setzen, ist aber ersichtlich nicht gewünscht und somit nicht gemeint. Damit würde der Deliktscharakter einseitig auf die Erfolgsdimension festgelegt werden, welches dem Verbrechensverständnis im Rahmen der heute leitenden personalen Handlungslehren nicht gerecht würde. Insoweit ist der Begriff der Vermeidbarkeit selbst für die strafrechtliche Beurteilung nicht sinnvoll gewählt. Das eigentliche Regulativ in der Strafbarkeitsfrage muss demnach ein anderes sein. Und so kreisen die Erwägungen um die Vermeidbarkeit auch im Wesentlichen um die Frage, welche Anforderungen die Rechtsordnung an den Bürger zur Vermeidung von Verbotsirrtümern vernünftigerweise auferlegen darf. Mit anderen Worten ist das Kriterium der Zumutbarkeit der eigentliche Fixpunkt der Diskussion. Es ist auch gleichzeitig der Ort, wo die generalpräventiven Erwägungen ihren überzeugendsten Zugang in die Schulddiskussion finden.1002 Es ist leicht nachvollziehbar, dass aus Gründen der Normstabilität kein allzu großzügiger Maßstab hinsichtlich der Vermeidbarkeit walten darf, sollen die Regelungen – gerade außerhalb 999 Als Beispiel etwa die Kommentierungen MüKo-StGB/Duttge 4(2020), § 15 Rn. 23 ff.; LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 39 zur „Rechtsfahrlässigkeit“. 1000 Siehe bei f). 1001 Dies zeigt ein Blick auf die Gefährdungshaftung im Zivilrecht. Vgl. auch Maurach/Zipf, AT 1 8(1992), § 38 Rn. 37. 1002 Das ist auch der Ansatz von Roxin, FS Bockelmann (1979), S. 279 (290) im Rahmen des § 17 StGB.
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des Kernstrafrechts – ihre faktische Gültigkeit behalten. Ebenso gilt es aber, die Anforderungen nicht derart zu überspannen, dass sie aus Sicht des Bürgers unverständlich erscheinen. Erst mit der „Evidenz der Norm“ steigen die Anforderungen an die Vermeidbarkeit. d) Schuld- vs. Vorsatztheorie Dass folglich der Vermeidbarkeit in der Diskussion die größere Aufmerksamkeit zuteil wird, ist in Anbetracht der Bedeutung für die Rechtsanwendung begründet. Vernachlässigt bleibt dennoch die Frage wie sich der § 17 StGB in einen theoretischen Schuldüberbau integrieren lässt. Es sei bemerkt, dass die Schuldtheorie wie auch ihr Pendant die Vorsatztheorie ihre Namen allein ihrem definitorischen Charakter verdanken. Die Schuldtheorie sieht den Standort des Unrechtsbewusstseins in der Deliktsstufe Schuld. Darin erschöpft sich ihr Aussagegehalt in diesem Kontext. Aber selbst diesen löst sie nicht ein. So ist das Unrechtsbewusstsein nach alledem nicht integraler Bestandteil der Schuld, denn für die Strafbarkeitsfrage nicht von zwingender Bedeutung. Weiterhin bleibt die Schuldtheorie auch die Erklärung im wahrsten Sinne „schuldig“, warum der Unrechtsvorwurf sich durch eine unterlassene Erkundigung substituieren lässt. Um nichts anderes handelt es sich aber, wenn die Vermeidbarkeit bspw. als ungenutzte Einsichtsfähigkeit1003 definiert wird.1004 Die Möglichkeit zur Behebung eines Wissensmangels umschreibt ein Untätigbleiben im Sinne eines Unterlassens. Der eigentliche Vorwurf bezieht sich also auf ein Versäumnis in der Vergangenheit;1005 ein vom Koinzidenzprinzip ausgehendes, enormes Spannungsfeld in Nähe zur eigentlich unzulässigen, „echten“ Lebensführungsschuld.1006 Im Bereich des § 20 StGB wird an anderer Stelle der Schuldbetrachtung der Rückgriff auf ein vergangenes Fehlverhalten mit Hinweis auf das Koinzidenzprinzip abgelehnt.1007 Ist beispielsweise ein Täter aufgrund alkoholischer Intoxikation schuldunfähig, so kann man nach h. M.1008 nicht darauf abstellen, dass er sich in
1003 Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 205; zust. Löw, Die Erkundigungspflicht bei Verbotsirrtum (2002), S. 94; SSW-StGB/Momsen 5(2020), § 17 Rn. 47. 1004 Grundlegend bereits dazu Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959), S. 145, desweitern Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit (1969), S. 118. 1005 Vgl. auch Hörnle, Symposium für B. Schünemann (2005), S. 105 (128); Stratenwerth, GS Armin Kaufmann (1989), S. 485 (488 f.); ferner kritisch Otto, Jura 1992, S. 329 (329). 1006 Übereinstimmend Jakobs, AT 2(1993), 19/37; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 48 ff.; Streng, FS Beulke (2015), S. 313 (316); krit. auch Stratenwerth, GS Armin Kaufmann (1989), S. 485 (494). Moderater SK-StGB/Rudolphi, § 17 Rn. 45 (37. Lfg. Okt. 2002), der dies als Fall der Lebensführungsschuld auffasst, aber im Hinblick auf die Dogmatik der Fahrlässigkeit (sic!) für legitim hält. 1007 Kindhäuser, Strafrecht AT 7(2015), § 23 Rn. 10; Rengier, Strafrecht AT 7(2015), § 25 Rn. 8 ff. 1008 Zu diskutierten Strafbarkeitsmodellen der actio libera in causa siehe MüKo-StGB/ Streng 4(2020), § 20 Rn. 114.
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vorwerfbarer Weise dem Alkoholgenuss hingegeben hat. Die Argumentation lautet hier, dass die Verbotsnorm sich nicht auf den Alkoholkonsum an sich beziehe.1009 Ebenso wenig trifft den Bürger aber eine abstrakte Pflicht sich über etwaige Rechtspflichten zu informieren. Dies kann allenfalls als Obliegenheit aufgefasst werden. Das Vorverhalten mag strafwürdig sein, kann dann aber allenfalls als fahrlässiges Vergehen erfasst werden. Aufgrund dieser Dissonanz wird ein elementarer Grundsatz des Tatschuldprinzips, nämlich die Kongruenz von begangenem Unrecht und Vorwurf, verletzt. Man wird aus positivistischer Perspektive einwenden mögen, dass dieser Unterschied bereits im Gesetz angelegt ist. § 20 StGB enthält keine vergleichbare Formel, die eine Vermeidbarkeit des Defekts zur Verantwortung des Täters legt. Diese legislative Asymmetrie spielt in diesem Zusammenhang aber keine entscheidende Rolle.1010 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle nur, dass die Konsequenzen der Schuldtheorie dazu führen, nomologisch fahrlässiges Handeln als vorsätzliche Gesetzesübertretung zu bestrafen, damit aber die Schuldtheorie als einen leistungsschwachen, bloß heuristischen Kunstgriff entlarven. Insoweit treffen sich diese Ausführungen mit den Ideen der Vorsatztheorie.1011 Es gelingt nicht, den Grund der Vorsatzstrafe ohne Unrechtsbewusstsein zu erklären. Dahinter steckt die richtige Idee, dass das Wesen des Verbrechens in der bewussten Auflehnung gegen die Rechtsordnung zu sehen ist.1012 Roxins Einwand, nicht im Ungehorsam, sondern in ihrer unerträglichen Vernachlässigung des Rechtsgüterschutzes liege der Strafgrund der Vorsatztat1013, tangiert unsere Bemühungen deshalb auch nicht. Strafgrund überhaupt ist die unerträgliche Vernachlässigung des Rechtsgüterschutzes. Immer dann, wenn ein unerträgliches Maß erreicht ist, darf sich der Gesetzgeber berechtigt sehen, ein strafbewährtes Verbot zu verhängen. Dies gilt aber in gleicher Weise für Vorsatz und Fahrlässigkeit. Die Deliktsarten unterscheiden sich jedoch durch ihre Unwertdifferenz, welche wiederum im personalen Handlungsunrecht begründet ist. Der Straferhöhungsgrund gegenüber dem Fahrlässigkeitsdelikt hat deswegen ihren Grund zweifellos in der bewussten Auflehnung gegenüber der Rechtsordnung. Denn nur dann kann man sinnvoll von einem über die unmittelbare Rechtsgutverletzung hinausgehenden Schaden sprechen. Das kriminalpolitische Argument, dass schwerwiegende Rechtsfeindlichkeit dem Vorsatz
1009 Etwa B. Heinrich, Strafrecht AT 4(2014), § 17 Rn. 605; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 125; dies ist auch die Problematik im Bereich des § 323a StGB, NK-StGB/ Paeffgen 5(2017), § 323a Rn. 8. 1010 Sie wird im Fortgang der Untersuchung aufgegriffen werden. 1011 Vgl. dazu Langer, GA 1976, S. 193 (214 f.); ders., Das Sonderverbrechen 2(2007), S. 117 ff.; Schmidhäuser, JZ 1979, S. 361 (368); ders., JZ 1980, S. 396. 1012 S. bei Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 6. Anderer Akzent bei Frisch, Vorsatz und Risiko (1983), S. 103, 113, passim, der von „erhöhter Vermeidemacht“ bei der Vorsatztat ausgeht. 1013 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 8 mit Bezug auf Art. Kaufmann, Unrechtsbewusstsein (1949), S. 142.
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zuzurechnen sein muss,1014 ist in systematischer Hinsicht verfehlt. Diese Überlegung würde in gleicher Weise für unerträgliche Ignoranz in tatsächlicher Hinsicht gelten müssen. Im Rahmen der Regelung des § 16 StGB würde das als Missachtung des Gesetzes gelten. Eine Vorsatzstrafe ist auch für Rechtsfahrlässigkeit nicht gerechtfertigt.1015 Es scheint als sähe man sich mit einem Dilemma konfrontiert. Strafrechtsteleologie und Gesetzestext stünden sich unversöhnlich gegenüber. Wenn das Unrechtsbewusstsein als essentiell für die Vorsatzstrafe erkannt wird, dann läge es nahe, § 17, S. 2 StGB gleichzeitig als eine Art die Straftat modifizierende Vorschrift1016 zu begreifen. Diese Konsequenz wird im Schrifttum beharrlich gemieden.1017 Sicherlich stützt der Textbefund des § 17, S. 2 StGB nicht ausdrücklich diese Ansicht. In erster Linie ist diese Aversion ein historisches Missverständnis. Dieses wiederum lässt sich auf die Dominanz der finalistischen Handlungslehre zurückführen, die den Vorsatz dem Tatbestand zuweist. Folglich meint man auf Basis des dogmatischen Status quo über Vorsatz oder Fahrlässigkeit an und für sich schon auf der Tatbestandsebene zu entscheiden. Doch bei genauerer Hinsicht ist dem gar nicht so. Die zahlreichen Lösungsmodelle für den Erlaubnistatbestandsirrtum1018 belegen, dass diese Konsequenz aus Wertungsgesichtspunkten gerade nicht durchgehend gezogen werden soll. Bei unbefangener Betrachtung handelt der, der sich in einer anerkannten Rechtfertigungssituation wähnt, ohne Unrechtsbewusstsein. Genau diesen Fall regelt § 17 StGB.1019 Weil er aber einem Tatumstandsirrtum sachlich näher stünde, sei – die Lösungswege divergieren hier im Detail – jedenfalls die Rechtsfolge des § 16 Abs. 1 StGB zu wählen. Der Fall ist insofern anders gelagert, als dass der Täter im Glauben einer Rechtfertigungssituation natürlich von der Tatbestandsverwirklichung Kenntnis hat. Man könnte daher sagen, er werde von der Appellfunktion des Tatbestandes durchaus erreicht. Gerade dieses Wissen müsste ihm eigentlich die Gefahr einer Vorsatztat bewusst machen und zu größter Sorgfalt anleiten.1020 Die sachlichen Unterschiede verwischen dann doch zusehends. Mit Recht wenden Anhänger von Vorsatztheorie bzw. „strenger Schuldtheorie“ ein, dass diese modifizierenden 1014
BeckOK-StGB/Heuchemer (Ed. 50 – Mai 2021), § 17 Rn. 4.1. A. A. dennoch LK-StGB/Vogel 12(2007), §17 Rn. 7. 1016 In concreto: Die selbstständige Anordnung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. 1017 S. stv. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (1987), S. 279. 1018 Übersicht bei Rengier, Strafrecht AT 7(2015), § 30 Rn. 9 ff. über die Ansichten mit Nachweisen. 1019 Bemerkenswerterweise wird dies selbst von den Vertretern der sog. eingeschränkten Schuldtheorie, vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 6, durchaus eingeräumt. Warum trotzdem eine Regelungslücke für die analoge Anwendung des § 16 StGB postuliert wird, bleibt schleierhaft. 1020 Zur Prüfungspflicht s. Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30(2019), Vorbem §§ 32 Rn. 20; StGB-Lackner/Kühl 29(2019), § 17 Rn. 17. 1015
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Schuldtheorien insoweit inkonsequent seien und quasi auf der Hälfte stecken bleiben.1021 Tragender und zutreffender Gedanke ist vielmehr, dass derjenige der sich eine rechtfertigende Sachlage vorstellt, sich auf dem Boden des Rechts bewegen will.1022 Er hat Rechtsbewusstsein, welches dazu führt, dass eine Vorsatzstrafbarkeit ungerecht erscheint. Vom Täterstandpunkt gesehen unterscheidet ihn nichts von einem schlicht über das Verbot Irrenden. Bildhaft gesprochen bewegen sich beide auf dünnem Eis, nur Letzterer weiß es nicht. Warum gerade dem Wissenden die günstigere Rechtsfolge vorbehalten sein soll, ist auf dieser Argumentationsbasis nicht zu erklären.1023 Das personale Handlungsunrecht ist jeweils vergleichbar. Im Übrigen soll hier keine weitergehende Aufreibung im Theorienstreit stattfinden. Er beruht in erster Linie auf der Opposition zur finalen Handlungslehre. Es war lediglich zu zeigen, dass ein Entscheid für die finalistische Handlungslehre die Schuldfrage in Sachen Verbotsirrtum nicht präjudiziert.1024 Auch dann kann man für die Bestrafung wegen Vorsatzunrecht Unrechtsbewusstsein beim Täter verlangen. Der Vorschlag soll deshalb dahingehen, § 17, S. 2 StGB nicht nur als straf- sondern auch als s t r a f t a t - modifizierende Vorschrift aufzufassen.1025 Eine solche Interpretation gelänge textlich folgendermaßen: Gesetzliche Modifikation „1Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt der Täter ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. 2Er kann aber aus dem Delikt wegen der zugrunde liegenden Fahrlässigkeit bestraft werden, soweit dem Täter zugemutet werden konnte, diesen Irrtum zu vermeiden. 3In diesem Fall ist die Strafe in der Regel nach § 49 Abs. 1 zu mildern.“ (Änderungen der Neufassung in kursiv)
Gewiss muss sich der Gesetzgeber diesen dogmatischen Feinheiten nicht annehmen, auch weil die Textkorrektur keine (nennenswerten) praktischen Änderun1021 H. J. Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 239 (264); Langer, Das Sonderverbrechen 2(2007), S. 121 sowie Zieschang, Strafrecht AT I 4(2014), Rn. 359. 1022 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 14 Rn. 64; ferner Streng, FS Paeffgen (2015), S. 231 (233). Gegen dieses Bild der Rechtstreue wegen der impliziten Fahrlässigkeit Jakobs, FS Paeffgen (2015), S. 221 (228). 1023 Entsprechend Jakobs, wie zuvor. 1024 Diesen Zusammenhang gilt es zu beachten. Eigentlich werden in dieser Diskussion zwei eigenständige Fragestellungen vermengt: Die eine Frage ist die Zugehörigkeit des Unrechtsbewusstseins zum Vorsatz, die andere ist die Frage nach seinem Standort. 1025 Damit wäre auch der ubiquitäre Einwand, die Vorsatztheorie lege die Geltung der Strafgesetze in die Hände ihrer Adressaten, auszuräumen. Kritik derart an der Vorsatztheorie bei Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 9. Siehe aber auch schon die sachliche Annäherung bei ders., a. a. O., § 21 Rn. 43: „[…] Im Ergebnis läuft das bei solchen außerhalb des strafrechtlichen Kernbereichs liegenden Tatbeständen auf die Vorsatztheorie hinaus; sie muss in der Terminologie einer flexiblen Schuldtheorie so formuliert werden, dass solche Irrtümer nicht den Vorsatz, wohl aber die Bestrafung aus dem Vorsatzstrafrahmen oder die Verantwortlichkeit überhaupt ausschließen. […]“ (Hervorhebung nicht im Original). Zu den Möglichkeiten de lege lata Erb, FS Paeffgen (2015), S. 205 (218 ff.).
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gen hervorbringen sollte. Für die Strafwirkung ist es unerheblich, ob der Tenor des Schuldspruches auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit lautet. Für die Rechtswissenschaft lohnt es sich dennoch, diesen Vorschlag als Interpretationsrichtlinie in die Didaktik für das derzeit gültige Recht aufzunehmen, da es in methoden-ehrlicherer Weise zum Vorschein bringt, welchen Kriterien die Entscheidung in der Sache folgt. Das heißt schon jetzt ergeben sich für die Strafzumessung folgende Konsequenzen: Unterliegt der Täter einem Verbotsirrtum, so fällt ihm nur Fahrlässigkeit zur Last. Entsprechend diesem Gedanken muss der Strafrahmen nach Maßgabe von § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Die fakultative verdichtet sich im Regelfall zu einer obligatorischen Milderung.1026 Sonderkonstellationen, in denen eine Milderung aus Wertungsgründen nicht angezeigt erscheint, sind wohl niemals vollständig auszuschließen. Zu denken ist bspw. an den viel zitierten Fall des sog. „Rechtsblinden“, der überhaupt keine Rechtsmotivation verspürt.1027 Aus der Vergangenheit liefert die Aufarbeitung von Verbrechen im Unrechtsregime (NS-Zeit, DDR) Material dafür, dass fehlendes Unrechtsbewusstsein in Folge von intensiver Indoktrination einer Staatsideologie nicht zwingend eine Strafmilderung verdienen muss. Bei solchen Fallgestaltungen kann von einer Strafmilderung abgesehen werden. Prozessual folgt daraus ein erhöhter Begründungsaufwand für den Nichtgebrauch der fakultativen Strafmilderung. e) Inhalt des Unrechtsbewusstseins Im juristischen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung „Unrechtsbewusstsein“ eingebürgert, wenngleich das Gesetz selbst von der „Einsicht Unrecht zu tun“ (§ 17, 1 StGB) spricht. Unterschiede sind damit in der Regel nicht intendiert. Zwar meint Vogel1028 der Begriff des Unrechtsbewusstseins wäre insofern weiter, als dass er die innere Zustimmung des Individuums zu der Norm voraussetze. Doch dieser Rückschluss ist vom Wortsinn nicht zwingend ableitbar. Im Gegenteil lädt der Begriff der „Einsicht“ eher zu solcher Spekulation ein, als dass die Rede von einem „einsichtigen“ Täter immer dann stattfindet, wenn dieser den Sinn des Verbots und eben seiner Bestrafung gedanklich nachvollziehen kann.1029 Einigkeit dürfte vom Sinn und Zweck der Norm her bestehen, dass allein die Kenntnis des Verbots für das Unrechtsbewusstsein ausreicht.1030 Andernfalls stünde die staatliche Norm unter dem Vorbehalt individueller Zustimmung mit dem Ergebnis, dass jegliche Norm ihre Durchsetzbarkeit verlöre. Das ist auch der Grund, warum der Überzeugungstäter und auch der Gewissenstäter schon begrifflich keinen Verbotsirrtum für sich beanspru1026 Vgl. dazu die einschlägigen Kommentierungen. Kritik an der Ermessensmethode bei Arthur Kaufmann, FS Lackner (1987), S. 185 (186); Hörnle, Symposium für B. Schünemann (2005), S. 105 (129). 1027 Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 516 (533). 1028 In: LK-StGB 12(2007), § 17 Rn. 25. 1029 Als in dem Sinne überzeugt-sein als Substrat von Einsicht, Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung (2012), S. 111. 1030 Stv. StGB-Fischer 67(2020), § 17 Rn. 2.
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chen können. Denn sie irren in aller Regel nicht über das Verbotensein ihrer Handlung, sondern sprechen der Norm lediglich ihre Verbindlichkeit in Hinblick auf die Kollision mit ihren eigenen Interessen ab. Gleichwohl ist ausnahmsweise ein Verbotsirrtum in Form eines „Gültigkeitsirrtums“ denkbar,1031 dann, wenn der Täter glaubt, die sanktionsbewährte Norm wäre nicht nur ungerecht, sondern wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht nichtig. Er muss somit von der rechtserheblichen Anerkennung seiner Konfliktsituation ausgehen.1032 Was das Bewusstsein selbst angeht, so kann man davon ausgehen, dass die Wertung der Situation regelmäßig im Augenblick der Handlungssituation dem Menschen gewahr wird.1033 Er muss seine Einschätzung also nicht in dem Sinne fortwährend aktualisieren, als dass er ständig die soziale Bewertung reflektiert. Die Bedeutung der Handlung ist vielmehr meistens latent präsent, sei es aufgrund der Fähigkeit zur Antizipation oder anhand von Erfahrungswissen. Für die Strafrechtswissenschaft wurde der Begriff des „sachgedanklichen Mitbewusstseins“1034 geprägt.
1031
LK-StGB/Vogel 12(2007), §17 Rn. 96. Im Übrigen wäre die Behandlung Frage der Vermeidbarkeit. Die Fragestellung mit umgekehrten Vorzeichen stellte sich in den Fällen der sog. Mauerschützen. Die Grenzsoldaten sahen sich auf dem Boden des DDR-Rechts berechtigt, auf Republikflüchtlinge zu schießen, hätten aber nach BGHSt 39, 1 (34) Urt. v. 3. 11. 1992 – 5 StR 370/92 – (Mauerschützen I) die Menschenrechtswidrigkeit – und gleichzeitig den Verstoß gegen höherrangiges Recht – erkennen können. Zu dieser Auseinandersetzung s. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 67 ff., mit zahlreichen Nachweisen. Damit ist aber die Messlatte für etwaiges legislatives Unrecht vorgezeichnet. In einem Rechtsstaat modernen Verständnisses kann (darf) diese Problematik daher nicht aktuell werden. 1032 Herstellen lässt sich diese Rechtserheblichkeit über Art. 4 GG in formaler Hinsicht zwar leicht. Dennoch ist dies keine Problematik des § 17 StGB. Ein echter Gültigkeitsirrtum ist eine Tatsachenfrage, deren Bejahung praktisch selten werden dürfte, denn soweit man Glauben oder Gewissen über das Recht stellt, handelt es sich nicht um ein Wissensdefizit, sondern um eine Frage innerer Haltung. Sollte sich eine Situation auftun, in der trotzdem ein solches Wissensdefizit glaubhaft postulierbar ist, stellt sich die Frage der Vermeidbarkeit in Form der Zumutbarkeit. Aber die Zumutbarkeit bezieht sich an dieser Stelle allein auf die Behebung dieses Wissensdefizits, welche gelingen sollte. Ein grundrechtlicher Konflikt müsste systematisch schon die Verbotsmaterie betreffen, sprich schon auf Ebene der Tatbestandsmäßigkeit Gültigkeit beanspruchen. Eine Schuldproblematik stellt sich, – wenn überhaupt – nur unter dem Gesichtspunkt der Entschuldigung, s. unten III. 4. d) dd), Stichwort: Unzumutbarkeit. 1033 Das Bewusstsein erfasst als Topos kognitionspsychologisch heterogene Sachverhalte, Gegenstand hier dürfte das Zugriffsbewusstsein (access-consciousness) sein, vgl. dazu Kiefer, in: Müsseler (Hrsg.), Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 159. 1034 Bei Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 151 ff., Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit (1969), S. 38 ff., in Anschluss an die psychologischen Arbeiten Platzgummers und Schewe; Nachweise a. a. O.; ebenso LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 26; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 27. Für den seltenen Fall, dass keine Vorstellung beim Täter sich herausbildet, muss ebenso auf Verbotsirrtum erkannt werden. Anders noch der § 20 StGB des E 1962: „Wer bei Begehung der Tat irrig annimmt, kein Unrecht zu tun, handelt ohne Schuld“. Kritik bzgl. der Berücksichtigung von ignorantia bei LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 12. Sachgerechtigkeit ist allerdings auch hier über die fakultative Strafmilderung zu erzielen.
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Zu problematisieren sind in diesem Zusammenhang noch jene Konstellationen, wenn sich das Unrechtsbewusstsein deshalb nicht bilden konnte, weil die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht sich reifebedingt noch nicht ausreichend ausgebildet hat (§ 3 JGG) bzw. durch andere Faktoren (namentlich die Eingangsmerkmale des § 20 StGB) gestört ist. Angesprochen ist damit das Verhältnis der Vorschriften § 3 JGG bzw. §§ 20, 21 StGB zu § 17 StGB bei einem konstitutionell bedingten Verbotsirrtum. Obwohl diese Doppelregelung bei Schaffung der Vorschrift durchaus gesehen wurde,1035 blieb eine Harmonisierung aus. Die Anwendungsbereiche der Normen sich dadurch nicht vollständig deckungsgleich, soweit es um Anordnungen von Maßregeln (§ 61 StGB) bzw. Maßnahmen gemäß § 3 Abs. 2 JGG geht, denn diese werden von § 17 StGB nicht freigeschaltet. Normtheoretisch ließe sich eine Suspendierung des § 17 StGB im Wege der Spezialität1036 begründen, soweit man die in § 3 JGG bzw. §§ 20, 21 StGB vertypten Sachverhalte für abschließend geregelt hält. Für das StGB betrachtet, vermag das indes nicht zu überzeugen.1037 Beide Regelungen in der jetzigen Gestalt entstammen zwar dem 2. StRG, doch verfügt die Materie der §§ 20, 21 StGB in Form des § 51 StGB a. F. über eine Vorgeschichte. Eine legislativ gewollte Sonderregelung hätte in dem Fall besonders kenntlich gemacht werden müssen. Aber auch darüber hinaus erscheint eine solche Behandlung aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Denn auf die Art würde sie der Diskriminierung von Krankheiten Vorschub leisten, die aus Gleichbehandlungsaspekten nicht tragbar ist.1038 Keine Lösung ist es zudem, die Erheblichkeit im § 21 StGB in den § 17 StGB zu übertragen.1039 Das Diskriminierungsargument ist damit nicht ausgeräumt. Soweit Erheblichkeit eine generelle Voraussetzung für die Anerkennung eines Verbotsirrtums sein soll, kann das nicht überzeugen. Erstens ist es systematisch fragwürdig, denn die nachrangige Stellung des § 21 StGB im Gesetz spricht nicht dafür, dass er für die Interpretation des § 17 StGB generell Bedeutung haben könnte. Viel gewichtiger noch ist allerdings der Einwand, dass die Termini Erheblichkeit und Vermeidbarkeit sachlich in weiten Bereichen kongruent seien werden. Eine solche diffuse Begrifflichkeit ließe sich nicht klar auflösen und ist deshalb nicht erstrebenswert. Auch der umgekehrte Weg, die Vermeidbarkeit als ungeschriebenes
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S. bei Busse, MDR 1971, S. 985, zur Entstehungsgeschichte, der das Versäumnis kritisiert. Insbesondere ist ihm beizupflichten, wenn er anmerkt, die (Auf-)Trennung von Wissensmängeln und Wollensmängeln sei alles andere als akademisch. Auch ist nicht zu erkennen, inwiefern es für psychiatrische Sachverständige von Bedeutung ist, an welcher Stelle die Materie im StGB geregelt ist. 1036 SK-StGB/Rudolphi (37. Lfg. 2002), § 17 Rn. 15 – 17 zu §§ 20, 21 StGB. 1037 Anders für das JGG. Um die „Vermeidbarkeit“ eines Reifemangels kann es ersichtlich nicht gehen, vgl. Walter/Kubink, GA 1995 S. 51 (58). § 3 JGG geht demnach vor. 1038 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 20 Rn. 66. 1039 So aber Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), 18/31.
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Merkmal des § 21 StGB aufzufassen1040, muss als unerlaubte Korrektur des Wortlauts aufgefasst werden. Als Ergebnis bleibt insoweit ein partieller Leerlauf des § 21 StGB.1041 Als Beweisregel1042 oder als Differenzierungskriterium bei der Strafzumessung kann ein kumulatives Vorliegen Bedeutung behalten.1043 f) Sachlicher Bezugspunkt für das Unrechtsbewusstsein Entscheidend ist, welcher Bezugspunkt für das Unrechtsbewusstsein gewählt wird. In diesem Punkt gehen die Einschätzungen in der Rechtswissenschaft auseinander. Die möglichen Anknüpfungspunkte kann man sich als auf einer Graduierungsskala aufgereiht vorstellen. Beginnend mit der Kenntnis der Moralwidrigkeit1044 lässt sich das Unrechtsbewusstsein aufsteigend mit dem Wissen um Sozialschädlichkeit1045, der Rechtswidrigkeit1046 oder der Strafrechtswidrigkeit1047 identifizieren. Der Wortlaut des § 17, S. 2 StGB gibt dabei schon vor, dass der Täter sich der Rechtserheblichkeit seines Verhaltens bewusst sein muss. Jeder Anknüpfungspunkt unterhalb dieser Verbindlichkeitsebene kann deshalb die kategoriale Trennung von Recht und Moral nicht einhalten. Auch muss das Bewusstsein der Sozialschädlichkeit nicht zwingend in der Überzeugung münden, der Gesetzgeber habe dieses Verhalten verboten. Erkennt jemand allerdings den Rechtscharakter einer Norm, geht damit das Wissen um ihre gegebenenfalls zwanghafte Durchsetzung einher. Die Systematik wiederum deutet darauf hin, dass der Täter die Strafbewährung im Blick haben muss. Das geht zum einen schlicht aus der Regelungs1040 Ausdrücklich findet sich dieser Vorschlag auch nicht. Missverständlich indes StGBFischer 67(2020), § 21 Rn. 3; Dreher, JR 1966, 350 (351) zu § 51 II StGB a. F., als deren Formulierungen darauf abstellen, § 21 sei nur „anwendbar“ soweit die Einsicht infolge verminderter Einsichtsfähigkeit vorwerfbar sei. Im Hinblick auf die Maßregeln ist die Vermeidbarkeit keine Frage der Einschlägigkeit der Vorschrift, denn über Umwege würde letztlich nach dem Verschulden des Einsichtsdefizits gefragt, welches bei den schuldindifferenten Maßregeln gerade außer Betracht bleiben soll. Dass die Vermeidbarkeit des Defekts bei der Rechtsfolgenwahl ein zulässiges Auswahlkriterium stellen darf, ist wiederum ein anderer Aspekt. 1041 LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 113; Sch/Sch-StGB/Perron/Weißer 30(2019), § 21 Rn. 6/7; jeweils mit Nachweisen. 1042 So Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 40 III 3 S. 441 f. 1043 Sch/Sch-StGB/Perron/Weißer 30(2019), § 21 Rn. 6/7 am Ende. Sachlich unter dem Aspekt des Doppelverwertungsverbots ist eine kumulative Heranziehung freilich ausgeschlossen. 1044 Soweit ersichtlich, nicht aktuell vertreten, ältere Nachweise bei Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 57 Fn. 3, S. 70 Fn. 49. 1045 Arthur Kaufmann, Unrechtsbewusstsein (1949), S. 143; ders., Parallelwertung (1982), S. 22; ders., in: FS Lackner (1987), S. 185 (188), dort als sozial-ethischer Unwert (Wissen um Unrecht, nicht die Bewertung als Unrecht). Weiter Otto, ZStW 87 (1975), 539 (595). 1046 Etwa Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung (2012), S. 68; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 12 f.; LK-StGB/Vogel 12(2007), Rn. 15. 1047 BeckOK-StGB/Heuchemer (Ed. 50 – Mai 2021), § 17 Rn. 8; Laubenthal/Baier, GA 2000, S. 205 (207 f.); LK-StGB/Schroeder 11(1994), §17 Rn. 7 f.
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materie hervor. Eine starke Evidenz spricht dafür, das StGB kümmere sich (lediglich) um das Strafunrecht. Dazu passt auch, dass § 11 Nr. 5 StGB als Referenzgesetze nur Strafgesetze sieht.1048 Wesentlicher ist aber, dass das Unrechtsbewusstsein in der konkreten Situation bestimmt werden muss. Das führt in erster Linie dazu, dass das Bewusstsein jeweils tatbestandsbezogen vorliegen muss. Zu Recht entschied der BGH1049 in einer Konstellation auf einen Verbotsirrtums in einer Situation, als der Täter durch geschlechtlichen Verkehr mit seiner Stieftochter § 174 StGB verwirklichte, während er bezüglich der „Blutschande“ nach § 173 Abs. 2 StGB a. F., in der Annahme, diese beziehe sich nur auf leibliche Kinder, hinsichtlich des Verbots irren konnte. Es kommt also nicht darauf an, dass der Täter glaubt überhaupt irgendetwas Verbotenes zu tun. Die Unrecht-Schuld-Verknüpfung gebietet die exakte Einsicht auf die verbotene Handlung.1050 Diese Tatbestandsbezogenheit ist auch allgemein anerkannt.1051 Sie müsste konsequenterweise auch das strafrechtliche Verbot als Bezugspunkt vorgeben.1052 In der Rechtsnormtheorie ist nämlich schon der Übertritt eines Strafgesetzes etwas qualitativ anderes als die Begehung einer Ordnungswidrigkeit. Erst recht gilt das für reines Zivilunrecht, dass lediglich einen Störungsbeseitigungsanspruch oder auch eine Schadensersatzpflicht begründet. Mit diesen normentheoretischen Unterschieden müsste erwartungsgemäß auch das Bewusstsein des Bürgers korrespondieren. Bereits Juristen bereitet indes die Abgrenzung von schlichter Ordnungswidrigkeit von einer Strafvorschrift in materieller Hinsicht große Probleme. Abgesehen vom Kernstrafrecht bleibt der Übertritt von Ordnungswidrigkeit zur Straftat ein rein quantitatives Phänomen und damit notwendig diffus. Die Idee, der Bürger hätte dafür ein besseres Gespür, erschiene dann höchst abenteuerlich und praxisfern. Neumann1053 schlägt deshalb vor, auf die Sanktionierbarkeit des Normverstoßes abzustellen. Hat der Bürger die Sanktionierbarkeit vor Augen, weiß er über die möglichen repressiven Konsequenzen. Er glaubt daher
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In dem Sinne OLG Stuttgart NStZ 1993, S. 344 (345). BGHSt 10, 35 (36) – Urt. v. 6. 12. 1956 – 4 StR 234/56. 1050 Ausreichend dafür ist der Nachvollzug des im Tatbestand verbrieften rechtsgutsverletzenden Verhaltens. Auf etwaige Subsumtion des Täters kommt es in aller Regel dagegen nicht an. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass eine wahnhafte Unrechtsvorstellung in dieser Hinsicht ein unschädlicher Irrtum ist. Allgemein zur Reichweite des Unrechtsbewusstseins lässt sich sagen, dass je enger die Verwandtschaft von Tatbeständen ist, desto eher auf eine Erstreckung des Unrechtsbewusstseins geschlossen werden kann. Soweit sich eine qualitative (ggü. einer bloß quantitativen) Unrechtsdifferenz ausmachen lässt, ist dann in eine gesonderte Beurteilung einzusteigen. Vgl. zum Gesamten LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 22. 1051 BGHSt 10, 35 (39); 15, 377 (383). LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 21; NK-StGB/ Neumann 5(2017), § 17 Rn. 20 f. 1052 LK-StGB/Schroeder 11(1994), § 17 Rn. 7 f. Dass der Gesetzgeber textliche Klarheit hätte schaffen können, indem er ausdrücklich die „Einsicht, strafbar zu handeln“ normiert hätte, ist gegenüber diesem Befund kein gewichtiges Argument. Anders aber Roxin, Strafrecht AT I 4 (2006), § 21 Rn. 13. 1053 Neumann, JuS 1993, S. 793 (795); ders., nunmehr in: NK-StGB 5(2017), § 17 Rn. 20; mit dem Nachweis weiterer Anhänger in Fn. 69. 1049
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nicht mit seinem Vorhalten „durchzukommen“. Dieser Vorschlag erscheint in der Sache ein realistischeres Konzept zur Handhabung bereitzustellen. Meine Empfehlung geht deswegen hin, beide Erkenntnisse miteinander zu verbinden. Im ersten Schritt ist am Erfordernis der Strafrechtwidrigkeit festzuhalten. Eine Alternative, die die dogmatische Systematik gleicher Weise bewahrt, ist nicht ersichtlich.1054 Weiterhin ist aber auch zu berücksichtigen, dass bedingtes Unrechtsbewusstsein ausreicht.1055 Parallel zum Vorsatz1056 ist deshalb die Frage zu erörtern, wo die Grenze zum Verbotsirrtum verläuft. Analog den verschiedenen Risikomodellen zum Vorsatz1057 kann man hier die Wahrscheinlichkeit beleuchten, mit welcher der Täter das Risiko einer Straftat einschätzt.1058 Erkennt er zutreffend die Sanktionierungsmöglichkeit, dann hat er in aller Regel auch die reale Vorstellung einer Strafe vor Augen. Denn man muss davon ausgehen, dass die meisten Bürger Repression relativ undifferenziert immer als „Strafe“ für ein Fehlverhalten auffassen.1059 Ausnahmen können dort gemacht werden, wo dieses differenzierte Wissen 1054 So geht auch der Hinweis bei LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 19, „der Strafbarkeitsirrtum“ verweise nur dann auf eine Schulddifferenz, soweit das Schuldkonzept auf ausschließlicher Abschreckungsorientierung beruhe, an der Sache vorbei. Eine Schulddifferenz muss man immer annehmen, sobald Unterschiede im Wissen des Täters festgestellt werden. Andernfalls ließe sich die Notwendigkeit zur Differenzierung bei der Strafzumessung kaum erklären. Zum anderen hat der Abschreckungseffekt systematisch an dieser Stelle keine Bedeutung. Vogels Einwand bezieht sich eher auf verständliche Anliegen, das Inversionsargument („Hätte der Täter um die Strafbarkeit gewusst, hätte er es selbstredend unterlassen!“) als Schutzbehauptung auszuschalten. Tatsächlich dürfte eine solche „Umkehrprobe“ in einem Strafverfahren meist Suggestivcharakter besitzen und dürfte zur Aufklärung meist, (aber nicht immer!) unbrauchbar sein. Sein Beispiel der Unterhaltspflichtverletzung zeigt auch vielmehr, dass es im Kern um die (durchaus normativ angereicherte) Frage geht, wann von Täterwissen auszugehen ist. Dazu sogleich im Text. 1055 NK-StGB/Neumann 5(2017), § 17 Rn. 33; Warda, FS Welzel (1974), S. 499 (526 f.); eher zweifelnd Puppe, FS Rudolphi (2004), S. 231 (235); Zabel, GA 2008, S. 33 (46). 1056 So auch bei LK-StGB/Schroeder 11(1994), §17 Rn. 23. Kritik bei BeckOK-StGB/ Heuchemer (Ed. 50 – Mai 2021), § 17 Rn. 12, welcher in Fällen von Rechtfertigungszweifeln unbillige Ergebnisse befürchtet. Soweit auf den „Handlungsdruck“ in solchen Situation (Heuchemer, a. a. O.) abgestellt wird, ist dies prinzipiell irrelevant. Kritisch auch Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung (2012), S. 101, nachdem die Rechtswidrigkeit – im Gegensatz zum Vorsatzgegenstand – außerhalb der Einflusssphäre des Täters läge. Damit kann indes nur die Willentlichkeit des Vorsatzes angesprochen sein. Darum geht es aber beim Unrechtsbewusstsein schon strukturell nicht, sondern nur um die kognitive Dimension. 1057 Vgl. T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 422 ff., der ohnehin eine einheitliche Irrtumsregelung bewirbt. 1058 Entsprechend ausdifferenziert ist folglich auch die wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema mit der üblichen Bandbreite von Lösungsmodellen hinsichtlich der Bestimmung des „Umschlagspunktes“ von Nichtwissen zu Wissen. Im Einzelnen sei dazu auf die Kommentarlandschaft und deren Nachweise verwiesen, z. B. LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 27. 1059 Auf die positive Kenntnis im Sinne einer (geschriebenen) Sanktionsnorm muss man dagegen nicht abstellen. Internalisierung des Vorhandenseins dürfte ausreichen, vgl. E. E. Hirsch, FS Schelsky (1978), S. 211 (215 f.).
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vorhanden ist. In diesem Fall kann der Täter darlegen, dass er auf die Straflosigkeit vertraut habe (Parallele zur bewussten Fahrlässigkeit).1060 Vertraut der Täter konkret auf die Straflosigkeit, so können etwaige Vorstellungen der materiellen Rechtswidrigkeit nicht zum Nachteil gereichen dürfen. Lässt sich also jemand durch ein anwaltliches Gutachten versichern, sein rechtswidriges Verhalten sei allerhöchstens ordnungswidrig, befindet sich dieser in einem (strafrechtlichen) Verbotsirrtum. Die Glaubhaftigkeit solcher Vertrauensbekundungen ist Tatfrage des Einzelfalls, die Zuverlässigkeit solcher Auskünfte betrifft dann die Vermeidbarkeit des Irrtums. Nach diesen Regeln sind auch Fragen des Unrechtszweifels bzw. des „bedingten“ Verbotsirrtums zu entscheiden. Unrechtszweifel stellen nämlich kein strukturelles Sonderproblem dar.1061 Echte Zweifel beschreiben eine non-liquet-Situation, in welcher der Handelnde keine der ihm zur Verfügung stehenden Alternativen als richtig (i. S. v. wahrhaft) einordnen kann. Pointiert kann man sagen: wer zweifelt, irrt.1062 Denn entweder ist eine Handlung verboten oder sie ist es nicht. Tertium non datur. Wer aber diese Frage (subjektiv) nicht beantworten kann, hat keine Einsicht in die Qualität seines Tuns. Potentielles Wissen ist kein Wissen, sondern allenfalls vorwerfbares, weil fahrlässiges Nichtwissen. Davon geht auch der Gesetzestext aus. Im Sinne des Gesetzes1063 ist das Fehlen von Einsicht („dieser“ Irrtum) definitionsgemäß ein Irrtum. Daran vermögen Gedankenspiele über die Beschaffenheit eines Irrtums nichts zu ändern.1064 Des Weiteren gehen somit die Differenzierungsmodelle, die in der Einzelfallbetrachtung wertargumentativ nach Strafwürdigkeit die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein auflösen wollen, im Kern an der Sache vorbei. Das Unrechtsbewusstsein ist nur uneigentliche Wertbetrachtung.1065 Das heißt, die Beurteilung ist der Theorie 1060
Zu Recht T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 304. A. A. LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 28. Die von Dimakis, Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat (1992), S. 31 f., eingeführte Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ bedingtem Unrechtsbewusstsein mag seine phänomenologische Berechtigung haben, darf aber vom Grunde her keine Abweichung in der Entscheidung erlauben. Das Charakteristische des „unechten“ bedingten Unrechtsbewusstseins, nämlich die objektiv unklare Rechtslage, verhindert doch eben auch die Einsicht in das Recht bzw. Unrecht, auch wenn der Täter keinen Informationsmangel besitzt. 1062 Zu diesem Irrtumsverständnis, s. Arzt u. a., Strafrecht BT 2(2009), § 20 Rn. 65. 1063 Fehlt […] die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. 1064 Rechtstheoretisch ist es nämlich tatsächlich so, wie es Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB (2002), S. 193 verwirft: Recht wird de facto als präexistente Wahrheit „verkauft“. Der Richterspruch lautet stets auf Rechtserkenntnis (Feststellung). Auch eine Rechtsprechungsänderung (mithin Rechtserkenntnisänderung) bringt nur die nunmehr „richtige“ Erkenntnis zum Tragen. Dies ist das System, welches dem Wiederaufnahmerecht zu Grunde liegt: Rechtstatsachen sind keine neuen Tatsachen i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO, vgl. StPO-Meyer-Goßner 64(2021), § 359 Rn. 24. Die befürchtete Überdehnung, in diesem Sinne NK-StGB/Neumann 5(2017), § 17 Rn. 34, diszipliniert das Korrektiv der Vermeidbarkeit. 1065 Von dieser Sachverhalt-Wertungs-Differenz geht mittelbar auch Warda, FS Welzel (1974), S. 499 (526 ff.) aus, wenn er auf die Vorwerfbarkeit abstellt. 1061
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nach Tatsachenermittlung. Der einzige Wertungsakt in dem Zusammenhang ist das Problem, an welcher Stelle bzw. mit welchen Anforderungen im Einzelnen man den Umschlagpunkt (ver-)sehen will. Dies ist ein originärer Wertungsakt, in welchem die „Messskala“ sozusagen geeicht wird. Die Messskala bleibt in der Folge konstant; ergo sind alle Fälle einheitlich an dem gewählten Umschlagpunkt zu messen. Führt dies zu ungewollten Härten, spricht das nur dafür, dass der Umschlagpunkt sachlich falsch gewählt wurde. Andernfalls werden unweigerlich sachlich Aspekte der Vermeidbarkeit mit der Feststellung von Unrechtsbewusstsein vermengt. So verhält es sich auch, wenn Roxin1066 das Unrechtsbewusstsein von der Unbehebbarkeit des Zweifels abhängig machen will. Die strikte Trennung von Unrechtsbewusstsein und dessen Vermeidbarkeit macht Analogien zu § 17 StGB überflüssig.1067 Daraus folgt im zweiten Schritt notwendig, dass an das bedingte Unrechtsbewusstsein, welches den Irrtum abschneidet, eher höhere Anforderungen zu stellen sind.1068 Generell gilt es dabei, die Korrespondenz zwischen Bezugspunkt der Einsicht und dem Regulativ der Vermeidbarkeit im Augenmerk zu behalten.1069 Über das Kriterium der Vermeidbarkeit lassen sich die Grenzfälle besser steuern als durch eine rigide Irrtumshandhabung. Damit ist das Problem vordergründig zwar nur verlagert. Doch die lediglich fakultative Strafrahmenmilderung eröffnet ein weiteres und flexibles Rechtsfolgenspektrum für die Beurteilung der Tat. Die Argumente, die für eine strengere Haftung (im Einzelfall) eingesetzt werden, können dann als Begründung für die Straf(rahmen)wahl herangezogen werden. Letztendlich lassen sich dann bei Bedarf die gleichen Ergebnisse erzielen – bei Wahrung eines einheitlichen Systems. g) Grundsätze der Vermeidbarkeit Soweit die Frage der Vermeidbarkeit erreicht wird, ist in Erinnerung zu rufen, dass der verbleibende Vorwurf sich – materiell – nur noch auf Fahrlässigkeitsunrecht bezieht. Es ist daher berechtigt, die Fahrlässigkeitsdogmatik zur Lösung von Einzelfällen heranzuziehen.1070 Das gilt sowohl für die Zurechnungsregeln als auch für den anzulegenden Maßstab. Für einen strengeren Maßstab1071 als im Bereich der (Tat-)Fahrlässigkeit
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Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 30 f. Rückgriff auf diese „Verlegenheitskonstruktion“ bei Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 34; ähnlich Jakobs, Strafrecht AT2 (1993), 19/30 f., auf Basis seiner Zuständigkeitsargumentation. Offen gelassen bei Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 15 Rn. 85. 1068 Insofern übereinstimmend mit Puppe, FS Rudolphi (2004), S. 231 (235 f.). 1069 LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 19. 1070 Siehe schon den Hinweis oben bei c); vgl. auch Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 516 (533). 1071 Exemplarisch BGHSt 20, 18 (21). 1067
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gibt es dagegen keine ausreichende Begründung.1072 An dieser Stelle sollen nur skizzenhafte Überlegungen die Handhabung moderieren. Ausführliche Bemerkungen zu Einzelfällen in der Praxis bleiben den einschlägigen Kommentierungen vorbehalten. aa) Die Rechtsprechung bemüht seit BGHSt 2, 194 das Kriterium der Gewissensanspannung. Mit dem Maß, mit welchem der Täter die gehörige Gewissensanspannung hat vermissen lassen, bemisst sich letztlich der Schuldvorwurf.1073 Wie das Gewissen in Einzelfällen bei der Suche nach der Vermeidbarkeitsschwelle helfen soll, bleibt freilich damit noch offen. Das BVerfG definiert die Gewissensentscheidung als die unbedingt und verpflichtend erlebte Entscheidung, die sich an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientiert.1074 Es ist leicht nachvollziehbar, dass sich solche existenzielle Fragen sich nicht sinnvoll mit jedem Delikt in Verbindung bringen lassen. Zahlreiche Tatbestände des Wirtschafts- und Nebenstrafrecht gelten als „sozial-ethisch farblos“, zu denen sich das Gewissen nicht äußere. Jedenfalls dort, wo sich der Appellcharakter einer Norm für den potentiellen Adressaten nicht derart aufdrängt, wird die Gewissensanspannung als Maßstab versagen.1075 Zutreffend hat das Schrifttum leistungsfähigere Kriterien zur Beurteilung herausgearbeitet. Als Faustregel ist ein Verbotsirrtum solange vermeidbar, soweit das Unrecht für den Täter wenigstens erkennbar war.1076 Das „Erkennenkönnen“ wird zum Produkt der faktischen Möglichkeit sowie der normativen Zumutbarkeit“.1077 Die Vermeidbarkeit ist dann am Dreiklang des Anlasses, der Möglichkeit einer Informationsbeschaffung sowie deren Zumutbarkeit zu entwickeln.1078 bb) Wichtiger „Einstieg“ in die Vermeidbarkeitsdiskussion ist die Betonung des Anlasses.1079 Soweit Anlass besteht über die Rechtmäßigkeit seines Handelns nachzudenken, war das Unrecht auch erkennbar. Auf diese Weise können die in der obigen Diskussion ausgeschiedenen Referenzpunkte des Unrechtsbewusstseins, 1072 Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 19/38; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 41 II 2b S. 458; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 21 Rn. 45; LK-StGB/Schroeder 11(1994), § 17 Rn. 27. 1073 BGHSt 2, 194 (201 ff.) – Bes. vom 18. März 1952 g. H. – GSSt 2/51, vgl. gleichwohl dort bereits zur Zumutbarkeit: „Wenn er trotz der danach [gemeint: die Umstände des Einzelfalls] zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns nicht zu gewinnen vermochte, war der Irrtum unüberwindlich …“. 1074 Z. B. BVerfGE 12, 45 (55). 1075 S. auch Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT 11(2003), § 21 Rn. 60. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Merkmal liefert Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung (2000). Weder das Gewissen an sich (a. a. O., S. 241) noch die Metapher vom Anspannen (a. a. O., S. 245) sind für die Rechtsanwendung geeignet. 1076 SSW-StGB/Momsen 5(2020), § 17 Rn. 10. 1077 In der Formel LK-StGB/Schroeder 11(1994), §17 Rn. 27. 1078 Frühzeitig entwickelt bei Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 205 ff. 1079 Vgl. auch Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung (2012), S. 177; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1 8(1992), § 38 Rn. 39.
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namentlich Moral-, Sitten- oder Ethikverstöße, Bedeutung gewinnen.1080 Dabei dürfte die Sozialschädlichkeit einer Handlung die gewichtigste Rolle spielen. Weiß ich um ihre Schadensneigung, habe ich grundsätzlich damit zu rechnen, meine Verhaltensweise – von Gesetzes wegen – unterlassen zu müssen. Man kann in weit weniger pathetischer Form auch das Kriterium der Rechtsprechung in seiner Grundidee wieder erkennen, insofern man die Sozialschädlichkeit ähnlich der Gewissensentscheidung einem naiven Binärcode von „gut“ oder „schlecht“ unterwirft. Das Gewissen kann insofern als Initiator eines Erkenntnisprozesses wirken.1081 Des Weiteren kommt es auf die Schutzrichtung der Norm, oder anders gewendet, die durch die Handlung bedrohten Rechtsgüter an. Wertigkeit des Rechtsguts und ihrer Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung geben je nach Gewichtung verstärkt Anlass über die Tätigkeit nachzudenken. Der Anlass spiegelt dann den Appellcharakter einer Norm. Im Hinblick auf die Parallelität in der Dogmatik ist der Anlass weitgehend konsequent dem objektiven Fahrlässigkeitsunrecht nachzubilden. Das bedeutet, dass individuelles „Anlassempfinden“ keine nennenswerte Rolle spielen kann.1082 In einem ersten Schritt kann also durchaus die eigene Reflektion über das geplante Handeln Aufschluss über die Rechtswidrigkeit bieten. Natürlich ist niemand mit dem Hinweis auf das eigene Bemühen um Erkenntnis aus der Verantwortung entlassen. Der Aspekt des Übernahmeverschuldens greift immer in der Konstellation, wenn der Täter in dem Versuch die richtige Erkenntnis zu ziehen, scheitert. Das gilt auch dann, wenn er per Selbststudium die Gesetze zu Rate zieht. Zwar wird man schwerlich jeden Selbstversuch an der Rechtsmaterie als hinfällig beurteilen dürfen,1083 doch in der Regel ist der Bürger angehalten Erkundigungen von fachkundiger Stelle einzuholen. 1080 Vgl. den Hinweis bei LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 14, 53; LK-StGB/Schroeder (1994), §§ 17 Rn. 27; SK-StGB/Rudolphi (37. Lfg. 2002), § 17 Rn. 31. 1081 So bei Rudolphi, in: SK-StGB (37. Lfg. 2002), § 17 Rn. 32, ders., Unrechtsbewusstsein (1969), S. 226. 1082 Die insofern vorgenommene „normativierte Betrachtung des Anlasses“ bewirkt entgegen, Timpe, GA 1984, S. 51 (59 f.), eher Entlastung des Rechtstreuen. Inwieweit Nichtangehörigen des hiesigen Kulturkreises Erleichterungen zukommen können, ist nicht pauschal zu beantworten. Doch generell dürfte ein Bewegen im Bereich fremden Kulturen generell Anlass bieten, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen, ähnlich Laubenthal/Baier, GA 2000, S. 205 (220). Ein Unterschied macht dabei vor allem die Art des Aufenthalts aus. Einem Touristen gegenüber wird eine weniger strenge Anlassprüfung angezeigt sein als gegenüber jemandem, der seinen Lebensmittelpunkt (langfristig) nach Deutschland verlegen möchte. 1083 Normtheoretisch wäre dieses in der strengen Konsequenz fatal, den sie bedeutete gleichzeitig, dass der eigentliche Adressat, der Bürger, nie in der Lage wäre eine Norm von selbst zu verstehen. Eine Ansicht, die die Staatstheorie im Hinblick auf die Adressatentheorie der Gesetze in erhebliche Begründungsnöte versetzen würde. Auf der anderen Seite sollte die Tatsache, dass Rechtsberufe eine umfangreiche und anspruchsvolle Ausbildung erfordern, jeden Laien zur Vorsicht mahnen. Richtigerweise wird man dies von der Komplexität der Materie abhängig machen müssen. Lösung dieses Problems erlaubt dann der Parameter der Zumutbarkeit. 11
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cc) In der Sache begegnet uns das zweite Kriterium, nämlich die Möglichkeit der Erkundigung. Welche schließlich als geeignete Informationsquellen dienen können, hängt im Wesentlichen vom Sachbereich des in Rede stehenden Deliktes ab. Die Verlässlichkeit der Auskunft hängt von der Zuverlässigkeit der Auskunftsperson ab.1084 Erklärungen von öffentlichen Stellen, seien es explizite Auskünfte von Behörden oder einschlägige, aktuelle Gerichtsentscheidungen, müssen nach dem zum Teil wenig beachteten1085 Vertrauensgrundsatz den Bürger entlasten können. Denn die öffentliche Hand tritt dem Bürger trotz Binnenausdifferenzierung als eine Einheit („der Staat“) gegenüber, so dass Erklärungen auch falschen Inhalts dem Staat grundsätzlich zurechenbar1086 bleiben. Da es an der realen Möglichkeit, sich (in extenso) erkundigen zu können, kaum je fehlen wird, muss die Betrachtung in enger Vernetzung mit der Zumutbarkeit erfolgen. Die Konstellation, dass absolut niemand Rechtsrat weiß, ist nur theoretischer Natur. Gleichwohl können Hindernisse räumlich-zeitlicher Art die Situation begleiten. Gerade in den Fällen, in denen eine schnelle Entscheidung zu fassen ist, kann der zeitliche Rahmen die Informationsmöglichkeiten begrenzen. dd) Letzterer (Fall) bildet ein Beispiel für den Übergang zu Erwägungen der Zumutbarkeit. Für die Zumutbarkeit im Detail kommt man nicht darum herum, einzelfallbezogene Lösungen zu erarbeiten. Allgemeine Richtlinien lassen sich kaum aufstellen; außer der Maßgabe, die Anforderungen nicht zu überspannen. Ein juristischer Allgemeinplatz zwar, doch gibt die rigide Rechtsprechung ausreichend Anlass dafür, kontinuierlich daran zu erinnern. Es geht nicht an, dem Bürger bessere Kenntnis als ausgebildeten Juristen abzuverlangen. Genau das ist aber der Rückschluss, den die Rechtsprechung nahe legt, indem sie die Vertrauenswürdigkeit selbst von Kollegialgerichten in Zweifel zieht.1087 In dieser Ausprägung wird die Informationsbeschaffung im Ergebnis zu einer unvertretbaren Handlung, die den Ausgangspunkt aller Überlegungen, nämlich deren Fundierung im Schuldprinzip, zunehmend außer Acht lässt. In anderer Gestalt lebt derart der althergebrachte Rechtssatz error iuris (criminalis) nocet also weiter.1088 Denn der Verbotsirrtum kann 1084
Zu Einzelheiten s. Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB (2002), S. 100 ff. 1085 So LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 49. 1086 Der Staat darf sich nicht in Widerspruch zu eigenem Verhalten setzen. Das tut er aber, wenn ein Verhalten, zu dem er beigetragen hat, bei Strafe sanktioniert werden soll. Auf dieser Stufe greifen allgemeine Zurechnungsregeln. So kann auch eine tatsächlich erteilte Auskunft einer unzuständigen Behörde im Hinblick auf das Anscheinsprinzip ausreichen, zu einem Fallbeispiel vgl. BGH NStZ 2000, 364. Zurechenbarkeit wäre nur zu verneinen bei erkennbaren Exzess des Amtsträgers, etwa bei offensichtlich fehlender Kompetenz oder erkennbarer Pflichtverletzung. 1087 Vgl. zur Behandlung bei inkonsistenter Rspr. die Analyse bei Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB (2002), S. 189 ff. 1088 Vor allem Naucke, FS Roxin I (2001), S. 503 (507 ff.) wirft die Frage auf, welche Selbstherrlichkeit des Staates in einer solchen Rigidität zu Tage tritt. Für das Wirtschaftsstrafrecht vergleichbare Haltung von Eidam, ZStW 127 (2015), S. 120 (133 ff.).
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durchaus als „Komplementärerscheinung der Gesetzesflut bei gleichzeitig fast vollständig fehlender Rechtserziehung“1089 begriffen werden.1090 Selbst wenn man geneigt ist, die Gegenwart als Zeitalter der Informationsgesellschaft bei beständigem Fortschritt auszurufen, so darf man nicht verkennen, dass die Vielfalt der Möglichkeiten im Angesichte kontinuierlicher Alltagsdynamik eine solide Orientierung eher erschwert. Eine Erosionsthese dergestalt, dass eine zu großzügige Handhabung beim Verbotsirrtum die generalpräventive Wirkung des Strafrechts untergraben wird, bleibt in Abstraktheit und Absolutheit reine Spekulation. Gewiss ist nicht völlig auszuschließen, dass solche Effekte deliktsbezogen auftreten können. Entsprechend muss eine Lösung dann an dieser Stelle intern entwickelt werden. Ein allgemeines Prinzip lässt sich daraus nicht formulieren. Das bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass präventive Modelle, wie etwa die Zuständigkeit1091 als Kriterium der Irrtumserheblichkeit, als Ausfüllungsmaßstab suspendiert werden müssten. Diese Steuerungsvorstellungen sind im Grundsatz legitim, dürfen aber den Schuldgedanken (die bewusste Normübertretung) nicht völlig verlassen. ee) Die Zumutbarkeit ist auch die Stelle, an der Maßfiguren in die Diskussion eingeführt werden können.1092 Anhand solcher Konzepte wie des „sorgfältigen Weinbauern“1093 oder des „älteren erfahrenden Anwalts“1094 lassen sich für die in Rede stehenden Sozial- bzw. Verkehrskreise ein Erwartungshorizont für Erkundigungsbemühungen formulieren, anhand denen wiederum die Zumutbarkeit im Einzelfall bestimmt werden kann. Lässt sich aus der Sicht ex post keine geeignete Person ermitteln, ist der Täter zu exkulpieren. Das gilt selbst dann, wenn der Täter schon ex ante überhaupt keine Anstrengungen gezeigt hat, sein Wissensdefizit zu beheben. Das mag durchaus etwas verwunderlich wirken, denn der Gedanke der Exkulpation verweist auf das individuelle Tätervermögen, welches im Grunde wesentlich davon bestimmt wird, dass der Täter das Erforderliche entsprechend seinen Möglichkeiten getan hat. Ein ernsthaftes Bemühen, wie in den Fällen der §§ 24 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2; 31 Abs. 2 StGB, zu verlangen, erschiene aus dieser individuellen Perspektive alles andere als sachfremd. Jedenfalls bedürfte es der Klärung hinsichtlich des Gerechtigkeitsgehaltes, warum jemand, dessen vorhandene Bemühungen im Ergebnis nicht ausreichen, eine (wenn auch deutlich gemilderte) Strafe zu erwarten hätte und ein anderer, der in seiner Angelegenheit keinen Aufwand betreibt, sich der Straflosigkeit erfreuen kann. Die Gesetzesfassung der im Vergleich stehenden Normen gibt die Antwort argumentum e 1089
Maurach/Zipf, AT 1 8(1992), § 38 Rn. 38. Im Allgemeinen noch weiter geht Cornelius, GA 2015, S. 101 (108 ff.), der bei Fällen unklarer Rechtslagen die Tatbestandsqualität in Frage stellt. Auch dies ist ein gangbarer Weg. 1091 Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 19/35; krit. vor allem Löw, Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB (2002), S. 61 ff. 1092 S. auch LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 42. 1093 BGHSt 9, 164 (172). 1094 BGHSt 15, 332 (341). 1090
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contrario zum Teil schon vor: Wenn es auf ein Bemühen ankommen sollte, hätte der Gesetzgeber es den Rücktrittsvorschriften gleich tun müssen. Weitaus wichtiger ist noch die Erkenntnis, dass die Vermeidbarkeit der Dogmatik der Fahrlässigkeitsdelikte folgt. Unter dem Aspekt des sog. rechtmäßigen Alternativverhaltens muss eine Zurechnung ausscheiden. Der Rekurs auf ein sog. „potentielles Unrechtsbewusstsein“ vermag das nicht zu begründen, sondern würde dies eher ins Gegenteil verkehren.1095 Dieses zeigt einmal mehr, dass wir nicht mehr über eine Vorsatztat diskutieren und soll als letzter Hinweis fungieren, § 17, S. 2 im Sinne einer Straftat modifizierenden Vorschrift zu interpretieren. h) Unrechtsbewusstsein und Fahrlässigkeitstat In diesem Zusammenhang sollen abschließend noch einige Bemerkungen zu der Bedeutung des Unrechtsbewusstseins im Fahrlässigkeitsbereich erfolgen. Hierbei geht es auch um die praktische Frage, inwiefern § 17 StGB beim Fahrlässigkeitsdelikt eine Rolle spielen kann. Die vorangegangen Ausführungen belegen den konstitutiven Charakter des Unrechtsbewusstseins für die Bestrafung aus einer Vorsatztat. Dies lädt zu folgenden Syllogismus ein: Der Täter einer Vorsatztat muss Unrechtsbewusstsein haben. Fehlt das Unrechtsbewusstsein, ist er nur Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts. Ein Fahrlässigkeitstäter hat stets kein Unrechtsbewusstsein. (?)
Der letzte Schluss ist aus den ersten beiden Prämissen nicht deduzierbar und aus (formal)logischen Gründen nicht gültig. Möglicherweise gibt es Fahrlässigkeitstäter mit Unrechtsbewusstsein. Stellt sich aber heraus, dass die 3. Aussage unseres Syllogismus doch wahr ist, hat das Auswirkungen für die Anwendbarkeit des § 17 StGB im Rahmen des Fahrlässigkeitsbereiches. Befindet sich ein Fahrlässigkeitstäter begriffsnotwendig im Verbotsirrtum, so müsste man generell über eine Strafmilderung bei jeglicher Fahrlässigkeitsstraftat diskutieren. Ein derartiger Automatismus wäre erstens recht sonderbar und zweitens stünde dessen Sinnhaftkeit in Frage.1096 Die gegenteilige Hypothese nimmt somit § 17 StGB für den Fahrlässigkeitsbereich aus. § 17 StGB selbst zeigt keinen spezifischen Anwendungsbereich an. Der Text an sich verliert darüber kein Wort; der (systematische) Standort im Allgemeinen Teil 1095
Eine Postulierung eines sog. „potentiellen Unrechtsbewusstseins“ vermag daher diese Konzeption nicht zu retten. Sie läuft auf eine Berücksichtigung von Reserveursachen heraus, die im subjektiven Zurechnungsbereich einen Fremdkörper darstellt. Mit gleicher Argumentation ließen sich Tatbestandsirrtümer als unerheblich erklären, indem man eine nachträgliche Billigung der Tat ins Kalkül mit einbezieht. Die Behauptung lautete dann, der Täter hätte Vorsatz gehabt, wenn er die Situation nur zutreffend wahrgenommen hätte. Dies wird mit Recht nicht vertreten. Zur Unbeachtlichkeit des dolus subsequens s. Jescheck/Weigend, AT 5(1996), § 29 II 2, S. 294; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 310. 1096 LK-StGB/Vogel 12(2007), § 17 Rn. 109; LK-StGB/Schroeder 11(1994), §17 Rn. 2.
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weist auf seine allgemeine Anwendbarkeit1097 hin – soweit der Gesetzgeber diese Problematik seiner Zeit bedacht hat. Zur Widerlegung der ausgestellten Ausschließlichkeitshypothesen genügt es freilich Fälle zu bilden, die die Rechtsfolge des § 17 StGB auslösen (sollen).1098 aa) In einem ersten Gedankenschritt kann man Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit ausscheiden. Wer die gebotene Sorgfalt nicht aufwendet, weil er die Situation als solche, d. h. in tatsächlicher Hinsicht, schon nicht erfasst, der befindet sich begriffsnotwendig im Verbotsirrtum. Jeder Tatbestandsirrtum führt unweigerlich zum Verbotsirrtum.1099 Zum Teil glaubt man allerdings auch vom Irrtum in tatsächlicher Hinsicht einen reinen Regelirrtum unterscheiden zu können.1100 In diesen Fällen soll § 17 StGB Anwendung finden können. Der Erfindungsreichtum des Schrifttums war auch nicht verlegen, solche zu entwickeln. So soll ein Zeuge, der über sein Alter fahrlässig (sic!) falsche Angaben macht, dann einem Verbotsirrtum unterliegen, wenn er die Wahrheitspflicht nicht auf die Angaben über die eigene Person bezieht.1101 Ein weiteres Beispiel soll der Fall bilden, in dem ein Führer eines Kraftfahrzeugs im Stadtverkehr 70 km/h anstatt der erlaubten 50 km/h fährt, ohne diesen Umstand zu registrieren. Bei einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger erleidet dieser Fußgänger eine Körperverletzung. Es stellt sich heraus, dass der Fahrer, hätte er den Tacho im Blick gehabt, diese Geschwindigkeit im Stadtverkehr für erlaubt gehalten hätte.1102 In diesen Fällen soll ein separater Verbotsirrtum vorliegen, da die Unkenntnis des abstrakten rechtlichen Verbots dazu führen soll, dass auch die korrekte tatsächliche Beurteilung die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit seines Handelns nicht erbracht hätte. Eine zweite Fallgruppe sind verkappte Erlaubnisirrtümer, so wenn ein Polizist einen ohne Beute fliehenden Dieb durch einen unvorsichtigen Warnschuss ins Bein zu Fall bringt. Ein Verbotsirrtum liegt dann vor, wenn der Schütze glaubte, ein vorsätzlicher Schuss zum Zwecke der Festnahme sei gerechtfertigt.1103 Ob dies sämtlich gelungene Beispiele unbewusster Fahrlässigkeit sind, sei hier dahingestellt. In erster Linie sind die gezogenen Konsequenzen von Interesse. Re1097
Wortlautargument: Vogel a. a. O. Freilich weist Schroeder, in: LK-StGB 11(1994), § 17 Rn. 2, zu Recht hin, dass bei Fahrlässigkeitstaten keine im Mindestmaß erhöhte Strafe bei Fahrlässigkeit vorliegt. Dennoch ist die Überlegung nicht nur von akademischen Interesse, da dies schließlich auch als allgemeiner Strafmilderungsgrund innerhalb des Strafrahmens geltend gemacht werden könnte; entsprechend Schroeder a. a. O. Nicht zu vergessen ist schließlich die Obergrenze. 1099 Wohl unbestritten, s. bspw. NK-StGB/Neumann 5(2017), § 17 Rn. 86; Stratenwerth/ Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 15 Rn. 47; Bung, FS Kargl (2015), S. 65 (69). 1100 NK-StGB/Neumann 5(2017), § 17 Rn. 87. 1101 Neumann, ebd. 1102 Gebildet nach Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 176, zust. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 113. 1103 Wiederum bei Rudolphi, a. a. O.; ebenfalls zust. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 112. 1098
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levant ist allein die Frage, ob die genannten Fälle Kandidaten für die Anwendung von § 17 StGB und damit einer Strafmilderung sind. Das sind sie allesamt nicht. Unwesentlich in dem Zusammenhang ist, ob sich Verbotsirrtümer im Bereich der Fahrlässigkeit isolieren lassen. Das „beweist“ den Anwendungsbereich des § 17 StGB nämlich noch nicht hinreichend, sondern könnte immer noch auf den immanenten Verbotsirrtum in der Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte verweisen. Das führte unweigerlich zu der unerwünschten „Doppelverwertung“ des Irrtums, was nichts anderes meint, als dass die bereits gesetzlich vertypte Berücksichtigung erneut verwertet werden soll. Aussichtsreicher ist die Gegenprobe, welche nach systematischen Verwerfungen fragt, wenn § 17 StGB im Bereich der Fahrlässigkeit anwendbar sein sollte. Begründet wird die Anwendbarkeit jeweils mit Hilfe des Prüfkriteriums eines fiktiven Verbotsirrtums und einem Erst-Recht-Schluss: hätte der Täter bei Unkenntnis der Norm jeweils vorsätzlich gehandelt, würde ihm das als (wenn auch vermeidbarer) Irrtum mit der Möglichkeit der Schuldminderung anerkannt werden.1104 Das soll für die Fahrlässigkeitsstraftat auch gelten, eine Aufschlüsselung erfolgt dann mit der Argumentation eines abstrakten Verbotsirrtums. Aufgrund des Stufenverhältnisses von Vorsatz und Fahrlässigkeit scheint dieses Argument der Übertragbarkeit prima facie stechend zu sein. Das Problem ist allerdings, dass sich die Regeln für Vorsatztaten nicht ohne weiteres übertragen lassen. Zurückkehrend zum Beispiel des unvorsichtigen Autofahrers: pointiert gesprochen begegnet uns ein kurioser Doppelirrtum: Ein Autofahrer, der wegen überhöhter Geschwindigkeit einen Fußgänger anfährt, begeht eine fahrlässige Körperverletzung. (Er erkennt das Risiko nicht.) Kennt er noch nicht einmal die Verkehrsregeln, soll ihn das entlasten! (Obwohl der Grund der Verursachung der gleiche ist: Er erkennt das Risiko nicht.) Das ist nicht plausibel, denn eher muss man annehmen, dass es sich um eine gröbere Verletzung der Verkehrspflicht handelt. Der Denkfehler liegt darin begründet, dass der korrekte Bezugspunkt verlassen wird. Es geht allein um die Sorgfalt hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter (im Beispiel: körperliche Integrität), nicht um die Kenntnis von Verkehrsregeln. Der Grund für diese Gefährdung, ob aus Verkennung der tatsächlichen eigenen Geschwindigkeit oder Fehleinschätzung des erlaubten Risikos (70 km/h statt 50 km/h), ist für die Fahrlässigkeitshaftung an sich ohne Belang. Das Verbot das in Rede steht, ist die fahrlässige Körperverletzung, nicht die Straßenverkehrsregeln. Der Fahrer des Autos nimmt wohl kaum an, bei Stadtgeschwindigkeit Menschen überfahren zu dürfen, mag diese zulässige Geschwindigkeit nun bei 70 km/h oder 50 km/h liegen. Insofern liegt außer des dem Fahrlässigkeit immanenten Irrtum (hinsichtlich dieser Sorgfalt!) schon kein zweiter relevanter Irrtum vor. Die Differenzierung nach Tat bzw. Rechtsirrtum beim Fahrlässigkeitsdelikt ist also schlimmstenfalls falsch, ansonsten jedenfalls überflüssig. Sie ist im Grunde aber falsch, weil sich bei Bestimmung der objektiven Sorgfaltspflicht Tatsachen und
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Rudolphi und Roxin, jeweils wie zuvor.
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normative Elemente nicht regelmäßig sauber trennen lassen.1105 Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht korrespondieren mit den gefahrbegründenden Tatsachen. Mit der Gefährlichkeit für die geschützten Rechtsgüter wachsen auch die Anforderungen an die Sorgfalt. Regel (Norm) und Tatsachen bilden eine Einheit. Für eine Privilegierung eines Rechtsirrtums ist kein Grund ersichtlich. Bemerkenswerterweise wird bei den Vorsatzdelikten das Gegenteil vertreten.1106 Das zeigt auch, warum die Parallelisierung zu den Vorsatzdelikten verfehlt ist. Der Grund ist einfach zu benennen: das Konzept der Warn- bzw. Appellfunktion des Vorsatzes greift nicht, wenn das Verbot nicht erkannt wird. Wenn man jeweils Vorsatzkonstellationen heranzieht, kann ein Verbotsirrtum Bedeutung erlangen. Ein Äquivalent dazu lässt sich indes beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht aufbauen. Dass bei Unkenntnis schon die Möglichkeit fehlt, das Verhalten an der Rechtspflicht auszurichten1107 ist zwar zutreffend, kann systematisch den Vorwurf (fahrlässige Verletzung) aber nicht ändern. Die Kenntnis des abstrakten Verbots, die „jederzeit aktivierbare Unrechtskenntnis“1108 kann sich sinnvollerweise allein auf die Sorgfaltsnorm beziehen und kann von daher die Warn- bzw. Appellfunktion für die konkrete Betrachtung nicht ersetzen. Wer nun stattdessen die Sorgfaltsnorm als Referenz heranzieht, erliegt leicht der Versuchung, die fahrlässige Begehung einer Tat in ein Unterlassungsdelikt umzudeuten.1109 Eine solche Substitution ist dogmatisch fraglich und auch nicht von Vorteil. Im Modell fallen dann Unkenntnis des abstrakten Verbots und Normübertretung notwendig zusammen, welches den Automatismus von § 17 StGB auslösen müsste. Das zeigt sich dann, wenn schon der Verhaltensverstoß an sich und nicht erst die Folge sanktioniert wird. Der Hintergrund ist, dass es bei Fahrlässigkeit stets um Erfolgsdelikte geht; eine Perspektive die sich insbesondere im Nebenstrafrecht nicht mehr durchhalten lässt.1110 Kaum denkbar, dass der Schöpfer der Strafvorschrift und (mithin des Strafrahmens) diese Konsequenz beabsichtigte. Aber auch ohne das Konfusionsargument bleibt die Konstruktion allenfalls überflüssig. Im Verbotsirrtum „lebt“ die Fahrlässigkeit in der Sache unter dem Aspekt der Übernahmefahrlässigkeit1111 schließlich weiter. Auf diese Art und Weise verfängt man sich nur in Zirkeln von fahrlässigen Verbotsübertretungen. So mag der 1105
So schon bei Arzt, ZStW 91 (1979), S. 857 (880). Das ist die Kernthese der differenzierenden Theorien zum Erlaubnistatbestandsirrtum. Zu den Modellen hier unter d). 1107 Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 176. 1108 SK-StGB/Rudolphi, § 17 Rn. 19 7(37. Lfg. Okt. 2002). 1109 Jakobs, Strafrecht AT 2(1993), Rn. 9/6, welcher nachfolgend (Rn. 8 ff.) ein objektives Kriterium im Fahrlässigkeitsdelikt verwirft. 1110 Diese Diagnose bezüglich der Fahrlässigkeitsdogmatik findet sich schon bei T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 176 f. 1111 Die Übernahmefahrlässigkeit steht letztlich immer in der Diskussion, wenn die Strafbarkeitsfrage bei der subjektiven Fahrlässigkeit in Form individuellen Unvermögens angelangt ist. Daraus kann man hier den Rückschluss ziehen, dass die Behandlung der vermeintlichen Irrtumsproblematik dogmatisch dort besser aufgehoben ist – auch wenn die Rechtsfigur in toto vielleicht noch nicht ausgereift ist. 1106
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Erfindungsreichtum in der Rechtswissenschaft bestimmte Konstellationen hervorbringen, in denen phänomenologisch eine Scheidung von Tat- und Rechtsirrtum auch im Fahrlässigkeitsbereich möglich erscheint – über deren unterschiedliche Handhabung ist darüber nichts gesagt. Der Rekurs auf einen hypothetischen, abstrakten Verbotsirrtum trägt nicht zur Klärung eines Sachverhalts im Hinblick auf die Strafbegründung bei und sollte deswegen unterbleiben. Etwaige Konsequenzen für die Strafzumessung können hier offen bleiben. Eine selbständige Rolle könnte fehlendes Unrechtsbewusstsein möglicherweise indes erlangen, wenn sich der Fahrlässigkeitstäter gerade über den Rechtscharakter, über die Pflicht zur Einhaltung objektiver Sorgfalt irrt und die Anforderungen als Gebote des Anstands, Höflichkeit oder Rücksicht missdeutet.1112 In Rede steht dann ein Pflichtirrtum. Aber auch das dürfte kein spezifischer Irrtum über die Rechtswidrigkeit sein. Selbstverständlich handelt die betreffende Person in dem Fall ohne Unrechtsbewusstsein. Da Fahrlässigkeit jedoch ein Rechtsbegriff ist, stellt diese Konstellation nur ein Unterfall der Verkennung der objektiven Sorgfaltspflicht dar. Der Adressat wird bei der Statuierung von Sorgfaltspflichten stets mitgedacht. Wer sich nicht angesprochen fühlt, wird sich folglich auch in tatsächlicher Hinsicht nicht auf rechtlich relevanter Ebene wähnen. Geht es aber um den Rechtsbegriff der Fahrlässigkeit, ist der Pflichtirrtum eine schlichte Paraphrase des Faktums unbewusster Fahrlässigkeit. Werden Sorgfaltspflichten immer in Bezug auf bestimmte Verkehrskreise gebildet und die potentiellen Adressaten immer miteinbezogen, ist für einen Pflichtirrtum im engeren Sinne kein Raum.1113 Denn das bedeutet, dass jemand zwar den Pflichtcharakter erkennt, aber nicht auf die eigene Person ummünzt. In Rede steht folglich ein Erlaubnisirrtum, welcher nur für Rechtfertigungssituationen vorstellbar ist. Gedanklich erreicht die Diskussion damit die Schwelle der bewussten Fahrlässigkeit. bb) Was sie die bewusste Fahrlässigkeit angeht, ist ein Verbotsirrtum konstruktiv möglich. Bewusst fahrlässig handelt, wer es für möglich hält, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, jedoch pflichtwidrig darauf vertraut, dass er ihn nicht verwirklicht.1114 Das Konzept der Appellfunktion greift hier wieder1115, so dass wiederum Raum für einen Verbotsirrtum erscheint. Ein Beispiel bildet ein etwa die Konstellation eines Arzts, der infolge einer unbeschwerten Party angetrunken und letztlich fahruntüchtig einen Autounfall verursacht, weil er einer Patientin zu Hilfe eilen wollte. Verkennt der Arzt, dass bei nur leichter Erkrankung der Patientin § 34 StGB nicht einschlägig ist, befindet er sich insofern in einem Verbotsirrtum in Form
1112 Jescheck/Weigend, AT 5(1996), § 57 I 2 S. 593; in die gleiche Richtung, wenn auch nicht explizit, weist auch die kompakte Darstellung bei Welzel, Das deutsche Strafrecht 11(1969), S. 167. 1113 Hardwig, ZStW 78 (1966), S. 24 (26 f.). 1114 S. stellvertretend Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 932. Die Diskussion übernimmt somit die Vorstellungen des E 1962 und der Rspr. des RG, vgl. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 66. 1115 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 110 f.
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eines Erlaubnisirrtums.1116 Das ist in der Sache wenig überraschend, da bewusste Fahrlässigkeit und bedingter Vorsatz keine intellektuelle Differenz ausmachen.1117 Die Frage nach dem voluntativen Moment wird auf der Frage des Unrechtsbewusstseins gar nicht abgebildet. Das bedeutet im Ergebnis, dass aus logischen Gründen im Bereich des § 17 StGB bewusste Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz gleich zu behandeln sind, ergo § 17 StGB Anwendung findet. Trotzdem bleibt ein Unbehagen zurück, und dieses rührt daher, dass in gezeigter Weise wieder Vorsatz und Fahrlässigkeitsebene in der Argumentation verknüpft werden, welches an anderer Stelle als problematisch ausgewiesen wurde.1118 Zum Zweiten lässt sich die Berechtigung des Konzepts bewusster Fahrlässigkeit hinterfragen1119, eine Rechtsfigur die ohnehin nur bei Erfolgsdelikten funktioniert. Es lässt sich schließlich nur auf den Nichteintritt vertrauen, sofern ein von der Sorgfaltspflichtverletzung unterscheidbarer Erfolg isolierbar ist. Und selbst da bleibt die Vertrauensformel angreifbar.1120 Auf Basis der herrschenden Auffassung soll dennoch mit der Vorstellung bewusster Fahrlässigkeit gearbeitet werden. Die Lösung dieser Problematik zeigt auch wieder nur ein intrasystematischer Vergleich auf. Die Frage ist abermals aufzuwerfen, warum ein reiner Rechtsirrtum im Rahmen der Fahrlässigkeit privilegiert werden sollte. Der Täter befindet sich jeweils im Irrtum über das erlaubte Risiko, bei der unbewussten Fahrlässigkeit liegt das Augenmerk auf dem Risiko als solchem, bei der bewussten geht es um die Erlaubnis. Beides führt im Ergebnis zu einem Verbotsirrtum. Nur einer gilt (zu Unrecht) als der Fahrlässigkeit immanent. Da aber beide Fälle in der Wertung auf den gleichen Grund in der Sache verweisen (fehlendes konkretes Unrechtsbewusstsein), ist eine unterschiedliche Behandlung nicht gerechtfertigt. Denn das Ausgangsbeispiel des leichtfertigen Arztes lässt sich derart 1116
Bsp. nach Rudolphi, Unrechtsbewusstsein (1969), S. 174, zust. Roxin, Strafrecht AT I (2006), § 24 Rn. 111. 1117 Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch, AT 11(2003), § 22 Rn. 8; Jakobs, Strafrecht AT 2 (1993), 9/3; krit. deswegen Schmidhäuser, Studienbuch AT 2(1985), 7/96 ff., ders., AT 2(1975), 10/95, S. 439. 1118 S. oben bei: c) Dogmatische Probleme. 1119 Neuerdings wieder Frister, Strafrecht AT 7(2015), 12/Rn. 22; T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 177 ff. dieser mit Nachweisen zu älterem Schrifttum. 1120 Die Existenz wirklicher bewusster Fahrlässigkeit kann man durchaus anzweifeln. Mit dem lebensnahen Beispiel des Autofahrers, der trotz glatter Fahrbahn gefahrträchtige Geschwindigkeit an den Tag legt und dieses auch erkennt, kann man sich leicht identifizieren. Man scheut davor, von bedingtem Tötungsvorsatz zu sprechen, sollte es zu einem tödlichen Unfallausgang kommen, auch wenn der Fahrer das Unfallrisiko in solchen Fällen kennt. Das ist auch sachgerecht, denn diese Konsequenz hat man nicht vor Augen, weil man sie nicht wünscht. Aber wahrscheinlich ist dieses Phänomen als bewusste Fahrlässigkeit nur falsch bezeichnet. Denn entweder handelt es sich um keine Fahrlässigkeit im Begriffssinne, sondern um Gefährdungsvorsatz, welcher für Erfolgsdelikte nicht ausreicht. (Erfolgsvorsatz notwendig). In diese Richtung Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 154. Oder in Rede steht überhaupt keine bewusste Fahrlässigkeit. Wenn der mögliche, konkrete Erfolg soweit verdrängt wird, tritt er allem Anschein nach gar nicht ins Bewusstsein. Die Verdrängung bewirkt demnach, dass eine konkrete Antizipation des Gefahrenpotentials gar nicht erfolgt. Beachtenswert in dem Sinne Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 10/95, S. 439. 4
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umwandeln, dass dieser seine Fahruntüchtigkeit gar nicht wahrnimmt, da er die während der Party mengenmäßig üppig konsumierten Getränke wegen der lustigen Namen nicht als Alkopops1121, sondern als unbedenkliche Limonade identifizierte. Eine Abwägung angesichts einer (wenn auch fälschlicherweise angenommenen) Notstandslage kommt ihm nicht in den Sinn. Die Gefahrensituation für das potentielle Opfer bleibt aber unverändert. Warum hier nur bei (und nicht vielmehr: trotz) Gefahrbewusstsein eine Strafrahmenmilderung zu diskutieren sein soll, wird nicht so recht einsichtig. Auch wenn das idealtypisch angenommene Stufenverhältnis der beiden Fahrlässigkeitsformen nur ein scheinbares ist – es lässt sich keine Korrespondenz mit der Schwere des Unrechts1122 herstellen – täuscht das nicht darüber hinweg, dass eine Anwendung des § 17 StGB verfehlt ist. In Wahrheit geht es um eine einheitliche Wertungsstufe der Fahrlässigkeit. Insofern ist der offene Wortlaut des § 17 StGB aus Systematik und Teleologie einzuschränken.1123 Zusammenfassend ist damit ein Verbotsirrtum in der Gestalt des § 17 StGB auf Fahrlässigkeitsdelikte nicht anwendbar.1124 Erinnert man sich an die Wurzeln der Vorschrift, kann das kaum überraschen. Die Schaffung des § 17 StGB diente der strategischen Herauslösung des Unrechtsbewusstseins aus dem Tatvorsatz. Dies ändert die funktionelle Zugehörigkeit der Vorschrift zu den Vorsatzdelikten indes nicht. Herausgefiltert werden sollen weiterhin die Fälle, in denen die volle Vorsatzstrafe der Sache nicht gerecht wird. Eine Aufgabe, die sich im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte nicht stellt. Die diskutierten Fallgestaltungen sind im Rahmen des subjektiven Fahrlässigkeitsmoments zu lösen. i) Fazit zum Unrechtsbewusstsein und Verbotsirrtum Die Dominanz der Schuldtheorie in der Rechtsdogmatik führt im Ergebnis zu teilweise rigider Bejahung des Unrechtsbewusstseins, obwohl strukturell nur Fahrlässigkeit vorliegt. Die komplementäre Handhabung der Vermeidbarkeit als Rechtsfahrlässigkeit bestätigt diesen Befund. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit verlagert sich auf dieses Fahrlässigkeitsunrecht, auch wenn das Rechtsgut durch eine vorsätzliche Handlung beeinträchtigt wird. Infolge dieser Verlagerung ist die Bestrafung als Vorsatztat vielfach nicht sachgerecht.
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Zum Begriff § 1 Abs. 2 AlkopopStG. Der hohe Zuckergehalt kann den alkoholtypischen Geschmack verdrängen. 1122 Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 15 Rn. 41; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 57 II 1, S. 568. Anders allerdings Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 68, der meint „Ceteris paribus ist die bewusste Fahrlässigkeit […] strafwürdiger“, wobei der Klärung bedarf wie „unter sonst gleichen Bedingungen“ dann aussehen soll. 1123 Das übersieht letztlich Herzberg, FS Otto (2007), S. 265 (266). Unbewusste Fahrlässigkeit beinhaltet einen strukturell notwendigen Irrtum. Das Gefälle im Unrecht von bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit abzubilden kann nicht Aufgabe des § 17 StGB sein. 1124 Den Verbotsirrtum bei Fahrlässigkeit schließt auch Binavince, Die vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte (1969), S. 188 ff., 197, aus.
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Soweit – wie einhellig angenommen – das Unrechtsbewusstsein als Charakteristikum des Vorsatzunrechts gilt, kann Potentialität von Unrechtsbewusstsein nicht genügen um Vorsatz begründen zu können. Richtig verstanden müsste dieser Mechanismus auch für den Tatvorsatz gelten. Für den Jäger, der den Wilderer in Erwartung eines Rehs erschießt, reicht ein müheloses Erkennenkönnen aber gerade nicht aus, um von Vorsatz zu sprechen. Die Privilegierung von Wahrnehmungsgegenüber Wertungsfehlern im strafrechtlichen System ist gegenwärtig noch ohne zureichende Erklärung.1125 Eine mögliche Appellwirkung des Vorsatzes sagt noch nichts aus über den Grad der Schwere der Verfehlung. Es ist aber diese, welche in der Differenz von Vorsatz zu Fahrlässigkeit eigentlich abgebildet werden müsste. Ungeachtet des praktischen Beweises geht es im Falle des Unrechtsbewusstseins um ein unstrittig empirisches Kriterium. Ein solches als Substrat der Schuld wird schließlich auch gemeinhin gefordert. Die grundsätzliche Frage der Dogmatik ist es indes nicht, ob und in welcher Form Gedanken der Prävention die Rechtsfolge(n) des § 17 StGB ausfüllen. Eine Normativierung an der Normkenntnis, resp. Irrtum, anzusetzen, muss allerdings insgesamt als verfehlt gelten. Die Vermeidbarkeit als normatives Normmerkmal ist der geeignete Ort straftheoretische Überlegungen einfließen zu lassen. Diese Erkenntnis nötigt im Übrigen nicht dazu, die Emanzipierung des Tatvorsatzes von der Schuld zu revidieren. Insbesondere im Teilnahmebereich bleiben die Ideen untereinander anschlussfähig. Das potentielle Unrechtsbewusstsein als Anknüpfungspunkt einer gerechten Strafbarkeit muss somit inhaltlich nicht angetastet werden. Im Strafrechtssystem ist es aber als Fahrlässigkeit zu verarbeiten. Dabei steht es einer Ausgestaltung vorbehaltlich einer sachlichen Begründung zumindest prinzipiell offen, die Qualität der Rechtsfahrlässigkeit im Ergebnis anders zu gewichten als die Tatfahrlässigkeit. Im Zeichen der Vermeidbarkeit erweist sich die Zumutbarkeit als Fluchtpunkt rechtlicher Überlegungen.1126 3. Steuerungsfähigkeit als das „voluntative“ Schuldmoment Die zweite Kardinalvorschrift der Schulddogmatik stellt § 20 StGB1127 dar. Nach ihm handelt ohne Schuld, wer aufgrund eines der vier dort benannten „Defekte“
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T. Walter bemüht daher nicht ohne Anlass einen einheitlichen Begriff der Irrtumsfahrlässigkeit. Vgl. dens, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 175, passim. 1126 In dieser Deutlichkeit Jakobs, Strafrecht AT 1 (1983), 19/37; nicht mehr in der Folgeauflage 2(1991). Als eine von zwei Prämissen benannt auch bei B. Schünemann, FS Roxin I (2001), S. 1 (26). 1127 Auf die Nennung von § 3 JGG als weiterer Träger der „Steuerungsfähigkeit“ wird im weiteren Verlauf idR verzichtet. Für den Fortgang genügt der Hinweis, dass die Norm den gleiche zweistufige Struktur besitzt und sie sich insofern als lex specialis zu § 20 StGB einstufen lässt, vgl. JGG-Ostendorf 9(2013), § 3 Rn. 3. Soweit im Jugendstrafrecht von „Steuerungsfähigkeit“ die Rede ist, muss damit also der prinzipiell gleiche Assoziationsgegenstand ver-
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unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Damit regelt § 20 StGB einmal einen Sonderfall des Verbotsirrtums nach § 17 StGB und zum zweiten die sog. „Steuerungsfähigkeit“. Die thematische Überschneidung mit § 17 StGB hat in erster Linie historische Bedeutung, da zum einen § 17 StGB keinen sachlichen Vorgänger besitzt und zum anderen Ziel war, die „biologischen“ Schuldunfähigkeitsgründe in einer Norm zu konzentrieren. Sein eigentlicher Sinn in der Alternative der Unrechtseinsicht liegt denn nun auch in der Möglichkeit, anlässlich der Straftat Zugang zu den Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB zu bekommen.1128 Seine zentrale Bedeutung entfaltet § 20 StGB in Fragen der Steuerungs(un)fähigkeit. In der Frage, ob der Täter fähig war, nach seiner vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln, vereinigen sich nun mehrere Problemkomplexe. Schon die geläufige Bezeichnung als „voluntatives“ Schuldmoment – als Komplementärbegriff zum rein kognitiven Unrechtsbewusstsein – macht deutlich, dass die Rede von beherrschbarem menschlichem Verhalten ist, welches wiederum mit dem Willen des Menschen assoziiert wird. Die Problematik der philosophisch anmutenden Willensfreiheit scheint also unweigerlich Eingang in das positive Recht gefunden zu haben. § 20 StGB erfordert somit eine gewissermaßen doppelte Weichenstellung für das Recht. Die erste Weiche verweist auf die Möglichkeit, den Inhalt des § 20 StGB losgelöst von der Diskussion zur Willensfreiheit zu betrachten.1129 Erst wenn und soweit dies möglich erscheint, lassen sich Überlegungen zu einem operationalisierbaren Begriff einer Steuerungsfähigkeit anstellen. Im engen Zusammenhang damit steht das zweite, forensisch-beweisrechtliche Problem, diese Steuerungs(un)fähigkeit schlüssig für den Zeitpunkt der Tat – wie vom Gesetz gefordert – darzustellen. a) Vom Verhältnis Freiheit zur Steuerung Vielfach wird die Problematik der Steuerungsfähigkeit mit der Freiheitsfrage identifiziert. Diese Identitätsthese1130 stellt den Rechtsanwender aber im Prinzip vor eine unlösbare Aufgabe, denn er hätte in foro konkret die Frage über die menschliche Willensfreiheit zu entscheiden; mit der Folge, den Beschuldigten nach dem Zweifelsatz „in dubio pro reo“ reflexartig freizusprechen. Ein für die Rechtspraxis unbunden sein wie im allgemeinen Strafrecht. Auf jugendspezifische Einflussfaktoren wird dabei im Folgenden nicht eingegangen. 1128 LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 12; vgl. auch Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5 (1996), § 40 III 3, S. 441, die zudem eine Beweisregel im „intellektuellen“ Bereich sehen. 1129 Mit dieser Weichenstellung z. B. Streng, ZStW 101 (1989), S. 273 (301). 1130 G. Merkel, FS Herzberg (2008), S. 3 (4). Weiterhin Frister, FS Frisch (2013), S. 533 (536 f.); ders., JuS 2013, S. 1057 (1060); ders., MschrKrim 77 (1994), S. 316 (317) und ders., Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 99 in Fn. 2 mit einer Auflistung etlicher Vertreter. Dagegen etwa Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 (11); R. Merkel, FS Roxin II (2011), S. 737 (752); Streng, NStZ 1995, S. 12 (14); Venzlaff, NervA 48 (1977), S. 253 (255) und Herzberg, ZStW 124 (2012), S. 12 (23 ff.), letzterer freilich auf deterministischer Prämisse.
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sinniges Ergebnis, das praktisch zur Implosion des Strafrechts führen muss. Aus dieser Konsequenz nun ein indeterministisches Bekenntnis unseres Gesetzgebers abzuleiten,1131 ist zwar verlockend, greift allerdings zu kurz. Mag auch der Gesetzgeber ein solches Axiom aufstellen können – wenn keine richterlichen Entscheidungsregeln mitgeliefert werden, nützt ein solches Postulat für den praktischen Fall nichts. Als Ausweg bleibt damit nur der Umweg, Bezüge zu bekannter Unsicherheitsrelation zu vermeiden und einen Begriff der Steuerungsfähigkeit zu bilden, der sich nicht als Synonym zur Willensfreiheit auffassen lässt. Dieses Problem ist wiederum keines axiomatischer Art, sondern muss sich begriffslogisch auflösen lassen.1132 Denn wenn sich kein eigenständiger, schlüssiger Subsumtionsstoff finden lässt, ist das Konzept des § 20 StGB gescheitert. Abhilfe bietet dann nur eine Neukonzeption de lege ferenda.1133 b) Zur möglichen Konzeption eines voluntativen Schuldmoments Streng am Gesetzestext der §§ 20 StGB, 3 JGG orientiert ist die Rede von der Fähigkeit zu handeln. Der Begriff der Handlungsfähigkeit ist im Strafrechtsverständnis indes bereits anderweitig besetzt. Die Handlungsfähigkeit begegnet uns im Recht als ein Vorprüfungsmechanismus, der die äußerste Grenze rechtserheblicher Zurechenbarkeit überhaupt markiert.1134 Ein bewusstloser Mensch bspw. kann nicht im Rechtssinne agieren. Die Handlungsqualität menschlichen Verhaltens steht in diesem Zusammenhang außen vor,1135 denn ohne „strafbare Handlung“ gibt es schon gar kein Zurechnungsobjekt und mithin gar keinen Verhandlungsstoff für das Recht. Das Gesetz setzt einen Denkschritt weiter an. Es geht davon aus, soweit das Wissen um die Norm und deren Strafbewährung besteht, im Prinzip ausreichend Motivation bestehen müsste, der Norm Folge zu leisten. Die Erfahrung lehrt jedoch etwas anderes: allein das Wissen um die und ggf. die generelle Zustimmung zur Norm führt nicht zwangsläufig zu deren Einhaltung. Es muss also Gründe geben, warum der hinter der Norm stehende Vernunftappell nicht greift. Die Verantwortungslogik für einen Willen beruht klassischerweise auf der Idee der Vorwerfbarkeit einer Willensbildung. Die eigentliche Frage ist dann, was unter diesem Willensbildungsprozess verstanden wird. Traditionell geht es um die Möglichkeit diesen Willensbildungsprozess zu steuern. In klassischer, naiver Herangehensweise nähert sich einem dieses Phänomen in einem Kräftespiel von Vernunft und 1131 Dreher, FS Spendel (1992), S. 12 (19); zuvor schon das Plädoyer: ders., Die Willensfreiheit (1987), S. 379 ff. In die Richtung auch Hillenkamp, ZStW 127 (2015), S. 10 (68); Krauss, FS Schüler-Springorum, (1993), S. 459 (461) und wohl C. Jäger, GA 2013, S. 3 (6). 1132 Zutr. Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 100. 1133 Zu diesen Forderungen unter B. im vorangehenden Kapitel als Folgerung der neurowissenschaftlichen Forschungen. 1134 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 23 I S. 218. 1135 Zu den verschiedenen Handlungsmodellen als Oberbegriff und Überbau für den Straftataufbau s. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 8 Rn. 1 ff.; sowie Jescheck/Weigend, a. a. O.
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Trieb. Die menschliche Vernunft versagt, weil die Triebe siegen. Andererseits nährte die Vorstellung, diese Triebe (auch) im Zaum halten zu können, die Idee von einer menschlichen Fähigkeit zum Widerstehen. Jeder Mensch dürfte von Situationen berichten können, in denen ein Impuls zu einer bestimmten Handlung gewissermaßen „überlagert“ wurde und eine Versuchung nicht zum Tragen kam. Diese Beherrschungskraft, verstanden im Sinne einer inneren Macht, bildet bis in die heutige Zeit hinein den Gegenstand der Vorstellung des voluntativen Schuldmoments. aa) Dieses Phänomen wurde häufig als Resultat eines Hemmungs- oder Steuerungsvermögens begriffen, währenddessen eine begangene Tat für ein Defizit in diesem Bereich ausgelegt werden kann. Nun lautet die Frage, wie ein solches Vermögen beschaffen sein soll. Der Vernunft-Trieb-Dualismus legt nahe, sich dieses als Produkt einer geistigen Steuerungsinstanz vorzustellen. Nur gibt es für eine solche isolierte geistige Instanz noch keinen bio-physiologischen Anhaltspunkt. Es lassen sich zwar unproblematisch neurologisch Gehirnaktivitäten aufzeigen, doch lässt sich kein Areal ohne weiteres als ein solches Steuerungszentrum deklarieren. Zudem bereitet die Vorstellung in der Folgebetrachtung unüberwindbare Probleme. Entweder scheitert sie an einer petitio principii oder endet in einem regressus ad infinitum. Vorausgesetzt, es ließe sich eine (evtl. indeterministisch inspirierte) Kontrollmacht gedanklich abstrahieren, ist es aus Gründen der Logik wenigstens untersagt, auf den Begriff des Willens zurückzugreifen. Das geschieht aber regelmäßig, wenn Vorwerfbarkeit darauf zurückgeführt wird, dass der Täter anders gekonnt hätte, wenn er es nur gewollt hätte. Denn wie sollte man sich eine menschliche Entscheidungsalternative ohne einen dazugehörigen Willen denken? Das Konzept der Kontrollmacht als Ausfluss einer Art eines „Homunculus“ stellt sich die Willensinstanz als ein übergeordnetes Phänomen vor. Überlegungen darüber, wie dieses Zentrum selbst wiederum gesteuert wird, münden allerdings unweigerlich in einem regressus ad infinitum. Der Prozess einer jeweils höheren Steuerungseinheit wäre zwar beispielhaft mit der Vorstellung eines Schichtenaufbaus der Persönlichkeit kompatibel, doch stößt dieses Modell selbst an Grenzen. Da die „Materie Mensch“ sich nicht über Unendlichkeit erschließt, dürfen auch hier nur eine begrenzte Anzahl von Schichten wirksam werden. bb) An diesem Punkt setzt im Grunde auch die hier sog. Identitätsthese an. Der Wille an sich ist straftatsystematisch bereits im Vorsatz aufgehoben. Das als „natürlichen“ Vorsatz bezeichnete Produkt aus Wissen und Willentlichkeit steht dafür, dass der Mensch stets als Resultat seines Willens handelt. Man nennt es strafrechtlich Vorsatz, weil es (neben dem Wissen) dem Willen entsprach. Auf der Schuldebene kann es nur um die wertungsmäßige Spiegelung des Handlungsvorsatzes gehen. Das bereitet für das Unrechtsbewusstsein konstruktiv weniger Probleme, da man neben dem Handlungswissen in Bezug auf eine Kausalbeziehung (mithin der Vorsatz) – zumindest gedanklich – auch ein Bedeutungswissen im Sinne eines „Werte- und Wertungswissens“ trennen kann. Für die Willenskomponente des Vorsatzes bereitet
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dies Schwierigkeiten, weil auf sprachlicher Ebene kein überzeugendes Wertekorrelat vorherrscht. Vielmehr wird schnell sprachliche Konfusion produziert, da aus der Tradition der Philosophie des Voluntarismus überliefert der Wille selbst wieder als die menschliche Antriebskraft auftaucht, die neben dem Verstand wirkt. So spricht man umgangssprachlich auch von Willensschwäche, wenn Mängel in der Einstellung oder Motivation für ein Ergebnis menschlichen Handelns attribuiert wird. Übersetzt auf die Architektur des Straftatgeschehens ist man dann bei einem „Willen zum Willen“ angelangt, der nichts anderes als die Frage aufwirft, ob man tatsächlich „wollen kann was man will“.1136 Auf diese Weise findet thematisch die Frage des Indeterminismus Eingang in die Diskussion um ein voluntatives Schuldmoment. Das endet nicht nur in einer gedanklichen Sackgasse, sondern ist – wie schon oben dargelegt – als Ausgangsfrage falsch gestellt. Ein bedingungsloser, „freischwebender“ Wille ohne determinierenden Hintergrund ist unserer Sprache nach Zufall. Zufälligkeit will indes nicht der strengste Indeterminist einfordern; im Gegenteil. Die Tat also mit einem „steuernden Willen“ in Verbindung bringen ist nichts mehr als Paraphrase des Geschehens: denn die Entscheidung für das Delikt und das Nicht-Einsetzen eines Hemmungsvermögens spiegeln zwei Seiten derselben Medaille, beschrieben wird dann nur die Komplementärerscheinung, ein bildliches Negativ zum Tatgeschehen. Da die Tat nämlich begangen wurde, fehlte es offenkundig an Hemmungsvermögen. Es dürfte daher Einigkeit darin herzustellen sein, von der Idee einer zentralen Steuerungsinstanz Abschied nehmen zu können. cc) Für das Modell des voluntativen Schuldmoments bleibt dann noch die Möglichkeit sich das Steuerungsvermögen als Produkt einer Entität menschlicher Fähigkeiten1137 vorzustellen. So legen empirische Forschungen nahe, den Willensund Entscheidungsprozess als ein komplexes Zusammenspiel von Subsystemen kognitiver Informationsverarbeitung und emotionaler Modulation begreifen zu können.1138 Der Begriff des Vermögens ist dabei insofern vorzugswürdig, als dass er eher in der Lage ist eine Mehrzahl von Komponenten zu suggerieren. Es empfiehlt sich obendrein, auch für das Strafrecht den Begriff der Motivation als kleinste analysierbare Einheit einzuführen.1139 Die Motivation führt letztlich auf die Ursache 1136 Bung, FS Kargl (2015), S. 65 (67) spricht in dem Kontext von „Wollen zweiter Stufe“ in Anschluss an die Philosophie Harry Frankfurts von sog. second order volitions. 1137 Fähigkeit verstanden als die Gesamtheit der zur Ausführung einer bestimmten Leistung erforderlichen Bedingungen in Form von in der Lebensgeschichte erworbener Eigenschaften, die als verfestigte Systeme psychischer Prozesse den Tätigkeitsvollzug steuern; Häcker, in: Dorsch, Psychologisches Wörterbuch 15(2009), Stichwort: Fähigkeit. 1138 Goschner, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 235, dort mit Nachweisen. Vgl. auch das 3-Phasen-Modell von G. Roth, in: Persönlichkeit-Entscheidung-Verhalten (2007), S. 168 ff., 177 f. Auf strafrechtlicher Seite Frister, der zutreffend die „Gleichartigkeit aller den Willensbildungsprozess konstituierenden Motivationsfaktoren“ herausstellt, in: MschrKrim 77 (1994), S. 316 (320). 1139 Siehe die Stufen der Verhaltenssteuerung bei Goschner, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 233. Ausgehend vom Reflex bzw. Instinkt als rein reizinduzierter
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menschlichen Handelns zurück. Auf diese Weise schafft das Strafrecht eine Anbindung an die Verbrechensätiologie der Kriminologie und bildet eine mögliche Schnittstelle zu einem Wissenstransfer.1140 An den Motivationsbegriff anschließend geht es um die Struktur volitiver Verhaltensmuster, wobei Volition eine Klasse psychischer Funktionen, die die Koordination einer großen Zahl von Teilfunktionen im Hinblick auf eine spezielle Motivationslage vermittelt, meint.1141 Die Volitionsforschung beschäftigt sich gegenständlich mit der Thematik unter welchen Bedingungen eine Motivation (Ziel) gegen konkurrierende Motivationslagen abgeschirmt wird.1142 Das Strafrecht1143 nun fragt nach dem zur Tat führenden Motivationsgefüge. Reaktion lassen sich in Abhängigkeit von spezifischen Lerneffekten und menschlicher Fähigkeit zur Antizipation Stufensequenzen bis hin zum kontrollierten Handlungsablauf aufbauen. Motiviertes Verhalten kann dabei als erste Basiseinheit kontrollierten Verhaltens fungieren. Das findet seine Entsprechung im strafrechtlichen Deliktsaufbau: von Handlungsqualität wird erst gesprochen, wenn das Mindestmaß an Kontrollierbarkeit gegeben wird. 1140 Gerade die Durchlässigkeit kriminologischer Erkenntnisse gilt als karg, Bestandsaufnahme bei Temme, KrimJ 36 (2004), S. 25 (28 ff., 31). 1141 Kuhl, in: Enzyklopädie der Psychologie C Serie IV Band 4 (1996), S. 665 (678). Dies deckt sich im Wesentlichen mit dem Ansatz der „kognitiven Kontrolle“ innerhalb der Forschung im Bereich der Kognitionspsychologie, erneut Goschner, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 237. 1142 In einem hier nur anzudeutenden Exkurs: Was kann man sich letztendlich unter dem menschlichen Willen dann genau vorstellen? Wenn Ausgangspunkt der Betrachtung eine bestimmte Motivation (Absicht) ist, wird deren Bestehen in der Regel nicht ätiologisch hinterfragt, sondern als Zustand begriffen. Eine bestimmte Motivation „hat man“ oder „ist da“. Kennzeichnend ist dabei immer eine Relation zum Ziel („Wozu“): das Motiv erschließt sich im Hinblick auf einen gewünschten Zielzustand. Motivation kann man damit als aktivierende Ausrichtung eines momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand begreifen, s. Rheinberg, Motivation 7(2008), S. 16. Tatsächlich gibt es allerdings immer wieder Lebenssituation, in der eine zuvor gefasste Absicht (Intention) nicht umgesetzt wird. Eine Umdeklaration ex-post dieser zu bloßen „Scheinabsicht“ erscheint uns allerdings unpassend. Die Diskrepanz zwischen ursprünglicher Intention und tatsächlichem Handeln bedarf also eines gedanklichen Mittlers. Dieser Überbrückung kann der Wille als (hypothetisches) Konstrukt gerecht werden, vgl. auch Greve, in: HB der Psychologie (Band 5) – Kognition (2006), S. 56 (58 f.). Der Grundgedanke ist hierbei, den Prozess der Realisierung einer Motivation in den Blick zu nehmen. Eine Absicht wird umso wahrscheinlicher in die Tat umgesetzt, je erfolgreicher dem Individuum Strategien von Handlungskontrolle zur Verfügung stehen, die zur Abschirmung gegen konkurrierende Motivationstendenzen gereichen können, vgl. zusammenfassend: Goschke, in: HB der allg. Psychologie (Band 5) – Kognition (2006), S. 562 (567 f.); ders., in: Müsseler (Hrsg.), Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 250 ff. Einflussreich in diesem Zusammenhang der so verstandenen Willensumschreibung sind einmal das „Rubikonmodell der Handlungsphasen“ – in metaphorischer Anlehnung an Caesars Überschreitung des Rubikons – (dazu einführend: Achtziger/Gollwitzer, in: HB der allg. Psychologie (Band 11) – Motivation und Emotion (2009), S. 150 ff. sowie die „Theorie der Handlungskontrolle“ – dazu einführend: Quirin/Kuhl, in: HB der allg. Psychologie (Band 11) – Motivation und Emotion (2009), S. 157 ff.; Kuhl, in: Enzyklopädie der Psychologie C Serie IV Band 4 (1996), S. 665 (670 ff.)). Beide Konzepte gehen davon aus, dass in einem Handlungsverlauf verschiedene Bewusstseinslagen jeweils vorherrschen. Während das Rubikonmodell mit Handlungsbeginn eine sog. aktionale Phase postuliert, spricht die Theorie der Handlungskontrolle von einem psychischen Modus von Handlungsorientierung (als Gegenstück zur sog.
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Ausgehend davon, dass die strafbare Handlung einer (temporären) Bedürfnisbefriedigung gilt, ist demnach zu fragen, weshalb keine tatunterdrückenden Anreize (Normbefolgungsanreiz) wirksam wurden.1144 Solche Überlegungen geben regelmäßig Anlass, diese als seichtes Bekenntnis hin zu einem determiniert-entindividualisierenden Menschenbild zu verstehen. Doch erstens taugt das Herausarbeiten solcher Determinanten als Ursachengefüge in seiner Reichweite nur begrenzt. Nur unter der Annahme eines strikt linearen Kausalverständnisses wird man eine Ausschaltung eines jeden Persönlichkeitsfaktors postulieren können. Kriminologen meiden daher zu Recht einen solche rigiden Rückschluss unter dem Hinweis von (lediglich) risikobehafteten und protektiven Faktoren in Bezug auf Kriminalitätserklärungen. Das Wirksamwerden und die Interaktion von solchen Faktoren sind damit keinesfalls geklärt. Umgekehrt kann ein Modell der Steuerungsfähigkeit, welches systematisch auf einem Defizit von Wissen aufbaut, nicht befriedigen. Faktoren der Steuerung menschlichen Verhaltens im Dunkeln zu halten, kann nicht Anspruch einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein.1145 Die Ausforschungen der Determinanten stehen deswegen nicht im Gegensatz zum Rechtssystem. dd) Forensisch zu bewältigen ist die Modellierung eines solchen Steuerungsvermögens nur durch eine (Re-)Konstruktion der Täterkompetenzen auf abstraktLageorientierung), wenn ein anvisiertes Ziel zur Ausführung gebracht wird. Für den strafrechtlichen Begriff des Willens lässt sich verkürzt zweierlei festhalten: Wille ist das Produkt von verschiedenen mentalen Subsystemen. Dieses Produkt („der Wille“) ist die (gedankliche) Ausführungseinheit für ursprünglich gefasste Absichten. In diesem Kontext wird Wille damit ein Stück weit zur „Maßeinheit“ für Perseveranz oder Persistenz menschlichen Verhaltens. Kennzeichnend für die aktionale Phase bzw. dem Modus der Handlungsorientierung ist, dass die Umsetzung der Ziele nicht fortwährend abwägend überprüft wird. Das Phänomen erscheint uns dann als positiv, wenn das Ziel per Saldo (überwiegende Vorteil vs. Nachteile) positiv bewertet wird. (Mentale) Lageorientierung wirkt dagegen entscheidungs- und handlungshemmend, was im Hinblick auf einen erwünschten Zustand häufig als negativ erlebt wird. Grübelnde Menschen werden dieses Phänomen kennen. Der Sprachgebrauch tauft in der Folge das beobachtete Durchsetzungsvermögen häufig als „Willensstärke“ oder auch Standhaftigkeit bzw. Stehvermögen. Umgekehrt kann die phänomenologisch identische Bewusstseinslage als Kurzschlüssigkeit, Sturheit bzw. Verbissenheit betrachtet werden, wenn die Verfolgung der Ziele eher negative Bewertung erlangt. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass die Idee einer Schadhaftigkeit einer bestimmten Willenskonfiguration am Kern der Beurteilung vorbei geht. Man kann den Willen zwar gleichsam zum Objekt der Wertung an sich machen, die empirischen Parameter müssen indes auf einer vorgelagerten Stufe zu suchen sein. 1143 Angemerkt sei, dass von strafrechtlicher Seite die Volitionspsychologie bislang kaum rezipiert wurde, s. jedoch auch Krümpelmann, in: Hommers (Hrsg.), Perspektiven der Rechtspsychologie (1991), S. 13 (22 f.). 1144 So formuliert ist das das Leitbild vom Menschen als Täter. Das ist nicht gleichzusetzen mit der Sünderrhetorik einiger Moralphilosophien. Es beruht einfach auf der lebenspraktischen Annahme, dass es kein Normbefolgungsstreben im Sinne eines aktuellen Bedürfnisses gibt, sondern – soweit überhaupt – ein latent wirkenden Normensystem, welches mit aktuellen Bedürfnislagen konfligiert. 1145 Unklar ist deshalb, weswegen Motivforschung vorschnell als apologetische Rhetorik in Misskredit gerät. Die Bedingungen einer Tat herauszuarbeiten sagt noch nichts aus über die schuldbefreiende Wirkung.
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individueller Basis. Eine Aussage konkret-individueller Natur, also zu der Steuerungsfähigkeit in der Tatzeit, ist zwar der (strengen) Logik des Gesetzes nach gefordert, aber nicht einlösbar. Dieser Befund bedeutet nicht zwangsläufig die Position eines strengen Agnostizismus.1146 Die agnostische Position1147 geht davon aus, dass die Frage nach der Steuerungsfähigkeit im Einzelfall tatsächlich unbeantwortbar bleiben muss. Das ist auf dem Boden der klassisch-indeterministischen Schuldlehre unanfechtbar. Es fehlen schlicht die methodischen Mittel um die genaue Täterdisposition zur Tatzeit aufklären zu können.1148 Neben der ganz generellen Frage, wie ein „Anders-Handeln-Können“ beschaffen sein kann, fällt schon der Begutachtungszeitpunkt ins Gewicht. Dieser ist notwendig nach der Tat und kann allenfalls indiziellen Rückschluss über den Tatzeitpunkt liefern. Mit dem Genauigkeitsanspruch der „logischen juristischen Sekunde“ ist das eigentlich nicht zu vereinbaren. Das Problem liegt dergestalt aber bekanntlich schon in der Fragestellung. Die klassische Ausgestaltung des Schuldbegriffs ist für die Arbeit der forensischen Psychiatrie ungeeignet. Mittlerweile haben zunehmend normativierte Schuldlehren diesen Makel jedoch beseitigt.1149 Die Normativierung hat eine Typenbildung in die Schulddiskussion eingeführt, welche wiederum der forensisch-psychiatrischen Darstellung zugänglich ist. „Preis“ dieser Typenbildung war der Verlust des Ideals eines konkret-individuellen Schuldinhalts, der gewissermaßen in den „Kopf des Täters blicken“ vermögen sollte. Die Maßfigur, die herangezogen werden muss, kann aber dennoch auf Basis des Täters entworfen werden, hier bezeichnet als sog. abstrakt-individuelle Methode. Probleme der Steuerungsfähigkeit können nur von dem konkreten Täter her beantwortet werden. Folglich gilt es, sich ein allgemeines Bild seiner Handlungskompetenzen zu verschaffen. Von diesem allgemeinen Bild aus, das insofern abstrakter Natur ist, lässt sich noch am ehesten Rückschluss über das Motivationsgefüge zur Tat gewinnen. Denn treten bei der Aufarbeitung der Persönlichkeitsstruktur Defizite hinsichtlich der Möglichkeit differenzierten Handelns in vergleichbaren Situationen zu Tage, lässt sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen, dass dieses als 1146 Zum Agnostizismusstreit s. die Darstellung bei Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/ Foerster 6(2015), S. 89 (98); 5(2009), S. 77 (88). 1147 Die Position geht auf die Tradition der Psychopathologie Kurt Schneiders zurück, vgl. K. Schneider, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit 4(1961). Nachweise bei Konrad, Der sogenannte Schulenstreit (1995), S. 91 und Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 170 ff. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die forensische Psychiatrie kein einheitliches Bild vermittelt, s. nur Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 60 ff., mit einer einführenden Übersicht zu den einzelnen Richtungen und ihrer Methodik. 1148 Letztlich unbrauchbarer Ansatz für das Strafrecht, H.-L. Schreiber, FS Wassermann (1985), S. 1007 (1018). Gegenwärtig hat sich deshalb die Bedeutung der agnostischen Position sowohl in Psychiatrie und Strafrecht reduziert, s. Schöch, FS Widmaier (2008), S. 967 (978). Anders die Einschätzung bei Eisenberg, NStZ 2005, 304 (305). 1149 Der Grad der Normativierung ist allerdings uneinheitlich, s. im Einzelnen im 1. Kapitel, A. IV. 2.
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Repertoire auch in der konkreten Tatsituation (wenigstens) zur Verfügung stand. Der Grund dieses Nichteinsatzes oder Nicht-Wirksamwerdens ist nach Stand der Erkenntnis nicht aufklärbar. ee) Diese Überlegungen bilden nur die erste Stufe für die Ausdifferenzierung eines voluntativen Schuldmoments. Eine empirische Basis ist von Nöten, damit überhaupt ein Gegenstand zur Bewertung bereitsteht. Die (bestmögliche) Entschlüsselung solch volitiver Verhaltensmuster liefert aber noch keinen Aufschluss darüber, wie mit dem Ergebnis zu verfahren ist. Die empirische Ebene kann nur wahrnehmungsbezogen verstanden, die Wertungsebene kann so nicht erschlossen werden. Da Schuld aber ein Wertungsbegriff ist, muss das empirisch gewonnene Ergebnis noch interpretiert werden. Es ist dies die eigentlich juristische Arbeit. An dieser juristisch-empirischen Schnittstelle kommen die gesetzlichen Merkmale des § 20 StGB zum Tragen. c) Die Eingangsmerkmale des § 20 StGB Das Gesetz formuliert drei Typen von Schuldausschlussgründen: es sind dies die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung und die seelische Abartigkeit, darunter der Schwachsinn als besonderer Anwendungsfall derselben. Die Merkmale selbst sind das Ergebnis einer Kompromissfindung der Großen Strafrechtsreform von 1975 und bilden daher weder originär juristische noch medizinische Terminologie ab.1150 Am Rechtscharakter der Begriffe besteht allerdings kein Zweifel. Die gesetzlichen Merkmale sind vom Ausgangsverständnis her das empirische Substrat der Schuldfähigkeitsbetrachtung und damit auch in Fragen des hier beleuchteten Steuerungsvermögens maßgebend. Zumindest idealiter gedacht soll dieser empirische Zugang befreit sein von der Unsicherheit und Streitbarkeit normativer Wertbegriffe. Diese (Ideal-)Vorstellung naturwissenschaftlicher Genauigkeit und Ergebnisreliabilität ist der Grund, weshalb in juristischer Literatur gemeinhin vom „biologischen“ Stockwerk oder biologischen Eingangsmerkmalen1151 gesprochen wird. Dies hängt damit zusammen, dass die Hoffnung besteht, die einschlägigen Defekte über einen bio-physiologischen Vorgang genauestens erklären zu können. Rechtsmethodisch bedeuten die gesetzlichen Ausschlussgründe eine Filterregel: nur wenn einer der benannten Gründe vorliegt, stellt sich anschließend die Frage nach deren Bewandtnis für die Steuerungsfähigkeit. Dieser zweistufige Rechtsanwendungsprozess gilt gemeinhin als die biologisch-psychologische Methode, bestehend aus einem sog. biologischen Stockwerk (betreffend die Ein-
1150
Vgl. nur Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 38, ähnlich Frister, JuS 2013, S. 1057 (1059). 1151 Vgl. etwa LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 3; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3 (2012), Rn. 842.
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gangsmerkmale) und einem sog. psychologischen Stockwerk (betreffend die Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit).1152 aa) Krankhafte seelische Störung Die krankhafte seelische Störung ist Nachfolger der krankhaften Störung der Geistestätigkeit der Vorschrift § 51 StGB a. F.1153 Im Zentrum der Betrachtung und des Streits steht die Krankhaftigkeit (dazu unten). „Seelisch“ beinhaltet dabei umfassend die Kognition und Emotion als psychische Funktionen.1154 Der Sache nach sind hier die klinischen Psychosen (v. gri. x}wysir, psy´cho¯sis: krankhafter Zustand der Seele) einzuordnen. Psychosen beschreiben krankhafte Geisteszustände, die mit erheblicher Beeinträchtigung der psychischen Funktionen einhergehen.1155 Das Erleben und Verhalten betroffener Personen weicht von dem üblicher Beobachtung ab. Stets handelt es sich um qualitativ abweichendes Verhalten in Abgrenzung zu den lediglich quantitativen Abweichungen abnormer Spielarten menschlichen Wesens, die schlichte Varianz begründen.1156 Diese Einordnung ist nach wie vor konventionell an Kurt Schneiders triadischer psychiatrischer Systematik orientiert. Daran anschließend erfolgt eine Unterteilung in exogene und endogene Psychosen. Die Abgrenzung vollzieht sich danach über die bekannte (dann exogen) bzw. der (lediglich) vermuteten körperlichen Ursache (dann endogen) einer Psychose. Eine Psychose in diesem Sinne ist eine Störung organischer Ursache. Gemein ist ihnen eine Störung des Realitätsbezugs, so dass regelmäßig Wahnvorstellungen oder Halluzinationen zu beobachten sind.1157 Die Sinnhaftigkeit dieser Unterteilung ist medizinisch fragwürdig, da sie diagnostisch keinen unmittelbaren Wert besitzt. So ist der Prototyp eines gestörten Erlebens- und Verhaltensmusters, die Schizophrenie, in ihrer Einordnung als psychische Krankheit unumstritten, soll aber das klassische Beispiel von Endogenität bilden.1158 Die Schizophrenie wirkt folglich maßstabsbildend, ohne dass etwas Genaues zur Ätiologie gesagt werden kann. Über den Charakter als ordnungsstiftender Klassifizierungsbegriff geht deshalb dieses System nicht hinaus.1159 Überdies kann 1152
Die Terminologie variiert auch hier, vgl. Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 166; Roxin, FS Spann (1986), S. 457 (458). Blau/Franke, Jura 1982, S. 393 (402), etwa sprechen von „psychologisch-normativer“ bzw. „psychisch-normativer“ Methode. 1153 Zum § 51 StGB a. F. s. Fn 1223. 1154 LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 59. 1155 Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 189. 1156 Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 125. 1157 Eschelbach, in: BeckOK-StGB, (Ed. 50 – Mai 2021), § 20 Rn. 14; LK-StGB/Schöch 12 (2007), § 20 Rn. 88. 1158 Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 109; 3(2004), S. 213. 1159 Rasch, StV 1984, S. 264 (265); H.-L. Schreiber, NStZ 1981, S. 46 (48); Venzlaff, ZStW 88 (1976), S. 57 (58).
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die Differenzialdiagnose zur Persönlichkeitsstörung oder Erlebnisreaktionen aufgrund des fließenden Übergangs dieser Phänomene deutlich erschwert sein.1160 Die international standardisierten medizinischen Klassifikationssysteme der ICD-10 und DSM IV-TR verzichten auf eine dogmatische Einordnung zugunsten kriterien-basierter Diagnostik.1161 Psychosen können hirnorganische Schäden dauerhafter oder Beeinträchtigungen vorübergehender Natur sein.1162 Letztere werden regelmäßig durch psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Drogen und Medikamente hervorgerufen. Diese bilden auch die forensisch relevante Gruppe.1163 bb) Tiefgreifende Bewusstseinsstörung Der Begriff der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung hat in der Psychologie bzw. Psychiatrie keine passgenaue Entsprechung, so dass sich eine „autarke“ Tatsachenerforschung forensisch nicht ohne weiteres einlösen lässt. Praktisch wirksam wird eigentlich ein Zuarbeiten nach juristischem Bedarf, was die Zweistufigkeit der empirisch-normativen Methode letztlich einebnet.1164 1160 Zur Kritik zusammenfassend Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 215 ff.; 3(2004), S. 49 ff. 1161 Demgegenüber genießen die Klassifikationssysteme keine rechtliche Verbindlichkeit, vgl. LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 39 mit Rspr-Nachweisen. Dagegen fordert Rössner, in: Schöch, H./Jehle, J.-M. (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit (2004), S. 391 (402 f.) gerade umgekehrt eine Integration der Klassifikationssysteme in den Gesetzestext. Danach hieße es: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer psychiatrisch klassifizierten Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“, Änderungen kursiv. 1162 Zu Bsp. Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6 (2015), S. 89 (98); 5(2009), S. 77 (88). 1163 Das Hauptgewicht der Praxis liegt deshalb in der Systematisierung der Effekte der Psychotropika. Für die Alkoholintoxikation hat die Rechtsprechung auf Basis der BAK-Werte praktische Richtlinien errichtet, s. zur Methodik die Aufstellung bei LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 95 ff. Dabei ist daran zu erinnern, dass die BAK zunächst nur über die konsumierte Menge, nicht deren Einfluss Aufschluss gibt. Es ist daher eine Arbeit mit aus Erfahrungswerten konkretisierten „Faustformeln“. Die BAK selbst hat keine hinreichende forensische Aussagekraft, vgl. nur Eschelbach, in: BeckOK-StGB/Ed. 50 (Mai 2021), § 20 Rn. 24 f. 1164 Vgl. NK-StGB/Schild 5(2017), § 20 Rn. 94. Am Beispiel des Affekts lässt sich dies deutlich machen: Der gesetzeskonkretisierende Affekt lässt sich am ehesten mit der Diagnose der akuten Belastungsreaktion in Verbindung bringen, (vgl. dazu Foerster/Venzlaff, in: dies. (Hrsg), Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 259 (261); 5(2009), S. 281 (283); Rasch/ Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 160; 3(2004), S. 57 i. V. m. S. 269 ff.) Allerdings hat diese Diagnose keine determinierende, sondern bloß hinweisende Bedeutung. Stattdessen herrscht eine Kriteriologie vor: Kataloge mit Indikatoren bei Saß, NervA 54 (1983), S. 557 (562 ff.), zu den Gegenindikatoren (567 ff.); modifiziert in: Fortschr.Neurol.Psychiat 53 (1985), S. 55 ff.; Venzlaff, FS Blau (1985), S. 391 (403). Aufstellungen derart sind auch bei BeckOKStGB/Eschelbach (Ed. 50 – Mai 2021), § 20 Rn. 36.1 f.; MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 76; Theune, NStZ 1999, S. 273 (274) nachzulesen. Kritik daran bei Rasch/Konrad, Fo-
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Die zu subsumierenden Bewusstseinsstörungen sollen nach der Idee des Gesetzes in Abgrenzung zum vorangehenden Merkmal hier nur die nichtkrankhaften Beeinträchtigungen der Vergegenwärtigung des eigenen Erlebens sein.1165 Was darunter zu verstehen ist, bleibt bei dieser Definition noch relativ offen.1166 Konkret gemeint sind die „normalpsychologischen“ Störungen, die einen Zustand der Desorganisation in Form einer Einengung bzw. Einschränkung der Wahrnehmung und/oder Verhaltenssteuerung hervorbringen.1167 In Anschluss an Schwalm1168 werden die Störungsdimensionen häufig auch als Beeinträchtigungen des „Wachheitsgrads“, „Überlegungsgrads“ und eines „Gefühlsgrads“ dargestellt. Im Allgemeinen umfasst diese Bandbreite Erschöpfung und Ermüdung, Schlaftrunkenheit, (post)hypnotische Zustände oder sonstige Dämmerzustände sowie affektive Beeinträchtigungen.1169 Eine Beeinflussungswirkung durch gruppendynamische Prozesse hat dagegen keine Anerkennung gefunden.1170 Ausschlaggebend ist allein der psychische Befund, wenngleich unter den konstellativen Faktoren auch der körperliche Zustand eine Rolle spielen kann.1171 Die Aufzählung ist aber im Angesicht der Hürde des einschränkenden Merkmals „tiefgreifend“ noch relativ unbedeutend. In den Reformarbeiten zum StGB war zunächst in Bezug zum Krankheitsbegriff die Einschränkung über das Wort „gleichwertig“ gesucht worden, welche allerdings als problematischer Referenzpunkt von psychologischen Sachverständigen abgelehnt und schließlich in den rensische Psychiatrie 4(2013), S. 374; 3(2004), S. 271 f. Hauptaugenmerk dieser liegt darin, dass Empirie und Wertungsaspekte schon beim Merkmal vermischt werden. 1165 Gängige Umschreibung, z. B. Foerster/Venzlaff, in: dies., Psychiatrische Begutachtung 6 (2015), S. 259 (260); 5(2009), S. 281 (282); Sch/Sch-StGB/Perron-Weißer 30(2019), § 20 Rn. 12; Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 233; Schreiber/ Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 89 (99); 5(2009), S. 77 (89); LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 44; zuvor schon LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 25. 1166 In den Beratungen zum Gesetz war der Begriff deswegen nicht unumstritten, vgl. etwa Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 42 ff. sowie Mahlmann, Verwissenschaftlichung des Rechts (1986), S. 81 u. Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 232. 1167 Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 18/17; Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 89 (99); 5(2009), S. 77 (89). 1168 JZ 1970, S. 487 (494). 1169 Vgl. die (ergänzend zu lesenden) zahlreichen Zusammenstellungen in der Kommentarliteratur bei BeckOK-StGB/Eschelbach (Ed. 50 – Mai 2021), § 20 Rn. 34. 1170 Dafür etwa Schumacher, NJW 1980, S. 1880 (1883 f.); ders., StV 1993, S. 549 (550 f.). Dagegen Jakobs, in: Göppinger/Bresser (Hrsg.), Sozialtherapie (1982), S. 127 (136). Ob solche Effekte unter den Wortsinn der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung subsumierbar sind, ist sicherlich diskutabel. In diesem Kontext dürfte es jedoch eine gewichtige Rolle spielen, dass sich aus kriminalpolitischen Gründen gerade im Kollektivverbund kein Zurechnungsvakuum auftun soll. Für die Konstellation unter Anwendung des Jugendstrafrechts abweichend indes Hoffmann, StV 2001, S. 196 (198). 1171 Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 89 (100); 5(2009), S. 77 (90).
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Ausschussberatungen verworfen worden war.1172 Über das Merkmal „tiefgreifend“ sollte nun deutlich gemacht werden, dass es nicht um die Phänomenologie, sondern allein um den Grad gehen sollte. Folglich entscheidet die quantitative, nicht schon die qualitative Dimension.1173 In der Tat muss man davon ausgehen, dass „tiefgreifend“ nur eine Regel über die Intensität trifft. Das heißt aber ferner, dass eine Verneinung einer gesetzlich relevanten Bewusstseinsstörung über eine normative Begründung ausscheiden muss. Durch die Aufgabe der Gleichwertigkeitsklausel lässt sich nicht mehr mit einer einschränkenden Auslegung aus Wertungsgründen operieren. Angelegt im Text ist eine Auslesefunktion nur mittels quantitativer Methode. Dies sogar in doppelter Hinsicht: um in den Anwendbarkeitsbereich des § 21 StGB zu kommen, muss die Bewusstseinsstörung nämlich ebenfalls tiefgreifend sein. Es gibt juristisch gesehen also drei Typen von Bewusstseinsstörungen: irrelevante, weil nicht tiefgreifende, gesteigert tiefgreifende, die den Schuldausschluss nach § 20 StGB auslösen und weniger tiefgreifende, die wenigstens in den Bereich von § 21 StGB fallen. Das forensisch bedeutsamste und gleichsam umstrittenste Anwendungsbeispiel stellt der Affekt dar. Ein festumrissenes Begriffsverständnis vom Affekt ist als Grundlage nicht vorhanden. In den Psychowissenschaften herrscht ein grundsätzlich weites Begriffsverständnis von Affektivität vor, so dass eine juristische Begriffsannäherung – in Anbetracht notwendigen Zusammenwirkens – eher problematisch ist.1174 Denn affektiv geleitet oder unterstützt ist prinzipiell jede menschliche Handlung.1175 In der Tradition Kants stehen dennoch Affekte für die Vernunftwidrigkeit aufgrund einer plötzlichen Gemütserregung, von denen die Leidenschaften als habitualisierte Empfindungszustände abgegrenzt werden.1176 Beschrieben wer1172 Zur Entstehungsgeschichte s. Lenckner, in: Göppinger/Witter, HB FP Band I (1972), S. 3 (111 f.); zu den Argumenten zusammenfassend Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 66. 1173 Nach der Gesetzesbegründung muss das seelische Gefüge des Betroffenen entweder zerstört (Schwelle des § 20 StGB) oder wenigstens schwer erschüttert (Schwelle des § 21 StGB) sein, vgl. nur StGB-Fischer 67(2020), § 20 Rn. 29. Diese Erläuterung erlaubt aber eigentlich nur eine (fiktive) Binnendifferenzierung. Es lässt sich genau genommen nur sagen, dass Zerstörung mehr als Erschütterung ist. Über die komparative Beziehung hinaus ist der Begriff der Zerstörung ohne Anschauung. 1174 Vgl. zu Affekttat Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 279. Was die Krankhaftigkeit angeht, so erlaubt die Beschränkung auf normalpsychologische Bewusstseinsveränderungen dem Juristen zwar eine idealtypische Abgrenzung, die für die Sichtweise des Forensikers aber weniger „systemkonform“ ist, dazu auch Saß, Forensia 4 (1983/84), S. 3 (20). 1175 Dementsprechend sieht die Psychologie Affektivität als keinen Sonderzustand an; ein eigenes Störungsbild bilden erst die affektiven Störungen, stv. Butcher/Mineka/Hooley, Klinische Psychologie 13(2009), S. 278 ff. Diese wiederum gehören in den Bereich der krankhaften seelischen Störung, s. Habermeyer/Venzlaff, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 245 ff.; 5(2009), S. 189 ff. Ziegert, in: Saß, Affektdelikte (1993), S. 43 (46) m. w. N. sieht die unzureichende Durchdringung der Affekte durch eine „Mutterdisziplin“ als das Hauptproblem an. Zur Einpassung in (s)ein psychopathologisches Referenzsystem, Saß, in: Saß, Affektdelikte (1993), S. 214 (227 f.). 1176 Über das lat. afficere (einwirken, behandeln) affectus als Zustandsbegriff, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch 24(2002), Stichwort: Affekt. Zur Geschichtlichkeit s. Affekt, in:
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den soll ein Zustand der Hingerissenheit, der den Menschen zum passiven Objekt seiner Erregung degradiert,1177 weshalb auch von Primitivreaktionen1178 die Rede ist. Affekte werden weiter hinsichtlich ihres Charakters in sthenische1179 (Wut, Hass Zorn) und asthenische Affekte (Furcht, Schrecken und Verwirrung) unterteilt. Ob mittels dieser Einteilung Unterschiede in der Anwendung der §§ 20, 21 StGB korrespondieren sollen, ist allerdings zweifelhaft.1180 Charakter, Entstehung und Verlauf sind für die Rechtsprechung von immenser Bedeutung.1181 Für die Annahme eines relevanten Affektzustands sind in der Forensik Kriterienkataloge1182 entwickelt worden, die das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung zu überprüfen hat. Dem Charakter einer Beweiswürdigung entsprechend ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen.1183 cc) Die schwere seelische Abartigkeit und der Schwachsinn Ein vergleichsweise unproblematischer Unterfall der Abartigkeit ist der Schwachsinn. Ob der Schwachsinn selbst eine (bloße) Abartigkeit oder gar eine schwere sein soll,1184 ist dabei für die Charakterisierung von Schwachsinn ohne Bedeutung. Als Schwachsinn gilt eine angeborene Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache.1185 Die fehlende Nachweisbarkeit grenzt das Störungsbild von der krankhaften seelischen Störung ab. Schwachsinn kann in den Formen der Idiotie, Imbezillität oder Debilität auftreten.1186 Da es relativ eindeutig thematisch
Mittelstraß 2(2005), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Band I, S. 45; vgl. auch NK-StGB/Schild 5(2017), § 20 Rn. 91 ff. 1177 Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2007), S. 279. 1178 Saß, NervA 54 (1983), S. 557 (559). 1179 Auf das gri. sh]mor, sthénos (Kraft) zurückgehend. 1180 Da sthenische (§§ 213, 199 StGB) wie auch asthenische (§ 33, 142 StGB) Beeinträchtigungen zum Teil gesetzlich privilegiert werden, mag ein konsistentes Konzept zu bezweifeln sein, s. insoweit auch Blau, FS Tröndle (1989), S. 109 (114). 1181 Jüngst BGHSt 53, 31 f., Urt. v. 14. 12. 2000 – 4 StR 375/00, weitere Nachweise bei Theune NStZ 1999, S. 273 (275 ff.). 1182 Siehe Fn. 208. 1183 Einzelheiten zu der Gesamtbetrachtung in der Rspr. bei Sander, FS Eisenberg (2009), S. 359 (364 ff.). 1184 Aufgeworfen und offengelassen bei StGB-Fischer 67(2020), § 20 Rn. 36. Zur syntaktischen Struktur des Gesetzes aber sogleich im Text. Die explizite Nennung des Schwachsinns ist ausgehend von der Gesetzeslogik aber überflüssig, s. Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 79. 1185 Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 89 5 (102); (2009), S. 77 (92). 1186 Einzelheiten bei Schreiber/Rosenau, wie zuvor; s. auch Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 51 f.
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um eine intellektuelle Minderbegabung geht, bereitet dieses Merkmal hermeneutisch keine Probleme.1187 Die schwere seelische Abartigkeit eröffnet einen Sammelbegriff für potentielle Exkulpationen, die nicht unter die beiden vorhergehenden Gesetzesmerkmale subsumiert werden können. Die fraglos pejorative1188 Begriffsschöpfung ist ebenfalls Produkt der Großen Strafrechtsreform und ist gesetzestechnisch gesehen ohne Vorgänger. Sachlich indes fanden die Anwendungsfälle (bei Bedarf) im Rahmen der Auslegung der krankhaften Störung der Geistestätigkeit ihre Heimat. Diese Auslegung begründete u. a. den Dualismus von „juristischen“ und „psychiatrischen“ Krankheitsbegriff1189, zugunsten letzterem schließlich diese „Trennungslösung“ festgeschrieben wurde. Dass die schwere seelische Abartigkeit überhaupt als Schuldausschluss in Frage kommt, verdankt sie wiederum der sog. „Einheitslösung“, die im Gegensatz zum „differenzierenden“ Modell, welches die Abartigkeit allein für eine Schuldminderung nach § 21 StGB vorsah, sämtliche Merkmale im § 20 StGB integrierte.1190 Der Sache nach sollte der praktisch zwar (vorgeblich) fernliegenden, aber immerhin theoretischen Möglichkeit Raum gegeben werden, dass eine Störung in ihren Auswirkungen dem Intensitätsgrad der anderen Defekte nichts nach stehe. Dieses hat das Menetekel eines „Dammbruchs“ heraufbeschworen, welches sich jedoch bis heute nicht bewahrheitet hat.1191 Jedenfalls belegen Statistiken keine 1187 Kritisch zur Rspr.-Praxis indes Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 273 f. Die eigentliche Entscheidung liegt denn auch unzweifelhaft auf der Folgebetrachtung, also den konkreten psychologischen Auswirkungen. Das ist rechtspraktisch folgerichtig, denn die Titulierung umfasst notwendig den Menschen als Ganzen. Schuld oder Schuldausschluss gilt aber primär nicht der Person als „Schwachsinnigen“ o. ä., sondern der Tat als Ausdruck einer Minderbegabung. Die Kennzeichnung „Schwachsinn“ ist im Übrigen selbst ein Beispiel für die Wandlungsfähigkeit in der Begriffswahl der Psychiatrie. Schwachsinn tauchte letztmalig in der ICD-8 (1968 bis 1978) als auch so bezeichnete Störung auf, vgl. Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 27 f. Zur Merkmalsgenese in Abgrenzung zur „Geistesschwäche des § 51 StGB a. F. s. Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 71 ff. 1188 Die diskriminierende Wirkung wird allseits angemahnt, vgl. Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 127; Frister, JuS 2013, S. 1057 (1059); Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 41; Rasch, NStZ 1982, S. 177 (178 f.); ders., StV 1984, S. 264 (266); Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 228; 3(2004), S. 71; Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 233; LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 68; MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 40. Ein Rechtsbegriff der Abartigkeit konterkariert auch im Grunde jeden Versuch, einen sachlichen Umgang mit einem Störungsbild voranzutreiben. Der AE-1966 setzte mit gutem Grund die „vergleichbar schwere seelische Störung“ dagegen, s. Fellmann, Die Reform des § 51 StGB durch das 2. StrRG (1974), S. 128; zu weiteren Vorschlägen ebd., S. 129 ff. 1189 Wolfslast, JA 1981, S. 464 (466). Zur Problematik des Krankheitsbegriffs sogleich unter d). 1190 MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 7; Wolfslast, JA 1981, S. 464 (466). 1191 Dahinter steckte die (geflissentlich?) unbegründete Sorge allzu leichtfertig Exkulpation auszusprechen., vgl. Blau/Franke, Jura 1982, S. 393 (401); Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 276; Schild, Dimensionen der Schuldunfähigkeit
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angewachsene Neigung der Praxis zur Exkulpation.1192 Die Hinweise zur restriktiven Handhabung seitens der Rechtsprechung1193 dürften die generalpräventiven Erwägungen weithin noch widerspiegeln. Systematisch ist eine nicht allzu exzessive Auslegung eines Auffangtatbestands durchaus nachvollziehbar. Dafür spricht allein schon die Entstehungsgeschichte des Merkmals. Das vierte Merkmal behandelt sogar eine (gesteigerte) Ausnahme im Bereich der Ausnahme: da das Gesetz von der Regel des schuldfähigen Menschen ausgeht, besteht bei jeder Exkulpation ohnehin eine Ausnahmesituation. Dieser Ausnahmecharakter ist im Vergleich zu den anderen Defekten nochmals verschärft. Andererseits wird man sagen können, dass gerade ein solcher Auffangtatbestand eine hohe Durchlässigkeit besitzt und im Hinblick auf neue Entwicklungen in Medizin und Psychologie die Rechtsprechung reaktionsfähig hält.1194 Ihrem Charakter als Auffangtatbestand entsprechend gibt es keine Definition von Abartigkeit.1195 Erfasst werden Normabweichungen, die nicht pathologisch bedingt sind.1196 Darunter fallen Psychopathien, Neurosen und Perversionen (Triebstörungen).1197 Diese Nomenklatur hat im Zuge der Entwicklung der Psychiatrie an Bedeutung verloren. Insbesondere die Klassifizierung nach ICD-10 verzichtet auf die früher1198 dominierende Figur des Psychopathen zugunsten des Konzepts der Persönlichkeitsstörung. Ebenso wurde die Neurose als einheitlich-eigenständiger Klassenbegriff als Folge der Relativierung des qualitativen Unterschieds zur Psychose weitestgehend aufgeben,1199 wenngleich die Neurose sachlich als Störungsbild fort(2009/1990), S. 59; dagegen bereits seinerzeit H. L. Schreiber, NStZ 1981, S. 46 ff.; Venzlaff, NervA 48 (1977), S. 253 (256). 1192 Dazu LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 7 – 10; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3 (2012), Rn. 969 ff., jeweils mit Übersichten. 1193 SK-StGB/Rudolphi (38. Lfg. April 2003), § 20 Rn. 14; als Grundsatz gar bei LK-StGB/ Schöch 12(2007), § 20 Rn. 152; abgeschwächt bei Sch/Sch-StGB/Perron-Weißer 30(2019), § 20 Rn. 22. Schiemann, Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen (2012), S. 329, spricht von Verweigerung; MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 96 resümiert als obergerichtliche Formel „Krankheit oder Konflikt entlastet, Charakter belastet“. 1194 Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 6(2015), S. 89 (104); 5(2009), S. 77 (95), erinnern dabei an das Schuldprinzip. 1195 Inwieweit eine Richtlinie für die Auslegung aus dem Schwachsinn als Unterfall der Abartigkeit zu sehen ist, bleibt von der Warte der Gesetzessystematik unbeantwortet. Folgt man der Systematik Kurt Schneiders, wäre dies wenigstens folgerichtig, dazu Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 116. 1196 Eine Grenzziehung, deren Bestand unter dem Einfluss der Neurowissenschaften auch zunehmend in Zweifel gerät, dazu Nedopil, FS Widmaier (2008), S. 925 (926 ff.). 1197 Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 228; 3(2004), S. 71; MüKo-StGB/ Streng 4(2020), § 20 Rn. 41. Die Schneider’sche Diktion nannte dies die abnormen Spielarten des menschlichen Lebens, vgl. das Schaubild bei LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 52. 1198 Vgl. etwa Witter, in: Göppinger/Witter, HB FP I (1972), S. 429 (491 ff.); ders., a. a. O., Bd. II (1972), S. 966 (988). 1199 Perrez/Baumann, Klinische Psychologie 4(2011), S. 116, 124.
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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gilt.1200 Dennoch kann man im ersten Zugriff davon ausgehen, dass insgesamt der Bereich von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und sexuell deviantem Verhalten mit paraphilen Tendenzen im Bereich einschlägiger Kriminalität, Suchtverhalten und Belastungs- sowie Anpassungsstörungen prinzipiell unter die Abartigkeit fallen; ohne dabei einen entscheidenden Bedeutungsgehalt einer etwaigen Systembildung in Psychologie bzw. Psychiatrie beizumessen.1201 Die Verlässlichkeit in der Terminologie ist durch die Vielfalt an (vermeintlichen) Synonymbezeichnungen1202 geschwächt und steht wohl nicht zuletzt auch in Abhängigkeit der Schulrichtung.1203 Einzelheiten entziehen sich im Grunde der juristischen Dogmatik. Hier kann nur der allgemeine Hinweis ergehen, dass sich eine Argumentation bei der Diagnose im Hinblick auf eine Störung nicht in zirkularem Denken verlieren darf: der in der Straftat begründete Normbruch steht an sich bereits für abweichendes Verhalten und wird insofern begriffslogisch vorausgesetzt.1204 Das kann insbesondere für die dissoziale Persönlichkeit – aus juristischer Perspektive – in eine unzulässige „Doppelverwertung“ umschlagen. Denn eine De- oder Exkulpation aufgrund schlichter Neigung zum Rechtsbruch an sich stünde im Zielkonflikt zum Normbestätigungsanliegen der Rechtsordnung. Unter diesem Aspekt gewinnt die Zurückhaltung der Rechtspraxis eine grundsätzliche Berechtigung.1205 Im Blick behalten muss man hier die unterschiedlichen Ziele der Disziplinen: unter dem Aspekt der Behandlungsbedürftigkeit kann die Formulierung eines Störungsbildes in Medizin und Psychologie weitaus früher Sinn haben, als es in der Strafrechtswissenschaft als Exkulpation an Berechtigung gewinnt. Strafe endet nach aktueller Anschauung1206 nicht zwingend mit einem Ansatz der Behandlung. Die zentrale Weichenstellung könnte deshalb primär erst bei der Bestimmung der Schwere der Abartigkeit zu verorten sein. Unklar ist dabei, welche Bedeutung am 1200
Zum Neuroseverständnis siehe Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 174; (2004), S. 284. Inwieweit die psychoanalytischen Wurzeln – dazu Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 200 – zum Verlust ihrer Bedeutung geführt haben, bedarf hier keiner weiteren Aufklärung. Die traditionelle Distanz der Justiz zur Psychoanalyse täte aber wohl das Übrige. Dazu einen Überblick aus juristischer Sicht bei Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 65 f. 1201 LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 71; zur Typologie ebenda Rn. 152 – 179. 1202 Neben Persönlichkeitsstörung sind auch „Abnorme Persönlichkeit“, „Charakterneurose“, „Dissoziale Persönlichkeit/Soziopathie“ sowie „Psychopathische Persönlichkeit“ anzutreffen, vgl. die Aufstellung bei Plate, Psyche Unrecht und Schuld (2002), S. 289. 1203 Vgl. den Hinweis bei MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 41. 1204 Maatz, FPPK 2007, S. 147 (149); Miehe, in: Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, (2000), S. 249 (259), wenngleich ernüchtert ob der Praxis. Zur Abgrenzung von Dissozialität und dissozialer Persönlichkeitsstörung siehe Saß, FS Lampe (2003), S. 183 (192 f.). 1205 S. aus der restriktiven Rspr. die zahlreichen Nachweise bei MüKo-StGB/Streng 4(2020), § 20 Rn. 95 f. 1206 Im Bann der soziologischen Einflüsse der 1970er Jahre war dies noch anders. Die Strafrechtskritik regte einen Paradigmenwechsel: weg von der Strafe – hin zur Behandlung an. S. die Ausführungen im 1. Kapitel, A. II. 1. c). 3
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
Wort „schwer“ festzumachen ist. Einerseits kann es als rein quantitatives Merkmal auf die Störung bezogen werden. „Schwer“ drückt dann allein den Ausprägungsgrad eines Störungsbildes aus. Andererseits kann „schwer“ auch wertbezogen im Sinne von „schwerwiegend“ verstanden werden.1207 Ein solcher Wertigkeitsbefund kann dann ins Verhältnis mit den Zielen (scil. Zweck) des Strafrechts gesetzt werden. Man kann die erste Variante als störungsbezogene Auslegung1208 bezeichnen, die zweite als Lösung der Generalprävention. Die Resultate können durchaus abweichen, wobei eine immense Diskrepanz nicht hochstilisiert zu werden braucht, da ein Störungsbild an sich im Rahmen des vierten Merkmals nicht rein deskriptiv, sondern wesentlich normativ beschrieben werden muss. Der Unterschied wirkt sich bedeutender in der Entscheidungskompetenz aus: als Wertbegriff fällt die Einschätzung originär in die Kompetenz der Juristen.1209 Für die Quantifizierung des Störungsbildes ist das in der Regel nicht so. Zwar änderte die störungsbezogene Auslegung nichts am Rechtscharakter der Begrifflichkeiten. Kann der Richter aber aus eigener Sachkunde heraus die Sachlage nicht beurteilen, braucht es sachverständigen Rat. Die Bestimmung der Schwere liegt in der Lesart letztlich in der Hand des Gutachters. Denn kann der Jurist die Störung schon nicht diagnostizieren, kann er dies erst recht nicht im Ausmaße. Rein syntaktisch gesehen werden bei der Reihung von Adjektiven die gleichrangigen durch Komma getrennt.1210 Der Gesetzestext deutet somit zwar auf die störungsbezogene Lösung. Der Gewinn einer solchen Methode ist jedoch ohne konkrete Phänomenologie von „Schwere“ kaum sichtbar.1211 Als (zusätzliches) Filterkriterium scheidet die Schwere folglich aus. Man kommt deshalb nicht umhin, einen einheitlichen Begriff der schweren Abartigkeit zu bilden, der letztlich nur im (Aus-)Wege einer notwendig konturarmen Ganzheitsbetrachtung, die alle Facetten des konkreten Einzelfalls berücksichtigt, münden muss.1212 Die Trennungsmethode nach Merkmal und Folgerung ist damit freilich hinfällig. Deren Aufgabe ist aber unvermeidbar, da es keine phänomenologische Abartigkeit gibt.1213 Abartigkeit selbst ist ein reiner, zudem unglücklich formulierter Wertebe1207
StGB-Fischer 67(2020), § 20 Rn. 38a: „Schwere ist keine Eigenschaft der Störung.“ Für ein solches Modell steht z. B. die Ermittlung mit Hilfe eines sog. Beeinträchtigungsschwere-Score (BSS) bei Foerster/Heck, MSchrKrim 74 (1991), S. 49 (50 ff.). 1209 Ausgehend von unmöglicher psychowissenschaftlicher Fassbarkeit von „Schwere“ der Störung geht Schiemann, R&P 2013, S. 80 (86) deshalb von reiner moralisierender Wertung aus. 1210 Gleichrangig: die schwere, andere Abartigkeit; paraphrasiert: Abartigkeiten, die schwer und anders sind. Schwer ist selbständige Konkretisierung der Abartigkeit. Ungleichrangig: die schwere andere Abartigkeit; paraphrasiert: andere Abartigkeiten, die schwer sind. Schwer ist unselbständige Konkretisierung der Abartigkeit. 1211 Fehlende Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) rügt daher Schiemann, R&P 2013, S. 80 (86). 1212 NK-StGB/Schild 5(2017), § 20 Rn. 103. 1213 Letztlich ein Merkmal ohne empirisches Substrat; vgl. Blau, FS Rasch (1993), S. 113 (123). 1208
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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griff. Als ernüchterndes Fazit kann nur der Austausch des gesetzlichen Merkmals proklamiert werden.1214 d) Die rechtstheoretische Bedeutung der Merkmale respektive des Krankheitsbegriffes des § 20 StGB Von der Rechtsanwendungsperspektive ist § 20 StGB zunächst zwar rein tatsachenbezogen konzipiert und erkenntnistheoretisch ggf. mit gutachterlicher Expertise zu bewältigen. Die bisherige Untersuchung hat indes gezeigt, dass bei genauerer Betrachtung auch die vermeintlich rein objektiven Merkmale durch Zusatzattribute wie „tiefgreifend“ oder „schwer“ schon definitorisch offenbar neben einer qualitativen auch eine quantitative Dimension voraussetzen.1215 Unabhängig von jeglicher Genauigkeit einer Definition gibt es keine natürliche Skalierung von „tiefgreifend“ bzw. „schwer“. Im Fall der Abartigkeit hat sich gar gezeigt, dass die Transformationsprobleme derart weitgehen, dass ein empirisches Substrat nur schwer zu erfassen ist. Die postulierte zweistufige Methode des biologisch-psychologischen Prinzips findet deswegen rechtspraktisch im Grunde nicht statt. Das Problem liegt schon in der Architektur begründet: sie ist zu starr an der Lehre Kurt Schneiders und dessen positivistischer Forschungslogik ausgerichtet. Die Gesetzessystematik hält deshalb nur vor einen ätiologisch verstandenen Störungsbegriff stand. In syndromatologisch1216 orientierter Nosologie bspw. – also wirkungsbezogen gedacht – oder einem pathogenetischen System besitzt der postulierte bio-physiologische Vorgang eine untergeordnete Bedeutung. Zwar darf der reichhaltige Einfluss von Kurt Schneider für die Psychopathologie nicht unterschätzt werden – er sollte aber nicht zu der Täuschung veranlassen, dass Psychiatrie sich nur nach diesem Muster denken lässt. Zunächst nur medizininterne Diskrepanzen („Schulenstreit“) setzen sich notwendig im Recht fort. Die einseitige Rezeption der Rechtswissenschaften stellt somit ein Problem dar. Man kann aus diesen Überlegungen folgern, die gesetzlichen Eingangsmerkmale abzuschaffen und allein auf eine Beurteilung der Schuldunfähigkeit übergehen zu wollen.1217 Ob die begrenzte Subsumtionsfähigkeit 1214 Obgleich nicht alle Fragen lösend scheint die Ausrichtung an den Klassifikationssystemen wenigstens einen Fortschritt an Klarheit zu bringen, s. Rössner (Fn. 1161) und Stange, Gibt es psychiatrische Diagnostikansätze, um den Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit in §§ 20, 21 StGB auszufüllen?, (2003), S. 143, für eine Ersetzung zugunsten der „Persönlichkeitsstörung“ ferner H.-L. Schreiber, Die „schwere andere seelische Abartigkeit“ und die Schuldfähigkeit, in: de Boor u. a. (Hrsg.), Der Krankheitsbegriff und seine strafrechtlichen Folgen (2003), S. 7 (11). 1215 Vgl. auch Schüler-Springorum, FS Venzlaff (1986), S. 52 (56). Er bezieht die quantitative Dimension auch auf das Merkmal „krankhaft“. Eine Ansicht, die im Hinblick auf die assoziative Wirkung von Krankheit nicht unbegründet erscheint; dazu sogleich. 1216 Als Beispiel etwa Witter, in: Göppinger/Witter, HB FP Band I (1972), S. 1015 ff.; ders., in: Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht (1987), S. 37 (57 ff.). 1217 Frister, Die Struktur des voluntativen Strukturelements (1993), S. 176 f.; zuvor bereits Thomae, MschrKrim 44 (1961), S. 114 (120), allerdings unter Zugrundelegung seiner eigenen Definition von Schuldfähigkeit. Des weiteren Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen
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der Eingangsmerkmale zu dem Schluss führen muss, diese wären rechtstechnisch ohne Funktion, bedarf näherer Untersuchung. Um einen Eindruck von ihrer Funktion zu erlangen, verspricht ein Blick auf den theoretischen Hintergrund des Krankheitsbegriffs Gewinn.1218 aa) Vom Ausgangspunkt des Juristen soll die Reihung der Merkmale rund um ein Krankheitsverständnis das empirische Fundament des Schuldbegriffes sichern. Damit verbindet sich die Hoffnung an der wertefreien Wahrheitsfähigkeit der Empirie teilhaben zu können. Doch dieses Wertefreiheitspostulat ist bereits im Ausgangspunkt ein Irrglaube. Dringt man nämlich durch zur vor-positiven Auswahlentscheidung des Gesetzgebers, genau diese – und ausschließlich diese – Ausschlussgründe als rechtlich relevant einzustufen, muss man dieser Auswahlentscheidung freilich auch einen wertungsbezogenen Charakter beimessen. Führt man allein die Logik des Begriffsgefüges an, so könnte es phänomenologisch-empirisch möglicherweise auch weitere Sachverhalte geben, die daran hindern einer vorhandenen Unrechtseinsicht gemäß zu handeln. Dementsprechend wird eine Analogieoffenheit als Ausfluss des Schuldprinzips für möglich gehalten,1219 wenngleich ein abschließender Charakter des § 20 StGB angesichts des weiten Auffangtatbestands in Form der seelischen Abartigkeit von untergeordneter praktischer Bedeutung sein dürfte.1220 Von der Warte des Schuldprinzips ist diese Offenheit eigentlich zwingend. Denn in der deduktiven Kette arbeitet das Schuldprinzip mit einer Vorstellung von Steuerung; sollte diese Möglichkeit aus einem Grund fehlen, verbietet das Schuldprinzip die Bestrafung. Die Gefahr in eine zirkuläre Begriffslogik zu verfallen, ist dann allerdings immanent. Begnügte man sich nämlich allein mit dem Ergebnis der Steuerungsunfähigkeit, ließe sich auf die Nennung solcher Eingangsmerkmale im Grunde zwar verzichten. Zu prüfen wäre nur die Steuerungsfähigkeit im konkreten Fall. Aber es müssen Wege bereit stehen, dieses Ergebnis zu erzielen. Das Problem besteht dann aber wie beschrieben darin, dass es kein natürliches Modell einer Steuerungsfähigkeit gibt. Die Merkmale sind zumindest als Konkretisierung des Steuerungsvermögens konzipiert. Ein Rückgriff auf allgemeine Begriffe (hier: Schuld) ist nur aus Kontrollgründen geboten, nicht aber zur Konkretisierung geeignet – so die Begriffsfindung nicht in einem iterativen Verfahren münden soll. Deshalb gilt es zu Krankheitsbegriffs (1978), S. 89 f., der dies für eine logische Konsequenz des normativ geprägten Schuldbegriffs hält. Ähnliches muss wohl für H. L. Schreiber, in: Thomas (Hrsg.), Schuld: Zusammenhänge und Hintergründe (1990), S. 61 (69) gelten, wenn eine Beschränkung auf biologische Merkmale nicht mit dem Recht vereinbar sei. In der Schweiz ist ein System ohne Eingangsmerkmale geltendes Recht (Art. 19 Abs. 1 schwStGB). 1218 Auch wenn gerade nicht alle Merkmale des § 20 StGB pathologisch verstanden werden, so sind sie doch in erster Linie Komplementärerscheinung zu einem Krankheitsbegriff. 1219 LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 3; Roxin, FS Spann (1986), S. 457 (460). 1220 Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 18/7 betont die Elastizität der Begriffe der Bewusstseinsstörung und der seelischen Abartigkeit ebenso Roxin, wie zuvor. Frister, JuS 2013, S. 1057 (1059) spricht offen von einem Auffangtatbestand.
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erkennen, dass die enumerative Voranstellung ein Leitbild zur Konkretisierung1221 von Steuerungsfähigkeit errichtet. Steuerungsfähigkeit wie auch letztlich die Schuld(un)fähigkeit lässt sich nicht abstrakt ermitteln, sondern muss immer in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten, strafrechtlich gesprochen das Delikt, gedacht werden. Von Steuerung (resp. Hemmung) kann nur sinnvoll in Bezug auf eine Zielvorstellung (hier: das bestimmte Verhalten) gesprochen werden. Verhalten selbst wiederum ist ein soziales Konstrukt, das sich nicht allein durch Beobachtung erschließen lässt. In aller Regel existiert für ein der Wahrnehmung zugängliches Phänomen ein (soziales) Deutungsmuster.1222 Das wiederum muss im Ergebnis auf den (vermeintlich reinen) empirischen Krankheitsbegriff durchschlagen. bb) Dieses Problem einer empirisch-normativen Gemengelage ist in der Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffes verbrieft. Bereits mit dem Erlass des RStGB von 1871 war die Zurechnungsfähigkeit eng mit dem Verständnis von Krankheit verwoben.1223 Der Aufstieg des Krankheitsbegriffs in der Forensik steht für die eigentliche Emanzipierung der Psychiatrie als eigenständige Fachrichtung.1224 Seinen Ausgang nimmt die Entwicklung in der Kontroverse zwischen den im Geiste der idealistischen Philosophie verpflichteten sog. Psychikern gegenüber den Somatikern.1225 Während die Tradition der Aufklärung Störungen der Geistestätigkeit als ein Vernunftproblem behandelte und daher gemeinhin die Philosophie als „therapeutische“ Eminenz und Instanz vorherrschte, bewirkte das positivistische Wissenschaftsverständnis auch im Bereich der psychischen Störungen einen Paradigmenwechsel. Das Bild der Psychiker von der Erkrankung einer „körperlosen“ Seele verlor zunehmend an Einfluss. Stattdessen geht die somatische Lehre auch von körperlichen Ursachen bei einer Beeinträchtigung der Geistestätigkeit aus. Die medizinische Erschließung des Gehirns entwickelte sich nunmehr zur Kernkompetenz medizinisch-naturwissen1221 Zu den Bedenken im Gesetzgebungsverfahren, auf Eingangsmerkmale zu verzichten s. Roxin, ebd. 1222 Das Beispiel der Beleidigung reicht aus um sich dies zu verdeutlichen: ohne den sozialen Sinngehalt kann eine strafrechtliche Relevanz kaum ermittelt werden. 1223 Vgl. dazu § 51 StGB a. F. [1871 – 1934]: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. § 51 StGB a. F. [1934 – 1975]: (1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. (2) […] 1224 Krankheit als Wesens bestimmendes Merkmal der forensischen Psychiatrie, SchmidtRecla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 107. 1225 Jaspers, Allgemeine Psychopathologie 9(1973), S. 709; Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 102 ff. Die Somatiker argumentierten positivistisch, s. Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 5.
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schaftlicher Methodik. Der am Ende des 19. Jahrhunderts dominierende Somatismus förderte das deterministische Denken innerhalb der Psychiatrie und bereitete damit den antagonistischen Dualismus aus psychiatrischen und juristischen Krankheitsbegriff vor.1226 „Die krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ im Sinne des § 51 StGB a. F. wurde von der Rechtsprechung regelmäßig extensiver ausgelegt, als es das enge Schema von medizinischer Seite anregte.1227 Erfasst wurden nicht nur Geisteskrankheiten im klinischen Sinne, sondern alle Arten der Störungen der Verstandestätigkeit, inklusive Beeinträchtigungen des Willens- oder Gefühlslebens.1228 Der so titulierte „juristische“ Krankheitsbegriff verarbeitet damit vor allem Momente der sozialen Anschauung.1229 Der Entscheidung des Gesetzgebers letztlich für den psychiatrischen Krankheitsbegriff lag der konservative E1962 zugrunde, welcher getragen war von der kriminalpolitischen Impetus nicht zu großzügig mit der Exkulpation zu verfahren. Das enge Krankheitsverständnis versprach für dieses Anliegen eine gesteigerte Eignung, wenngleich die Aufnahme des vierten Merkmals (die schwere andere seelische Abartigkeit) dessen Wirkung abzuschwächen vermochte.1230 Zum anderen wusste der psychiatrische Krankheitsbegriff en façon Schneiders das nach wie vor hoch angesehene klassifikatorische Denken der Rechtswissenschaft zu bedienen.1231 cc) Die Kompromissformel der Großen Strafrechtsreform als den psychiatrischen Krankheitsbegriff auszuweisen, vermittelt indes ein schiefes Bild.1232 Einigkeit bestand im Wesentlichen nur in der Betonung der Kernkompetenz der Psychiatrie in forensischer Begutachtung.1233 Im Übrigen war eine hohe Vielfalt an Positionen in der Psychiatrie schon zur Zeit der Gesetzesgenese zu verzeichnen.1234 1226 Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 145 f. Eine Parallelentwicklung findet im Beginn der kriminalbiologischen Verbrechenserklärung unter Führung Lombrosos statt, s. Schmidt-Recla, a. a. O., S. 127 ff. Ausführliche Darstellung bei Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 86 ff., zur Historie des Krankheitsverständnisses insgesamt ebenda, S. 220 ff. 1227 LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 51 mit Nachweisen aus der Rspr. 1228 Exemplarisch BGHSt 14, 30 (32). 1229 Ausführlich zu dem juristischen Krankheitsbegriff der Rspr. Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 91 ff., insbesondere zu kriminalpolitischen Implikation (S. 101 ff.). 1230 Das sog. „Dammbruch“-Argument, s. schon oben. Systematisch einleuchtend war diese monistische Sicht der Dinge weniger, da die §§ 20, 21 StGB im Hinblick auf Gefährlichkeitsdiagnose des Maßregelrechts (§ 63 StGB) nicht nur als Wohltat zugunsten des Beschuldigten greifen, zu Recht angemerkt bei Rössner, in: Schöch, H./Jehle, J.-M. (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit (2004), S. 391 (398). 1231 Vgl. NK-StGB/Schild 5(2017), § 20 Rn. 23. 1232 Dazu Venzlaff, ZStW 88 (1976), S. 57. 1233 Ein Effekt war die Unterrepräsentation anderer Psychowissenschaften, wie der Psychologie und in spezieller Ausrichtung die psychoanalytische Schulrichtung, s. NK-StGB/ Schild 5(2017), § 20 Rn. 23. Diese kritische Haltung gegenüber der Tiefenpsychologie trug mitunter Züge einer Dämonisierung, weshalb bisweilen gar ein konspiratives Zusammenspiel von Juristen und Psychiatern vermutet wurde, dazu stv. die Streitschrift Tilmann Mosers, Re-
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Das kontinuierliche, positivistisch geprägte Wissenschaftsverständnis der Heidelberger Schule (Kraeplin, Jaspers, K. Schneider) übte zwar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine hohe Dominanz aus. Zu nennen ist vor allem Jaspers, der neben dem naturwissenschaftlichen Zugang des Beobachtens und Erklärens den Erkenntnisweg des Verstehens,1235 und damit ein methodisches Instrument von hoher Verbreitung etablierte. Diese verstehende Methode stellt menschlichen Verhalten in einen Verständniszusammenhang. Jenes Verhalten, welches nicht mehr als „verstehbar“ gilt, trägt den Charakter des qualitativ Abnormen.1236 Daraus erwuchs eine Konventionenregel der Exkulpation, die das nicht mehr verstehbare als Fall des Anwendungsfall des § 51 (R)StGB a. F. begriff, während das noch verstehbare schuldrelevant sein müsse.1237 K. Schneider festigte – und vereinfachte – Jaspers’ Ideen in seinem Theorem der Sinnkontinuität als Basis seiner Lehre des somatologischen Krankheitsbegriffs. Ein Abbruch von Sinnkontinuität ist Kennzeichen der
pressive Kriminalpsychiatrie. Vom Elend einer Wissenschaft. (1971); als „Zensur“ bezeichnet bei Wächtler, StV 2003, S. 184 (186). Auf der anderen Seite hat sich die modernisierte Psychoanalyse vom strikten, exkulpationsverdächtigen Determinismus ihrer Gründerjahre entfernt, vgl. Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 254. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Konzeptionen der frühen Psychoanalyse leistet Vogt, Die Forderungen der psychoanalytischen Schulrichtungen für die Interpretation der Merkmale der Schuldunfähigkeit (1979), S. 49 ff. Zumindest ist die Annahme eines hohen Eigeninteresses an einer forensischen Monopolstellung nicht gänzlich unbegründet. Ganz generell fördert eine kooperative Zusammenarbeit zwischen Justiz und Psychiatrie einen Beschäftigungsmarkt. Zum anderen verleiht der Einfluss auf die Merkmale des § 20 StGB eine Definitionsmacht und damit letztlich auch ein Instrument zur Therapiepolitik, da § 20 StGB die Zuweisung der Klientel nach § 63 StGB steuert. Zusammenfassend Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 79. Eine hohe Kooperationsbereitschaft sowie Identifikation mit rechtspolitischen Zielvorstellungen verschafft begründete Aussicht auf gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das Herausstellen der besonderen Eignung der eigenen Disziplin tut dann ihr Übriges, vgl. die Einschätzung bei Mahlmann, Verwissenschaftlichung des Rechts (1986), S. 72 f., die in ihrer Analyse zudem fünf Argumentationsstrategien der Psychiatrie zu ihrer eigenen Interessenwahrung benennt: (1) Rekurs auf die je herrschende Anschauung innerhalb der Psychiatrie, (2) Betonung der Kongruenz mit der öffentlichen Meinung, (3) Verdeutlichung dieser durch persönliches Vertreten eben dieser Meinung, (4) Biologiesierung auch gesellschaftlicher Determinanten sowie (5) Bagatellisierung der Schwächen oder unzureichender Problemlösung mit facheigenem Zugang. 1234 Zu den Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren ein Überblick bei Schild, Dimensionen der Schuldunfähigkeit (2009/1990), S. 51 ff. Eine Ausführliche Dokumentation der Genese bei Mahlmann, Verwissenschaftlichung des Rechts (1986). 1235 Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 61; Luthe, Psychopathologie (1988), S. 8; grundlegend Jaspers, Allgemeine Psychopathologie 9(1973), S. 250 ff. 1236 Als Verstehensgrenze markiert Jaspers, das Angeborene, die organischen Krankheiten und Psychosen, und den Menschen in seiner eigentlichen Existenz, in: Allgemeine Psychopathologie 9(1973), S. 302. 1237 Vgl. dazu Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 155.
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Psychose.1238 Die hohe Attraktivität dieses Modells für die Justiz liegt eindeutig in ihrer Einfachheit und der daraus resultierenden Praxisfreundlichkeit. Diese auffällige Kongruenz juristischer und psychiatrischer Begriffe lief jedoch im Prinzip auf eine Gleichsetzung von psychiatrischer Diagnose und juristischer Wertung hinaus; stand also in der Gefahr die Ebenen der Empirie und Normativität zu vermischen.1239 Diese (und andere) Mängel sind indes nicht ohne Widerspruch geblieben, so dass sich insgesamt dem Betrachter ein komplexes Bild der Psychiatrie vermittelt. Demgegenüber ging nämlich die anthropologisch-phänomenologisch orientierte Psychiatrie der Nachkriegszeit über die Konvention der Verstehensgrenze hinaus, in dem sie einen Perspektivenwechsel anregte und das Phänomen auf den Horizont des Probanden zurückführt. Die Dynamik der pathogenetischen Vorgeschichte gewinnt dort an Bedeutung.1240 In der Konsequenz der Berücksichtigung der sozialen Faktoren bestimmt sich Krankheit wesentlich über die psychosozialen Auswirkungen.1241 Das gilt namentlich für den sozial-strukturellen Krankheitsbegriff Raschs1242, der hier im Folgenden auch zugrunde gelegt wird. Anhand zweier Bausteine ist folglich der vorgefundene Zustand zu untersuchen: einmal ob er der Struktur von Krankheit entspricht sowie eine Folgebetrachtung derart, inwieweit Auswirkungen auf die soziale Kompetenz zu verzeichnen sind. Man kann von Struktur einer Krankheit sprechen, wenn Befundtatsachen die typischen Momente einer Krankheit liefern: es liegt ein Symptom(komplex) vor, das (der) die betreffende Person in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränkt.1243 Das Strukturmoment fällt umso stärker aus, je 1238 Dabei sah Schneider im Abbruch des Sinnkontinuums einen Zuwachs an Objektivität gegenüber Jaspers’ Subjektivismus des Verstehens. Zum Ganzen Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 63 ff. 1239 So bereits Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 165 f. Für das Rechtssystem gerät vor allem der wichtige symptomatische Zusammenhang dann aus dem Blick, s. auch Konrad, Der sogenannte Schulenstreit. (1995), S. 161. 1240 Umfassend Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 89 ff. 1241 Im Grundansatz steht deshalb eine Individualisierung des Krankheitsbegriffs. Ausgangspunkt ist die Bestimmung einer vollwertigen Konstitution einer Individualperson als Vergleichsmaßstab zum aktuellen Zustand. Eine auftretende Differenz zwischen Vollwertigkeit und Aktualzustand, in der anthropologischen Psychiatrie Müller-Suurs als „Seinsgradminderung“ umschrieben, lässt sich als Krankheit ausweisen. Einführend dazu Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 195 f. Insbesondere anlagebedingte oder sonstigen pränatale Störungsursachen machen den Rückgriff auf eine generelle Phänomenologie unausweichlich. Fiktive Konstruktionen im Sinne eines „als-ob“, konterkarieren den individuellen Ansatz indes nicht, da ein Mensch in seiner Einzigartigkeit nur vor dem Horizont des Gemeinsamen und des Regelmäßigen erfasst werden kann. Die Überlegungen zum Krankheitsbegriff konvergieren mit der vorgenommenen Modellierung des Steuerungsvermögens auf abstrakt-individueller Basis, welches wiederum einem abstrakt-individuellen Schuldverständnis entlehnt ist. Insoweit gilt Methodenidentität. 1242 Zuletzt in Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 217; 3(2004), S. 51 f., ferner in: StV 1984, S. 264 (267); ergänzende Nachweise bei LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Fn. 46. Zu der hier vorgenommenen Einordnung ins psychiatrische Meinungsspektrum vgl. auch Konrad, Psychiatrische Richtungen und Schuldfähigkeit (1995), S. 121. 1243 Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4(2013), S. 217; 3(2004), S. 52.
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mehr diese Störungssymptomatik bestimmend die Erlebens- und Handlungsstruktur einnimmt. Metaphorisch ausgedrückt wird die Krankheit „Herr über die Person“, so dass ein Zustand von einer Art Außen-/Fremdbestimmung und einem Gefühl des „Ausgeliefert-Seins“ her erlebt wird. Als Folge davon wird die Teilnahme am (erwünschten) Sozialleben empfindlich gestört.1244 Ein so gebildeter Krankheitsbegriff verarbeitet damit vor allem die soziale Dimension von Krankheit. Man wird auch die Ausführungen Foersters1245, der eine Einschränkung in der Verhaltensvariabilität und des -erlebens in einer Situation als maßgeblich formuliert, bzw. Venzlaffs1246, welcher die mono-somatische Krankheitsdimension kritisiert und die Resozialisierungsperspektive bemüht, in eine vergleichbare Richtung deuten können im Hinblick auf eine Orientierung an unmittelbar sozialen Folgeerscheinungen. Die hier verwendete, duale Idealtypologie bildet aber ohnehin nur einen Ausschnitt dessen ab, was gegenwärtig in der Psychiatrie wissenschaftlich vertreten wird. Der philosophische Ideenhintergrund kann, soweit als solcher erkennbar, nur eine Groborientierung angeben. Positivistische, anthropologische sowie sozial-reformistische Leitideen existieren nebeneinander und gehen bisweilen eine synergestische Koexistenz in Form von Methodenpluralismus und Theorieneklektizismus ein.1247 Neben der Methode nominal skalierender-kategorisierender Klassifizierung wird auch ein ordinal skaliertes psychopathologisches Referenzsystem1248 vorgeschlagen, welches die Krankheitssystematik am Ankerpunkt des klinischen Bilds der Schizophrenie ausrichtet. Ganz und gar ohne einen Krankheitsbegriff arbeitet Luthes strukturale Psychopathologie1249, welche die klassische Nosologie zu überwinden
1244 Letzteres lässt sich auch am delinquenten Verhalten festmachen. Um nicht zirkelschlüssig zu argumentieren darf die Betrachtung aber nicht dabei stehen bleiben. 1245 In: MschrKrim 72 (1989), S. 83. 1246 In: FS Schaffstein (1975), S. 293 (295). 1247 In seiner Untersuchung nennt Konrad, Der sogenannte Schulenstreit. (1995), S. 102 ff., acht Typen der Begutachtungspraxis; zu den Vor- und Nachteilen ebenda S. 156 ff., welche ihren theoretischen Ursprung entweder in der klassischen Psychiatrie, strukturell-sozialen Psychopathologie, der Methode der Referenzbildung oder in der bislang (noch) forensisch minder bedeutsamen Psychoanalyse haben, vgl. das Schaubild bei Konrad, Der sogenannte Schulenstreit. (1995), S. 175. 1248 Das psychometrische Modell von Saß, s. etwa in Forensia 6 (1985), S. 33 (38 ff.); ders., FS Schewe (1991), S. 266 (272 f.); ders., FS Lampe (2003), S. 183 (190) beschreibt letztlich ein Kontinuum, das dem vorherrschenden quantitativen Denken von „schwer(wiegend)“ entspricht. Unabhängig davon, wie man die Höhenmarke der Schizophrenie einschätzt, – einen Eichpunkt muss es denknotwendig geben, – bleibt das Problem der nicht-krankhaften Störungen. 1249 Entwickelt in der Trilogie Luthe, Verantwortlichkeit, Persönlichkeit und Erleben (1981), S. 55 ff.; ders., Das strukturale System der Psychopathologie (1982), S. 19 ff.; ders., Die strukturale Psychopathologie in der Praxis der Gerichtspsychiatrie (1985), S. 47 ff.; nunmehr ders., Forensische Psychopathologie (1988), S. 80 ff.; ders., FS Schewe (1991), S. 239 (242 f.); ders., Die zweifelhafte Schuldfähigkeit (1996), S. 86 ff.
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versucht. Krankheit ist dort keine Kategorie mehr, eine Einteilung erfolgt nach Differenzierungsmängeln und Integrationsmängeln.1250 Insgesamt ist das Spektrum der Ansichten innerhalb der Psychiatrie weit gefächert, dass nicht von einem oder dem psychiatrischen Krankheitsbegriff gesprochen werden kann. „Krankheit an sich“ existiert als Nominaldefinition nicht.1251 Ziel der Gesetzesinterpretation kann demnach nur sein, anhand dieser psychiatrischen Modelle eine Auswahl für die Rechtsebene zu treffen. Hierbei ist die funktionelle Sicht leitend, also die Frage im Kontext welcher Zwecksetzung der Begriff operationalisiert wird.1252 Der sozial-strukturelle Krankheitsbegriff richtet nun sein Hauptaugenmerk auf die Auswirkungen auf das Sozialleben und ist so mit der sozialen Steuerungsvorstellung des Strafrechtssystems am besten kompatibel. Das bedeutet, dass nach wie vor rechtstheoretisch ein juristischer Krankheitsbegriff als Wertebegriff vorherrscht,1253 der aber zugleich ein psychiatrischer ist. Umgekehrt ist aber nicht jeder psychiatrischer ein juristischer Krankheitsbegriff. Diese Weichenstellung bleibt Aufgabe der Rechtsfindung.1254 1250 Problematisch ist, dass auch hier Diagnose und Rechtsfolge zusammenfallen, vgl. Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldunfähigkeit (2000), S. 221, 224 f., Haddenbrock, JR 1991, S. 225 (226), denn Differenzierungsmängel resp. Integrationsmängel gehen in den juristischen Kategorien auf der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit auf. Diese Deckungsgleichheit ist freilich beabsichtigt, weshalb dieses Konzept auf Anhängerschaft in der Rechtswissenschaft trifft. So zu nennen. etwa Frister, Die Struktur des voluntativen Strukturelements (1993), S. 130 ff.; ders., MschrKrim 77 (1994), S. 316 (320); Grasnick, GA 1990, S. 472 ff. (Rezension zu Luthe, Forensische Psychopathologie), ders., (mit Replik zu Haddenbrock) JR 1991, S. 364. Konzeptionell bleibt ein solches Modell denkbar, bedeutete aber in der logischen Folgerichtigkeit nicht nur (wie oft angemerkt) rechtspraktisch, sondern theoretisch eine Delegierung der eigentlichen Rechtsfrage an die Psychiatrie. Der BGH hat sich einer diesbezüglichen Desavouierung nicht enthalten wollen, BGH JR 1990, S. 119 mit zust. Anm. Blau. 1251 Nach wie vor gilt die Einschätzung von Jaspers, dass Krank-Sein in seiner allgemeinen Kennzeichnung keine Aussagekraft besitzt. Beurteilen lässt sich stets nur die konkrete Erscheinung, in: Allgemeine Psychopathologie 9(1973), S. 655. Ähnliche Einschätzungen bei Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 112 u. Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie 4 (2013), S. 212 f.; 3(2004), S. 47. Vgl. etwa die Präambel der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946: Dort definiert die WHO Gesundheit als einen „einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Gleiches wird man feststellen, wenn man Konturen in Abgrenzung zur Gesundheit sucht. Der formulierte Idealzustand der WHO belegt eindrücklich, wie leicht man beim Phänomen Krankheit angelangt sein kann und wie wenig ein solches Absolutum, welches zu aller erst Zielcharakter hat, als Arbeitsgrundlage taugt um weiterführende Aussagen zu gewinnen. 1252 Vgl. schon Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 88, der betont, dass der Inhalt von „Krankheit“ auch im Recht mit dem verfolgten Zweck wechseln kann. 1253 Zu Recht weist Bernsmann, a. a. O., S. 108, daraufhin, dass eine Unabhängigkeit von psychiatrischer Lehre nur über einen juristischen Krankheitsbegriff zu erreichen ist. 1254 Gänzliche Emanzipation der Forensik vom Krankheitsbegriff fordert Haddenbrock, FS Sarstedt (1981), S. 35 (39). De lege lata ist das kaum einsichtig, wenn man § 20 StGB beim Wort nimmt. Ob der Krankheitsbegriff verlässlich ist, ist eine andere Frage.
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dd) Auf Basis eines so verstandenen sozial-strukturellen Krankheitsbegriffs lassen sich mit Anomalität, Desintegration und Schicksalhaftigkeit realdefinitorisch drei Dimensionen von Krankheit analytisch erfassen, die dem Konzept vom Strukturbegriff ein Gepräge verleihen. Krankheit ist zunächst einmal empirisch als eine Abweichung von einer (physiologischen oder psychischen) Norm zu verstehen. In der Konsequenz eines fehlenden absoluten Maßstabs muss ein relatives Modell entworfen werden, von dem aus Anomalität bestimmt werden kann.1255 Eine Abweichung vom so verstandenen „Normalen“ wird folglich ohne vorangehende Normativierung nicht sichtbar.1256 Zahlreiche Fähig- und Fertigkeiten des Menschen sind auf den Bereich des sozialen Kontakts ausgerichtet; Beeinträchtigungen sind folglich auch vornehmlich dort spürbar. Erst Recht im Bereich der Quantifizierung einer Einschränkung dürfte der Versuch ohne jegliche normative Wertung auszukommen unmöglich sein.1257 Die Anomalität, insbesondere die der psychischen Natur, ist ein Problem des sozialen Miteinanders. Damit einhergehend ist eine desintegrierende Wirkung, wenn die Teilnahme am Sozialleben gefährdet ist. Dieser Desintegrationseffekt von Krankheit könnte ein (weiteres) Erklärungsmuster liefern, warum Krankheit eine exkulpierende Wirkung hat: die Infragestellung der Norm von „außen“ wiegt weniger schwer als die eines „vollwertigen“ Teilnehmers.1258 Schließlich, und wahrscheinlich am gewichtigsten, schwingt mit dem Begriff der Krankheit eine Vorstellung von Schicksalhaftigkeit mit.1259 Krankheiten werden (aufgrund der damit verbundenen Nachteile) unfreiwillig erworben und als fremdbestimmend erlebt. Die klassische (Un-)Freiheitsdoktrin klassischer Schuldlehren spiegelt sich darin wieder – ohne darauf (begriffsnotwendig) explizit Bezug zu nehmen. Nicht von ungefähr spricht man bei (gravierenden) Krankheiten auch von 1255 So für das Strafrecht denn auch LK-StGB/Schöch, 12(2007), § 20 Rn. 44; zuvor schon LK-StGB/Jähnke 11(1993), § 20 Rn. 16. 1256 Vgl. auch Nedopil, FS Widmaier (2008), S. 925 (932), der diesen normativen Einschlag Konvention nennt. Dabei kann es selbstredend nicht um einen schlichten statistischen Durchschnitt gehen – für den Gesundheitszustand einer Gesellschaft wäre dies unergiebig. Die individuelle Komponente darf zudem nicht außer Betracht gelassen werden. 1257 Vgl. auch Rössner, FS Widmaier (2008), S. 941 (945). Schon Blau, MschrKrim 69 (1986), S. 348 (353 f.) wirft die Frage auf, ob psychiatrische und normative Graduierungen an sich überhaupt den gleichen Gegenstand beurteilen. Die Deliktsbezogenheit der forensischen Sichtweise ist aus Sicht der Psychiatrie, die die Psychosomatik im Allgemeinen beurteilt, ein Extremfall, während es für die Justiz Kernmaterie ist. Es muss also nicht wundern, dass die Operationalisierungen der psychiatrischen Klassifikationssysteme beschränkten Wert für die Justiz haben müssen. 1258 Jakobs, Das Schuldprinzip (1993), S. 30; ders., Schuld und Prävention (1976), S. 17. 1259 Bernsmann, Probleme des strafrechtlichen Krankheitsbegriffs (1978), S. 137; ebenso Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 (15); Nedopil, Forensische Psychiatrie 4(2012), S. 40; LKStGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 59; Witter, FS R. Lange (1976), S. 723 „Fremdbestimmung“ bei Rasch, in: Schuldfähigkeit und Krankheitsdefinition, Lauter/Schreiber (Hrsg.), Rechtsprobleme in der Psychiatrie (1981), S. 38 (39).
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„Schicksalsschlägen“. Schicksal heißt in der Codierung des Rechts Zufall. Zufall kann aber kein Gegenstand von Zurechnung sein.1260 ee) Für die Strafrechtsordnung hat der Krankheitsbegriff deswegen im Ergebnis eine bedeutsame kommunikative Funktion.1261 Funktionell gesehen dient die Krankhaftigkeit – sowie mittelbar der Tatbestand des § 20 StGB im Übrigen – als Träger1262 der argumentativen Begründung einer Entscheidung. Rechtsphilosophisch gewendet transportieren die Merkmale des § 20 StGB eine Art Konfliktverarbeitungsmechanismus. Eine Straftat unter deren Vorzeichen erreicht nicht vollumfänglich die kommunikative Komponente des Verbrechens in Form seines Normgeltungsschadens. Ohne dieses Realmoment eines hinreichenden Normgeltungsschadens eröffnet sich die Möglichkeit der anderweitigen Konfliktverarbeitung für die Gesellschaft.1263 Die Abkehr von Strafe infolge von Schuldausschluss ist dann aber nicht nur möglich, sondern auch zwingend, weil eine Konfliktlösung über Normbestätigung in diesen Fällen seinen Zweck verfehlte. Das folgt aus der Konstruktion eines normativen Schuldbegriffs, der empirische und rein normative Elemente vereint und auch integrieren muss. Denn die Idee der wertfreien Beobachtung kann (jedenfalls) in einem normativen System wie der Rechtsordnung nicht realisiert werden. Die Merkmale des § 20 StGB stehen nun für Kommunikation im doppelten Sinne: Rechtspraktisch gesehen ermöglichen sie eine Verständigung im Rechtsleben. Für die richterliche Urteilsbegründung ist darauf kaum zu verzichten damit nicht andernfalls Paraphrasen zur postulierten Steuerungsunfähigkeit Platz in der Entscheidungsbegründung nehmen. Auch für die anderen Verfahrensbeteiligten braucht es einen Ankerpunkt der Kommunikation. Das gilt insbesondere für die Gutachtertätigkeit. Ungeachtet der (fortbestehenden) Schwierigkeiten, die der interdiszi1260 Nicht zu verkennen ist allerdings, dass auch dieses Konzept nicht ohne logische Brüche auskommt. So haben die Fortschritte der medizinischen Forschung den Faktor Mensch an der Entstehung und Förderung einiger Krankheiten längst ausgemacht. Manche Art von Lebensstil des Menschen (bzgl. Essen, Trinken, Bewegung usw.) kann die Gesundheit sowohl fördern als auch ihr schaden. Die Berücksichtigung dessen trübt die Überzeugungskraft des Bildes der Schicksalhaftigkeit etwas ein. Ähnlich bereits Bernsmann, a. a. O., S. 138. 1261 Vergleichbar etwa LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 74. Man darf nochmals betonen, dass gerade dieses Ringen um eine, resp. die, kommunikative Dimension das Strafrecht umtreibt. Für die Medizin ist die Etikettierung als Krankheit ohne Bedeutung, s. Witter, FS R. Lange (1976), S. 723 (724). 1262 Dies bedingt gleichzeitig die „Entlastung“ der psychologischen Formel („das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“), Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 (17). 1263 Diese Ausführungen treffen sich damit insoweit im Wesentlichen mit der Rechtssoziologie der Schuld im Sinne von Jakobs. Zu erinnern bleibt daran, dass trotz manipulativer Potenz eines funktionellen Schuldzugangs stets ein Kern von Unhintergehbarkeit bleiben wird. Denn Normakzeptanz, als „gelebtes Recht“ kann nicht per Dekret verordnet werden. Mit einem solchen Versuch betritt man das Reich der Ideologie; ein Phänomen, das vor allem totalitäre Rechtsordnungen auszeichnet und diese ohne aufwendigen Repressionsapparat scheitern lässt. Normakzeptanz liegt entweder vor oder nicht. Aber der vorgefundene Status ist nicht statisch und deswegen wandelbar. Reale Momente und normative Gestaltung stehen in Wechselwirkung; vgl. auch Streng, NStZ 1995, S. 161 (164).
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plinäre Informationsaustauch in sich birgt, müssen Referenzpunkte bestehen, an denen beide Wissensinstanzen die notwendige Annäherung bestreiten können.1264 Eine juristische Entscheidung ohne die Sachexpertise läuft Gefahr sich vom Wahrheitsideal der Rechtsentscheidung zu entfernen. Umgekehrt kann eine Rechtsentscheidung nicht per Blankovollmacht – an welche Institution auch immer – delegiert werden. Insofern halten die Eingangsmerkmale eine nur mediatisierte Form der Verantwortungsverlagerung vor, indem die medizinische Einschätzung mit einer rechtlichen harmonisiert werden kann. ff) Im Wissen dieser Funktion wird verständlich, warum bei den Merkmalen der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und „der seelischen Abartigkeit“Anschluss an den Krankheitsbegriff gesucht wird. Die „Krankheitswert“-Rhetorik1265 ist im Grunde eine Abbreviatur für die mit Krankheit assoziierten Einschränkungen, die als fremdbestimmend erscheinen. Die Kritik1266 an dieser Nutzung als Maßbegriff ist aus Gründen der Taxonomie berechtigt, denn ein feststehender Gehalt von Krankheit liegt nicht vor. Relativ unbedenklich ist dagegen die Verwendung als argumentative Wertgröße in konnotativer Dimension – wenn man sich des Assoziationsrisikos bewusst ist.1267 Das von Schöch1268 vorgeschlagene Evidenzkriterium, nach welchem sich die Möglichkeit einer Aufhebung des Hemmungsvermögens aufdrängen muss, um zu einer Einordnung von „tiefgreifend“ oder „schwer“ zu gelangen, erscheint in diesem Kontext nicht erfolgsversprechender. Evidenz mag eine praktische Richtschnur für den Rechtsanwender liefern, anhand derer dieser entscheidet, ob gutachterliche Sachverständigenkompetenz gefordert ist. Darüber hinaus ist es aber zu universell, denn was genau jeweils unmittelbar einleuchtend ist, hinterlässt noch zu großen Entscheidungsspielraum. Überdies scheint der unreflektierte Gebrauch in der Umgangssprache genau diese Evidenz abzubilden.1269 1264 Das Zusammenspiel von Gericht und Sachverständigen leidet nicht selten unter Kommunikationsproblemen, s. stv. zur umfangreichen Diskussion, Arthur Kaufmann, JZ 1985, S. 1065 (1070); Streng, NStZ 1995, S. 12 ff. und 161 ff.; Witter, NJW 1975, S. 563 (565). Die soziologische Perspektive dazu bei S. Wolff, StV 1992, S. 292 ff., der allerdings gerade in der Kontrastierung durch die verschiedenen Rollen die Chance zur Rationalisierung der Entscheidung sieht, a. a. O., S. 298. Dahinter steht eine Idee des Sachverständigen nicht als Erkenntnishilfe, sondern als Berater. 1265 Stv. BGHSt 32, 22 (24 f.); LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 63; MüKo-StGB/Streng 4 (2020), § 20 Rn. 80 mit weiteren Fundstellen zur Rspr. 1266 Kritisch u. a. Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 (29); Lackner, FS Kleinknecht (1985), S. 245 (263); LK-StGB/Schöch, 12(2007), § 20 Rn. 64; dort auch mit ergänzenden Nachweisen aus dem Schrifttum. Zutreffend ist sicherlich auch der Hinweis, dass eine Psychoseähnlichkeit keine Aussage über den Determinierungsgrad trifft, Roxin, FS Spann, S. 457 (466); Theune, NStZ 1999, S. 273 (276). 1267 Die höchstrichterliche Rspr. bietet keinen hinreichenden Anhaltspunkt für das Gegenteil; s. die Einschätzung bei Blau, FS Rasch (1993), S. 113 (122). 1268 Vgl. LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 66 u. 73. 1269 Ungeprüft kann behauptet werden, dass im Alltag die Einschätzung „Das ist doch krank“ relativ regelmäßig den Mund verlässt, wenn es darum geht, ein Verhalten als evident absonderlich zu kennzeichnen. Die Verständigungswirkung darf als gesichert gelten.
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Andererseits offenbaren die mit der Krankheitsanalogie verbundenen Schwierigkeiten, dass ein Rekurs auf die Begründungsstrategie des Unausweichlichschicksalhaften bei der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und „der seelischen Abartigkeit“ auf kein geschlossenes Konzept trifft. Um nicht einem Exkulpationsmechanismus bei Vorliegen eines Affektzustandes zu erliegen, werden vielfache Versuche unternommen, die Begründung einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung einzuschränken. Anknüpfungspunkte können dabei das Eigenverschulden des Täters am Entstehen des Affekts, umgekehrt die Opfermitwirkung als ungeschriebene Voraussetzung oder schlicht die Art des Affekts sein. Doch unabhängig, ob es sachlich gerechtfertigt1270 wäre, auf eine Vermeidbarkeit1271 oder Opferverstrickung1272 abzustellen – es ist zunächst für die Einstufung als Bewusstseinsstörung systemwidrig.1273 Von strikter Gesetzeslektüre aus kann die Ursache oder Affektgenese für die Annahme einer Bewusstseinsstörung an und für sich keine Rolle spielen, denn über das Zustandekommen derselben verlangt das Gesetz keine Aufklärung.1274 Im Vergleich zur klassischen actio libera in causa1275 fehlt es an der typischen Risikosetzung als Anknüpfungspunkt.1276 Von daher bleibt nur die Mög-
1270 Das Argument der Generalprävention wird in der Regel angeführt, vgl. bspw. Krümpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 (27); ders., ZStW 99 (1987), S. 191 (221 f.); ders., GA 1983, S. 337 (353), Müller-Dietz, Grundfragen des Sanktionensystems (1979), S. 4, regelmäßig im Kontext der affektbeladenen Tötungsdelikte. 1271 Krümpelmann, ZStW 99 (1987), 191 (221); ders., in: Hommers (Hrsg.), Perspektiven der Rechtspsychologie (1991), S. 13 (31); LK-StGB/Schöch 12(2007), § 20 Rn. 140; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden (1987), S. 201 ff. 1272 Gründe bei Bernsmann, NStZ 1989, S. 160 (165). 1273 So auch StGB-Fischer 67(2020), § 20 Rn. 31 i. V. m. 34. 1274 Frisch, ZStW 101, S. 538 (607); Otto, Jura 1992, S. 329 (329 f.). Letzterer hält allerdings die Rechtsfigur der „actio libera in causa“ für heranziehbar, weitere Nachweise Otto, FS Frisch (2013), S. 589 (593, Fn. 26). Inwieweit das Schändlichkeitsprinzip („Nemo auditur propriam turpitudinem allegans“) in der Sache bemüht werden kann, Otto, a. a. O., S. 610, muss hier offen bleiben. 1275 Die actio libera in causa bildet das Paradebeispiel dafür, wie die mit der Exkulpierung des Defekts verfolgte Intention nicht konterkariert werden soll. Im Wesentlichen geht es dabei um die vorsätzliche Herbeiführung der Alkoholintoxikation mit dem Ziel, die geplante Tat überhaupt erst (Hemmungsabbau) bzw. im (vermeintlichen) Schutz der Schuldunfähigkeit (Umgehungsintention) ausführen zu können. Ohne die – reichliche – Literatur würdigen zu können, ist festzuhalten, dass die Konstruktion über das sog. Tatbestandsmodell wenigstens ausreichend ist, soweit das Versetzen in den Rauschzustand den Versuchsbeginn einer Handlung markieren kann, währenddessen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) die Ausnahmelösung versagt (§ 20 StGB „Koinzidenzprinzip“) und die Werkzeugtheorie (§ 25 I StGB: „durch einen anderen“) versagt, wie hier Roxin Strafrecht AT I 4(2006), § 20 Rn. 56 – 67. Zum „Tatbestandsmodell“ bei Affekten dennoch Frisch, ZStW 101, S. 538 (608 f.); zuvor schon R. Lange, FS Bockelmann (1979), S. 261 (273). 1276 In aller Kürze kann hier nur unterstrichen werden, dass zumindest die berauschende Wirkung von psychotropen Substanzen generell bekannt und gewollt ist.
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lichkeit, die Kategorie der Affekttat aufzugeben1277 oder sie genauer einzugrenzen.1278 e) Zusammenfassung: Steuerungsfähigkeit als juristischer Metabegriff Die Konstruktion eines voluntativen Schuldelements ist im Gegensatz zum Unrechtsbewusstsein mit erheblichem Aufwand und Schwierigkeiten verbunden. Während das Unrechtsbewusstsein eine kognitive Wertbeziehung aufweist und somit für die Wertprüfung der Schuld anschaulich gemacht werden kann, gelingt dies für ein voluntativ verstandenes Schuldelement nicht ohne weiteres. Die Sprache kennt kein Wertekorrelat zum natürlichen Willen, das selbst ohne die Verwendung des Wortes „Willen“ auskommt. Sowohl die Identitätsthese, welche Steuerungsfähigkeit nur als Synonym für „Willensfreiheit“1279 führt, als auch die Vorstellung einer Stufenlogik des Willens transferieren theoretisch unlösbare Probleme in die tägliche Rechtsanwendung. Jegliche Kontrollmacht kann selbst nur Teilbestand eines einheitlichen verstandenen Willens sein. Der natürliche Willen, wie er sich im straftatsystematischen Vorsatz äußert, kann als Substrat der Schuldbeurteilung nur in Frage kommen, wenn man den Willen als Produkt eines Motivationsgefüges betrachtet. Die Motivation mag mittels empirischer Methoden aufgeklärt werden. Die Bewertung dieser Motivation ist dann der eigentliche Schritt der Schuldbeurteilung.1280 aa) In dieser logischen Trennung kommt die stets postulierte empirisch-normative Zweistufigkeit seitens der juristischen Methodik zum Ausdruck. Rechtstatsächlich handelt es sich jedoch bei diesem Verfahren um eine ganzheitliche Betrachtung, bei welcher mittels rekursiver Begründungsmuster eine Heuristik fehlender Steuerung gewonnen wird.1281 In jedem dieser Teilschritte werden die gesetzlichen Anforderungen schrittweise nach demselben Muster konkretisiert. Dabei darf man annehmen, dass gerade die Unsicherheiten, die aus der fehlenden Präzision der Eingangsmerkmale resultieren, durch generalpräventive Erwägungen aufgefüllt wer1277
Abstand von der Rechtsfigur nehmen Diesinger, Der Affekttäter (1977); S. 173; Krümpelmann, in: Saß, Affektdelikte (1993), S. 18 (39 f.). 1278 Ein neuerliches Modell legt Marneros, Affekttaten und Impulstaten (2007), S. 75 ff.; zusammengefasst in: MschrKrim 90 (2007), S. 331 (332 f.), vor. Dass Jakobs, in: Gerchow (Hrsg.), Zur Handlungsanalyse einer Tat (1983), S. 21 (30) und Ziegert, R&P 1998, S. 91 (95) die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ins Spiel bringen, liegt ganz auf der Linie des hiesigen Befunds, s. noch die conclusio bei IV. 1279 S. zur Diskussion ausführlich III. 3. a). 1280 Das Nachvollziehen und Verstehen solcher Gründe darf noch nicht mit Exkulpation gleichgesetzt werden, vgl. zu der häufig missachteten Trennung auch die Ausführungen bei Haffke, FS Hassemer (2010), S. 355 (357). 1281 Es ist daran zu erinnern, dass einzelne Störungsbilder nicht ohne normatives Vorverständnis auskommen. Die Zweistufigkeit des Verfahrens ist also nicht durch das Begriffspaar empirisch-normativ, sondern durch die Verknüpfung einer psychiatrischen mit einer juristischen Dimension.
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den.1282 Möglich wird dieses Vorgehen zum einen durch die kategoriale Unbestimmtheit (insb. Abartigkeit) als auch durch differenzierende Wertetikette (tiefgreifend, schwer). bb) Anfang und Ende dieser Gedankenkette ist der Rechtsbegriff der Steuerungsfähigkeit. Ausgangspunkt einer rechtlichen Prüfung ist die Hypothese, dass eine menschliche Fähigkeit zu normgemäßer Motivation grundsätzlich besteht.1283 Aufbauend auf diesem Konsens wird die Untersuchung der Steuerungsfähigkeit heruntergebrochen auf eine Analyse der Motivationslage zur Tatzeit. Fehlende Steuerungsfähigkeit beruht auf vor dem Gesetz anerkannten1284 Motivationszwängen, die in Form von physisch-psychologischen Defiziten in den Ausschlussmerkmalen des § 20 StGB niedergelegt sind. Die Ausschlussgründe dienen dazu, Typisierungen von Steuerungsunfähigkeit bereitzustellen und reflektieren einen gesellschaftlichen Konsens. In den Fällen der benannten Störungen geht man davon aus, dass im Handeln nicht die Person an sich, sondern der Defekt als Zustand sichtbar werden kann. Die erlebte Fremdeinwirkung – oder anders gewendet, der Verlust der Selbstbestimmung – ist im Motiv der Schicksalhaftigkeit, welche das Krankheitsbild trägt, begrifflich aufgehoben. Der Konvention nach ist Krankheit erfahrenes Unglück. Die nicht-pathologischen Störungsbilder werden dementsprechend, wenn auch nicht zwingend phänomenologisch, wenigstens in Auswirkung und Wertigkeit in Analogie zur Krankheit gebildet. Es herrscht dabei die Vorstellung des nicht Abwendbaren, nicht das Wissen um das Unabwendbare, vor. Mit deterministischem Einschlag ließe sich mit einer „Jedenfalls-dann“-Unfreiheit1285 argumentieren. In einem weiteren Teilschritt werden das Ausmaß der Störung und ihre Auswirkung auf die Tat bestimmt. Sind die motivatorischen Vorbedingungen geklärt, erfolgt die Zurechnung letztlich nach der Binärcodierung Individuum-Gesellschaft.1286 Die 1282
Roxin, FS Bockelmann (1979), S. 279 (293). Zu erinnern ist stets, dass eine strafbewährte Norm im Bedacht ihres Bestands prinzipiell unbedingt gilt. 1284 Es ist dies die normative Festsetzung des § 20 StGB. (Nur) die Defekte, die dem zugrunde liegen, können Gegenstand empirischer Untersuchung sein, siehe – insoweit – auch Herzberg, ZStW 124 (2012), S. 12 (25); ders., GA 2015, S. 250 (258); G. Merkel, FS Herzberg (2008), S. 3 (15); Tiemeyer, ZStW 100 (1988), S. 527 (544). Dafür möchte ich Haddenbrocks, Begriff „Pathologie der Unfreiheit“, in: MschrKrim 77 (1994), S. 44 (53) als Bezeichnung wählen. Frister, JuS 2013, S. 1057 (1060) spricht in diesem Kontext von „hinreichend verständiger“ Entscheidung des Delinquenten. Strafrechtliche Verantwortlichkeit ergibt sich dann bei (noch) feststellbarer Rationalität der Entscheidung. Dies dürfte die Kehrseite dessen sein, was nicht mehr als Defekt beschrieben wird. 1285 Diese Falsifikationsmethode schon bei Luthe, SchwZStr 103 (1986), S. 345 (357). 1286 Das ist die originäre Stufe der Wertung, an dessen Bestimmung der Sachverständige nicht teilhat. Zu Bedenken ist schließlich, dass ein taterhellendes Gutachten den Geschehensablauf regelmäßig als zwangsläufig darstellen muss, denn sonst würde ein Zusammenhang schon gar nicht behauptet, vgl. Witter, FS Leferenz (1983), S. 441 (452 f.); vgl. auch Schroth, FS Roxin II (2011), S. 705 (709). 1283
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Ausgangshypothese ist bestätigt oder widerlegt worden. Als Ergebnis steht die Steuerungs(un)fähigkeit. cc) Die Steuerung erschließt sich also über ein 5-gliedriges „Aus“-Prinzip: Von Ausgangshypothese der Steuerungspotentialität wird das Merkmal konkretisiert über die (legislative) Auswahl von Merkmalen, die ausgelegt und anschließend in ihrer Ausprägung1287 und Auswirkung (conclusio) bestimmt werden. Auf jeder Stufe wird die Konkretisierung mithilfe sozio-kultureller Maßstäbe fortentwickelt, so dass im Grunde ein einziger, gemischt empirisch-normativer Rechtsfindungsprozess stattfindet.1288 Keine Stufe kommt ohne diese normative Rückbindung aus1289 und sie weist die jeweils gleiche Struktur auf. Deswegen ist hier von systematischer Rekursion die Rede. Allein mit dem formalen Konditionalschema des Gesetzestextes ist dies nur unzureichend erfasst. Es handelt sich um ein final strukturiertes Verfahren, bei dem juristischer und psychiatrischer Sachverstand kooperativ zusammenwir-
1287 Wobei die Ausprägung selbst mehrdimensional verstanden werden kann, vgl. SchülerSpringorum, FS Venzlaff (1986), S. 52 (61), der „Intensität“, „ Ausbreitung“ (wohl bezogen auf die Gesamtpersönlichkeit, Anm. d. Verf.) und „Dauer“(-haftigkeit) von Merkmalen anführt. Ein weiteres Problem der quantitativen Ausprägung ist die sog. „Komorbidität“ durch mehrere Störungen. Erst in ihrer additiven Wirkung erreichen sie forensisch Relevanz. Zu diesem gesonderten Komplex H.-L. Kröber, FS Schöch (2010), S. 993 (998 ff.); Streng, StV 2004, S. 614 (616 f.). 1288 Der Stufenprozess ist für die Praxis freilich partiell (zumindest vorerst) abgeschlossen. Die Ausgangshypothese ist als gesellschaftliche Konvention ebenso wie der gesetzliche Bestand an Normen prinzipiell gesetzt. Man kann dies axiomatisch begründen, nämlich dergestalt, dass eine Leitvorstellung für das Strafrecht stets durch das – wie auch immer verstandene – Menschenbild des Grundgesetzes vorgegeben ist. Regeln des Schuldausschlusses können in dem Gefüge nicht autark operieren. Konsequenz ist auch, dass jede „Schuldanalyse“ daher nur begrenzt empirisch angelegt sein kann, vgl. etwa Hörnle, FS B. Schünemann (2014), S. 93 (102). Auf der Stufe der Auslegung ist für die Eingangsmerkmale eine Diagnoseentscheidung zu treffen. Es empfiehlt sich grundsätzlich, die Auslegung an den gängigen Referenzen der Klassifikationssysteme auszurichten um letztlich eine Nachvollziehbarkeit der rechtlichen Entscheidung zu erhöhen, vgl. auch Schöch, FS Widmaier (2008), S. 967 (976). Der Einsatz von psychiatrischen Gutachten dürfte regelmäßig angezeigt sein, so dass im Kooperationsverhältnis zwischen Sachverständigen und Juristen die Grundbegriffe der jeweiligen Fachexpertise zu respektieren sind, vgl. auch dazu H.-L. Schreiber, FS Wassermann (1985), S. 1007 (1018 f.). Entsprechend demgegenüber sind qualitative Standards als Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten einzuhalten, dazu Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005 S. 57 (59 f.) wie auch Schöch, FS Widmaier (2008), S. 967 (976), strenger noch Verrel, FS Rössner (2015); S. 428 (437), der die Standardisierung nicht nur in Ausrichtung auf die Gutachten, sondern auch auf die gerichtliche Entscheidung erweitert. Quantifizierung (Ausprägung) und Folgebetrachtung (Auswirkung) schließlich sind wohl nur gedanklich als Schritte trennbar; jedenfalls bereitet die Folgebetrachtung (Steuerungsfähigkeit ja oder nein) die Transformation für die juristische Entscheidung im Grunde abschließend vor. 1289 Insofern täuscht sich Eisenberg, NStZ 2005, S. 304 (305), wenn er diese allgemeingesellschaftliche Rückbindung („alltagstheoretische Erklärungsmuster“; „Rollenidentität“) als methodischen Fehler rügt.
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ken,1290 welches letztlich in einer Metabegrifflichkeit, der Steuerungsfähigkeit, mündet und dort verbrieft ist. Vom juristischen Methodenstandpunkt aus betrachtet kann man dies als einen hermeneutischen Zirkel bezeichnen.1291 Diese Steuerungsfähigkeit schließlich als voluntatives Schuldelement zu bezeichnen mag aufgrund des Assoziationspunkts im menschlichen Willen zwar Missverständnisse hervorrufen können. Da aber Themen der Handlungskontrolle, mithin Steuerungsmodelle, im Forschungszweig der Volitionspsychologie1292 untersucht werden, ergibt es aus Gründen interdisziplinärer Verständigung Sinn die Bezeichnung im Rechtsdiskurs zu konservieren. 4. Die „Entschuldigung“ als Folge der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens a) Zum Begriff der Entschuldigung Die Entschuldigungsgründe als dritte Säule der Schulddogmatik folgen einer grundsätzlich anderen Struktur als die beiden anderen Elemente des Unrechtsbewusstseins bzw. des voluntativen Steuerungsvermögens. Wenn auch Unrechtsbewusstsein und Steuerungsvermögen letztlich positiv nur als Ergebnis einer Negativprüfung von Ausschlussgründen existieren, so tut dies an dieser Stelle einer zugedachten positiven Merkmalsstruktur in der Rechtssprache keinen Abbruch.1293 Bei den Entschuldigungsgründen ist das anders. Die vorherige Passage zum voluntativen Schuldmoment hat bereits die Erkenntnis gebracht, dass dispositionale Faktoren dazu führen können, dass man der Person des Täters die Fähigkeit, sich normativ motivieren zu können, im Ergebnis ganz oder teilweise abspricht. Bei der Entschuldigung geht man davon aus, dass normgemäßes Verhalten möglich ist. Schon der Wortgebrauch offenbart dies, denn die Rede von Entschuldigung setzt eine ursprüngliche Schuldbegründung voraus, denn sonst gäbe es über das Präfix begrifflich nichts zu entschuldigen.1294 Die gebräuchliche Wendung des „Fehlens von Entschuldigungsgründen“ ist nichts weiter als eine logische doppelte Verneinung, welche den Ausgangspunkt der Beschuldigung aufrechterhält. Dieser Logik der Alltagssprache muss, trotz aller Vagheit eines mitunter unreflektierten Sprachgebrauchs, prinzipiell gefolgt werden, soll eine eigenständige dogmatische Kategorie
1290
„Gleichberechtigte Partner“ bei Rössner, FS Widmaier (2008), S. 941 (947). In der Perspektive des „Entwickelt-werden“ dürften sich meine Ideen mit der „Wechselbezüglichkeit von Norm und Sachverhalt“, bei Rössner, FS Widmaier (2008), S. 941 (949), treffen. 1292 Vgl. dazu Goschke, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 232 ff. 1293 Positiv paraphrasiert lautet die Begründung von Schuld in etwa: „Schuldhaft handelt, wer […] fähig ist, das Unrecht einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.“ 1294 Zu sprachlichen Implikationen von „Entschuldigung“ weiter Schild, JZ 1980, 597 (599 f.). 1291
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von „Entschuldigungsgründen“ im Strafrecht vernünftig bezeichnet sein.1295 Dieser sprachliche Ausgangspunkt verdeutlicht die zu erwartenden dogmatischen Rückschlüsse: Systematisch werden die Entschuldigungssituationen im Strafgesetzbuch keine originäre Schuldbegründung behandeln. Wir haben es daher mit „uneigentlichen“ Schuldfaktoren zu tun, deren inhaltliche Ausgestaltung sich im Grunde nicht über den Schuldbegriff herleiten dürfte.1296 Moderne Konzeptionen wenden sich dementsprechend zunehmend von der Idee der Entschuldigungsgründe als einem Bestandteil des normativen Schuldkonzepts ab. So firmieren Entschuldigungsgründe heute zum Teil als Ausdruck fehlender Verantwortlichkeit1297, fehlender (strafrechtlicher) Zuständigkeit1298 oder als Straflosigkeit aus Gründen der Opportunität.1299 b) Teleologie der Entschuldigung im strafrechtlichen System: Unzumutbarkeit Die Regelung des entschuldigenden Notstands in § 35 StGB steht exemplarisch für Situationen, in denen die Rechtsordnung mit der Kategorie der Entschuldigung als Rechtsfolge antwortet. Die Diskussion um die Behandlung derartiger Konfliktsituationen blickt nicht nur auf eine lange philosophische Tradition1300 zurück, sondern liefert auch das Grundprinzip rechtlicher Entschuldigung. Als eigenständige 1295
Die Scheidung der Entschuldigungsgründe von den restlichen Schuldausschließungsgründen wird mitunter angezweifelt, dazu: MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 ff. Rn. 309 ff.; und Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 56 ff. Soweit hinsichtlich der Rechtsfolgen keine besonderen Rückschlüsse geknüpft werden, ist dies praktisch auch von geringer Bedeutsamkeit. Allerdings gibt es Vorschläge, die limitierte Akzessorietät im Bereich der Teilnahme von entschuldigten Taten zu lockern. Vgl. dazu Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1 8 (1992), § 33 Rn. 40 und (im Anschluss an Maurachs Begriff der Tatverantwortung) Maurach/ Gössel, Strafrecht AT 2 7(1989), § 53 Rn. 95 f. sowie SK-StGB/Rudolphi (31. Lfg. Sep. 1999), § 35 Rn. 21. Das hängt aber weniger mit der Einstufung als Entschuldigungsgrund an sich zusammen, sondern muss im Kontext des jeweils angenommenen Rechtsgrunds der Entschuldigung beurteilt werden, dazu sogleich. 1296 Verkürzt besagt § 35 StGB: „Wer in einer bestimmten Situation X eine rechtswidrige Tat begeht, handelt ohne Schuld.“ Die besondere Situation, die das Recht als entscheidungserheblich ansieht, gilt objektiv und liegt (prinzipiell) außerhalb der individuellen Handlungssphäre. Gegenüber individueller Schuld ist dies indifferent. 1297 Systematik nach Roxin, Strafrecht AT 4(2006), § 19 Rn. 3, ebenso Amelung, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 85 (102). Zu nennen ist weiter die „duale“ Schuldlehre C. Jägers, FS Beulke (2015), S. 127 (135 f.). Danach sind Schuldausschließungsgründe (§§ 17, 20 StGB) intrinisischer Natur mit der Folge des § 29 StGB. Verantwortungsausschlussgründe (beispielhaft §§ 33, 35 StGB) demgegenüber seien extrinsischer Natur. 1298 Vornehmlich Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 20/4 sowie dessen Gefolgschaft. 1299 So T. Walter, Der Kern des Unrechts (2006), S. 213; ders., FS Roxin II (2011), S. 763 (771). 1300 Als Paradebeispiel dient meist das sog. Brett des Karneaders Zu diesem und weiteren „klassischen“ Fällen die Darstellung bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 31 ff.
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dogmatische Kategorie haben sich die Entschuldigungsgründe erst mit der Wende zum sog. normativen Schuldbegriff1301 herausgebildet. In den Vorläuferregelungen zum § 35 StGB1302 war von Schuld noch nicht die Rede. Später öffnete die sog. Differenzierungstheorie1303 den Blick für eine dogmatische Unterscheidung hinsichtlich der Notstandsfälle. Während Rechtfertigung aufgrund einer Interessenabwägung erfolgen kann, kommt ein solches „Bilanzmodell“ für den § 35 StGB trotz seiner parallelen Konstruktion zum rechtfertigenden Notstand nicht zum Tragen. Der Entschuldigungsnotstand soll die Rechtswidrigkeit nicht berühren,1304 nur keine schuldhafte Tat nach sich ziehen.1305 Soweit Entschuldigung in Rede steht, darf man weitgehend davon ausgehen, dass zumindest eine „notstandsähnliche“ Situation beschrieben wird.1306 Das gilt sowohl 1301
S. im 1. Kapitel, A. III. 4. b). § 52 („Nötigungsnotstand“) (1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist. (2) […] § 54 Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Notwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters oder eines Angehörigen begangen worden ist. 1303 Dazu NK-StGB/Neumann 5(2017), § 35 Rn. 1; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 16 Rn. 1 ff. 1304 Anders Gimbernat Ordeig, FS Welzel, S. 485 (496) als Vertreter der sog. Einheitstheorie zum Notstand. Freilich ist dann auch nicht die Rede von Entschuldigung. Kritik bei Küper, JZ 1983, S. 88 ff.; ders., JuS 1987, S. 81 (83 f.) und Roxin, JuS 1988, S. 425 (429). Dies steht wesentlich im Zusammenhang mit der Anschauung von Bewertungs- und Bestimmungsnorm, deren Unterschiedlichkeit dem Rechtswidrigkeitsurteil zugrunde liegen kann. Soweit das Rechtswidrigkeitsurteil nicht (zugleich) auf einem Verstoß einer Bewertungsnorm beruhen soll, spielt die Bezugnahme auf die Logik einer Interessenabwägung eine untergeordnete Rolle. 1305 Damit steht Entschuldigung rechtssystematisch für einen Schritt hin zur Individualisierung im Recht gegenüber den Rechtfertigungsregeln. Ob die Tatsache, dass eine solche Individualisierung im Strafrecht stattfindet, phänomenologisch zwingend auch auf die Kategorie Schuld verweisen muss, ist damit freilich nicht nachgewiesen, s. die Überlegungen bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 141 ff. Entschuldigungsregeln könnten (phänomenologisch) immerhin auch außerhalb der Schuld anzusiedeln sein, vgl. beispielhaft T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 202 ff.; dort als sog. Opportunitätsregeln). Dies ist der Punkt, an dem die allgemeine Schuldbegriffsdiskussion jede Dogmatik im Detail wieder überformen kann. Allerdings hat auch die bisherige Untersuchung gezeigt, dass kein axiomatischer Schuldbegriff zu erwarten steht, sondern vielmehr der Schuldbegriff einzelnen Merkmalen stets durch induktive Verfahren nachgebildet wurde. Für den Fortgang kann von einer Schuldrelevanz allein schon aufgrund der Gesetzessprache ausgegangen werden. 1306 Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30(2019), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 112. Im Einzelnen herrscht keine Einigkeit, insbesondere, weil es keinen festen, anerkannten Kanon von Entschuldigungsgründen jenseits des § 35 StGB gibt. 1302
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für den Notwehrexzess (§ 33 StGB)1307, die Privilegierungen im Besonderen Teil des StGB1308 (u. a. §§ 139 Abs. 3 S. 1, 173 Abs. 3, 258 Abs. 5, Abs. 6) als auch für nicht positiv gesetzlich verankerte Entschuldigungsgründe.1309 Die diesen Entschuldigungsgründen zugrunde liegende Ratio gilt als umstritten. Weit verbreitet und wohl nach wie vor führend1310 ist die „Lehre von der doppelten Schuldminderung“. Sie geht davon aus, dass die Handlungskompetenz sich normgemäß zu verhalten aufgrund des aus der Situation resultierenden Motivationsdrucks erheblich eingeschränkt ist (originäre Schuldminderung). Daneben gilt das Motiv des Rechtsbruchs, wenn schon nicht von Rechts wegen gebilligt, doch wenigstens als nachvollziehbar. Daraus resultiert eine Minderung des Handlungs- und Erfolgsunwertes, eine Unrechtsminderung, die so mittelbar die Schuld mindert (Derivative Schuldminderung).1311 Ein solches Konzept genießt zwar eine vordergründige intuitive Zustimmung, weist aber im Hinblick auf den Gesetzestext erhebliche Schwächen auf. Wenn es wahrhaftig auf den Motivationsdruck ankäme, wäre es nur konsequent, eine Entschuldigung nur dann zuzulassen, wenn die Situation tatsächlich derart motivierend für den Täter gewesen ist. Eine solche Überprüfung findet indes nicht statt. Selbst bei der Annahme einer gesetzlichen Vermutung dürfte man annehmen, dass eine Aufhebung dieser Vermutung durch Gegenbeweis möglich sein müsste. Des Weiteren sind die Einschränkungen des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB nicht recht einsichtig, wenn doch allein der Handlungsdruck als empirisches Phänomen gesetzesleitend sein soll. Problematisch ist auch der Gedanke einer „Schwellentheorie“ dergestalt, dass strafrechtlich relevante Schuld nicht (mehr) vorliegen soll.1312 Das Rechtssystem operiert schließlich nur mit dem Baustein einer rechtlichen Schuld. Die Annahme einer rechtlich nicht hinreichenden Schuld (mithin rein moralischen Schuld) führt zwingend zur Annahme (vollständig) fehlender (Rechts-)Schuld. Ein Verhalten, welches diesen Qualifizierungsgrad nicht erreicht, ist für das Strafsystem gänzlich unbedeutend. Folglich steht auch zu erwarten, dass sich die Schulddogmatik gegenüber diesem außerrechtlichen Einwurf indifferent verhält. Als Ergebnis bleibt ein Befund der Entschuldigungssituation als normative Konstruktion.
1307
An der Stelle wohl eher aufgrund „Notwehrähnlichkeit“. Ausdrücklich etwa Sch/Sch-StGB/Stree/Hecker 30(2019), § 258 Rn. 37. Zum Besonderen Teil Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 140 ff. 1309 Übersichten bei NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 Rn. 292 ff.; MüKo-StGB/ Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 ff. Rn. 322 ff. 1310 So die Einstufung bei NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 Rn. 251. 1311 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 43 III 2b, S. 478. 1312 Eher missverständlich daher die Ausführungen bei Schmidhäuser, Strafrecht AT 2 (1975), 11/2. Fraglich auch Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat (1996), S. 135 (160): Verfehlung der Erheblichkeitsschwelle strafrechtlichen Unrechts. Das setzt indes eine Vorstellung spezifischer Strafrechtswidrigkeit voraus. Zu diesem Ansatz bei H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss (1981), S. 83 ff. 1308
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Von dieser Einsicht geleitet sind vor allem generalpräventive Begründungsmodelle. Sie gehen davon aus, dass normative Ansprechbarkeit vollständig vorliegt, andernfalls handele es sich bereits um einen Fall der §§ 20, 21 StGB. Der Grund für die rechtliche Entschuldigung ist dann die fehlende präventive Bestrafungsnotwendigkeit.1313 Als Aussage ist das richtig, freilich aber tautologisch.1314 Denn selbstverständlich gibt der Gesetzgeber durch eine solche Normierung zu erkennen, dass er eine Bestrafung nicht für notwendig hält. Eine materielle Erklärung bleibt damit noch im Dunkeln, denn es ist so noch nicht gesagt, welche Vorstellung den Gesetzgeber zu dieser Regelung veranlasst haben mag. Das Modell der doppelten Schuldminderung ist nach dem vorstehenden ein unzureichendes Erklärungsmodell, die generalpräventive Deutung wiederum lässt den sachlichen Grund für den Strafausschluss letztlich (noch) ungeklärt. In Betracht kommt deshalb abschließend noch die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens. Der Rückgriff auf die Unzumutbarkeit wird vielfach als zu vage1315 kritisiert, der kaum feste Konturen verspricht. Richtig besehen verheißen das allerdings die wenigsten zentralen Rechtsbegriffe von Allgemeinheit. Ferner ist die Zumutbarkeitsdoktrin historisch belastet: ihre Tendenz zur Instrumentalisierbarkeit1316 wirft gerade vor dem Hintergrund ihres Untergangs am Ende der Weimarer Republik gehörige Schatten. Zumindest unterschwellig verkörpert sie auch das Scheitern der Rechtskultur am Vorabend des nationalsozialistischen Desasters. Nichtsdestotrotz verdient das Prinzip der Unzumutbarkeit eine Möglichkeit der Bewährung. c) Die Semantik der Unzumutbarkeit Die Umgangssprache benutzt in aller Regel den ditransitiven Ausdruck in Form von „jmd. etwas zumuten.“ Gemeint ist damit ein Verlangen, das ein Dürfen impliziert. Der Imperativ verbindet sich mit einer Erwartungshaltung der Zulässigkeit dieser Forderung, so dass die deskriptive Aussage des Verlangens normativiert wird.1317 In der Negation, in Form der „Unzumutbarkeit“, geht es demnach um die Suspendierung dieser grundsätzlichen Erwartungshaltung. Dieser Befund1318 kann zum Rechtsbegriff der Unzumutbarkeit überleiten. Über die Unzumutbarkeit wird 1313 1314
S. 167.
Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 4. Ebenso Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006),
1315
Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 43 III 2b, S. 478; Sch/Sch-StGB/SternbergLieben (2019), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 110; Roxin, FS Brauneck (1999), S. 385 (400). 1316 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 28. 1317 Die Herleitung im Ganzen bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 46 f., 52 f. 1318 Diese Diktion ist für den juristischen Kontext grundsätzlich brauchbar, so dass es sich erübrigt im Wittgenstein’schen Sinne ein eigenständiges juristisches Sprachspiel der Unzumutbarkeit zu etablieren; vgl. dazu Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 49. 30
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der Möglichkeit einer normtheoretischen Differenzierung der Boden bereitet. Denn anstelle der Gültigkeit der Norm an sich wird lediglich die Erwartung ihrer Einhaltung zurückgenommen. Der normative Allgemeingeltungsanspruch einer Verbotsnorm als kategorischer Imperativ bleibt unberührt, nur wird für den entschuldigenden Umstand eine Ausnahme von der Sanktionsbewährung gemacht, da in der speziellen Situation die Befolgung des Verbots nicht erwartet würde. Normtheoretisch wird ein Perspektivenwechsel vollzogen.1319 Es wird sich gedanklich in die Perspektive des Täters versetzt. Aus der Perspektive des Betroffenen sind die Motive der Nichtbefolgung akzeptabel, weil andere Personen in einer vergleichbaren Situation genauso gehandelt hätten.1320 Dabei wird im Zuge der Normativierung kein hypothetisch-empirisches Prüfverfahren angestellt,1321 wie sich eine zu bestimmende Referenzperson in der Situation wohl faktisch verhalten hätte, sondern die Bewertung wird von der Erwägung geleitet, welches Verhalten von einem Menschen vernünftigerweise erwartet werden darf. Da wird man realiter davon ausgehen müssen, dass ein Mensch in diesen bestimmten Konfliktsituationen bedeutende Individualinteressen zugunsten der Gemeinschaft nicht opfert. Aus dieser individualistischen Grundanschauung kommt die Rechtsgemeinschaft zu dem Schluss, dass die Einhaltung der Norm nicht eingefordert werden kann.1322 In dem Perspektivenwechsel drückt sich die Relativität moralischer Urteile aus. Wertauffassung der Gemeinschaft und persönliche Verpflichtungssituation können demnach auseinanderfallen.1323 Diese scheinbare Paradoxie löst sich indes auf, so denn man in diesen Fällen dem Rechtswidrigkeitsurteil keine Bestimmungsfunktion einräumen will.1324 1319 Frister, JuS 2013, S. 1057 (1064); ders., Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 154 ff. 1320 AK-StGB/Schild (1990), Vor § 13 Rn. 127. 1321 Vgl. auch Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 151. Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 365, betont, dass kein konkreter Fähigkeitsbegriff in Rede steht. 1322 Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 155 f. Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), kommt ausgehend von seinem kontraktualistisch-liberalrechtsstaatlichen Gesellschaftsmodell (S. 36 f.) zu dem Schluss, dass der Vertrag nicht die Selbstaufgabe der Vertragsunterworfenen verlangen kann, a. a. O., S. 78, 384. Wortmann, Inhalt und Bedeutung der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ im Strafrecht (2002), S. 88 ff., 110 bezeichnet dies als (einzigartigen), Vorrang einer loyalistischen Sozialmoral gegenüber der Universalmoral. Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 350, moniert jedoch, dass diesen Versuchen lediglich Paraphrasen des Tu-quoque-Argument zugrunde liegen. 1323 Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 157. 1324 Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 158. Das ist letztlich eine Frage der Axiomatik. Hat die Bestimmungsfunktion Vorrang, muss der entschuldigende Notstand bereits rechtfertigend wirken (so die Einheitslösung, vgl. NK-StGB/Neumann 5 (2017), § 35 Rn. 2). Sollen diese Konsequenzen im Hinblick auf eine Duldungspflicht des Unbeteiligten nicht getragen werden, so kann folglich die Bestimmungsfunktion nicht essentiell sein.
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Durch ein normatives Korrektiv kann einer drohenden normativen Falsifikation einer Regel vorgebeugt werden.1325 Hier liegt auch der Kern der Generalprävention, allerdings mit inverser Begründungsrichtung: Strafverzicht ist nicht deswegen tolerabel, weil die Strafe im Hinblick auf die generelle Normbefolgungsbereitschaft einer Gesellschaft nicht notwendig erscheint. Umgekehrt erwartet man Schaden eben für diese Akzeptanz der Primärnorm, wenn im Angesicht einer „unzumutbaren“ Situation kein normatives Ventil geschaffen wird.1326 Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens stellt also eine Filterregel bereit, die für einen speziellen Einzelfall eine Abweichung von der generellen Rechtsfolge einer an sich gültigen Norm erlaubt. Formal rechtstechnisch betrachtet formuliert die Aussage der Unzumutbarkeit damit zunächst nur ein regulatorisches Prinzip.1327 d) Typenbildung von Unzumutbarkeit Geht man von einem Leitbild der materiellen Unzumutbarkeit aus, sind Konkretisierungen auf Gesetzesbasis essentiell um das formell bloß regulative Prinzip mit Leben zu erfüllen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass ein Strafausschluss sich immer dann als Entschuldigungsgrund darstellen lässt, wenn die ratio sich auf den hier entwickelten Gedanken der Unzumutbarkeit zurückführen lässt. Vom unstrittigen Kernbestand des § 35 StGB abgesehen, existieren für Strafbefreiungsgründe allerdings vielfach pluralistische Erklärungsmuster. Das führt vornehmlich dazu, dass andere Erklärungsmodelle mit der Einstufung als Entschuldigung konkurrieren. Insbesondere der behelfsweise Rekurs auf einen „persönlichen Strafausschließungsgrund“1328 wird mitunter zwar als Rückgriff in eine dogmatische „Rumpelkammer“ gerügt,1329 steht aber nomologisch einer solchen Einstufung nicht zwingend entgegen.1330 Zugleich steht die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ob ihrer Reservefunktion und ihrer potentiellen Weite schnell selbst im Verruf universale Lösungen bereitzustellen. Ein rein normatives Konstrukt ist indes notwendig angehalten, ohne eine empiristische Konstante auszukommen. Es liegt dann
1325 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 69 ff., 72, passim. 1326 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 165. 1327 Grundlegend Henkel, FS Mezger (1954), S. 249 (304); zust. Roxin, FS Henkel (1974), S. 171 (173). 1328 Vgl. dazu die Übersichten bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 52, S. 551 ff.; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 23. 1329 Schünemann, Grundfragen der modernen Strafrechtssystems (1984), S. 1 (27). 1330 Allerdings birgt ein solches „Inselwissen“ zu jeweils einzelnen Strafausschließungsund Strafaufhebungsgründen die Gefahr inkonsistente und inkohärente Sonderbereiche zu schaffen, die Verwerfungen im System produzieren, wobei Verwerfungen nichts anderes meint als Ungerechtigkeit. Die dort versammelte Heterogenität ist nämlich dann meist ein willkommener Grund Systematisierungsbemühungen einzustellen.
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in der Überzeugungskraft normativen Begründens angelegt,1331 einem Rechtsmodell der Entschuldigung Konturen zu verleihen. Einen Verbund von Strafbefreiungstypisierungen unter einem Dach zu schaffen soll auf lange Sicht rechtssystematisch den Vorteil bringen eine Vergleichbarkeit und kritische Überprüfung zu ermöglichen. Die Allgemeinheit im Begriff der Unzumutbarkeit weist zwar eine hohe Aufnahmefähigkeit auf, obgleich wird das induktiv am entschuldigenden Notstand gewonnene Leitbild materieller Unzumutbarkeit als die Messlatte fungieren müssen. Die hier nur skizzenhafte Zusammenstellung von diskutierter Entschuldigungstypisierung soll dieser Vergleichbarkeit dienen.1332 aa) Entschuldigender Notstand § 35 StGB Unstrittig als Entschuldigungsgrund anerkannt ist der entschuldigende Notstand in § 35 StGB. Die Gesetzessprache lässt insoweit auch keine Zweifel offen. Der Betroffene sieht sich im Fall des § 35 StGB einer Gefährdung existentieller Interessen1333 konfrontiert, die generelle Regelung zur Konfliktlösung (Verbotsnorm) soll aber per defitionem unberührt bleiben. Eine Falsifikation der Verbotsnorm lässt sich nur dadurch verhindern, dass Umstände außerhalb des Unrechts diese Diskrepanz auflösen und auf die Durchsetzung der Regel im Einzelfall verzichten.1334 Wie gezeigt, lässt sich an der Notstandssituation paradigmatisch die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entwickeln.1335
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Zur Rechtswissenschaft als Begründungswissenschaft, Neumann, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann, Einführung 8(2011), S. 392. 1332 Dies kann hier nicht abschließend geschehen. Der Leitgedanke der Entschuldigung ist dabei stets ein wichtiger: trotz Unrecht und Schuld wird Nachsicht gewährt. So etwas kann eine Rechtsgemeinschaft nicht beliebig ohne Beeinträchtigung der Primärnorm gewähren. Bestehen also Zweifel am entschuldigenden Charakter einer Norm, kann dies auch ein Symptom für ein Legitimitätsproblem der Straffreistellung sein. Geradezu zu warnen ist dann vor einem allzu leichtfertigen Rückgriff auf „außerstrafrechtliche“ Begründungsmuster. Einmal wohnt der Kennzeichnung als „außerstrafrechtlich“ eine paradoxe Komponente inne: das Strafrecht versucht mithin also Materie zu regeln, die gar kein Strafrecht sein soll. Ist es aber Strafrecht, dann gelten die anerkannten Prinzipien. Die Beurteilung des Verbotsirrtums mit Hilfe außerstrafrechtlicher Kategorien hat sich daran zu orientieren. Es steht zu erwarten, dass die stabile These der „außerstrafrechtlichen Zwecksetzungen“ von einzelnen Strafausschlüssen bei wissenschaftlicher Durchdringung ähnlich erodiert werden kann. Zum Nachsichtgedanken auch T. Walter, FS Roxin II (2011), S. 763 (772). 1333 Eine ausführliche Auseinandersetzung der Notstandslagen bietet Bernsmann, Entschuldigung durch Notstand (1989), S. 41 ff. Auf die Darstellung wird verwiesen. 1334 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 158 ff., 161 f. 1335 Im Ergebnis auch Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 516 (520).
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bb) Notwehrexzess § 33 StGB Beim Notwehrexzess in § 33 StGB verzichtet das Gesetz auf eine eindeutige Bestimmbarkeit. Es verwendet nur den Ausspruch „wird nicht bestraft.“ Überwiegend wird er dennoch als Entschuldigungsgrund eingeordnet,1336 und zwar auf Basis der tradierten Doktrin der doppelten Schuldmilderung, bzw. zum Teil auch aufgrund generalpräventiver Erwägungen.1337 Daneben gibt es Stimmen, die § 33 StGB als eine spezielle Ausformung einer Irrtumsregelung sehen.1338 Mit der Irrtumslösung lässt sich § 33 StGB als Ausdruck eines Irrtums über die Erforderlichkeit im Sinne der Notwehrhandlung von § 32 Abs. StGB begreifen. Bedeutsam sind die damit verbundenen Konsequenzen: ein bewusster Exzess verträgt sich nicht mit der Annahme eines Irrtums aufgrund asthenischen Affekts;1339 für den sog. extensiven Notwehrexzess bleibt im Rahmen der Vorschrift kein Raum.1340 Im Gegensatz zur Erklärung des entschuldigenden Notstands1341 erweist sich die Deutung über die Idee der doppelten Schuldminderung als nicht von vorneherein unzureichend. Die Teilverwirklichung von Notwehrmerkmalen erlaubt es, gegenüber einer „Vollform verwirklichten Unrechts“ eine Abstufung und damit eine Unrechtskompensation festmachen zu wollen. Des Weiteren fordert die Begehung aus der Affektlage heraus, dass eine ausreichende Kausalverknüpfung zwischen Affekt und Tat bestehen muss.1342 Die Motivationsbeeinflussung spielt hier – anders als bei § 35 StGB – die entscheidende Rolle. Das psychologisch-normative Modell wäre demnach als Erklärungsmuster tragfähig.1343 1336 MüKo-StGB/Erb 2(2011), § 33 Rn. 2; NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 Rn. 274; NK-StGB/Kindhäuser 5(2017), § 33 Rn. 4 f., jeweils mit Nachweisen; als „Schuldausschluss“ offen gelassen bei StGB-Fischer 67(2020), § 33 Rn. 3. 1337 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 69. 1338 Es genügt hier der Hinweis, dass thematisch-sachlich ein Irrtum vom Gesetz behandelt werden soll. Die dogmatische Konstruktion im Einzelfall divergiert von Autor zu Autor, Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 229 ff.; (Erlaubnistatbestandsregelung); Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 424 (Verbotsirrtum); Schmidhäuser, Strafrecht AT 2 (1975), 11/26, S. 472 (Vorsatz). Ergänzende Verweise bei NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 Rn. 274; NK-StGB/Kindhäuser 5(2017), § 33 Rn. 3. 1339 Der Verweis auf die Gesetzgebungsgeschichte, vgl. stv. Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 82 f., ist immer wieder als Argument gegen die einschränkende Auslegung vorgebracht worden. Überzeugende Beispiele für die Notwendigkeit der weiten Alternative stehen aber immer noch aus, s. zum Ganzen auch Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 231 f. 1340 Worüber der Wortlaut allein kein Urteil trifft; Nachweise zum Streitstand bei Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 45 II 4, S. 493; SK-StGB/Rudolphi (31. Lfg. 1999), § 33 Rn. 2 einerseits und Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 87 f.; MüKo-StGB/Erb 4(2020), § 33 Rn. 14 sowie NK-StGB/ Kindhäuser 5(2017), § 33 Rn. 11 andererseits. 1341 S. im Text zuvor. 1342 MüKo-StGB/Erb 4(2020), § 33 Rn. 22; Sch/Sch-StGB/Perron/Eisele 30(2019), § 33 Rn. 5. 1343 Ablehnend indes Heuchemer, Der Erlaubnistatbestandsirrtum (2005), S. 115, insb. Fn. 18, der betont, dass die „Abzugsthese“ im Hinblick auf Unrechtsquantitäten zu einem
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Die Annahme von Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens berührt dies umgekehrt aber auch nicht. Weder hindert die fehlende Parallele zum § 35 StGB diese dogmatische Bestimmung1344 noch veranlassen die konkurrierenden Erklärungen zu einer Neubestimmung. Die Einordnung als typisierte Unzumutbarkeit beruht wie gezeigt auf einer überempirischen Bewertungsgrundlage, die auch hier fruchtbar gemacht werden muss. Dass allein eine Beschränkung des Beherrschungsvermögens kraft situativer Überwältigung gesetzesleitend ist, wird man nicht überzeugend sagen können. Denn die Beschränkung auf die sog. asthenischen Affekte belegt, dass es nicht auf irgendeine Bewusstseins- oder Handlungsverengung im empirischen Sinne ankommen soll, sondern gezielt der aus der Position der Schwäche heraus Handelnde die Nachsicht der Rechtsgemeinschaft zugesprochen bekommt. Die auf das griech. sthenos (Kraft) zurückgehende Klassifizierung der Affekte im Rahmen dieser Norm bezeugt den oben angesprochenen Perspektivenwechsel: der individuellen Sichtwarte (gegenüber der allgemeinen Normgültigkeit eines Verbots) kann Rechnung getragen werden, da aus der Angriffssituation eine Unterlegenheit angenommen wird. Eine Unterlegenheit derart negiert das grundsätzlich postulierte Gleichordnungsgefüge aller Normunterworfenen. Insofern scheint ein Eingreifen der regulativen Unzumutbarkeit aus einer materiellen Sachlage begründet. Ob Verwirrung, Furcht und Schrecken tatsächlich eine strukturelle Unterlegenheit begründen (können), mithin die Normbefolgungsfähigkeit realiter einschränken, ist systematisch zweitrangig. Des Weiteren spielt es eine untergeordnete Rolle, ob dies im konkreten Fall (akzidentell) durch eine Unrechtsminderung oder irrtumsbedingt vermittelt ist.1345 Ein Entschuldigungsgrund als rein normatives Konstrukt muss lediglich mit gesellschaftlicher Akzeptanz nach dem oben gezeigten Muster aufwarten können. Die Streitigkeiten um die Reichweite des § 33 StGB zeigen allerdings, dass in der Plausibilität der Straffreistellung ein Gefälle zu den übrigen Fällen Missverhältnis bei abwägender Betrachtung führen kann, welches die Annahme von einer Kompensation nivellieren müsste, ebenso Frister, Die Struktur des voluntativen Schuldelements (1993), S. 228. Ob sich die Regelung des § 33 StGB vor diesem Hintergrund in ihrer Sinnhaftigkeit erschließt, bleibt dann mit Zweifeln behaftet. Nun muss man natürlich berücksichtigen, dass Notwehr per se keine Güterabwägung vorsieht. Ein drohendes Missverhältnis in Güterfragen ist dadurch im Wesen der Notwehr prinzipiell angelegt. Strukturelle Defizite in der Begründung dort – zu den Zweifeln an der klassischen Begründung des Notwehrrechts siehe Renzikowski, Notstand und Notwehr (1994), S. 76 ff. – setzen sich fort. Die Diskussion um Restriktionen des Notwehrrechts, dazu stv. MüKo-StGB/Erb 4(2020), § 32 Rn. 201, beruhen schließlich auf dieser Weite und sollen diese korrigieren. Dass Unrechtsminderung im Übrigen konsequenterweise keineswegs notwehrspezifisch verstanden werden kann, vgl. dazu Heuchemer, a. a. O., S. 116, liegt dabei auf der Hand. Dies ist auch der Grund, weshalb diese stets im Rahmen der Strafbemessung zu berücksichtigen ist. Die selektive Privilegierung des Notwehrexzesses durch den Gesetzgeber hebt diese Überlegung nicht auf. 1344 A. A. dennoch Heuchemer, Der Erlaubnistatbestandsirrtum (2005), S. 113 und auch Wortmann, Inhalt und Bedeutung der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ im Strafrecht (2002), S. 96 f. 1345 Genau genommen kann die Relevanz eines Irrtums auch Zumutbarkeitsfrage sein; s. bereits die Ausführungen zu § 17 StGB oben.
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der Entschuldigung besteht. Das lässt darauf schließen, dass der Notwehrexzess sich bereits an der Grenze materieller Unzumutbarkeit bewegt. cc) Privilegierungen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs Die unterlassene Strafanzeige gegen Angehörige (§ 139 Abs. 3 S. 1 StGB) und die Strafvereitelung (mittelbar) zugunsten der eigenen Person (§ 258 Abs. 5 StGB), bzw. wiederum Angehöriger (§ 258 Abs. 6 StGB), sind Beispiele der Bewältigung unzumutbarer Konfliktlagen im Besonderen Teil. In den Fällen der mittelbaren Selbstbegünstigung ist die Rechtsfolge mit dem Verweis auf das Nemo-teneturPrinzip insoweit ausreichend begründet, als dass die Privilegien rein deliktstypisch auf Rechtspflegedelikte begrenzt sind.1346 Die Erweiterung zugunsten Angehörigen erklärt sich wiederum aus der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Loyalität zu diesen Personen eine prinzipiell engere Verbindung hervorbringt als zu einer in weiten Teilen anonymen Gesellschaftsentität. Es geht daher wie beim entschuldigenden Notstand nicht um eine relative Rechtsfreiheit, sondern um die Einsicht, dass Menschen in nachvollziehbaren Grenzen vordergründig um das Wohl der eigenen Lebenssphäre bedacht sind.1347 dd) Numerus clausus der Unzumutbarkeitstopoi im Strafrecht? (1) Als Ausfluss potentieller Unzumutbarkeit werden auch verschiedentlich Themen eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrunds diskutiert. Im Allgemeinen werden Konstellationen eines „quantitatives Lebensnotstands“1348 herangezogen um einen eventuellen Schuldausschluss1349 zu erwägen. Der Schulfall ist meist der von 1346 Das liegt ganz auf der Linie Hartmut Schneiders, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips (1991), S. 375 ff., der auf die Ausnahmesituation der kollektiven Rechtsgüter verweist und insofern generalpräventiv verträgliche Nachsicht verortet. Den nemo-tenetur-Ansatz hält er zwar nicht für ausreichend (S. 359 f.), wobei seine konstitutive Eingrenzung des Topos auf Rechtspflegedelikte genau die von ihm attestierte antietatistische Wirkung des nemo-tenetur (S. 28 ff.) m. E. wiedergibt. 1347 Vor dem hier (fiktiv) gedachten Vertragstheorem hat eine solche Überlegung Bestand: in den benannten Fällen würden vernunfttreue Menschen aufgrund erlebter gestufter Wertigkeit von sozialen Nähebeziehungen trotz prinzipieller Übereinstimmung mit den Normen Vorbehalte geltend machen. Weiterhin erfahren in diesem Denkmodell gerade die Gegenausnahmen ihre Bedeutung: § 258a III StGB verändert durch die (freiwillig) angenommene soziale Rolle die Pflichtenstellung zur Gemeinschaft. Das Zusammenspiel der §§ 138 I, 139 III StGB derogiert etwaige individuelle Vorbehalte zugunsten Angehöriger: der Deliktskatalog zählt Kapitalverbrechen auf, die eine Normengemeinschaft im Kern berührt. Individualvorbehalte derart stellten den Zusammenschluss einer (Vertrags-)Gemeinschaft nachhaltig in Frage. 1348 MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 Rn. 324. 1349 So z. B. aus der Kommentarliteratur StGB-Fischer 67(2020), Vor § 32 Rn. 15; LK-StGB/ Rönnau 12(2006), Vor § 32 Rn. 342 ff.; NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 ff. Rn. 295;
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Welzel gebildete „Weichensteller-Fall“1350, der verkürzt beschrieben einen Bahnwärter vor Augen hat, der eine Weiche verstellt um den herannahenden Zug auf eine kleinere Menschenmenge umzuleiten um damit der Rettung des Lebens einer zahlenmäßig größeren Gruppe willen ersterer den Tod bereitet. Längst haben aber weitere Fälle wie die sog. „Rettungsfolter“1351, der Abschuss eines bemannten Passagierflugzeugs zur Abwehr terroristischer Anschläge1352 u. v. w.1353 die Diskussion erweitert. Historisches Anschauungsmaterial liefern ferner auch die sog. Euthanasiefälle1354 zur Zeit des Dritten Reichs, während derer Anstaltsärzte vereinzelt gezielte Tötungen in dem Bestreben vornahmen so breitere Massen vor der planmäßigen Vernichtung zu bewahren. Eine Rechtfertigung ist aufgrund der Abwägungsfeindlichkeit menschlichen Lebens ausgeschlossen, der entschuldigende Notstand nach § 35 StGB versagt hier ob der fehlenden Nähebeziehung zwischen dem rettungswilligen Verletzer und den zu Rettenden. Welzel billigt die übergesetzliche Entschuldigung unter den folgenden Voraussetzungen: die subjektiv von einem Rettungswillen getragene Handlung muss das einzige Mittel sein um größeres Unheil gegenüber einem kleineren Übel abzuwenden.1355 Die Vorgaben als ultima ratio sowie Rettungsintension einer Handlung sind Grundvoraussetzung und brauchen keine weitere Beachtung. Fraglich ist schon eher wie mit der Unwertdiskrepanz umzugehen ist. Die Diskussion zeigt immerhin, dass die Bereitschaft, das Dogma der Indisponibilität menschlichen Lebens utilitaristisch aufzuweichen, prinzipiell gestiegen ist. Als ethisch-philosophische Grundsatzdebatte übersteigt dies letztlich auch den Rahmen einer (nur) strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzung. Für die Strukturierung und die dogmatische Perspektive hilft es aber zwei Begründungskomplexe auseinanderzuhalten: zunächst kann man sich der Frage widmen, inwieweit solche Situationen mit der Kategorie der Entschuldigung zu bewältigen sind. In einem (ggf. zusätzlich und) denklogisch zu trennenden Schritt kann man sich mit der Straffreiheit (im Übrigen) beschäftigen. Die Entschuldigung setzt voraus, dass sich die Phänomene mit dem angenommenen Rechtsgrund in Einklang bringen lassen. Folglich müssten wir es mit einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens auch in diesen Fällen zu tun haben. Schon am Wortsinn orientiert kann man dies gewichtig in Abrede stellen. Das Kennzeichnende des entschuldigenden Notstands ist es, dass aufgrund der persönlichen Betroffenheit, Angehörige dazugezählt, nicht von der Rechtsordnung erwartet wird, dass der Einzelne einen existenziellen Konflikt im Einklang mit generellen VerSch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30(2019), Vorbem. §§ 32 Rn. 115 f.; SK-StGB/Rudolphi (38. Lfg. 2003), Vor § 19 Rn. 8; S/S/W-StGB/Rosenau (2009), Vor §§ 32 Rn. 67. 1350 Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 (51). 1351 Bei Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 166 ff. 1352 MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 Rn. 324; Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30 (2019), Vorbem. §§ 32 Rn. 115a mit Beispielen und Nachweisen zur Debatte. 1353 Ergänzungen bei MüKo-StGB/Schlehofer 2(2011), Vor §§ 32 Rn. 264. 1354 MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 Rn. 325. 1355 Welzel, Das deutsche Strafrecht 11(1969), S. 185.
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botsnormen (z. B. „Du sollst nicht töten“) löst. Bei genauerer Hinsicht erschließt sich, dass es an den wesentlichen Grundideen dieser tolerierten Normübertretung fehlt. Unter Beachtung, dass – konstruktiv notwendig wegen der Erweiterung des Gesetzestexts – die Nähebeziehung fehlt, muss sich dennoch ein existenzieller Handlungskonflikt plausibel begründen lassen. Dabei fällt natürlich unumwunden auf, dass es gerade die persönliche Betroffenheit ist, die einen solchen Konflikt existenziell macht. Primär läuft ein Geschehen ab, dass sich außerhalb der eigenen Interessen-Zurechnungssphäre abspielt. Dem Einzelnen wird also gar nichts „zugemutet“. Er ist nicht zur Entscheidung berufen. Allenfalls könnte ein Konflikt resultierend aus einem Gewissensanruf noch ins Kalkül gezogen werden. Aber eine Selektion von Leben mithilfe einer Gewissensentscheidung anzuerkennen, trägt letztendlich Freibriefcharakter.1356 Deshalb läuft auch ganz und gar der Gedanke fehl, der Täter wähle die geringere Schuld.1357 Denn strafrechtlich gesehen ist das Geschehen auch nicht als Fall von § 323c StGB (Hilfe leisten … ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten) zu deuten. Ohne persönliche Zurechenbarkeit wird ein Geschehen aber zum Zufall.1358 Insofern ist die Metapher vom „Schicksal spielen“ hier treffend.1359 Und ob es tatsächlich eine allseits akzeptierte Erwartung der Gemeinschaft gibt, ein Individuum dürfe auch Normen für den Fall relativieren, ohne dass die Situation es im engeren Sinne „etwas angeht“, darf doch stark bezweifelt werden. Soweit die Bestrafung dennoch als eine „grobe Ungerechtigkeit“1360 deklariert wird, steht ein Ausweichen auf einen Strafausschließungsgrund1361 sui generis als Lösungsmodell noch offen.1362 (2) Der eben angesprochene interne Konflikt zwischen der als verpflichtend erlebter Motivation aus Gewissens- oder Glaubensentscheid scheint strukturell einer Entschuldigungssituation aus Notstand zu entsprechen. Als mögliche Form typisierter Unzumutbarkeit wirft dies die Frage nach grundrechtsunmittelbarer Ent-
1356 Mit der Betonung der Rechte anderer entsprechend MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 Rn. 321, 332. 1357 So Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 (52). Dagegen zutreffend Roxin, Strafrecht AT I 4 (2006), § 22 Rn. 165. 1358 Nicht von ungefähr spricht Welzel selbst nur von „Unheil“, Welzel, Das deutsche Strafrecht 11(1969), S. 185; siehe auch oben im Text. 1359 Mitsch, GA 2006, S. 11 (22); Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 466; Roxin, a. a. O. 1360 Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30(2019), Vorbem. §§ 32 Rn. 116. 1361 Man beachte Peters, JR 1949, S. 496 (498 f.); ders., JR 1950, S. 742 (745 ff.); Oehler, JR 1951, S. 489 (493) zur Rspr. des OGH. 1362 Einzelheiten verlassen nunmehr die Überlegungen zur Schuld. Entgegen Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 (48) und Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 158 wird man eine Lösung außerhalb des dreigliedrigen Tatbestandsrasters nicht schon deswegen ausschließen müssen, weil Berührungspunkte zu Fragen von Unrecht und Schuld gegeben sind. Die Ähnlichkeitsbeziehungen von Sachverhalten treffen darüber keine Aussage.
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schuldigung auf.1363 Die Begründung mittels Grundrechte führt in jedem Fall nicht zu einer Übergesetzlichkeit der Thematik, sondern allenfalls zu einem Normenkonflikt. Dieser Konflikt bewegt sich auf Verfassungsebene.1364 Genuin strafrechtsdogmatische Überlegungen sind daher im Prinzip nicht gefordert, da das Strafrecht sich dem Vorrang der Verfassung und damit der materiellen Durchdringung der Regelungsmaterie nicht entziehen kann. Die Besonderheit besteht lediglich darin, dass spezifisch strafrechtliche Fragen indes nicht erschöpfend von der Grundrechtsdogmatik beantwortet werden, so dass die fehlende Konkretisierung und Determinierungskraft für das Strafrecht ein Defizit an Rechtsklarheit bedeuten. Aufgrund der Unverletzlichkeit1365 der Garantien des Art. 4 GG besteht jedoch zweifellos die Notwendigkeit einen Normenkonflikt nicht zu Lasten der Grundrechte zu lösen. Das Problem liegt hier vielmehr in der Frage, wann in berechtigter Weise von einem im Begriffssinne „echten“, oder „wirklichen“ Gewissens- oder Glaubenskonflikt auszugehen ist. Das muss rechtstechnisch gesehen eine Schutzbereichsfrage sein, wie auch regelmäßig das tatbestandsmäßige Verbot denn auch über dieses Schutzbereichsverständnis verfassungskonform ausgelegt werden muss.1366 Es erschließt sich nämlich kaum, warum ein legitimes Verbot vorliegen soll, wenn dies mit den anerkanntermaßen hohen Schutzgütern aus Art. 4 GG unverträglich ist.1367 Hier bedarf es vorrangig einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits bei Anwendung des Strafgesetzes. Das heißt nichts anderes als bereits die Verbotsnorm restriktiv handzuhaben um derartige Rechtskonflikte nicht planmäßig auf der Ebene der Schuld austragen zu müssen. Soweit sich eine psychische Konfliktlage zu einem Fall der materiellen Unzumutbarkeit verdichtet, steht im Bemühen um Konkordanz der verschiedenen (Grund-)Rechtsräume und aufgrund der hohen Relevanz der Grundrechtsgarantien nicht zu erwarten, dass es eine verfassungsrechtlich legitime abstrakt-generelle Pflicht (Verbotsnorm) geben kann, die eben unter dem
1363 S. NK-StGB/Paeffgen/Zabel 5(2017), Vor §§ 32 ff. Rn. 297; Sch/Sch-StGB/SternbergLieben 30(2019), Vorbem. §§ 32 Rn. 118 und monografisch H. C. Schmidt, Grundrechte als verfassungsunmittelbare Straffreistellungsgründe (2008), S. 181 ff. mit den Nachweisen zur Diskussion. 1364 So gesehen ist dies eine spezifisch verfassungsrechtliche Frage, an deren Antwort das Strafrecht gebunden ist, s. Frisch, GA 2006, S. 273 (275). 1365 „Unverletzlichkeit“ meint im Grunde nicht stets absoluten Schutz vor Eingriffen wie der Blick auf einzelne Grundrechte verdeutlicht (Artt. 2 II 3, 10 II, 13 II-VI GG). In erster Linie dient die Kennzeichnung einer besonderen Individualsphäre, vgl. Ipsen, Staatsrecht II 15(2012), Rn. 149. Für die Grundrechte des Art. 4 GG darf wegen des besonders engen Bezug zur Menschenwürde, vgl. dazu nur Sachs/Kokott, GG 6(2011), Art 4 Rn. 3, eine wortgetreue Übernahme der Metaphorik angenommen werden. 1366 Auch Fälle des sog. „zivilen Ungehorsams“, dazu bei Roxin, FS Schüler-Springorum (1993), S. 441 (442 ff.) und Radtke, GA 2000, S. 19 ff., erscheinen mir vielfach falsch loziert. Das Paradebeispiel des § 240 StGB zeigt, dass die Auslegung („Verwerflichkeit“, Abs. 2) die verfassungsrechtlichen Vorgaben problemlos berücksichtigen kann. 1367 Ähnlich Frisch, GA 2006, S. 273 (277 f.).
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Eindruck der Verfassung dem nicht Rechnung trägt.1368 Ergibt umgekehrt eine verfassungsimmanente Abwägung, dass ein Schutz von Glauben und Gewissen gar nicht Platz greift, dann kann die psychische Zwangslage im Übrigen nicht ausreichen um eine Entschuldigung zu begründen.1369 Mit dieser Grundrechtsrelevanz entfällt die für die Rechtsfigur der Entschuldigung notwendige normative Komponente.1370 Ein unmittelbarer1371 Rückgriff auf grundrechtliche Strafbefreiung ist damit (regelmäßig) nicht notwendig.1372 (3) Im Fahrlässigkeits-1373 und Unterlassungsbereich1374 wird die Unzumutbarkeit als Begrenzung der strafbewährten Pflichten herangezogen. Im Fahrlässigkeitsbereich hat der Zumutbarkeitsvorbehalt eine Heimat seit der Leinenfänger-Entscheidung des Reichsgerichts.1375 Die Problematik der Übergesetzlichkeit, resp. Ungesetzlichkeit stellt sich dogmatisch nicht in voller Schärfe, da das Fahrlässigkeitsdelikt über eine geringe Regelungsdichte verfügt. Die Kategorie der subjektiven Fahrläs-
1368 Man kann auch die Rechtsprechung des BVerfG in diese Annahme integrieren. Vgl. dazu BVerfGE 32, 98, Bes. vom 19. 10. 1971 – 1 BvR 387/65 – (Gesundbeter): „so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde […], dass es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen. Kriminalstrafe ist – unabhängig von ihrer Höhe – bei solcher Fallgestaltung unter keinem Aspekt (Vergeltung, Prävention, Resozialisierung des Täters) eine adäquate Sanktion“ (Hervorhebung v. Verf.). Eine bereits ursprüngliche Zweckfehlung verleitet zu dem Schluss, dass es sich nicht um einen Einzelfall von Nachsicht im Hinblick auf ein Verbot handelt, sondern schon um eine partiell zweckfreie Einschränkung durch eine Verbotsnorm. 1369 Dazu Radtke, GA 2000, S. 19 (35 f.), allerdings auf Basis anderer Begründung zur ratio von Entschuldigung. 1370 Die normative Komponente wird über den verfassungsimmanenten Ausgleich freilich nur unscharf vermittelt. Das ändert aber nichts daran, dass es substanziell kaum um Entschuldigung gehen kann. Eine Opferung eines Menschenlebens aus „religiösen“ Gründen wird durch die schlichte inhaltliche Berührung mit dem Begriff oder Thema der Religion nicht zu einer prinzipiell geschützten Handlung. Es ist erst zu eruieren, welches Verständnis die Verfassung vom Rechtsbegriff einer Glaubens- oder Gewissenshandlung haben kann; zu letzterem Gedanken auch Frisch, FS Schroeder (2006), S. 11 (17). 1371 Frisch, GA 2006, S. 273 (279). Anders Roxin, FS Schüler-Springorum (1993), S. 441 (456) und H. C. Schmidt, Grundrechte als verfassungsunmittelbare Straffreistellungsgründe (2008), S. 35 ff., 62 ff. sowie S. 181 ff. der verschiedentlich Mängel in der Verarbeitung grundrechtsdogmatischer Inhalte unter Zugrundelegung der herrschenden Ansicht aufzuzeigen versucht. Zur Problematik der herrschenden Theorie der Entschuldigung bereits oben. 1372 Abschließend soll daran erinnert werden, dass das prozessuale Instrumentarium in Gestalt von Einstellungsmöglichkeiten (§§ 153 ff. StPO) auch ein Weg sein kann, dass Verfahren nicht in einem unbehaglich empfundenem Urteil münden zu lassen. 1373 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 974; Kindhäuser, Strafrecht AT 5 (2015), § 33 Rn. 63; Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 17 Rn. 97; Roxin, Strafrecht AT 4(2006), § 24 Rn. 122 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 15 Rn. 49 f. 1374 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 1040; Kindhäuser, Strafrecht AT 7 (2015), § 36 Rn. 37; Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 18 Rn. 140. 1375 RGSt 30, S. 25 (28) – aus dem Jahre 1897.
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sigkeit ist gesetzlich nicht derart umrissen, wie es die Schulddogmatik für das Vorsatzdelikt vorgibt. Nichtsdestotrotz wird ein Dispens von der Sorgfaltspflicht erst notwendig, wenn zwei kollidierende Interessen dies herausfordern. Ein solcher Konflikt divergierender Interessen setzt selbstredend deren Rechtserheblichkeit voraus. Dass das Recht zwei unvereinbare Pflichten gleichermaßen verbindlich nebeneinander stellt, mag faktisch nicht auszuschließen sein. Dabei handelt es sich dann aber um einen konstruktiven Fehler im Recht. Denn der Vorrang eines Interesses ist prinzipiell und allgemein zu bestimmen. Akzeptiert man zudem die materielle Schwelle des Notstands als Synonym für Unzumutbarkeit, dann sind auch keine Fälle ersichtlich, in denen eine solche Kollision stattfinden könnte. Hier ist die abstrakte Güterabwägung vorläufig als legislativ abgeschlossen zu betrachten, die durch einen Rechtsanwender nicht aktualisiert zu werden braucht. Gerade im Bereich der (auch praktisch) bedeutenden Erfolgsdelikte der §§ 222, 229 StGB leuchtet angesichts des hohen Wertes der bedrohten Güter ein, dass die Sorgfaltsanforderungen zugunsten der genannten Rechtsgüter nicht aufgrund Interessen, die unterhalb der Dringlichkeit des Notstands angesiedelt sind, Nivellierung erfahren können. Eine Disproportionalität der Strafandrohung im Einzelfall ist dann schwer zu begründen.1376 Insofern stellen sich in dieser Richtung keine Besonderheiten beim Fahrlässigkeitsdelikt.1377 Schwieriger zu beurteilen sind die Fälle, in denen der Umfang der Sorgfaltspflichten nicht eindeutig bestimmbar erscheint. Dieses Problem stellt sich zunächst zwar in allen Fällen nicht verhaltensgebundener Fahrlässigkeitsdelikte. Im Gegensatz zu den §§ 222, 229 StGB aber erlangt regelmäßig der Umstand Bedeutung, dass die Wertigkeit des Rechtsguts nicht so (hoch) anzusetzen ist, dass (auch) die Hürde einer Sorgfaltspflicht am Maximum des Menschenmöglichen ohne weiteres einsichtig wäre. Das gilt insbesondere für die Bestimmung der Vermeidbarkeit im Rahmen des § 17 StGB. Hier scheint die regulative Kraft über den Topos der Unzumutbarkeit unausweichlich. Dogmatisch ausgeleuchtet fällt aber auf, dass es nicht um die Einschränkung einer prinzipiell bestehenden Verhaltensanforderung geht, sondern es ist die originäre Bestimmung einer Sorgfaltspflicht, die bereits Probleme bereitet. Hier bewegt sich die Argumentation auf der schneidigen Schwelle zwischen erlaubtem Risiko und nicht mehr tolerierter Gefährdung von Rechtsgütern. Systematisch geht es dann aber um Fragen des (tatbestandlichen) Unrechts. Über das Begriffspaar erlaubt-verboten wird eigentlich eine Frage bereits auf der Stufe der Rechtswidrigkeit vermittelt, die vorab der Schuldfrage zu erörtern ist. Denn das erlaubte Risiko kann nur antonym zu einem Verhaltensverbot gedacht werden.1378 1376 Dazu auch Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 456 ff. 1377 Weitgehend anderer Ansicht die Lehrbuchliteratur (Fn. 1373). 1378 Maiwald, FS Schüler-Springorum (1993), S. 475 (487). Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 24 Rn. 6. Einzelheiten gehören in die Dogmatik des Fahrlässigkeitsstrafrechts. Es lässt sich dennoch anmerken, dass der Begriff der Fahrlässigkeit strikt an den Rechtsbereich angebunden werden sollte. Fahrlässigkeit(sunrecht) kann erst mit einem Verhaltensverbot
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Das belegt einmal mehr, dass die Diskussion um die Frage der Vermeidbarkeit im Rahmen des § 17 StGB als (Vorsatz-)Schuldfrage falsch klassifiziert ist. Auch dort geht es um die Begründung von Fahrlässigkeit.1379 Beim Fahrlässigkeitsbereich hängt also an der Statuierung der Sorgfaltspflicht das entscheidende Gewicht. Soweit aber die Pflichten nicht ausdrücklich und abschließend determiniert sind, können die konkreten Pflichten an die situativen Begebenheiten angepasst werden. Insofern braucht es keinen Rückgriff auf die Kategorie der Zumutbarkeit.1380 (4) Was die Rolle der Unzumutbarkeit bei den Unterlassungsdelikten angeht, ist zu differenzieren. Im Falle des § 323c StGB ist die Unzumutbarkeit gesetzlich ausdrücklich vorgesehen. Ob dies Tatbestands- oder Schuldfrage betrifft, ist im Grunde zweitrangig, da letzteren Falls aufgrund der gesetzlichen Anordnung keine Durchbrechung des numerus clausus-Prinzips vorläge. Die unechten Unterlassungsdelikte sind demgegenüber geringfügig anders konstruiert. Die Handlungspflicht beruht hier auf einer Garantenstellung, einer originäre Pflichtenbegründung, welche durch die Unzumutbarkeit entweder von vorneherein begrenzt sein muss oder eben nicht in der Lage sein kann, eine einmal bestätigte Pflicht auszuhebeln. Hier wäre eine Dispensierung unsinnig.1381 Im Gegensatz zu den Begehungsdelikten, in denen die Abstraktionsformen der Tatbestandsbildung zu weit reichen können, kann – ähnlich wie bei Fahrlässigkeitsdelikten – bei Statuierung der Primärpflicht (Gebot) die situative Komponente berücksichtigt werden. Von daher wird man in den angedachten, angeblich kollidierenden Pflichten zu keiner prinzipiellen Erweiterung der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens kommen müssen. Gleichwohl werden Fälle diskutiert, in denen nahe stehenden Personen durch die Handlungspflicht mittelbar der Gefahr der Strafverfolgung ausgesetzt würden. Hier soll für die Unzumutbarkeit Raum bleiben.1382 Die §§ 139 Abs. 3 S. 1, 258 Abs. 5, Abs. 6 StGB treffen für solche Fälle aber vielfach Vorkehrungen; soweit die Deliktsschwere ihres direkten Anwendungsbereichs nicht überschritten wird, spricht nichts dagegen, die beginnen. Es vermittelt also ein schiefes Bild, schon von Fahrlässigkeit (im Recht!) zu sprechen, wenn ein bloßes Risiko für ein Rechtsgut gesetzt wird. Nomologisch kann freilich ein weiter Begriff von Fahrlässigkeit vorherrschen. So ist die Aussage, dass sich ein Mensch fahrlässig (im Hinblick auf die eigene Gesundheit) verhält, wenn er unzureichend bekleidet eine Bergerklimmung unternimmt, sprachlich nicht zu beanstanden. Das Entscheidende ist hier aber unzweifelhaft das Vorverständnis, vermittelt durch den Kontext der Äußerung. Die Aussage wird getätigt „im Hinblick auf etwas“, (hier: Gesundheit). Im Hinblick auf das Recht ist das Verhalten wiederum unbedeutend. 1379 S. bereits die Ausführungen unter III. 2. g). 1380 MüKo-StGB/Duttge 4(2020), § 15 Rn. 208 f. Weiter Jescheck/Weigend 5(1996), § 57 IV, S. 597 (Lösung über den subjektiven Sorgfaltsmaßstab). Abweichende Ergebnisse zur h. M. sind freilich nicht zu erwarten. 1381 Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 401: präsumierte Zumutbarkeit durch die Garantenstellung. Zum Pflichtdualismus auch Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 20/39. Im folgenden (Rnrn. 41 f.) aber mit Entschuldigungsmöglichkeiten. 1382 Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 31 Rn. 222 ff.; Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 18 Rn. 141.
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Regelung (in zulässiger Rechtsfortbildung) zu übertragen. Übersteigt die Unrechtsqualität deren Referenzmarke, wird Unzumutbarkeit sich kaum infolge der Abwägung widerstreitender Interessen ergeben können.1383 (5) Die Ausführungen zeigen, dass die Idee der Entschuldigung nicht zuletzt aufgrund der Rechtssicherheit prinzipiell abschließend gedacht ist. Erst die Formulierung einer materiellen Unzumutbarkeit in Gestalt der verbrieften Gesetzeslage ermöglicht es einem beliebigen Rückgriff auf die Kategorie Unzumutbarkeit in der Rechtsanwendung vorzubeugen. Die Ausführungen zeigen aber ebenso, dass die Diskussion um eine mögliche Erweiterung der Unzumutbarkeit im Fluss ist. Als regulatives Prinzip muss die Unzumutbarkeit auch nicht statisch konstruiert sein; im Gegenteil. Insofern ist der Kanon der Entschuldigung theoretisch erweiterungsfähig. Die entscheidende Voraussetzung für eine Erweiterung ist allerdings, dass sich die Meinungen zu einem allgemeinen Konsens verdichten, so dass man davon sprechen kann, die Rechtsgemeinschaft erwarte in dem konkreten Fall keine Befolgung einer (ansonsten) allgemein gültigen Norm. Um die Allgemeingültigkeit nicht zu gefährden, werden solche Fälle stets Ausnahmecharakter, nahezu Singularität besitzen müssen.1384 Umgekehrt, wenn auch weniger aktuell, ist eine Verengung der Entschuldigung de lege ferenda immer möglich. Ist ein solcher Anschauungswechsel (in welcher Richtung auch immer) vollzogen, kommt ein neues Verständnis von materieller Zumutbarkeit zum Tragen. Im Sinne der Gewaltenteilung obliegt es allerdings dem Gesetzgeber Klarheit zu schaffen.1385 Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass eine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens jenseits des (geschriebenen) Gesetzes völlig ausgeschlossen wäre.1386 Entsprechend den Gedanken zur Gewissensnot bzw. existentieller Glau1383
Auch hier gilt, dass die dogmatischen Feinsinnigkeiten indes kaum abweichende Ergebnisse erwarten lassen. 1384 Vgl. generalisierend Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015), S. 278 ff.: Die Kraft der Entschuldigung liege in der Differenz zum Allgemeinen. 1385 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 22 Rn. 144. Zweifel hinsichtlich etwaiger Lücken im aktuellen Rechtssystem auch bei MüKo-StGB/Schlehofer 4(2020), Vor §§ 32 Rn. 330 f. 1386 Als Forderung gar bei Lücke, JR 1975, S. 55 (58), dessen geistige Anleihen am Prinzip des § 242 BGB indes sich nicht ausgereift lesen. Grundsätzliche Bedenken bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 43 f. Auch Wortmann, Inhalt und Bedeutung der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ im Strafrecht (2002), S. 97 ff., verwirft eine solche Konzeption. Die gelegentliche Verwendung als Gesetzesmerkmal (s. Beispiele bei Momsen, a. a. O. S. 39) widerspräche einer solchen hierarchischen Struktur. Der Einwand ist insofern berechtigt, als dass Zumutbarkeit kein Axiom materiellen Inhalts ist. Eine logische Unabhängigkeit kann es dann nicht geben. Es liefert keine dezisive Kraft in Einzelfällen, sondern leitende Wirkung. Damit sind wir wieder bei der Qualifikation als regulatorisches Prinzip angelangt. In einem Konflikt von Rechtsregeln steht es begrifflich gesehen deshalb nicht auf einer höheren Meta-Ebene. Aber es verhält sich dann ähnlich wie mit der Generalklausel nach „Treu und Glauben“. Ergänzend (i. S. v. lückenfüllend) kann es auf Gesetzesebene (mithin: tatbestandlich) herangezogen werden. Als Korrektiv steht es gewisser-
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bensinhalte könnte es als formell regulatives Prinzip theoretisch immer dann zum Einsatz kommen, sofern eine Sachlage auftaucht, in der sowohl Allgemeingültigkeit einer Verbotsnorm, wie auch gleichzeitige Unzumutbarkeit ihrer Einhaltung in der speziellen Situation aus Täterperspektive angenommen wird. Eine Entschuldigung seitens des Rechtsanwenders wäre dann methodisch nicht zu beanstanden, soweit wir es mit Unvorhersehbarkeit und Atypizität eines solchen Ereignisses und daraus resultierender Inadäquanz eines Schuldspruchs zu tun haben. Die postulierte Unvorhersehbarkeit verbietet es eigentlich, hier Beispiele anzubieten. Die Suche nach einer apologetischen Rechtsfigur für die sog. Euthanasiefälle indes zeigt, dass eine solche Vorhalteüberlegung für den Fall, dass die herkömmliche Anwendung der Systematik der Straftatlehre für die Bewältigung atypischer Problemlagen mitunter als unzureichend empfunden wird, keinesfalls reine Abstraktion bleiben muss.1387 In den Fällen handelt es sich jeweils um eine echte Lücke im Gesetz, weshalb es sich empfiehlt, nur diese unbestimmten Fälle mit dem Prädikat übergesetzlicher Entschuldigung zu versehen und dergestalt zu lösen. 5. Die sog. objektiven Schuldmerkmale Von objektiv gefassten Schuldmerkmalen ist die Rede, wenn das Gesetz an das Vorliegen eines äußeren Umstands eine Schuldminderung knüpft, unabhängig davon, ob diese Situation den Täter auch tatsächlich motiviert hatte. Dafür müssen die Umstände, die diesen Sachverhalt ausgemacht haben dem Täter wenigstens bekannt gewesen sein.1388 Als die wichtigsten Beispiele derart gelten das Angehörigenprivileg der §§ 257 Abs. 6, 139 Abs. 3 StGB sowie Sonderfälle der Tötung in § 216 und § 217 a. F. StGB. Aus diesem Befund eine eigenständige dogmatische Kategorie bilden zu wollen, erweist sich gleichwohl als verzichtbar: die Begrifflichkeit ist aus heutiger Sicht zunächst eher irreführend. Die Qualifikation als Schuldmerkmal verliert ihre Berechtigung, wenn es auf den tatsächlichen Motivationsdruck nicht ankommen sollte. Eine überindividuelle Betrachtung verträgt sich mit der ratio der Schuld als einer individueller Betrachtung (s. nur § 29 StGB) der Straftat von vorneherein nur schlecht. Betrachtet man die Tat trotzdem als generell für weniger strafwürdig, spricht es eher dafür, dass die im Gesetz gefundenen objektiven Merkmale solche des Unrechtstatbestands beschreiben. Gerade der Anschauungswandel im Fall des aufgehobenen Sondertatbestands der Kindstötung verdeutlicht dies. Die Annahme eines maßen außerhalb der Norm und ermöglicht die Anbindung an andere Entscheidungsprogramme. 1387 Mit Hilfe dieses konkreten Beispiels lässt sich leichterdings nachempfinden wie einfach in der Retrospektive Widerstandsgeist formulierbar ist. Man muss sich darüber im Klaren sein, anhand welcher Kriterien man den Erwartungshorizont einer Rechtsgesellschaft formuliert. 1388 S. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 1, S. 471 auch mit weiteren Nachweisen; entwickelt von Maihofer, in: Festschrift für Hellmuth Mayer (1966), S. 185 – 217, S. 192 ff.; zuerst erwähnt bei Thierfelder, Objektiv gefaßte Schuldmerkmale (1932), S. 39 ff.
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Ehrverlusts bei Geburt eines unehelichen Kindes dürfte in der heutigen Zeit in dieser Allgemeinheit nicht mehr tragfähig sein. Das Rechtsgut Leben verdient in vollem Umfang Beachtung. Sollte dennoch im Einzelfall eine Situation vorliegen, in der sich die Täterin in einer notstandsähnlichen Situation befunden haben sollte, lässt sich dieser über die allgemeinen Vorschriften Rechnung tragen. Es ist an die Möglichkeit einer Strafmilderung zu denken, gegebenenfalls sogar über die §§ 20, 21 StGB. Es ist nicht einsichtig, warum eine pauschale Strafmilderung angezeigt sein soll. Ähnlich verhält es sich im Fall des Angehörigenprivilegs. Über die Einordnung in die Straftatsystematik in Form eines Entschuldigungsgrundes oder als persönlicher Strafausschließungsgrund herrscht zwar Unklarheit. Dieses Problem soll hier indes nicht weiter beschäftigen, sondern das Hauptaugenmerk auf den eigentlichen Regelungshintergrund gerichtet werden. Das Gesetz vermutet (unwiderleglich) einen Interessenkonflikt in diesen Fällen. Die gesetzliche Konstruktion dient damit letztlich einer Beweiserleichterung. Dass das Gesetz auf die Möglichkeit eines Nachweises des Gegenteils (d. h. definitiver Ausschluss der Motivationseignung) verzichtet, mag als eine Unvollständigkeit der Regelung zu Gunsten des Täters zu verzeichnen sein; allerdings beträfe dies denn auch eher unwahrscheinliche Konstellationen, deren Beweis in der Praxis tatsächlich mit veritablen Problemen behaftet wären. Als ein spezieller Typus der Unzumutbarkeit kann sich dem Problem wie hier auch normativ genähert werden. Zu bedenken ist schließlich, dass die „Entdeckung“ der objektiven Schuldmerkmale in eine Zeit1389 fällt, in welcher der „psychische“ Schuldbegriff vom normativen Schuldbegriff zunehmend abgelöst wurde. Die strafrechtliche Haftung war nicht allein von der subjektiven Beziehung des Täters zur Tat abhängig. Demgegenüber stand die personale Unrechtslehre erst noch am Beginn der Entwicklung. Die weitgehend ausschließliche Erfolgsbetrachtung im Unrechttatbestand verschloss den Blick für Momente des Handlungsunrechts; ein Defizit das (noch) der Schuldtatbestand ausfüllen musste. Dieser enge Bezug zur Genese macht allerdings auch deutlich, warum diese Betrachtung an Relevanz verloren hat.1390 Belege dafür finden sich auch im Irrtumsbereich.1391 Nimmt jemand irrtümlich an, für ihn gelte das Angehörigenprivileg, ist allein in diesem Zusammenhang entscheidend, dass er sich in einer Zwangssituation wähnte. Zur Lösung müssen dann letztlich teleologische Wertaspekte herangezogen werden, im gewählten Beispiel die „Entschuldigungsähnlichkeit“. Auf die Einteilung als objektiv gefasstes Schuldmerkmal als solches kommt es demnach nicht an. Wenn aber aus Klassifizierung allein keine Rechtsfolgen abzuleiten sind, empfiehlt es sich, diese Kategorie aufzugeben. 1389 Die Monografie von Thierfelder, Objektiv gefaßte Schuldmerkmale (1932), fällt genau in diese Wendezeit; zur selbigen im 1. Kapitel, A. III. 4. b). 1390 Es bleibt sicher möglich, die normativierten Momente als objektive zu kennzeichnen; so Maihofer, FS für Hellmuth Mayer (1966), S. 185 (204 ff. u. 209 ff.): objektive Elemente des Schuldvorwurfs. Eine parallele Begrifflichkeit ist angesichts des ohnehin wenig eindeutigen Schuldbegriffs jedoch besser zu vermeiden. 1391 Dazu ausführlich Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 III.
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6. Die Existenz von sog. speziellen Schuldmerkmalen In weiten Teilen des Schrifttums wird davon ausgegangen, dass neben den bereits dargestellten sog. allgemeinen Schuldvoraussetzungen im Straftataufbau auch sog. spezielle Schuldmerkmale auftauchen können. Dies soll dann der Fall sein, wenn das Gesetz sich nicht mit den allgemeinen Anforderungen begnügt, sondern zusätzliche Voraussetzungen an das Vorliegen von Schuld knüpft. Laut Schmidhäuser begegnen sie uns als besondere Motivationen des Täters, die mit der Verletzung des Rechtsguts im Unrechtstatbestand nichts zu tun haben. Es sind vielmehr Einzelmomente des seelischen Erlebens des Täters, die seine geistige Einstellung zum Recht kundtun.1392 Sowohl Schuldsteigerung als auch -milderung kann ausgedrückt werden.1393 Aus der genannten Definition wird ersichtlich, dass damit wohl ausschließlich Gesinnungsmerkmale beschrieben werden. Folgt man der Definition Schmidhäusers1394, dann beschreiben diese ein sittlich-wertwidriges geistiges Verhalten des Täters in Bezug auf die unrechte Tat. a) Die Existenz von Gesinnungsmerkmalen ist dabei unstrittig, wobei für dieses Thema bloß ihre Zuordnung zum Schuldtatbestand interessiert.1395 Denn offenbar geht mit der Bezeichnung als Gesinnungsmerkmal nicht ihre Einordnung in die Schuld einher. So sollen Gesinnungsmerkmale dem Unrechts- oder dem Schuldbereich angehören können.1396 Mit dieser Erkenntnis korrespondiert die Differenzierung der Lehre in unechte und echte Gesinnungsmerkmale.1397 Nur solche, die nicht schon ihren Ursprung im Unrecht haben, werden als echte Gesinnungsmerkmale bezeichnet1398, sonst ergibt sich ihre Schuldbedeutung lediglich als Unrechtsreflex. Dass das Unrecht selbst wesentliche Schuldrelevanz aufweist, entspricht der hiesigen Darstellung.1399 Es sollen also lediglich die originären Schuldmerkmale an dieser Stelle Beachtung finden. 1392 Schmidhäuser, Studienbuch AT 2(1985), 4/28; grundsätzlich zust. Puppe, ZStW 120 (2008), S. 504 (520). 1393 Schmidhäuser, a. a. O. 1394 Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 8/92 S. 246. 1395 Eine gesonderte Fragestellung ist dabei die Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Hinblick auf die Verwendung seitens des Gesetzgebers. Das ist generell umstritten. Dazu siehe Berger, Das Gesinnungsmoment im Strafrecht (2008), S. 148 ff.; 156 f.; Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 173 ff., 414 ff.; Rath, Gesinnungsstrafrecht (2002), S. 3 ff.; 65; Timm, Gesinnung und Strafrecht (2012), S. 146 ff., 222 ff. Weiterhin Kühl, FS Spendel (1992), S. 75 (95 f.); ders., Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht (2001), S. 41. 1396 Bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 3, S. 472, als sog. differenzierende Auffassung; inhaltlich auch Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), S. 247. Anders Hardwig, ZStW 68 (1956), S. 14 (29), der diese offenbar ausschließlich der Schuld zuordnet. 1397 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 3, S. 472 f.; Sch/Sch-StGB/Eisele 30 (2019), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 122. 1398 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 3, S. 472. 1399 Siehe die Ausführungen unter III. 1.
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b) Differenzierungskriterien hinsichtlich ihrer Identifizierung liefert das Schrifttum dagegen meist nicht.1400 Die Einteilung erfolgt in der Regel einzelfallbezogen ohne Nennung eines leitenden Auslegungsmotivs. Geradezu als Prototyp werden die subjektiven Mordmerkmale des § 211 StGB, als da wären Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier sowie die niedrigen Beweggründe, immer wieder genannt.1401 Weitere Beispiele sind die Rücksichtslosigkeit (in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB), als auch die Böswilligkeit (in §§ 90a, 130, 225 StGB).1402 Ausgangspunkt zur Unterscheidung könnte nach bisheriger Erkenntnis schon das Schuldverständnis selbst sein. Schuld ist ein Werturteil. Da liegt es nahe, die wertenden, ausfüllungsbedürftigen Attribute der Tatbeschreibung im Gesetz der Schuld zuzuweisen. Ein solcher Zugriff entspräche der Dogmatik innerhalb des Betrugtatbestands, die von den Tatsachen die Werturteile scheidet.1403 Mit Hilfe dieses Gegensatzpaares könnten auch Schuldmerkmale vom Unrecht abzuschichten sein. Demgemäß wären in diesem Modell spezifische Absichten wie z. B. bei §§ 242, 263 StGB Bestandteil des Unrechtstatbestands, da diese dem Beweis zugänglich sind.1404 Dieses Resultat befindet sich durchaus im Einklang mit der herrschenden Lehre.1405 Auf der anderen Seite stünde allerdings zu befürchten, dass sämtliche oder doch wenigstens eine Vielzahl von attributiven Handlungsbeschreibungen im Rahmen dieser Definition ihre Bedeutung ausschließlich in der Schuld aufwiesen. Jegliches normatives Merkmal steht in einem Relationsverhältnis, mit der Folge dass vom Gesetzesinterpreten regelmäßig auch ein wertender Akt verlangt wird. So ist im Fall des „grausamen“ Mordes (§ 211 Abs. 2 StGB) ein wertender Gesetzesnachvollzug unerlässlich, denn die Grausamkeit einer Handlung steht nicht von vorneherein fest. Ähnliches gilt für die rohe Misshandlung von Schutzbefohlenen, § 225 Abs. 1 StGB. In diesen Fällen heißt es allerdings, diese Merkmale seien (wenigstens auch) Kennzeichen bereits erhöhten Handlungsunrechts, da sie die Gefährlichkeit oder 1400 Es ergeht – gelegentlich – der allgemeine Hinweis bei Langer, GS Meurer (2002), S. 23 (33), dass die Kriterien entsprechend der allgemeinen Unterscheidung von Unrecht und Schuld zu treffen wäre. Konkreter nur bei Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht (1958), S. 168; 197; Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 517. Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 17/52 i. V. m. 8/98 geht von prinzipieller Unrechtsbedeutung aus, kommt aber zur Doppelfunktionalität, wenn Gesinnungsmerkmale zusätzlich Ausdruck gesteigerter Zuständigkeit (Anm. des Verf.: auf Basis seiner Lehre von Schuld als Produkt von Zuständigkeitsverteilung) sind. 1401 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 3, S. 473. 1402 Sch/Sch-StGB/Eisele 30(2019), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 122. 1403 S. nur Krey/Hellmann/Heinrich, Strafrecht BT 2 16(2012), Rn. 339. Vgl. aber Kritik bei SK-StGB/Hoyer (60. Lfg. Feb. 2004), § 263 Rn. 12 ff. 1404 Zur Tatsachenqualität solcher „innerer“ Tatsachen s. Krey/Hellmann/Heinrich, a. a. O.; auch Bitzilekis, FS Hirsch (1999), S. 29 (32). Ablehnend Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 84 f. 1405 Für Schuldmerkmale allerdings auch in diesem Fall: Schmidhäuser, Strafrecht AT 2 (1975), S. 454.
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Verwerflichkeit der Begehungsweise betreffen.1406 Diese Betrachtung ist insofern vorzugswürdig, als sich kaum vermitteln lässt, dass die Modalität einer Handlung stets unrechtsirrelevant wäre. In der Konsequenz dieses Modells müssten nämlich wesentliche Aspekte der Unrechtsbeschreibung zu Gunsten der Schuld aus dem eigentlichen Tatbestand ausscheiden. Darunter litte nicht nur die Leitbildfunktion des Unrechtstatbestands, sondern hätte auch weit reichende Auswirkungen im Irrtums- und Teilnahmebereich. Gerade im Letzteren käme es zu wesentlichen Strafbarkeitseinschränkungen, denn eine Schuldzurechnung ist gemäß § 29 StGB nicht möglich. Einer Zuordnung in eine pauschale Auftrennung in Tatsachen- und Wertbegriffe zu folgen erweist sich daher als ungeeignet, weil sie entweder nicht sehr sachgerecht, oder eben unzuverlässig ist.1407 c) Als Alternative verbleibt die Differenzierung über den Begriff der Gesinnungsmerkmale. Nimmt man die obige Differenzierung wieder auf, ließen sich die echten Gesinnungsmerkmale herausdestillieren, indem man nachweist, dass sie keinen Bezug zum Unrecht aufweisen. Am Beispiel der Habgier (§ 211 StGB) erklärt Schmidhäuser, dass dieser Mordtypus weder den Modus der Handlung bestimme noch eine zusätzliche Rechtsgutverletzung oder besondere schwere Folge der Tat herbeiführe.1408 Diese Aussage ist aber in mehrerer Hinsicht ungenau. Für die Habgier kommt es nicht auf eine tatsächliche Bereicherung an. Dennoch ist gerade in diesem Fall ein zusätzliches Rechtsgut (Vermögen) zumindest sachlich berührt. Und selbstverständlich hat das Motiv der Tat erheblichen Einfluss auf ihre ggf. vorliegende Planung sowie ihren Vollzug. Augenscheinlich sind Schmidhäusers Ausführungen dem Erfolgsdenken verhaftet, das allenfalls für den Bereich der Erfolgsdelikte überzeugen kann. Selbst dort muss diese Lehre dennoch weiterhin davon ausgehen, dass sich Vorsatz und Fahrlässigkeitsdelikte nicht in ihrem Unrechtsgehalt unterscheiden, was jedoch aus Sicht der herrschenden personalen Unrechtslehre nunmehr überholt erscheint. Aus dieser Perspektive liegt die Annahme erhöhten Unrechts genauso nahe und lässt sich auch entsprechend begründen. Sicherlich gelangt man an diesem Punkt zu einer Form argumentativer Letztbegründung, denn es wird endlich auch Anschauungsfrage bleiben, ob man von gesteigertem Unrecht spricht oder dem Unrecht eine höhere Schuld aufgrund erhöhter Verwerflichkeit zumisst.1409 Für die kontemporäre 1406
Sch/Sch-StGB/Eisele 30(2019), Vor § 13 Rn. 122. Es gilt nämlich zu berücksichtigen, dass auch Werturteile stets eine Tatsachengrundlage benötigen. Diese könnte selbst in den Fokus der Betrachtung gerückt werden. In diesem Sinne stünde der Ausgangspunkt einer Nivellierung, aber ebenso einer gewissen „Manipulation“ offen. Je nach (willkürlicher?) Akzentverschiebung ließen sich die Hintergrundtatsachen bei der Beurteilung stärker heranziehen als die dahinter vermutete Einstellung des Täters. So behandeln bspw. Jescheck/Weigend die Rohheit (§ 225 StGB) entgegen obiger Einschätzung als Schuldmerkmal, in: Strafrecht AT 5(1996), § 42 II 3, S. 473, die Gröblichkeit (§§ 167 I Nr. 1, 315c I Nr. 2 StGB) wiederum als Unrechtsmerkmal. Klarheit ist dann keinesfalls gewonnen. 1408 Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), S. 456. 1409 Paeffgen, GA 1982, S. 255 (267 f.) betont den sozialen Unwert, der in der Habgier oder anderen niedrigen Beweggründen nach außen manifestiert wird. Das „individuelle Beherr1407
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Strafrechtsdogmatik jedoch verflüchtigt sich der Nutzen einer solchen Kategorie von echten Gesinnungsmerkmalen. d) Anders verhält es sich nur dann, wenn die Gesinnung nicht nur zur Schuldsteigerung, sondern schon zur Schuldbegründung herangezogen wird. Laut st. Rechtsprechung1410 handelt derjenige rücksichtslos, der im Straßenverkehr aus eigensüchtigen Gründen sich über seine Pflichten hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit von vornherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen lässt. Wer die „7 Todsünden“1411 des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB ohne Rücksichtslosigkeit verwirklicht, begeht kein Kriminalunrecht. In der Vorstellung eines besonderen Schuldmerkmals müsste die Rücksichtslosigkeit als eine Art überschießende Innentendenz zu begreifen sein, die keine Entsprechung im Unrechtstatbestand aufwiese. An dieser Stelle verliert die Verwerflichkeitsbetrachtung nämlich mit dem Unrecht ihren Bezugspunkt. Folglich hätten wir es zu tun mit einem Fall von Schuld ohne (Kriminal-)Unrecht.1412 Eine solche Definition offenbart die Probleme, die eine rein subjektive Verwerflichkeitsprüfung mit sich bringen würde. Der Richter steht damit vor der Wahl entweder die krasse Eigensüchtigkeit oder die Gleichgültigkeit des Täters heranzuziehen. Dazu wird er in aller Regel die äußere Tatsituation bemühen, wenn er keine anderen Erkenntnismittel zur Verfügung hat. So wird doch die grobe Verkehrswidrigkeit in der Regel zur Begründung der Rücksichtslosigkeit ausreichen, wenn nicht einmal ehrenwerte Fernziele diese per se ausschließen können.1413 Gerade in diesen Fällen wird man von einer „Rechtsfeindlichkeit“ nicht überzeugend sprechen können, höchstens von einer ungenügenden Rechtsmotivation. Und diese ergibt sich daraus, dass der Verkehrsteilnehmer sich nicht das nötige Gefahrenpotential des Straßenverkehrs bewusst gemacht hat. Entscheidend für die Strafbarkeit kann daher nur die Gefahrenrelation in der konkreten Verkehrssituation sein. Wer das leibliche Wohl oder erhebliche Vermögenswerte anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet, lässt in Bezug auf diese Rechtsgüter zugunsten seiner Interessen eben keine Rücksicht walten; die Frage ist letztlich nur, ob der Fahrer gute Gründe für sein Verhalten vorweisen kann. Seiner Natur eines konkreten Gefährdungsdelikts entspricht es primär den Fokus auf die Qualität der Gefahr zu legen. Insofern hat die Rückschungspotential“ dieser Beweggründe (S. 271, a. a. O.) könne von dieser allgemeinen Festlegung getrennt werden. Das liegt ganz auf der hiesigen Linie. 1410 S. jeweils die Nachweise bei StGB-Fischer 67(2020), § 315c Rn. 14 und Sch/Sch-StGB/ Hecker 30(2019), § 315c Rn. 28. 1411 NK-StGB/Zieschang 5(2017), § 315 c Rn. 31. 1412 Ein Rückgriff auf das Ordnungswidrigkeitenrecht muss nach der oben entwickelten Phänomenologie (II.) verschlossen bleiben. Das Strafrecht ist als Rechtsmaterie ein aliud. Es kann demnach nicht konstruktiv auf den Ordnungswidrigkeiten aufbauen, weil Ordnungswidrigkeiten eben keine „kleinen“ Straftaten sind. 1413 Wiederum bei StGB-Fischer 67(2020), § 315c Rn. 14a und Sch/Sch-StGB/Hecker 30 (2019), § 315c Rn. 29.
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sichtslosigkeit nicht mehr als Auslesefunktion für atypische Fallkonstellationen. Es lässt sich also nicht nur eine stringente Unrechtsbeziehung herausarbeiten, vielmehr ist diese Unrechtsbeziehung auch für eine systemkonforme Auslegung dienlich. Unterstützt wird diese Sichtweise durch ihren Zusammenhang mit der Maßregel des § 69 StGB. Bemerkenswerterweise greift die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB schon, wenn eine (!) Straftat nach § 315 c StGB vorliegt. Wie eine schuldindifferente Maßregel auf einer speziellen Schuldbegründung aufbauen kann, lässt sich auf der Basis des tradierten Schuldgedankens kaum sinnvoll erklären. In der Gesamtschau liegt die Betonung eher auf dem Gefährlichkeitsaspekt einer Handlung. Damit ist die Rücksichtslosigkeit aber besser im Unrechtstatbestand aufgehoben. e) Zu guter Letzt gilt die Stichprobe dem Merkmal roh. Die Rohheit wird definiert als eine gefühllose, fremde Leiden missachtende,1414 zum Teil auch als unbarmherzige und gefühllose Gesinnung.1415 Sie beschreibt sowohl eine innere Haltung als auch die Art und Weise der Ausführungshandlung.1416 Auch hier begegnet uns damit ein Zusammenspiel von objektiven Tat- und subjektiven Täterelementen. Die erheblichen Leiden fungieren dabei in erster Linie wohl als Indikator für die Feststellung der Gesinnung. Über die Gesinnung landet die allgemeine Ansicht wieder bei der Schuld. Dieser Befund ist aus mehrerer Sicht unbefriedigend. Eine unbarmherzige und gefühllose Gesinnung mag als ein höchstpersönliches Merkmal von Verwerflichkeit zu betrachten sein. Doch kann es dem Strafrecht nicht darauf ankommen. In Fällen wie diesen kann es kaum um Feststellungen tatsächlicher Art gehen. Damit wären die Gerichte heillos überfordert; jedenfalls dann, wenn sich der Beschuldigte zur Sache nicht einlässt. Es geht dann auch weniger um ein „Haben“ einer Gesinnung, denn als das „Zeigen“ derselben. In erster Linie wird hier ein soziales Deutungsschema angelegt. Wenn die schweren Leiden des Opfers nicht Mitgefühl wecken, erscheint uns dies unbarmherzig und gefühlskalt. Die Gesellschaft fasst diesen Handlungsmodus als grobe Verletzung der Norm auf. Das sollte im Grunde bereits die Unrechtsdimension berühren.1417 Eine überraschende Feststellung macht zudem derjenige, der die Gefühllosigkeit ins Extreme weiterdenkt. Der Idee nach wären dies Schuldsteigerungen. Ab einer gewissen Qualität der Rohheit würden allerdings Zweifel an der Menschlichkeit dieses Verhaltens aufkommen. So könnte es vorkommen, dass sich die Haltung in dem Maße steigert bis sich diese zu einer dissozialen Persönlichkeitsstörung verdichtet. Am Ende könnte eine schwere seelische Abartigkeit stehen, die die Schuld ausschließt. Die Schuld würde in dieser Konstruktion er1414
StGB-Fischer 67(2020), § 225 Rn. 9. SK-StGB/Hoyer (57. Lfg. Aug. 2003), § 225 Rn. 16. 1416 StGB-Fischer 67(2020), § 225 Rn. 9. 1417 Umgekehrt drohten dann sämtliche Unrechtselemente samt ihrem kognitiven Einschlag in die Schuld „abzuwandern“; so jedenfalls befürchtet von Stratenwerth, FS für H. v. Weber, (1963), S. 171 (180). 1415
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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heblich anwachsen können, bis sie sich an einem Umschlagpunkt auf Null reduziert. Wie dieses Phänomen auf dem argumentativen Boden erklärbar wäre, erscheint rätselhaft. Dieses Bild führt eindrücklich die Untauglichkeit der Schuldkonstruktion vor Augen. Die Rohheit gehört daher in die Unrechtsbeschreibung.1418 f) Diese Beispiele sind insgesamt Zeugnis der Fragilität der Begründungsansätze spezieller Schuldmerkmale. Gesinnungsmerkmale als eine Art überschießende Innentendenz zu konstruieren, durchbricht den Unrecht-Schuld-Konnex. In dieser Lesart geraten wir also unweigerlich in den Konflikt mit dem vom Schuldprinzip geforderten Tatstrafrecht.1419 Allenfalls wäre denkbar, sämtliche genannten Schuldmerkmale als unrechtsbegrenzende Faktoren zu begreifen.1420 Das setzt voraus, dass das tatbestandlich umschriebene Verhalten in der Anschauung bereits als Unrecht durchgehen kann. Das ist einmal zweifelhaft, wenn die prägende Gestalt des Unrechts erst durch diese Merkmale verwirklicht werden. Aber auch soweit der Unrechtscharakter ohne Rückgriff plausibel erscheint, müsste die Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung gesichert sein. Das muss allemal mit einem Fragezeichen versehen werden.1421 Gesinnungsmerkmale müssen daher prinzipiell unrechtskonstituierend gedacht werden. Die Entfernung von der ausgeführten Tat hin zur inneren Einstellung des Täters wirft im Übrigen die grundlegende Problematik der Legitimität1422 auf. Wenn also ein Abgleiten in ein Täterstrafrecht vermieden werden soll, so ist man gehalten, streng auf die Manifestation einer Gesinnung in der speziellen Tatsituation zu achten. Dem Tatschuldprinzip wird eine „sachliche“ Auslegung dieser Merkmale eher gerecht werden als eine Schau nach der vermuteten Tätergesinnung. Soweit sich die Gesinnung in der Tat manifestiert,1423 kann dies als Unrecht gelten,1424 alles darüber hinausgehende ist illegitim. Aufgrund ihres 1418 I. E ebenso trotz abweichender Begründung (kein Gesinnungsmerkmal) NK-StGB/ Paeffgen/Böse 5(2017), § 225 Rn. 16. 1419 NK-StGB/Puppe 5(2017), §§ 28, 29 StGB Rn. 20; dies., ZStW 120 (2008), S. 504 (521); insoweit auch Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 111. Zum materiellen Schuldprinzip (eigentlich: materieller Verbrechensbegriff) auch oben. 1420 Andeutungen in diese Richtung bereits bei Hardwig, ZStW 68 (1956), S. 14 (24). 1421 Mit Schroeder, FS Eser (2005), S. 181 (185), kann man feststellen, dass spezielle Freistellungsregelungen anzeigen, dass die eigentlich Regelung zu weit geraten ist. Das würde dann auch für strafeinschränkende Schuldregelungen gelten. 1422 Zur Diskussion s. die Nachweise in Fn. 1395. 1423 Stratenwerth, FS für H. v. Weber, (1963), S. 171 (174) betont die Bedeutung des Sachverhalts, der hinter dem Gesinnungsurteil steht; vgl. auch Timm, Gesinnung und Strafrecht (2012), S. 146 ff., 221. 1424 Hirsch, FS Lüderssen (2002), S. 253 (258); Otto, Strafrecht AT 7(2004), § 12 Rn. 15; Puppe, ZStW 120 (2008), S. 504 (523). Von daher wird Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 110 f. in der Anerkennung „reiner Schuldmerkmale“ auch nicht gefolgt. Das gewählte Beispiel (Lebensalter eines Täters im Bereich der §§ 176, 182 StGB) überzeugt auch nicht. Auch wenn es im Ergebnis einen Unterscheid ausmachen kann, welches Alter der Täter mitbringt, so hat gerade das Alter in seiner statischen Zahl wenig Aussagekraft, weil mangels sinnvoller Normativierung keine Kompetenzstufen in einer Lebensbiographie definiert werden können. Spezielle Opferdispositionen, welche jeweils den Strafzweck des
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
Wertbezuges sind Gesinnungsmerkmale allenfalls subjektive Tatbestandsmerkmale:1425 die Hypothese von speziellen Schuldmerkmalen kann verworfen werden. 7. Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit haben neben ihrer Tatbestandsfunktion1426 auch ihre Bedeutung auf der Schuldseite. Auf Seiten der Fahrlässigkeit erfüllt die sog. subjektive Fahrlässigkeit diese Aufgabe, im Falle des Vorsatzes ist von der sog. „Doppelstellung des Vorsatzes“1427 die Rede. a) Ihre Existenz als eigenständige Kategorie verdankt die Vorsatzschuld einzig ihrem Lösungspotential in Sachen des Erlaubnistatbestandsirrtums, nämlich um die Rechtsfolgen des § 16 Abs. 1 StGB auf der Schuldebene herstellen zu können. Für die Vertreter der „strengen Schuldtheorie“ ist sie freilich ein Kunstprodukt, denn aus deren Sicht liefert sie keinen brauchbaren Beitrag für den Verbrechensaufbau und ist folgerichtig verzichtbar. Gleichwohl lässt sie sich als ontisch existente Kategorie diskutieren, denn immerhin könnte sich der Gesetzgeber (doch noch1428) dazu entschließen, den Erlaubnistatbestandsirrtum in Form eines dritten Irrtums im Gesetz eigenständig zu etablieren. Nach den Ausführungen über die Struktur des Unrechtsbewusstseins gilt aber auch in diesem Fall: die Vorsatzschuld wäre auch dann entweder nur ein Synonym1429 für das Unrechtsbewusstsein als Schuldmoment, denn es geht einzig um die subjektive Rechtstreue, oder ins Negative gewendet, um das Wissen, sich nicht mehr auf
Tatbestands aktualisieren, können junge Täter vorfinden – man denke an die sog. „Loverboy“Methode, bei welcher männliche Täter bevorzugt im ähnlichen Alterssegment einem Mädchen oder einer jungen Frau eine Liebesbeziehung vorgaukeln. Gleichsam kommen aber ältere Männer in Betracht, die aus sozialer Stellung und wirtschaftlicher Macht Gefügigkeit herstellen können. 1425 So noch Gropp, Strafrecht AT 3(2005), § 7 Rn. 12 mit Verweis auf Jakobs, Strafrecht AT 2 (1993), 8/98, nicht mehr bei Gropp, Strafrecht AT 4(2015), § 6 Rn. 24. 1426 Es muss eingangs daran erinnert werden, dass die finalistische Prämisse sich weitgehend auch unter Nicht-Finalisten etabliert hat, vgl. Herzberg, FS BGH IV (2000), S. 51 (52). Die Tatbestandsfunktion wird hier vorausgesetzt, auch wenn sie sachlich nicht zwingend ist; entsprechend Herzberg, a. a. O., S. 54. 1427 Bereits bei Gallas, ZStW 67 (1955), S. 1 (46); ders., FS Bockelmann (1979), S. 155 (170); Wolter, Objektive und personale Zurechnung (1981), S. 152; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 200 ff.; weitere Nachweise bei Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 239 (257) in Fn. 144. Vgl. auch B. Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken (1984), S. 1 (61). 1428 E 1962 (in § 20) und der AE-1969 (in § 19 II) enthielten jeweils einen Regelungsentwurf. 1429 Schon bei Langer, Das Sonderverbrechen 2(2007), S. 127.
A. Gehalt und Inhalt einer rechtlich verstandenen Schuld
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der Ebene des Rechts zu bewegen. Oder aber es wird lediglich die Rückanbindung an die Tatbestandsmäßigkeit begrifflich dupliziert.1430 Die Bezeichnung als Irrtum eigener Art1431 verfehlt dementsprechend in jedem Fall die strafrechtliche Begrifflichkeit. Ein kodifizierter Erlaubnistatbestandsirrtum bliebe sachlich ein spezieller Verbotsirrtum, der in falscher Tatsachenwahrnehmung seinen Ursprung hätte. Ob diese Besonderheit eine gesonderte Rechtsfolge rechtfertigte, kann hier getrost offen bleiben.1432 Die Rede von der Vorsatzschuld bleibt neben dieser Erkenntnis selbstverständlich nützlich, weil sie die Bedeutung eines solchen Sachverhalts für die Vorsatzstrafbarkeit adäquat herausstellt. Fernab dieser Problematik hat der Vorsatz immer Schuldrelevanz, da jedes Unrechtselement in der Schuld quasi widergespiegelt wird. Sofern kein Schuldausschließungsgrund für den Täter wirkt, erhebt die Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Täter in Bezug auf den Tatbestandsverwirklichungswillen (Vorsatz) einen Vorwurf. Der Vorsatz in finaler Deutung wird so zur Willensschuld im Sinne eines „schuldhaft gebildeten Tatbestandsverwirklichungswillens“.1433 b) Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte ist die Bemühung einer subjektiven Komponente seit langem anerkannt. Die Konstruktion der subjektiven Fahrlässigkeit als Schuldmoment hängt wesentlich auch davon ab, wie der Unrechtsgehalt des Fahrlässigkeitsdelikts bestimmt wird. Soweit ein individueller Maßstab bereits im Handlungsunrecht aufgeht,1434 lässt dies für eine subjektive Prüfungsstufe kein gesondertes Material. Aber auch der Bezugspunkt eines möglichen objektiven Fahrlässigkeitsunrechts kann alternativ, ggf. kumulativ, in Kriterien der Sorgfaltspflicht, Vorhersehbarkeit (Erkennbarkeit) und Vermeidbarkeit variieren. Dementsprechend wird eine subjektive Komplementärerscheinung in der Schuld gebildet. Die Rückbindung der Fahrlässigkeit an die allgemeine Schuldtheorie1435 ist derweil nicht unproblematisch. Der Schuldgehalt selbst (zumindest) der (unbewussten) Fahrläs1430
Für die Strafbegründung („Ob“) ist diese Einteilung nach Vorsatz und Fahrlässigkeit im Grunde unergiebig, vgl. etwa Erb, FS Paeffgen (2015), S. 205 (214). 1431 So die weitläufige Annahme, vgl. den Meinungsstand bei T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 335. 1432 Dahinter steht die (meist unausgesprochene) Privilegierung von Irrtümern auf Sachverhaltsebene, deren Berechtigung durchaus hinterfragungswürdig erscheint; nicht zuletzt, weil die Folgen eines Sachverhaltsirrtums weitaus gravierender sein können als die eines bloßen Rechtsirrtums. Die fehlende Folgenorientierung in der Diskussion mahnt jüngst Lüderssen, FS Paeffgen (2015), S. 193 (199 f.) an. Eine ausführliche, neuerliche Revision des Irrtumsrechts legt T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 389 ff.; 422 ff., mit Vorschlag einer Neuregelung (S. 443) vor. 1433 Zum Unrecht als Schuldmoment s. unter III. 1. zu dessen Bedeutung im allgemeinen Verbrechensmodell sei auf die Ausführungen unter III. 4. verwiesen. 1434 So z. B. Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 9/5 ff. 1435 Eine historische Annäherung zu den Ansätzen bietet Börchers, Schuldprinzip und Fahrlässigkeit (2009), S. 114 ff.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
sigkeit1436 hat im Laufe der Zeit seine Kontroversität nie ablegen können, insbesondere das Primat einer Willensschuld als Kern der Vorwerfbarkeit hat im Hinblick auf die Erklärbarkeit seine Grenzen. Generalpräventive und kollektivierte Schuldtheorien mögen dies begrifflich kompensieren können,1437 zeigen aber gleichwohl auf, dass die (schuldhafte) Fahrlässigkeit im Grunde ein Rechtspolitikum ist. Trotz aller Mängel ist die Abschaffung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit jedoch nie ernsthaft erwogen worden.1438 Von daher ist zu vermuten, dass eben Begründungsmängel und offene Fragen an die Straftheorie und die Dogmatik des Fahrlässigkeitsdelikts zurückgegeben werden müssen.1439
IV. Bedeutung der Erkenntnisse für die Architektur der Schuld Die drei gesetzlichen Säulen (§§ 17, 20, 35 StGB) erweisen sich als notwendige, aber auch hinreichende Träger einer Architektur der Schuld. Weitere Schuldmerkmale, insbesondere Gesinnungsmerkmale haben in diesem Konzept keinen legitimen Platz. Die gültige strafrechtliche Schuld ist aber auch von diesen gesetzlichen Säulen unlöslich. Sie lässt sich nur anhand der gesetzlichen Vorschriften entwickeln. Folglich braucht es keine Definition der Schuld(fähigkeit) als solche. Die Schuldfähigkeit als solche ist dann kein Parameter, sondern ist eine rechtliche Schlussfolgerung, welche aus hinreichender Kondition von Intellektualität und Volition gebildet wird.1440 Die Schuld gliedert sich demnach in eine intellektuelle und voluntative Komponente. In diesem Sinne ist Schuld stets positivistisch1441 zu verstehen. Es hat sich ferner gezeigt, dass die Säulen normativ auf dem Boden der Zumutbarkeit basieren. § 35 StGB ist ausdrücklich Derivat einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, bei den §§ 17, 20 StGB sind zumindest normative Heuristiken zu beobachten, die ihren Fluchtpunkt in der Zumutbarkeit haben. Die Zumutbarkeit ist dabei ein normatives Verantwortungsverteilungsprinzip, welches die unterschiedlichen Risikosphären zwischen Individuum und Gesellschaft abgrenzt. Ein solches Prinzip der Zuständigkeitszuweisung wird immer dann eingesetzt, wenn 1436 Zur Kritik daran allen voran Art. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2(1976), S. 164, 239; s. auch Koriath FS Jung (2007), S. 397 (399). Zu der Thematik auch Armin Kaufmann, ZfRV 1964 S. 41 (44 f.). 1437 Als Beispiel Jakobs, FS Kühl (2014), S. 281 (291 f.), dessen Ausführungen nahelegen, die unbewusste Fahrlässigkeit als „Organisationsverschulden“ (als: fehlende Gewissheit, dass das fragliche Verhalten das erlaubte Risiko einhält) zu begreifen. Das ist konstruktiv nicht zu beanstanden. 1438 Ebenso resümiert Börchers, Schuldprinzip und Fahrlässigkeit (2009), S. 197. 1439 Ein Überblick zum aktuellen Stand für den deutschsprachigen Bereich findet sich bei Schmoller, FS Kühl (2014), S. 433 (436 ff.). 1440 Insoweit auch Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik (1990), S. 163. 1441 Methodisch insoweit übereinstimmend Herzberg, GA 2015, S. 250 (258 f.).
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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die Empirie den Rechtskonflikt nicht auflösen kann, sei es aufgrund unsicheren Wissens in dem Bereich (§ 20 StGB) oder sei es, dass die Empirie grundsätzlich keinen Beitrag leisten kann.1442 In diesem Kräftespiel artikuliert sich das Verhältnis von Empirie und Normativität in den Schuldbegründungsstufen. Die Zumutbarkeit als Zentralbegriff der Schuldlehre bedeutet argumentative Rückbesinnung auf originäre Normativität. Der Preis ist in diesem Kontext die Aufgabe eines ultimativen Wahrheitsanspruches, den normative Werturteile nicht leisten können. Wahrhaftigkeit eines Werturteils gibt es nur in Form seiner Gültigkeit, welche wiederum von seiner Überzeugungskraft gespeist wird. Eine empirische Fundierung ist zwar notwendig, um die Gültigkeit des normativen Anspruchs vertreten zu können. Empirische Einheiten können selbst normative Aufgaben aber nicht übernehmen. Die Empirie der Schuld muss demnach in der normativen Basis verwurzelt bleiben. Empirie und Normativität unterhalten somit keinen strikten Antagonismus. Stattdessen gehen sie eine symbiotische Wechselwirkung ein. Der Rückgriff auf die Unzumutbarkeit ist in dem Sinne auch kein direkter Mangel des Systems, sondern führt die Betrachtung lediglich auf die Basiseinheit zurück. Der einzig einklagbare Mangel ist insoweit eine fehlende Ausdifferenzierung im System. Dieser Ausdifferenzierung obliegt der Strafrechtswissenschaft, resp. Schulddogmatik, also auch zukünftig als Aufgabe.
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem I. Notwendigkeit der Zusammenführung von Strafzumessungsund Strafbegründungsschuld Wie am Ausgangspunkt dieser Untersuchung vorgestellt, lässt sich das strafrechtliche Phänomen der Schuld nach ihrer Funktion dreiteilen. Schuldidee, Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld sind insoweit selbständige Systemeinheiten. Allein aus dieser funktionellen Aufgliederung innerhalb der Architektur des Straftataufbaus muss noch keine Trennung im begrifflichen Sinne folgen. Dennoch wird im Allgemeinen daraus geschlossen, dass diese drei Typen von Schuldbegriffen sich in inhaltlicher Unabhängigkeit zueinander verhalten.1443 Gleichzeitig wird seit jeher diese Aufspaltung als strafrechtliches Schisma empfunden.1444 Dafür gibt es 1442
Diese Erkenntnis findet sich bereits bei Volk, FS BGH IV (2000), S. 739 (749 f.). Hier hat sich die Trennungsthese von Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 5, 10 ff. und passim, insgesamt durchgesetzt, vgl dazu MüKo-StGB/ Radtke 4(2020), Vor §§ 38 Rn. 15. 1444 In diesem Kontext zu sehen sind die Stimmen von B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 190; Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 81 ff.; MüKo-StGB/ Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 15; Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 241 sowie auch Frisch, FS Pötz-140 Jahre GA (1993), S. 1 (7). Die von Frisch auch als „Fortschreibungsthese“ bezeichnete Zusammenführung wird neuerdings in ihrer Notwendigkeit aber offengehalten, Frisch, GA 2014, S. 489 (494: „nicht 1443
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
gute Gründe. Zum einen ist logisch schwerlich erklärbar, warum denn, obwohl im Begriffskern (Schuld) sich eine Gemeinsamkeit findet, von sachlicher Unterschiedlichkeit die Rede sein soll. Es bleibt nur dies (wenig überzeugend) als Zufall zu deklarieren oder (resp. und) für dieses gesetzestechnische Missgeschick den Gesetzgeber zu tadeln. Viel einleuchtender wäre es, wenn der Wortstamm „Schuld“ auch eine terminologisch-inhaltliche Verwandtschaft ausdrücken soll. Noch unbefriedigender muss die Einschätzung aus der Warte der Rechtssystematik sein, da die Trennungsthese die Legitimation der Strafverhängung in Frage stellt. Schließlich soll die Rechtsfolge, welche über den Begriff der Strafzumessungsschuld konkretisiert wird, auf Basis der schuldhaften Tat im Sinne der Strafrechtsgesetzgebung gefunden werden. Auf das Prinzip gewendet ist alle Schuld Strafbegründungsschuld. Denn die Legitimation der Strafe an sich über die Schuld, mithin das geltende Schuldstrafrecht, begründet die Strafe, in dem sie die Möglichkeit der Strafverhängung an das Vorliegen von Schuld knüpft. Bei der forensischen Behandlung der konkreten Tat wird die Zurechnung zur (hier: straftatsystematischen) Strafbegründungsschuld mit der Unrechtskenntnis und der Fähigkeit, entsprechend dieser zu handeln, begründet. Schlussendlich muss die Schuld, will sie gerecht verhängt sein, die Höhe jeder Strafeinheit (ob Tage des Freiheitsentzugs oder den Geldtagessatz) begründen können. Um an den eingangs der Untersuchung erwähnten Stufenprozess zu erinnern – warum sollte schließlich das „Wie“ der Strafe vom „Ob“ der Strafe zu trennen sein? Rückt das Tatschuldprinzip die Tat in den Mittelpunkt, muss für die Strafmaßfindung die Tat das Urteil tragen, denn das Strafquantum soll die Tat widerspiegeln. Das Tatschuldprinzip selbst verlangt also eine gedankliche Verbindung von Tatbestandsund Strafzumessungslehre.1445 Eine inhaltliche Integration ist ob dieses Zusammenhangs der drei Dimensionen unabweislich.
II. Möglichkeiten und Problemfelder einer Zusammenführung 1. Problemeinführung Bezogen auf die Schuldidee bereitet dieses Anliegen weniger Probleme. So gewollt, kann man bereits die Schuldidee als einen integrativen Oberbegriff auffassen. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrad führt dies in der konkreten Einzelbetrachtung nur nicht weiter. Dies liegt am dialektischen Charakter des Begriffs der Schuldidee, der These (Schuldinhalt) und Antithese (Schuldkritik) verbindet. Das heißt nichts anderes, als dass aus der Fülle der geistesgeschichtlichen Ideen zur Schuld keine verbindliche, einzigartige Schuld an sich deduzierbar ist, sondern – je nach Standpunkt in der Diskussion – auch das genaue Gegenteil sich folgern lässt. Diese loselbstverständlich“, u. 497 ff.). Die Strafzumessungsschuld aufgeben will Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (39, 63). 1445 Nicht unangefochten: gemäß Bruns, Neues Strafzumessungsrecht? (1988), S. 17 gilt ein „Selbstständigkeitsgrundsatz“ der Strafzumessungslehre.
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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gische Autarkie1446 befreit Aussagen zur Schuldidee von positivistischen Zwängen1447 und lässt sie systemunabhängig. Die Schuldidee ist begriffshierarchisch auf der Metaebene angesiedelt und damit selbst systembildend. Anders verhält es sich mit Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld. Beides sind Systembegriffe der geltenden Gesetzeslage und dieser verpflichtet. Das Normengefüge der §§ 17, 20, 35 StGB konstituiert die Strafbegründungsschuld und ist der Tatbestandslehre zugehörig. Der Systembegriff der Strafzumessungsschuld wird, klammert man Strafart und Vollstreckungsmodalität vordergründig aus, von § 46 StGB gekennzeichnet. An einem einfachen Beispiel lässt sich nun das Spannungsverhältnis beider Systembegriffe problemlos aufzeigen. Gemeinhin gelten die Faktoren des § 46 Abs. 2 StGB als solche der Schuld.1448 Während § 46 StGB in Abs. 2 das Vorleben des Täters, welches nicht direkt das Deliktsgeschehen abbildet, für die Strafzumessung verwendbar erklärt, ist in § 20 StGB die Rede von der Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat. Letzteres bezeichnet das sog. Koinzidenzprinzip, ein zentrales Merkmal des Tatschuldprinzips. Das Tatschuldprinzip bindet das Strafbarkeitsurteil an sachlich und zeitlich enge Voraussetzungen und bildet von der Idee her das Antonym zum Täterstrafrecht. Maßgebliche Beurteilungszeit ist die Tathandlung, welche sich zwischen Versuchsbeginn und Vollendung erstreckt.1449 Mit dieser zeitlich engen Umgrenzung soll dem Gedanke einer Lebensführungsschuld eine Absage erklärt werden.1450 Von dieser zeitlichen Begrenzung geht § 46 StGB offenkundig nicht aus. Soweit man beide Systeme im Ergebnis voneinander unabhängig denkt, könnte man es freilich bei diesem Befund bewenden lassen. Andererseits bleibt aber dann die Frage unbeantwortet, welches Substrat der Strafzumessungsschuld zugrunde liegen soll, wenn diese mit der Begrifflichkeit der Tatdogmatik nicht erschöpfend charakterisiert werden kann. Wenn es doch bei der Frage der Schuld immer nur um Rechtsschuld gehen kann, kann es gar keinen von der Unrechtsbetrachtung abgelösten Schuldsachverhalt geben. Das Recht denkt im Binärcode Recht-Unrecht, so dass jegliche Schuld, die keine Entsprechung im Unrecht aufweisen kann, als „überschießende Innentendenz“ ohne rechtliche Bewandtnis ist. Ein Nebeneinander der Systeme ließe ein intolerables Legitimationsdefizit zurück.
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Hier im ursprünglichen Sinne: grie. aqt\qjeia, autárkeia: Selbständigkeit. Im Hinblick auf das Grundgesetz als Verfassung wird man dies vielleicht nur bedingt gelten lassen wollen. Ein Schuldmodell, welches Rechtsgeltung erlangen will, muss wenigstens verfassungskonform sein. Dennoch muss die Diskussion nicht zwingend im Rahmen der (aktuellen) Verfassung stattfinden; allein schon wenn man eine supranationale Dimension mit einbeziehen möchte. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass historisch die Schuldidee älter als das Bonner Grundgesetz ist. 1448 Sch/Sch-StGB/Stree/Kinzig 29(2014), § 46 Rn. 9a. 1449 Zur Zeitspanne StGB-Fischer 67(2020), § 20 Rn. 48. 1450 Die Problematik der Lebensführungsschuld im 1. Kapitel, A. IV. 1. e). 1447
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
2. Lösungsstrategien zur Auflösung der Schulddichotomie a) Die deduktive Methode auf Basis des Straftatbegriffs Die klassische Lösungsstrategie der Zusammenführung ist die Ableitung aus dem Verbrechensbegriff. Aus dem gefestigten Kanon Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld müssen sich die Strafzumessungsgründe, mithin die Strafzumessungsschuld im Sinne von § 46 StGB, folgern lassen. Für einige Faktoren gelingt dies recht unproblematisch über eine Zuordnung zu den Kategorien von Erfolgs- bzw. Handlungsunrecht. Neben der Art und Schwere und des tatbestandlichen Erfolgs können demnach auch die Auswirkungen der Tat (unter Zugrundelegung der Zurechnungslehren) dem Erfolgsunrecht zugeordnet werden. Die subjektiven Faktoren (Art der Ausführung, Maß der Pflichtwidrigkeit, der bei der Tat aufgewendete Wille, Beweggründe und Gesinnung des Täters) können mit dem Handlungsunrecht einer Tat assoziiert werden.1451 Problempunkte stellen jeweils das Vor – und Nachtatverhalten dar, da beide Aspekte sich zeitlich außerhalb des materiellen Tatbegriffs bewegen. In der Logik eines Tatstrafrechts liegt es indes, dass nur Momente der Tat Eingang in die Beurteilung finden können. Mit dem engen Korsett des Tatbegriffs ist die angestrebte Verwertung des Vor- und Nachtatverhaltens eigentlich nicht zu vereinbaren. Diesem Dilemma zu entziehen hat sich die Rechtsprechung mit der Strategie der sog. Indizkonstruktion1452 abgeholfen.1453 Um den Verdikt der Konstruktion einer Lebensführungsschuld1454 zu entgehen, wird das Vor- und Nachtatverhalten daraufhin untersucht, inwieweit es Rückschluss auf die innere Konstitution des Täters während der rechtlich relevanten Tatzeit liefern kann. Besteht ein solcher „innerer Zusammenhang“, gilt eine Verwertung als unproblematisch. aa) Gemessen am Vortatverhalten ist dabei weniger problematisch die Behauptung eines inneren Zusammenhangs. Freilich bleibt streitbar,1455 inwieweit ein Vortatverhalten überhaupt auf den Moment der Tatbegehung fortwirken und deswegen Verwertung finden kann. Die Plausibilität einer prozessualen Beweisbarkeit kann hier zunächst dahinstehen. Das eigentliche Problem der Indizkonstruktion ist es, diese mit den Begriffen der (bisherigen) Straftatlehre einzufangen. Über den 1451 Mit Ausnahme der Gesinnung vgl. Abb. 4.3 bei Meier, Strafrechtliche Sanktionen (2019), S. 223; abw. früher die Vorauflage 2(2006), S. 183. So wie hier: Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 586. 1452 Mit dem Heranziehen eins Indizes (lat.: indicare, anzeigen) ist dabei noch kein Methodenwechsel zur induktiven (von induco, lat. hineinführen, -bringen) Methode verbunden. Die Strategie lässt sich als induktiv kennzeichnen, dient aber der Aufrechterhaltung des deduktiven Modells. 1453 Grundlegend Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 565 ff., 572, weiterhin Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 641; Schöneborn, GA 1975, S. 272 (277). 1454 So der Einwand bei Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (137). 1455 Zur hiesigen Behandlung im 2. Teil, 1. Kapitel, B.V.
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Inhalt der Strafbegründungsschuld lässt sich keine Graduierung meistern. Die Vorwerfbarkeit wird zwar gemeinhin als der Maßstab der Schuld gesehen, Vorwerfbarkeit selbst ist aber kein Maßbegriff. Das gilt schon allein für die sprachliche Ebene des Worts, so dass man mit guten Gründen anzweifeln kann, ob „vorwerfbar“ ein der logischen Komparation zugängliches Adjektiv ist. Dessen ungeachtet lässt sich Vorwerfbarkeit als Substrat der Schuldbegründungsschuld strafrechtssystematisch nicht als steigerungsfähig auffassen. Die Operationalisierung qua Einsichtsund Steuerungsfähigkeit liefert die Strafbegründungscharakteristika. Das ergibt technisch einen Zurechnungsmodus, der über die vollwertige Zurechnung nicht hinausgehen kann. In Zahlen ausgedrückt etwa bedeutet „vollwertig“ eine Zurechnung der Tat zu 100 %. Darüber hinausgehend fehlt es an einem logischen Zurechnungssubstrat. Mehr als das verursachte Geschehen kann man nicht zurechnen, jedenfalls nicht aus Schuldgesichtspunkten.1456 Eine geminderte Zurechnung dagegen bleibt konstruktiv möglich. Diese teilweise Graduierbarkeit ändert aber nichts daran, dass die Strafzumessungsschuld nicht das Maß der Vorwerfbarkeit misst.1457 Messtechnisch gesehen ist das Unrecht in der Relation „Vorwerfbarkeit des Unrechts“ die unabhängige Variable und wird als veränderliche Größe gar nicht erfasst. Denn ein Mord (§ 211 StGB) begangen unter den Voraussetzungen des § 21 StGB ergibt nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB einen Strafrahmen von 3 bis 15 Jahren, während das Gesetz eine Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) bei voller Einsicht und Steuerung mit einer Spannbreite von 6 Monaten bis 5 Jahren bestraft. In der Logik der Strafbegründungsschuld läge es, die Tötung auf Verlangen als das „vorwerfbarere“ Geschehen auszuweisen, da im Beispiel eine volle Zurechnung einer verminderten gegenübersteht. Ersichtlich würde das aber so nicht formuliert werden. Denn entscheidend ist für die Strafzumessungsschuld nicht eine (fiktive) Zurechnungsquote, 1456
Vgl. Hörnle, JZ 1999, S. 1080 (1087); dies., Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 269, 328, im Grundsatz auch Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften (1992), S. 289; Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (242); ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (289); Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 83, 412; Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 130; Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (65); Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 217 ff., 220. Abweichend Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 102 ff., 107, der die Dogmatik zu § 17 StGB als Anhaltspunkt für bewegliche „Schuldbetrachtungen >100 %“ begreift. Richtig ist insoweit, dass das Gesetz ein bedingtes Unrechtsbewusstsein als hinreichend vorsieht. Im Grunde markiert das bedingte Unrechtsbewusstsein aber nur den Umschlagpunkt, ab wann ein solches Unrechtsbewusstsein (bereits) vorliegen soll. Entsprechend der Funktion eines Binärcodes gibt es an der Stelle auch (noch) keine quantitative Komponente zu betrachten. Daran ändert zum einen auch die Existenz von § 17 S. 2 StGB nichts. Sie suggeriert systemwidrig, dass es eine Vorsatztat unterhalb einer ihrer hinreichenden Bedingungen geben könnte. Zur „stimmigeren“ Einordnung als straftatmodifizierende Vorschrift 2. Kapitel, A. III. 2. d). Zum anderen Aspekt des „höheren Unrechtsbewusstseins“ sogleich im Text. 1457 A. A. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 190, S. 196; Gössel, FS Tröndle (1989), S. 357 (361 f.); ähnliche Tendenz bei Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 577 i. V. m. Rn. 603: Handlungsunwert als Maß der Vorwerfbarkeit.
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sondern das Zurechnungsergebnis in toto, welches auch das verwirklichte Unrecht berücksichtigt. In Wahrheit geht es also um das vorgeworfene (verschuldete) Unrecht, nicht um die Vorwerfbarkeit des Unrechts an sich. Strafzumessungsschuld kann also nur das Unrecht abbilden. bb) Zurück zum Ausgangspunkt der Überlegung bleibt damit allein der Versuch einer thematischen Anbindung des Vortatverhaltens über das Unrecht. Das herkömmliche Unrechtsverständnis kann die Indizkonstruktion aber kaum überzeugend verarbeiten. Eine Verbindung zum Erfolgsunrecht wird durch etwaiges Vortatverhalten kaum herzustellen sein,1458 da eine rechtsgutbasierte Schadensvertiefung nicht eintritt. Nur eine extensive Auslegung des Handlungsunrechts könnte deshalb eine Integration des Vorlebens des Täters in den Tatbegriff gewährleisten. Am Beispiel der Vorstrafenbelastung, den einzig forensisch relevanten Anwendungsfall, wird häufig ein „Warneffekt“ von der vorausgehendenden Verurteilung entwickelt.1459 Als Anknüpfungspunkte werden eine geschärfte Gefahrenkenntnis (betreffend den Tatvorsatz)1460 oder eine verdeutlichte Verbotskenntnis (Schärfung des Unrechtsbewusstseins) genannt.1461 Ein solches Gedankenmodell bewahrheitet sich so aber nicht in der Praxis. Der spezialpräventive Ansatz eines Warnungserfolgs ist durch den wiederholten Rechtsbruch im Grunde widerlegt.1462 Die Praxis neigt dennoch generell zur Anhebung des Sanktionsniveaus bei wiederholter Straftatbegehung.1463 Stützen könnte eine solche Praxis die Vermutung eines höheren Unrechtsbewusstseins. Den wiederholten Rechtsbruch als Gegenstand höherer Hemmschwellen zu begreifen, dürfte allerdings in der Allgemeinheit nicht zutreffen.1464 Mindestens genauso naheliegend ist der gegenteilige Effekt, nämlich die zunehmende Ent-
1458
Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 207 f. Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 565; Waldeyer, Die Bedeutung eines rechtskräftigen Strafurteils (2006), S. 10 ff. 1460 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften (1992), S. 271 ff. 1461 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften (1992), S. 274. 1462 Die kriminologische Frage, wann und unter welchen Bedingungen ein Abbruch einer „kriminellen Karriere“ zu registrieren ist und welche Rolle bzw. Gewicht die staatliche Ahndung dabei einnimmt, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Verwiesen werden soll nur auf zwei Beobachtungen: erstens eine hohe Prävalenz der Episodenhaftigkeit von Kriminalität. Der erste Kontakt ist häufig auch der letzte. Zweitens ist zu jeder Phase ein Abbruch von Sanktionskarrieren zu beobachten, relativ gesehen steigt die Wahrscheinlichkeit des Ausstiegs sogar mit der Zunahme der Verurteilungen, vgl. Kerner, FS Kaiser (1998), S. 141 ff., zu den Befunden (S. 153) einerseits, (S. 158) anderseits. 1463 Vgl. in chronologischer Abfolge die empirischen Studien oder Berichte bei H.-J. Albrecht, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen (1983), S. 1297 (1309); B.-D. Meier, in: Kerner/Kury/Sessar, a. a. O., S. 1333 (1350 ff.); C. Pfeiffer, FS Blau (1985), S. 291 (294 ff.); Klose, Die Bestrafung von Rückfalltätern (1989), S. 171 ff.; 229; H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität (1994), S. 413 ff.; Höfer, Sanktionskarrieren (2003), S. 104 ff., 150. 1464 Bereits Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften (1992), S. 67 ff. u. 77 f. 1459
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hemmung und eine daraus resultierend verminderte Steuerungskraft.1465 Von daher weist eine solche Argumentation mindestens ambivalente Züge auf.1466 Gesteigerte „kriminelle Energie“, die sich auf das Strafwürdigkeitsempfinden auswirkt, ist indes schon keine Kategorie des Unrechtsbewusstseins. Das Unrechtsbewusstsein ist nur eine de facto Bestandsaufnahme der kognitiven Verarbeitung einer Verbotsnorm. Einsicht ist vorhanden oder nicht, eine beschränkte Einsicht gibt es in diesem Zusammenhang gerade nicht. So wenig wie die innere Zustimmung zur Verbotsnorm ein Merkmal des Unrechtsbewusstseins ist,1467 so wenig muss auch der Grad der Missachtung für das Unrechtsbewusstsein eine Rolle spielen. Die Idee, dass der Vorsatz durch entsprechendes Erfahrungswissen vergangener Taten geprägt sein kann, weist zwar eine nicht abzuweisende Plausibilität auf. Doch muss man die straftatsystematischen Folgen im Blick behalten. So kann sich im konkreten Fall eine tatsächliche Verschiebung in der Annahme von Fahrlässigkeit zu Vorsatz, insbesondere im Hinblick auf mittelbare Straftatfolgen, ergeben. Der Täter weiß bei wiederholter, womöglich einschlägiger Begehung von Verbrechen um die typischen Folgen seines Handelns, die vorher nur ein abstraktes, wenig greifbares Produkt etwaigen Nachdenkens hätten sein können. Dieser Effekt kann dann das Zurechnungsergebnis einzelner Tatfolgen beeinflussen, bleibt aber auf Verwertung im Rahmen subjektiver Zurechnung beschränkt. Die Tat weist deswegen keinen „qualifizierten Vorsatz“ auf.1468 Mit der klassischen Dogmatik der Tat lässt sich die Verwertung des Vortatverhaltens derart nicht vereinbaren. 1465 Giannoulis, ZIS 2014, S. 522 (524); Haffke, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 197 (208); Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 41, 130; jeweils mit Nachweisen. 1466 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (773 f.) zu beiden Erklärungsmustern; vgl. weiter Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 235; M. Walter, GS H. Kaufmann, 1986, S. 493 (501 f.). Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 566. 1467 S. zur Konstruktion des Unrechtsbewusstseins s. 2. Kapitel, A. III. 2. e). 1468 Zwar wird gemeinhin zwischen verschiedenen Vorsatzarten unterschieden. Soweit gesetzliche Vorschriften „Absicht“ oder „sicheres Wissen“ zur Tatbestandsverwirklichung verlangen, spricht die Wissenschaft von „qualifiziertem Vorsatz.“ Das gilt aber zunächst in erster Linie in Bezug auf die Abgrenzung zum dolus eventualis. Ob diese Stufenlogik des Vorsatzes überhaupt zutrifft, wird in Zweifel gezogen, vgl. NK-StGB/Puppe 4(2013), § 15 Rn. 110 ff. Unzutreffend ist die Stufenlogik jedenfalls für die Binnendifferenzierung der Fälle des dolus directus; entgegen Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 317. Die Einteilung in dolus directus 1. Grades (Absicht) und dolus directus 2. Grades (sicheres Wissen) ist letztlich dysfunktional, denn ein logisches Stufenverhältnis kann entweder aufgrund fehlender Teilidentität der Merkmale gar nicht bestehen. (Die Grade des Wissens und Wollens divergieren ja gerade). Oder es erübrigt sich durch vollständige Merkmalsidentität, für letzteres etwa NK-StGB/Puppe 4(2013), § 15 Rn. 111 ff., die sicheres Wissen nur als modifizierte Absicht betrachtet. Überdies darf man daraus noch nicht ableiten, dass bereits aus der abstrakten Begrifflichkeit der Vorsatzarten ein Gefälle in der Wertigkeit folge; so differenzierend hinsichtlich dolus directus und dolus eventualis LK-StGB-Vogel 12(2007), § 15 Rn. 77 und Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 29 III 3a, S. 299; im Ganzen ablehnend NK-StGB/ Puppe 4(2013), § 15 Rn. 115; allerdings nicht mehr in der Folgeauflage 5(2017). Zur Strafzumessung diesbezüglich noch noch im 2. Teil, 1. Kapitel, B. II. 2.
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cc) Noch eindeutiger liegt die Sache beim Nachtatverhalten. Auch hier wird wieder die Indizkonstruktion herangezogen.1469 Die Problematik zeigt sich im Vergleich zum Vortatverhalten verschärft, da die Idee eines „Fortwirkungscharakters in die Tat hinein“ der Sache nach ausscheidet. Eine Begründung mit einer Fernwirkung „aus der Tat heraus“ ist in der Argumentation wenig stichhaltig. Schon aus Gründen der Logik muss ein Rückschluss aus Geständnis, Reue oder renitentes Verhalten in einer contradictio in adiecto münden. Denn selbst eine für wahrhaftig befundene Reue sagt letztlich nichts über die Gesinnung bei Tatausführung aus. Skrupel bei der Tatausführung und anschließende Reue sind qualitativ verschiedene Sachverhalte und bedingen sich nicht gegenseitig. Und auch ein Geständnis kann man sich nicht bereits als in der eigentlichen Tat angelegt vorstellen, selbst wenn für den Fall eines Misslingens der Tat (d. h. ihre Aufdeckung) bereits im Vorfeld ein Geständnis eine Option für den Täter ist. Solche an den Tag gelegten Verhaltensweisen sind Reaktionen auf ein Geschehen und können nicht schon als Bestandteil der vorausgegangenen Aktion gesehen werden. Mögliche Strafzumessungsaspekte wie ein Geständnis, Reue oder renitentes Verhalten berühren daher nicht den klassischen Erfolgs- oder Handlungsunrechtstatbestand. Mit Abstrichen sind zwar für den Bereich von Vermögensdelikten Kompensationsleistungen mit erfolgsausgleichender oder mindernder Wirkung denkbar, doch sobald immaterielle und irreversible Schäden in die Betrachtung einbezogen werden, kann der herkömmliche Tatbegriff ein solches Geschehen nicht mehr abbilden. Mit Vollendung (spätestens Beendigung) der Tat gilt der Straftatbegriff im materiellen Sinne als abgeschlossen. Nicht ohne Grund werden Strafbefreiungsgründe, die sich zeitlich nach dem Verbotsverstoß greifen, von der h. M. als Privilegierungen jenseits von Unrecht und Schuld begriffen. Das gilt namentlich für den Rücktritt (§ 24 StGB)1470 bzw. „Rücktrittssurrogate“1471 sowie des Weiteren für die Verjährung.1472 Umso mehr müsste schließlich wundern, dass ein 1469 Brögelmann, JuS 2002, S. 1005 (1005); Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 575 ff., 591 f. 1470 Die Erklärungen für die Strafbefreiung des Versuchs divergieren hier beträchtlich. Die dogmatische Einordnung folgt im wesentlichen der straftheoretischen Fundierung; im Einzelnen Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 30 Rn. 1 ff.; Haas, ZStW 123 (2011), S. 226 (232 ff.). Wohl (noch) h. M. ist die Einordnung als persönlicher Strafaufhebungsgrund, so bei StGBFischer 67(2020), § 24 Rn. 2; NK-StGB/Zaczyk 5(2017), § 24 Rn. 5; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT 45(2015), Rn. 887. Abweichend davon SK-StGB/Rudolphi (20. Lfg. April 1993), § 24 Rn. 6 (Entschuldigungsgrund); Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 30 Rn. 29 (Unrechtsausschluss); als nachträglicher Unrechtsausschluss bei Amelung ZStW 120 (2008), S. 205 (242, 245); auf Unrechtsebene zuvor schon Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976), S. 175 ff., 178, fehlende „Unrechtserheblichkeit“. 1471 Gemeint ist im Wesentlichen die tätige Reue, Übersicht bei Maurach/Gössel, Strafrecht AT 2 7(1989), § 41 Rn. 134 f., wenn formell Vollendung eingetreten ist. Eine integrales Prinzip wird dahinter nicht vermutet, s. NK-StGB/Zaczyk 5(2017), § 24 Rn. 132; Sch/Sch-StGB/Eser/ Bosch 30(2019), § 24 Rn. 117 ff.; jedenfalls harrt es noch der Ausarbeitung. Für eine Basisregelung tätiger Reue nach österreichischem Vorbild (§ 167 II 2 öStGB) im allgemeinen Teil treten ein Jahn/Ebner FS von Heintschel-Heinegg (2015), S. 221 (233 f.). 1472 Die Verjährung ist im engeren Sinne kein Strafbefreiungsgrund, sondern Verfolgungsbzw. Vollstreckungshindernis. Die Rechtsnatur der Verjährung wird nicht einheitlich beurteilt,
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„minder schwerer Fall“ nach Lesart der tradierten Auffassung auch über § 46a StGB hergeleitet werden kann.1473 Das ist die Konsequenz, dass über die „Gesamtbetrachtung aller strafzumessungserheblichen Umstände“1474 auch der sachliche Regelungsgegenstand eines gesetzlich vertypten Milderungsgrunds verarbeitet werden kann. Mit der Enge des klassischen Tatbegriffs ist dies nicht zu leisten. Für Rückschlüsse in Bezug auf den Tatzeitpunkt der eigentlichen Deliktsbegehung taugt die Indizkonstruktion demnach nicht.1475 dd) Einen etwaigen Rückschluss erlaubt das Nachtatverhalten vielleicht allenfalls auf die Persönlichkeit des Täters zur Tatzeit.1476 Gemessen an ihrem summarischen Charakter dürften forensische Persönlichkeitsanalysen erstens kaum valide Ergebnisse produzieren1477 und ist zweitens eine Persönlichkeitsanalyse gar nicht Gegenstand strafrechtlicher Beurteilung. Gewürdigt und beurteilt werden soll zwar die je individuelle Tat. Dabei können auch Persönlichkeitsaspekte in den Charakter einer Tat einfließen, soweit diese den Tathintergrund erhellen. Niemals jedoch darf eine isolierte Persönlichkeitsanalyse für die Straffindung vorgenommen werden. ee) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass deduktive Ansätze, welche die Strafzumessungsschuld aus dem klassischen Straftatbegriff entwickeln, an dessen Grenzen scheitern.1478 Die Indizkonstruktion bemüht sich rein formal die Passform des Tatbegriffs zu wahren. Der Versuch wirkt aber nicht nur gekünstelt, sondern ist auch von geringer Reichweite. In ihrem Aussagegehalt erreicht die Indizlösung zu einem Teil nicht die den Strafzumessungserwägungen zugrundeliegende Ratio, zu einem anderen Teil verbieten sich offenbarende Widersprüche die Verwendung als dogmatische Rechtsfigur. b) Die induktive Methode Die bisherigen Ergebnisse machen deutlich, dass die eigentliche Diskussion sich am Verständnis des Tatbegriffs entzündet. Denn soweit das Vor- und Nachtatvermitunter dominieren prozessuale Aspekte, StGB-Fischer 67(2020), Vor § 78 Rn. 3; NK-StGB/ Saliger 5(2017), Vor §§ 78 ff. Rn. 3. 1473 Zu dieser Möglichkeit B.-D. Meier, JZ 2015, S. 488 (492 f.), angeführt auch bei Richter, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung im Rahmen von § 46a StGB (2014), S. 93. 1474 Dazu im 2. Teil, 1. Kapitel, C. II. 2. 1475 Die Indizkonstruktion ablehnend in gleicher Weise auch Bottke, Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten (1979), S. 664 ff.; Dölling, FS Frisch (2013), S. 1181 (1185); Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (293); ders., ZStW 99 (1987), S. 751 (781); ebenso B. D. Meier, GA 2015, S. 442 (445). 1476 So ist wohl Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 593, zu verstehen. 1477 Die praktischen Probleme sieht Bruns, ebd., S. 594. durchaus und verlangt einen „wohlfundierten“ Rückschluss. Unter welchen Voraussetzungen dies gelingen kann, wird allerdings nicht gesagt. 1478 Ebenso Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (242 f.).
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halten des Täters und der Tatbegriff generell inkompatibel sind, müssen diese Aspekte als illegitime Strafzumessungsfaktoren ausscheiden. Die Strafrechtswissenschaft steht vor dem Erklärungsdilemma entweder mehrere Tatbegriffe zuzulassen oder aber die Strafzumessungsfaktoren radikal zu beschränken. In der Konsequenz des letzten Wegs stünde im Extrem ein Einheitsstraftaxensystem, welches sich am Prinzip: ein Delikt – eine Strafe, und sich damit an der Praxis zivilrechtlicher Schmerzensgeldrechtsprechung zu orientieren hätte. Dabei handelt es sich keineswegs um ein per se abwegiges Modell, doch abgesehen von der absoluten Strafe lebenslanger Haft ist ein solches Modell angesichts flexibler Strafrahmen im geltenden Recht nicht vorgesehen. Eine Forderung, die dieses Modell de lege ferenda anstrebt, ist bis dato offenbar auch nicht erhoben worden. Im Gegenzug scheint ein Nebeneinander von Tatbegriffen nicht im Einklang mit dem Anspruch des Tatschuldprinzips zu stehen. Dieses will gerade einem beliebigen Zugriff der Strafverfolgungsorgane durch flexible Tathandhabung entgegenwirken.1479 Scheitern die Versuche ein Strafzumessungsmodell aus dem materiell-rechtlichen Tatbegriff zu entwickeln, gibt dies aber selbstredend nicht ausreichend Begründung dafür, die Bemühungen einer Synthese für gescheitert zu erklären. Das Problem ist nämlich im Ansatz schon angelegt: die Strafzumessungsdogmatik muss mit dem Material arbeiten, welches ihr die Lehre von der Straftat bereitstellt – ohne Rücksicht darauf, ob eine gedankliche Fortentwicklung möglich ist.1480 Der faktischen Überrepräsentation straftatsystematischer gegenüber rechtsfolgenorientierter Dogmatik entspricht aber keine Sachargumentation. Die Dogmatik des Tatbestands (im weiteren Sinne) genießt gegenüber der Rechtsfolgenlehre keine Vorrangstellung. Es geht um einen einheitlichen Vorgang der Rechtsfindung, der mit einer wohlkonturierten Tatbestandslehre nicht als abgeschlossen behandelt werden kann. aa) Was bleibt, ist die Methodik zu überdenken. Vorgeschlagen wird deswegen im Anschluss an Frisch1481 eine induktive Vorgehensweise, die den Begriff des Unrechts über die Strafzumessungstatsachen gewinnt. Das Unrecht einer Tat wird nicht automatisch mit dem gesetzlichen Tatbestand identifiziert,1482 sondern die Hypothese geht vielmehr dahin, den Inhalt des Katalogs 1479 Dies ist auch der Grund, warum im Bereich der „actio libera in causa“ das „Ausdehnungsmodell“ bzw. das „Ausnahmemodell“ wenig Anklang finden. Vgl. dazu BGHSt 42, 235 sowie aus der Lit. bspw. Roxin, FS Lackner (1987), S. 305 ff.; NK-StGB/Schild 5(2017), § 20 Rn. 111. 1480 Bereits Volk, ZStW 97 (1985), S. 871 (902) bemerkt kritisch das schlichte „Schuldspruchsystem“. Auch Naucke, GA 1998, S. 263 (266 ff., 270) spricht von „überalterter Strafrechtsdogmatik“, welche die Rückwirkungen von Prozessrecht und Rechtsfolgenrecht auf die klassische Strafrechtsdogmatik nicht aufnehmen kann. Man wird ihm beipflichten können, dass dies mit Denkstrukturen des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 nur schwer gelingen kann. 1481 Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (248 ff.). 1482 Das ist sprachlich etwas ungenau, da selbstverständlich auch der Tatbegriff im Strafgesetz aufgehoben bleiben muss. Es geht vielmehr um den verfassungsrechtlichen Garantietatbestand Art. 103 AbS. 2 GG. Näher hier unter ff).
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der Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 StGB sämtlich als vertypte Dimension des Unrechts zu begreifen.1483 Dabei ist die Vorstellung einer Wechselwirkung leitend: Strafzumessungsfaktoren konstituieren dann zwar das Unrecht eines Tatgeschehens, gleichzeitig müssen aber Strafzumessungsfaktoren als Unrecht darstellbar sein, um als legitime Strafzumessungsfaktoren gelten zu können. Andernfalls fehlte es an einem Bezug zum Tatgeschehen. Dieser Bezug ist essentiell, da die generalpräventive Funktion des Strafrechts darin besteht im Normstabilisierungsbestreben auf „die Tat“ eine Antwort zu finden.1484 Das zentrale Verbindungsstück zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgensystematik ist deswegen im Tatbegriff aufgehoben. Eine Neubestimmung wird die Strafrechtsdogmatik in die Lage versetzen, die oben beschriebenen Verwerfungen zu vermeiden ohne gleichzeitig die gefestigten Ergebnisse langer Wissenschaftstradition aufgeben zu müssen. Dabei wird zu zeigen sein, dass mit der Aufgabe1485 keine Einbußen an Gerechtigkeit zu erwarten sind. bb) Die Enge des klassischen Tatbegriffs entspringt im Grunde einer historischen Tradition. Der Tatbegriff der Tatbestandslehre oder auch der materiell-rechtliche Tatbegriff, steht für die allgemeine Definition des Verbrechens. Das formelle Verbrechen (scil. Straftat) wird als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung definiert. Tatbestand (im engeren Sinne)1486 und Rechtswidrigkeit bilden im Verbund das Unrecht, zusammen mit der Schuld den Tatbestand im weiteren Sinne in Abgrenzung zur Rechtsfolge, die sich der Sanktionsentscheidung widmet. Die Taxonomie aristotelischer Logik verlangt nun stets eine abschließende und exklusive Definition. Diese klassifikatorische Methode zwängt jede weitere systematische Betrachtung in das enge Korsett dieser Tatbestandslehre, womit die Systematik der Strafzumessung aber nicht arbeiten kann. Es liegt nämlich in der Konsequenz der Definition, dass die Straftat durch keine weiteren Elemente gekennzeichnet werden kann außer den im Tatbestand bezeichneten Merkmalen. Orientiert ist die Konstruktion am Zentralbegriff der Handlung, welcher allerdings in zahlreichen Fällen den Bedürfnissen der Strafrechtsdogmatik überhaupt nicht gerecht wird. Die dennoch auffällige Dominanz lässt sich wiederum nur historisch verstehen. Den Ursprung dieser Entwicklung suchend, führt einen zeitge1483
Entschieden gegen ein solches Vorhaben Krahl, Tatbestand und Rechtsfolge (1999), S. 257 ff. Man wird dies als ein Plädoyer für einen „starken“ Garantietatbestand und dem Ideal der Rechtsbestimmtheit zuordnen müssen. Im Folgenden zu zeigen ist, dass solche Einwände nicht durchgreifen. 1484 Grundgedanke ist, dass die Rechtsfolge nur zweckbezogen ausgelegt werden kann. Verkürzt gesprochen geht es darum, nur solche Momente Eingang in die Strafzumessung finden zu lassen, die in Bezug zur generalpräventiven Aufgabe des Strafrechts stehen. Normstabilisierungsintention kann begrifflich nur auf eine Destabilisierung reagieren wollen, die Destabilisierung erfolgt aber durch das Unrecht. Nun sind zwar damit „strafrechtsfremde“ Zwecke (Opportunitätsgründe) logisch nicht ausgeschlossen. Diese dürfen aber zumindest den „Primärzweck“ nicht behindern. 1485 Eigentlich nur: Zurückdrängung, denn der heuristische Wert für eine Tatbestandslehre kann gar nicht auf diese Weise aufgegeben werden. 1486 Nach Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 10 Rn. 1 auch „Systemtatbestand“.
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schichtlich zurück in die geistige Strömung des Positivismus Mitte des 19. Jahrhunderts1487, welche alsbald die Rechtswissenschaft zum Glauben verleitete, dem naturwissenschaftlichen Ideal nacheifern zu müssen, um den Wissenschaftscharakter1488 behaupten zu können. Die Anknüpfung an das naturwissenschaftliche Denken bescherte der Jurisprudenz nicht nur einen expansiven Kausalismus1489, sondern auch die Hinwendung zur klassifikatorischen Methode. Ergebnis war die bereits erwähnte semantische Definition des Verbrechens als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung. Den Oberbegriff bildete die Handlung, der durch die Attribute tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft genauer klassifiziert wird.1490 Am Anfang stand der klassische Verbrechensbegriff, der als Basis die Handlung entsprechend der positivistischen Einflüsse naturalistisch formulierte. Von da rückte die Beschäftigung mit der Handlungslehre in den Fokus der Strafrechtswissenschaft und brachte in der Folgezeit weitere Handlungsbegriffe hervor.1491 Hatten die zahlreichen Bemühungen um den Handlungsbegriff auch ihren dogmatischen Niederschlag gefunden,1492 so wich die belebte Diskussion allmählich einsetzender Ernüchterung. Um die Komplexität strafrechtlicher Phänomene abdecken und Schwächen anderer Lehren beheben zu können, wurde die Begrifflichkeit einem stetig steigendem Abstraktionsniveau zugeführt; eine Methode welche letztlich den Erklärungswert und damit ihren Gewinn nivellierte. Als verbliebener, minimierter Nutzen steht allenfalls noch eine Auslesefunktion in Rede,1493 (straf-)rechtlich irrelevantes Geschehen herauszufiltern.1494 cc) Im Übergangsbereich zur Rechtsfolgensystematik, namentlich der Konkurrenzlehre, findet der Handlungsbegriff der Straftatsystematik deshalb keine Verwendung, obschon in § 52 StGB zur Bestimmung von Tateinheit der Begriff der Handlung auftaucht. Ein allgemeiner, abstrahierender Handlungsbegriff erweist sich dort als ungeeignet, die einzelne Tatbestandsverwirklichung zu kennzeichnen.1495 1487 Zum „Einbruch“ des Positivismus in die Rechtswissenschaft s. nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6(1991), S. 36 f., vgl. auch die Untersuchung im 1. Teil, 1. Kapitel, A. III. 3. 1488 Zum Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, s. Ipsen, Staatsrecht II 13(2010), Rn. 531. 1489 Es besteht eine Verbindung zum philosophischen Determinismus s. zu diesem bereits im 1. Kapitel A. II. 1. b) ff). 1490 Zum vorstehenden auch Schmidhäuser, GS für Radbruch, S. 268 (271). 1491 Auf deren Ausführungen an dieser Stelle verzichtet werden kann. Zum Überblick s. die Darstellung bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 22, S. 200 ff. sowie zur Kritik im Einzelnen s. § 23, S. 219 ff. 1492 So haben sich Schlussfolgerungen der finalen Handlungslehre durchgesetzt, ohne dass dieser selbst übernommen wurde, dazu wiederum Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 23, S. 212. 1493 Sch-Sch-StGB /Lenckner/Eisele 28(2010), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 37. 1494 Was in der Konsequenz zunehmend Stimmen zur Abkehr vom Handlungsbegriff bewegte; Nachweise bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT § 23, S. 218, in Fn. 1. 1495 NK-StGB/Puppe 5(2017), § 52 Rn. 12 bzw. Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 33 Rn. 11.
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Das liegt daran, dass Handlungsbegriffe eine Aufteilung in beliebige Sequenzen durch Ausdehnung oder Vereinigung zu größeren Einheiten durch Stauchen zulassen. Phänomenologisch hat dies in der Sprachphilosophie den Namen AkkordeonEffekt erhalten.1496 Folglich gibt es gar nicht den einen Handlungsbegriff, der die Folgebetrachtung determiniert. Die Konkurrenzlehre hat sich dementsprechend mit der Konstruktion einer „Handlungseinheit“ Abhilfe geschaffen. Daran ist denn auch kein Anstoß zu nehmen. Allerdings liegt somit nichts näher, als sich den AkkordeonEffekt im Bereich der Systemsynthese von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld zu Nutze zu machen. Der Blick auf den materiell-rechtlichen Tatbegriff mit seinem vagen Handlungsbegriffsverständnis zeigt, dass sich ein Tatbegriff des Strafzumessungsrechts nicht dessen schwacher Autorität zu unterwerfen hätte. Folglich spricht nichts dagegen, einen neuen, strafzumessungsrechtlichen Tatbegriff zu entwickeln, der dialektisch die Sachverhalte der Strafbegründungs- bzw. Strafzumessungsschuld in sich aufnehmen könnte. Ohnehin ist eine Öffnung des Tatbegriffs in der Finalität des Strafrechtssystem angelegt: Soweit Handeln als Zwecksetzung begriffen wird, muss anerkannt werden, dass Motive und Begleitumstände das Handeln bestimmen. dd) Der Initialhypothese folgend nimmt dieser Tatbegriff seinen Ausgangspunkt in der Neubestimmung des Unrechtsverständnisses auf Basis der Norm des § 46 Abs. 2 StGB. Die Strafzumessungsfaktoren werden also systematisch dem Unrecht, ergo das Unrecht einer konkreten Tat charakterisierend, zugewiesen. Das herkömmliche Unrechtsverständnis, allein aufbauend auf Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, wird demnach modifiziert, jedoch bleibt das tatbestandliche vertypte Unrecht als Mindestunrechtvoraussetzung erhalten. Dergestalt kann der materiell-rechtliche Tatbegriff der Tatbestandslehre in den neuen Tatbegriff integriert und muss daher (zumindest nach Inhalt und Funktion) auch nicht aufgegeben werden. Trotzdem empföhle es sich der Klarheit wegen durchaus, als Bezeichnung für den abstrakten Tatbegriff den Terminus Deliktstatbegriff einzuführen;1497 die Rede von Delikt und gesetzlicher Tatbestand sind schließlich eng miteinander assoziiert. Dies kann das Lexem der Tat für den (juristischen) Sprachgebrauch extensiver Sachverhalte freihalten. Denn durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum materiellen Recht verhalten sich beide Begriffe nicht disjunktiv zueinander, wodurch sich eine terminologische Gegenüberstellung schwierig gestaltet. Am Begriffspaar abstrakt vs. konkret lässt sich deren Verhältnis zueinander am einfachsten verdeutlichen. Die Straftatsystematik verwendet demnach einen abstrakten Tatbegriff,
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S. dazu Kindhäuser, Intentionale Handlung: sprachphilosophische Untersuchungen zum Verständnis von Handlung im Strafrecht (1980), S. 160 mit Verweis auf die Philosophie Feinbergs; des Weiteren Puppe, FS für Otto (2007), S. 389 (395). 1497 Vgl. zum Deliktstatbestand bereits Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 115 ff.; Krahl, Tatbestand und Rechtsfolge (1999), S. 13 mit Nachweisen zur Verwendung.
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während die Strafzumessungslehre rechtsfolgenorientiert einen konkreten Tatbegriff verwendet.1498 ee) Die Notwendigkeit eines erweiterten Tatbegriffs ist in der Literatur schon früh gesehen worden.1499 Der nächste Schritt muss sein, den Tatbegriff als Systembegriff zu etablieren. Ein erweiterter Tatbegriff muss so beschaffen sein, dass in einer Bewertung des Gesamtgeschehens zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung die (noch) erkennbare Bedeutung der Tat für die Rechtsgemeinschaft abgebildet werden kann. Dessen Ausrichtung erfolgt am Zentralbegriff des Tatbildes. Zum Tatbild gehört mithin alles, was das Unrecht des einzelnen Delikts näher kennzeichnet. Dazu kommen im Einzelnen die Folgen der Tat, Angriffsmodalität und -intensität des Täters, aber auch dessen Nachtatverhalten wie auch die Tatvorgeschichte in Form der Tatgenese sowie Vorleben des Täters in Betracht. Eine Straftat sei keine isolierte Erscheinung in der Biographie des Täters, so dass auch Umstände außerhalb der Tat in legitimer Weise berücksichtigt werden könnten.1500 Ich möchte diesen Gedanken aufnehmen, aber entscheidend umformulieren: weil das Delikt kein isoliertes Phänomen menschlichen Leben darstellt, gibt es hinreichend Grund das dynamische Geschehen in einen strafrechtlich selbstständigen Systembegriff aufzunehmen. Ohne Frage geschieht auf diese Weise die Konstruktion des Tatbildes nicht mit Hilfe eines konturscharfen deskriptiven Begriffs, doch die Verwendung von normativen Begriffen stellt für die Rechtswissenschaft keine Besonderheit dar. Genuine rechtswissenschaftliche Aufgabe ist es schließlich, dieses amorphe Dasein zu beenden. Dafür bringt die Figur des Tatbilds gute Voraussetzungen mit, denn sie ist in Form des Regeltatbilds1501 in der wissenschaftlichen Diskussion bereits etabliert. ff) Auf Systemebene sind zwei Einwände denkbar. Der erste geht dahin, die Strafzumessungsfaktoren der Schuld zuweisen zu wollen, der andere betrifft die Nivellierung des Unrechtstatbestands. Beide haben kein Gewicht. Mit der sprachlichen Öffnung des Unrechtsverständnisses schwingt möglicherweise die Befürchtung mit, die Bestimmtheit des Unrechtsbegriff könnte darunter leiden. Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass sich die Dogmatik nicht dem Ästhetizismus klassifikatorischen Denkens einfacher Gliederung fügen muss.1502 1498 Anders bei Lang-Hinrichsen, FS Engisch (1965), S. 353 (366), der die strafzumessungsrechtliche Akzentuierung als „normativen Tatbegriff“ bezeichnen möchte. Grundsätzlich gibt es keine Nomenklaturregel, die dies nicht auch gestatten würde. Allerdings sehe ich die Gefahr, dass die Omnipräsenz des Prädikats „normativ“ das Gewollte nicht klar herausstellt. 1499 NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 23, ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 528, Ansätze, die enge Fixierung der „Tat“ zu durchbrechen auch bei Jakobs, in: Gerchow (Hrsg.), Zur Handlungsanalyse einer Tat (1983), S. 21 (27 f.); siehe auch Fn. zuvor. 1500 So bspw. Schönke-Schröder-StGB/Stree 28(2010), § 46 Rn. 9. 1501 Ausführlich Chr. Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 232 f. 1502 Es soll nur beiläufig, obgleich mit Bestimmtheit erwähnt werden, dass die Wirklichkeit der Verbrechenslehre auf Anwenderebene den methodischen Purismus selbst nicht durchhalten kann. Der Tatbestand ist durch seine Merkmale bestimmt. Schaut man sich im Einzelfall Merkmale analytisch an, so ist es mit der Definitionsklarheit des Klassenbegriffs nicht mehr so
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Allenfalls der Mangel an Bestimmtheit des Unrechts auf verfassungsrechtlicher Ebene wäre ernst zu nehmen. Weil das Unrecht (ausschließlich) von der Tatbestandsmäßigkeit gedacht wird, liegt der Gedanke nahe, das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des nulla poena sine lege certa et scripta verbiete eine weite Unrechtsanschauung. Dahinter verbirgt sich aber lediglich eine undifferenzierte Gleichsetzung von Unrecht und verfassungsrechtlichen Garantietatbestand (Art. 103 Abs. 2 GG).1503 Der Verfassungstext erwähnt das Wort Unrecht indes nicht, sondern spricht nur von der Strafbarkeit. Die Bestimmtheit der Strafbarkeit jedoch, erreichbar über eine strenge Auslegung des Tatbestands, bleibt im vorgeschlagenen Modell ohne Zweifel unangetastet. Der Tatbestand einer Strafnorm formuliert stets die notwendige Bedingung jeder Strafbarkeit und bleibt als Mindestunrechtvoraussetzung auch integraler Bestandteil des „weiten“ Tatmodells. Diese Teilidentität wird den Anforderungen der Verfassung gerecht. Dass das Unrecht hinreichend im Tatbestand beschrieben sein muss, verlangt die Verfassung dagegen nicht.1504 Es ist geradezu Sinn des Tatbestands, dass dieser abstrakter Natur den Unrechtstypus widergibt. Der zweite Einwand ist sachlich kein eigenständiger, sondern komplementiert den vorangegangenen. Da die Strafzumessungsfaktoren gemeinhin nicht dem Unrecht zugeordnet werden, müssen sie zwangsläufig der Schuld angehören. Dass Motive und Gesinnung indes durchaus das Unrecht der Tat kennzeichnen können, findet vor allem im Bereich der Tötungsdelikte (§§ 211 ff. StGB) breite Zustimmung, wenn auch dort die Diskussion um die verbrechenssystematische Einordnung noch nicht als abgeschlossen gelten kann.1505 Die Einordnung der Mordmerkmale als unrechtsbezogen ist im Hinblick auf sein Qualifikationsverhältnis zum Totschlag (§ 212 StGB) jedenfalls konsequent; gleiches muss möglich sein, wenn die Strafschärfungsgründe nicht ausdrücklich im Tatbestand Eingang gefunden haben. Überdies kann nur wiederholt darauf hingewiesen werden, dass Schuldaspekte im Rahmen einer Rechtsschuld notwendig nur ihren Bezugspunkt im Binärcode RechtUnrecht haben müssen. Moralische Verwerflichkeit, die nicht zugleich den Rang des Rechts erreicht, kann nicht Gegenstand einer Rechtsschuld sein. weit her. § 223 StGB setzt dann eine mehr als nur unerhebliche Beeinträchtigung des Wohlbefindens voraus und § 303 StGB verlangt nach der Rechtsprechung eine nicht ganz unerhebliche Einwirkung. Die Klassenbegriffe haben jeweils eine quantitative Dimension, als Grenzwerthypothese bezeichnet bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 101 ff., 168, dort auch mit den angeführten Bsp. Ähnliches gilt für die Merkmale der Schuldprüfung, ausführlich A. III.; angesprochen auch bei Stahl, a. a. O., S. 106 ff. Strengere erkenntnistheoretische Restriktionen können dann aber auch nicht für ein Tatmodell der Strafzumessungslehre gelten. 1503 Bereits bei Lang-Hinrichsen, FS Engisch (1965), S. 353 (360, 363 f.). 1504 Pionierarbeit diesbezüglich auch bereits bei Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen (1979), S. 54 ff., 60 f., 102, die zwischen „Extensionen und Intensionen der Strafgesetze“ unterscheidet. Ihre Gedanken zur Ausfüllungsbedürftigkeit bedeuten inhaltlich nichts anderes. Die Anknüpfung am Begriff der „Tat“ ist aber im Hinblick auf die prozessualen Verknüpfungsmöglichkeiten noch wertvoller, s. sogleich hh). 1505 Stv. Sch/Sch-StGB/Eser/Sternberg-Lieben 30(2019), § 211 Rn. 6.
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gg) Dass das Bekenntnis zum Tatstrafrecht ein enges Tatverständnis fordert, darf getrost als großes Missverständnis der Strafrechtswissenschaft bezeichnet werden. Der Titel „Tatstrafrecht“ steht als Aussage zuvorderst als Gegenstück zu einem (reinen) „Täterstrafrecht“. Als Leitprinzip verlangt es die Anknüpfung an einen Geschehensablauf bzw. ein Verhalten, welches ohne Ansehung der Person durchgeführt wird. Im Gegensatz dazu ist das Täterstrafrecht in Reinform ausschließlich an der Täterpersönlichkeit interessiert, ein Deliktsgeschehen stiftet hier nur die Anlassverknüpfung staatlicher Reaktion. Das Bekenntnis zum Tatstrafrecht geht deshalb regelmäßig einher mit einer Verwerfung des Konzepts einer Lebensführungsschuld. Unter dem Topos der Lebensführungsschuld versammeln sich allerdings mittlerweile differenzierte Problemlagen, so dass der undifferenzierte Gebrauch allmählich die Diskussionsmaterie eher verdunkelt. Richtig ist, dass das Strafrecht in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat die Lebensführung an sich nicht als Gegenstand der Unrechtsbegründung wählen kann. Das ist nicht nur Folge der zunehmenden Pluralisierung von Lebensstilen, sondern folgt schlicht aus der systematischen Trennung von Recht und Moral. Die „Lebensführungsschuld“ ist im Ergebnis auch nicht mehr als eine dogmatische Verlegenheitskonstruktion, die nötig war in Zeiten, als das heutige liberale Staatsverständnis noch nicht galt. So fand man Phänomene wie Landstreicherei (§ 361 StGB Nr. 3 a. F.), Betteln (§ 361 Nr. 4 StGB a. F.) Spiel, Trunk oder Müßiggang (§ 361 Nr. 5 StGB a. F.) bei Strafe verboten vor. Insbesondere in einem totalitärem Regime, welches bestimmte Lebensformen als gesellschaftsfeindlich zu diskreditieren gedenkt, kann das Konzept der „Lebensführungsschuld“ als Prototyp strafrechtlicher Konstruktion gelten. Es muss daher auch nicht überraschen, wenn gerade zur Zeit des Nationalsozialismus Normen dieser Art einen gedanklichen Aufstieg besondere Bedeutung zukam. Übersehen wird indes häufig, dass Normen dieses Typus’ trotzdem nicht originär der Vorstellung nationalsozialistischen Gedankenguts entspringen. Sie sind vielmehr Zeugnis einer generellen anti-liberalen Haltung, die schon vor 1933 an- sowie (wohl noch) nach 1945 fortdauerte; jedenfalls wurden die beispielshaft genannten Normen erst im Zuge der großen Strafrechtsreform mit dem EGStGB1506 aus dem StGB beseitigt.1507 Es war in erster Linie der im Vordringen befindliche Rechtsgutsgedanke, der diese Normen zu verbannen vermochte. So ist die Betonung der Abgrenzung zur nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ein wichtiges Moment in der Strafrechtsfindung, sie darf allerdings nicht dazu führen, dass der Topos der Lebensführungsschuld überstrapaziert wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Verwertung von Vortatverhalten schlicht mit dem Konzept einer Lebensführungsschuld gleichgesetzt wird. Die Verwertung von Vortatverhalten ist legitim, soweit es mit
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G. v. 02. 03. 1974 BGBl. I S. 469, Artt. 19 Nr. 206; § 326 Abs. 1 StGB. Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft der jeweiligen Epochen, s. das, 1. Kapitel, A. III. 7. 1507
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dem Unrechtstypus des Garantietatbestands hinreichend verbunden ist.1508 Diese Beziehung soll der strafzumessungsrechtliche Tatbegriff herstellen. hh) In dieser Lesart ließe sich auch Anschluss zum prozessualen Tatbegriff herstellen. Dies bringt vor allem einen Gewinn an Veranschaulichung und erfüllt damit eine nicht unbedeutende kommunikative Funktion für das Rechtsinstitut Strafe. Man spricht von einer Tat im prozessualen Sinn, wenn das Geschehen bei natürlicher Betrachtungsweise einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet.1509 Einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang hat auch die Strafbemessung im Blick, wenn es um die Relevanz von Vortatverhalten geht. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorleben des Täters in Gestalt seiner Lebensführung (nur) dann strafzumessungsrelevant, wenn es in Beziehung zum abzuurteilenden Straftat steht.1510 Diese Beziehung soll über einen strafzumessungsrechtlichen Tatbegriff plausibilisiert werden.1511 Damit eröffnet nun die Orientierung an einem Tatbegriff des Tatbilds eine Harmonisierung mit dem prozessualen Tatbegriff.1512 Der prozessuale Tatbegriff teilt funktionell mit dem strafzumessungsrechtlichen Tatbegriff nämlich seine Rechtsfolgenrelevanz.1513 Über den prozessualen Tatbegriff entfaltet der Grundsatz ne bis idem (Art. 103 Abs. 3 GG) seine rechtsfolgenbegrenzende Wirkung. Abgeurteilte Taten können nicht einer nochmaligen Strafe unterworfen werden. In der Vorstellung des prozessualen Tatbegriffs herrscht ein abgeschlossener Sachverhalt 1508 Das ist der Sache die st. Rechtsprechung. Das Vorleben des Täters in Gestalt seiner Lebensführung ist (nur) dann strafzumessungsrelevant, wenn es in Beziehung zur abzuurteilenden Straftat steht, vgl. SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 123 mit Nachweisen; Radtke, GA 2011, S. 636 (647). 1509 S. BGHSt 45, 211 (212 f.): [Zur Tat gehört] … „das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet,“ … [so] „dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde.“ 1510 Vgl. SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 123 mit Nachweisen. 1511 Grundlegend Lang-Hinrichsen, FS Engisch (1965), S. 353 (359 f.) mit Kritik bei Schaffstein, FS Gallas (1973), S. 99 (113); Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (778). Nunmehr offener ders., in: FS Pötz 140 Jahre GA (1993), S. 1 (16 f.); positiv aufgenommen bei Bottke, Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten (1979), S. 674 f.; Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften (1992), S. 183; NK-StGB/ Streng 5(2017), § 46 Rn. 23; ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 528; tendenziell Hönig, Die strafmildernde Wirkung des Geständnisses (2004), S. 73. Unklar freilich SchmidtHieber, FS Wassermann (1985), S. 995 (997), wenn er einerseits das gesamte Tatgeschehen als Sinneinheit sehen will, einen erweiterten Tatbegriff jedoch für unnötig hält. 1512 Die argumentative Brückenfunktion des Tatbildes auch bei Beulke, FS 50 Jahre BGH IV (2000), S. 781 (783). 1513 In dem Zusammenhang mag eine etwaige funktionelle Teilidentität, wenn man mit Paeffgen, GS M. Heinze (2005), S. 615 (630), den prozeduralen Tatbegriff stets in seinem Funktionszusammenhang bilden will, genügen.
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vor. Diese Zäsurwirkung soll auch die generelle Anschauung widerspiegeln, wann ein Sachverhalt eine Wertungseinheit bildet. Für das abzuurteilende Delikt nimmt der strafzumessungsrechtliche Tatbegriff diesen Wertungsgedanken auf. Im Gegenzug kontrastiert das enge Tatverständnis des Deliktsbegriffs die strafzumessungsrechtliche Untauglichkeit. Man nähme einmal an, es wäre tatsächlich möglich, den viel umwobenen Blick in den Kopf des Täters zu leisten. Was glaubte man in dieser logischen, juristischen Sekunde alles vorzufinden? Man würde – insoweit realitätsnah gedacht – in diesem Zeitraum rein faktisch nur geringe Informationen über die Tat erhalten. Die wesentlichen Fragen für eine staatliche Reaktion blieben unbeantwortet.1514 So zeigt sich, dass sich der strenge Koinzidenzgedanke mit seiner logischen juristischen Sekunde nur für eine Schwellenmarkierung eines Entweder-oder (strafbar vs. nicht strafbar) eignet. Die Schwellenrhetorik im Sinne eines Ja oder Neins muss sich notwendig in diesem Aussagegehalt auch erschöpfen.1515 Ja oder Nein kann aber nicht als Antwort auf die Frage eines „Wieviel“ an Strafe herangezogen werden. Das unterstreicht abschließend den Befund, dass der Tatbegriff der Deliktslehre gar kein umfassendes strafrechtliches Ideal sein kann. 3. Zwischenergebnis: Ein erweiterter Tatbegriff auf Unrechtsbasis Eine Zusammenführung von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld leistet nur ein umfassender Tatbegriff, der die Anschauung des Unrechts modifiziert. Über die Kategorie des verschuldeten Unrechts tritt nun keine Diskrepanz mehr auf: dadurch, dass sämtliche Merkmale der herkömmlichen Strafzumessungsschuld nunmehr als Differenzierungen der Unrechtsausprägung geführt werden, können diese mittels der Operatoren der Strafbegründungsschuld (Unrechtsbewusstsein und Steuerungsfähigkeit) dem bewährten Zurechnungsmodus unterworfen werden. In Anerkennung als Unrechtsmerkmale ist der Strafzumessungssachverhalt nun „vorgelagert“, d. h. das Problem einer „Erweiterung“ der Schuld auf Strafzumessungsebene gegenüber der tatbestandlichen Schuld kann nicht mehr auftreten. Das Unrecht selbst muss nämlich – wie gezeigt – immer Bestandteil des Schuldtatbestands der Strafbegründung sein, weil ansonsten den Zurechnungsoperatoren der Schuld der
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Vgl. Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 211: der Bedeutungsgehalt menschlichen Verhaltens erschließt sich regelmäßig über den historischen Hintergrund. 1515 Relativ unbeachtet hat schon Bottke, Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten (1979), S. 682 f. die semantische Prädikatenlogik des Unrechtstatbestands kritisiert. Lediglich für die Rechtswidrigkeit als Entscheidungsstufe ist dies angebracht. Auf der anderen Seite Streng, FS Beulke (2015), S. 313 (321), der das „strenge“ Koinzidenzprinzip auf die Passform des psychologischen Schuldbegriffs zurückführt. Dieser ist mehrheitlich aufgegeben.
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Anknüpfungspunkt fehlt. Auf diese Weise kann auch der deduktive Prüfungsmechanismus der Straftatlogik wieder problemlos eingesetzt werden.1516
III. Konsequenzen für den Straftataufbau Mit der Behauptung einer Unrechtsrelevanz gelingt zunächst nur eine formelle Integration des Strafzumessungssachverhalts über das Unrechtsmodell. Wie und ob überhaupt die einzelnen Strafzumessungsfaktoren das Unrecht materiell kennzeichnen, ist damit noch nicht dargetan. Soweit die Strafzumessungsfaktoren Ausprägungen bereits des Deliktstatbestands sind, ist die Zuordnung zum Unrecht unproblematisch. Ohne weitere Erklärung leuchtet das ein für Schadensgrade des tatbestandlichen Erfolgs, da der Schaden für das geschützte Rechtsgut unzweifelhaft das Unrecht bestimmt. Auch Momente, die sich unter die Kategorie des Handlungsunrechts subsumieren lassen, bereiten weniger Probleme. Das trifft im Wesentlichen zu auf die Art der Ausführung der Tat, den aufgewendeten Willen, die Beweggründe und die Ziele des Täters sowie das Maß der Pflichtwidrigkeit. Pflichtwidrigkeit tritt entweder als die Verletzung der Sorgfaltspflicht im Fahrlässigkeitsbereich oder im Sinne einer (tatbestandlichen) Sonderpflicht besonderer Vorsatzdelikte auf. Beweggründe und Ziele sowie der Wille charakterisieren das subjektive Unrecht. Der Wille ist Bestandteil des Vorsatzes, der sich ohne Motive und Ziele letztendlich auch nicht erschließen lässt. Weniger deutlich ist die Unrechtsrelevanz für sog. „außertatbestandliche“1517 Strafzumessungsaspekte. Dazu soll skizzenhaft die potentielle Unrechtserheblichkeit aufgezeigt werden.1518 1. Unrechtsrelevanz außertatbestandsmäßiger Strafzumessungsfaktoren In sachlicher Hinsicht umfassen die „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ als zusätzliche Erfolgskomponente mittelbare Straftatfolgen, auf subjektiver Ebene die 1516
Zum Filterprinzip der Rechtswissenschaft sogleich unter III. 4. Außertatbestandlich in dem Sinne meint sämtliche Faktoren, die nicht vom notwendigen Unrechtstatbestand (Garantietatbestand) umfasst werden, allg. Meinung, Frisch, GA 1972, S. 321 (325 f., Fn. 30); SK-StGB/Horn (36. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 104; Puppe, FS Spendel (1992), S. 451 (464), enger Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (581), der für die Einstufung als „innertatbestandlich“ auch die Vorsatzkongruenz fordert. 1518 Im Folgenden geht es ausschließlich um die potentielle Unrechtsbedeutung der Strafzumessungsaspekte, d. h. es soll lediglich modellhaft dargestellt werden wie man argumentativ eine Beziehung zu der Kategorie Unrecht herstellen kann. Es sollen weder ontologische Kategorien noch irgendein „Beweis“ bemüht werden. Gerade weil aber die Berechtigung der nachfolgend diskutierten Strafzumessungsgründe umstritten ist, kann der Nachweis einer dogmatischen Struktur leicht als punitive Apologetik fehlgedeutet werden. Dazu ist vorgreiflich zu sagen, dass Dogmatik auch systemkritisch sein kann und darf, jedenfalls insoweit ein etabliertes System durch Neuerungen herausgefordert wird. Darüber hinausgehende Kritik ist jedoch Rechtspolitik. Vgl. auch die Fn. 1524. 1517
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Gesinnung der Tat sowie in zeitlicher Hinsicht das bereits erörterte dem eigentlichen Delikt vor- und nachgelagerte Verhalten einer Tat. a) Unrechtsrelevanz von mittelbaren Straftatfolgen Dass die (verschuldeten) Auswirkungen der Tat das Maß des Unrechts kennzeichnen, hat sich zumindest für den tatbestandlich umschriebenen Erfolg in der Strafrechtswissenschaft etabliert. Der Erfolg ist Teil des Unrechts, ist letztlich der Anknüpfungsgrund der Strafe.1519 Normtheoretisch folge dies aus der Bewertungsfunktion des Strafgesetzes.1520 Vornehmlich gilt dies wohl als Konsequenz der Rechtsgüterschutzausrichtung des Strafrechts, dass der Schaden (resp. die Gefährdung) an diesem Rechtsgut das Maß des Unrechts konstituiert, weil das Unrecht widerspiegelnd.1521 Man kann dies den unmittelbaren Schaden nennen. Fraglicher ist der Widerspiegelungsgedanke für Straftatfolgen, die selbst nicht im Deliktstatbestand beschrieben sind, aber der Sache nach sich als Fortsetzung des ursprünglichen Schadensereignisses darstellen. Am Beispiel des Tatbestands des Betrugs (§ 263 StGB) lassen sich die zwei Typen dieser Fortsetzungsschäden verdeutlichen. So kann es neben dem primären Vermögensschaden, der tatbestandlich den Betrug ausmacht, zu weiteren Vermögensschäden kommen, etwa eine aus dem Vermögensschaden resultierende Insolvenz des Tatopfers. Schadenserscheinungen können aber auch qualitativ andersartig auftreten. So zu nennen ist eine infolge der Aufregung erlittene Gesundheitsschädigung beim Tatopfer oder gar ein Scheitern der Ehe im Zusammenhang mit den erlittenen finanziellen Einbußen. Rein phänomenologisch könnten all diese differenzierten Schadensbilder ein in der Tat liegendes Unrecht manifestieren, da sich eine ursächliche Verbindung herstellen lässt. Kausalität allein ist aber nicht hinreichend unrechtsbegründend. Nach allgemeiner Ansicht muss der eingetretene Erfolg dem Täter nach den Regeln der objektiven Zurechnung zurechenbar sein. Als Grundlagenformel dient die Annahme, dass eine Gefahr oder ein Risiko qualifizierter Art geschaffen 1519
Der Ursprung liegt im klassischen Verbrechensbegriff, der Unrecht als einen dem Recht widersprechenden Zustand definierte, vgl. StGB-Lackner/Kühl/Heger 29(2018), Vor § 13 Rn. 19 ff. Mit Entdeckung der Bestimmungsnorm entwickelten sich aber personale Unrechtslehren verschiedenster Ausprägung. Das personale Verhalten bestimmt demnach das Unrecht, ohne dass der Erfolg die Bedeutung verlieren sollte. Die Gegenposition dazu nimmt die streng finalistische Schule ein, u. a. Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte (1973), S. 78 ff.; Armin Kaufmann, FS Welzel (1974), S. 393 (403, 410 f.); Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff (1973), S. 143 i. V. m. S. 205 ff., die Unrecht ausschließlich vom personellen Handlungsunrecht her begreift. Stv. Kritik der h. M. bei Lackner/Kühl, StGB 27 (2011), Vor § 13 Rn. 21; LK-StGB/T. Walter 12(2007), Vor § 13 Rn. 18; 96 ff.; Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 10 Rn. 93; jeweils mit Nachweisen. 1520 So für die Erfolgskomponente LK-StGB/Jescheck 11(1992), Vor § 13 Rn. 43 f.; Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 10 Rn. 93. 1521 Vgl. dazu auch den Überblick bei B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 197.
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bzw. erhöht worden sein muss, so dass sich gerade diese Gefahr (oder das Risiko) im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert hat.1522 An den zwei Punkten, der rechtlich relevanten Gefahrschaffung und ihrer Realisierung, zeigt sich nun erst die Manifestation des Unrechts. So liegt im Ergebnis kein Mord (§ 211 Abs. 2 StGB) vor, wenn zwar der habgierige Neffe seinen Erbonkel in der geheimen Hoffnung eines Unglücks erfolgreich zur Reise mit dem Flugzeug überreden konnte, aber am eigentlichen Pilotenfehler keinen Anteil hat.1523 (Tatbestandliches) Unrecht ist nur das, was zugerechnet werden kann. Dieser Grundgedanke lässt sich für die Heuristik des Tatbilds (erweiterter Tatbegriff) nutzbar machen, und zwar in der (teilweisen) Umkehrung des Ausgangssatzes: jenes, was als sinnhafte Folge des Verbotsverstoßes dem Täter zugerechnet werden kann, ist im Ergebnis (noch) unrechtskennzeichnend.1524 Der gesetzliche Tatbestand liefert dabei die notwendige, aber noch keine hinreichende Unrechtskennzeichnung. Zugerechnet werden können also all jene Aspekte, die als Produkt der Gefahrschaffung einer Unrechtshandlung aufgefasst werden. So kann die Insolvenz des Betrugsopfers durchaus als eine vorhersehbare Unrechtsfolge der vom Täter verursachten, täuschungsbedingten Vermögensverschiebung und damit unrechtskonstituierend gedacht werden. Anders liegt es beim Fall des verlassenen Ehepartners: diese Folge mag zwar ursächlich im Betrug verortet werden, kann aber den entscheidenden Grund eher in der fehlenden (generellen) Bereitschaft des anderen haben sich mit Einbußen finanzieller Art abzufinden. Nicht die Betrugsgefahr hat sich im Schaden gezeigt, sondern ein prekäres Eheversprechen. Wann ein Schadensereignis das Produkt von Gefahrschaffung durch eine Unrechtshandlung ist, lässt sich nur anhand des Schutzzweckzusammenhangs1525 der gesetzlichen Verbotsnorm ermitteln. 1522
Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 4 Rn. 43, dort auch artverwandte Formulierungen und deren Urheber. 1523 Standardbeispiel ohne bekannten geistigen Urheber, hier nach Seiler, Strafrecht AT I 2 (2011), § 3 Rn. 288. 1524 Volle Reziprozität liegt nicht vor, denn im Unterschied zu (herkömmlicher) Zurechnungsdogmatik ist die Niederlegung jener Erfolge, die nur mittelbarer Natur sind, im Tatbestand schließlich gerade nicht notwendig, Gemein sind aber die argumentativen Begründungsstrukturen der Zurechnungslogik. Jede Tatfolge muss zurechenbar sein; tatbestandliche Erfolge im speziellen lösen nur, dafür aber (für das Unrecht) notwendig die Verletzung des Garantietatbestands aus. Andere Umstände (als der tatbestandliche Erfolg) können unter Zurechnungsgesichtspunkten unrechtsrelevant sein, ohne dabei hinreichend noch notwendig sein zu müssen. 1525 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (753 f.); ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (287); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 83 II 3, S. 888; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 597. Einzelheiten im 2. Teil, 1. Kapitel, B. IV. 2. b). Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017) stellt in Anknüpfung an die Terminologie und Begriffsbildung von Puppe auf die „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung“ ab, S. 319 ff., 361. Grundlegend andersartige Ergebnisse sollten damit nicht zu erzielen sein.
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b) Unrechtsrelevanz der Gesinnung Die Verwertung der Gesinnung im Rahmen der Strafzumessung ist höchst umstritten.1526 Die Legitimität steht auf dem Boden eines Tatstrafrechts latent in Frage, da nicht die Person zur Aburteilung steht, sondern eine Tat. Die Wendung des Gesetzes ist allerdings so auch nicht zu verstehen. Der Befund einer Gesinnung, die „aus der Tat spricht“, sollte daher durchaus wörtlich verstanden werden: gemeint ist der kommunikative Aspekt, der in der Normübertretung liegt. Kommunikation bestimmt sich – in juristischer Terminologie – vom „Empfängerhorizont“1527 und bedeutet für die Bewertung einer Tatgesinnung nicht das Eruieren oder Feststellen einer Gesinnung des Täters zur Tatzeit, sondern nur das Heranziehen eines gesellschaftlichen Deutungsmusters. Es geht nicht darum, was ein Täter zu einer bestimmten Zeit „hat“, sondern wie sein Verhalten von der Gesellschaft interpretiert wird. So trägt bspw. eine Körperverletzung (§ 223 StGB) das Gepräge von Fremdenfeindlichkeit, wenn das Opfer gezielt aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie ausgesucht wird. Weiterhin wird man einer Sachbeschädigung (§ 304 StGB) antisemitischen Charakter beimessen müssen, wenn die Angriffsobjekte als solche nur auserkoren worden sind, weil sie kultische Gegenstände der jüdischen Gemeinschaft sind. Es entlastet dann nämlich nicht, soweit der Täter glaubhaft vorbringen kann, dass er keine rassistischen oder antisemitischen Einstellungen besitzt. Er kann bspw. als Mitläufer innerhalb einer Gruppe nur aus dem Gemeinschaftserlebnis heraus gehandelt haben – an der Symbolik der Tat ändert das nichts. Zurechenbar ist eine Tatgesinnung nicht erst, wenn der Täter aus Ideologie, sondern bereits dann, wenn er willentlich in Kenntnis dieser Wirkung gehandelt hat. Da der Täter gehandelt hat, liegen insofern auch keine bloße geistige Haltung oder Internum vor.1528 Eine solche, in der Verletzung des Rechtsguts liegende Symbolik ist in erster Linie ein innergesellschaftlich vermittelter, insoweit also objektiver Maßstab.1529 Unter Zugrun1526
Zu der Problematik der Gesinnungsmerkmale bereits oben Fn. 1395 mit Nachweisen. Das liegt in der Essenz der Autopoiesis der Kommunikation. Kommunikation selbst ist ein Prozess, in dem Information (als Inhalt), Mitteilung (als Form) und Verstehen als Einheit zu begreifen sind. Mit dem Verstehen kommt Kommunikation zustande, s. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 191 ff., 203; weiterhin ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft (1994), S. 20 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), S. 81 ff. Vereinfacht bedeutet das, dass sich immer dann Kommunikation realisiert, wenn ein Inhalt als solcher „verstanden“ wurde. 1528 S. bereits Brauneck, Festschrift für H. Mayer (1966), S. 235 (246); Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 215 f., 231 ff. Die generellen Bedenken von Kühl, GS Meurer (2002), S. 545 (550) betreffen das (alleinige) Haben oder schlichte Äußern. Darum geht es aber in dem Kontext nicht. Deshalb muss ein „Verzicht auf Motivbewertung“, wie es Kühl, FS Lampe (2003), S. 439 (456) fordert, gar nicht notwendig sein. Mit Stratenwerth, FS für H. v. Weber, (1963), S. 171 (174) wird man sagen können, dass (nur) der Sachverhalt hinter der Gesinnung den Ausschlag gibt. 1529 Bandemer, GA 1989, S. 257 (259) geht bei der Gesinnung von einem soziologischen Bezug aus. Auch Schmidhäuser hebt mit dem „Verstehensgrund“ indirekt auf den Kommunikationsgedanken ab, in: FS Jescheck I (1985), S. 485 (491). Krit. zum Kommunikationsgedanken Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (24) sowie Puppe, FS Grünwald (1999), S. 469 (483 f.). Sie rügt die Vermengung semantischer mit pragmatischer Ebene. Wenigstens für 1527
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delegung dieser Lesart sollte die Illegitimität1530 nicht übereilt ausgerufen werden. Die Forderung nach „Gesinnungsabstinenz“ beruht ohne Zweifel entscheidend auf der kantschen Trennung von Tugendhaftigkeit und Rechtschaffenheit.1531 Dabei ist es sicher richtig, dass es für den Rechtsstaat nicht von Bedeutung ist, aus welchen Gründen der Rechtsunterworfene den Vorschriften schließlich Folge leistet. Die Spiegelbildlichkeit der Argumentation gilt damit aber nicht automatisch. Es ist nicht gesagt, warum der Staat den Hintergrund des Rechtsbruchs nicht ausleuchten und danach differenziert beurteilen dürfte.1532 Eine Tat in einen Verletzungsteil und einen irrelevanten „Gesinnungsteil“ aufzuspalten kommt etwas skurril daher. Die Konfliktsituation für die Rechtsgemeinschaft verändert sich unter solchen tatsächlichen Vorzeichen. Nichts anderes kennzeichnet den Unterschied von Vorsatz und Fahrlässigkeit.1533 Eine andere Frage ist es, ob es stets zwingend ist, (eine höhere) Strafe an eben diese Rechtsfriedensstörung zu knüpfen. Das soll an dieser Stelle aber nicht entschieden werden. Dieser Ansatz führt schließlich auch zur richtigen Einordnung von Gewissensund Überzeugungstaten. Überzeugung und das Gewissen können an sich gar keine Unrechtsrelevanz besitzen. Die Gesinnung eines terroristisch1534 motivierten Anschlags kann deswegen auch nicht in Aburteilung einer bestimmten Religionsanschauung enden, sondern muss von herbeigeführten zusätzlichen Realschäden betrachtet werden: neben physischen Beeinträchtigungen hinterlässt ein solcher Anschlag ein gesellschaftliches Klima der Unsicherheit und Angst. Wenn auch schwer in ihren Konturen fassbar, so ist doch die daraus resultierende Rechtsfriedensstörung
die Gesinnungsmerkmale halte ich das für unzutreffend. Die Realität der Deutung ist unbestreitbar; eine andere Frage ist die der Legitimität. 1530 Problematisch daher Timm, Gesinnung und Straftat (2012), S. 89 ff., 250 ff.; dies., JR 2014, S. 141 (145 f.). Behelfen kann man sich indes in diesem Kontext mit der Opferperspektive, selbige angemahnt bei Hörnle, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem (2000), S. 175 (178 ff.) und dies., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 113 (121). Die Ideen halte ich für integrierbar. Wenn eine wie auch immer geartete Gesinnung für das Opfer keine Rolle spielt, bedarf es schon sorgfältiger Begründung, warum sich dann die Gesellschaft diesen Konflikt zu Eigen machen will. 1531 Insoweit zutreffend Timm, Gesinnung und Straftat (2012), S. 77 f. 1532 Umfassend in diesem Sinne Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 404, 458 f., 470, 475; 481, 515, 521; zum „Symmetrieargument“ S. 415 f. Uneinheitlich Berger, Das Gesinnungsmoment im Strafrecht (2008), S. 157 vs. S. 179, 187 ff. So wie hier auch Reichard, Die Behandlung fremdenfeindlicher Straftaten im deutschen Strafrecht (2009), S. 176 f. und Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 216, der den inneren Grund der kategorialen Trennung, ein Optimum an äußerer Freiheit, dann nicht erfüllt sieht. 1533 Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 230. 1534 Terrorismus soll hier rein thematisch verstanden werden; eine Definition von Terrorismus soll bewusst außen vor gelassen werden.
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kein fiktiv-normatives Konstrukt, sondern ein real spürbarer Effekt einer solchen Tat.1535 c) Unrechtsrelevanz von Vor- und Nachtatverhalten Die Integration des Vor- und Nachtatverhaltens in den Strafzumessungssachverhalt gelingt nominal über die Erweiterung des ursprünglichen Tatbegriffs in Form des Deliktsbegriffs. Nicht geklärt ist damit freilich, aus welchem Grund dieses Geschehen abseits des „Kernunrechts“ das Unrecht prägen können sollte. aa) Am Beispiel eines Diebstahls lässt sich die Überlegung exerzieren, wie die Wegnahme eines Ringes denn ihren Charakter verändern könnte, nur weil der Täter in seinem Leben zuvor schon gestohlen hat. Thematisch geht es dabei um die in der Praxis richterlicher Strafzumessung hoch relevante1536 Vorstrafenbelastung bzw. Rückfallschärfung. Diese Praxis wird häufig kritisch gesehen. Neben der Tatsache, dass sich der Gesetzgeber für die Aufhebung der Rückfallverschärfung gemäß § 48 a. F. StGB entschieden hat,1537 lässt sich vor allem die rechtsgutsbezogene Argumentation ins Feld führen. Der Schaden am Rechtsgut wird durch vorherige Taten nicht berührt. Eine solche Schadensbetrachtung deckt aber immer nur die Opferperspektive ab. Sofern keine Opferidentität vorliegt, ist der wiederholte Rechtsbruch für das (neue) Opfer im Grunde belanglos. Ein gestohlener Ring hat so oder so seinen Wert. Nicht in den Blick kommt bei dieser ausschließlichen opferzentrierten Sichtweise, dass eine Straftat eine res publica und keine Privatangelegenheit ist. Die Öffentlichkeit ist durch den Rechtsbruch ebenfalls betroffen.1538 Der Rechtsbruch 1535 Entgegen Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht (2001), S. 41 steht m. A. nicht die Vermutung, dass keine höhere Gefährlichkeit vorstellbar ist. Beachte auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005); S. 107 f., die solche sozialpsychologischen Effekte grundsätzlich ablehnt, aber insoweit anerkennt, als das allgemeine Sicherheitsinteresse an toleranten, pluralistischen Zusammenleben gefährdet wäre. 1536 Vgl. Fn. 1463. 1537 Zu den Gründen Zipf, FS Tröndle (1989), S. 439 (441 f.). Eingehende Auseinandersetzung mit den Problemen der (jener Zeit noch gültigen), Vorschrift Haffke, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 197 (201 ff.); der Normtext ist abgedruckt in Fn. 1951. 1538 Dass das Opfernarrativ auskömmlich ist, lässt sich mit guten Gründen bestreiten. Als Unterkomplexität deklarierte Skepsis zu Recht bei Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 78 ff. Das Ausblenden einer Kollektivperspektive mag dabei für Tatbestände mit Schutzrichtung höchstpersönlicher Rechtsgüter noch unschädlich, wenn nicht sogar erwünscht sein. Denn was über den Opferschaden hinausgehend die Integritätsverletzung zu einer „res publica“ macht, lässt sich mit Zielrichtung auf die Legitimität freilich hinterfragen. Ein anderes Problem in dem Kontext dürften indes Straftaten sein, die von Vorneherein als „Delikte gegen die Allgemeinheit“ firmieren und ihre Existenz gerade nicht einem spezifischen Opferschaden verdanken. Quantitativ betrachtet sind diese Delikte im StGB nicht in der Minderzahl. Wenngleich die ersten 12 Abschnitte im Besonderen Teil (§§ 80 – 173 StGB) forensisch wenig Bedeutung erlangen, dürften gilt dies für die Abschnitte 24 – 26 (betreffend Insolvenz und Wettbewerb) und die Abschnitte 28 – 30 keineswegs. Phänomene wie Strafantragserfordernis und Privatklageverfahren sowie Verneinung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ändern diesen Befund nicht.
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(als immaterieller Schaden) gewinnt seinen Charakter vornehmlich durch die Art der Verbotsübertretung. Zwar bleiben das Verbot und deren Übertretung an sich stets gleich, doch verändert sich mit wiederholter Verletzung deren gesellschaftliche Anschauung. In einem wiederholten Rechtsbruch manifestiert sich eine erneute Erwartungsenttäuschung, die geeignet ist, das Vertrauen in die Norm durch diesen konkreten Täter diesmal heftiger zu erschüttern.1539 Dass eine erneute Vertrauensverletzung stets zu einer tieferen Verletzung führen muss, lässt sich zwar nicht mit Gesetzmäßigkeit sagen. Aber zumindest lässt sich dieses Phänomen auch nicht als implausibel zurückweisen.1540 Andernfalls müsste schlichtes Schadensaldieren immer zum gleichen Ergebnis führen. Es steht aber nicht zu erwarten, dass 10 Diebstähle (bei Opferidentität) à 10.000 E in selbständigen Taten die gleiche Strafe erhalten wie einmaliger Diebstahl zu 100.000 E. Auf dieser Logik basiert auch dem Asperationsprinzip aus § 54 Abs. 2 S. 1 StGB. Auch hier ist das Maß der Rechtsfriedensstörung unterschiedlich. bb) Der Einfluss auf das Maß der Rechtsfriedensstörung bestimmt nun auch die Unrechtsrelevanz von Nachtatverhalten. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens in einem Strafverfahren dient letztlich der Wiederherstellung des Rechtsfriedens.1541 Dabei sind Schadensvertiefungen nach formeller Vollendung der Tat nicht ausgeschlossen. Eine Vertiefung kann materiell die Rechtsgutsverletzung 1539 Siehe Frisch, FS Beulke (2015), S. 103 (108); ders., GA 2014, S. 489 (501), zuvor schon grundlegend ders., FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (256); ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (291); Kulhanek, NStZ 2020, S. 65 (68). Dass damit eine Verflechtung von Schuld und Gefährlichkeit stattfinde, so M. Walter, GS H. Kaufmann, 1986, S. 493 (508 f.), mag zutreffen, ist aber systematisch zweitrangig. Denn offenbar geht das Gesetz von einer straferhöhenden Bedeutung der Gefährlichkeit aus; ein Blick in die §§ 242 bis 244a; 249, 250 StGB genügt dafür. 1540 Anders Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 131 (Strafmilderungserwartung der Gesellschaft). Deutliche Opposition bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 137 ff., ders., ZIS 2014, S. 522 (525); sowie v. Hirsch, FS Imme Roxin (2012), S. 149 (152). Letzterer schließt eine solche Kategorie von „everyday moral asessments“ für die strafrechtliche Betrachtung aus. Die Gründe dafür liefert er nur unzureichend. Dass Werturteile jenseits des Strafrechts anders strukturiert sind, legt er indes nicht dar. Auch eine Assoziation dieses Rechtsgeltungsschaden mit einem autoritären Staatsverständnis, ders., in: Tatproportionalität (2003), S. 47 (73) ist eine weitreichende Schlussfolgerung. Das wäre nur dann richtig, wenn auf das reale Moment eines Primarschadens (Rechtsgut) verzichtet werden würde. Obendrein ist die Konzeption in sich nicht schlüssig, wenn die vorgeschlagene „discount theory“, in: FS Imme Roxin (2012), S. 149 (157 ff.) und in: Tatproportionalität (2003), S. 47 (74 f.), auch bei Giannoulis, a. a. O., S. 140 ff. bedeutet, dass der Ersttäter einen Bonus für bisherige Straffreiheit erhalten soll, der bei Wiederholung sukzessive eingebüßt werden soll. Im Relationsgefüge zur Ersttat ist dies auch eine Strafschärfung. Schließlich darf das prozessuale Instrumentarium (§§ 153 ff. StPO) nicht vergessen werden, die die Möglichkeit des argumentativ bemühten „Ausrutschers“ („lapse“) ausreichend abbilden kann. Es spricht allerdings nichts dagegen, die Gedanken v. Hirschs et al. gerade in diesem Zusammenhang stärker zu berücksichtigen. 1541 Zum Ganzen auch Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (294 ff.); speziell zum Nachtatverhalten insoweit auch Kaspar, Gutachten C DJT (2018), 1 (70, 73), allerdings ohne Übereinstimmung im theoretischen Ausgangspunkt.
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erhöhen, wie z. B. die Beschädigung des Diebesguts.1542 Die Rechtsfriedensstörung kann sich aber auch ideeller Art ausweiten, indem die strafrechtliche Aufarbeitung konterkariert wird. Ausgehend vom Grundsatz „in dubio pro reo“ muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass der Täter zur Aufklärung des Sachverhalts und damit an der Mitwirkung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht verpflichtet ist. Selbstbegünstigendes Verhalten ist also von der Rechtsordnung einkalkuliert. Jegliche defensive Verteidigungsstrategie kann daher nicht unrechtsvertiefend betrachtet werden, da es lediglich den Status quo der Rechtsfriedensstörung aufrechterhält. Die Anschauung kann sich aber ändern, wenn ein offensiver Verteidigungsstil das Opfer bspw. durch verleumderisches Verhalten im Prozess in seinen Persönlichkeitsrechten trifft.1543 Umgekehrt lässt sich jedes Verhalten, welches das Ziel der Wiederherstellung des Friedens fördert, als Minderung der ursprünglichen Störung auffassen.1544 Zu nennen sind freiwillige Umkehrleistungen oder Aufklärungshilfe. Die Möglichkeiten und Grenzen einer solcher Argumentation lässt sich exemplarisch an den gesetzlichen Regelungen in den §§ 46a und 46b StGB aufzeigen. cc) Ein Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) bzw. eine Schadenswiedergutmachung kann bereits den Taterfolg unter Umständen zumindest teilweise wieder beseitigen. Mangels Reversibilität der Schäden ist eine Kompensationsleistung nicht immer möglich. Dennoch ist der Anwendungsbereich des Gesetzes formell nicht auf bestimmte Delikte beschränkt.1545 Darüber hinaus kann schon das Bemühen um eine Wiedergutmachung prämiert werden. Der Rechtsgrund für die Privilegierung kann also nicht allein in einer Schadensbeseitigung liegen. Hintergrund ist vielmehr die partielle Behebung des im Normbruch manifestierten Konflikts. In einer materiellen Entschädigung in Verbindung mit der Anerkennung der Opferlage wird die Auflehnung gegen die Ordnung zum Teil wieder aufgehoben, aber wenigstens abge-
1542
Weitere Beispiele bei Sch/Sch-StGB/Kinzig 30(2019), § 46 Rn. 40. Die Abgrenzung der Stile „defensiv“ vs. „offensiv“ kann hier nicht vertieft werden. Leitend kann allerdings schon die Unterscheidung von Abwehr und Angriff sein. Unzweifelhaft sind alle passiven Verhaltensweisen als zulässige Verteidigung vom Prinzip „in dubio pro reo“ gedeckt. Das gilt unzweifelhaft für ein Schweigen im Prozess. Selbst aktives Handeln, etwa durch Leugnen, ist davon noch abgedeckt, soweit dieses noch als Umsetzung des Abwehranspruchs zu deuten ist, s. auch Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (297). Eindeutig eine Angriffsstrategie wird gefahren, wenn Tatunbeteiligte bezichtigt oder die Tat durch Einschüchterung von Zeugen verdunkelt werden soll. In dem Graubereich dazwischen entscheidet eine Einzelfallbetrachtung. 1544 Frisch, GA 2014, S. 489 (502). 1545 LK-StGB/Theune 12(2006), § 46a Rn. 13 ff.; NK-StGB/Streng 5(2017), § 46a Rn. 9 ff.; restriktiver MüKo-StGB/Maier 4(2020), § 46a Rn. 3 ff. Insbesondere eine Verengung der Schadenswiedergutmachung auf Vermögensdelikte ist vielfach nicht sachgerecht, vgl. dazu Schöch, FS Rissing-van Saan (2011), S. 639 (640 ff.) mit Nachweisen zur (gegenteiligen) Auffassung der Rspr. wie Schöch auch Trüg, FS Kerner (2013), S. 675 (685). 1543
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schwächt. Der Rechtsfrieden findet auf diese Weise seine Wiederherstellung.1546 Das Tatunrecht ist, wenngleich nicht begriffslogisch, so doch zumindest in seinen Auswirkungen abgebaut.1547 dd) Eine solche Einordnung gelingt nunmehr auch für die neue Kronzeugenregelung in § 46b StGB. § 46b StGB eröffnet für Aufklärungshilfe (Abs. 1 Nr. 1) bzw. Präventionshilfe (Abs. 1 Nr. 2) genannter Katalogtaten die Möglichkeit einer Strafmilderung. Von Gesetzes wegen war die Konnexität von Wissensoffenbarung und abzuurteilender Tat zunächst nicht zu fordern,1548 so dass nicht in jeder Tatsituation ein Unrechtsbezug herstellbar war. Vom Ansatz eines Tatschuldgedankens (scil. konkrete Rechtsfriedensstörung) ist der Verzicht auf die Konnexität (Beschränkung auf den sog. internen Kronzeugen) kaum einsichtig.1549 Im Grundsatz fehlte es an einer thematischen Verwandtschaft zur Eignung einer Tataufarbeitung im Übrigen. Allenfalls die allgemeine Bereitschaft, in die Legalität zurückkehren zu wollen, hätte als ein kleiner Schritt der symbolischen Wiedergutmachung aufgefasst werden können. Ohne diese Anknüpfungspunkte sind die Grenzen der Argumentationsfigur einer Rechtsfriedensstörung mehr als ausgeschöpft. Selbst unter dem Aspekt der Verdienstlichkeit dürfte die Annahme der Rechtsfriedensstörungsminderung ins Leere laufen. Denn der Täter verwertet hier Sonderwissen, zu dessen Offenlegung jeder Bürger – in vielen gesetzlichen Fällen strafbewehrt1550 – eigentlich ohnehin verpflichtet wäre. In Erinnerung zu rufen ist nämlich die Tatsache, dass ein Zeuge nach der Konzeption der StPO (§ 70: ohne gesetzlichen Grund) grundsätzlich sein Wissen in Strafverfahren zu offenbaren hat. Insofern mag zwar die Rede vom 1546 NK-StGB/Streng 5(2017), § 46a Rn. 2 m. w. N. Die rechtlichen Instrumente TOA und Wiedergutmachung finden darin ihren gemeinsamen Nenner. Zur Begrifflichkeit im Allgemeinen B.-D. Meier, GA 1999, S. 1 (3 f.), ebenfalls mit Nachweisen. Auf die Unterscheidung von TOA und Wiedergutmachung in ihren möglichen Facetten kommt es für das restaurative Potential an sich hier nicht an. Dass im Übrigen von praktischer Seite das Potential wohl nicht ausgeschöpft wird, steht auf einem anderen Blatt; dazu B.-D. Meier, JZ 2015, S. 488 (494). Über eine mögliche Aufwertung der Wiedergutmachung zur selbständigen Nebenstrafe B.-D. Meier, GS M. Walter (2014), S. 743 (740 ff.). 1547 Ein Sonderfall für restauratives Nachtatverhalten stellt § 371 AO. Auch hier darf man davon ausgehen, dass das Unrecht der Tat als beseitigt gilt, s. auch Rüping, FS Müller-Dietz (2001), S. 717 (729); Kaspar, FS Beulke (2015), S. 1167 (1176 f.). Allerdings ist damit die Privilegierung gegenüber anderen Umkehrleistungen nicht vollständig erklärt; immerhin wäre ein genereller Schuldspruch mit Absehen von Strafe als Rechtsfolge durchaus möglich (gewesen). Ob die aktuelle Regelung steuerrechtlichen Besonderheiten Rechnung trägt oder einfach Pragmatismus entspringt bedarf hier keiner weiteren Diskussion. 1548 Zur Problematik NK-StGB/Streng 5(2017), § 46b Rn. 5; SK-StGB/Wolters (122. Lfg. Juni 2010), § 46b Rn. 30 jeweils m. w. N. 1549 Ebenso Kneba, Die Kronzeugenregelung des § 46 b StGB (2011), S. 126; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 597 f. 1550 Auch wenn die Kataloge nicht deckungsgleich sind, ist ein Spannungsverhältnis von § 46b I 1 Nr. 2 und § 138 I, II StGB evident sichtbar. Mittelbar (und mit Abstrichen) gilt dies auch für die Variante der Nr. 1, da sog. „Straftaten gegen die Rechtspflege“ (Strafvereitelung, Falschaussage, Falsche Verdächtigung) und Verbrechensaufklärung in einem realen Lebenssachverhalt regelmäßig in einem Zusammenhang stehen.
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„Ermittlungsnotstand“1551 berechtigt sein, doch erklärt dies noch nicht die strafrechtlich zu prämierende Wohltat. Vor allem, wenn man sich die Strukturen der sog. Organisierten Kriminalität vor Augen führt, muss man davon ausgehen, dass das Wissen, welches „angeboten“ wird, im weitesten Sinne doch illegal durch irgendeine Form von „Beteiligung“1552 erworben worden ist. Von daher dürfte es sich selten um Zufallswissen handeln. Damit zeitigte aber auch reiner Opportunismus die gleiche, strafmildernde Wirkung. Von Blick einer Rechtsgemeinschaft muss dies als Übervorteilung gelten.1553 Der Gesetzgeber teilte schließlich die Einschätzung1554 und fügte korrigierend das Konnexitätserfordernis ein.1555 Der Sache nach bleibt das Kronzeugenmodell aber eine weitere Bewegung hin auf den Weg zu konsensualen Erledigungsstrategien. Trefflich formuliert geht es um nichts anderes als einen „Handel“ zwischen Staat und Verbrecher.1556 Ob dieser Handel in toto ein Gewinn für den Staat ist, sei dahingestellt. Man mag die Einrichtung eines solchen Rechtsinstruments für kriminalistisch nützlich und politisch opportun halten. Gleichzeitig muss man damit aber auch anerkennen, dass solche Erledigungsstrategien der eigentlichen Idee des Strafrechts, der Ahndung der Tat, abträglich sind.1557 Entsprechend sollte ein solches Element nur restriktiv eingesetzt werden. Das bedeutet für § 46b StGB, dass für die Auslegung der Erfolgskompo1551
So der Einwurf von Jeßberger, FS Beulke (2015), S. 1153 (1159). Beteiligung hier ausdrücklich nicht als terminus technicus, sondern auch verstanden als Eingebunden-sein in ein kriminelles Netzwerk. Auch das kann selbständig strafbar (§ 129 StGB) sein! 1553 Mit entsprechender Begründung StGB-Fischer 67(2020), § 46b Rn. 17; s. auch NKStGB/Streng 5(2017), § 46b Rn. 6; andere Einschätzung bei Christoph, KritV 2014, S. 82 (87) und Kaspar/Wengenroth, GA 2010, S. 453 (469). Offen gelassen bei Hardinghaus, Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (2015), der aber immerhin die beschränkte Eintrittsschwelle („im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe“) zu Lasten leichterer Kriminalität als gleichheitswidrig rügt, a. a. O., 302 ff. 1554 BT-Dr 17/9695, S. 6. 1555 Zustimmend B.-D. Meier, GA 2015, S. 442 (451 f.); Kritik ob des nunmehr beschränkten Anwendungsbereichs. bei Christoph, KritV 2014, S. 82 (87 f.); Jeßberger, FS Beulke (2015), S. 1153 (1164); Peglau, NJW 2013, S. 1910 (1911). 1556 Vgl. stv. König, StV 2012, S. 113. 1557 Andere und wesentlich positive Einschätzung bei Kaspar/Wengenroth, GA 2010, S. 453 (469), der einer institutionalisierten „Whistleblower“-Anlaufmöglichkeit Abschreckungspotential attestiert. Unter dem Aspekt „Kulturwandel“ (Rekurs auf § 257c StPO), Hardinghaus, Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (2015), S. 168. Siehe ferner BeckOKStGB/Heintschel-Heinegg (Ed. 50 – Mai 2021), § 46b Rn. 4. Jenseits aller Argumente für die staatliche Honorierung auch des externen Kronzeugen sollte man indes die Überlegung wagen, solche Straferwägungen generell aus der Rechtsfindung auszuschließen und sie der Vollstreckungsebene zuweisen. Im Fall der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat die Rspr. diesen Weg bereits beschritten, dazu StGB-Fischer 67(2020), § 46 Rn. 131 ff. Wenigstens die Symbolik des Schuldspruchs sollte namentlich bewahrt werden. Die Problematik des Handels mit der Gerechtigkeit (Straferlass gegen Wissen) bleibt so zwar unbehoben, kann aber systematisch besser bewältigt werden. Selbiges auch bei König, StV 2012, S. 113 (115). Dazu auch unten das 1. Kapitel. B. VI. 1. im folgenden 2. Teil. 1552
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nenten (Abs. 1 Nr. 1 „wesentlich dazu beigetragen“, „aufgedeckt“) prinzipiell hohe Anforderungen zu stellen sind. Das Risiko des „Fehlschlags“ oder „Störungen der Geschäftsgrundlage“ gehen zu Lasten des Kronzeugen.1558 ee) Im Übrigen kann jedes Geständnis seinem Gehalt nach auf symbolische Umkehrleistung (Reue, Anerkennung des Opfers)1559 oder in seiner Aufklärungsbedeutung gewürdigt werden. Ein von Reue getragenes Geständnis kann zum einen die Auflehnung gegen die Rechtsordnung nivellieren, da die Einsicht in das Fehlverhalten zumindest die Hoffnung nicht ganz unbegründet erscheinen lässt, dass in Zukunft in dieser Hinsicht das Recht respektiert wird. Der Anerkennungsprozess als solcher ist auch für das Opfer nicht ohne Bedeutung.1560 Das Opfer durchlebt nicht selten einen Prozess der „sekundären Viktimisierung“1561, wenn es das Gefühl bekommt, ihm werde im Verfahren nicht geglaubt. Reue oder eine Entschuldigung sind in diesem Prozess nicht inbegriffen, dürften den Effekt aber verstärken können; soweit die Schwere des Delikts nicht ohnehin etwaige Worte oder Gesten wenig tröstlich erscheinen lässt. Das Geständnis als Wissensoffenbarung steht in aller Regel im Dienste der Aufklärungshilfe. Das gilt im Besonderen, wenn anderweitig keine aussichtsreiche Beweisführung zu Lasten des Täters denkbar gewesen wäre. Im Übrigen hat das Geständnis eine beschleunigende Wirkung, da das Verfahren – unter Vorbehalt seiner Würdigung – die Entscheidungsreife herbeiführt und das Verfahren damit erheblich abkürzen kann. Neben dem Begleiteffekt der „Ressourcenschonung“ des Justizapparats erreicht eine zügige Aufarbeitung im Prozess im Grundsatz auch eine schnellere und bessere Möglichkeit den Konflikt endgültig zu bewältigen.1562
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Vgl. auch Jeßberger, FS Beulke (2015), S. 1153 (1163). Zu beiden Aspekten ebenso Hönig, Die strafmildernde Wirkung des Geständnisses (2004), S. 170 ff. 1560 Zu diesem und weiteren Opferbedürfnissen, Meier, Kriminologie 6(2021), § 8 Rn. 47. Als Genugtuung bei Schmidt-Hieber, FS Wassermann (1985), S. 995 (998 f.). 1561 Zum Begriff s. Bock, in: Göppinger, Kriminologie 6(2008), § 11 Rn 6. 1562 Die „Leistung“ des Täters erscheint zwar im Hinblick auf „echte“ Wiedergutmachung sehr gering, wenn zum angerichteten Unrecht keine Kompensation erreicht wird. Das mag dazu veranlassen, das Geständnis im Kontext der Strafmilderungsrechtfertigung für kaum bedeutend zu halten. Aber zu dieser Einschätzung sollte man nicht vorschnell gelangen. Denn das Opfer oder sonstige Betroffene haben ein prinzipielles Interesse mit dem Geschehen abzuschließen – soweit es denn möglich ist. Der Abschluss gibt ihnen ein Stück weit Zukunft zurück, wenn die Belastungen des Strafprozesses schneller von Gegenwart zur Vergangenheit werden. Ein Umstand, der nicht unberücksichtigt bleiben kann, wenn man bedenkt, dass – und man muss die bemerkenswerte Härte in diesem Ausspruch im Rechtsstaat akzeptieren – die Opfer keinen Anspruch auf eine schnelle Rückkehr zu diesem Rechtsfrieden haben; jedenfalls keinen rechtlichen, wenn man das Schweigerecht ernst nimmt. Dementsprechend gibt es keinen abstrakten Wert eines Geständnisses. In Fällen der einfach zu bewältigenden Massenkriminalität wird ein Geständnis eher eine marginale Bedeutung haben, als in langwährenden Großprozessen (man denke insoweit an den NSU-Prozess, der 2013 begonnen hat). 1559
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2. Rechtsfriedensstörung als (immaterielles) Substrat der Strafzumessungsschuld a) Rechtsfriedensstörung als zentrales Moment der Straftat Die gesetzlich verbrieften Strafzumessungsfaktoren können nur legitimerweise herangezogen werden, soweit sie das Unrecht der Tat näher kennzeichnen. Strafzumessungsschuld ist somit verschuldetes Unrecht.1563 Diese Unrechtskennzeichnung wird hier davon abhängig gemacht, inwieweit ein Aspekt eines natürlichen Lebenssachverhalts geeignet ist, das im Normbruch begründete Maß einer eingetretenen Rechtsfriedensstörung1564 genauer zu bezeichnen. Unrecht geht im Begriff der Rechtsfriedensstörung1565 auf. In Zusammenführung dieser Gedanken bedeutet dies, dass die charakteristische Unrechtswirkung stets in einer Störung des Rechtsfriedens liegen muss.1566 Eine Sanktion reagiert nun restaurativ (ausgleichend) auf diesen Schaden. Das Moment der Rechtsfriedensstörung als zurückbleibendes Substrat einer Rechtsverletzung ist schon lange entdeckt worden.1567 1563 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (380); Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 82; H.-L. Günther, FS Göppinger (1990), S. 453 (457); Grasnick, in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie, (1977), S. 1 (21); SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 42. Insoweit übereinstimmend auch MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 StGB Rn. 17 bzw. 20. 1564 Als inhaltliche Synonyme können der Normgeltungsschaden (z. B. bei Frisch, GA 2014, S. 489 (496 u. 502), FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (253); ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (285); ders., FS Pötz-140 Jahre GA (1993), S. 1 (18); Kindhäuser, FS Schroeder (2006), S. 81 (84)) bzw. der intellektuelle Verbrechensschaden (z. B. bei Müller-Dietz, GA 1983, S. 481 (494)) genannt werden. 1565 Dass der Begriff keine natürliche Konturenstärke aufweist, s. den Einwand etwa bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 87, 118 sei unumwunden zugegeben. Die Aufnahmefähigkeit und Allgemeinheit eines Begriffs bringen dies notwendig mit sich. Erfolgsversprechendere Alternativen (etwa die vorgenannten Synomyme) sind aber ebenso wenig ersichtlich. Dann entscheidet die persönliche Präferenz, die hier das Moment der „Störung“ als den intervenierungsbedürftigen Konfliktfall markiert. 1566 Vgl. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46a StGB Rn. 15. 1567 Frühe Grundlagen schon bei Lampe, Das personale Unrecht (1967), S. 210 f., als „Beziehungsunwert“ ebenda, ders., FS Hirsch (1999), S. 83; neuerdings mit Kennzeichnung des Unrechts als „asozialer Prozess“, in: ZStW 118 (2006), S. 1 (10); zust. aus streng finalistischer Ausrichtung Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff (1973), S. 207 f. Wesentlich weiterentwickelt bei Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (253 ff.); ders., FS Jareborg (2002), S. 207 (225 ff.) zuvor schon ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (279 ff.).; ders., FS Pötz-140 Jahre GA (1993), S. 1 (17 ff.); ders., ZStW 99 (1987), S. 349 (379, 387 f.); jüngst als Thematik wieder aufgegriffen von ders., in: GA 2014, S. 489 (496); ders., FS Beulke (2015), S. 103 (108); ders., GA 2015, S. 65 (77 f.). In der Literatur findet sich der Topos der Rechtsfriedensstörung immer wieder: Freund, GA 1999, S. 509 (536); ders., GA 2005, S. 321 (322); Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung (1983), S. 51 f.: „das Unrecht einer Tat – nicht nur im Sinne der einzelnen Gutsverletzung, sondern der darin repräsentierten Rechtsfriedensstörung – bemisst sich […]“; Lesch, Der Verbrechensbegriff: Grundlinien einer funktionalen Revision (1999), S. 205: „auszugleichende soziale Störung“; Murmann, „der Täter schuldet als Rechtsperson das, was zur Wiederherstellung des Rechts erforderlich ist“, in:
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Allerdings wird die Idee der Rechtsfriedensstörung als zentrales Merkmal einer Straftat und Fluchtpunkt strafzumessungsrechtlicher Überlegungen bislang noch zurückgewiesen. Kritisch wird diese (vermeintliche) „Vergeistigung des Unrechts“ vor allem deshalb gesehen, weil sie das Unrechtsverständnis von der strafrechtlichen Aufgabe des Rechtsgüterschutzes abkopple.1568 Diese Einschätzung beruht aber offenbar auf einem Missverständnis. Nach hiesigem Verständnis liegt in der Anerkennung der Rechtsfriedensstörung die konsequente Weiterentwicklung der personalisierten Unrechtslehre. Zum einen steckt hinter der Idee der Rechtsfriedensstörung oder Normgeltungsschaden kein normatives Konstrukt, welches sich (ausschließlich) fiktiver Elemente bedient. Der Rechtsfriedensstörung wohnt durchaus ein reales Moment inne. Die aus einem Verbrechen resultierenden Folgeerscheinungen wie (Erwartungs-)Enttäuschung, Ärger, etc. innerhalb einer Gesellschaft wird man nicht als strafrechtlich irrelevant abtun dürfen. Nur weil solche Phänomene nicht mit Messgenauigkeit operationalisiert werden können, sind sie nicht inexistent. Es ist auch nicht so, dass es nicht Aufgabe des Strafrechts wäre, darauf zu reagieren. Das Strafrecht will eine rationale Lösung für einen Konflikt finden und muss gerade deswegen die Emotionalität der Konfliktsituation verarbeiten. Rationale Lösungen bedeuten nicht zwangsläufig, dass Irrationalität nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Lösung sein dürfte.1569 Sie darf selbst nur nicht Methode sein. Zum zweiten leistet eine materielle Schutzgutorientierung1570 auch innerhalb einer solchen Unrechtskonzeption wichtige Dienste. Denn die Kriminalisierungsentscheidung des Gesetzgebers für ein strafbewährtes Verbot muss und (soll FS Frisch (2013), S. 1131 (1135), Herv. nicht im Original; ferner Roxin, FS Bockelmann (1979), S. 279 (304 f.); B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (191): „Größe der durch die Straftat manifestierten Bedrohung der sozialen Friedensordnung“; ferner Streng ZStW 101 (1989), S. 274 (327); E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (827): „Verletzung des Friedensverhältnisses“. Zustimmung auch bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 155; Theune, in: LK-StGB 12(2006), § 46 Rn. 5 und § 46a StGB Rn. 15. Eine Einordnung des Gedankens der „Rechtsfriedensstörung“ in die rechtsphilosophischen Tradition bei Kant, Fichte und Hegel bei E. M.Maier, ARSP 100 (2014), S. 36 (47 f.). 1568 Vor allem Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 215 ff.; dies., JZ 1999, 1086 (1089); dies., in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 99 (102 ff.). Weiterhin MüKo-StGB/Radtke 2(2012), Vor §§ 38 StGB Rn. 17. Das kann man allein schon damit in Frage stellen, dass man sich Rechtsfrieden eben gerade nicht als eigenständiges Rechtsgut vorstellt, s. dazu Bottke, FS Lampe (2003), S. 463 (489). 1569 Es kann gar nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden: das Strafverfahren soll geradezu – mittels rationalem (!) Zugang die Emotionalität eines Konfliktes kanalisieren und bestmöglich domestizieren, s. auch K.-L. Kunz, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 187 (192); ebenso Hassemer, FS Bemmann (1998), S. 175 (178) zum Konzept von Zurechnung. Das funktionierte aber nicht, so denn man eine Auseinandersetzung verweigerte, vgl. etwa die Überlegung bei Volk, FS Roxin II (2011), S. 215 (220). Mit dieser Einschätzung ist man noch weit entfernt von einem „Gefühlsstrafrecht“. 1570 Ob diese im Sinne eines „harm principle“, einer Rechtsgutstheorie oder einer weiteren Alternative zu beantworten ist, kann hier offen bleiben. Auch Frisch, GA 2015, S. 65 (82) spricht für einen autonomen Filter aus.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
mithin) gar nicht von einem isolierten Phänomen einer Rechtsfriedensstörung abhängig gemacht werden.1571 Bedenken, mit dem Topos der Rechtsfriedensstörung könnten auch Unlust- und Angstgefühle kriminalisierbar sein und leichter Eingang in das Strafrecht finden, sind daher unbegründet.1572 Drittens lässt sich eine Diagnose dieses postulierten Realschadens nur über dessen einzelne tatsächliche Symptome anstellen. Erfolgs- und Handlungsunrecht kommen im Begriff gleichermaßen zur Geltung.1573 Das Recht kann sinnvoll nur Handlungsverbote, keine Erfolgsverbote aussprechen. Darin liegt der richtig gesehene Ansatz aller subjektiven Unrechtsarchitekturen. Nur die Idee einer Bestimmungsnorm als Bestandteil des Strafgesetzes vermag die Steuerungsintention des Rechts zu erklären. Eine ausschließliche Bewertungsfunktion des Strafgesetzes an sich setzt keine direkten Appelle für die Zukunft an die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft. Mit der bloßen Bewertung eines Zustands ist die Aufgabe begrifflich abgeschlossen. Diese (einseitige) Vorstellung passt aber nur in ein klassisches, metaphysisches Konzept der Bestrafung. Demgegenüber ist es mit einer Beschreibung des Unrechts über die Bestimmungsnorm in Ausschließlichkeit ebenso wenig getan. Der Erfolg ist für eine rein finale Unrechtskonzeption im Grunde überflüssig. Dessen Degradierung zur bloßen objektiven Bedingung der Strafbarkeit wird den gesetzlichen Vorgaben aber eklatant nicht gerecht. Weder die Differenz von Versuch und Vollendung noch eine erfolgsgebundene Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist auf dieser Basis zu erklären.1574 Das Unrechtsmodell konzentriert sich in seiner Ausrichtung allein auf das Verhältnis Norm-Täter. Tatsächlich gibt es jedoch auch eine „Realdimension der Tat“, d. h. eine leibhaftiges Opfer und ein konkreter Schaden, der zu bewältigen ist.1575 Ein Recht, das zur Konfliktlösung antritt, muss diese Dimension verarbeiten können. Offenbar 1571
Die Bedenken, die Roxin, GA 2011, S. 678 (691), gegen den Normgeltungsschaden vorbringt sind m. E. damit abgewendet. 1572 Man kann sich mit der Kontrollüberlegung behelfen, dass eine Rechtsfriedensstörung zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist. Ob diese Gedankenstütze wirklich unerlässlich ist, sei hier indes noch dahingestellt. Denn im Begriff des Rechtsfriedens wird die rechtliche Relevanz ohnehin vorausgesetzt. Man muss auf Basis dieser Begrifflichkeit keine Degenerationsthese anstimmen. Der Schlüssel liegt in der Präzision des Garantietatbestands eines Strafgesetzes, jenseits dem kein Bürger eine Strafe fürchten muss. Die Emphase der verfassungsrechtlichen Bestimmtheit schon bei Bottke, FS Lampe (2003), S. 463 (489). 1573 Unrecht als Begriff ist „aspektneutral“, so Schroeder, FS für Otto (2007), S. 165 (175). Daraus folgt hier die umfassende Verwertung für den Begriff der Rechtsfriedensstörung. 1574 Vgl. Lackner/Kühl 27(2011), Vor § 13 Rn. 21; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 24 III 2 S. 239 f. 1575 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 11. Ebenso NK-StGB/Puppe 5 (2017), Vor § 13 Rn. 20 f. T. Walter, in: LK-StGB 12(2007), Vor § 13 Rn. 18 nennt dies die Unterscheidung von wofür und weswegen. Eine zweite Seite der „Realdimension“ ist es freilich, sich die konkreten Opfereinbuße zu vergegenwärtigen, insofern zutreffend Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 113 (115). Eine neuerliche, intensive Auseinandersetzung mit der konstitutiven Bedeutung des Erfolgs liefert Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 117 ff., welcher der Marginalisierung des Erfolgs, insbesondere im Hinblick auf das häufig formulierte Kontroll- und Zufallsargument (S. 131) finalistischer Provenienz, entgegentritt.
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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macht es für die Gesellschaft einen Unterschied aus, ob ein bestimmter Erfolg eingetreten ist oder nicht. Der gesellschaftliche Konflikt beruht also zu großen Teilen darauf, dass „etwas passiert“ ist. Mit anderen Worten: der Rechtsfrieden muss ein höheres Störungsmoment erlitten haben.1576 Im Begriff der Rechtsfriedensstörung nun werden Erfolgs- und Handlungsunwert dialektisch zu einem Begriff höherer Ebene vereinigt. Diese Rechtsfriedensstörung kann als Gegenstand der Schuld in Betrachtung genommen werden.1577 Am Ende steht die Schuld als Ergebnis einer konkreten Tat.1578 Die Rechtsfriedensstörung ist damit nicht nur der Gegenstand der Strafzumessungsschuld, sondern zentraler Bezugsbegriff im gesamten Strafrecht. b) Das Verhältnis von Rechtsfriedensstörung zur Prävention Seit der Entdeckung der Zweckgerichtetheit des Strafrechts besteht das Bestreben die Systembegriffe des Strafrechts mit der generalpräventiven Aufgabe des Strafrechts zu harmonisieren. Die Möglichkeiten dieses Bestrebens sind von vorneherein nicht eindeutig und deswegen sowohl im Grundsatz wie auch in Reichweite umstritten.1579 Deckungsgleichheit erreicht in jedem Fall eine funktionalistische Strafrechtsarchitektur. Strenger Funktionalismus kann die Begriffe so gestalten, dass sie der Systemstabilität dienen und diese garantieren. Eine operative Geschlossenheit des Systems ist allerdings nicht in der Lage, nach der Legitimität des Systems fragen (sog. Systemblindheit).1580 Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Straftat, und damit die Systembegriffe ihres Aufbaus, an der Präventionsbedürftigkeit auszurichten. In vollständiger Konsequenz stünde ein Gefährlichkeitsstrafrecht, welches 1576 Anders allerdings Frisch, GA 2015, S. 65 (80), der die Relevanz des Erfolgs für kommunikative Unrechtsmodelle reduziert sieht. Das ist vom theoretischen Ausgangspunkt zwar einsichtig, vernachlässigt aber dabei die Nachhaltigkeit des Einflusses einer tatsächlichen Verletzung. In Anlehnung an Latané möchte ich von „social impact“ (Impakt- oder Einflusstheorie) sprechen, den ein strafrechtlicher Erfolg hinterlassen kann. Dieser kann nicht nur buchstäblich wie ein „Einschlag“ (Verletzungsdelikt) wirken, sondern beschreibt auch eine Dimension der Kommunikation, eben die Eindrücklichkeit oder etwa Nachhaltigkeit. Zur „social impact theory“ ganz einführend Herkner, Sozialpsychologie 5(1991), S. 472 mit Nachweisen zu Latané. 1577 Wenn auch ohne direkte Bezüge, gibt es Parallelen zur Rekonstruktion der Schuld mittels einer „Geschichten-Philosophie“ bei Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), dazu im einzeln: S. 180 ff., 188, 192, 210 f., 229, 239. Wenn die „forensische Geschichte“ dazu dient, ein gesellschaftliches Interpretationsmuster für das vollzogene Geschehen zu bieten, dann trifft sich diese Idee insoweit mit der des Rechtsfriedens. Die kommunikative Bedeutung auch bei Haft, Der Schulddialog (1978), S. 9, 28. 1578 So auch Gropp, FS Puppe (2011), S. 483 (495). 1579 Zu den Schuldlehren, zur Dogmengeschichte im 1. Kapitel unter A. III. bzw. IV. 1580 Dazu bereits im 1. Kapitel, A. IV. unter 2. d), beachte aber auch dort 4. d), die Bedeutung der Umwelt.
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die Straftat lediglich symptomatisch als ein Gefährlichkeitspotential behandelt. Strafrechtliche Konzeptionen dieser Art1581 machen keine Differenz mehr aus zum klassischen Polizeirecht. Ein solches Strafrecht wird aufgrund der Schuldindifferenz in aller Regel abgelehnt.1582 Es bleibt dennoch zu konstatieren, dass Strafrecht und Polizeirecht sich in Folge der Zielidentität (Prävention) wesensmäßig nicht mehr zwingend unterscheiden müssen. Eine Differenz kann daher nur der Präventionsmechanismus ausmachen. Nur in Anerkennung eines speziellen Präventionsmechanismus’ kann es gelingen einen Zweckbezug unter Wahrung genuiner strafrechtlicher Identität aufrecht zu erhalten. Vom reinen Präventionsansatz kommt Strafrecht für das geschützte Rechtsgut nämlich immer „zu spät“. Die eigentliche Aufgabe des Strafrechts besteht daher in der Bewältigung des eingetretenen – und eben nicht verhinderten – Konflikts. Erst daraus erwächst eine Perspektive für die Zukunft (und insofern möglicherweise präventive Wirkung).1583 Die vielfach auftauchenden Momente der Gefährlichkeit in Strafbegründung und Straferhöhung im Strafgesetz sind nicht nur Ausdruck eines Präventionsanliegens, sondern auch Anerkennung von Nachhaltigkeit im eingetretenen Schaden in Form einer vertieften Rechtsfriedensstörung. Im Paradigma der Rechtsfriedensstörung ist nun die Brückenfunktion von Vergangenheit und Zukunft niedergelegt. Die Sanktion ist bestrebt die Rechtsfriedensstörung zu beheben um so für die Zukunft den Präventionscharakter eines stabilen Normsystems wahren zu können.1584 Im Moment des Rechtsfriedens liegt also die unmittelbare Kehrseite1585 der generalpräventiven Aufgabe des Strafrechts. In diesem Sinne bedarf es keiner begrifflichen Trennung von Prävention und Strafzumessungsschuld1586, mithin auch nicht im Kontext von Unrechts- und Schuldbegründung. c) Die Rolle des Rechtsanwenders in Bezug auf den Rechtsfrieden Die Anknüpfung an den Rechtsfrieden bereitet Probleme in der Vorstellung, wie der Rechtsanwender, vornehmlich das Gericht, diesen Rechtsfrieden denn nun herzustellen vermag. Die Idee des Rechtsfriedens, das zeigen die Bestimmtheitseinwände, leidet an der Abstraktheit seines Ausgangspunktes. Doch einmal ist die 1581
Zu den Lehren der défense sociale und den Problemen oben, 1. Kapitel, A. IV. 3. b) aa). Vgl. etwa MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 StGB Rn. 26 f.; allgemein dazu die Diskussion im 1. Kapitel A. IV. 3. bzw. B. II. 2. 1583 Strafrecht leistet deshalb nur einen, wenn auch gewichtigen Beitrag einer umfassenden Präventionsstrategie. 1584 Zu den Stufen der Präventionslogik genauer zu Beginn des folgenden Abschnitts. 1585 Oder anders gewendet liegt darin eine Folgerichtigkeit, denn Straf(tat)theorie und Straftatsystem können nicht ohne ihre Wechselbezüglichkeit gesehen werden, zutreffend wieder aufgegriffen bei Frisch, GA 2015, S. 65 (75). 1586 Beachte auch Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (306): vielfach ist die generalpräventive Deutung nur die Paraphrase klassischer Schulddogmatik. 1582
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Rekursion auf den Frieden kein schlicht normatives Etwas. Frieden, oder genauer die Befriedung, ist ein Zustand, der zwar nicht sicher anhand bestimmter Merkmale sicher prognostiziert werden kann, er ist jedoch erlebbar und identifizierbar. Die Abwesenheit eines Konflikts kennzeichnet den Friedenszustand, eine Abwesenheit, die dass Strafrecht aktiv durch Bereinigung herbeiführen soll. Pragmatisch gedacht müsste man daher Gelassenheit üben können, denn soweit die forensische Konfliktaufarbeitung als Gegenstand der juristischen Beschäftigung gedacht werden kann, steht am Ende ohnehin das Ziel des Rechtsfriedens. Der Begriff der Schuld, generalpräventiv ausgedeutet oder nicht, ist im Hinblick darauf nur ein gedanklicher Mittler. Es ist auch nicht so, dass irgendein begrifflicher Zurechnungsmodus bereit stünde, der diesen Zusammenhang konkret „greifbarer“ machte. Im Gegenteil: gerade weil das Modell der generalpräventiven Ausdeutung eine direkte Wirkvorstellung propagiert, säht jeder Realitätsabgleich zunächst Zweifel. Kann der einzelne Richter (spürbar) etwas für den Rechtsfrieden tun? Und müsste er dann nicht überlegenes Wirkwissen und allwissende Kenntnisse darüber besitzen, welches Maß die Bürger an Strafe erwarten? Und wäre eine Anknüpfung an undifferenzierte Strafvorstellungen überhaupt „richtig“? Tatsächlich bedarf es dieser theoretisch überhöhenden Überlegungen nicht. Der Richter übernimmt ein Mandat für die Gesellschaft, innerhalb dessen er im Zuge einer speziellen Ausbildung zu einer rechtskonformen Entscheidung befähigt wurde. Der Hinweis auf die Labilität der öffentlichen Meinung1587 verfängt deshalb insoweit nicht, als dass es nie im Rechtswesen darauf ankommt, was gemeinhin in der breiten Bevölkerung für Recht befunden würde; jedenfalls dann nicht, solange die Beachtlichkeit solcher Meinungen an einen demokratischen Legitimierungsprozess bestimmter Form gebunden ist. Ein Richter ist in diesem Zusammenhang „Experte“ kraft Amtes, der Kontrolle und Filter1588 zu den verschiedenartigen Interessen, Wünschen und Meinungen leisten soll. Insofern kann man das Bild des „stellvertretenden Gewissensurteil“1589 auf ein „stellvertretendes Präventionsurteil“ erweitern. Es ist also geradezu die Aufgabe des Richters, die Entscheidung auf ihre prinzipielle Akzeptanz im Hinblick auf den Rechtsfrieden zu prüfen – aber immer mit Rekurs auf sein (überlegenes) Wissen um das des Rechts.1590 1587 B. Schünemann, in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften (2001), S. 338 (340). Aufschlussreich ist indes die Studie bei Streng, MschrKrim 87 (2004), S. 127 (130 ff.) zu Strafvorstellungen von Laien, die ein allzu undifferenziertes Denken nicht unbedingt befürchten lassen. 1588 Dazu auch Ellscheid, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 77 (96 f.). 1589 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie 2(1997), S. 132; ders., Jura 1986, S. 225 (232); ders., Das Schuldprinzip 2(1976), S. 197 ff. 1590 Es geht in diesem Zusammenhang auch nicht um mehr als ein abstraktes Systemvertrauen des Bürgers auf eine „gerechte“ Entscheidung, vgl. auch Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung (1983), S. 90; mit institutioneller Blickrichtung jüngst auch Kulhanek, NStZ 2020, S. 65 (70); Kölbel/Singelnstein, NStZ 2020, S. 333 (339). Andernfalls wäre eine Jury als Rechtsinstitution wohl effektiver. Daran, dasss eine Strafe eben auch nicht ohne Blick auf die
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3. Die Dynamik der Rechtsfriedensstörung – der Zeithorizont im Recht In der Beschreibung der Rechtsfriedensstörung als geistiges Bindeglied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird deutlich, dass es nicht nur darum gehen kann, das Unrechtsgeschehen in einem abgeschlossenen Zustand zu erfassen. Die Vergangenheit ist fraglos unabänderlich. Das kann auch für viele Fälle eines aus einem Verbrechen eingetretenem Substanzschaden gelten. Dennoch spielt der Zeithorizont für das Recht eine gewichtige Rolle. Die Idee der Zeitstrafe baut geradezu darauf auf, dass in der verstrichenen Zeit „etwas passiert“.1591 Wenngleich Unrecht selbst nicht vom Zeitablauf abhängt, sucht das Recht eine Perspektive. Die kann nur darin liegen, dass über den Zeitablauf der eingetretene Schaden der Rechtsfriedensstörung abgebaut werden kann.1592 Die Kategorien des Straftatsystems müssen also für eine Dynamik grundsätzlich offen sein. Im Momentum der Rechtsfriedensstörung ist dieses Phänomen belegt. a) Beispiel Nachtatverhalten Bereits erörtert für die Rechtsfriedensstörung ist die Bedeutung des Nachtatverhaltens.1593 b) Beispiel Verjährung Der Rechtscharakter der Verjährung wird gemeinhin an seiner Wirkung festgemacht: die Verjährung ist ein Prozesshindernis.1594 Obwohl im StGB geregelt, scheint diese Wirkung einem materiell-rechtlichen Charakter entgegenzutreten. Tatsächlich genügt ein schlichter Verweis auf den Zeitablauf einer Tat nicht, um das Rechtsinstitut zu erklären. Die Möglichkeit von Ruhen (§ 78b StGB) bzw. Unterbrechung (§ 78c StGB) kann dazu führen, dass in Echtzeit entgegen der eigentlichen gesetzlichen Intention (§ 78 Abs. 3 StGB) die Verjährung nicht mit dem Gewicht des Unrechts korrespondiert.1595 Der materielle Begründungsgehalt kann damit aber nicht suspendiert sein, denn der sachliche Grund der Verjährung ist noch nicht benannt. Der Sinn der Verjährung wird vielfach in der schleichenden Senkung der
„konkrete rechtliche Verfasstheit einer Gesellschaft“ bestimmt werden kann, erinnert Murmann, FS Frisch (2013), S. 1131 (1137), auch wenn es eine Binsenweisheit im Strafrecht darstellt. 1591 Vgl. Montenbruck, FS Triffterer (1996), S. 649 (661 f.). 1592 Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (299 f.). 1593 S. B. III. 1. c). 1594 Unstr., vgl. etwa BeckOK-StGB/Dallmeyer (Ed. 50 – Mai 2021), § 78 Rn. 1; NK-StGB/ Saliger 5(2017), Vor §§ 78 ff. Rn. 3; Sch/Sch-StGB/Bosch 30(2019), § 78 Rn. 3. 1595 MüKo-StGB/Mitsch 4(2020), § 78 Rn. 1.
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Rechtsfriedensstörung gesehen.1596 Der Konflikt verliert in aller Regel mit Zeitablauf – zumindest für die Öffentlichkeit1597 – an Virulenz. Das Recht sieht sich selbst weniger geschwächt und bedarf deswegen auch keines Stabilisierungsaktes durch Normbestätigung (mehr).1598 Eine bloß prozessuale Deutung befriedigt dagegen nicht. Der Verweis auf nachlassende Aufklärungsmöglichkeit mag im Einzelfall zutreffen, rechtfertigt aber keine vorzeitige, gewissermaßen resignative, Pauschalregelung.1599 Es ist Sache des (verfahrensrechtlichen) Beweisrechts, die Beweistauglichkeit einer Rekonstruktion der Tat zu regeln. Ohne materiell-rechtliche Bezüge lässt sich die Verjährung somit nicht adäquat erfassen.1600 Den materiellen Anknüpfungspunkt liefert wiederum die Rechtsfriedensstörung.1601
1596 BeckOK-StGB/Dallmeyer (Ed. 50 – Mai 2021), § 78 Rn. 2; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 86 S. 911; LK-StGB/Schmid 12(2008), Vor § 78 ff. Rn. 1; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (40. Lfg. Feb. 2005), Vor § 78 Rn. 10. „Fiktion einer Aussöhnung“ bei MüKoStGB/Mitsch 4(2020), §78 Rn. 3. Ablehnend Hörnle, GA 2010, S. 388 (390), die allerdings den hiesigen Komplementärgedanken zur Generalprävention auch nicht aufnimmt (S. 391 f.). Gerade das von ihr behandelte virulente Thema sexuellen Missbrauchs Minderjähriger (S. 394 ff.) zeigt m. E. paradigmatisch den Bezug auf zu der Realität eines materiellen Rechtsfriedens. 1597 Mit Hörnle, FS Beulke (2015), S. 115 (117 f.) wird man die Verjährung in Abhängigkeit zum staatlichen Strafanspruch zu sehen haben. 1598 Vgl. etwa Trüg, FS Kerner (2013), S. 675 (684): Strafbedürfnis nicht mehr bestehend. Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976), S. 190, spricht zutreffend von Zweckverfehlung. 1599 Anders diesbzgl. Bloy, a. a. O., S. 182. Entgegen geläufiger Annahme, vgl. zu dieser StGB-Fischer 67(2020), Vor § 78 Rn. 2 und NK-StGB/Saliger 5(2017), Vor §§ 78 ff. Rn. 6, geht es auch nicht um Rechtssicherheit als solche, denn sonst müssten auch Fälle sog. unechter Rückwirkung (Tatbestandliche Rückanknüpfung) generell Vertrauensschutz genießen. Dies widerspräche allgemeiner Auffassung, zu jener LK-StGB/Schmid 12(2007), Vor § 78 ff. Rn. 10; Lackner/Kühl-StGB 27(2011), §78 Rn. 5; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (40. Lfg. Feb. 2005), Vor § 78 Rn. 3 ff. 1600 Die Ansicht Roxins, in: Strafrecht AT I 4(2006), § 53 Rn. 52, erklärt sich auf Basis des engen Tatbegriffs (Deliktsbegriff), so dass diesbezüglich mit Recht die Verjährung als Geschehen außerhalb der Tat bestimmt wird. 1601 Eine strafrechtliche Systemvorgegebenheit lässt sich der Verjährung nicht zuweisen, eindrücklich dazu Hörnle, FS Beulke (2015), S. 115 ff. Es ist letztlich einzuräumen, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Die Überzeugungskraft der Fiktion kann man sicherlich anzweifeln, nicht zuletzt wenn man sie mit einer entgegenstehenden Realität konfrontiert. Eine Fiktion der Aussöhnung, vgl. MüKo-StGB/Mitsch 2(2012), § 78 Rn. 3, Herv. durch Verfasser, dürfte wohl auch eher zu weit gehen. Eher dürfte dies eine Haltung der Gleichgültigkeit der Rechtsgemeinschaft ausdrücken, so auch Hörnle, FS Beulke (2015), S. 115 (121). Ob sich andere Gründe für das Bedürfnis um einen solchen „Schlussstrich“ benennen lassen, muss hier offen bleiben. Hörnle, a. a. O. geht davon offenbar aus.
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c) Beispiel Reststrafaussetzung: die Schwere der Schuld in § 57a StGB Einen besonderen Anwendungsfall der Rechtsfriedensproblematik eröffnet die Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe. Die Notwendigkeit des Rechtsinstituts einer Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe ist ein verfassungsrechtliches Gebot.1602 Die dogmatische Systematisierung der legislativen Umsetzung1603 bereitet der Rechtswissenschaft noch immer immense Probleme. Die Strafaussetzung nach § 57a StGB geht von je zwei formellen und materiellen Voraussetzungen aus. Zu beachten sind formell die Mindestverbüßungsdauer (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) und die Einwilligung1604 des Aussetzungskandidaten (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i. V. m. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB). Diese sind nicht besonders problembehaftet.1605 Materiell erforderlich sind positiv eine günstige Kriminalprognose (§ 57a Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 57 I 1 Nr. 2 StGB) und negativ die fehlende Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB). Das Hauptaugenmerk der Diskussion betrifft die Bestimmung der besonderen Schwere der Schuld. Gegenstand der Überlegungen für die Schuldschwere kann nur eine quantitative Analyse der Strafzumessungsschuld1606 sein, dessen Substrat von der Rechtsfriedensstörung gebildet wird. Ob für die besondere Schwere der Schuld bereits eine Überschreitung des notwendigen Mindestschuldgehalts1607 ausreicht oder diese erst beim Überschreiten einer Regel-/Durchschnittsschuld1608 erreicht wird,1609 ist im Hinblick auf den Topos der Rechtsfriedensstörung unbedeutend. Die 1602
BVerfGE 45, 187 (227) – Urt. v 21. 06. 1977 – 1 BvL 14/76. Durch das 20. StrÄndG vom 8. 12. 1981. 1604 Als systemwidrig kritisiert von Kett-Straub, FS Stöckel (2010), S. 377 (391 ff.). 1605 Zu den Einzelheiten MüKo-StGB/Groß 2(2012), §57a Rn. 1 ff. 1606 Weitgehend wird die Argumentationsfigur der Strafzumessungsschuld herangezogen, so bei HK-GS/Braasch 3(2013), § 57a StGB Rn. 7; NK-StGB/Dünkel 5(2017), § 57a Rn. 8; Duttge, FS Eisenberg (2009), S. 271 (275); Kintzi, FS Salger (1995), S. 75 (85); StGB-Lackner/ Kühl/Heger 29(2018), §57a Rn. 3b; StGB-Fischer 67(2020), Vor § 57a Rn. 11; Sch/Sch-StGB/ Kinzig 30(2019), §57a Rn. 5; SK-StGB/Horn (34. Lfg. April 2001), §57a Rn. 7a: „verschuldetes Unrecht“ i. S. v. § 46 StGB; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 247 mit entspr. Nachweisen; vgl. auch LK-StGB/Theune 12(2006), Vor §§ 46 – 50 Rn. 4: universeller Regelungsgedanke des § 46 StGB. A. A. jedoch bei MüKo-StGB/Groß 2(2012), §57a Rn. 11 ff.: die Schuld sei gewissermaßen „unendlich“ (Rn. 11 ebd.), so dass es nicht um eine quantitative Maßeinheit gehe, (Rn. 17 ebd.). Abweichende Ergebnisse sollen offenbar nicht erzielt werden, obschon die Idee einer „Unendlichkeit“ alle Überlegungen ein Stück weit hinfällig macht. 1607 Dafür: StGB-Fischer 67(2020), Vor § 57a Rn. 10; Sch/Sch-StGB/Kinzig 30(2019), §57a Rn. 5; SK-StGB/Horn (34. Lfg. April 2001), §57a Rn. 7b; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3 (2012), Rn. 294 mit entsprechenden Nachweisen; zu den Schwächen allerdings auch letzterer, JZ 1995, S. 556 (560). 1608 Dafür: NK-StGB/Dünkel 5(2017), § 57a Rn. 9; MüKo-StGB/Groß 2(2012), §57a Rn. 18, Revel, Anwendungsprobleme der Schuldschwereklausel des § 57 a StGB (1989), S. 52 ff. mit Nachweisen. 1609 Laut MüKo-StGB/Groß 2(2012), § 57a Rn. 12 ist eine Auslegung „vom Ergebnis her“ zu erwarten. Die Rspr. hat in BGHSt-GS 40, S. 360 (370), die Formel der „Umstände von Gewicht“ geprägt. Zust. LK-StGB/Hubrach, 12(2008), § 57a Rn. 13 f.; im Übrigen eher Kritik 1603
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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gefundenen Kriterien der Schuldschwere konkretisieren in jedem Fall die in der Tat konstituierte Rechtsfriedensstörung.1610 Bedeutsamer für diesen Kontext ist das Verhältnis von der besonders schweren Schuld zum Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i. V. m. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB). Hier treffen zwei spezifische Präventionsüberlegungen zusammen. Die besondere Schwere der Schuld als außergewöhnliche Rechtsfriedensstörung bedeutet letztlich im Kern nichts anderes als das Merkmal der Verteidigung der Rechtsordnung bei anderen Aussetzungsentscheidungen. Zwar lässt sich belegen, dass solche generalpräventiven Überlegungen bei der Konkretisierung der Norm eigentlich außen vor bleiben sollen.1611 Zurückzuführen ist dies allein auf die Unterentwicklung der Rechtsfriedensstörung als Substrat der (Strafzumessungs-)Schuld. Über das Gebot der weiteren Vollstreckung wird nämlich ein Zeithorizont erschlossen, der über das statische Moment einer Tat hinausreicht.1612 Ein solcher Zeithorizont setzt allerdings eine veränderliche Größe voraus. Mit anderen Worten muss die Schuld mit Zeitablauf, wenn schon nicht schwinden, so doch wenigstens „verblassen“. Das Verblassen erklärt sich wie in den anderen Fällen der Geschehensdynamik (Nachtatverhalten, Verjährung) über die argumentative Figur einer Minderung der Rechtsfriedensstörung.1613 Der Einfluss generalpräventiver Deutungsmuster führt allerdings nicht zwangsläufig zu reinen Sicherheitsüberlegungen im Rahmen der Schuld. Zwar betrifft eine sicherheitspolitische Analyse der Tätergefährlichkeit immer auch den Rechtsfrieden, das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit bleibt aber systematisch von der Rechtsfriedensstörung aus der schuldhaften Tat getrennt. Ein Beispiel: Ein zu lebenslanger Haft verurteiltes Mitglied M einer ehemals bestehenden terroristischen Vereinigung begehrt Strafrestaussetzung. Da sämtliche Strukturen dieser Vereinigung bereits seit Jahren niederliegen, besteht keine aktuelle Gefahr der Begehung weiterer Verbrechen unter dem Gesichtspunkt der ursprünglichen Verurteilung – trotz der fehlenden im Schrifttum, s. die Nachweise bei StGB-Fischer 67(2020), § 57a Rn. 10; Lackner/Kühl-StGB 27 (2011), § 57a Rn. 3a. Die Formel läuft am Ende auf eine nicht weiter differenzierte Gesamtwürdigungslösung hinaus. 1610 Anders Müller-Dietz, Jura 1994, S. 72 (79 f.) und Meurer, JR 1992, S. 441 (444 f.), denen ein Modell spezifischer Strafvollstreckungsschuld wohl vorschwebt. Als Systembegriff ist eine Strafvollstreckungsschuld eher untunlich, zumal es eine originäre Vollstreckungsschuld nicht geben kann. Obendrein ist nicht einzusehen, weshalb das Tatgericht Schuldüberlegungen zu unterlassen habe, so jedoch Müller-Dietz, a. a. O., S. 80 sowie Czerner, FS Kerner (2013), S. 547 (557): „kumulative Schuldbewertung [sei] redundant“. Auch wenn Mordmerkmale keine spezifischen Schuldmerkmale sein sollten, heißt das nicht, dass Subsumtionsbemühungen bezüglich des Tatbestands schuldindifferent seien. Ablehnend mit Recht Streng, JZ 1995, S. 556 (557 f.). 1611 NK-StGB/Dünkel 5(2017), § 57a Rn. 7 zur Genese; affirmativ etwa LK-StGB/Hubrach 12 (2008), § 57a Rn. 16; MüKo-StGB/Groß 2(2012), § 57a Rn. 17; Lackner/Kühl-StGB 27(2011), §57a Rn. 10; StGB-Fischer 67(2020), Vor § 57a Rn. 23. 1612 Zutreffend gesehen bei MüKo-StGB/Groß 2(2012), § 57a Rn. 20. 1613 Der Begriff der Rechtsfriedensstörung übernimmt damit die von Duttge, FS Eisenberg (2009), S. 271 (280) eingeforderte „übergreifende“ Währung.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
Distanzierung des M. Da die terroristischen Anschläge im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft allerdings noch nachwirken, ist eine fortwährende Vollstreckung unter dem Aspekt der ursprünglichen (!) Schwere der Schuld begründbar – da sich der Rechtsfrieden in dieser Angelegenheit noch nicht restabilisiert hat.1614
Gefahrmoment und Schuldfortwirkung werden also eigenständig beurteilt. Dringt man zu der Erkenntnis durch, dass die Schwere der Schuld nur ein funktionelles Äquivalent zur generalpräventiven Strafbegründung ist, lassen sich generalpräventive Argumentationsfiguren nicht verdrängen.1615 Der Sache nach geht es um die „Verteidigung des Schuldstrafrechts“ – gewissermaßen einen Teil der Rechtsordnung! Die häufig zu beobachtende Abneigung strengen strafrechtlichen Funktionalismus’ sollte nicht dazu verleiten, die generalpräventiven Momente in der Strafund damit bereits Unrechtsbegründung zu verdecken.1616 Über das normative Merkmal des Geboten-Seins erfolgt schließlich die abschließende Beurteilung.1617 Aus dieser Gesetzesinterpretation erschließt sich auch die Arbeitsteilung von Schwurgericht und Vollstreckungsgericht. Während die gegenwärtige Analyse der Rechtsfriedensstörung als eine Frage der Strafvollstreckung dem Vollstreckungsgericht gebührt, muss die ursprüngliche Rechtsfriedensstörung zum Zeitpunkt des Urteils als Folge des Rechtsbruchs verbindlich festgestellt werden um eine reformatio in peius im Laufe der Vollstreckung auszuschließen.1618 1614 An diesem Beispiel lässt sich der Unterschied in den materiellen Aussetzungsvoraussetzungen verdeutlichen: so kann eine aktuelle Gefahr verneint werden, soweit die ehemals terroristischen Strukturen keine Bedrohung (mehr) für die Bevölkerung darstellen. Die Zugehörigkeit zur RAF würde (derzeit) anders beurteilt werden als eine zu al-Qaida. Die nachwirkende Rechtsfriedensstörung ist demnach individuell zu analysieren. Gewichtig in diesem Zusammenhang ist das Wirken zur eigentlichen Tatzeit des Delikts, aber auch die Biographie nach der Verurteilung. So spricht eine fortwährende Renitenz (fehlende „Reue“ bzw. Distanzierung) für eine geringe Eignung letztlich den Rechtsfrieden wieder herstellen zu können. Ergibt sich über die Haftzeit keine hinreichende Minderung, bleibt die Vollstreckung geboten. 1615 Anklänge bei SK-StGB/Horn (34. Lfg. April 2001), § 57a Rn. 7e; ähnliche Tendenz bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 253. Nichts anderes in Form einer Paraphrasierung findet statt, wenn „die Erhaltung des Wertbewusstseins“, Lackner/Kühl-StGB 27(2011), §57a Rn. 10 oder ein aktuelles „Sühnebedürfnis“, LK-StGB/Hubrach 12(2008), § 57a Rn. 17, zuvor auch LK-StGB/Gribbohm 11(2008), § 57a Rn. 15 u. 20, bemüht wird. 1616 Deutlich wird das auch im Fall des Verweises in § 57a I 2 i. V. m. § 57 VI StGB, der als verklausuliertes Anwendungsbeispiel der Verteidigung der Rechtsordnung“ gilt, so SK-StGB/ Horn (36. Lfg. April 2001), § 57 Rn. 10; zust. NK-StGB/Dünkel 5(2017), § 57 Rn. 69. 1617 Ob das Geboten-Sein und die Schuldschwere zwei selbständige Voraussetzungen sind, ist nicht eindeutig, dazu Boetticher, FS Mahrenholz (1994), S. 763 (776); StGB-Fischer, 62 (2015), Vor § 57a Rn. 16. Jedenfalls erscheint es möglich noch andere Umstände abseits der Tatschuldschwere (resp. Rechtsfriedensstörung) zu berücksichtigen, etwa die konkrete Vollzugswirkung; weitere Aspekte bei Lackner/Kühl-StGB 27(2011), § 57a Rn. 10. 1618 Die Anschauung einer Straftat kann sich im Laufe der Zeit natürlich auch zum Nachteil des Täters wandeln. Rechtsstaatlich muss er jedoch vor einer Schlechterstellung geschützt werden. Institutionell ist dies am sichersten über das Schwurgericht gewährleistet. Insofern ist die Schwurgerichtslösung der Sache nach zwingend, vgl. MüKo-StGB/Groß 2(2012), § 57a Rn. 15, 32 f.; Sch/Sch-StGB/Kinzig 30(2019), § 57a Rn. 6; LK-StGB/Hubrach 12(2008), § 57a
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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d) Exkurs: Die Korrespondenz von Rechtsfriedensstörung und Strafdauer Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Insofern wird dem deliktischen Unrechtsgeschehen die Statik nicht abzusprechen sein. Daraus folgte gemeinhin der Schluss, dass sich auch die Schuld an der Tat nicht ändern könne. Das vorangegangene Beispiel hat allerdings gezeigt, dass mit dem Zeitablauf sich der Umgang mit der Tat ändern kann. Es bedarf nicht der abgedroschenen Floskel von „der Zeit, die alle Wunden heilt“, um zu der Einsicht zu gelangen, dass sich die Betrachtung der Geschehnisse, der Zugang zu den zementierten Dingen mit Zeitablauf ändern kann. Dies entspricht der allgemeinen Alltagserfahrung. Der Mensch wird in seinem Lebenslauf mit unterschiedlichen Erfahrungen von Verlust und Niederlage konfrontiert, die er mit unbestimmtem Erfolg zu verarbeiten versucht. Dabei kommt es in den seltensten Fällen zu einer Neubewertung des ursprünglichen Ereignisses. Der Tod einer nahestehenden, geliebten Person verläuft sich nicht irgendwann in Gleichgültigkeit. So denn eine Neubewertung ausbleiben kann, so besteht dennoch die prinzipielle Chance mit den gewandelten Umständen einen Umgang und Auskommen zu finden. Diese grundsätzliche Perspektive muss auch für das Strafrecht möglich sein. Im Gegensatz zum statischen Unrechtsbegriff kann die Rechtsfriedensstörung diesen dynamischen Prozess abbilden. Aus der hier entwickelten Auslegung zur Regelung des § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB lässt sich ein allgemeines Prinzip gewinnen: eine Vollstreckung der Strafe ist nur solange notwendig, wie sie aus Gründen der Schuldschwere geboten ist. Die Schuldschwere wiederum führt zurück auf den Begriff der Rechtsfriedensstörung. Es wird vorab auf Basis der (aktuell) gültigen gesellschaftlichen Wertmaßstäben ein Strafausspruch gefunden, mit dessen Strafdauer die Idee verbunden ist, dass genau über diesen Zeitablauf hin mit dem bezifferten Strafübel der Konflikt, resp. die Rechtsfriedensstörung, perspektivisch verarbeitet werden kann. Es ist dies gemeint, wenn aufgrund zweckorientierter Strafzumessung die Strafe nach Erforderlichkeit der Generalprävention bemessen werden soll. Jenseits aller allegorischen Schuldausgleichsansätze ergeht bei der retrospektiven Tatbewertung nämlich (auch) ein in die Zukunft gerichtetes Prognoseurteil. Die Zeitgrenzen der Aussetzungsfähigkeit von Strafen müssen, so sie denn nicht willkürlich gewählt sind, einem Zeitdeutungsmuster zugänglich sein.1619 Die Halbstrafen bzw. Zwei-Drittel-Strafverbüßung können nun in einen Kontext menschlichen Zyklusdenkens1620 gestellt werden. Dazu wird jeweils nach einem Rn. 12, anders noch die Vorauflage LK-StGB/Gribbohm 11(2008), § 57a Rn. 48 f. Dagegen auch SK-StGB/Horn (34. Lfg. April 2001), § 57a Rn. 8; Lackner/Kühl-StGB 27(2011), § 57a Rn. 3. Eine Fragestellung anderer Art betrifft die Methodik verfassungsrechtliche Entscheidungsfindung. Die vorgebrachte Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. 1619 Ohne Bezug zu dem hiesigen Ansatz skizziert Montenbruck, FS Triffterer (1996), S. 649 (665 ff.), eine anthropologische Analyse der Strafzeit. In ähnlicher Direktion wird man sich anderen „Zeitmodellen“ nähern können. 1620 Zum „Zyklendenkmuster“ referiert ebenfalls Montenbruck, a. a. O., S. 657. Die Einteilung in bestimmte Zeitrahmen korrespondiert mit der Beobachtung der sog. Prägnanztendenz
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Bruchteil der Strafzeit eine vorläufige Bilanz gezogen. Die spezialpräventive Aussetzungsfähigkeit wird allerdings nicht direkt flankiert von einer generalpräventiven Vertretbarkeit der Aussetzung. Die aus der Tat wirkende Rechtsfriedensstörung müsste strukturell derselben fortwährenden Überprüfung offen stehen wie die Sicherheitsvorbehalte in Bezug auf die Person des Täters.1621 Stellt man nach einem gewissen Zeitablauf fest, dass sich das Recht ausreichend stabilisiert hat, hat sich auch die Rechtsfriedensstörung entscheidend relativiert.1622 Dann aber ist der Grund (jedenfalls) für die Strafvollstreckung entfallen. Das Recht müsste daher an und für sich in der Lage sein diesen Irrtum1623 zu revidieren. Verfahrensrechtliche Instrumente müssten folgerichtig geschaffen werden: die Möglichkeit einer Erledigungserklärung der Strafe bzw. Umwandlung der Strafe.1624 In Abgrenzung zum Wiederaufnahmeverfahren geht es daher nicht um die Korrektur der ursprünglichen Rechtsfindung, sondern um eine ggf. notwendige Anpassung an die zeitigen Verhältnisse.1625 An dieser Stelle muss es bei diesem Entwurf bleiben. Rein faktisch wird es ohnehin nur um hochstrafige Verurteilungen gehen können, da sich erst dort realiter eine Veränderung der Wahrnehmung der Verhältnisse mit Zeitablauf einstellen wird. Hervorzuheben gilt es, dass die Unsicherheit der „richtigen Strafe“ strukturell einer Prognoseunsicherheit gleicht. Schuld lässt sich begrifflich nicht ausgleichen, sondern auf einen Zeithorizont gemünzt verarbeiten. Ohne Pauschallösungen kommt das Recht dabei praktisch nicht aus. Eine Schuld-Strafzeit-Relation bezahlt dies mit einer Ungenauigkeit, die derzeit rechtspolitisch tendenziell zugunsten eher hoher Strafrahmen ausfällt. Ein Überprüfungsmechanismus nach Zeitablauf wäre ein
von Seiten der Gestaltpsychologie, zu letzterem Rolinski, Die Prägnanztendenz im Strafurteil (1969), S. 29 ff., vgl. zudem Fn. 2250. 1621 § 57 StGB ist nach dem hier entworfenen Modell insoweit unvollkommen, als dass die Rechtsfriedensstörung in Kontrast zu § 56 III bzw. mittelbar über die Schwere der Schuld § 57a I 1 Nr. 2 StGB kein Korrelat gefunden hat. Die Sachaspekte sind in § 57 I 2 StGB zwar größtenteils verortet, aber verklausuliert und lediglich indiziell. 1622 Vgl. auch Montenbruck, FS Triffterer (1996), S. 649 (662). 1623 Man wird hier zwischen Reliabilität der Prognose und ursprünglich falscher Prognose unterscheiden müssen. Eine Prognose kann sich im Nachhinein als unrichtig herausstellen, ohne dass dabei auf Basis des ex-ante Wissens falsche Schlüsse gezogen wurden; kurz: auch eine handwerklich „gute“ Prognose muss nicht eintreten, hier sog. unechte Falschprognose. Die Qualität der Prognose kann aber bereits zum Entscheidungszeitpunkt auf Basis des verfügbaren Wissens eine schlechte sein. Solche Prognosen sind konstruktionsbedingt unzuverlässig; hier als sog. „echte“ Falschprognosen. 1624 Umwandlung meint hier eine Offenheit hinsichtlich neuer Sanktionsmaßnahmen im Sinne spezialpräventiver Flexibilität, soweit sie ein Minus zum Freiheitsentzug darstellen. 1625 Frühe Ansätze Horn, ZStW 85 (1973), S. 7 (22 f.), der zu Recht anregt, Verhängungsund Vollstreckungssystem isoliert zu betrachten.
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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probates Mittel, mit welchem auf überdimensionierte Punitivität reagiert werden könnte.1626 4. Trichtermodell der Verbrechenslehre Mit der hier vorgeschlagenen extensiven Auslegung des Tatbegriffs zugunsten des Strafzumessungsrechts drängen bislang irrelevante Aspekte in die Straftatlehre. Die bisherigen Ausführungen veranlassen deshalb dazu einen Blick auf die nunmehr gewonnene Verbrechensstruktur zu werfen um diese mit der klassischen Verbrechenslehre abzugleichen. a) Bisherige Straftatmodelle Das Modell mit der wohl größten Verbreitung ist der klassisch dreigliedrige Verbrechensbegriff bestehend aus Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Daneben existieren zweigliedrige Verbrechenskonzeption1627 oder auch Erweiterungen des dreigliedrigen Aufbaus.1628 In klassischer Doktrin naturwissenschaftlichen Denkens sind die Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld Attribute einer Handlung, die dieselbe zum (phänomenologischen) Verbrechen deklarieren. Die drei kennzeichnenden Attribute gelten insoweit als Merkmale einer Straftat. Darüber hinaus ist die Hierarchie dieser Merkmale zu berücksichtigen: Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld sind in dieser Abfolge zu überprüfen. Diese Reihung ist nicht nur vertrautes „Prüfungsschema“, sondern soll eine bestimmte Hierarchie ausdrücken.1629 Die Hierarchie findet ihren bildlichen Ausdruck beispielsweise in 1626
Das gilt sowohl für legislative und judikative Punitivität. Die meist hoch emotionalisierten Straf(rahmen)findungsprozesse kühlen sich mit Zeitablauf ab. Strukturell spricht zudem nichts dagegen, Opferbelange in einem Strafvollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. 1627 Weithin die Lehre(n) von den negativen Tatbestandsmerkmalen, in denen als Systembausteine lediglich Unrecht und Schuld vorkommen; zuletzt behandelt bei Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau (1999); S. 312 ff., 391 ff., dessen Untersuchung trotz Übereinstimmungen mit der überlieferten Lehre ein eigenständiges System zweistufiger Deliktsaufbau postuliert (a. a. O., S. 471) im klassischen Sinne bei B. Schünemann/Greco, GA 2006, S. 777 (789, 792). Werden diese beiden als Einheit betrachtet, ergibt sich ein zusätzlich abweichendes Bild. S. etwa T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 212 f., der die Kategorien von Unrecht und Schuld den Opportunitätsregeln gegenüberstellt. Des Weiteren Freund, Strafrecht AT 2(2009), Anh. 1 S. 458, der allerdings in Verwendung teilbereichsspezifischer Sondersprache dennoch zu einem Zweistufenaufbau gelangt. Ein zusammenfassendes Plädoyer für den dreistufigen Aufbau der h. M. bei Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil 5 (2012), Rn. 268 ff. 1628 Strafwürdigkeit als zusätzliche Stufe bei Langer, FS Otto (2007), S. 107 (114, 117); ders., Das Sonderverbrechen 2(2007), S. 141 ff.; Ansätze auch bei Schmidhäuser, GS für Radbruch, S. 268 (280). Kritisch zur Vorauflage Langers 1(1972) Otto, in: GS Schröder (1978), S. 53 (63). Ablehnend Volk, ZStW 97 (1985), S. 871 (899 f.). 1629 Der Grund der Hierarchie variiert: er lässt sich ontologisch (Welzels Sachlogik bzw. Schmidhäusers Seele-Geist-Differenzierung) oder als Produkt rechtswissenschaftlicher Me-
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
einer „Begriffspyramide“.1630 Dahinter steht die Auffassung, dass „logisch“ vorrangig zunächst über den Tatbestand, dann über die Rechtswidrigkeit und schließlich über die Schuld zu befinden wäre und der eine Aspekt auf dem anderen aufbaut.1631 Demgegenüber verwirft die holistische Lehre dieses Elementardenken. Die Straftat existiere nicht als eine Summe von Prädikaten, sondern nur als Ganzes.1632 Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld seinen demnach nur Momente1633 einer Entität Straftat. Als Merkmale könnten sie nur als Argumentationsfiguren im Rahmen einer konkreten Falllösung1634 und somit topisch1635 begriffen werden. Modelltechnisch ist das Konzept am besten in konzentrischen Kreisen zu veranschaulichen.1636 b) Das Trichtermodell aa) Die Auseinandersetzung um die Logik im Verbrechen ist hier nicht zu vertiefen. Ob die Straftat mit Prädikatenlogik (Begriffslogik) oder vielmehr mittels klassenlogischer Strukturen1637 zu erfassen ist, kann innerhalb dieser Themenstelthodik, die regelmäßig ein logisches Ableitungsverhältnis impliziert, begründen; s. die Darstellung bei Schild, Der Straftatbegriff als Argumentationsschema, in: Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft 14 (1980), S. 213 (214 – 220), mit den dazugehörigen Nachweisen. 1630 Zum Ganzen Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 6 f. 1631 Eine immanente Logik wird aber auch bestritten. Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld seien lediglich konjunktiv verbunden, s. Rödig, FS Richard Lange (1974), S. 39 (43), woraus keine logische Abhängigkeit folge. Deren Abfolge lasse sich allein über die Zweckmäßigkeit bewerkstelligen, Rödig, a. a. O., S. 44 f. Beispiel dort ist die Strafunmündigkeit (§ 19 StGB), die systematisch unabhängig von einem Tatbestand gilt. Soweit sich auf Logik als formales System berufen wird, ist dem nichts zu entgegnen. Logik als formale Disziplin entscheidet aber ohnehin nicht über die Inhalte als solche, vgl. Neumann, in: Hassemer/Neumann, Einführung 8(2011), S. 298 (311 f.). Dort ist die Rede von Pseudologik, falls dies dennoch reklamiert wird. Die Stufen untereinander unterhalten der Sache nach Relationen. Siehe zu diesem Komplex auch Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 46 ff., 53, 105 ff., 124. 1632 Wiederum Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 25 ff., 45, 120 ff. 1633 Daraus folgt ein konkretes Substantialisierungsverbot, so Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 37 i. V. m. S. 39, ders., ARSP-Beiheft 14 (1980), S. 213 (227 f.). 1634 Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 46 ff. 1635 Schild, ARSP-Beiheft 14 (1980), S. 213 (226 f.). 1636 Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 11, erwähnt das Kreismodell in anderem Zusammenhang ohne darauf im folgenden Text Bezug zu nehmen. Recht beiläufig stellt sich aber die Eignung dieses Modells für seine Einsicht heraus. Denn der Kreis im Inneren vereinigt sämtliche Momente der Straftat zum Ganzen. 1637 Die Möglichkeiten der klassenlogischen Darstellung sind zum augenblicklichen Zeitpunkt entweder unterentwickelt oder – soweit ausgeschöpft – zumindest nicht einer breiteren Öffentlichkeit zuteil geworden. Im strafrechtlichen Schrifttum ist dieser Aspekt, soweit ersichtlich, offenbar unbeachtet geblieben.
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lung offen bleiben. Die Straftatsystematik und der Verbrechensaufbau sind nach der bisherigen Untersuchung funktional zu erfassen. Funktional heißt, das Verbrechenssystem vom Ziel (ergo der Sanktion bzw. Nicht-Sanktion) her zu denken. In diesem methodischen Ansatz trifft sich diese Ansicht mit Konzeptionen funktioneller Straftatlehren – ohne die Begrifflichkeit zwingend zweckorientiert (resp. generalpräventiv) in Form einer Identität von Zweck und Mittel aufladen zu müssen. Die Straftat ist zuallererst ein Lebenssachverhalt, der als deviantes Verhalten in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden rückt. Das (straftatsystematische) Verbrechen selbst ist davon nur ein Ausschnitt aus diesem Lebenssachverhalt, der einen gesellschaftlichen Steuerungsanspruch rechtfertigt und Interventionsbedarf auslöst. Dieser Interventionsbedarf gründet sich letztlich auf die bekannten Strafrechtstheorien. Die Mechanismen staatlicher Intervention zeigt insoweit das sog. Trichtermodell1638 des Kriminaljustizsystems. Dieses Trichtermodell vergegenwärtigt den Ausleseprozess, den die Kriminalitätsverfolgung permanent durchläuft. Die juristische Beurteilung der (Straf-)Tat ist selbst nur ein Teilaspekt innerhalb dieses Kontrollapparats. Ist aber die Straftat ein Teil dieses Systems1639 spricht einiges dafür, dass ihre Struktur ebenfalls den Regeln dieses Systems gehorcht. Tatsächlich wird auch das Strafrecht von einem Eliminationsverfahren geleitet. Das tatbestandliche Verhalten wird vom irrelevanten geschieden, die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung vom gerechtfertigten Handeln und schließlich die schuldhafte Tat von der bloß rechtswidrigen. Das Eliminationsprinzip liefert ein Denkschema,1640 der das Verbrechen nach sachlichen Begründungseinheiten1641 in einzelne Untersuchungsschritte unterteilt.1642 Die einzelnen Untersuchungsschritte sind technisch gesehen Operationalisierungen von Zurechnung, die wie Filter in einem Trichter wirken. Der Lebenssachverhalt wird gewissermaßen im Hinblick auf die Strafbarkeit des Verhaltens „gesiebt“. Zu tun haben wir es also weniger mit (elementaren) Bausteinen eines nominal definierten Verbrechens, sondern mit einem Unrecht-Schuld-Konti-
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Kaiser, Kriminologie 3(1996), § 37 Rn. 17, S. 362. Eine Aufteilung des Straftatbegriffs in Abhängigkeit zum Verfahrensstadium ist bereits bei Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß (1984), S. 182 ff. aufgezeigt worden. Die „Verengung der Perspektive“ im Laufe des (Straf-)Verfahrens (S. 307) ist hier durch das Trichtermodell repräsentiert. Die Idee, Verbindungen der Straftatlehre zum Strafprozess zu konstruieren (S. 319 ff.), kann vom Trichtermodell aus besehen zumindest in einer ersten Hypothese als strukturell entwicklungsfähig gelten. 1640 Das Phänomen „Recht als Schema“ ist Ausdruck seiner Anwendungsorientierung, vgl. Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 87 f. Freilich lässt sich die Frage nach einem Begriff des Rechts auch in seiner abstrakten Form aufwerfen. Dann ist Recht zu unterschieden nach Form und nach Inhalt (das „richtige“ Recht). Das gebührt allerdings dem Forum der Rechtsphilosophie. 1641 Die Rechtswissenschaft erweist sich als Begründungswissenschaft, vgl. Neumann, in: Hassemer/Neumann, Einführung 8(2011), S. 385 (392 f.). 1642 Schild, Die ,Merkmale‘ der Straftat und ihres Begriffs (1979), S. 53. 1639
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nuum in seiner Verlaufsgestalt.1643 Die Verbrechensdefinition folgt damit letztlich einem argumentativen Gebrauchswert.1644 Im praktisch orientierten Gebrauchswert erschöpft sich die Logik der Verbrechenslehre.1645 bb) Das Trichtermodell zeigt einen Doppelkegel1646 als Verbildlichung des Unrecht-Schuld-Kontinuums. Es vereint sowohl das hierarchisch geprägte Modell der Begriffspyramide als auch das Modell der ineinander liegenden Kreise.1647 Die Prüfungsstufen des Verbrechens sind Ebenen1648, welche die einzelnen Filter sym1643 Das Modell des „Schuldsiebs“ wird noch mit einer gewissen Verhaltenheit vorgetragen; erfreut sich aber mittlerweile schon mehrerer Befürworter. Ausdrücklich bei SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 41; zust. Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld (1992), S. 162; Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 83, 115; Hörnle, JZ 1999, S. 1080 (1087). S. auch die Ausführungen bei Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006), S. 148 ff., 151. Ferner die Überlegungen bei Schild, ARSP-Beiheft 14 (1980), S. 213 (222). Eine Art „Schachtellogik“ (Matrjoschka-Prinzip) auf Basis der Spielraumtheorie gibt es bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 236 f. Da es sachlich ebenfalls um eine schrittweise Verengung geht, sind gleiche Ergebnisse erwartbar. Die Dynamik des Geschehens bildet es indes nicht ab oder wenigstens nicht in gleiche Weise veranschaulicht wie das Trichtermodell. Mit der Verlaufsgestalt unvereinbar ist es, nachgelagerte Stufen eine Wechselwirkung zuzubilligen. So allerdings Herzberg, FS BGH IV (2000), S. 51 (55), wenn er der Schuldverringerung gleichzeitig Unrechtsminderung attestiert. 1644 „Nicht durch die Definition wird die Anwendung eines Begriffes festgelegt, sondern die Verwendung des Begriffes legt das fest, was man seine ,Definition‘ oder seine ,Bedeutung‘ nennt. Anders ausgedrückt: Es gibt nur Gebrauchsdefinitionen“, aus: Karl R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930 – 1933, Tübingen 3(2010), S. 366 f. 1645 Als Grundregeln der Methodik einer Verbrechenslehre nennt Weigend, Gesetzeskonformität, Zweckorientierung und Verfahrenstauglichkeit, in: Strafrecht AT 5(1996), § 21 II, S. 196 ff. Das als Maßstab genommen hat es jegliche ontologische Verbrechenslehre schwer sich zu behaupten, denn Gesetze und deren Zweckrichtung können sich schließlich ändern. So wird man selbst die Strafrechtslehre der NS-Zeit („Kieler Schule“) nicht als antimethodisch beschreiben können, obwohl diese mit elementaren Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist. Jede kontemporäre Strafrechtslehre wird seine Überlegenheit proklamieren – selbstredend in Bezug auf die zu erreichenden Ziele. Zurecht heißt es in der Konsequenz bei Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 22 VI 5, S. 216 f.: „Es gibt keine Verbrechenslehre, die mehr sein kann als ein vergänglicher Entwurf“. 1646 Der Integrationsansatz macht sich die Erkenntnisse der Elementargeometrie zu Nutze. Die Volumina von Kegel und Pyramide sind gleich, wenn sie in Grundfläche und Höhe übereinstimmen. VPyramide = 1/3 Grundfläche x Höhe entspricht VKegel = 1/3 Grundfläche x Höhe, wobei die Grundfläche pr2 beträgt. Die Kreismetaphorik wird durch die (Quer-) Schnittfläche widergespiegelt. Bilden Achse des (geraden) Kegels und Schnittebene einen rechten Winkel, so sind die Kegelschnittflächen Kreise als Spezialfall einer Ellipse. 1647 Ansätze erkennbar bei AK-StGB/Schild (1990), Vor § 13 Rn. 23, der die „umgedrehte“ Pyramide beiläufig erwähnt, dann aber zu einem „Zwiebelmodell“ umschwenkt. Vgl. ferner jetzt auch die Graphik bei Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT 45(2015), Rn. 126, die allerdings reine Illustration ist. Eine Betrachtung von Kern (Unrecht) und Hülle (Schuld) fällt beiläufig auch bei Kühl, FS Kühne (2013), S. 15 (17). 1648 Man kann daraus durchaus eine Argumentationsmetaphorik entnehmen: Es geht folglich um Argumentationsebenen.
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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Abbildung 1: Trichter-Modell der Verbrechenslehre
bolisieren. Die Schnittstelle der Schuld ist die entscheidende und fungiert gleichsam als die Spiegelachse (der Zurechnung): nur das Unrecht, welches die Schuld „passiert“, wird als strafbares Unrecht zugerechnet. Nur unter voller Zurechnung spiegelt das Zurechnungsergebnis Schuld auch das gesamte Unrechtsgeschehen wider. Den erarbeiteten dogmatischen Grundsätzen kann dieses Modell gerecht werden: Es gibt hiernach kein Nebeneinander von Unrecht und Schuld,1649 welches einen Tat-TäterDualismus suggeriert. Schuld kommt ohne Unrecht nicht aus, da es keine abstrakte Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit gibt, aus denen Schuld im Strafrecht erwächst. Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit beziehen sich stets auf einen konkreten Sachverhalt, der ein (mögliches) Unrecht in dieser Tatsituation zur Überprüfung stellt. (Straf-)Unrecht und Schuld sind aufeinander bezogene, aber eigenständige Begriffe.1650 Es ist dies der Unrecht-Schuld-Konnex im Schuldstrafrecht.
1649 Historisches Gegenbeispiel ist Kantorowicz’ Vorstellung vom Dualismus von Tat und Schuld: Inbegriff der sachlichen Voraussetzungen, aber nicht Vorwurf selbst, bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen (1974), S. 195 f. 1650 Es besteht deshalb auch keine Notwendigkeit Schuld und Unrecht in einer Systemstufe zu vereinen.
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1. Teil, 2. Kap.: Der Unrecht-Schuld-Konnex
Abbildung 2: Konzentrische Kreise aus der Perspektive der Aufsicht
c) Selbstähnlichkeit der Systeme im Recht: Offene Fragen der Rechtswissenschaft Das Trichtermodell der Verbrechenslehre ist gewiss nicht zufällig an das kriminologische Trichtermodell angelehnt, sondern von der Hypothese geleitet, dass sich ein fundamentaler Zusammenhang auf systemtheoretischer Basis ergründen lässt. Die Filtermethode im Strafrecht dürfte in etwa das Programm liefern, welches die Reduktion von Komplexität im Recht meint.1651 Betrachtet man das Trichtermodell der Kriminologie als phänomenologische Grundlage eines einheitlichen Systems, so liegt es nahe, dieses Filterprinzip als das reproduktive Element auch den einzelnen Sub- oder Teilsystemen zugrunde zu legen. Soweit dasselbe Prüfungsprogramm vorherrscht, versteht sich das von selbst.1652 Darüber hinaus dürften aber auch andere strafrechtliche Entscheidungen diesem Strukturmuster folgen.1653 1651 1652
Muster.
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 61, passim. Das Vorliegen einer Straftat vollzieht sich instanzenübergreifend nach demselben
1653 Anhaltspunkte für eine fortgesetzte Struktur deutet z. B. die Differenzierung von Statusund Gestaltungsentscheidungen an, zur Unterscheidung, Calliess/Müller-Dietz, StVollzG
B. Strafzumessungs- und Strafbegründungsschuld im Straftatsystem
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Greift dieser unterstellte Prozess der Iteration (Iterativität) für das gesamte Strafrecht, so wäre diese Selbstähnlichkeit ein Grundprinzip der Strafrechtswissenschaft, welches nicht nur die systemtheoretischen Gedanken Luhmanns bekräftigen, sondern in direkter Weise auch fortführen könnte.1654
11
(2008), § 2 Rn. 9. Der Streitpunkt dort ist die Anwendung der allgemeinen Strafzwecke. Für Statusentscheidungen kann die allgemeine Straftheorie herangezogen werden, vgl. ebd. So lassen sich Aussetzungsentscheidungen (Status) mit den Ausschlussregeln auf das eliminierende Filterprinzip zurückführen. Auf Gestaltungsentscheidungen trifft dies nicht zu – hier hat verwaltungsrechtliche Methodik ihren Platz. 1654 Es muss im Großen und Ganzen bei diesen Andeutungen bleiben. Das rechtssoziologische Potential muss hier leider unerschlossen bleiben. In der modellarischen Konsequenz müsste das Trichtermodell zu einem Fraktal erweitert (von lat. „fractus“, Begriff der Mathematik um geometrische Muster zu bezeichnen, die keine ganzzahlige Dimensionalität besitzen) werden.
2. Teil
Die Dogmatik der Strafzumessung 1. Kapitel
Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung I. Straftheoretische Grundlagen Eine Theorie vom Strafmaß muss logisch bei der Theorie der Strafe einsetzen. Denn die Zumessungsregeln sollen schließlich für eben dieses Endprodukt, die Strafe, gelten. Auch besteht darin Einigkeit, dass aufgrund der Grundrechtsrelevanz des Eingriffs Strafe jede Strafe, die nicht mehr von einem Zweck abdeckt ist, keine Legitimität aufweisen kann.1655 Von daher gilt das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs im Hinblick auf die Zweckerreichung.1656 Man kommt also nicht umhin, sich einleitend mit der Theorie von Strafe und Strafrecht auseinanderzusetzen. Gleichwohl müssen die Bemerkungen, und das im augenfälligen Kontrast zu ihrer epischen Präsenz in der wissenschaftlichen Diskussion, notwendig kurz ausfallen um den Raum für die eigentlichen Ausführungen nicht zu nehmen. Auf der einen Seite sind deshalb Vergröberungen und Vereinfachungen in Kauf zu nehmen, auf der anderen Seite bleibt dies zu verschmerzen, da sich, aller terminologischen Eigenheiten und Ausdifferenzierungen zum Trotz, der Tenor im Wesentlichen gleicht. 1. Von der Stufenlogik der Zweckverfolgung im Strafrecht Um sich den Zusammenhang von Strafzweck und Strafzumessung zu vergegenwärtigen, empfiehlt es sich den vorgestellten Präventionsmechanismus vor Augen zu führen. Die Aufgabe des Strafrechts wird allgemein im Rechtsgüterschutzgedanken gesehen.1657 Ein unbefangener Zugriff zu dieser These müsste einen 1655
Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat (1996), S. 43 (57); zust. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 780. 1656 Stv. Roxin, FS Volk (2009), S. 601 (615). 1657 (Noch) allg. Meinung, stv. mit Nachweisen M. Heinrich, FS Roxin II (2011), S. 131 (132); gleichwohl in ständiger Diskussion. Vgl. die Darstellungen und ihre Alternativkonzepte
A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung
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eigentlich zum Stutzen verleiten. Wie sollte es möglich sein, dass eine strafrechtliche Verfolgung eines Fahrraddiebstahls in Münster die Begehung eines Delikts in Rosenheim verhindert? Nicht einmal, wenn es sich um eine „einschlägige“ Deliktskonstruktion handelte, gleiches Modell, gleicher Täter- und Opferkreis, nähme man eine solche Wirkung an. Es liegt der Einwand nahe, dass sich zwar solche Ereignisse nicht gegenseitig beeinflussen können, da dies recht unwahrscheinlich ist. Im Zeitalter globaler Informationsvernetzung ist dies keine Frage von Kommunikation, eher schon der Relevanz. Aber es ist auch nicht entscheidend die im Beispiel angelegte „Banalität“ des Vorgangs, der präventive Überlegungen gegenstandslos erscheinen lässt. Selbst wenn man das Beispiel gegen einen die Gemüter erregenden Mord austauschte, bliebe es offen, wie die Verurteilung eines Tötungsdelikts konkret andere dieser Art verhindern soll. Die Proklamation des Rechtsgüterschutzes wirkt da wie ein schales Versprechen des Staates. Wenn überhaupt, dann müsste die präventive Wirkung anders funktionieren. Man tut sich also schwer, prospektive Wirkung durch repressive Maßnahmen logisch zu begründen ohne einen gedanklichen Zwischenschritt einzulegen. Es gilt sich erstmal zu vergegenwärtigen, was das Strafrecht eigentlich tatsächlich schützen kann. Strafrecht ist nämlich nur das Mittel um den Endzweck, die Wahrnehmung des Rechtsgüterschutzes, zu erfüllen. Es gilt also den Präventionszweck von seinem Präventionsweg zu trennen.1658 Das Strafrecht verfolgt die Idee, dass über das Recht Güter geschützt werden können. Dies vollzieht sich in zwei Schritten. Mit der Erhebung in den Rang des Rechts wird einmal die Wertigkeit des Guts deutlich. Zum Güterschutz erfolgt nun wiederum ein spezifisches Schutzmittel: das Strafrecht, das rechtlich verfügte Übel. Eine Sanktion soll die Gültigkeit der Regel bzw. Norm verdeutlichen.1659 Die qualifizierte Sanktion Strafe soll dies mit Nachdruck leisten. Strafe baut also auf einer intendierten Eindruckswirkung auf, an dessen Ende Schutz von Gütern stehen soll. In Wahrheit ist Strafe demnach ein Normschutzprogramm.1660 Die Geltung der Regeln wird bestärkt um die Vertrauenserwartung in die Rechtsordnung zu gewährleisten. Die Herrschaft der Norm wird gesichert; das ist letztlich die Herrschaft des Staates. Eine Gesellschaft hat gleichwohl ein grundsätzliches Interesse am Bestand des Staates, da sich nach gesellschaftstheoretischem Vertragstheorem jeder Einzelne zum Schutz seiner Interessen einem darum legitimen
bei Frisch, FS Stree/Wessels (1993), S. 69 (72 ff.); Roxin, FS Hassemer (2010), S. 573 (579 ff.); ders., GA 2013, S. 433 (435 ff.); Swoboda, ZStW 122 (2010), S. 24 (37 ff.). 1658 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 634. Vergleichbar Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 3 Rn. 1. 1659 Sichtbarmachung dieser Primärnorm durch Sanktion. Dazu Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 132 f.; Rössner, FS Schöch (2010), S. 637 (643). 1660 Einwände dagegen werden bei Scheinfeld, FS Roxin II (2011), S. 183 (188 ff.), mit entsprechenden Nachweisen, vorgetragen. Sie gehen aber am Kern der Argumentation vorbei. Fragwürdige Kriminalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers können diese Grundlegitimation nicht zum Verwerfen des Ansatzes veranlassen.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Staat unterwirft. So gesehen hat Strafe immer das Ganze1661 im Blick: die Funktionalität der Institution (Strafrecht) als Instrument der Gesellschaftssteuerung aufrechtzuerhalten. Von diesem Ansatz aus leistet Strafrecht nicht mehr als ein Anarchieverhütungsprogramm.1662 Dies berücksichtigend kann die Bilanz von Prävention durchaus unterschiedlich ausfallen: solange die strafrechtlich bewährten Normen noch als gültig gesehen werden, ist es um die eigentliche Effektivität des Strafrechts nicht schlecht bestellt. Der Präventionserfolg in einem speziell definierten Deliktsbereich vermag durchaus anders ausfallen. Die Inzidenz strafrechtlicher Auffälligkeit sagt deshalb nur bedingt etwas aus über die präventive Wirkung des Strafrechts. Genauer betrachtet fragt eine solche Evaluation immer nach der Effektivität von Verhaltenssteuerung durch Recht bereits im generellen Sinne.1663 Dazu lässt sich hier nur verkürzt festhalten, dass Kriminalität jedenfalls kein reines Problem einer mangelnden Internalisierung von Normen ist. Mit Aufstellen und Durchsetzen von Regeln allein ist es nicht getan. Vor diesem Hintergrund sollte das Steuerungspotential des Strafrechts nicht überschätzt werden und der Anspruch an das Strafrecht gemeinhin bescheidener ausfallen. Das Präventionsanliegen der Strafe ist berechtigt, kann aber nur über ein Gesamtsystem eines funktionierenden Normenapparats erreicht werden. Es bietet sich also generell an zwischen der Aufgabe des Strafrechts, dem sog. Strafrechtszweck, der Rechtsgüterschutz zu seinem Gegenstand hat, und einem (konkreten) Strafzweck, welcher auf die bekannten Präventionstheorien mit Wirkung für den Rechtsgüterschutz verweist, zu differenzieren.1664 Prävention kann deswegen durchaus ein mehrstufiger Prozess sein: Strafe als das Mittel zum Zweck 1661 Eindrücklich Hassemer, ZRP 1997, S. 316 (320); Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (97). Zu entkräften ist damit der durchaus spitzfindige Einwand, die Bestrafung des Einzelnen sei nicht notwendig, um das Normvertrauen zu bekräftigen. Was für einen gälte, wäre wegen des Gleichheitssatzes für alle Fälle bindend, entsprechend Weigend, FS Hirsch (1999), S. 917 (933, 937). 1662 Man findet diesen Gedanken in dieser Ausdrücklichkeit nur selten formuliert, etwa bei Bock, JuS 1994, S. 89 (96 f.): Ausbleiben von Anomie, und Schmidhäuser, FS E. A. Wolff (1998), S. 443 (445 f.), allerdings vielfach in sachlich gleichen Begründungen aufgeschlüsselt, stv. etwa Frisch, GA 2015, S. 65 (77): Schwächung der Präventionskraft entgegentreten. Ich möchte in Anschluss an den Aufgabenkatalog Rössners, in: FS Roxin (2001), S. 977 (982), das Programm wie folgt charakterisieren: die Monopolisierung von Gewalt durch Sanktionen, Isolierung des Normbruchs, Normbekräftigung mit Verantwortungsfeststellung, rationale Konfliktverarbeitung durch Formalisierung. Das dürfte auch R.-P. Calliess, in: FS Müller-Dietz (2001), S. 99 (110), vorschweben, wenn er die Prävention durch das Verfahren insgesamt beschreibt. 1663 Nicht nur weil Effizienz (von lat. „efficientia“) und Effektivität (von lat. „effectus“) auf denselben Wortstamm („efficio“) zurückgehen, ist unklar ob manch kritische Stimme eher fehlende Effizienz von Sanktionen als denn ihre Unwirksamkeit rügt. Die Leistung des Systems „Strafrecht“ kann im Hinblick auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen möglicherweise durchaus einen unzureichenden Ertrag ergeben. Eine Präzisierung des erwarteten Wirkungsgrads steht aber noch aus. 1664 Rechtsgüterschutz ist den Strafzwecken logisch vorgelagert; im Ergebnis so auch Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 291.
A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung
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der Normstabilisierung und -bekräftigung, ein potentes Normensystem als Mittel zum Rechtsgüterschutz.1665 2. Die Straftheorien Die Straftheorien sollen beantworten, welchen Sinn Strafe haben bzw. zu welchem Zweck gestraft werden soll. Seit alters her stehen sich dabei absolute und relative Straftheorien gegenüber, wobei innerhalb der relativen Theorien zwischen General- und Individualansätzen sowie positiver und negativer Ausprägung jeweils noch unterschieden werden kann.1666 Dazu gesellen sich Vereinigungstheorien oder kombinative Hybridtheorien unterschiedlicher Gestalt mit meist undurchschaubarer Gewichtung. a) Absolute vs. relative Straftheorien Die Unterteilung in absolute und relative Straftheorien beruht zu großen Teilen auf Konvention. Als absolute Straftheorien werden meist jene Theorien bezeichnet, 1665 Vgl. Schöch, FS Jescheck (1985), S. 1081 (1083 f.). Ob die Normstabilisierungsthese diesen Anspruch einlösen kann, ist Gegenstand eines eigenen Forschungszweigs und empirischer Untersuchungen, Berichte z. B. bei Müller-Dietz, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 43 (65 f.); ders., Wirkungen, in: Jehle (Hrsg.), Kriminalprävention und Strafjustiz (1996), S. 227 (242 ff.); Kunz, in: Kielwein (Hrsg.), Entwicklungslinien der Kriminologie (1985), S. 29 (38 f.); Schöch, FS Jescheck (1985), S. 1081 (1085 ff.); Schwind, FS Wassermann (1985), S. 1021 (1033 ff.); B.-D. Meier, in: Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie Band 1 (2007), S. 971 (1010 f.); weiterführende Nachweise auch bei Streng, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 39 (43). Ein grundsätzliches Defizit an Erkenntnis wird bleiben, da als „Kontrollgruppe“ eine Gesellschaft ohne Strafrecht fehlt, s. dazu Frisch, FS Maiwald, 2010, S. 239 (243); optimistischere Einschätzung illustriert bei Baurmann, GA 1994, S. 368 (381 f.). Man wird aber auch grundsätzlich mit Kuhlen, Uppsala-Symposium (1998), S. 55 (57) die Frage stellen dürfen, welche Rückschlüsse aus den Defiziten zu ziehen sind. Solange es keine „harten“ empirischen Kontrafakten gibt, muss man das Modell der Generalprävention nicht diskreditiert sehen, vgl. Kuhlen ebd. Auf der anderen Seite zeitigt eine – im Grundsatz – funktionierende Sozialkontrolle stets auch fassbare Wirkungen. Dazu genügt es, sich nur die vielfältigen Konflikte weltweit zu vergegenwärtigen. Diese Relativierung des Empiriearguments ruft jüngst Roxin, GA 2015, S. 185 (191) in Erinnerung. Schließlich sei überdies angemerkt, dass auch naturwissenschaftliche Modelle ihren Erklärungswert als Hypothese beginnen, die falsifiziert wird. Die Hypothese der Generalprävention wird gleiches für sich beanspruchen dürfen. Abweichend indes Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 79 ff., 82 einerseits und S. 95 andererseits. 1666 Vgl.im Einzelnen die Darstellungen Dölling, FS P. Kirchhof (2013), S. 1329; StGBLackner/Kühl 29(2018) § 46 Rn. 2; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht 2(2021), § 3; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 17 ff.; MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 30 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 3 Rn. 2 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 10 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 8 II – V, S. 66 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1 8(1992), § 6.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
die auf einen Strafzweck verzichten (von lat. absolutus: losgelöst). Gemeint sind dabei in aller Regel die Strafphilosophien des Idealismus in personae Kant und Hegel. Ihr Gegenstand ist Vergeltung des begangenen Unrechts, so dass auch die Bezeichnung Vergeltungstheorie bisweilen in synonymen Gebrauch auftritt. Die Wurzeln der absoluten Straftheorien sind im archaischen Talionsprinzip zu finden. So bekennt sich Kant ausdrücklich zum ius talionis1667 und sieht das zu erreichende Ziel in der Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Ganz ähnlich, wenn auch mit anderer Akzentuierung abseits des Talions spricht Hegel von der Negation der Negation des Rechts durch den Akt der Strafe. Strafe ist der actus contrarius zur Rechtsverletzung durch Verletzung, weshalb auch hier von (Wieder-)Vergeltung zu sprechen ist.1668 Relative1669 Straftheorien werden auf einen Zweck bezogen gedacht. Referenzsubjekt ist bei der Individualprävention jeweils die spezielle Täterperson (deshalb auch häufig Spezialprävention genannt), während die Generalprävention auf Beeinflussung der Allgemeinheit abzielt. Die Idee, beim Täter einen Lerneffekt zu erreichen, dürfte zeitlich bereits mit der Erkenntnis zusammenfallen, dass man Verhalten von Menschen durch eigenes Verhalten beeinflussen kann.1670 Als strafrechtliches Konzept wird Spezialprävention seit nun über100 Jahren mit dem Namen Franz von Liszt assoziiert. Dabei hat der bei von Liszt an der Tätertypologie orientierte bekannte Dreiklang aus Sicherung, Abschreckung und Besserung im Grunde heute noch Bestand. Die ersten beiden Elemente bilden die negative Facette1671, die positive Seite der Besserung firmiert regelmäßig unter dem Aspekt der Resozialisierung. Spätestens seit der sog. Lebach-Entscheidung1672 ist die Resozialisierung des Täters anerkannt als ein von der Verfassung unterstütztes Ziel.1673 Generalprävention als Straftheorie findet historisch ihren Ursprung bei der von Feuerbach geprägten Lehre vom „psychologischen Zwang“.1674 Ihr Wirkungsmechanismus beruft sich auf eine laienpsychologisch einleuchtende Abschreckungslogik. Durch die Strafdrohung wird allen Bürgern ausreichend vor Augen geführt was als Konsequenz einer Rechtsverletzung vorgesehen ist, so dass als Reaktion grundsätzlich eine strafttathemmende Motivbildung bei (allen) potentiellen Tätern erwartet wird. In dieser Form spricht man auch von negativer Generalprävention. Da 1667
Ebert, in: Recht und Moral (1991), S. 249 (251) mit Nachweisen. Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 3 Rn. 4. 1669 Von lat. relativus/relatus, zurückgehend auf referre „auf etwas beziehen“. 1670 Historisch überliefert ist dies schon seit der Antike, vgl. Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 3 Rn. 4 mit dem Hinweis auf Seneca „Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur“ („Kein Verständiger straft, weil gesündigt [gefehlt] worden ist, sondern damit nicht gesündigt werde“). 1671 Siehe bei B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 25. 1672 BVerfGE 35, 202 ff. (235 f.)- Urt. v. 5. 6. 1973 – 1 BvR 536/72. 1673 Vgl. auch Dölling, FS Lampe (2003), S. 597 (602 f.). 1674 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 22 f.; Roxin, Strafrecht AT I 4 (2006), § 3 Rn. 22 ff. 1668
A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung
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reine Androhung allein nicht fruchten würde, ist der Vollzug der Androhung einer jeden Strafandrohung dieser immanent. Als Komplementärfunktion bedarf es einer „Androhungsrealisierungsgeneralprävention“.1675 Damit also die Androhung nicht ins Leere läuft, dient die Strafe der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung.1676 Man nennt dies die positive Generalprävention. Der Geltungsanspruch der Rechtsordnung soll dabei sogar dreierlei leisten können:1677 einmal einen sozialpädagogischen Lerneffekt1678 (als „Einübung in Rechtstreue“) hervorrufen, welcher explizit mit der negativen Komponente der Androhung korrespondiert,1679 sowie daneben einen Vertrauens- und Befriedungseffekt (als Integrationsprävention1680) bei der Bevölkerung schaffen. Phänomenologisch gehen die Komponenten ineinander über. Die positive Generalprävention dominiert heute im Wesentlichen die strafrechtliche Rhetorik.1681 Vor allem die Verwertbarkeit als strafrechtlicher Systembaustein hat der Generalprävention zu großflächigem Durchbruch verholfen.1682
1675 Dieses Wortungetüm findet sich z. B. bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 396, 653, 862. Es trifft die Sache indes genau. Der Gedanke dieser Komplementarität dürfte auch die Kritik Frischs, FS B. Schünemann (2014), S. 55 (58 ff.) verarbeiten können, der in der Abschreckung als solcher keinen rationalen Wirkmechanismus sieht. Sicherlich wird man konstatieren müssen, dass eine Strafandrohung an sich in concreto kaum je Verbrechen verhindert. Dennoch geht es doch um eine latente Wirkung, denn das Konzept von Strafandrohungen zielt auf eine allgemeine Tabuisierung von Verhalten ab, so denn auch Frisch, FS B. Schünemann (2014), S. 55 (63 f.). Ob man diese Tabuisierungslogik als Abschreckung tituliert, ist letztlich eine rein terminologische Frage. 1676 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 26. Bock, JuS 1994, S. 89 (96 f.) zeichnet dazu die gedanklichen Fluchtpunkte zur Soziologie Durkheims (Anomietheorie) und Psychoanalyse. 1677 Roxin, Strafrecht AT I 4(2006), § 3 Rn. 27. 1678 Zum Lerneffekt der Generalprävention vgl. Bottke, Assoziationsprävention (1995), S. 156 ff., 162; Fabricius, FS Schwind (2006), S. 269 (272 ff.); Rössner, FS Maiwald (2010), S. 701 (703 ff.); B. Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 153 (173, Fn. 38). 1679 S. auch Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention (1998), S. 50 ff., 111 ff.; Jakobs, Staatliche Strafe (2004), S. 32. 1680 Beide Aspekte lassen sich auch einheitlich denken, so bei Zipf, Festschrift Pallin (1989), S. 479 (483). 1681 Letztlich kann die auch die Etikettierung als „positive Generalprävention“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Internalisierungsprozess nicht ausschließlich in Überzeugungsarbeit erschöpft. Internalisierung bleibt als Zwang formulierbar, wenn die Phase der Dispositionsbildung mit einbezogen wird (Konditionierung i. w. S.), so Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 80. Ob darüber hinaus die deutsche Zweckehre im Hinblick auf die unterrepräsentierte Opferperspektive unvollkommen ist, so Hörnle, FS Roxin II (2011), S. 3 (15), kann hier dahinstehen. 1682 S. die generalpräventive Deutung der Schuldbegriffe im 1. Kapitel, A. IV. 2.
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b) Die sog. Antinomie der Strafzwecke Der Streit um die „richtige Theorie“ nimmt in der Diskussion beachtlichen Raum ein, findet bei Licht besehen allerdings gar nicht das argumentative Fundament für diese erschöpfende Beschäftigung vor. Das fängt im Grunde schon beim Dualismus von absoluter und relativer Betrachtung an. Die Realität gehorcht diesem Klassifikationsbestreben nicht: der strenge Theoriendualimus entspringt eher der klassisch lieb gewonnenen Praxis juristischer Streitdarstellung.1683 Abseits einer gewissen Idealtypik hat diese Schwarz-Weiß-Rhetorik jedoch keine Berechtigung. Nicht nur, weil im Zeitverlauf eine Vielzahl von Vereinigungsmodellen und Hybridtheorien gebildet, sondern auch, weil die sachlichen Unterschiede stark überzeichnet werden. So muss mit Nachdruck bestritten werden, dass absolute Theorien wirklich zweckfrei argumentieren.1684 Natürlich verfolgen die Großmeister der Philosophie, Kant und Hegel, eine Idee des Strafens: es ist die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit an sich begegnet uns vielleicht als ungreifbares, metaphysisches Konstrukt. Angesichts dieser Vagheit befriedigt ein solches Strafmodell deshalb nicht vollends. Natürlich würde aber umgekehrt keine relative Theorie behaupten wollen, sie habe keine Gerechtigkeit im Sinn. Gerade die Theorie der positiven Generalprävention im Sinne der Normstärkung und Konfliktbefriedigung arbeitet wesentlich mit der Vorstellung von Schuldausgleich durch vergeltende Maßnahmen. Der gerne proklamierte „Abschied von Kant und Hegel“1685 geht an der Wirklichkeit vorbei.1686 Insofern kann man berechtigt von „Generalprävention durch Vergeltung“1687 bzw. Generalprävention als verkappter Vergeltung1688 sprechen. Nicht von ungefähr suchen generalpräventive Ansätze wieder verstärkt Annäherung bei der idealistischen Philosophie.1689 Das diskreditiert präventive Ansätze indes nicht, sondern legt ei1683 Frisch, GA 2015, S. 65 (72) spricht in diesem Kontext eindrucksvoll von „toten Theorien“, die mitgeschleppt werden. 1684 So indes Ellscheid, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 77 (80). Zweifel dagegen auch bei Roxin, Strafrecht AT 1 4(2006), § 3 Fn. 4. 1685 In Anlehnung an Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: J. Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch – der Alternativentwurf der Strafrechtslehrer 1968, S. 36 f. (= Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, Bd. 2: Materielle und formelle Strafrechtsprobleme, 1981, S. 149 f.). Widerspruch zu Klugs Deutung bringt Hruschka, ZStW 122 (2010), S. 493 (494), passim sowie in ZStW 124 (2012), S. 232 (233) vor. 1686 Vgl. die Anmerkungen bei Roxin, FS Müller-Dietz (2001), S. 701 (703); Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 173 ff. Auch sieht Baurmann, Strafe im Rechtsstaat (1990), S. 109 (130 f.), etwaige Vergeltungsbedürfnisse in präventiven Anliegen aufgehoben. 1687 Hassemer, Warum Strafe sein muss (2009), S. 50, 61 ff.; Kalous, Positive Generalprävention durch Vergeltung (2000), S. 251. Siehe auch Zaczyk, FS Otto (2007), S. 191 (203). 1688 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 673 ff. Schon Frisch, Uppsala-Symposium (1998), S. 125 (136 f.) spricht von einem Sekundärphänomen der Vergeltung. 1689 Küpper, JbRuE 11 (2003), S. 53 (58); Hassemer, FS Lüderssen (2002), S. 221 (228); Kindhäuser, FS Schroeder (2006), S. 81 (83 ff.); Jakobs, in: Klaus-M. Kodalle (Hrsg.), Strafe muss sein! Muss Strafe sein? (1998), S. 29 (37); ders., Staatliche Strafe (2004), S. 24 ff.; Lesch, Der Verbrechensbegriff (1999), S. 185 ff.
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gentlich nur ihren Mechanismus offen. Denn allein die Konfliktaufarbeitung eröffnet eine Zukunftsperspektive – keine Prospektive ohne Retrospektive.1690 Repressivität ist in diesen Kontext nicht mehr als die Wesensbeschreibung des Mittels, eben keine Zweckbeschreibung.1691 Auf der anderen Seite wird der gegenüber der Generalprävention vielfach erhobene Instrumentalisierungseinwand1692 der dogmatischen Herleitung nicht gerecht. Denn es geht nicht (zwingend) darum, den Täter vorzuführen und seine Person zur Demonstration für andere zu missbrauchen (Exklusivität des Täters), sondern im Interesse aller das Fundament der Gesellschaft in Form seiner elementaren Regeln zu bestätigen (Gedanke der Inklusivität).1693 Die Vorstellung, dass ein Staat sich um seiner Macht willen einzelner bemächtigt, lässt sich wohl nur mit der Idee eines staatlichen Leviathans in Einklang bringen. Allerdings bedeutet ein solches Auseinanderdividieren von Staat und Gesellschaft oder gar die Beschwörung eines totalitären Herrschaftssubjekts für eine Gesellschaft ohnehin eine generelle Legitimationskrise von Macht. Diese Kluft zu schließen, wäre auch eine absolut verstandene Strafe nicht im Stande. Legitimitätsgewinn auf idealistischer Basis ist damit schwerlich zu erwarten. Die Einteilung in Präventionstheorien einerseits und retributiver Theorien andererseits wird unter diesen Eindruck stetig nivelliert. Vorurteile vermeintlich religiös-metaphysischer Fundierung verblassen unter dem notwendigen Zugeständnis in argumentativer (Teil-)Identität.1694 Man sollte daher besser von idealistischen 1690
So auch Lampe, Strafrechtsphilosophie (1999), S. 280, i. E. insoweit auch Kahlo, FS Hassemer (2010), S. 383 (417 f.). 1691 So bereits Müller-Dietz, FS Jescheck (1985), S. 813 (815); Scheidung von Institution und Zweck auch bei Neumann, FS Jakobs (2007), S. 435 (438). Man muss es als fundamentales Missverständnis auffassen, wenn Kritiker der Idee der positiven Generalprävention diesen eigentlichen Mechanismus übersehen. Der Vorhalt einer inhaltlichen Leere, vgl. etwa Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 41; ders., FS Rudolphi (2004), S. 213 (227 f.), ders., Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 80 f., trifft die Theorie daher nicht. Umgekehrt wird das Mittel im Gewande der Prävention natürlich kein anderes. Insofern ist ein „Überschuss“ an vorgeblicher Rationalität nicht über Gebühr zu bewerten, vgl. dazu Lüderssen, FS E. A. Wolff (1998), S. 325 (326). 1692 R.-P. Calliess, FS Müller-Dietz (2001), S. 99 (110); Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung (1983), S. 37, passim; Otto, ZStW 87 (1975), 539 (587); Schild, FS Lenckner (1998), S. 287 (292); E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (796); Zaczyk, FS Eser (2005), S. 207 (217). 1693 „Bestandsinteresse“ bei T. Walter, GS M. Walter (2014), S. 831 (839); ähnlich Jakobs, FS Kühl (2014), S. 281 (288 f.); „derivativ“ bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 96 f. Zum Rekurs auf das ökonomische Sozialvertragsmodell bei Schmidtchen, FS Lampe (2003), S. 245 (269); mit Verweis auf die soziale Realität ablehnend allerdings Hörnle, Straftheorien (2011), S. 48 ff.; Roxin, GA 2015, S. 185 (195). 1694 Ebenso Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 291; bereits bei Arthur Kaufmann, GS Hilde Kaufmann (1986), S. 425 (429 f.); Schmidhäuser, FS E. A. Wolff (1998), S. 443 (455); Weigend, FS Universität Köln (1988), S. 579 (600). Ähnlich insoweit zwar auch B. Schünemann, FS Lampe (2003), S. 537 (551), indes kritischere Einschätzung zu dieser
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Straftheorien sprechen. Richtig ist allenfalls, dass Strafe im idealistischen Sinne nicht ausdrücklich zur Verbrechensprophylaxe betrieben wird; was allerdings nicht heißt, „absolute“ Straftheorien wären tatsächlich losgelöst von einem Erfolg.1695 Der Primärerfolg der Wiederherstellung der Normgeltung ist nur gleichzeitig der Enderfolg, welcher obendrein bereits mit dem Urteilsspruch eintritt. Ein darüber hinausgehender ist keine Notwendigkeit, aber nicht begrifflich ausgeschlossen. Auch sollte man demgegenüber nicht verkennen, dass der Vergeltungsgedanke normativ den Gedanken der Gleichmäßigkeit verinnerlicht hat – ein Aspekt der über die Verhältnismäßigkeit über „Umwege“ wieder eingeführt wird.1696 Selbstredend dürfte das Talionsprinzip für eine aufgeklärte Gesellschaft überholt sein.1697 Es ist also auch Teil unserer Denkkultur, nicht im Nebel der Abstraktheit einer nicht genauer definierten Gerechtigkeit verharren zu wollen. Theorien (modernen) präventiven Zuschnitts geben sich damit nicht mehr zufrieden.1698 Von daher sind „absolute“ Straftheorien in klassischer Form zu Recht in der Diskussion verdrängt, deren gedanklicher Inhalt aber deswegen nicht (vollständig1699) aufgehoben worden.1700 Konvergenztendenz bei ders., FS Lüderssen (2002), S. 323 (328 ff.), der aber immerhin eine Überwindung der „Lagermentalität“ durch Dialog befürwortet, so a. a. O., S. 328. 1695 Eindrücklich T. Walter, ZIS 2011, S. 636, (636, 646), ders., GS M. Walter (2014), S. 831 (837). Die Annahme dieser Vereinigung von Absolutem und Relativem wird bei E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (790 f., Anm. 8) kritisch durchleuchtet. Inwieweit eine akkurate Wiedergabe klassischer Ideen erfolgt, kann strafrechtlich gesehen dahinstehen. Es geht nicht um Präzision der Quellenexegese an sich, sondern um Arbeit mit Ideen. 1696 Hassemer, FS Schroeder (2006), S. 51 (55, 64). 1697 „Auge um Auge, Zahn um Zahn: Die Welt wird blind und zahnlos sein“. Genaue Herkunft des Bonmots ist unbekannt. Soweit vordergründigen Internetrecherchen Glauben zu schenken ist, geht es auf Mohandas Karamchand Gandhi, besser bekannt als Mahatma Gandhi, zurück („An eye for an eye only ends us making the whole world blind.“). 1698 Vgl. Hassemer, FS Schroeder (2006), S. 51 (55); Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 57. Umgekehrt haben sich Verfechter der Klassik von der idealistischen Ausrichtung zunehmend gelöst, dazu bspw. Pawlik, FS Rudolphi (2004), S. 213 (229). Befürworter einer repressiven Deutung der Strafe können durchaus mehr im Sinn haben als die bloße Isolierung des Verbrechens, systemorientierte Denkmuster z. B. bei Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), S. 90: „Aufrechterhaltung einer Freiheitsordnung“ ders., Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 89: „Zustand der Rechtlichkeit“; Herv. jeweils nicht im Original. 1699 Eine Differenz klassischer Straftheorie und moderner Generalprävention bildet meist nur noch das sog. „Inselbeispiel“ nach Kant, vgl. zitiert im Original bei Roxin, Strafrecht AT I 4 (2006), § 3 Rn. 3. Heute würde man nicht davon ausgehen, dass eine Strafe noch Sinn ergibt, wenn die Gesellschaft vor der Auflösung stünde. Denn ohne eine Gesellschaft gibt es kein Bezugssubjekt mehr; so man denn bei der säkularen Prämisse einer Unbeachtlichkeit einer etwaigen religiösen Offenbarung (i. S. v. „Apokalypse“ von gri. !poj\kuxir „apokálypsis“) bleibt. Trotzdem gibt es durchaus realitätsnahe Beispiele, die eine Ähnlichkeitsbeziehung zum Inselbeispiel durchaus zulassen und dessen Strafnotwendigkeit nichtsdestotrotz kaum bestritten wird. Es ist immer wieder das häufig zitierte Beispiel des vergreisten NS-Verbrechers, bei dem präventive Bemühungen angesichts strenger Zeitkontextualität der Verbrechen eher implausibel erscheinen. Eine Wiederholungsgefahr besteht nicht und die mitunter unbegreifliche Faszination rechtsextremen Faschismus beruht nicht darauf, dass nicht alle Täter und Teil-
A. Versuch einer „differentiellen“ Strafzumessung
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In der Theorienlandschaft verbleiben als wirkliche Gegenspieler allenfalls noch Spezial- und Generalprävention. Die Spezialprävention orientiert sich an der Arbeit ausschließlich mit bzw. an dem Täter. Da die Anknüpfungspunkte jeweils divergieren, versprechen die Theorien aber auch unterschiedliche Erfolge. Eine Überlegenheit einer Theorie zu postulieren und Auflösung eines Theorienstreits herbeizuführen läuft Gefahr, theoretisch sinnvolle Ansätze im Vorfeld zu suspendieren. Eine voreilige Maßnahme. Um sich nicht der Ausschließlichkeit eines Ansatzes verschreiben zu müssen, haben sich deshalb im Laufe der strafrechtlichen Diskussion nicht ohne Not Lehre und Praxis weitgehend auf ein Nebeneinander der Ansätze in Vereinigungstheorien oder kombinative Hybridtheorien geeinigt. Eine ungeordnete Konkurrenz der Theorien erschwert allerdings die Bildung konkreter Aussagen, wenn die Gewichtung der Eingangstheorien nicht genau definiert wird. Es ist von vorneherein nicht klar, welche Aussage im Einzelfall Vorrang gebührt und wie man sich überhaupt eine anteilige Begründung von Theorien vorstellen soll, ohne dass man in kurios anmutende, prozentuale Rechenmodelle abdriftet. Ohne ausreichend geklärten „Input“ steht allerdings kein arbeitsfähiger „Output“ bereit. Inwieweit sich die Zwecke dennoch sinnvoll in eine Hierarchie bringen lassen, ist eine Frage, die der Strafrechtswissenschaft noch erhebliches Kopfzerbrechen bereitet.1701 Aufgrund dieser vielschichtigen Gemengelage wird die „Antinomie der Strafzwecke“1702 ausgerufen. Aber ob es sich wirklich um eine Antinomie im Sinne eines logischen Widerspruchs handelt, lässt sich nicht sicher beurteilen, soweit nicht die konkreten Zielkonflikte benannt werden. Die Reichweite von Strafzwecklehren ist nämlich durchaus nicht deckungsgleich. So ist ohne weiteres einleuchtend, dass auf abstrakt-genereller Gesetzesebene auch nur generalpräventive Effekte angestrebt nehmer an den Verbrechen von Rechtswegen verfolgt werden konnten. Hier schlägt meist die Stunde der Gerechtigkeit, die eine Bestrafung aus Sicht der Generalprävention angezeigt hält, weil alles andere der Bevölkerung im Hinblick auf die Gültigkeit der Norm unverständlich erscheint. Dieser zutreffende Einwand beweist einmal mehr, dass eine Isolierung der Ideen von Vergeltung und Generalprävention nicht durchführbar ist; vgl. auch Neumann, FS Jakobs (2007), S. 435 (448). 1700 Die klassische Dichotomie der Straftheorien verspricht daher wenig ordnenden Charakter. Es bietet sich womöglich an, sich in der Begrifflichkeit an Hörnle, Straftheorien (2011), S. 57: präventionsorientiert vs. expressive bzw. kommunikationsorientierte Ansätze, zu orientieren. Inwieweit es sich dabei dann um einen „echten“ Antagonismus der Theorien handelt, kann hier aber nicht weiterverfolgt werden, ablehnend etwa Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 66. 1701 Vgl. kritisch aus idealistischer Perspektive Köhler, FS Lackner (1987), S. 11 (15); Müller-Dietz, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 43 (59). Allerdings werden auch hier Integrationsbemühungen langfristig wohl den Weg weisen. Man beachte Hassemer, FS Lüderssen (2002), S. 221 (239) zum Verhältnis von Besserungsidee und positiver Generalprävention. Bereits Roxin, JA 1980, S. 221 (225 f.) weist daraufhin, dass ein erfolgreiches spezialpräventives Programm kaum auf Ablehnung bei der Gesellschaft stoßen dürfte. 1702 Exemplarisch Bruns, FS Welzel (1974), S. 739 (744 f.); ders., Strafzumessungsrecht 2 (1974), S. 217; StGB-Lackner/Kühl 29(2018), § 46 Rn. 3; Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung (1983), S. 15 f.; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 9(2019), S. 170; MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 54.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
werden können.1703 Weiter ist man sich auf Ebene des Strafvollzugs darüber einig, dass Vollzugsgestaltung nur im Sinne der Spezialprävention erfolgen darf.1704 Eine (einzige) Theorie für das „ganze Strafrecht“ herauszudestillieren, verheißt daher eine vermessene Angelegenheit.1705 Für die Strafmaßfindung stellt sich nun die Frage, welche Zwecke als Leitprinzipien für die Strafbemessung herhalten können. Dies ist aus den Strafzwecken heraus kaum zu beantworten. § 46 StGB als Zentralnorm der Strafzumessung lässt diese Frage offen.1706 Satz 1 legt die Schuld des Täters als Grundlage für die Zumessung der Strafe fest. Nach hiesiger Auffassung ist im Begriff der Schuld das verschuldete Unrecht kodiert, welches aber durch den eingeführten Zentralbegriff der Rechtsfriedensstörung unmittelbar auf die generalpräventive Stabilisierungsfunktion verweist.1707 Die Spezialprävention erfährt in Satz 2 ihren Stellenwert. („Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen“). Von diesem gedank1703
(841).
Roxin, FS Müller-Dietz (2001), S. 701 (711); Streng, FS B. Schünemann (2014), S. 827
1704 Laubenthal, Strafvollzug 6(2011), Rn. 137 ff.; Roxin, FS Müller-Dietz (2001), S. 701 (712 ff.); Inwieweit sich die Teilelemente Resozialisierung und Sicherung zu einander verhalten sollen, geben die Landesvollzugsgesetze verschieden Aufschluss. Trotz konstruktiver Möglichkeit findet jedenfalls kein Abschreckungsvollzug oder schuldorientierte (d. h. i. E. generalpräventive) Differenzierung statt. Das widerspricht dem Konzept der Einheitsstrafe. Vgl. auch BVerfGE 109, 133 (177) – Urt. v. 5. 2. 2004 – 2 BvR 2029/01 – (Nachträgliche Sicherungsverwahrung). 1705 Ein straftheoretischer Purismus muss daher scheitern, vgl. auch Bock, ZStW 102 (1990), S. 504 (511); ferner Hörnle, Straftheorien (2011), S. 60 und dies., in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum (2011), S. 11 (29); Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 90 f. 1706 Die Grundlagenformel ist das Produkt der Kompromissfindung der Großen Strafrechtsreform. Sie ist (z. T. in Gestalt der Vorgängernorm des § 13 StGB a. F.) ob dieser Offenheit als unbefriedigend gerügt worden; bspw. Baumann, GS H. Kaufmann (1986), S. 513 (518); Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 551; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung (1972), S. 10 ff. Man wird allerdings sagen können, dass die Regelungsdichte durchaus die Möglichkeiten gesetzgeberischer Konkretisierung widerspiegelt. Man darf auch bezweifeln, dass Strafzumessung nach Maßgabe des AE-StGB wesentlich andere Ergebnisse hervorgebracht hätte als die gültige Fassung. So zu Recht Lackner, FS Gallas (1973), S. 117 (128 f.) gegen Stratenwerth, a. a. O., S. 37. Der Entwurf bringt jedenfalls nicht die Überlegenheit offen zu Tage. Zum Vergleich: § 59 Grundsätze der Strafzumessung (AE-StGB 1966) (1) 1Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe. 2Sie wird nach der Gesamtheit der belastenden und entlastenden Umstände beurteilt. 3Gesetzliche Tatumstände dürfen nicht mehrfach verwertet, unverschuldete Auswirkungen der Tat nicht berücksichtigt werden. 4Das Verhalten vor und nach der Tat ist nur zu berücksichtigen, soweit es auf das Maß der Tatschuld schließen lässt. (2) Das durch die Tatschuld bestimmte Maß ist nur insoweit auszuschöpfen, wie es die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft oder der Schutz der Rechtsgüter erfordert. 1707 Mit Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (365 ff.) wird man daher sagen können, dass sich ein möglicher Dualismus von Schuld und Generalprävention nur in der Möglichkeit abschreckender Strafschärfung erschöpft. Dazu unten 1. Kapitel, C. V.
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lichen Ausgangspunkt wird den Straftheorien die Aufgabe zugewiesen als Leitlinie der Strafmaßfindung zu fungieren.1708
II. Angewandte Straftheorie: Die Strafbemessungstheorien Der zweite Titel des Dritten Abschnitts des StGB trägt die Überschrift „Strafbemessung“. Er vereint die nachfolgenden Normen über die Rechtsfolgenentscheidung. § 46 StGB spricht dagegen von „Strafzumessung“. Es bietet sich an, diese terminologische Differenz für das Recht des Strafmaßes fruchtbar zu machen. Die systematische Stellung im Gesetzeskontext legt nahe, den Begriff der Strafbemessung als Oberbegriff zu gebrauchen. Er umfasst dann die gesetzgeberischen Strafrahmenbestimmungen, Statusentscheidungen wie über Aussetzung und Erledigung, Weisungen und Auflagen sowie die richterliche Strafzumessung.1709 Der Gebrauch von „Strafzumessung im weiteren Sinne“ dürfte demgegenüber ein Synonym zur Strafbemessung ausdrücken wollen; der Eindeutigkeit wegen sollte auf dessen synonyme Verwendung eher verzichtet werden. Entsprechend lässt sich auch zwischen Strafbemessungstheorien und Strafzumessungstheorien unterscheiden. Wenn man der Klassifikation folgt, dann sind aus Gründen der Logik Strafzumessungstheorien zwar immer auch Strafbemessungstheorien. Sofern sie sich auf die Strafzumessung beschränken, lassen, sollen sie auch als (reine) Strafzumessungstheorien bezeichnet werden. Umgekehrt handelt es sich nur um (reine) Strafbemessungstheorien, wenn sie keine Aussagen zum eigentlichen Akt der Strafzumessung tätigen. Eine solche Differenzierung ist in der Lehre vom Strafmaß bislang (noch) nicht geläufig. Man sollte sie aber aufnehmen, um deutlich zu machen, welchen Erklärungswert theoretische Konzepte zur Strafmaßfindung besitzen. Die Erklärungsebenen können, das wird die Darstellung zeigen, nämlich erheblich divergieren. Ein aussichtsreicher Vergleich ist damit im Grunde problematisch. Andererseits öffnet dies die Perspektive einer umfassenden Würdigung. Denn soweit sich solche Theorien nicht widersprechen und sie miteinander vereinbar sind, spricht nichts gegen ihren kumulativen Gebrauch; jeweils unter der Voraus1708
Ebenso Gössel, FS Tröndle (1989), S. 357 (364), insoweit auch Timm, Gesinnung und Straftat (2012), S. 97. Anderer Ansatz bei Hörnle, FS Roxin II (2011), S. 3 (20), die erwägt, die Straftheorien ausschließlich für Begründung des Instituts Strafe heranzuziehen, einschränkend auch Frisch, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionaltät (2003), S. 1 (7). Das Vorbringen ist in seiner Idee beachtlich, ist aber mit dem hiesigen Ausgangspunkt, Straftatlehre und Strafzumessungsdogmatik zu harmonisieren, nicht vereinbar. Obendrein erscheint es unnötig, einen zweistufigen Legitimierungsprozess zu postulieren, soweit ein einstufiger (noch) Erfolg verspricht. 1709 Abweichend Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 4; Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 27 f.; Streng Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 1, die die Thematik auf den Unterschied gesetzgeberische vs. richterliche Unterscheidung projizieren. Dem Modell hier am nächsten stehend Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 24 f.; keine inhaltliche Differenzierung bei LK-StGB/Theune 12(2006), Vor §§ 46 – 50 Rn. 4.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
setzung, dass dem Inhalt auch zugestimmt werden kann. Am Ende einer solchen Analyse muss dann keine Meta-Theorie unter eklektizistischen Vorzeichen stehen, sondern (lediglich) ein Spektrum von Leitlinien für die richterliche Rechtsfolgenentscheidung. Strafbemessungstheorien sind damit alles in allem die Fortsetzung der Diskussion um die Straftheorie. Inwieweit solche Theorien tatsächlich eine Auflösung der vermeintlich antinomischen Zielkonflikte betreiben wollen,1710 ist im Folgenden darzulegen. 1. Punktstrafe Die Punktstrafe bezieht sich auf eine vorgegebene Größe. Sie steht für ein exaktes Zuordnungsschema, indem für jede Tat genau eine bestimmte Strafe auf der Skala der Rechtsfolgen vorgesehen ist. Gemünzt auf die Vorschrift des § 46 StGB lässt sich deren Struktur als verkappter Konditionalsatz begreifen,1711 bei dem unter den Umständen xi die Strafe S(x) zu verhängen ist. Das ist im Prinzip logisch unanfechtbar, da es ohne weitere Begründung einleuchtet, dass nicht zwei unterschiedliche Strafen gleichermaßen richtig oder gerecht sein können;1712 auf den straftheoretischen Ausgangspunkt kommt es dabei schon gar nicht an.1713 Verfehlt das verhängte Strafmaß die verwirkte Schuld, ist die Strafe an sich schon fehlerhaft. Schuld-, aber auch präventionstheoretisch ist die optimal gedachte Entscheidung stets nur eine einzige. Die Punktstrafe rühmt sich insofern als das Ideal jeder Strafmaßfindung. Die Umsetzung dieser mathematischen Exaktheit bleibt allerdings unbeantwortet. Selbst eine vorgestellte Konditionalstruktur einer jeden Strafbemessung, steht vor der Notwendigkeit, die durch die einzelnen Regelungen unvollständige Determinierung des Gesetzes zu überwinden. Jede Forderung der Punktstrafe stößt unwei1710
So B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 170 f. Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 182 ff. Der Gedanke der Transformation von einer quantitativen Analyse („wie viel“) in eine Vielzahl klassifikatorischen Aussagen wird aufgegriffen bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 39 f. und Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 167 f.; dort mit Verweis auf Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen (1979), S. 61 und passim. 1712 Zu dem Gedanken Baumann, Der Schuldgedanke im heutigen deutschen Strafrecht und vom Sinn staatlichen Strafens, in: Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform (1965), S. 135 (146); Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 2(1976), S. 261; ähnlich Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 167 ff.; Henkel, Die richtige Strafe, (1969), S. 32; Jescheck/Weigend 5(1996), § 82 IV 6, S. 880 und Schaffstein, FS Gallas (1973), S. 99 (100 f.). Vorherrschend eher im älterem Schrifttum, neben den zuvor weiter Gallas, ZStW 80 (1968), S. 1 (5); nunmehr differenzierender Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (361 f.) aus neuerer Zeit Kahlo, FS Hassemer (2010), S. 383 (418). 1713 Anders Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 784. Die Präventionsorientierung der Strafe und deren Komplexität sozialer Wirkungsmechanismen, schließe die Annahme einer „einzigen“ idealen Lösung aus. 1711
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gerlich auf ihre erkenntnistheoretische Grenze. Selbst wenn man sich mit einem Annäherungswert im Hinblick auf die Punktstrafe begnügt, müssten Methoden und Wege um dieses (utopische?) Ziel zu erreichen erst noch davon autark entwickelt werden. Im eigentlichen Sinne handelt es sich deshalb gar nicht um eine Theorie von Strafmaßfindung. Wenn sie abseits ihrer deskriptiven Natur dennoch für eine verbindliche Aussage stehen soll, kann diese nur in einem hohen Grad von Revisibilität der Strafzumessung liegen.1714 Denn jede Strafe, die die Punktstrafe verfehlt, wäre vom Ergebnis gedacht rechtswidrig.1715 Die Schwierigkeit und Notwendigkeit besteht allerdings darin, einen Toleranzbereich zu definieren, der im Sinne des angedachten Annäherungswerts einer revisionsrechtlichen Überprüfung standhalten kann. 2. Spielraumtheorie Ein solches revisionsrechtliches Modell stellt nun die sog. Spielraumtheorie bereit. Die Spielraumtheorie wird regelmäßig dahingehend verstanden, dass zunächst ein Schuldrahmen1716 aus Schuldaspekten zu bilden sei, innerhalb dessen unter Präventionsgesichtspunkten das endgültige Strafmaß festgelegt werde.1717 Die Spielraumtheorie gilt gemeinhin als Theorie der Rechtsprechung zur Strafzumessung1718 und hat eine hohe Verbreitung gefunden.1719 In seinem Ausgangspunkt formuliert der „Spielraum“-Gedanke vordergründig ein revisionsrechtliches Kontrollinstrument, der auf das erkenntnistheoretische Problem der Strafmaßfindung eingeht. Da keine besseren Erkenntnismöglichkeiten bereit stünden, sei die tatrichterliche Strafzumessung im Hinblick auf die „richtige“ Strafe aus der Sicht des Revisionsgerichts kaum verifizierbar. Demzufolge beschränkt sich das Revisionsgericht auf eine Kontrolle nach der Falsifikationsmethode.1720 Der Rahmen des Schuldangemessenen umschreibt einen Toleranzbereich, der nicht als unrichtige Rechtsanwendung ausgewiesen werden kann. Erst wenn 1714
So auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 656. Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 167 f. 1716 Deshalb auch z. T. Schuldrahmentheorie genannt; so Maurach/Zipf/Laue, Strafrecht AT 2 8(2014), § 62 Rn. 23 f. i. V. m. § 63 Rn. 14. Vgl. auch Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 105 f. 1717 Detter, Praxis des Strafzumessungsrechts (2009); Rn. 151; Hörnle, JZ 1999, S. 1080; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 171; MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 60; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 830. 1718 Grundlegend BGHSt 7, 28 (32) – Urt. v. 10. 11. 1954 g. H. – 5 StR 476/54; St 20, 264 (266 f.) – Urt. v. BGH, 4. 8. 1965, 2 StR 282/65. 1719 Schaffstein, FS Gallas (1973), S. 99 (107 ff.); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 828 ff.; ergänzende Nachweise bei NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Fn. 408. Oftmals wird allerdings aus der Textlektüre nicht klar, wer sich den Ansatz zu eigen machen oder wer über das Faktum der Spielraumtheorie als (vorgeblich) h. M. berichten will. 1720 Einzelheiten im 5. Abschnitt. 1715
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
dieser Toleranzbereich verlassen wird, lässt sich die Richtigkeit der Strafe methodisch mit der Kategorie von „jedenfalls-dann-(nicht)“-Aussagen bestreiten, ohne dass es auf eine Ersetzung durch eigene Strafmaßerwägungen ankäme. Es bleibt im Grunde auch offen, ob die Rechtsprechung dieses als eigenständige Theorie verstanden wissen will. Denn in der Konsequenz einer Spielraumtheorie wäre der Ausgangspunkt die ausdrückliche Festlegung jenes Spielraums als Ankerpunkt jeder Strafmaßbegründung. Wenn § 46 StGB durch die Spielraumtheorie zu konkretisieren wäre, läge es in der Logik dieses Finalprogramms auch diesen Entwicklungsschritt der Strafmaßfindung offenzulegen. Ein Darlegen des tatrichterlich gefundenen Schuldrahmens ist aber bis dato überraschenderweise gar nicht vorgesehen,1721 obwohl dies vom theoretischen Standpunkt aus eigentlich verpflichtend sein müsste.1722 Auch wird die Qualifikationsfrage theoretisch kaum erörtert, nämlich ob es sich um eine „echte“ Ermessensentscheidung handeln soll.1723 Nicht zuletzt hält sich die Rechtsprechung darüber bedeckt, wie innerhalb des Schuldrahmens präventive Aspekte zur Geltung kommen sollen.1724 Von daher ist nicht davon auszugehen, dass die Rechtsprechung den Spielraumgedanken explizit als „Herstellungsformel“ der Strafe verstanden wissen will. In ihrem Sinne kann es dergestalt nur ein revisionsgerichtliches Kontrollinstrument sein.1725 So gesehen spricht einiges dafür, die Äußerungen in Komplementarität zur Punktstrafe zu begreifen. Als eigenständige Theorie hat sie sich deshalb erst im Schrifttum herausgebildet. Dort hat sie den Charakter einer Zweistufen-Lehre angenommen, an deren erster Stufe die Ausbildung des Schuldrahmens mit seinen Grenzpunkten der schon schuldangemessenen und der gerade noch schuldangemessenen Strafe steht.1726 Im zweiten Schritt soll die Strafe nach präventiven Aspekten bemessen werden. In diesem Sinne steht die Spielraumtheorie für die Öffnung der Strafzumessung für die 1721 NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 100. Kritik deshalb bei Grasnick, JZ 1990, S. 704 (705); Hauer, Geständnis und Absprache (2007), S. 127 ff.; Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (37); LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 43; Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 99 ff. 1722 Der Hinweis ergeht bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 109, unverändert in Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 7 Rn. 79 f. Schärfer noch B. Schünemann, in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie, (1977), S. 73 (76); er sieht in diesen Freiräumen die grundlegende Problematik der Unterentwicklung der Strafzumessung. 1723 Nur dann könnte man eine wirkliche inhaltliche Differenz zur Punktstrafe annehmen. Echtes Rechtsfolgeermessen hat für die Revisibilität der Strafzumessung bedeutsame Konsequenzen. Einzelheiten deshalb dort. 1724 Es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob solche präventive Überlegungen bei revisionsgerichtlicher Kontrolle (bloß) zugelassen bzw. nicht beanstandet werden, so bei BGHSt 20, 264 (266 f.). Über die Notwendigkeit einer Auswahl und Gewichtung einzelner Zwecke fehlt es damit noch an jeglicher verbindlicher Aussage. 1725 So auch H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität (1994), S. 41; Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 45; Hörnle, JZ 1999, S. 1080 (1081); LKStGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 40. 1726 MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 60.
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Zwecklehre und gleichzeitig für die Zurückdrängung klassisch vergeltender Strafe. Der klassische Schuldausgleich wird durch die Rahmenbildung an den Rand gedrängt,1727 denn die „eigentliche“ Strafzumessung scheint in der Zweckerfüllung zu liegen. Die Spielraumtheorie der Strafzumessungsschuld korrespondiert auf diese Weise mit den Schuldlehren der Neuzeit zur Strafbegründung, nämlich die Schuld nur noch als Mittel der Straflimitierung einzusetzen.1728 Dagegen soll eine Flexibilität zugunsten einer Unterschreitung des noch schuldangemessenen aus präventiver Motivation möglich sein.1729 In der Parallelität der Erklärungsmuster zum Schuldbegriff mag denn auch die Attraktivität und Erfolgsgeschichte der Spielraumtheorie begründet liegen. Insgesamt ist so die Theorie ausgehend vom erkenntnistheoretischen Defizit (insbesondere) der Kontrollperspektive zu einem Prototyp von zweckorientier Strafzumessung „umgedeutet“ worden. Dieser Wandel ist vom theoretischen Fundament aus möglich, aber bislang substantiell kaum unterfüttert.1730 3. Stellenwerttheorie Die Stellenwerttheorie oder Stufentheorie1731 beruht ebenfalls auf einer zweistufigen Strafmaßfindung. Hier werden Schuldbemessung und präventive Aspekte strukturell voneinander getrennt. Im ersten Schritt wird auf Basis des verschuldeten Unrechts eine Strafhöhe ermittelt. Präventive Erwägungen erfolgen erst im zweiten Schritt, wenn Strafart und Vollstreckungsmodus festgelegt werden.1732 Aufgrund 1727 Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 106, spricht von „Durchgangsstadium“; unverändert in Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 7 Rn. 63; ders., ZIS 2018, S. 384 (385 f.). NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 98; ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 627. Anders Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 785, der von einer Bevorzugung des Schuldausgleichs spricht. Dass empirische Daten diese Öffnung nicht stützen, vgl. die Befunde bei H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität (1994), S. 415 f., negiert nicht die Durchlässigkeit für Strafzwecke, sondern belegt womöglich nur ein Vollzugsdefizit, welches in der mangelnden Vollkommenheit der Spielraumtheorie liegt. Dazu sogleich. 1728 S. oben, 2. Kapitel, A. III. 7. b). 1729 Güntge, ZIS 2018, S. 384 (385 f.); Lackner, Entwicklungslinien in der Strafzumessungslehre (1978), S. 25; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 171; MüKoStGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 60; Roxin, FG Schultz (1977), S. 463 (473); Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 827. 1730 Kritik an dem Spielraumgedanken daher zu Recht bei Ellscheid, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 77 (88). „Begrenzte Eignung“ bei NK-StGB/Streng 5 (2017), § 46 Rn. 101; zuvor schon ders., FS Universität Heidelberg (1986), S. 501 (506). 1731 Grundlegend Henkel, Die „richtige“ Strafe (1969), S. 22 f., 44 ff.; Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht Strafvollzug 7(2011), Fall 7 Rn. 62; ders., FS Schaffstein (1975), S. 255 (259 f.); ders., Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz (1973), S. 90; SK-StGB/Horn (35. Lfg. 1/2001), § 46 Rn. 33 ff.; ders., Jura 1980, S. 113 (113 f.); ders., FS Bruns (1978), S. 165 (166 ff.); ders., FS Schaffstein (1975), S. 255 (249 f.). 1732 Stv. SK-StGB/Horn (35. Lfg. 1/2001), § 46 Rn. 34.
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dieses Handlungsprogramms lässt sie sich als Strafbemessungstheorie einstufen. Der Vorteil besteht nun in der eindeutigen Strukturierung und Ordnung der Strafmaßentscheidung im Hinblick auf die Zweckorientierung der Strafe. Dieser Ansatz ist natürlich nur dort von Wert, wo auch dieser zweite Schritt noch zum Einsatz kommen kann. Oberhalb der Grenze von zwei Jahren besteht keine Option abseits der stationären Freiheitsstrafe. Generell werden Zweifel angemeldet, ob der Vereinbarkeit mit der Sozialklausel aus § 46 Abs. 1 S. 2 StGB, wenn Spezialprävention nur außerhalb des Bemessungsakts stattfinden soll.1733 Behält man präventive Erwägungen exklusiv der zweiten Stufe vor, würden diese folglich in einem weiten Feld unterschlagen werden. Die Stellenwerttheorie ist deshalb in ihrer Wirkung begrenzt,1734 was ihren Ansatz zwar schmälert, aber nicht vollständig nivelliert. Allerdings bedarf sie aufgrund ihrer mangelnden Ausdifferenzierung hinsichtlich des Teilschritts der Strafzumessung notwendig Ergänzung. 4. Tatproportionalität Tatproportionalität als Methode der Strafmaßfindung hat seine Ursprünge in der anglo-amerikanischen und skandinavischen Rechtssphäre,1735 verfügt aber mittlerweile über eine breite Rezeption auch im deutschsprachigen Raum.1736 Sie ist geprägt vom Klima der Ernüchterung im Hinblick auf die Wirksamkeit präventiver Strafkonzepte. Präventive Erwägungen sollen deshalb in der Konstruktion weitestgehend zurückgedrängt werden. Der Grundgedanke der Tatproportionalität besteht in der Konzentration der Strafzumessungserwägungen auf die Schwere des Tatunrechts. Erfolgs- wie auch Handlungsunrecht finden dabei Berücksichtigung, wobei das Hauptaugenmerk wohl auf dem Erfolgsunrecht zu suchen sein muss. Denn als 1733
Bruns, FS Dreher (1977), S. 251 (263 f.); H.-L. Günther, JZ 1989, S. 1025 (1027); Hönig, Die strafmildernde Wirkung des Geständnisses (2004), S. 152; Lackner, Entwicklungslinien in der Strafzumessungslehre (1978), S. 19 ff., 27 ff.; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 174; Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems (1979), S. 28 f.; ders., in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 43 (57); ders., FS Spendel (1992), S. 413 (418 f.); Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 110; Roxin, FS Bruns (1978), S. 183 (187 f.); Schäfer/Sander/van Gemmeren 6 (2017), Rn. 825; Schott, Gesetzliche Strafrahmen und ihre tatrichterliche Handhabung (2004), S. 136, 154; NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 107; ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 635; ders., FS Müller Dietz (2001), S. 875 (891). 1734 Lackner, Entwicklungslinien in der Strafzumessungslehre (1978), S. 19 f.; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 173; MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 64. 1735 Nachweise bei v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit (1991), S. 5 einerseits, und Frisch, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 1 (3) andererseits. 1736 Grundlegend B. Schünemann, in: Eser/Cornils, Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik (1987), S. 209 (224); ders., in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (1989), S. 147 (160); ders., in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften (2001), S. 338 (343 ff.); Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999) sowie die Beiträge in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003); Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 15 ff. Relativ unbeachteter Vorläufer bereits bei Lampe, GS Noll (1984), S. 231 (242).
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Kernanliegen gilt es, die täterorientierte Strafzumessungspraxis zugunsten einheitlicher, konsistenter Wertungen auf Basis des Tatgeschehens zu verdrängen. Das gilt namentlich für die (zu harte) Bestrafung von Kleinkriminalität1737 und die Tendenz der Rückfallschärfung1738. Dementsprechend ist Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung in diesem Bereich vor allem die Bestimmung der legitimen Strafzumessungsfaktoren einer Tatproportionalitätslehre. a) Faktoren der Tatschwere Die Konzentration der Diskussion von Tatschwere liegt in der Bemühung einer Elimination1739 der Täterpersönlichkeit sowie in der Ausdifferenzierung des Erfolgsunrechts als Faktor der Strafzumessung. Das zentrale Argument der Strafzumessung wird damit der vom Täter angerichtete Schaden. Die Schadensanalyse stellt eine Folgebetrachtung an: das Maß der Beeinträchtigung der Lebensqualität des Opfers gibt den verursachten Schaden an.1740 Die Grundidee einer Lebensqualitätsanalyse vollziehe sich dabei in vier Dimensionen, namentlich in der Beurteilung der physischen Integrität, der materiellen Gütersituation sowie der Achtung der Persönlichkeits- und Privatsphäre des jeweiligen Opfers.1741 Inwieweit eine opferzentrierte Betrachtungsweise individuelle Sonder- und Affektivinteressen als berücksichtigungsfähig zulässt, ist vom theoretischen Ansatzpunkt offen.1742 Ähnliches gilt für die Bedeutung des Handlungsunrechts. Von der Leitidee der Schadensanalyse tragen Elemente des Handlungsunrechts jedoch nur marginal zur Tatgewichtung bei. Gewiss mögen Gesichtspunkte, wie beispielsweise das Tatmotiv, durchaus eine spezielle Wirkung beim Opfer hinterlassen, insbesondere wenn eine Nichtachtung der Persönlichkeit in der Tatbegehung Ausdruck findet.1743 Nicht immer wird das jedoch der Fall sein. Insbesondere die Differenz von vorsätzlicher und fahrlässiger Erfolgsverwirklichung kann über den
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v. Hirsch, in: Tatproportionalität (2003), S. 47 (58, 79). Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 159 ff., B. Schünemann, in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften (2001), S. 338 (344); mit Abstrichen Ashworth, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 83 (92). 1739 Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 147. 1740 Zusammenfassend v. Hirsch, in: Tatproportionaltät (2003), S. 47 (66 ff.); Hörnle, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 99 (107 f.); zust. Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 95, 176 ff. 1741 So bei v. Hirsch, wie zuvor, S. 67. 1742 Die Methode der Tatproportionalität entscheidet darüber eigentlich nicht. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 226, selbst resümiert eine Kombination von objektiv-standardisierten Kriterien und denen des Einzelfalls. Eher restriktiver dies., in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 99 (106). 1743 Etwa Hörnle, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 99 (120). 1738
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Aspekt des Opferschadens nicht abgebildet werden;1744 eine Einebnung dieser Differenz dürfte indes kaum intendiert sein. Die Opferzentrierung im Ausgangspunkt schränkt zudem die Argumentation für kollektive Betroffenheit merklich ein.1745 Schließlich fügt sich die reine Erfolgszentriertheit nicht in das Konzept der personalen Unrechtslehre ein.1746 Begreift man wiederum die „Tadelnswertigkeit des Geschehens“1747 als leitendes Proportionalitätsprinzip, kann der Gedanke der Tatproportionalität im Grundsatz für sämtliche Faktoren geöffnet werden. Es kommt dann im Wesentlichen auf das Profil des Tatbegriffs an, welche Eigenschaften Gegenstand der Strafzumessung sein können. Eine Eingrenzung an Kriterien für legitime Tatcharakteristika lässt sich aus dem Prinzip der Proportionalität selbst nicht gewinnen.1748 b) Bemessung und Begrenzung Die Forderungen an eine Ausgestaltung der Tatproportionalitätslehre werden durchaus unterschiedlich formuliert. Die Argumentationsmuster weisen dabei unverkennbar Parallelen zur Diskussionslandschaft in Sachen Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.1749 Der bescheidenste Ansatz sieht die Bedingung der Proportionalität in der Vermeidung von Disproportionalität von Tat und Sanktion gewahrt,1750 während weitergehend in einer „positiven“ Variante die Strafen im Sinne einer ordinalen Reihung optimiert werden sollen. Eine umfassende Ordinalität verspricht insofern 1744
S. auch Ashworth, in: Tatproportionalität (2003), S. 83 (89). Als Unterkomplexität deklariert Skepsis bei Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 78 ff. Ob das Opfernarrativ auskömmlich ist, hinterlässt in der Tat Zweifel. Das Ausblenden einer Kollektivperspektive mag dabei für Tatbestände mit Schutzrichtung höchstpersönlicher Rechtsgüter noch unschädlich, wenn nicht sogar erwünscht sein. Denn was über den Opferschaden hinausgehend die Integritätsverletzung zu einer „res publica“ macht, lässt sich mit Zielrichtung auf die Legitimität freilich hinterfragen. Ein anderes Problem in dem Kontext dürften indes Straftaten sein, die von Vorneherein als „Delikte gegen die Allgemeinheit“ firmieren und ihre Existenz gerade nicht einem spezifischen Opferschaden verdanken. Quantitativ betrachtet sind diese Delikte im StGB nicht in der Minderzahl. Wenngleich die ersten 12 Abschnitte im Besonderen Teil (§§ 80 – 173 StGB) forensisch wenig Bedeutung erlangen, dürften gilt dies für die Abschnitte 24 – 26 (betreffend Insolvenz und Wettbewerb) und die Abschnitte 28 – 30 keineswegs. 1746 Vgl. diesbezgl. auch Hörnle, in: Tatproportionalität (2003), S. 99 (119): „Wenn es nicht gelingt, dem Handlungsunrecht schärfere Konturen zu verleihen, ist das Grundanliegen einer tatproportionalen Strafzumessung kaum umsetzbar.“ 1747 Angesprochen bei Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 144; v. Hirsch, in: Tatproportionalität (2003), S. 47 (50 ff.). 1748 Insoweit auch Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), 1 (41). Die bei B. Schünemann, in: Tatproportionalität (2003), S. 185 (195), angesprochene „Reduktion von Komplexität“ resultiert allein aus der Präsupposition konsertierter Faktorenbegrenzung. 1749 Vgl. dazu Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 331 f. 1750 Duff, in: Tatproportionaltät (2003), S. 1 (36 f.). 1745
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mindestens ein intrasystematisches Gleichgewicht.1751 Dieses komparative System könnte darüber hinaus zu einem kardinalen Zuordnungssystem erweitert werden, in dem für jede Tat genau die eine Strafe bereitstünde.1752 Gedanklich entspricht dies der Vorstellung der Punktstrafe; analog wären folglich die Schwächen zu benennen. Ein weiteres grundsätzliches Bemessungsproblem besteht in der Auswahl der Sanktionsart. Hier führt die Idee der Tatproportionalität trotz Entwürfen1753 einer Ordinalität nicht weiter. Denn um den notwendigen Vergleich zu erreichen, muss eine prinzipielle Umrechenbarkeit und intersystematische Austauschbarkeit von Übeln möglich sein. In diesem Konkurrenzbereich ist eine Auswahlentscheidung anhand Proportionalitätskriterien nicht (mehr) möglich, so denn keine konsentierte Operationalisierung existiert.1754 c) Zweckindifferenz von Tatproportionalität Über den Selbstzweck einer Schaffung einer „gerechten“ Ordnung hinaus besteht prinzipiell keine Abhängigkeit von einem Zweckkonzept der Strafe. Im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 StGB wird das Konzept der Tatproportionalität deswegen verworfen.1755 Als Methode der Strafbemessung zeigt sich die Tatproportionalität genau genommen lediglich zweckindifferent. Eher umgekehrt besteht deswegen eine Durchlässigkeit zu verschiedenen Ideen der Strafe. Wenn auch die Lehren der Tatproportionalität in Reaktion auf die Ernüchterung im Hinblick präventiver Strafkonzepte Auftrieb erhielten und einem klassischen Retributivismus tendenziell nahestehen können, so heißt das nicht, dass ein Anschluss an Zwecklehren prinzipiell verwehrt wäre.1756 1751 Unmöglichkeit eine solche Intrasystematik herzustellen wendet Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), ein. Einzelheiten a. a. O., S. 70 ff. 1752 Dazu v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit (1991), S. 25; ablehnend Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 155. 1753 Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 166 ff. 1754 Gegenwärtig stehen solche Konzepte noch aus. Generell ist aber die Frage zu stellen, ob ein starres pauschales Umrechnungssystem einer individuellen Strafmaßfindung gerecht werden kann, denn das subjektive Strafempfinden kann durchaus divergieren. 1755 Z. B. Dölling, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 85 (90); Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 125 f.; NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 112. 1756 Man beachte Duff, in: Tatproportionaltät (2003), S. 23 (26); Schünemann, in: Eser/ Cornils, Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik (1987), S. 209 (225). Sehr einschränkend dagegen Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 127, die aus den – unbestrittenen – expressiv-symbolischen Kommunikationsinhalten eine zumindest partielle Nicht-Teleologie der Strafe herleitet. Richtigerweise wird man den kommunikativen Akt der Strafe gerade als den Präventionsaspekt behandeln dürfen. Eine Verknüpfung hängt im Wesentlichen von der Vorstellung möglicher Präventionsmechanismen ab. Wer von der konkreten Strafe stets einen Effekt erwarten möchte, wird fraglos in Erklärungsnot geraten. Wenn wie hier die Präventi-
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5. Strafzweckorientierte Strafbemessungskonzepte Es ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass die Diskussion um die Zweckorientierung der Strafe in Argumentationsebenen aufzutrennen ist.1757 Wenn an dieser Stelle von strafzweckorientierten Strafbemessungskonzepten die Rede ist, ist damit nicht die Behauptung verbunden, andere Strafbemessungstheorien verhielten sich zwingend zweckindifferent, gleichwohl dies die Ausgangshypothese der Vertreter präventivorientierter Ansichten zu sein scheint. Kennzeichen solcher im Selbstverständnis präventiver Theorien ist der unmittelbare Rückgriff auf den konkreten Strafzweck zur Strafbemessung. Retrospektives Strafen soll diesem Anspruch nach nicht stattfinden, sondern es werden Sanktionen im Hinblick auf die prospektiven Wirkungen beurteilt. Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Empirieorientierung, denn der „Erfolg“ des Strafens ist zumindest der Idee nach beispielsweise im Rückgang von Straftaten allgemein oder in einer konkret-individuellen Rückfallbetrachtung messbar. Die Folgenorientierung wird zum Maßstab. Der mediatisierte Begründungsweg über den Schuldbegriff wird aufgrund dessen Inkommensurabilität in Sachen Empirie gemieden bzw. allenfalls terminologisch aufgrund der Gesetzessprache geduldet. Das klassische Zuordnungsschema Tat-Schuld wird verlassen und an dessen Stelle die Effektivitätsbetrachtung gesetzt. Ausgehend von der klassischen Tatvergeltung über die präventivimprägnierte Spielraumtheorie des Schrifttums bilden diese Konzepte gewissermaßen die letzte Evolutionsstufe zweckorientierten Strafens, in welcher der Zweck die alleinige Rolle spielt. Ein Antinomieproblem ist damit begrifflich-theoretisch eigentlich ausgeschlossen. Denn jede präventiv motivierte Strafbemessungslehre erhebt direkt den Anspruch mit ihrer Konstruktion die Antwort zu liefern. Die Erörterung wird demnach zeigen, inwieweit sich welche präventiven Zwecke überhaupt für die Konstruktion einer Strafbemessungstheorie eignen. a) Strafzumessung als „Derivat der Generalprävention“ (Jakobs, Hart-Hönig) Als Prototyp eines generalpräventiven Strafbemessungsmodells sind die Ausführungen Jakobs’ zu nennen, denn seine Deutung des Schuldbegriffs ist in wesentlichen Punkten von der Logik der Strafbemessung her (mit)entwickelt.1758 Die Straferhöhung beim Rückfall bspw. erkläre sich aus dem erhöhten Kompensationsbedarf bei erneuter Erwartungsenttäuschung der Rechtsgemeinschaft.1759 Das
onsaufgabe der Strafe auf Systemstabilität reduziert wird, muss die „Präventionsbilanz“ anders ausfallen. Ein Zugeständnis in der Richtung auch bei Hörnle, a. a. O., S. 111. Wie hier Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 50 f. 1757 Vgl. wiederum MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 29 ff. 1758 Siehe auch die Einordnung von Schroth, in: Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminaltät und Strafe (1980), S. 53. 1759 Exemplarisch Jakobs, Schuld und Prävention (1976), S. 24 f.
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Strafmaß ist folglich das zur Generalprävention erforderliche Strafmaß.1760 Sieht man Generalprävention im Schuldbegriff aufgehoben,1761 entsteht kein Konflikt mit der Norm des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB. Kernproblem dabei bleibt freilich die Bestimmung des Erforderlichen. Die Besonderheit bei Jakobs ist, dass sich der Präventionserfolg der Normstabilisierung aufgrund seines autopoietischen Systemverständnisses des Rechts bereits im Akt des Strafens performativ einstellt. Das gibt im Kern die Wirkweise klassischer Vergeltung wieder. Rechtsgüterschutz als Fernziel ist dafür nicht von Notwendigkeit, aber sicher nicht ausgeschlossen.1762 Der Bezug auf die Autopoiesis ist selbst natürlich nur eine Seinsaussage, welche zur rechtssoziologischen Analyse anregen kann, über die Herstellungsbedingungen dieser Selbsterhaltung aber nur wenig verrät. Interessanter als Rechtsfrage bleibt die Bestimmung der Erforderlichkeit. Man kann nämlich mit hoher Sicherheit sagen, dass jede Strafe, welche beiträgt das System aufrecht zu erhalten, ihren Zweck erfüllt. Ungeklärt bleibt eher die Frage, ob der Zweck nicht übererfüllt wird.1763 Mit anderen Worten steht möglicherweise ein milderes Mittel in Form niedrigerer Strafen zur Verfügung. Als Rechtsinstrument bedarf es daher einer strikten Disziplinierung durch Verhältnismäßigkeit. b) Strafzumessung im Sinne der Verhältnismäßigkeit Ein solches Konzept hat jüngst Kaspar1764 vorgelegt. Im Gegensatz zu Jakobs geht es indes nicht um die Verwirklichung eines generalpräventiven Schuldbegriffs. Das Modell der „Verhältnismäßigen Generalprävention“ beruht auf dem völligen Verzicht von Schulderwägungen.1765 Die Strafe orientiert sich direkt an der general1760 Jakobs, in: Greive (Hrsg.), Mehr Transparenz in der Strafjustiz (1991), S. 41 (60); ders., Staatliche Strafe (2004), S. 17; Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 128. 1761 Dazu oben im 2. Kapitel unter B.III. 1762 Zum Mechanismus schon oben unter I. Das Attest der „Empirieferne“, vgl. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 797, trifft deshalb das Konzept nur teilweise. Das autopoietische Systemverständnis des Rechts muss sich insofern empirischer Überprüfung stellen, dass es als solches wirklich existiert. Vieles spricht dafür, dass der Reproduktionsmechanismus mit Abstrichen auch für das Recht gilt. 1763 Vom autopoietischen Ansatz kommt das im Grunde nicht in den Blick. Das liegt daran, dass eigentlich zwei Ebenen verbunden werden müssten. Wenn man die normative Ebene („Das Strafmaß soll“) mit der faktischen Ebene („Strafmaßsein“ im Sinne der Autopoiesis) verbindet, lautet die Formel: Es ist die Strafe erforderlich (normativ), welche die Gesellschaft (im Sinne der Autopoiesis) für erforderlich hält. Semantisch ist dies tautologisch. Das wird auch nicht in Bezug auf eine konkrete Verfasstheit einer Gesellschaft beantwortet, vgl. insoweit indes die Argumentation bei Jakobs, FS Kühl (2014), S. 281 (283). Wie hier Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 72. 1764 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 799 ff.; ders., Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (25, 43 ff.). 1765 Man wird dem Einwand nicht entgehen, dass ein solches Konzept sich außerhalb der gesetzlichen Vorgaben des § 46 StGB bewegt, denn dieser stellt ausdrücklich auf Schuld als Grundlage der Strafzumessung ab. Kaspar, a. a. O., S. 642 f., regt deshalb auch eine Neufassung
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präventiven Begründung des Strafrechts, d. h. die präventive Aufgabe des Rechtsgüterschutzes ist der eigentliche Maßparameter. Negative als auch positive Generalprävention im Sinne eines Lern- und Befriedungseffekts sind die abzuschreitenden Präventionswege, welche spezialpräventive Aspekte in sich aufnehmen können.1766 Diese Zielerfüllung wird in Mittel und Maß (allein) durch die Verhältnismäßigkeit begrenzt. Einer Limitierung von Strafen durch das Schuldprinzip bedürfe es nicht.1767 Aus den beiden Bausteinen, Zielsetzung und Begrenzung durch Verhältnismäßigkeit soll das gesamte Sanktionsspektrum gewonnen werden. Anstatt das „richtige“ Strafmaß zu finden, gelte es für den Rechtsanwender das Prinzip der Grundrechtsoptimierung im Sinne strenger Erforderlichkeit umzusetzen.1768 Das heißt im Ergebnis größtmögliche Grundrechtsschonung über die am wenigsten belastende Maßnahme, nämlich jene, die (gerade noch) zur Erfüllung der Strafzwecke Eignung aufweist.1769 aa) Präventionsrelevanz von Strafzumessungsgründen Aufgrund dieser strengen Zweckbindung können nur solche Bemessungsfaktoren herangezogen werden, die sich zum verfolgten Zweck in Bezug setzen lassen. Konkret bedeutet dies, dass sämtliche Bemessungstatsachen, mithin auch der Strafzumessungskatalog des § 46 Abs. 2 StGB, auf ihre Wirkung hinsichtlich etwaiger Abschreckung (negative Wirkung) oder Befriedung (positive Wirkung) hin Überprüfung finden. Reine Schuldmerkmale haben dagegen auszuscheiden.1770 Die negative Generalprävention als Maßstab genommen bedeute, einen Nachahmungseffekt und Anreize auf potentielle, zukünftige Taten zu unterbinden. Die Strafhöhe wächst und fällt unter diesem Aspekt mit der Dringlichkeit des Präventionsanliegens. Dessen Dringlichkeit erwachse zunächst aus der Bedeutung des betroffenen Rechtsguts sowie der Schwere seiner Beeinträchtigung. In einem zweiten Schritt ist die konkrete Wiederholungs- oder abstrakte Nachahmungsgefahr einer Tat zu beachten.1771 Auch eine Häufigkeitsbetrachtung kann zu dem Ergebnis hoher Dringlichkeit kommen, wobei dabei stets die Wertigkeit des betroffenen an. Für die Untersuchung ist das unschädlich. Zum einen, weil die Erkenntnisse trotz divergierendem Ansatz für die Interpretation der gültigen Gesetzeslage nützlich sein können. Zum anderen könnte eine etwaige Überlegenheit den Impuls für eine Gesetzesänderung liefern. 1766 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 800. 1767 Kaspar, a. a. O., passim, insb. S. 821. 1768 Kaspar, a. a. O., S. 818 ff. 1769 Kaspar, a. a. O., S. 818. 1770 Vorausgesetzt wird damit im Grunde eine distinkte Aufteilung von Schuldmerkmalen und Präventionsaspekten, vgl. etwa die Darstellung bei B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5 (2019), S. 189 u. 224. 1771 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 802.
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Rechtsguts im Sinne strenger Verhältnismäßigkeit zu achten ist, um nicht in den Automatismus einer Verschärfung zu gelangen.1772 Dies nicht zuletzt deshalb, weil die empirische Validierung negativer Generalprävention Grenzen unterworfen sei.1773 Die positive Generalprävention im Sinne der „Wiederherstellung des durch die Tat gestörten Rechtsfriedens“ bzw. „der Erschütterung des Vertrauens in die Rechtsordnung“ deckt aufgrund (auch) ihrer Vergangenheitsbetrachtung grundsätzlich alle klassischen Strafzumessungsfaktoren im Hinblick auf das genannte Präventionsziel ab. Denn es ist anzunehmen, dass diese das Urteil der Allgemeinheit und damit deren Bewertung einer Straftat beeinflussen.1774 Um nicht „Schuldvergeltung über die Hintertür einzulassen“ müsse das Kriterium der präventiven Relevanz unbegründete Strafvorstellungen disziplinieren.1775 Fehlvorstellungen über die präventive Effizienz von Strafen seien über Aufklärungsarbeit zu korrigieren, das „Verfehlen“ von Gerechtigkeitsvorstellungen müsse dabei in Kauf genommen werden.1776 Zweifel ob der präventiven Eignung seien bei der Verwertung des Ausdrucks einer bestimmten Tatgesinnung und die Vorstrafenbelastung für die Strafzumessung generell anzustellen.1777 Denn eine Strafschärfung aus diesen Gründen korreliere nicht per se mit einer Effizienzsteigerung. Etwaige zu Tage geförderte Gefährlichkeit könne ebenso über die Beweggründe und Ziele des Täters sowie den bei der Tat aufgewendeten Willen berücksichtigt werden.1778 1772 Kaspar, a. a. O. sowie S. 810. Es ist der gängige Einwand gegen die Abschreckungslogik, da sie nach dem Prinzip „more of the same“ dazu neigt einem gehäuften Auftreten von Verbrechen, sei es in Person (Rückfallschärfung) oder als Massenphänomen, zu antworteten, vgl. auch Schünemann, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 185 (193). 1773 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 803 ff. Das gelte insbesondere für die Vorstrafenbelastung, aus der sich keine eindeutige Bewertungsrichtung ableiten lasse. Der Abschreckungseffekt einer Vorstrafe könne unterschiedlich ausfallen. Umgekehrt bedeutet es im Allgemeinen aber nicht, dass aufgrund der Unklarheit der Wirkungsweise potentieller Abschreckung ein Strafverzicht eine adäquate Alternative wäre. Art. 3 I GG lässt keine derart selektive Strafverfolgung zu; zutr. Kaspar, a. a. O., S. 804. Allerdings könne die Wertigkeit eines Rechtsguts empirische Unsicherheiten auch kompensieren. 1774 Einräumend Kaspar, a. a. O., S. 808. Das gibt im Wesentlichen das Ergebnis der hiesigen Untersuchung wieder; s. dazu oben im 2. Kapitel unter B. III. Das zeigt, dass in diesem Punkt Tatproportionalitätslehre, klassische Schuld- und positiv-generalpräventive Lehre zur Deckung gebracht werden können; s. auch Schünemann, in: Tatproportionalität (2003), S. 185 (191 f.). Einzelheiten der Synthese hier unter III.). 1775 Kaspar, a. a. O., S. 809. 1776 Kaspar, a. a. O., S. 808. 1777 In der Reihenfolge der Aspekte siehe Kaspar, a. a. O., S. 803, 805 bzw. S. 810. 1778 Anm. wie zuvor. Die Gedanken sind richtig, betreffen aber genau genommen nicht die Zweckauswahl. Der Nutzen der Stabilisierung (=Zweck) bleibt gesichert, nur ist er – im Vergleich mit dem verbundenen Eingriff – von geringem Gewicht. Denn der Stabilisierungserfolg verliert (nur) relativ an Nutzen, wenn Erfolge für den Rechtsgüterschutz bescheiden
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bb) Eingriffsrelevante Faktoren Die eingriffsrelevanten Faktoren nehmen Bezug auf die Belastungen des Sanktionsadressaten. Konkret finden dann spezialpräventive Momente Eingang in den Abwägungsvorgang. Aspekte der „Strafempfindlichkeit“ sowie Einbußen, die bereits aus der Tat oder dem Strafverfahren resultieren, können folglich das Gewicht des Eingriffs gegenüber der generealpräventiven Strafbegründung erhöhen und so das Ergebnis der Verhältnismäßigkeit beeinflussen.1779 c) Sonstige präventive Hybridtheorien Die hier sog. Hybridtheorien sind in Namen (Personen) und Inhalt nicht strikt definiert. Es erübrigt sich daher eine eindeutige Zuordnung. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie – jeweils in unterschiedlicher Ausrichtung – versuchen die verschiedenen Modelle in ihren Aussagen zu einer Synthese zu bringen. Der Ausgangspunkt liegt stets in der Anerkennung der präventiven Ausrichtung des Strafrechts. Retribution kommt nur im Rahmen der Zweckbestimmung zur Anwendung. Deshalb wäre es verfehlt, schlichte „Mischtheorien“ anzunehmen, die aufgrund ihres multifaktoriellen Ansatzes auf jede Frage (irgendeine) Antwort parat wissen. Es geht konkret um integrative Ansätze. aa) Die von Streng als „asymmetrische Spielraumtheorie“1780 bezeichnete Ausrichtung basiert auf der Idee eines Spielraums des Schuldangemessenen. Der Orientierungspunkt der Strafzumessung bildet dabei die Schuldrahmenuntergrenze. Da empirische Untersuchungen keinen Hinweis auf bessere Präventionseignung höherer Strafen lieferten1781, richte dies den Blick aus verfassungsrechtlicher Sicht auf die Untergrenze des Spielraums.1782 Streng spricht von doppelter Limitierung durch Schuldprinzip und Erforderlichkeit.1783 Der Spielraum sei aufgrund dessen insofern asymmetrisch, da er nach unten hin höhere Plausibilität aufweist und nach oben hin in gewisser Weise „enger“ werde, was die rationale Begründung der Strafe angeht. Der
bleiben. Besser ist dieser Aspekt als eingriffsrelevanter Faktor im Abwägungsvorgang aufgehoben. 1779 Zum Ganzen Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 810 f. 1780 Zuletzt Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 484; ders., in: NK-StGB 5 (2017), § 46 Rn. 102; weiter ders., in: Lösel u. a. (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 65 (91); ders., FS Müller-Dietz (2001), S. 874 (893 ff.); ders., StV 2018, S. 593 (597). 1781 Dazu Streng, in: Lösel u. a. (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 65 (66 ff.). 1782 Giehring, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, (1989), S. 77 (111); Streng, FS Müller-Dietz (2001), S. 874 (896). 1783 Streng, in: Lösel u. a. (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 65 (90).
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Schuldbezug solle nicht als „Ruhekissen“1784 dienen. Eine Spielraumtheorie unter diesem Vorzeichen ist deutlich stärker auf präventive Anliegen zugeschnitten und darf als integrative Weiterentwicklung ihres Ursprungs gelten. bb) Ähnliches lässt sich für den Bereich der Tatproportionalitätslehre beobachten. Obwohl von ihren Anhängern als Gegenentwurf zu unsicheren Präventionsmodellen erdacht, lässt sich der Gedanke der Tatproportionalität infolge der beschriebenen Zweckindifferenz für das Konzept der positiven Generalprävention dennoch fruchtbar machen. Die hohe intuitive Überzeugungskraft der tatproportionalen Verteilungsgerechtigkeit dürfte eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erwarten lassen.1785 Dann aber kann das Prinzip der Tatproportionalität einen potenten Kandidaten für die Aufschlüsselung des Normstabilisierungsbedürfnisses der Bevölkerung infolge der Straftat bieten.1786 In diesen Kontext gehören auch die Ausführungen von Weigend1787 und Frisch. Soweit empirische Erkenntnisse nur begrenzt zur Verfügung stünden, könnten diese letztlich auch nicht entscheidungsleitend sein. Die Lenkung der Strafhöhe müsse sich deshalb auf einer Meta-Ebene zur Empirie vollziehen.1788 Dieser normative Ansatz prüft in der Regel das Ausmaß des verschuldeten Unrechts. Soweit das Ausmaß des Unrechts in ihrer relevanten Rechtsfriedensstörung1789 gesehen wird, ist die Verbindung zur generalpräventiven Strafbegründung ohne Zweifel vorhanden, lässt aber gleichzeitig Schuld als heuristisches Maßprinzip unangetastet. d) Strafbemessung aufgrund spezialpräventiver Zielsetzung? Eine Theorie, die sich ausschließlich oder hauptsächlich der Spezialprävention verschreibt, wird gegenwärtig nicht (mehr) vertreten.1790 Dafür gibt es handfeste Gründe.
1784
Streng, FS Müller-Dietz (2001), S. 874 (892). B. Schünemann, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 185 (193). 1786 B. Schünemann, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen in der Kriminalpolitik, (1987), S. 209 (223). Replik bei v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit (1991), S. 11. Neuerdings aber mit deutlicher Annäherung, s. v. Hirsch, FS Hassemer (2010), S. 373 (377 f.). 1787 Einzelheiten bei Weigend, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 199 (206), ders., in: Radtke u. a. (Hrsg.), Muss Strafe sein? (2004), S. 181 (193). 1788 Frisch, FS Maiwald (2010), S. 239 (247 f.). 1789 Frisch, FS Maiwald (2010), S. 239 (247 f.); ders., FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (253 ff.); ders., FS Jareborg (2002), S. 207 (225 ff.) zuvor schon ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (279 ff.).; ders., FS Pötz – 140 Jahre GA (1993), S. 1 (17 ff.); ders., ZStW 99 (1987), S. 349 (388). Zum eigenen Ansatz im 2. Kapitel, B. III. 2. 1790 Keine Ausnahme bildet ebenfalls die Arbeit von Enßlin, Spezialpräventive Strafzumessung (2003), der vielfältig auf Potentiale der Spezialprävention hinweist, ohne eine spezialpräventive Strafzumessung im hier vorgestellten Sinne zu fordern. Zusammenfassend zum Ansatz Enßlin, a. a. O., S. 384 f. 1785
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Im Allgemeinen hat die Konjunktur spezialpräventiver Ideen im gedanklichen Klima des „nothing works“ abgenommen. Im Speziellen hat schon die Betrachtung des Schuldbegriffs gezeigt, dass Spezialprävention und Schuld sich im Grunde kaum begrifflich vereinbaren lassen.1791 Die Problematik setzt sich auf Strafbemessungsebene am normativen Ansatz des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB notwendig fort. Allenfalls lassen sich nur Schuld und Sühne miteinander in Verbindung bringen. Aber der Sühnegedanke verkörpert gerade nicht das Denken moderner Spezialprävention. Sühne im Hinblick auf geistige Läuterung ist obendrein höchst persönlich-individueller Natur und als Leistung oder Ziel von einem aufgeklärten Demokratismus nicht erzwingbar. Nur Staaten eines autoritären Totalitarismus befolgen dies nicht. In Konsequenz daraus muss aus Legitimitätsgründen das forum internum dem staatlichen Zugriff verschlossen bleiben. Säkulare Spezialprävention denkt nicht in Schuldkategorien, sondern in Kategorien von Gefährlichkeit und Antisozialität. Das Strafmaß ist folglich nach dem Interventionsbedarf zu bemessen. Theoretisch ist man dann bei den Ideen der Défense Sociale und den diesbezüglich erhobenen Einwänden angelangt. Das zeigt die immanente Problematik spezialpräventiven Strafens deutlich auf: Der Interventionsbedarf ist prognostisch unsicher und nebenbei prinzipiell expansiv angelegt, wenn sich der Erfolg der Resozialisierung nicht in der vorgesehenen Zeit einstellt. Man steht also vor dem Dilemma Strafen entweder zeitlich unbestimmt und erfolgsabhängig oder begrenzt, dafür aber tendenziell zweckverfehlend, zu gestalten. Der erste Weg ist rechtsstaatlich nicht gangbar, der zweite konterkariert den theoretischen Anspruch. Ferner ist die intrasystematische Inflexibilität von Sanktionen ab einer gewissen Strafhöhe zu berücksichtigen. Eine Steuerung mit spezialpräventiver Intention verlangt ein Instrumentarium, dass auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten ist. Bei einer verwirkten Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ist Bewährung ausgeschlossen, äquivalente Geldstrafen sind gesetzlich nicht mehr vorgesehen. Das präventive Potential liegt damit ausschließlich im Strafvollzug. Die kriminalpolitische Ernüchterung in Sachen spezialpräventive Programme1792 dürfte ausreichend belegen, dass ein Freiheitsentzug regelmäßig entsozialisierende Effekte hervorbringt. Als Leitprinzip ist Spezialprävention daher ungeeignet.1793 e) Eignung strafzweckorientierter Strafbemessungskonzepte Das wesentliche Verdienst strafzweckorientierter Strafbemessungskonzepte ist die Vergegenwärtigung der Legitimation der Strafe an sich für ihre Umsetzung in der konkreten Strafbemessung. Gemessen an der Konkretisierung erzielen die Ansätze gegenüber konventionellen Theorien keinen Mehrwert, da konkrete(re) Maßstäbe 1791
S. die Probleme der „naturalistischen Schule“, 1. Kapitel, A. III. 3. b) aa). Streng, in: Lösel u. a. (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 65 (66 ff.). 1793 Zur Lenkung innerhalb der Strafe noch unten C. V. 1792
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über die Zwecke, im Speziellen mittels objektiver Maßstäbe der Verfassung, nicht zu gewinnen sind. Das Abstraktionsniveau verfassungsrechtlicher Systematik lässt einen Gewinn im Grunde nicht erwarten. Dabei geht es vordergründig kaum um den trivialen Befund, dass etwa die Verhältnismäßigkeit des Strafens im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG ohnehin – jenseits einer speziellen strafrechtlichen Theorie – für jedes Programm seine Gültigkeit beansprucht. Die Verfassung formuliert rechtstheoretische Mindeststandards, welche dann (relativ) gut sichtbar gemacht werden können, wenn die Eingriffsperspektive bemüht wird. Als Negativaussage begründet ein Verfassungsverstoß dann ein konkretes Unterlassungsgebot. Für verfassungsinduzierte Handlungspflichten (im Sinne einer Positivaussage) gelingt dies ungleich schwerer. Aus der Generierung staatlicher Schutzpflichten bekannt, besagt dieses Phänomen, dass zur Zielerreichung generell ein (einfach)rechtlicher Gestaltungsspielraum besteht, wenn mehrere Alternativen als verfassungskonforme Lösung gelten dürfen. Die staatstheoretische Reflektion öffnet damit vor allem den Blick auf die zu beachtenden Grenzen des Strafens, muss aber sämtliche Strafbemessungskonzepte tolerieren, die diese Grenzen wahren. Insoweit bewegen sich zweckorientierte Lehren stets auf der Meta-Ebene. Das versetzt sie in die Lage, angewandte Strafbemessung auf die jeweilige Zweckwahrung hin zu überprüfen. Für die Anwendungsperspektive liefern sie dagegen kein ausdifferenziertes Programm; jedenfalls solange nicht, bis sich eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse (Effektivitätsgedanke) anstellen lässt. Deshalb sind die meisten Abweichungen zu bekannten Theorien lediglich terminologischer Natur.1794 6. Theorie vom sozialen Gestaltungsakt Eine Sonderrolle im Spektrum nimmt die Lehre vom sozialen Gestaltungsakt ein. Sie geht auf Dreher1795 zurück und weicht vom klassischen Zuordnungsschema Schuld-Strafe ab. Es gibt nicht von vorneherein die zu findende („richtige“) Strafe, sondern das Strafmaß sei erst das Produkt einer schöpferischen Leistung durch die Richterperson selbst.1796 Für die inhaltliche Bestimmung kommen neben dem gesetzlichen Strafrahmen als Ausgangspunkt vor allem tradierte Maßstäbe üblicher Strafzumessungsvorstellungen sowie die Nachvollziehbarkeit der Strafe für Täter und Gesellschaft in Betracht.1797
1794
Die Masse der zu bewältigenden Entscheidungen wird praktisch nicht ohne eine standardisierte Abwägung auskommen. Eine Einzelfallprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit wird daher realistisch nicht mehr verlangen, als dies § 46 II StGB bereits tut. 1795 Dreher, JZ 1967, S. 41 ff.; dem nahe stehend Henkel, Die gerechte Strafe (1969), S. 33 f. 1796 Dreher, JZ 1967, S. 41 (43 f.); ders., in: Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie (1977), S. 37 (45). Zustimmend etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 299. Bruns/ Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 6 Rn. 8 erscheint die Lehre als synkretischer Ansatz. 1797 Dreher, JZ 1967, S. 41 (45).
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Das ist zunächst einmal mehr die Charakterisierung eines Vorgangs, denn deren Anleitung. In dieser Deskriptivität steht die Lehre nicht in Konkurrenz zu anderen Lehren. Soweit es nicht bei diesen deskriptiven Momenten bleiben soll, kann dieses Modell im Sinne einer normativen Schlussfolgerung eigentlich nur auf eingeschränkte Revisibilität der Strafzumessung abzielen.1798 Die Konsequenz, dass die Entscheidung richterlicher Kontrolle weitgehend entzogen sein muss, wird dementsprechend auch gezogen.1799 Sie stärkt die Tatgerichte, aber durchaus mit dünner legitimatorischer Basis. Sollte man die rechtliche Strafzumessung tatsächlich so verstehen, dann würde sie indirekt von der Gesetzesbindung dispensiert. Denn der Fokus auf die Entscheidungsperson lenkt den Blick notwendig weg von der Gesetzesbindung hin zu einer Versubjektivierung der Strafmaßfindung. Die Machtfülle konzentriert sich folglich beim Tatrichter.
III. Resümee und eigener Ansatz: „Differentielle Strafbemessung“ als Synkretismus Die Entscheidung für ein Strafbemessungsmodell hängt im Grunde von seiner Leistungsfähigkeit ab. Die Darstellung der Theorien hat gezeigt, dass keiner der Ansätze gemessen an den Anforderungen der Strafbemessung vollkommen ist. Dieser Befund muss nicht zwingend als Schwäche einer Theorie zu verstehen sein. Der Anspruch, eine umfassende Handlungsanleitung für den Richter zu entwerfen, erscheint aufgrund der Komplexität der Materie ein nicht lösbares Unterfangen zu sein. Jedenfalls erkauft man den Gewinn an Erklärungsreichweite mit dem Verlust an Präzision. Das muss nicht verwundern oder gar als Mangel gesehen werden, denn soll das Besondere im Allgemeinen begrifflich aufgehoben sein, drückt sich dies in einem gehörigen Begriffsumfang aus. Das gilt letztlich auch, soviel sei vorweggenommen, für die hier verfolgte Idee der differentiellen Strafbemessung. Auf einer Meta-Ebene kann deswegen sinnvoll nur die Synthese von einzelnen Ansätzen angestrebt werden. Als auszuarbeitendes Ziel ist deshalb ausdrücklich ein Synkretismus von Bemessungsmodellen zu benennen; freilich unter der Voraussetzung, dass sich die Elemente spannungsfrei vereinbaren lassen. Ein schlichtes additives Modell könnte dem nicht gerecht werden. Daneben bedarf es aber ausfüllender Subprinzipien und konkreter Zurechnungsregeln. Diese müssen aus dem höheren Prinzip ableitbar, nicht notwendig aber zwingend zu deduzieren sein. Die beiden Hauptaufgabenfelder der Strafzumessungswissenschaft sind deshalb Integration und Konkretisierung. Diese Richtung hat die Wissenschaft unlängst eingeschlagen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das Potential der Integration.
1798 NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 122; relativierend Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 2 Rn. 17 f. 1799 So in der Tat Bruns, Neues Strafzumessungsrecht? (1988), S. 66.
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1. Theorienanalyse Entsprechend der Darstellungsabfolge dominieren innerhalb der Theorien unterschiedliche Gedankengänge. An diesen Parametern ist die Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Zu Argumentationsgruppen gebündelt, betrifft die erste Gruppe die Aussage über die Struktur von Strafmaßentscheidungen, die sich im wesentlichen um die Idee einer punktgenauen Strafe rankt, die zweite behandelt den Herstellungsmechanismus vom Strafmaß, welche an den Rechtsanwender adressiert gedacht ist. Zum Dritten gilt es den Rang von Präventionserwägungen in der Hierarchie der Bemessungsgründe zu bestimmen. a) Struktur der Strafbemessungsentscheidung Grundlegend in Streit ist, ob man Strafbemessung als ein finales Entscheidungsprogramm auffasst oder ob es um eine konditionale Normprogrammierung geht. Beeinflusst wird ein solches Denken unter anderem auch davon, ob man sein persönliches Wahrheitsempfinden eher am Konstruktivismus oder in einem „naiven Realismus“ verortet sieht. aa) Die Punktstrafe verkörpert insofern die Position des naiven Realismus. Für ihre Anhänger ist die Größe der Sache nach vorgeben. In Rede steht deswegen ein eindeutiges Konditionalschema. Der Reiz einer punktgenauen Strafe liegt unbestritten darin, dass es aus intuitiven Gerechtigkeitserwägungen absolut einleuchtend ist, dass es eine eindeutige Aussage über die richtige Strafe geben muss. Die konditionale Struktur besagt, dass, jeweils wenn Sachverhalt xi eintrifft, die Rechtsfolge y (xi) zu wählen ist.1800 Der strafrechtliche Tatbestand eines Deliktes gibt letztlich nur die notwendigen, nicht die vollständigen Komponenten eines Sachverhalts wieder. Das Konditionalschema einer Strafvorschrift ist folglich unvollständig. Es ist begrifflich nicht ausgeschlossen, die Variablen durch Konkretisierungsvorgänge auszufüllen. Die epistemologischen Grenzen erscheinen da als rein praktische Hürden. Dass es allerdings allein um erkenntnistheoretische Defizite geht, ist allerdings gar nicht sicher ausgemacht. Verdeutlichen lässt sich das an einem Beispiel: Das Modell der Punktstrafe lässt sich verbildlichen an einer Wurfspielscheibe. Für jede Straftat gibt es die „goldene“ Mitte und eine Peripherie. Ziel ist es, die genaue Mitte zu treffen; Treffer in der Peripherie gelten noch als vertretbare Lösungen. Man wird gegen dieses Bild einwenden mögen, dass es der Sache nach nicht passt, wenn und weil nicht bekannt ist, wo diese Scheibe überhaupt hängt. Das genau ist eben das Problem der Punktstrafe. Sich eine Skala ohne die Skalierung vorzustellen ist in etwa wie ein Denken in einer unbekannten Dimension. Nun kennt man zwar die Arbeit mit imaginären Einheiten etwa aus der Mathematik der komplexen Zahlen. Aber Ziel ist es schließlich gerade, die Strafbemessung aus definitorischen Setzbegriffen in natürliche Zahlen zu überführen. Existenz und Erkennbarkeit lassen sich demgemäß 1800
Vgl. bereits die Nachweise in Fn. 1711 f.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
nur schwer trennen.1801 Deshalb kann man bereits die Vorstellung eines Konditionalsatzes aus guten Gründen verwerfen.1802 bb) Aus konstruktivistischer Sicht ist die Idee einer Punktstrafe eher fernliegend. Das theoretische Gegenmodell zur Punktstrafe ist deshalb jenes des richterlichen Gestaltungsakts. Die Strafe ist hier Ergebnis eines schöpferischen Akts. Von Rechts wegen kann es dann allenfalls um die Befolgung eines Finalprogramms gehen.1803 Die Konsequenz ist (in der Regel) die Anerkennung eines Ermessenspielraums bei der Strafmaßfindung. Die Einstufung als Ermessensentscheidung lässt sich in der Literatur auch häufig finden.1804 Dabei fehlt indes häufig die Überlegung, ob es sich strukturell überhaupt um Ermessen handeln kann. Ermessen im Verwaltungsrecht ist die Anerkenntnis einer Letztentscheidungsbefugnis einer Behörde über die Rechtsfolge hinsichtlich der Beurteilung eines Sachverhalts.1805 Diese Letztentscheidungsbefugnis korrespondiert notwendig mit einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, denn die gesetzlich gewährte Einschätzungsprärogative soll nicht über die gerichtliche Entscheidung konterkariert werden. Dieses Modell passt aber nicht ohne Abstriche auf das Strafrecht. Erstens geht es formal gar nicht um eine aus Machterwägungen motivierte Kompetenzverteilung zwischen den staatlichen Gewalten. Strafzumessung liegt immer in den Händen der Judikative.1806 Zweitens beruht die Anerkenntnis der Letztentscheidungsbefugnis im Wesentlichen auf der besseren Entscheidungskompetenz der Verwaltung aufgrund 1801
In diese Richtung Neumann, FS Spendel (1992), S. 435 (439); Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 34. Anders als für Grasnick, JA 1991, S. 81 (83), liegt das Problem nicht unbedingt in einem methodisch – scheinbar – unzulässigen Ontologismus. Es geht nämlich weniger um eine „Wesensschau“ einer im absoluten Sinne gerechten Strafe, sondern schlicht um eindeutige Zuordnungen. Diese müssen auch in einem relativen System kohärent und konsistent sein. Eindeutige Zuordnungen kann die Methodik der Punktstrafe nicht garantieren. 1802 Streng, FS Müller-Dietz (2001), S. 874 (888 f.). Man wird Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 39 ff. zwar insoweit zustimmen können, dass damit wissenschaftstheoretisch eine Theorie noch nicht gescheitert im Sinne von „widerlegt“ ist. Scheitern kann aber auch in der Unbrauchbarkeit liegen. 1803 Müller-Dietz, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog (1982), S. 43 (50); allgemein auch Hassemer, ZStW 90 (1978), S. 64 (75). 1804 Gatgens, Ermessen und Willkür (2006), S. 23 ff. mit entsprechenden Nachweisen; weiter Brögelmann, JuS 2002, S. 903 (905); Haddenhorst, in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Pönometrie, (1977), S. 1 (33); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 166; Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 20/49. Anders Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2 (1985), S. 29, 63 der Parallelen zum unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum zieht; im Grundsatz weiterhin Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 4 Rn. 82 f.; inhaltlich vergleichbar Otto, NJW 1978, S. 1 (10). 1805 Jestaedt, in: Ehlers AllgVerwR 14(2010), § 11 Rn. 55; Maurer, AllgVerwR 18(2011), § 7 Rn. 56. 1806 Es geht hier ausdrücklich um Kriminalstrafe. Ob sich die Bemessung einer Geldbuße im Bereich von Ordungswidrigkeiten, („Verwaltungsstrafrecht“) mithin also Verwaltungsrecht, von der gleichen Methode wie die Strafmaßfindung leiten lässt oder lassen kann, ist für die hiesige rechtliche Qualifikation ohne Bedeutung.
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ihrer Sachnähe. Die Behörde wählt aus den ihr zur Verfügung stehenden rechtmäßigen Alternativen diejenige aus, die sie aus Zweckmäßigkeitsaspekten für die beste hält. Für die Zweckmäßigkeit verfügt sie in aller Regel über besseres Wissen als es ein zentralisiertes Gericht verfügen kann. Zwar könnte man durchaus erwägen, ob nicht auch – systemintern innerhalb der Judikative – die Prärogative in der Strafzumessung an den Tatrichter zu persönlicher Einschätzung delegiert wurde.1807 Es ist aber nicht ersichtlich, warum ein solcher theoretischer „Freiraum“ angelegt werden müsste.1808 Historisch gesehen ist diese „Entpersonalisierung des Entscheidungsprozesses“ als Frucht der Abkehr vom Inquisitionsprozess zu sehen.1809 Ohne klare rechtliche Anknüpfungspunkte läuft der Richter leicht Gefahr, in ein persönliches Werturteil abzudriften. Berufen ist er aber nur zur Entscheidung aufgrund von Recht und Gesetz. Die Analogie zur Exekutive wäre außerdem nicht strukturell in gleicher Weise nachvollziehbar: da Verwaltungskompetenzen grundsätzlich Ländersache sind, bedingt die staatliche Struktur des Föderalismus, dass in der Bundesrepublik auch Unterschiede bestehen. Ein solches Lokalitätsprinzip rechtfertigt in diesem Sinne durchaus regionale Eigenheiten, denn die Sachmaterien (Umwelt, fachplanende Infrastruktur, Daseinsvorsorge, etc.) beruhen im weiteren Sinne darauf. Die Bürgervertretung „vor Ort“ soll die eigenen Angelegenheiten in ihrem unmittelbaren Nähebereich selbst regeln dürfen. Für das (Bundes-)Strafrecht ist eine solche Diversität in der Rechtsanwendung aber ein Missstand. Dieses verwaltungstechnische Delegationsprinzip (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) ist zudem durch den Wesentlichkeitsgedanken bedeutend eingeschränkt.1810 Das bedeutet, dass die Freiräume der Exekutive dort enden, wo qualifizierte Rechtsgarantien des Bürgers betroffen werden. Für das Strafrecht ist diese schwierige Grenzziehung unproblematisch: im Hinblick auf die Rechtsfolgen ist die Einschränkung elementarer Freiheitsgarantien unzweifelhaft betroffen. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme mehrerer rechtmäßiger Alternativen grundsätzlich kaum denkbar. Zwar könnte man sämtliche Strafhöhen innerhalb eines bestimmten Rahmens als rechtmäßig einstufen – soweit beim Gedanken der Spielraumtheorie. Die Auswahl der konkreten Strafhöhe nach Zweckgesichtspunkten dem Richter zu überlassen, hinterlässt dann jedoch tiefgreifende Bedenken. Denn die Eingriffsqualität steigt mit der Größe der verwirkten Strafe. Es ist also schwer zu 1807 Vgl. in diese Richtung Engisch, FS K. Peters I (1974), S. 15 (36). Siehe auch die Bemerkung von Lackner, Entwicklungslinien in der Strafzumessungslehre (1978), S. 34 f., der präsumiert, dass das richterliche Selbstverständnis in Bezug auf die Tatwürdigung in praxi die Durchsetzung fester Strafzumessungsregeln hemmt. Das heißt dann wohl, dass das richterliche Selbstbild sozusagen „von Amts wegen“ Ermessen gestatten muss. 1808 Entsprechend Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 210; ders., ZStW 99 (1987), S. 751 (802); Kaspar, Gutachten C DJT (2018), 1 (73); Paeffgen, FS Peters II (1984), S. 61 (71). 1809 Salditt, FS Tolksdorf (2014), S. 377 (385 f.) mit Verweis auf Küper, Die Richteridee der Strafprozessordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen (1964). 1810 Eingehend GG-Dreier/Bauer, 2(2006), Art. 80 Rn. 20; GG-Mangoldt/Starck/Klein/ Brenner 2(2010), Art. 80 Rn. 32.
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vermitteln, dass eine höhere oder niedrigere Strafe aus Rechtsgründen irrelevant wäre.1811 Schließlich kann Zweckmäßigkeit im Bereich des Strafens letztlich nur auf den Strafzweck verweisen.1812 Über die präventive Wirkung von Strafen besitzt das Tatgericht – trotz Eindrucks in der Hauptverhandlung – aber kein substantiiert überlegenes Wissen. Zudem tut sich ein Kontrolldefizit auf, wenn eine solche (strafrechtlich verstandene) Zweckmäßigkeit außerhalb revisionsgerichtlicher Überprüfung stünde. (Verwaltungs-)Gerichtliche Kontrolle von Zweckmäßigkeit findet zwar ebenso nicht statt. Doch hier kann der Bürger wenigstens (regelmäßig1813) über die nächsthöhere Behörde die Zweckmäßigkeit überprüfen lassen. Die Verantwortung der Exekutive wiederum muss sich im letzten Zugriff demokratischen Wahlen periodisch stellen. In den Kategorien des (materiellen1814) Strafrechts lässt sich dagegen die Rechtsfigur des Ermessens in Form einer gelockerten Gesetzesstrenge nicht äquivalent abbilden.1815 Die stringente Rechtserheblichkeit der betroffenen Interessen fordert eine entsprechende „Rechtsdichte“.1816 Die Wahrung derer ist dann, unbeachtet der faktischen Hindernisse, welchen die Revision entgegentritt, im Grundsatz vollumfänglich überprüfbar.1817 Strafmaßfin1811
Dabei geht es ausdrücklich nicht um die „These der einzig richtigen Entscheidung“ in der Façon Dworkins. Intrasystematisch ist das (Rechts-)System nicht für Kontingenz ausgelegt. 1812 So bereits Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962), S. 181. 1813 Soweit ein Widerspruchsverfahren nicht ausgeschlossen ist; die Gründe für die Zurückdrängung des Widerspruchsverfahrens sind durchaus kritisch zu sehen, vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht 9(2013), § 5 Rn. 5 mit zahlreichen Nachweisen. 1814 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch ein „prozessuales Ermessen“ für Verfahrenshandlungen in Frage steht, dazu bei G. Herdegen, FS Kleinknecht (1985), S. 173 (187). 1815 Dass die Gesetzessprache durch den ausdrücklichen Wortgebrauch des „Ermessens“ (§§ 51 IV, 76a, 23 III und die anderen Verweisungen im Kontext von § 49 II StGB) dieses scheinbar voraussetzt, ist deshalb problematisch. 1816 Inwieweit „das Ermessen“ (im Verwaltungsrecht) als eigenständige Figur noch Bestand haben darf, kann hier nicht vertieft werden. Generell ist es aber so, dass die zunehmende „Verrechtlichung“ aller Lebenssachverhalte die Kategorie der Zweckmäßigkeit verkleinern dürfte. Die „Elfes“- Rspr. (BVerfGE 6, 32, Urt. vom 16. 01. 1957 – 1 BvR 253/56) verschiebt die Konflikte in den Interessenausgleich der Rechtfertigung. Die umfassende Verhältnismäßigkeit dirigiert letztlich die Entscheidungen. Die Vorstellung nun, dass es ein Sachverhalt zwei eingriffsäquivalente Lösungen (i. S. v. Rechtsfolgen) bereithält, ist damit schon sehr unwahrscheinlich. 1817 Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 227, 284 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 82 I, S. 871; Zipf, Die Strafzumessung (1977), S. 75 ff.; ders., später noch in: Maurach/Zipf, Strafrecht AT 2 7(1989), § 63 Rn. 192 f., nunmehr bei Zipf/Dölling, in: Maurach, Strafrecht AT 2 8(2014), § 63 Rn. 183 f. Unklar Gatgens, Ermessen und Willkür (2006), der § 114 VwGO analog im Strafprozess anwenden will (S. 260, 405). Einzelheiten zur Revision unten, im 2. Kapitel.
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dung als originärer Wertungsakt entspringt zwar unbestritten einer einmaligen, regelmäßig nicht rekonstruierbaren Situation der Hauptverhandlung. Ein verfehlter Rückschluss wäre es indes, die Evolutionsbemühungen von Intersubjektivität unter dem Eindruck der Gestaltungslehre als fruchtlos einzustellen. Es kann jeweils nur eine Variante einer Strafe rechtmäßig sein, die Vorstellung von mehreren rechtmäßigen Strafen kann also nicht zutreffen.1818 Wenn weder Punktstrafe noch reiner Gestaltungsakt vollumfänglich zutreffen, muss sich das Entscheidungsprogramm der Strafbemessung zwischen Konditional- bzw. Finalprogramm bewegen. Inwieweit man sich diese Zwischenform als eigenständige dritte Kategorie einer Rechtsnorm vorstellen muss, ist rechtstheoretisch noch unerschlossen.1819 Sie wird als Hypothese in den Raum gestellt. b) Leitprinzipien der Strafbemessungsentscheidung Gesucht wird ein Modell, welches konkret Strafmaßentscheidungen strukturalisieren kann. Dazu bedarf es Leitprinzipien sowohl für Wahl der Strafart und die Zumessung der Strafgröße. Weder der Gedanke der Punktstrafe noch die Lehre vom Gestaltungsakt können also den rechtlichen Anforderungen der Strafbemessung gerecht werden. Sie stellen nur deskriptive Theorien dar, die inhaltliche Maßstäbe zur Ausgestaltung vermissen lassen. Im Stadium der Beschreibung bleiben auch die Ausführungen Jakobs’ stecken. Ohne Anleitung zur „Herstellung“ eines Strafmaßes ist dem Rechtsanwender indes nicht geholfen.
1818 Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 227; auch Schmidhäuser, Strafrecht AT 2(1975), 20/49, der gleichwohl von „gebundenem Ermessen“ spricht. Die gezogene Parallele bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 29, zum unbestimmten Rechtsbegriff ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Dies verdeutlicht ein Blick auf § 35 GewO. Eine Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit beruht auf einem unbestimmten Rechtsbegriff. Die Meinungen darüber, was Unzuverlässigkeit begründet, können im konkreten Fall auseinandergehen. Es können aber niemals beide Entscheidungen „richtig“ sein. Denn entweder trifft das eine oder das andere zu. So verhält es sich im Grunde auch bei den Strafen. Ein Beurteilungsspielraum muss deswegen noch nicht zugestanden werden; so indes Bruns/Güntge, Das Rechtder Strafzumessung 3(2018), Kap. 4 Rn. 84. Gegen diesen bei der Strafzumessung Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 220 ff.; auch im Grundsatz Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962), S. 73. 1819 Generell wird die Finalnorm aufgrund ihres Charakteristikums, nämlich der planerischen Gestaltungsfreiheit in den Grenzen seiner Rechtsdirektiven, von dem Programm eines Konditionalschema sachlich geschieden, s. Maurer, AllgVerwR 18(2011), § 7 Rn. 63. Aber schon für das Verwaltungsrecht wird die Gültigkeit dieser Teilung hinterfragt, vgl. Jestaedt, in: Ehlers AllgVerwR 14(2010), § 11 Rn. 18. Im ersten Zugriff scheint jedenfalls für das Strafrecht die Orientierung am Planungsrecht aus genannten Gründen unangebracht. Gerade die Erfassung von rechtlichen „Übergangszuständen“ mittels von „fuzzy logic“ bekannter Strukturen muss hier noch als unerforscht im Raum stehen. Andeutungen derart bei Philipps, MschKrim 81 (1998), S. 263 (270), neuerdings bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 368 ff.
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aa) Strafartwahl Bezüglich der Strafmodi zeigt die Systematik der §§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 1 bis 3, 59 Abs. 1, 60 StGB, dass die Auswahlentscheidung zum Großteil von präventiven Erwägungen abhängig gemacht wird. Grundsätzlich muss eine Strafbemessungstheorie deshalb diese präventiven Aussagen in ihr Konzept integrieren, so es denn die Wahl der Strafart determinieren will. Abgesehen von der Stellenwerttheorie sind entsprechende Aussagen nur bei präventiv imprägnierten Theorien zu erwarten. Die generelle Zurückhaltung in dieser Sache könnte allerdings auch daraus resultieren, dass die Auswahlentscheidung hinsichtlich des Status die Zumessungsgrundsätze unbeeinflusst lässt, sofern sich die Zumessungsregeln für Geldstrafeinheiten und Freiheitsstrafeinheiten nicht unterscheiden. Am Anfang könnte also zunächst die Prioritätsfrage stehen, die Frage, ob nun die Wahl der Strafart oder Zumessung vorrangig zu behandeln ist. Die Überlegung dahinter lautet, dass man erst eine Geldstrafe bemessen könnte, wenn man wüsste, dass eine Geldstrafe verhängt werden soll; mutatis mutandis für die Verhängung der Freiheitsstrafe. Die Folge wäre, dass beide Strafregimes isoliert zu betrachten wären. Das Strafrecht sieht allerdings offenkundig das Gegenteil vor. § 43 StGB geht von einer Transformationsfähigkeit der beiden Strafarten aus. Art. 12 Abs. 1 EGStGB und § 47 Abs. 2 StGB ordnen zudem kumulativ die Möglichkeit einer Geldstrafe an, selbst wenn die Strafvorschrift nur einen Straftyp anordnet. Ebenso spricht die Konkurrenzregel des § 47 Abs. 1 StGB gegen eine vorrangige Wahl der Strafart, denn die besonderen Umstände für eine Freiheitsstrafe können nicht sinnvoll vor der eigentlichen Strafzumessung behandelt werden. Ein anderes Ergebnis wäre auch im Grunde höchst überraschend, da die Bemessung in beiden Straffällen von dem verwirklichten Unrecht auszugehen hat. Zudem operieren beide Strafarten, sowohl Geld- als auch Freiheitsstrafe, mit einer Vorstellung von Zeitstrafe. Jeweils gilt der Verzicht auf Konsum und Freiheit auf Zeit.1820 Beide Bemessungssysteme weisen daher auf Tatbestandsseite (Unrecht) sowie Rechtsfolge (Strafzeit) die gleichen Bezugsgegenstände auf. Aus diesem Grund kann es keine Inkommensurabilität von Freiheits- und Geldstrafe geben. Die Bemessungsregeln gelten somit logisch unabhängig vom Strafmodus. Die Stufe der Entscheidung für die Strafart ist nur für kurze Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten durch § 47 Abs. 1 StGB zugunsten der Präferenz der Geldstrafe vorgezeichnet. Echte, „freie“ Konkurrenz ergibt sich damit nur für den Bereich von 6 Monaten bis zu einem Jahr (im Falle der Gesamtstrafe 2 Jahre). Als Entscheidungsgründe können dem allgemeinen Vernehmen nach sämtliche strafrelevanten Schuld- und Präventionsaspekte in Betracht kommen.1821 Bei genauerem Hinblick wird man zu dem Ergebnis kommen, dass im Wesentlichen spezialpräventive Vorstellungen den Ausschlag geben werden. So nennt § 47 Abs. 1 StGB zwar die 1820 Für die Geldstrafe gilt auch ein Zeithorizont, da das Tagessatzsystem, anders als die Geldsummenstrafe, konstruktiv in Zeiteinheiten aufgeteilt wird. 1821 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 104 u. 182 ff.
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„Verteidigung der Rechtsordnung“ gleichberechtigt neben der Einwirkung auf den Täter. Darunter soll die ausschließliche Akzeptanz einer Freiheitsstrafe für eine bestimmte Tat zu fassen sein.1822 Diese Fragestellung offenbart aber nicht nur ein empirisches Problem,1823 sondern auch normativ verstanden besteht das Problem darin, eine gesonderte Bedeutung aus dem Topos der „Verteidigung der Rechtsordnung“ zu ziehen. Das gilt insbesondere von dem Standpunkt dieser Arbeit, da Belange der positiven Generalprävention in Form des Phänomens der Integrationsprävention bei der Tatschuld umfassend Verarbeitung finden. Es besteht freilich keine Gefahr einer Kollision mit dem Doppelverwertungsverbot. Da wie nachgewiesen die Strafzumessung von der Wahl der Art sachlich unabhängig ist, kann es nicht zu logischen Interferenzen kommen. Es gibt dennoch wohl keine strikte Verknüpfung von Unrecht und Strafe, in welchem die eine Strafart die artgerechte Behandlung einer solchen Tat ist.1824 Insbesondere herrscht grundsätzlich kein System von „Spiegelstrafen“ vor, welches das Geschehen abbilden müsste. Wann das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin mit einer Geldstrafe nicht mehr befriedigt werden kann, hängt dementsprechend nicht von allgemein abstrakten Maßstäben ab, sondern bedeutsam von der erwarteten, zu erzielenden Strafwirkung. Erwartet wird pauschal, dass ein Übel spürbar für den Betroffenen ist, weil alles andere die Norm in ihrer Wertigkeit untergraben müsste. In Wahrheit dominieren also spezialpräventive Aspekte. Dieses nicht zuletzt deshalb, weil die Aussetzungsentscheidung nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB für kurze Freiheitsstrafen ohnehin ausschließlich spezialpräventive Aspekte vorsieht. Im Ergebnis beeinflusst die Wahl des Modus vor allem die voraussichtliche Wirkung der Strafe. Dieses prognostische Denken setzt sich für den Bereich echter Konkurrenz fort. Die Entscheidung für eine Geld- oder Freiheitsstrafe ist daher hauptsächlich von der Idee Spezialprävention motiviert. Man bedient sich dann im Ergebnis an einem Mechanismus einer Stufenlogik, welcher die Stellenwerttheorie beschreibt. Diese Zweistufenlogik ist im Grunde kompatibel mit sämtlichen Strafzumessungstheorien, so dass diese als erster Baustein differentieller Strafbemessung festgehalten werden kann. Ob entsprechend der Stellenwerttheorie die präventiven Überlegungen ausschließlich der zweiten Entscheidungsstufe des Modus’ vorbehalten bleiben kann an dieser Stelle noch offen bleiben. bb) Zumessung der Strafgröße (1) Mangels verfügbaren Konditionalschemas lässt sich die „richtige“ Strafe kaum aus einem Evidenzerlebnis oder einem Subsumtionsvorgang gewinnen. Die konkrete Strafe ist daher zu entwickeln. Generell, aber auch recht trivial, besagt die 1822 Vgl. etwa B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 97; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 160. 1823 So in erster Linie Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 160. 1824 Vgl. SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 47 Rn. 7.
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Idee der schuldangemessenen Strafe, dass die Höhe der Strafe der Höhe bzw. Schwere der Schuld folgt. Je größer das Schuldquantum, desto höher die Strafe. Betrachtet man die Struktur von Sanktionen, so ist anhand der Strafrahmen unverkennbar, dass Strafen – innerhalb eines jeweiligen Systems – nach komparativer Methode bereit stehen. Freiheitsstrafen sowie Geldstrafen sind gestaffelt in Zeitquanten numerischer Abfolge. Die unterschiedlichen Sanktionen stehen stets in der Relation „mehr/weniger als“. Von daher steht im Grunde fest, dass die Strafe mit komparativer Logik zu erfassen ist.1825 Die Staffelung der Sanktionen nach der Schwere des Tatunrechts ist das berechtigte, prinzipielle Anliegen der Lehren von Tatproportionalität. Da sie unabhängig von einer präventiven Wirkung nach einer Lösung strebt, kann man sie als „Gerechtigkeitstheorie alter Schule“ bezeichnen.1826 In gewisser Weise wird Anschluss an die klassische Rechtsphilosophie gesucht, so dass mit der Idee klassischem Schuldausgleichs kein Bruch entstehen kann. Wenn nun verwirklichtes Unrecht in numerische Strafen transformiert werden sollen, bleibt im Grunde keine erkennbare Alternative, als diese Sachverhalte ordinal zu ordnen. Es entspricht mit Sicherheit auch dem intuitiven Wert- und Gerechtigkeitsempfinden der Menschen einer Gesellschaft.1827 (2) Was nun allerdings die Schwere von Tatunrecht ausmacht, bedarf noch näherer Klärung. Hierbei stehen im Prinzip zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Strebt man eine Reduktion der Auswahl möglicher Strafzumessungsfaktoren an, so erhöht dies die Wahrscheinlichkeit eindeutige Ergebnisse zu erzielen. Eine umfassende Relevanz von Strafzumessungsfaktoren bedeutet im Gegenzug stets auch ein Anwachsen an Komplexität. Bei einer Unterdrückung von Komplexität wird umgekehrt fraglos Differenzierungspotential fallen gelassen. Der Rechtsentscheider bewegt sich letztlich im Spannungsfeld der polaren Kräfte von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit. Zumindest auf primärer Ebene der Rechtsanwendung wird man der Einzelfallgerechtigkeit breiten Raum gewähren dürfen,1828 so dass als eine Forderung differentieller Strafzumessung eine umfassende und differenzierende Würdigung der Sachverhalte steht. Das ist von dem Gedanken geleitet, dass auf jene Parameter, die Unrecht prägen können, ggf. auch spezifisch reagiert werden muss. Eine weite Öffnung für Faktoren, wie auch über den hiesigen weiten Begriff der Tat1829 intendiert, führt im Ergebnis zu relativem Gleichklang der Strafzumessungstheorien, da sämtliche bisherigen Streitpunkte Eingang in die Diskussion 1825 1826
(186).
Vgl. auch M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 96 ff. Ähnlich auch B. Schünemann, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 185
1827 Intuition wissenschaftlich greifbar zu machen ist naturgemäß schwierig. Der Blick auf andere Bereiche, z. B. die Wirtschaft, bestätigt aber solche Prinzipien. So ist z. B. die Vorstellung Leistung-Lohn im Arbeitsleben ebenso gekoppelt an den komparativen Gedanken „mehr Leistung-mehr Lohn“. Der Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage wirft letztlich Preise aus, die sich nach dem Wert von Gütern staffeln, („mehr Wert- höherer Preis“). 1828 Was für die Revision andere Maßstäbe erfordern kann, s. unten das 2. Kapitel A. II. 1829 Zur Begründung s. oben im Teil 1, 2. Kapitel B. II. 2. b).
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finden können.1830 Man wird deshalb der Klarheit wegen zwischen einem allgemeinen Prinzip der Tatproportionalität und einzelnen Lehren von Tatproportionalität zu unterscheiden haben. Tatproportionalität bzw. Schuldproportionalität als Prinzip beansprucht unter der Ägide des Schuldprinzips universelle Gültigkeit. Von daher verfolgen einzelne Lehren von Tatproportionalität kein exklusives Vorhaben. Dass mit einer großzügigen Heuristik in Sachen Tatbegriff deren partielle Eingrenzungsversuche u. U. bedeutsam nivelliert werden, schmälert im Übrigen nicht deren Verdienst. Das Modell der tatproportionalen Strafzumessung gibt insofern den Anstoß, sich von den vielfältigen Verklausulierungen des Schuldbegriffs zu emanzipieren.1831 (3) Zieht man das Modell „Strafe nach Verhältnismäßigkeit“ heran, werden keine abweichenden Ergebnisse erreicht. Der Ausgangspunkt ist zwar zunächst ein anderer. Begrifflich ist in der Verhältnismäßigkeit freilich Proportionalitätsdenken angelegt. Während allerdings Tatproportionalität intrasystematisch („interne“ Proportionalität) gedacht wird, geht es der Sache nach bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung um das Zusammentreffen zweier „Rechtssysteme“ (gemeint: Staat und Individualperson), folglich um „externe“ Proportionalität. Das ist – ganz im Prüfungsmechanismus des BVerfG gedacht – eigentlich auf Singularität, sprich den Einzelfall, ausgerichtet. Man kann also eine Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit einer Strafe (regelmäßig) ohne Ansehung des gesamten Sanktionensystems treffen. Systematik erhält da noch keinen Einzug, denn Entscheidungsgegenstand ist nur der Vergleich (in Form der Abwägung) von Eingriffsziel und Rechtseinbuße im Sinne einer Wertigkeitsrelation. Ein Richter hat aber natürlich nicht nur einen Fall zu entscheiden. Denkt man sich eine Vielzahl von solchen zu beurteilenden Fällen nach Verhältnismäßigkeit, erhält man auch eine Vielzahl von Wertigkeitsrelationen, die, wenn sie Anspruch auf Kohärenz und Gerechtigkeit erheben, sich wiederum in Reihe bringen lassen müssen. Folglich ist auch der Verhältnismäßigkeit Tatproportionalität als gedachtes Leitprinzip immanent. Beide Ansätze konvergieren also im Ergebnis; eines Rückgriffs auf die Verfassung bedarf es daher eigentlich nicht. (4) Über den Topos des Schuldausgleichs hinaus fehlt es der Spielraumtheorie an einem solchen Leitgedanken. Da für die Absteckung der Schuldrahmen keine expliziten Forderungen erhoben werden, bleibt vieles schon theorieimmanent im Dunkeln. Unterlegt man die Aufgabe des Schuldausgleichs mit einem Prinzip von Schuldproportionalität (was der Sache nach in der Schuldangemessenheit angelegt ist), so wird man auch hier eine Konvergenz zumindest in den Ergebnissen zu erwarten haben. Die Toleranz von Schuldrahmen nötigte dabei allerdings zu einer Operation mit unscharfen Mengen, so dass ein systematischer Vergleich von Strafen noch zusätzlich erschwert würde. Generell steht zu vermuten, dass die Spielraumtheorie nicht mehr als ein ad-hoc-Modell der Strafmaßfindung ist und auch sein soll. 1830
Dieses Ergebnis bei NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 110. Wenn auch im Umfang vielleicht nicht strikt definiert, hat der Tatbegriff jedenfalls nicht in gleicher Weise mit Äquivozität des Schuldverständnisses zu kämpfen. 1831
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Das zeigt sich insbesondere in der Ausdifferenzierung der Strafe mittels präventiver Aspekte. Denn im Hinblick auf die Strafzweckausgestaltung verharren präventive Leitlinien in der Potentialität. Vieles ist berücksichtigbar und begründbar, aber auch generell austauschbar. Diese Konturenblässe verfehlt letztlich den eigentlichen Lösungsanspruch; das Antinomieproblem bleibt ungelöst.1832 Es mehren sich daher zu Recht Stimmen, die von der Theorie abrücken wollen.1833 Als reine Strafzumessungstheorie formuliert sie zudem keine Aussagen zur Wahl der Strafart.1834 Die Stellenwerttheorie greift letzteres Manko auf, bezieht aber ebenso zur Ausgestaltung keine Stellung. (5) Von daher konkurrieren nur noch die Modelle der Tatproportionalität und Strafen nach Verhältnismäßigkeit um die Ausdeutung der Strafzumessungsmethodik. Diese unterscheiden sich zwar prinzipiell ihres geistigen Ursprungs wegen, differieren aber deutlich weniger in ihren sachlichen Inhalten. Ein einheitliches Leitprinzip von Proportionalität kann daher herausdestilliert werden. Auf eine weitere Unterscheidung kommt es für den Fortgang der Untersuchung nicht an. c) Rang von Präventionserwägungen Der Gedanke der Prävention kann bei der Strafbemessung drei Ebenen oder Stufen umfassen. Unstrittig, weil gesetzlich vorgesehen, prägen Präventionserwägungen die Auswahlentscheidung für eine bestimmte Sanktion. Auch das Institut der Strafe an sich wird in seinem grundlegenden präventiven Charakter nicht angezweifelt. Unklar ist demgegenüber, inwieweit der Präventionscharakter in die konkrete Strafe hinreichen darf bzw. muss. Die Integration von präventiven Zielen in den Strafbemessungstheorien fällt demgemäß unterschiedlich aus. Soweit ausdrücklich der Strafzweck als heuristisches Basisprogramm auserkoren wird, gilt der Zweckbezug nicht nur für das Institut der Strafe an sich, sondern gleichzeitig auch für deren Ausgestaltung. Die Prävention dominiert in diesen Fällen bis hin zur Ausschließlichkeit. Die „Stellenwerttheorie“ dagegen beschränkt die Bedeutung von Prävention auf die Auswahl der Sanktionsart, während die Spielraumtheorie Präventionserwägungen als komplementäre Strafzumessungsfaktoren begreift. Ausdrücklich Abstand von Prävention innerhalb der Strafzumessung nimmt die Lehre von Tatproportionalität in ihrer Ursprungsform. 1832 Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 785; MüKo-StGB/Radtke, 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 61. 1833 Allen voran Vertreter der Tatproportionalität wie Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 27; dies., FS L. Philipps (2005), S. 393 (397); B. Schünemann, in: Eser/ Cornils, Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik (1987), S. 209 (210); aber auch H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität (1994), S. 37, 494; SSW-StGB/Eschelbach 5(2020), § 46 Rn. 44; Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (362 f.); Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 43, ergänzende Nachweise bei NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 101 (Fn. 530). 1834 SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 23; MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 ff. Rn. 61.
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Vom straftheoretischen Ausgangspunkt her gibt es keinen Grund, nicht auch die Strafzumessung in den Dienst der Prävention zu stellen. Denn die Legitimationswirkung des Instituts der Strafe muss prinzipiell in den Einzelakt der Einzelstrafe „hinüberreichen“, soll die Legitimationskette nicht abrupt Abbruch finden. Vornehmlich empirische Defizite in der Validierung von präventiven Effekten werden als Einwand gegen präventiv motivierte Strafzumessung vorgetragen.1835 Richtig ist insoweit, dass die sozialpsychologischen Mechanismen der Strafe noch erheblicher Aufklärungsarbeit bedürfen. Aus heutiger Sicht kann dies (noch) als Vollzugsdefizit und nicht (endgültig) als ein epistemologisches Problem struktureller Art gelten. Das bedeutet, die empirische Forschung verspricht hier zumindest schrittweise Aufarbeitung um diesen Missstand zu lindern. Die Präventionseignung der Strafe wird zudem missverstanden, wenn von der einzelnen Strafe ein Rückgang an Kriminalität erwartet würde. Das entbehrt nicht nur der Validierung, sondern ist im Ausgangspunkt wenig schlüssig. Ein solcher Mechanismus lässt sich kaum einmal modellhaft begründen.1836 Entsprechend dieser Überlegung leistet jede Strafmaßentscheidung einen nicht näher bestimmten Teilbeitrag zum präventiven Anliegen des Systems Strafrecht. Insofern kann man auch immer von präventiver Strafzumessung sprechen. Aus dem modernen Strafrecht ist dieser Zweckbezug nicht mehr wegzudenken. Es kommen daher nur Strafbemessungstheorien in Frage, die diese Erkenntnisse zumindest verarbeiten können. Die Anschlussfähigkeit ist aber selbst bei der reservierten bis ablehnenden Haltung der Tatproportionalitätslehren gegeben. 2. Methodische Schlussfolgerungen für die Strafbemessung Die vorgestellten Theorien besitzen insgesamt unterschiedliche Schwerpunkte. Eine Entscheidung für eine Theorie ist bisweilen unnötig, soweit sich die Ansätze miteinander widerspruchsfrei vereinbaren lassen und der verfolgte Ansatz Zustimmung findet. Eine Synthese nach dem Prinzip praktischer Konkordanz erlaubt eine weitestmögliche Geltungsverschaffung einer Theorie. Dahinter steckt weniger der Gedanke eines flexiblen Optierens, als die Idee der Gerechtigkeit. a) Die vorstehenden Überlegungen zur Struktur der Strafzumessung zeigen, dass determinierendes Element der Strafmaßfindung stets die Differenzierung sein muss. Für einen Sachverhalt kann es theoretisch nur eine Strafgröße geben. Vergleichbare Fälle können schon aus dem Fundamentalrechtssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf einen diffusen Ermessensspielraum mit der Konsequenz unterschiedlicher Strafhöhen verwiesen werden. Selbstredend darf umgekehrt wesentlich ungleiches nicht gleich behandelt werden. Die folgende Untersuchung beruft sich deshalb auf den
1835 Zum „empirischen“ Diskussion s. die Nachweise bei Streng, in: Lösel u. a. (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 65 (66 ff.). 1836 Zum Mechanismus oben die straftheoretischen Grundlagen unter I.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz als Leitprinzip1837 auf der Metaebene, weshalb hier auch von differentieller Strafbemessung gesprochen wird. Als übergeordnetes Prinzip ist es notwendig allgemeiner Natur, so dass es Subprinzipien bedarf, um den konkreten Strafbemessungsvorgang umsetzen zu können. Solche Subprinzipien liefern die Strafbemessungstheorien der Tatproportionalität und die Stufenlogik der Stellenwerttheorie. Der Proportionalitätsgedanke ist insofern ein Derivat des Gleichheitsgedankens, da im klassischen Sinne eine „Tatstrafe“ nach weitgehend formaler Gleichheit gefördert wird. Naturgemäß stößt jede intonierte Idee „materieller“ Gleichheit (im Sinne eines suum cuique1838) auf ihre Grenzen, wenn es um deren inhaltliche Konkretisierung geht. Das liegt weniger an schwacher empirischer Nachweisbarkeit von Positiveffekten individuell motivierter Strafzumessung, sondern ist eine generelle Frage von Gerechtigkeitsanschauung. Geht man von einem generalpräventiv legitimierten Strafrecht aus, ist der Gedanke einer Verteilungsgerechtigkeit nach abstrakten Kriterien und Maßstäben zumindest konsequent,1839 denn dann wird zumindest das Anliegen formaler Gleichheit bedient. Die Art der Sanktion kann dann durch individuelles Steuerungsanliegen prädeterminiert werden. Schließlich verspricht die Durchdringung des Strafrechts mit verfassungsrechtlicher Systematik (Verhältnismäßigkeit der Strafe) in Teilen eine verbesserte Struktur der Diskussion, die insbesondere Unsicherheiten der Rechtsfolgenkonkurrenz abmildern kann, aber auch die Individualität der Person durch die Grundrechtsdimension nachhaltig ins Bewusstsein ruft. Diese dreigliedrige Struktur muss als unverzichtbare Basis jeder Strafbemessungsentscheidung berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist alles mit dem Gedanken einer gerechten Strafe zu vereinbaren, was einem Differenzierungspotential Rechnung trägt. Denn Art. 3 Abs. 1 GG selbst gibt das Differenzierungsniveau nicht vor. Differentielle Strafzumessung ist insofern ein „offener“ und damit ausdrücklicher integrativer Ansatz. b) Das Differenzierungsprinzip findet praktisch dort seine Grenze, wo seine praktische Handhabbarkeit endet oder wenigstens strukturell erschwert ist. Eine Atomisierung eines Sachverhalts bis zur Unkenntlichkeit von vergleichbaren Strukturen ist schon im Ansatz nicht gefragt. Dagegen muss eine Reduktion von 1837 Relativ nihilistisch in der Hinsicht Beckmann, in: Mehr Transparenz in der Strafjustiz (1991), S. 81 (84, 87 f.) mit praktischer Aufgabe der Gleichheit. Sehr problematisch auch die vergleichbare Ansicht von Arzt, FS Stree/Wessels (1993), S. 49 (56 f.); Gleichheit als Leitprinzip verneinen auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 871. 1838 Gemeint: suum cuique (tribuere) „Jedem das Seine (zuteilen)“; weiterführend; insb. zu den Ursprüngen des klassischen Gerechtigkeitspostulats, etwa Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 2(1977), S. 395 ff.; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie 5(1993), S. 185 ff. 1839 Neumann, FS Ellscheid (1999), S. 119 (123 ff.) geht zu Recht davon aus, dass dem Bürger das von Lisztsche Prinzip (in freier Abwandlung: „Jedem nach seinem Bedarf“) kaum als gleich zu vermitteln wäre.
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Komplexität stets gewährleistet sein, um praxistauglich zu sein.1840 Strafbemessung sollte deshalb die Zurechnungsprinzipien der Straftatlehre weitestgehend übernehmen. Der Konnexitätsgedanke von Unrecht und Schuld prüft entsprechend dem Filterprinzip die Zurechenbarkeit der einzelnen Unrechtsmomente.1841 Reduktion von Komplexität heißt auch, Aufklärung in Bezug auf die relative Bedeutung der Sache zu betreiben. Strafrecht ist ein Konfliktlösungsinstrument und widmet sich der Tiefe nur soweit, wie der Konflikt auch tatsächlich virulent ist. Ein Straftaxendenken und Pauschalierung für Bagatelldelikte und Massenphänomene sind dann nicht zu beanstanden,1842 wenn die routinierte Abwicklung zur Konfliktbereinigung ausreichend ist. Die Spezifikationsnotwendigkeit steigt mit der Komplexität des Konfliktes.1843 c) Auf der anderen Seite setzt auch das Recht prinzipiell Differenzierungsschranken. Deren Notwendigkeit ergeben sich in aller Regel aus der Verfassung, wie etwa durch das Schuldprinzip, die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG und nicht zuletzt aus dem Fundamentalvorbehalt des Art 1 Abs. 1 GG. Weitere, auch einfach-gesetzliche Schranken sind denkbar. So ist etwa eine kritische Zurückhaltung von präventiven Inhalten je nach Stand der Strafzumessungslehre begründbar. Differentielle Strafzumessung mag daher zwar nicht mehr formulieren als einen Satz rechtlicher Selbstverständlichkeit. Unabhängig von der Unverzichtbarkeit eines solchen Universalsatzes zeigt dies aber gleichsam die Kontingenz von Konkretisierungsbemühungen auf. Unterhalb der Schwelle von Differenzierungsverboten ist theoretisch keine Falsifikation von Strafzumessung möglich. Dieser theoretische Befund darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die potentielle Pluralität der Strafmaßbegründungen keine reale mehr ist. Der einmal angestoßene Prozess der „Verrechtlichung“ der Strafzumessungslehre hat das ehemals „freie Ermessen“ stark zurückgedrängt und zu einer Verdichtung von Lösungsansätzen geführt. Grundsätzlich divergierende Wege, die die Strafbemessung gänzlich anders betreiben würden, sind gegenwärtig nicht ersichtlich. Da diese Entwicklung keineswegs als abgeschlossen gilt, so denn dieser Fall in einer freien Rechtskultur je eintreten kann, ist für die Zukunft zu erwarten, dass sich weitere Direktiven der Strafzumessung als Konsens der Diskussion herauskristallisieren werden.
1840
33 ff. 1841
So auch Kunz, in: Kielwein (Hrsg.), Entwicklungslinien der Kriminologie (1985), S. 29
Zur Darlegung des Modells im 2. Kapitel, B. III. 4. Höfer, MschrKrim 88 (2005), S. 127 (134). Zur Praxis ferner die Ausführungen bei H.-J. Albrecht, in: Tatproportionalität (2003), S. 215 (227). 1843 Vgl. zur begrenzten Reichweite des Pauschalgedankens Streng, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 129 (135). 1842
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
B. Die Strafzumessungsfaktoren Die Strafzumessungsfaktoren sind nun eine direkte Konkretisierung differentieller Methodik. Die Faktoren der Strafzumessung stützen den Grund der Strafe, indem sie überhaupt erst die Gründe für eine Differenzierung des Strafmaßes bereitstellen. Im Anschluss an Spendel1844 findet man in der Strafzumessungslehre mitunter eine Unterteilung in finale, reale und logische Strafzumessungsgründe vor. Während die Finalität der Strafe in Ausrichtung und Anbindung der Strafzwecke erfolge, bilden die „realen“ Strafzumessungsgründe den „Realgrund“ der Strafe, also die zur Strafzumessung heranzuziehenden Strafzumessungstatsachen. Die „logischen“ Gründe sollen dann die innere Rechtfertigung (das „Warum“) gegenüber den „realen“ Gründen („Was“) beitragen.1845 Diese Strafzumessungstatsachen sind durch den Katalog in § 46 Abs. 2 StGB von Gesetz wegen vorgegeben. In der theoretischen Grundlegung des Tatbegriffs zur Strafzumessungsschuld wurde dargelegt, dass sämtliche Faktoren, die ein tatbestandliches Unrecht näher kennzeichnen können, der Sache nach (potentielle) Unrechtsfaktoren sind.1846 Es sind dies die möglichen Einflussfaktoren der dahinterstehenden, letztlich mit der Sanktion zu behebenden Rechtsfriedensstörung. Das Gesetz verweist insoweit in § 46 Abs. 1 StGB auf die (Strafzumessungs-)Schuld als Grundlage der Strafe. Aus diesem Zusammenhang folgt allerdings die Notwendigkeit, dass Strafzumessungsfaktoren nur solche sein können, die geeignet sind, das Unrecht (resp. die Rechtsfriedensstörung aus) der Tat genauer auszudifferenzieren.1847 Entgegen der sprachlichen Tendenz in der Formulierung des § 46 Abs. 2 StGB („namentlich“) muss man indes eine abschließende Regelung annehmen, weil einstweilen nicht ersichtlich ist, welche Umstände im Hinblick auf die Grundlagenformel in Abs. 1 den Kreis der Strafzumessungsfaktoren noch erweitern könnten – ohne dabei den Charakter sachfremder Erwägungen zu tragen.1848 Die Auf1844
Spendel, Die Lehre vom Strafmaß (1954), S. 191 ff. Zum Ganzen Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 52 ff. Die Frage nachdem „Was“ steht im Recht aber zwangsläufig mit dem „Warum“ in untrennbarer Verbindung, so dass eine solche Differenzierung nicht zwingend notwendig ist. 1846 Zum notwendigen Unrechtscharakter bereits Hörnle, JZ 1999, S. 1080 (1089). 1847 Eine „natürliche“ Relevanz kann es nicht geben, da der Lebenssachverhalt als solcher nicht die Wertungskriterien in sich trägt, vgl. auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 21. Die Rechtsordnung gibt allerdings Direktiven vielfach vor; zum einen durch Strafbarkeit von Sachverhalten als solchen, zum anderen durch die unterschiedliche Strafrahmenhöhe (Qualifikationen, Privilegierungen) als Reaktion darauf. Insofern sind Relevanzkriterien bereits aus der Verbrechenslehre zu gewinnen, s. ausführlich Stahl, a. a. O., S. 104, 110 ff. 1848 Regelmäßig heißt es, dass auch andere Umstände berücksichtigt werden können, soweit (Hervorh. d. Verf.) sie Anhaltspunkte für höhere oder geringere Schuld liefern, etwa LK-StGB/ Theune 12(2006), § 46 Rn. 82. Diese gedankliche Öffnung wird es aber nicht brauchen. § 46 II StGB ist bereits das Ergebnis einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Strafzumessung. Methodisch analysiert sind die Kriterien zwar bloß induktiv gewonnen, insoweit aber abschließend gedacht, da aufgrund des Grundsatzes „nulla poena sine lege“ eine unerkannte 1845
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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zählung liefert nur Beurteilungskriterien – und ist insofern rein kriteriologisch – um dem Rechtsfinder gleichsam eine Art „Checkliste“ an die Hand zu geben. Da im Übrigen in einem Sachverhalt tatsächlich nicht alle genannten Aspekte eine Rolle spielen, kann die Strafmaßfindung ohnehin stets nur eine Auswahl dieser Aufzählung bedienen.1849 Flankiert wird die Unrechtsbetrachtung durch die allgemeinen Zurechnungsregeln. Über die Relevanz objektiver Unrechtsmerkmale (Art der Ausführung bzw. Auswirkungen der Tat) kann schon die Typizität der objektiven Zurechnung (Gefahrschaffung, Realisierung der konkreten Gefahr) Auskunft geben. Im Übrigen wird der fragliche Umstand über Vorsatz (Wissentlichkeit bzw. Verwirklichungswille) oder Fahrlässigkeitsmaßstäbe (Leichtfertigkeit, wenigstens Vorhersehbarkeit) zum persönlichen Unrecht.
I. Beweggründe und Ziele des Täters Die Beweggründe und die Ziele des Täters bilden entsprechend der Gesetzessprache eine Einheit. Sie spiegeln grundsätzlich den Entschluss zur Tat wider, so dass ein inhaltlicher Überschneidungsbereich zum aufgewendeten Willen mitunter auftreten kann. Während der Beweggrund eher ursächlich-initiativ orientiert fragt, ist mit dem Ziel ein bestimmter Endzustand im Blick. Da sich die Motivation in Antizipation eines bestimmten Zieles herausbildet, ist eine sachliche Trennung dennoch regelmäßig nicht geboten.1850 Die Hauptaufgabe der Strafzumessung ist es schlechthin, die Beweggründe und Ziele nach rechtlichen Maßstäben zu bewerten. Grundsätzlich ist mit der Suche nach einem rechtlichen Wertungsparameter schon die Einstufung der Bewertungsrichtung als belastend bzw. entlastend verbunden, weil sich der Rechtsanwender im Klaren sein muss, ob ein Motiv oder Ziel vor dem Recht tendenziell Anerkennung (dann: wenig unrechtsgewichtig) oder tendenziell Zurückweisung (dann: unrechtserhöhend) verdient. Als Grundsatzformel dient die Prüfung, in welchem Grade Motiv oder Ziel noch als „verständlich“ zu erachten sind. Denn die Rechtsfriedensstörung einer Gemeinschaft korrespondiert in hohem Maße mit der Nachvollziehbarkeit einer Tat. Je näherliegend eine menschliche Reaktion in Form des Gesetzesbruches ist, desto weniger entfernt sich der Täter vom Grundsatz einer als gerecht erkannten und erdachten Regel. Differenzierungspotential besteht Unrechtsdimension schwerlich begründbar ist. Obendrein, das werden die nachfolgenden Erörterungen zeigen, ist der Katalog eher redundant in seinen Merkmalen als zu eng; die Weite kritisiert Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (66). 1849 Bereits Horstkotte, JZ 1970, S. 122 (125) bei Einführung als § 13 StGB a. F. 1850 LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 93 unterscheidet z. B. den Fall, dass jemand einem anderen einen Vorteil verschafft (Ziel), weil der Täter sich aus Dankbarkeit oder Mitleid (Beweggrund) dazu veranlasst sieht. Diese Sichtweise lässt sich durchaus angehen, aber auch hier könnte man fragen, ob das Täterziel letztlich nicht in der Begleichung dieses (moralischen) Verpflichtungsgefühls liegt.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
hinsichtlich dreier Dimensionen,1851 die in gewisser Weise den chronologischen Tatablauf widerspiegeln. 1. Differenzierungspotential im Entstehungsgrund a) Beim Entstehungsgrund der Tat lässt sich die Anreizsituation analysieren. So macht es einen Unterschied aus, ob die Tat eher einer Gelegenheit und Spontanität entspringt oder ob die Tat eher das Produkt von Überlegung und Planung ist. Letzteres trägt gemeinhin das Etikett höherer „krimineller Energie“, was nichts anderes heißen soll, als dass eine andere Gefährlichkeitsdiagnose gegenüber dem Täter getroffen wird. Weniger geht es in diesem Zusammenhang um eine Kontrastierung von Professionalität oder Dilettantismus in der eigentlichen Tatausführung. Überlegung und Planung stehen für und kennzeichnen den hohen Grad an Entschlossenheit zur Tat. Daher kommen mildernde Aspekte einer Planung eher weniger in den Blick. Denkbar wären zwar Vorbereitungen, die sich in der Schonung des Opfers oder Dritter auswirken.1852 Dann werden diesem Täter aber ohnehin weniger Auswirkungen zur Last fallen, die andernfalls eine höhere Strafe erfordert hätten. Eigenständige Bedeutung hätte dieses Kriterium jener Vorbereitung erst, wenn die Maßnahmen zur Schonung scheiterten und sich die Frage stellt, ob bereits Bemühungen in diese Richtung das Unrecht mindern könnten. Überzeugend mutet diese Idee nicht an, da es ersichtlich nicht um den „guten Willen“ gehen kann, denn vernünftig ist schon die Tatbegehung allemal nicht. Der Täter hätte die Tat auch bei „Schonungsintention“ trotzdem vollumfänglich bleiben lassen sollen. Daran zeigt sich, dass solche „Planungsleistungen“ an sich nicht prämiert werden sollen. Sollten Bemühungen scheitern, könnte es lediglich eine Frage der Zurechenbarkeit der (dennoch) eingetretenen Folgen sein. Kommt man bei der Beurteilung dazu, dass die Folgen im eingetretenen Umfang bspw. unvorhersehbar waren, dann kommt dem Täter die Planung zwar zu Gute, aber insofern allenfalls (nur) mittelbar. Im Bereich der Fahrlässigkeit dürften solche Umstände das Maß der Pflichtwidrigkeit prägen. Gelegenheitstaten dagegen erscheinen als Einmaligkeit und damit auch – ein Stück weit – der Zufälligkeit geschuldet, welche der planvolle Täter ausschalten will. Schon § 213 StGB anerkennt die strafmildernde Wirkung einer Situation, in der ein Täter „auf der Stelle zur Tat hingerissen worden“ ist. Beziehungs- oder allgemeine Konflikttaten sprechen die Opferverstrickung an und machen die ungünstigen Bedingungen im Vorfeld der Tat zum Thema. Konflikttaten ließen sich systematisch auch nach der – sogleich folgenden – Differenzierung in Eigen- und Fremdinitiative begreifen, wobei nicht jeder Konflikt einen Herausforderungscharakter haben muss. In letzteren Fällen mag man dann nicht von echter Initiative sprechen. Aus Tätersicht geht es meist um eine Reduzierung der 1851
Ähnlich auch LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 87. So die Überlegung von Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 172. 1852
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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Hemmschwelle bei gleichzeitig starkem Stimulus. Auch wenn in Schuldfragen die individuelle Vermeidemacht der entscheidende Punkt ist, so bedingt die notwendige Normativierung in der Antwort, dass diese spezielle Motivationslage letztlich an gesellschaftlichen Erwartungen gemessen wird. Ein vom Täter selbst aktiv geförderter Konflikt nimmt dem Geschehen jedenfalls verstärkt die Zufälligkeit in seiner Entladung. Das führt dazu, dass Selbstverschulden keine Milderungsoptionen eröffnet.1853 Die Verantwortlichkeit am Konflikt erhöht notwendig die Zumutbarkeit was ein Standhalten oder Entziehungsmöglichkeiten aus der Situation betrifft. Die vorgelagerte Konfliktsituation wird somit selbst Gegenstand der inhaltlichen Bewertung. Dann spricht viel dafür, die Wertigkeit und Intensität als Maßstab in den Blick zu nehmen. b) Das Maß an Eigeninitiative bei der Tatgenese reflektiert den Grad an Täterschaftlichkeit („Täterwillen“), welches auf Strafbegründungsebene noch keine Differenzierung findet. Aus den Regeln zur Teilnahme an Straftaten ergibt sich jedoch ein unterschiedliches Gewichtungspotential. So zeigt die Gleichstellung für den Anstifter (§ 26 StGB) in der Strafandrohung, dass dieser grundsätzlich in den gleichen Rang der Verantwortung wie der Täter gestellt wird. Ein Mangel an Täterschaft ist grundsätzlich strafmildernd, vgl. etwa § 27 Abs. 2 StGB. Wenn auch weder buchstäblich noch nummerisch im Strafmaß eine prozentuale „Aufteilung“ stattfindet, so ergibt dennoch eine quantitative Analyse der Tat, dass die geistige Verantwortung für eine Tat doch irgendwie verteilt sein kann. Es muss für den einzelnen einen Unterschied ausmachen, ob er Initiator und Ausführer in sich vereinigt, oder ob eine Rollenverteilung in Idee und Ausführung vorliegt. Denn im letzteren Fall hängt die Tat schon von zwei Bedingungen ab. Es gibt also neben der formell qualitativen Täterschaft auch eine materiell quantitative Täterschaft.1854 Es ist also gerechtfertigt, den ursächlichen Beitrag von anderen Beteiligten in die Tatwürdigung einzustellen. So lässt sich die Fremdinitiative in der Intensität absteigend nach Anstiftung, Tatprovokation, Verführung und Formen psychischer Beihilfe1855 abstufen. In diesem Kontext kann auch die Verstrickung in netzwerklich organisierte Unrechtsstrukturen Bedeutung gewinnen. Sämtliche Fallgestaltungen im Rahmen der Begrifflichkeit von organisierter Kriminalität und der Rechtsfigur 1853 Vgl. auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 177 f. 1854 So auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 124 ff. Dass es ein Modell von quantitativer Täterschaft geben kann, zeigt schon das sog. Einheitstätermodell. Im Gegensatz zu Österreich (§ 12 ÖStGB) ist das Einheitstätermodell für das deutsche Kriminalstrafrecht (s. aber dagegen § 14 OWiG) zwar ohne Bedeutung, zu den Gründen Jescheck/Weigend 5(1996), § 61 II S. 645 ff.; Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 25 Rn. 1 ff. Die Existenz ist aber ein Beleg für eine phänomenologische Differenzierbarkeit von Täterschaftsgraden. Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme selbst ist unter Zugrundelegung der Tatherrschaftslehre ohnehin gradueller Natur. 1855 Zu den Erscheinungsformen, auch in zeitlicher Hinsicht, StGB-Lackner/Kühl 29(2018), § 27 Rn. 3 f.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
„Täter hinter dem Täter“ können in diesem Sinne aktuell und abschließend verarbeitet werden. Die Ausführungen sind in gleicher Weise gültig für staatliches Handeln. Gerade in der Historie der Bundesrepublik Deutschland war mit der Aufarbeitung des Unrechts des Dritten Reichs und des DDR-Regimes die Rolle des staatlichen Machtapparats bei der Ausführung einzelner Taten für die Strafzumessung zu erörtern. Wenn auch aktuell eine vergleichbare Indoktrinationswirkung kaum ersichtlich ist, so bleibt der Einfluss hierarchischer Strukturen dennoch zu berücksichtigen. Auch wenn die Gehorsamspflicht eines Beamten (§§ 56 BBG, 38 BRRG) oder Soldaten (§ 11 SG) in der Rechtswidrigkeit eines Handelns seine Grenze findet, kann die Hinwirkung oder gar eigenständige Verantwortlichkeit eines Dienstvorgesetzten das Maß von verwirklichten Unrecht relativieren. In § 5 WStG (Handeln auf Befehl) ist das ausdrücklich niedergelegt. Einen speziellen Anwendungsfall staatlichen Einflusses bildet der Einsatz polizeilicher Lockspitzel. Hier tritt der Staat als „Beteiligter“ auf. Die Frage nach einer Strafbarkeit muss im Hinblick auf die Prinzipien des „venire contra factum proprium“ und des fairen Verfahrens (Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) gesondert beleuchtet werden. Insbesondere bei rechtswidrigem Einsatz wird der Gedanke einer Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs diskutiert.1856 Ob sich im Einzelnen die Situation zu einem persönlichen Strafausschließungsgrund oder Verfahrenshindernis ausweiten kann, bedarf hier allerdings keiner Diskussion, da der Bereich der reinen Strafzumessungsdogmatik verlassen wird.1857 Festzuhalten bleibt, dass zu missbilligendes staatliches Verhalten eine qualifizierte Form von Beteiligung darstellt und dementsprechend höheres Gewicht bei der Strafmaßfindung findet als andere Formen der Fremdinitiative. Die Beurteilung selbst kann sich an den Zurechnungslehren von Täterschaft und Teilnahme orientieren. Je mehr der Staat als „Täter hinter dem Täter“ identifizierbar wird, desto mehr verschiebt sich auch der anteilige Verantwortungsbereich zu Gunsten des Beschuldigten zum Staate hin. Das zurechenbare Unrecht ist entsprechend bereits als gemildert zu betrachten. Ein vollständiges Zurechnungsdefizit wird allerdings – wie bei der Anstiftung auch – nicht denkbar sein. 2. Differenzierung in Wertigkeit und Intensität In einem weiteren Schritt lässt sich der Beweggrund nach Wertigkeit und Intensität differenzieren.1858
1856
S. nur Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 618, mit entsprechenden Nachweisen. 1857 S. noch die Anmerkungen hier unter VIII. 5. 1858 Ebenso Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 550; LK-StGB/Theune, 12(2006), § 46 Rn. 87.
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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a) Der Handlungsantrieb einer Tat wird vielfach einer Gefühlslage1859 entspringen. Die Bewertung von tatauslösender oder -begleitender Emotion bereitet durchaus Probleme, da handlungsleitende Emotionalität Teil menschlicher Natur ist und damit die Grenze zwischen Motiv- und Persönlichkeitsbewertung verschwimmen kann. Dennoch bedeutet Emotionalität funktionell auch immer Kommunikation,1860 und der kommunikative Gehalt einer Tat beeinflusst die Rechtsfriedensstörung.1861 Dabei kann der gesetzlichen Wertung des § 33 StGB entnommen werden, dass Antriebe der Asthenie (etwa Angst, Verzweiflung) generell mehr Nachsicht genießen als eine Handlung aus Hass, Wut, Zorn, Verärgerung, Eifersucht oder Habgier. Im Übrigen ist vor einer moralisierenden Einwirkung zu warnen,1862 die sich fernab gesetzlicher Wertungen bewegt. Einen Anhaltspunkt kann die Rechtsprechung zu den mordbegründenden niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB liefern.1863 Auch dort geht es im Wesentlichen um die „Verständlichkeit“ der Motive. Was noch als „verständlich“ gelten kann, muss in Anschauung des konkreten Delikts getroffen werden. Dabei sind Überlegungen einer Zweck-Mittel-Relation zulässig. Ein solches Rationalitätskonzept steht strukturell der ökonomischen Denkweise nahe, denn es kommt im Grunde einer Bilanzziehung gleich, wenn man den Nutzen der Tat für den Täter mit dem angerichteten Schaden quasi „aufrechnet“. Dabei bereitet indes weniger der Vorgang der Gegenüberstellung Probleme, als die Deutung des gewonnenen Saldos. Drückt sich die Maßlosigkeit darin aus, dass jemand für relativ geringen Ertrag beträchtliche Werte opfert? Oder legt nicht jemand Maßlosigkeit an den Tag, wenn eine bemerkenswerte, eigene Übervorteilungsintention zur immensen Bereicherung 1859
Zu beachten ist, dass mit Gefühl die subjektive Erlebnisperspektive zu bezeichnen ist; s. Sokolowski, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 299. Der objektive Gegenbegriff ist die Emotion. 1860 So auch Sokolowski, in: Müsseler, Allgemeine Psychologie 2(2007), S. 312 f. 1861 Das dürfte der – neben dem praktischen Anlass der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen – rechtstheoretische Hintergrund sein, dass § 46 Abs. 2 S. 2 StGB ab dem 1. August 2015 um die Formel der Beweggründe und Ziele um den Zusatz: besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende, erweitert wurde. Man kann den Mehrwert dieser Gesetzesänderung mit Recht bezweifeln, denn von durchdringendem Nutzen ist sie nicht. Es lassen sich keine Ergebnisse erzielen, die nicht schon nach der vorherigen Gesetzeslage möglich waren. Von daher muss man entgegen Jungbluth, StV 2015, S. 579 ff., weder einen Systembruch (Verletzung eines Neutralitätsgebots der gesetzlichen Formulierung von Strafzumessungsfaktoren, S. 581) noch verfassungsrechtliche Zweifel (S. 583 f.) anstrengen. Ob auf der anderen Seite tatsächlich ein strafverstärkender Effekt allein durch den neuen Gesetzestext drohe, so weiter Jungbluth, StV 2015, S. 579 (581, 584), vermag hier nicht eingeschätzt zu werden. 1862 LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 83. 1863 LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 84; ferner Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 131 f. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass gerade jene Thematik zu den umstrittensten Bereichen der Strafrechtsdogmatik gehört. Der Reformbedarf setzt gerade an den niedrigen Beweggründen bzw. deren Streichung an, siehe zuletzt Arbeitskreis AE-Leben, GA 2008, S. 193 (211).
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
führt?1864 Egoismus kann unterschiedlich begriffen und abweichend für schädlich befunden werden. Das Deutungsschema wird von den jeweiligen gesellschaftlichen Vorstellungen abhängen, wobei Schwankungen diesbezüglich bereits intragesellschaftlich hoch wahrscheinlich sind, wenn eine Pluralität von Ansichten, Meinungen und Wertempfinden Homogenität eigentlich nicht zu erwarten ist. Die Wert-NutzenRelation überzeugt schließlich umso mehr, wie der Kommerzialisierungsgedanke noch vermittelbar scheint. Unverkennbar stößt die Anwendbarkeit dieser Methode insbesondere bei höchstpersönlichen Rechtsgütern wie Leben, körperliche Integrität und Freiheit an seine Grenzen.1865 Gleichwohl sollte dieses Prinzip als Grundsatz angewandt werden, um die Bereitschaft des Täters, Unrecht zur Zielerreichung einzusetzen, näher auszuloten. So sinkt die Nachvollziehbarkeit einer Motivation regelmäßig, wenn der erreichte Gewinn (Zweck) gegenüber den eingesetzten Mitteln (Opferung von geschützten Werten) nur marginal erscheint. Denn dies zeigt erhöhte Risikobereitschaft an, die übersetzt in das Strafrecht höhere Gefährlichkeit bedeutet. Zu Recht wird bspw. in der Diskussion der Neuordnung der Tötungsdelikte daher eine unrechtserhöhende Gemeinschaftsbedrohlichkeit zum Leitprinzip erhoben.1866 Bei hoher Risikobereitschaft wird der Konfliktfall mit dem Gültigkeitsanspruch einer Rechtsnorm eher wahrscheinlich und dadurch virulent. Ein höheres Maß an Rechtsfriedensstörung ist die Folge. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sie dem Täter einen Grundstab an Überlegung und Herausforderungswillen unterstellen, der womöglich real gar nicht idealtypisch vorhanden ist. Es ist daher im Zweifelsfall immer anhand konkretisierender Subkriterien zu untersuchen, inwieweit der allgemeine Leitgedanke zu sehr pauschalisiert. b) Ob tatsächlich über die Kennzeichnung und der Bewertung im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation eines Motivs hinaus noch eine Quantifizierung desselben gelingen kann, ist fraglich. Sicher ist es vorstellbar, dass jemand „hasserfüllter“, „rachsüchtiger“ oder „eifersüchtiger“ im (phänomenologischen) Vergleich erscheinen kann.1867 Je nachdem was praktische Lebenswirklichkeit und Wortschatz hergeben, sind der Komparation zunächst keine Grenzen gesetzt. Da aber in diesen Fällen meistens keine natürliche Messbarkeit zur Verfügung steht, bringt dies für die Falldifferenzierung auch nur wenig. Es ist schwerlich anschaulich zu machen, warum beispielsweise bei zwei Taten mit identischem Verletzungserfolg, derjenige Täter härter bestraft werden soll, dessen Motivationsgefüge über mehr Eifer1864
Abrunden lässt sich diese Überlegung durch folgendes Beispiel: Ist die Vorteilsannahme (§ 331 StGB) eines Beamtengravierender, wenn er für dieselbe Amtshandlung 10.000 E anstatt 1.000 E fordert? Ist die Habgier oder nicht doch die niedrige Hemmschwelle, einen billigen „Ausverkauf“ von Hoheitsrechten auszuführen, ausschlaggebend? 1865 Eindrucksvolle Anschauung gibt insoweit die Gegenüberstellung der Tötung eines Menschen für läppische 10 E gegenüber einer Tötung in Erwartung eines 10 Mio. E Gewinns. Während im ersten Fall die „Nichtigkeit des Anlasses „ steht, sticht im zweiten Fall die „Gier“ hervor, vgl. StGB-Fischer 67(2020), § 211 Rn. 13. 1866 Arbeitskreis AE-Leben GA 2008, S. 193 (220 ff.). 1867 Zur prinzipiellen Graduierbarkeit der Gesinnung bei Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (245).
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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suchtspotential Auskunft gibt. Hier dürfte die Grenze zur Persönlichkeitsbewertung und zum Moralisieren überschritten werden. Unter dem Aspekt des Beweggrunds erschöpft sich das Unrecht selbst wohl aber in den meisten Fällen in der Verknüpfung (Zweck-Mittel-Relation) und Einstufung als solcher.1868 c) Eine Differenzierung erscheint dann nicht (mehr) sinnvoll, wenn Ambivalenzen auf der Deutungsebene keine eindeutige Werthierarchie ausfindig machen lassen. In diesen Fällen fehlt es entweder generell an gültigen Differenzierungsansätzen oder die Komplexität der Gemengelage macht eine Differenzierung zu unpräzise. Dann empfiehlt es sich auf eine Berücksichtigung in der Strafzumessung zu verzichten. 3. Differenzierung nach dem Ziel Als dritten Aspekt lässt sich das Ziel (synonym: der Zweck1869) in die Bewertung einstellen. Mit dem vom Gesetz vorausgesetzten Erfolg ist in aller Regel das anvisierte Ziel erreicht worden. Sollen darüber hinaus weitere Ziele als strafzumessungsrelevant verwertet werden, müssen diese sich vom eigentlichen Taterfolg separieren lassen um nicht in Konflikt mit dem Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) zu geraten. Das ist dann der Fall, wenn die Deliktsverwirklichung nur notwendige Zwischenetappe zu einem eigentlichen Hauptziel ist. Als das Tatbild zugunsten des Täters prägende Umstände kommen altruistische Zielvorstellungen in Betracht. Das klassische Beispiel liefert der Diebstahl von Lebensmitteln zu dem Zweck, diese Bedürftigen zukommen zu lassen. Generell wird man die Lösung von Not-und Konfliktsituation, die zudem wenigstens teilweise Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe verwirklichen oder sich inhaltlich in deren Nähe bewegen, als unrechtsmindernd berücksichtigen können.1870 In diesen Diskussionskontext gehören auch Delikte mit inhaltlichen Bezügen zum Umwelt- und Tierschutz oder sonstige Versuche, gesellschaftliche Missstände (u. a. ziviler Ungehorsam) anzuprangern. Hier gelangt (oder vielmehr: müsste gelangen, um berücksichtigt zu werten) die Materie zumindest in die Peripherie politischer oder anderer persönlichkeits-expressiver Grundrechte. Allerdings gilt es zu beachten, dass hier die Übergänge von rein ideologischen Taten hin zum Fanatismus kontinuierlich fließend
1868
Das dürfte der Forderung einer restriktiven Verwertung der Gesinnung im Recht am ehesten gerecht werden. Zu entsprechenden Restriktionen Kelker, Die Legitimität von Gesinnungsmerkmalen (2007), S. 480 ff. 1869 Frühere Gesetzesentwürfe nannten zudem den Zweck als Zumessungsgrund. Eine Erweiterung oder Verkürzung von relevanten Fälle dürfte damit nicht einhergehen, s. Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 551. 1870 Nähe kann dabei in qualitativer wie quantitativer Hinsicht herangezogen werden, vgl. auch H.-L. Günther, FS Göppinger (1990), S. 453 (461 f.). In quantitativer Hinsicht kann etwa der Kompensations- bzw. Saldierungsgedanke eine Rolle spielen, Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 119 f.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
verlaufen. Eine Serie von Gewalttaten zur Errichtung eines Gottesstaates ist kein Akt des Altruismus, auch wenn dadurch das Paradies auf Erden verkündet würde. Im Übrigen ist eine weitere Differenzierung zwischen Eigen- oder Fremdnutz ohne Belang. In manchen Tatbeständen (z. B. § 242 StGB) wird eine solche sachliche Unterscheidung bereits ausdrücklich verworfen. Es darf nicht verkannt werden, dass der Rechtsbruch regelmäßig per Definition Egoismus ist, so dass eine solche Differenzierung wenig zur Sanktionsfindung beitragen kann. Auch wird auf diese Weise ein Fortsetzungsdenken konstruiert, welches regelmäßig rechtlicher Grundlage entbehrt. So wird man auch nicht zu bewerten haben, welche Verwendungsmöglichkeiten ein Dieb im Sinn hat. Dessen Willkürlichkeit beschreibt schließlich die Haltung des se ut dominum gerere; dieses ist Grundbestandteil des Diebstahls und insoweit bereits verwertet. Ob jemand eine Axt zum Holzhacken oder zur Begehung eines Mordes stiehlt, ist für den Diebstahl ohne Belang, denn auch bei einem legalen Kauf würde keine Gesinnungsprüfung stattfinden. 4. Zurechenbarkeit der Motive und Ziele Das letzte Beispiel führt vor Augen, dass das Doppelverwertungsverbot im Bereich der Beweggründe und Ziele eine hohe Bedeutung hat. Das Doppelverwertungsverbot ist als normative Zurechnungsbeschränkung stets zu berücksichtigen. Gemäß der Filtermethode1871 folgen weitere Zurechnungsschranken aus dem Schuldprinzip. Die Motive und Ziele müssen das Bewusstsein erreicht haben.1872 Methodisch sollte man sich hier wiederum an den Grundsätzen der Tötungsdelikte orientieren. Es ist ohne Bedeutung, ob der Täter die Bewertung der entsprechenden Motive und Ziele teilt oder für nachvollziehbar hält. Genügend ist, dass er die Umstände, die zu der Einschätzung führen, gekannt hat. Maßgebend ist insoweit immer der Wertevollzug der Gemeinschaft. Von daher ist eine persönliche Verfehlung oder Abfall von Werten irrelevant, weil Privatsache.1873 Ein Problem im Sinne dieser Zurechenbarkeit und nicht etwa ein Problem eigenständiger Art sind jegliche Fälle, in denen Anschauungen aus fremden Kulturkreisen oder subkulturelle Einflüsse auf die hiesigen Wertvorstellungen treffen. Die Ausländereigenschaft oder sonstige Zugehörigkeit zu einer Gruppe begründet keine unrechtserhebliche Eigenschaft. Zurechnungsdefizite können sich aber auftun, soweit die Wertvorstellungen nicht bekannt waren oder, soweit bekannt, im Sinne des Rechtsgedankens des § 20 StGB nicht steuerungswirksam werden konnten. Die Folge ist, dass belastende Umstände nicht zugerechnet werden.1874 Eine Akklima1871
Siehe im 1. Teil im 2. Kapitel, B. III. 4. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 85. 1873 Vgl. zum Ganzen auch LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 91. 1874 Fraglich ist, ob damit die „Datumtheorie“ des IPR (für ihre Einführung Grundmann, NJW 1985, S. 1251 (1255) im Strafrecht bereits (faktisch) umgesetzt wird. Sachlich kann je1872
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tisierungswirkung berücksichtigend, werden letztere Aspekte desto weniger durchgreifen, je länger der Täter mit den lokalen Gegebenheiten bereits in Kontakt stand.1875 Ein Problem der Zurechnung und nicht einer abstrakten Klassifizierung sind auch Tatkonstellationen, in denen sog. „Gewissenstäter“ handeln. Führt der innere Motivationsdruck dazu, dass diese Motivation das Handeln des Täters in einem die Steuerungsfähigkeit einschränkendem Maß vereinnahmt, so hat eine Verwertung zuungunsten des Täters zu unterbleiben.
II. Erkannte Tätergesinnung sowie -wille Das Strafzumessungspotential der Tätergesinnung und des aufgewendeten Willens wird vielfach schon von der Thematik des Beweggrunds oder der Zielrichtung erfasst und ist, soweit abgedeckt, bereits als Sachverhalt verarbeitet. Rhetorisch verschiebt sich der Aspekt von der Tatentschließung zur Ausführungsphase.1876 1. Gesinnung, die aus der Tat spricht a) Gemäß den hier entwickelten Grundsätzen1877 kann die Gesinnung insoweit Verwertung finden, als aus der kommunikativen Wirkung, die aus der Tat resultiert, eine Unrechtsmodifikation abzuleiten möglich ist.1878 Diese potentielle Unrechtsrelevanz ändert jedoch nichts daran, dass sich die Thematik immer am Rande zur Täterabrechnung bewegt, so dass dies eine hohe Behutsamkeit im Hinblick auf die Argumentation fordert. Aufgrund der mitunter auftretenden Überschneidung zu anderen Strafzumessungsgründen empfiehlt es sich, jenen in der Begründung den Vorrang einzuräumen mit dem Ziel die Strafmaßfindung nicht mit den dogmatischen Unsicherheiten zu belasten.1879 Um die Abgrenzung zur allgemeinen Gesinnung zu gewährleisten, sollte die Tatgesinnung immer eine konkrete Haltung in einem eng umrissenen Zeitrahmen denfalls Recht bzw. Unrecht nicht in der Art der Datumtheorie für das Strafrecht konkretisiert werden, denn sie kann keinen Beitrag für die Bestimmung des Normverstoßes an sich leisten. 1875 MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 46. 1876 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 552. 1877 Siehe im 2. Kapitel, B. III. 1. b). 1878 Einen radikal anderen Ansatz verfolgt Timm, JR 2014, S. 141 (147). Nach ihrer Auffassung sind jegliche Aspekte nicht zu verwerten. Zur Fraglichkeit dieser Ansicht bereits oben, 2. Kapitel, B. III. 1. b). 1879 Insofern ist wenigstens die Verzichtbarkeit des Kriteriums zu attestieren, für eine Aufgabe votieren bspw. Streng, StV 2018, S. 593 (598); Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (71) mit redaktioneller Neufassung a. a. O., S. 104; zust. etwa Verrel, JZ 2018, 811 (813). Dagegen ist nichts einzuwenden, nur würde eine Streichung die Rechtspraxis nicht strukturell ändern.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
bezeichnen. Von daher ist es angebracht, das Tatverständnis auf das eigentliche Deliktsgeschehen zu begrenzen (enger Tatbegriff o. hier sog. Deliktsbegriff1880). Dieses restriktive Vorgehen schließt indes nicht aus, dass im Ergebnis der Wertung eine Übereinstimmung mit allgemeinen Persönlichkeitszügen des Täters auftreten kann.1881 Was eine negative kommunikative Wirkung ausmacht, ist in seiner Gestalt durchaus offen. Einen gesicherten Anwendungsbereich stellen sog. „hate crimes“ dar, aus denen eine eindeutig aversive Haltung gegenüber einer bestimmten Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgedrückt wird.1882 Hier sind aus der Tat regelmäßig intensivere Nachwirkungen im Sinne von erhöhter Rechtsfriedensstörung immer dann zu erwarten, wenn eine „Platzhalter-“ oder „Stellvertreter“-Logik greift: auf das konkrete Opfer kommt es in diesem Zusammenhang nicht entscheidend an, sondern es soll immer auch die Gruppe als Ganzes getroffen werden. Darüber hinaus zeigt diese Haltung an, dass sich „die Angelegenheit“ mit diesem einem Opfer prinzipiell „nicht erledigt“ hat, so dass grundsätzlich ein Gefährdungspotential in dem Gesinnungsausdruck liegt.1883 Fremdenfeindlichkeit und rassisch motivierte Taten können daher als belastend in die Betrachtung eingestellt werden. Dieselben Überlegungen können mutatis mutandis auch bei anderen Formen von ideologischen oder sonstigen Überzeugungsverbrechen angestellt werden. Eine solche Verallgemeinerungsfähigkeit1884 greift auch immer dann, wenn ein „jedermann“ prinzipiell zum Opfer auserkoren werden könnte, etwa bei grundsätzlich menschenverachtender Haltung,
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Zur Herleitung s. unter B. II. 2. im 2. Kapitel. Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 614. 1882 Zur Definition Timm, Gesinnung und Straftat (2012), S. 207 f. Eine Akzentuierung erfährt der Komplex durch die aktuelle Gesetzesänderung, die eine Berücksichtigung hassgeleiteter Motive bei der Strafzumessung ausdrücklich thematisiert. § 46 II 2 ist dahingehend ergänzt worden, dass „[…] Beweggründe und Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende […]“ berücksichtigt werden können, (Neuerung in kursiv). Unabhängig von der Haltung zu der Verwertbarkeit entsprechender Gesinnungen wird man sagen können, dass die Einfügung sachlich überflüssig ist, insoweit zutreffend Timm, JR 2014, S. 141 (143 f.). Aus den gleichen Gründen sind Bestrebungen (vgl. BR-Drs. 498/19 v. 15. 10. 2019, BT-Drs. 19/16399 v. 8. 1. 2020) den Katalog um „antisemitischer Beweggründe“ anzureichern, in erster Linie Symbolpolitik, wie hier Gerson, KriPoZ 2020, S. 22 (31, 36). 1883 Siehe zu dieser Einschätzung auch die Überlegungen des Arbeitskreis AE-Leben GA 2008, S. 193 (229). 1884 Hier kann man in freier Interpretation der idealistischen Philosophie davon sprechen, dass der Täter tatsächlich sein Verhalten zu einem „allgemeinen Gesetz“ erhebt. Die „Infragestellung des Freiheitsprinzips als solchem“ greift Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 213 ff., auf. Kritsch allerdings Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 590 ff. 1881
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oder wenn das Verhalten mit genereller Rechtsfeindlichkeit1885 in Verbindung gebracht werden kann. Die Etikettierung einer Haltung mit Wertprädikaten wie „verwerflich“, „dreist“, „schamlos“, „rücksichtlos“, etc. ist dagegen für sich genommen noch zu unergiebig. Es gilt genau zu begründen, worin eine normativ begründete Rechtsfriedensstörung bestehen kann und welche Haltung dagegen nur schlichte Empörung hervorruft. Moralische Entrüstung ist zwar verständlich, aber kein Gegenstand einer rechtlichen Bewertung. Auch rücken zwar positive wie negative Charaktereigenschaften das Bild der Tat in ein bestimmtes Licht, doch geht hier die Tatanalyse in eine Charakterbewertung über. Dementsprechend sollte Renitenz allein nicht erschwerend in Anschlag genommen werden.1886 b) Die Gesinnung als Tatmerkmal weist in zweierlei Hinsicht eine Konturenschwäche auf. Einmal in grundsätzlicher Natur in Abgrenzung zu einem Täterstrafrecht, zum anderen wächst je nach Interpretationsfreudigkeit der Kreis möglicher kommunikativer Inhalte. Gegen allzu extensive Ausdeutung müssen deshalb Grenzen gesetzt werden. Dies erfolgt durch die Grundsätze subjektiver Zurechnung.1887 Es muss deswegen geprüft werden, ob der kommunikative Gehalt dem Täter bewusst wurde oder wenigstens werden konnte. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass mancher Gesinnungsausdruck einem psychischen Defekt oder einer seelischen Ausnahmesituation zugeschrieben werden könnten.1888 Das Schuldprinzip verbietet dann die Zurechnung. c) Auch aus Fahrlässigkeitstaten kann prinzipiell eine Gesinnung sprechen.1889 Die gröbliche Verletzung von Pflichten mag stärker empören als eine leichte Unachtsamkeit. Der Kommunikationsaspekt als solcher ist allerdings schwach ausgeprägt. Der Kommunikation selbst steht nicht etwa Fahrlässigkeit entgegen. Auch eine fahrlässig vermittelte Botschaft wäre noch eine Botschaft. Aber ohne eine Vorsatzhandlung fehlt es an einer bewussten Manifestation von Unrecht. Eine solche Manifestation steht dann neben dem physischen Schaden. Bei Fahrlässigkeitstaten erschöpft sich die Manifestation genau genommen im Grad der Fahrlässigkeit. Dann sind Maß der Fahrlässigkeit und die korrespondierende Gesinnung aber fraglos identisch.
1885
In diesem Sinne wohl Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung (2017), Rn. 614, für den Bereich der Vermögensdelikte, wenn sich „auf Kosten anderer ein schönes Leben gemacht wird.“ 1886 Anders tendenziell LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 106. 1887 Daran wird deutlich, dass es nicht um das „Haben“ einer Gesinnung geht, sondern um das Wissen eine Gesinnung zu transportieren. 1888 Hinweis bei LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 86; MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 85. 1889 So etwa Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 175. 6
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
2. Der aufgewendete Wille Der Wille ist Bestandteil des Vorsatzes und unterliegt deshalb als solcher keiner Verwertung. In den verschiedenen Vorsatzformen hat der Wille allerdings (vermeintlich) unterschiedliches Gewicht. So liegt es nahe daran anknüpfend eine Abstufung des Unrechts vorzunehmen. Das Mindestmaß an Vorsatz stellen die (jeweiligen)1890 Anforderungen an den dolus eventualis. In der Grundidee erscheinen deshalb die Fälle von dolus directus als eine Steigerung. Ob diese Überlegung einer tieferen Überprüfung Stand hält, ist allerdings in Frage zu stellen. Die Absicht (dolus directus I) pflegt zwar ein umgangssprachliches „Mehr“ an Wollen auszudrücken, begründet der Sache nach aber keine höhere Vorsatzgefahr.1891 Absicht als über den notwendigen Vorsatz überschießende Innentendenz meint dann doch nichts anderes als einen Verweis auf etwaige Motive und Ziele eines Täters. Der Klarheit wegen ist auch unter diesem Gesichtspunkt eine straferhöhende Wirkung zu begründen. Und auch beim sicheren Wissen (dolus directus II) kann man nicht von einem grundlegenden Willensdefizit sprechen, welches vom Wissen kompensiert würde.1892 Es kommt nur eine Unterscheidung von zweifelsfrei gewollten Haupt- vs. unerwünschten Nebenfolgen zum Tragen1893, die für eine Qualifizierung des Vorsatzes als solchen unbedeutend ist. Eine Vorsatzdifferenzierung ist für die Strafzumessung daher untauglich.1894 1890
Je nach Theorie zum dolus eventualis verschieben sich die Grenzen. Siehe auch M. Walter, GA 1985, S. 197 (204): Absicht lediglich als die Angabe einer Zielrichtung. NK-StGB/Puppe 5(2017), § 15 Rn. 105 f., dort auch zum hier folgenden Gedanken. 1892 AK-StGB/Zielinski (1990), §§ 15, 16 Rn. 27 ff.; NK-StGB/Puppe 5(2017), § 15 Rn. 112. 1893 Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 8/7 f. 1894 Eine Vorsatzdifferenzierung verneinen Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 618; ebenso im Ganzen ablehnend NK-StGB/Puppe 4(2013), § 15 Rn. 114 – indes nicht mehr in Folgeauflage 5(2017); Stam, JZ 2018, S. 601 (603); ferner wohl auch Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 113 f. Für Vorsatzrelevanz, aber mit den hier genannten Einwänden differenzierend: Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (290), letztlich offen gelassen bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 129 f. A. A. hinsichtlich dolus directus und dolus eventualis wiederum LK-StGB/Vogel 12(2007), § 15 Rn. 77 und Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 29 III 3a, S. 299. Zur neuerlichen Rechtsprechung BGH, Urt. v. 10. 1. 2018 – 2 StR 150/15 (LG Köln, Tötungsabsicht als Strafschärfungsgrund), NStZ 2018, S. 533 steht die hiesige Auffassung nur scheinbar im Widerspruch. Die dort proklamierte Konsensformel legt lediglich fest, dass „die strafschärfende Berücksichtigung der Tötungsabsicht weder unter Berücksichtigung der Auffassung des 2., 3. und 5. Strafsenats noch unter Berücksichtigung des – abweichenden – Maßstabs des 1. und des 4. Strafsenats durchgreifenden rechtlichen Bedenke [begegnet].“ Das betrifft aber in erster Linie das Verständnis des Verbots der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen (§ 46 Abs. 3 StGB). Eine Differenzierung der Strafzumessung nach den einzelnen Vorsatzarten untersagt § 46 Abs. 3 StGB in der Tat nicht, so auch zutreffend die Anm. 1891
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Wenn der Willen noch einen Anknüpfungspunkt liefert, dann die Tatsache einer Zielstrebigkeit in der Handlung als solche. Die investierte Willensleistung kann dann als Moment der Ausdauer oder als Resultat umfangreicher Planung erscheinen. Es sind dies die Gegenstände, die gemeinhin unter der Metapher der „kriminellen Energie“ firmieren.1895 In dieser Idee ist eine Hemmschwellenlogik hinterlegt,1896 die von der Vorstellung geleitet ist, dass der „Energieaufwand“ des Täters umso höher sein muss, je mehr Widerstände zu überwinden sind. Von der Trefflichkeit des Bilds einmal abgesehen1897 muss in erster Line hinterfragt werden, worin der Wert dieser Heuristik für die Strafzumessung liegt. Geht es um die Feststellung eines „Gesinnungsunwerts“, dann ist bereits die „Gesinnung, die aus der Tat spricht“ berührt. Im Übrigen scheint die konkrete Messung einer „Willensleistung“ weder praktisch umsetzbar noch notwendig: selbst im Rahmen der Individualität der Schuld kommt es nicht auf eine derartige, persönliche Leistung an. Für das Ergebnis ist es unbedeutend, ob die Planung der Tat (bei gleichem Ergebnis) zwei Stunden oder zwei Tage andauerte. Von Interesse ist lediglich das Ausmaß sowie Wahrscheinlichkeit und Geschwindigkeit des Eintritts eines Schadensereignisses.1898 So verstanden bildet der aufgewendete Wille eine Untergruppe der Tatausführung.1899
III. Das Maß der Pflichtwidrigkeit Während die beiden vorangehenden Faktoren der inneren Tatseite zugeschlagen werden, ist hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit unklar, ob es sich um ein täterspezifisches Merkmal handelt. Richtigerweise1900 wird man die Pflichtwidrigkeit nicht als ein spezielles Schuldmerkmal behandeln können, da es nicht um die Verwirklichung einer deontologischen Ethik geht, sondern nur um die Bewährung von Rechtspflichten. Folglich spielt eine „innere Pflichtwidrigkeit“ im Sinne eines Verfehlens persönli-
von Kett-Straub, NStZ 2018, S. 535 (536). Bei genauer Lektüre der Entscheidung fällt auf, dass einer „isolierten“ Verwertung nämlich auch nicht das Wort geredet wird. 1895 Kritisch zur Verwendung dieses Bildes: MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 86; Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (69); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 619; ablehnend i. E. auch M. Walter, GA 1985, S. 197 (213); ders., GS H. Kaufmann, 1986, S. 493 (508). 1896 M. Walter, GA 1985, S. 197 (198 ff. ); ders., GS H. Kaufmann, 1986, S. 493 (498 f.). 1897 Die Frage ist nämlich, ob damit nicht schlicht der überholte Vernunft-Trieb-Antagonismus repliziert wird. 1898 M. Walter, GA 1985, S. 197 (207 f.). 1899 Siehe auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 631. 1900 Etwa Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 586: objektives Handlungs-unrecht.
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cher Wertmaßstäbe für die Strafzumessung keine Rolle.1901 Problematisch ist es deshalb, die soziale Stellung des Täters als Bewertungsmaßstab in die Strafzumessung einzuführen.1902 Auch wenn man für bestimmte Konstellationen einen Vorbildcharakter annehmen mag, darf eine daraus resultierende moralische Enttäuschung nicht in eine Rechtsfriedensstörung umgedeutet werden. Denn dies verstieße gegen den Gleichheitsgedanken differentieller Strafzumessung. Eine besondere Relevanz kann die soziale oder berufliche Stellung erst dann gewinnen, wenn sich aus ihr ein „unmittelbarer“1903 oder „innerer“1904 Zusammenhang zu der Straftat ergibt. Man wird dies erst dort bejahen können, wenn dieser Zusammenhang durch eine besondere Schadensgeneigtheit in der spezifischen Fallsituation für die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter hergestellt werden kann. Ein besonderer Kontakt mit dem Rechtsgut bietet vielfach erleichterten Zugang zur Tatbegehung. Dieses Ausnutzen von Möglichkeiten verdichtet sich dann zu einem Missbrauch, wenn mit dem Faktum dieser Sensibilität ein höheres Maß an Anvertrautheit1905 korrespondiert. Ein gesetzliches Leitbild dafür errichten die Vorschriften1906, die diesem Umstand eine unrechtserhöhende Wirkung im Modus der Tatbegehung beimessen. Standesregeln können zur Begründung erhöhter Pflichten im Beruf herangezogen werden, im Übrigen entscheidet die soziale Anschauung. Grenzen unter dem Aspekt der Pflichtwidrigkeit sind dann gezogen, falls lediglich beruflich vermitteltes Sonderwissen im privaten Bereich (aus-)genutzt wird. Die Herkunft dieses Wissens allein begründet kein höheres Unrecht.1907 Der reguläre Anwendungsbereich für das Maß der Pflichtwidrigkeit findet sich in den besonderen Erscheinungsformen der Strafbarkeit: im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts erfolgt eine Bewertung der Sorgfaltswidrigkeit über die Bewertung der Qualität des Pflichtenverstoßes. Ebenso sind unechte Unterlassungsdelikte aufgrund ihrer strafbewährten Garantenstellungen hier einzuordnen. Die Art der Garantenbeziehung1908 kann in Intensität und Entstehungsgrund variieren. Je „stärker“ dieses Band der Strafbarkeit ausgeprägt ist, desto deutlicher wird sich das in der Strafe 1901 Ein Modell der diligentia quam in suis (§§ 277, 690, 708, 1359, 1664, 2131 BGB) existiert im Strafrecht nicht und wirkt daher weder belastend noch entlastend. 1902 Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 447. Zur früheren Rspr. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 122 ff. mit Nachweisen; Beispiele auch bei Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 484 ff. 1903 Vgl. MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 87; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6(2017), Rn. 627. 1904 Vgl. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 119. 1905 Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 122 f. 1906 Etwa §§ 180 III, 246 II, 283a Nr. 2, 283d III Nr. 2 StGB. 1907 Dass die Tatsache eines Sonderwissens Auswirkungen haben kann, ist damit jedoch nicht ausgeschlossen. 1908 Ausführliche Darstellung der Typen dazu bei Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 18 Rn. 41 ff.
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niederschlagen können. Auch hier wiegt eine gesetzliche Pflicht schwerer als eine freiwillig eingegangene Verbindung. Schließlich gibt es eine ganze Reihe besonderer Pflichtdelikte (etwa die Amtsdelikte, §§ 174 bis 174c, 221 Abs. 1 Nr. 2, 225 Abs. 1 Nr. 1 und 266 StGB), in denen spezielle Obhutspflichten für anvertrauter Rechtsgüter bereits unrechtsbegründenden Charakter haben. Unter Beachtung des Doppelverwertungsverbots kann auch hier die Wertigkeit und Ausprägung dieser Pflicht Berücksichtigung finden.
IV. Die Art der Ausführung und Auswirkungen der Tat In den Erörterungen zur Art der Ausführung und Auswirkungen einer Tat dürfte das Hauptaugenmerk der Strafzumessung liegen. Die Art der Ausführung meint den Handlungsmodus im weiten Sinne und umfasst begrifflich eigentlich das gesamte Handlungsunrecht. Die Auswirkungen der Tat bedeuten im Ergebnis die Erfolgskomponente der Straftat. Inhaltlich ergeben sich vielfach Überschneidungen zu den hier vorangegangenen Strafzumessungserwägungen, doch wird in der Beschreibung die Beobachterperspektive1909 eingesetzt, die das verwirklichte Unrecht objektivieren will und daher zumindest tendenziell weniger in die Bredouille einer Täterabrechnung geraten soll. 1. Die Art der Ausführung Als potentiell relevant sind grundsätzlich sämtliche Tatmodalitäten, d. h. Ort, Zeit, Dauer, Mittel, Tathandlung sowie die Täter-Opfer-Beziehung einzustufen.1910 Da indes immer irgendwelche Tatmodalitäten vorliegen, muss sich der Rechtswender gewahr werden, welche davon zur Differenzierung eines Strafzumessungssachverhalts taugen. a) Ein pauschaler Verweis auf eine Zeit oder einen Ort besagt für sich nämlich nichts. Wie die Gegenüberstellung eines Raubes auf öffentlichen Plätzen (hohe Tatbereitschaft des Täters trotz Risikos) mit dem auf unbelebten Wegen (Hilflosigkeit des Opfers) bzw. eines Raubes zur Tages- oder zur Nachtzeit (hohes Entdeckungsrisiko vs. Hilflosigkeit des Opfers) belegt, können zum Teil gegenläufige Strafwürdigkeitsüberlegungen angestellt werden. Solche ambivalenten Effekte zeitigen so eher eine untergeordnete Strafzumessungserheblichkeit.1911 Zu beachten ist in Anbetracht des Vorstehenden, dass das Begriffspärchen „erhöhte Tätergefährlichkeit“ vs. „Schutzbedürftigkeit des Opfers“ nicht stets das Negativum (und insofern das Gleiche) ausdrücken muss. Beide Merkmale können unabhängig von1909
Bei LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 126 ff. als „äußere Tatseite“. MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 34. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 631. 1911 LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 127. 1910
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
einander erfüllt auftreten, so z. B. bei einer normativ festgelegten Unverletzlichkeit spezieller Orte (Beispiele aus dem StGB etwa § 243 Abs. 1 Nr. 4: Kirche, § 244 Abs. 1 Nr. 3: Wohnung). Eine Bedeutung kann daher insgesamt nur aus einer erhöhten Gefahr für oder spezifischen Einwirkung auf das geschützte Rechtsgut herrühren.1912 b) Eine prinzipiell höhere Gefahr ergibt sich, wenn der Täter gezielt Schutzmechanismen ausschaltet, als deren Fehlen schlicht nur auszunutzen. Das wird für eine planvolle Ausführung eher zutreffen als bei einer Spontantat. Bei der Beurteilung einer „intelligenten“ Tatausführung per se ist dennoch Vorsicht walten zu lassen. Dilettantismus bei der Tatgestaltung verdient nicht grundsätzlich Privilegierung gegenüber Raffinesse. Daran ändert auch der Grundgedanke in § 23 Abs. 3 StGB nichts, da dieser sich auf eine Erfolgswahrscheinlichkeit bezieht, welche beim tatsächlichen Eintritt des Erfolges das Tatbild nicht (mehr) wesentlich prägen dürfte. Abzugrenzen, wenn auch kaum konturenscharf, ist die bloße Geschicklichkeit gegenüber Professionalität der Ausführung. Sind Handlungsmechanismen so ausgereift und Strukturen derart stabilisiert, dass sie auf eine latente Wiederholungsgefahr hindeuten, kann dies straferhöhend in Anschlag gebracht werden. Deren Regelfall ist dann die Gewerbsmäßigkeit. Für höhere Stabilität und Effektivität in der Tatausführung spricht auch das Zusammenwirken mehrerer Tatbeteiligter, da die Tat nicht ausschließlich vom Willen eines Einzelnen abhängt. Gruppendynamische Strukturen üben nicht zuletzt auch einen Verstärkereffekt aus, der regelmäßig geeignet ist, relativ unkontrolliert die ursprünglich intendierten Tatfolgen zu erweitern.1913 Trotz der Höchstpersönlichkeit der Schuld (§ 29 StGB) können die Zurechnungsgrundsätze bei Mittäterschaft bei der Beurteilung des Tatunrechts in bekannten Maße Anwendung finden. c) Eine ganze Reihe gesetzlicher Vorwertungen können eine Orientierungshilfe für die Einschätzung von Tatmodalitäten geben. Bereits die tatbestandliche Vertypung kann einen Anhaltspunkt liefern. Die Regelvermutung zugunsten einer Gleichwertigkeit aller Tatbestandsalternativen dürfte angesichts der Weite mancher Strafrahmen des gleichen Straftatbestands aber zu weit gehen.1914 Zwischen Tun und Unterlassen differenziert § 13 Abs. 2 StGB.1915 Verdrängte Tatbestandsverletzungen infolge der Regeln der Gesetzeskonkurrenzen (Gesetzeseinheit, etc.) leben bei der Ausdifferenzierung der Strafe wieder auf.1916 Aufschluss für eine generelle gesetz1912
Nach Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 115 handelt es sich insoweit um eine Quantifizierung der objektiven Zurechenbarkeit. 1913 Ob dieser psychologische Effekt ein Defizit der Zurechnung bei der Unrechtseinsicht begründen kann, ist umstritten, dazu Fn. 1170. 1914 Anders LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 129. 1915 Inwieweit dieser Regelmechanismus seine Berechtigung hat und ob es nicht auch „Erschwerungen normgemäßen Verhaltens unterhalb der Schwelle der §§ 20, 21 StGB“ geben muss, diskutieren Freund/Timm, HRRS 2012, S. 223 (232 ff.). 1916 Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 462 ff.
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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liche Wertung bieten zudem etliche Qualifikationen und Regelbeispiele. Deren Grundaussage reicht in aller Regel über deren Anwendungsbereich hinaus. So kann die straferhöhende abstrakte Gefährlichkeit von Waffen (vgl. § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB) auch in anderen Zusammenhängen Geltung beanspruchen. d) Neben dem allgemeinen Doppelverwertungsverbot können normative Schranken vor allem aus der Pathogenese der Tatausführung erwachsen. Belastende Umstände wie Brutalität oder Grausamkeit können ggf. auf psychische Defizite zurückzuführen sein.1917 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist allerdings, inwieweit dieser Faktor im Zuge einer Strafrahmenverschiebung bereits abgegolten ist. Ist im Rahmen des § 21 StGB das psychische Defizit pauschal in Anschlag gebracht worden, ist dessen mildernde Wirkung ausreichend berücksichtigt. Innerhalb eines gemilderten Strafrahmens können belastende Aspekte deswegen aufgrund ihrer prinzipiell unrechtserhöhenden Wirkung verwendet werden.1918 2. Auswirkungen der Tat Die Auswirkungen der Tat betreffen neben den Ausprägungen des tatbestandlichen Erfolgs auch das Phänomen sogenannter mittelbarer oder außertatbestandlicher Folgen der Tat. Der Begriff der Auswirkungen differenziert nicht zwischen materiellen oder immateriellen Folgen. Folglich können beide Typen berücksichtigt werden.1919 Probleme der Nachweisbarkeit berühren die Fragen des materiellen Rechts nicht. a) Ausprägungen des tatbestandlichen Erfolgsunwerts Unzweifelhaft eingestellt werden können die Nuancen des tatbestandlichen Erfolgs. Das Doppelverwertungsverbot verwehrt nur die Begründung einer Strafhöhe mit der Tatsache als solcher. Selbstverständlich macht es einen Unterschied aus, ob eine Köperverletzung in einer kleinen oder einer tiefen Risswunde besteht. Eine 1917
Vgl. MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 36 f.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 636; LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 139. 1918 Strafrahmenverschiebungen sind genau genommen Fälle antizipierter Strafzumessung. S. im folgenden Text unter C. II. 2. Liegt ein Fall des § 21 StGB vor, wird der Strafzumessungsoperator nur vorab eingesetzt. Erkenntnistheoretisch muss das gleiche Ergebnis erzielt werden, würde man zuerst vollständig – ohne Strafrahmenverschiebung – das Ausmaß des Unrechts (Rechtsfriedensstörung) bestimmen um es anschließend dem Täter entsprechend den Regeln zuzurechnen. Aufgrund dessen darf ein potentieller Strafzumessungsfaktor, der eine Strafrahmenverschiebung auslöst, trotz dieser Zurechnungsschranke bei der konkreten Zumessung im Übrigen (wieder) eingestellt werden, weil die Zurechnungsschranke sonst als zweifacher Subtraktionsmechanismus berücksichtigt und insoweit doppelt verwertet würde. Als Beispiel kann die Brutalität bei der Tatausführung angeführt werden. Das erhöhte Opferleid bedingt höheres Unrecht. Beruht diese Brutalität auf einem Zurechnungsdefizit, dann wird sie dem Täter u. U. nur eingeschränkt angelastet. 1919 MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 38.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Schwerebewertung kann bereits den kategorialen Unterschied von Recht zu Unrecht ausmachen.1920 Dann macht ein Mehr an Erfolg in der Konsequenz einen rechtlichen Unterschied aus. Was den Erfolgsunwert einer Tat ausmacht, bestimmt sich zum einen nach dem geschützten Rechtsgut. Zusätzlich oder alternativ kann man aus der Opferperspektive nach dem verursachten Schaden fragen. Deswegen wird man den bei einem Diebstahl – nicht zuletzt auch aufgrund § 243 Abs. 2 StGB – grundsätzlich vom Wert der gestohlenen Sache ausgehen dürfen, auch wenn das Vermögen nicht eigentlicher Schutzgegenstand ist. Das ist sinnvoll, weil gemeinhin das grundsätzliche Begehr an fremdem Eigentum schon mit dessen Wertigkeit zusammenhängt. Die Diskussionen um die Lehre vom individuellen Schadenseinschlag1921 und die um die Wichtigkeit eines Körpergliedes (§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB)1922 sind Ausdruck einer grundsätzlichen Anerkennung von speziellen Opferdispositionen. Die Argumentationsfiguren und Überlegungen aus diesem Kontext können in der Strafzumessung eine Leitfunktion übernehmen.1923 Von daher ist die individuelle Verletztenperspektive samt etwaigem Affektivinteresse zumindest zunächst als gedankliche Schadensposten Eingang in die Strafzumessung finden. Die endgültige Strafzumessungsentscheidung hängt von der Zurechenbarkeit ab. b) Mittelbare Straftatfolgen – Zurechenbarkeit von Folgen Unter mittelbaren Straftatfolgen sind alle jene Folgen zu subsumieren, die nicht bereits Erfüllungsvoraussetzungen des verletzten Straftatbestands sind. Die Problematik der Einstellung – und damit der Zurechenbarkeit1924 von Folgen – liegt in dem eben nur mittelbaren Zusammenhang, in welchem man eine Wiederbelebung der kanonischen Rechtsregel vom versari in re illicita erblicken könnte. Die Grundsatzformel, dass Auswirkungen derart berücksichtigt werden können, soweit sie das Tatbild zu prägen vermögen,1925 benennt sowohl Anknüpfungspunkt als auch Voraussetzung für eine Verwendung. Als grundsätzlicher Anknüpfungspunkt er1920
Zum Grenzwertphänomen die Anm. in Fn. 1502. NK-StGB/Kindhäuser 5(2017), § 263 Rn. 256 ff.; 307. 1922 Sch/Sch-StGB/Sternberg-Lieben 30(2019), § 226 Rn. 2. 1923 Ausschlaggebend ist dann jeweils eine „Schwellenrhetorik“: da jeweils Grenzfälle zu beurteilen sind, ist daraus ein Präjudiz abzuleiten. Für den Fall, dass die Wichtigkeit in § 226 StGB eng verstanden wird, führt eine „nicht mehr“- Aussage dazu, dass im Rahmen des § 223 StGB eine prinzipiell höhere Strafe aufgrund des eingetretenen Schadens möglich ist. Umgekehrt sollte das Strafmaß die Zweifelslage einer „gerade-noch“- Bestimmung bei der Tatbestandsauslegung berücksichtigen dürfen. 1924 „Zurechenbarkeit“ wird im Folgenden vorausgesetzt. Denkbar wäre zwar noch, eine Verwertung der eingetretenen Folgen jenseits der Kategorie Zurechenbarkeit unter dem Aspekt „finale Steuerung“, vgl. etwa Bruns, NJW 1974, S. 1745 (1747). Unter Zugrundelegung der hier vertretenen Auffassung C. V. muss dies indes als überholt gelten. 1925 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 96 f., im Wesentlichen ablehnend Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 259 f. 1921
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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scheint die Verortung im Gepräge eines Tatbildes legitim, da in einem erfolgsbezogenen Strafrecht das Ausmaß der Rechtsfriedensstörung durchaus vornehmlich im angerichteten Schaden zu sehen ist. Als Zurechnungskategorie wäre jedoch eine Berufung auf das Tatbild nicht mehr als eine petitio principii. Es ist also auf erprobte Zurechnungsfiguren der Strafbarkeitslehre zurückzugreifen. aa) Die Rechtsprechung stellt im Wesentlichen auf die Vorhersehbarkeit ab,1926 die als Mindestvoraussetzung der Zurechnung unverzichtbar sein sollte. Über die Vorhersehbarkeit wird allerdings nur eine geringe Anzahl an Fällen ausgeschieden. Ob darüber hinausgehend weitere Einschränkungen vorzunehmen sind, ist umstritten. Vielfach wird der Schutzbereich der Norm als ein Kriterium vorgeschlagen.1927 Diesem Ansatz ist prinzipiell beizupflichten, doch sollte bedacht werden, dass der Schutzbereich der Norm generell mehr umfassen muss als das im Gesetz ausdrücklich geschützte Rechtsgut. Die Traumatisierung eines Opfers einer Erpressung (§ 253 StGB) sollte daher ein eindeutiges Anwendungsbeispiel sein, auch wenn der Schutz neben dem Vermögen nur dem Rechtsgut der Entscheidungsfreiheit gilt.1928 Der im gesetzlichen Verbot verbriefte Imperativ bezieht sich aber sinnvollerweise auf alle regelmäßig zu erwartenden, typischen Folgen eines Verbrechens, die aus der einmal gesetzten Gefahr im konkreten Erfolg resultieren. Das gilt insbesondere auch für sog. Drittschäden.1929 Angelangt ist man dann bei der Formel der objektiven Zurechnung; folglich ist Anwendung der objektiven Zurechenbarkeit auch im Rahmen der Strafzumessung sachgerecht. Das Anforderungsprofil überfordern dürfte es wiederum, den Vorsatz auch auf mittelbare Folgen erstrecken zu wollen.1930 Die Analogie zu den Regelbeispielen trägt nicht, da zum einen deren Tatbestandsmerkmalsstruktur1931 und deren Gewichtigkeit in der Größenordnung (Strafrahmenverschiebung) es rechtfertigen, dort die Vorsatzregeln anzuwenden. Obendrein ähnelt die Ausgangslage bei den mit-
1926 BGHSt 37, S. 179 (180), zust. nunmehr Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 113 (119) anders noch dies., Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 257. Einschränkend Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 510. 1927 Brögelmann, JuS 2002, S. 903 (907); Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (753); ders., FG BGH IV (2000), S. 269 (287); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 83 II 3, S. 888; ablehnend MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 97. Prinzipiell auch Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (595), aber mit folgenreichen Abweichungen, s. sogleich. 1928 Zur Schutzrichtung, NK-StGB/Kindhäuser 5(2017), § 253 Rn. 2. 1929 So führt Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 379 ff., 393 f., 405 f. überzeugend aus, dass Schäden jenseits des jeweiligen Rechtsgutträgers prinzipiell berücksichtigungsfähig sind. 1930 So dennoch Sch/Sch-StGB/Stree/Kinzig 30(2019), § 46 Rn. 26b mit Verweis auf die Handhabung der Regelbeispiele. 1931 Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 181.
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telbaren Straftatfolgen der Gestalt einer Erfolgsqualifikation, so dass eine Annäherung an § 18 StGB der gesetzlichen Systematik gerecht wird.1932 Die Anwendung des in § 18 StGB angelegten Prinzips wird allerdings auch für zweifelhaft gehalten.1933 Denn aus dieser ausdrücklichen Regelung folge der Ausnahmecharakter der Zurechnungsfigur.1934 Ein solch „beredtes Schweigen“ des Gesetzgebers zu vermuten, kann aber nicht stichhaltig sein. Zunächst einmal schafft die Regelung nur eine Klarheit für die Strafbarkeitslehre, da die Erfolgsqualifikation eine Verschiebung der Strafrahmengrenzen bewirkt. Die Klarheit ist im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auch geboten. Toleriert Art. 103 Abs. 2 GG das Strafrahmenkonzept, kann aus dem Garantietatbestand keine weitere Konsequenz hierfür erwachsen. Ein weiterer Einwand lautet, dass durch die Verwertung außertatbestandlicher Folgen eine indirekte Bestrafung strafloser Fahrlässigkeit möglich werde.1935 Das mag phänomenologisch nicht von der Hand zu weisen sein, sagt aber über eine gesetzliche Vorwertung wiederum nur eingeschränkt etwas aus. Die Fragmentarität des Strafrechts als Argument1936 ist dafür untauglich. Selbst wenn man Fragmentarität als ein allgemeines Prinzip im Willen des Gesetzgebers identifiziert, so ist damit nicht dargelegt, dass der derzeitige Bestand von strafrechtlichen Normen eine solche inhaltliche Konsistenz auch besitzt. Die Geschlossenheit eines Systems mit der Lückenhaftigkeit desselben zu begründen ist schon formal nicht stichhaltig.1937 Aber auch materiell setzt die gedankliche Ableitung voraus, dass sich der Gesetzgeber bewusst solchen strafzumessungsrechtlichen Vorsatz-FahrlässigkeitsKombinationen erwehren wolle. Einer ausdrücklichen Regelung bedarf es nämlich nicht, wenn er diese Sachverhalte im Rahmen der bestehenden straftatbestandlichen Anknüpfung aufgehoben sieht.1938 Systematische Erwägungen führen in dem Zusammenhang also nicht durchdringend weiter. Eine fahrlässige Sachbeschädigung, die im Rahmen des Durchfühlens einer Wohnung geschieht, lässt sich, nur weil diese selbst nicht strafbar ist, nicht ignorieren, wenn doch die Integrität der Wohnung (§§ 123 Abs. 1, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB) generell geschützt ist. Das personale Unrechtskonzept spricht eben keine spezifischen (also insofern auch nicht explizit innertatbestandlich beschränkten) Erfolgs1932 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (755); grundlegend zuvor schon ders., GA 1972, S. 321 (330 ff.). 1933 Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (590). 1934 Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (581); Puppe, FS Spendel (1992), S. 451 (453). 1935 Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (585). 1936 Bloy, ebenda. 1937 Die Gegenthese zur Fragmentarität vertritt in gewisser Weise Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 140 ff., 143, der im Hinblick auf die kontinuierliche Schwereskala des Strafrahmens Lücken in der Unrechtsbetrachtung verneint. 1938 Insoweit auch Puppe, FS Spendel (1992), S. 451 (464 f.).
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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verbote aus, sondern von einer ratio getragene Handlungsverbote. Diese sollten von der Einsicht getragen sein, dass eine Handlung untersagt ist wegen ihrer prinzipiellen Gefahr für die mit ihr assoziierten Rechtsgüter. Teleologische Erwägungen hinsichtlich des Schutzzwecks der Norm werden also den Strafzwecken ausreichend gerecht.1939 bb) Aus diesen Ausführungen folgt, dass Fahrlässigkeit auch für überschießende innertatbestandliche Ausprägungen den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht. Wenn bloße Fahrlässigkeit für außertatbestandliche Ausprägungen ausreichend ist, muss dies für „erfolgsnähere“ Komponenten ohnehin gelten. Deshalb ist keine ausweitende Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 2 StGB geboten.1940 cc) Abweichend von der tatbestandlichen Zurechnungslehre wird man dagegen zudem entsprechend einer haftungsausfüllenden Schadensdogmatik die hypothetische Entwicklung nicht außen vor lassen können.1941 Das lässt sich damit erklären, dass Reserveursachen zwar eine Verbotsübertretung unberührt lassen, nicht aber die Nachhaltigkeit des Schadens. Deshalb kann berücksichtigt werden, wenn ein gestohlenes (und nicht wieder herausgegebenes) Bild in einem nachfolgenden Feuer vernichtet worden wäre. Im engeren Sinne sind solche Konstellationen aber nur schadensannihilierende Zumessungsfaktoren.1942 dd) Keine Differenzierung ob der Auswirkungen der Tat folgt aus dem Gesetz für die Betroffenheit von Personen. Neben dem eigentlichen Opfer können die Folgen auch den Täter selbst sowie Dritte treffen. Eine Zurechnungsregel, die per se Drittschäden für die Betrachtung suspendiert, besteht dem allgemeinen Vernehmen nach nicht. Zu prüfen bleibt allerdings, ob nicht normative Zurechnungsverbote greifen. So kann die Zahl der Hinterbliebenen und trauernden Personen – und damit 1939
Die strafrechtliche Relevanz der Güter, gefordert bei Frisch, GA 1972, S. 321 (341), dürfte im Kriterium des Schutzzwecks der Norm aufgehoben sein. Man wird sich schwertun, Fälle zu bilden, in denen eine solche Wertigkeit des Rechtsguts nicht in Sicht kommt. Immerhin soll schon von einem „Schaden“ gesprochen werden können. Mit B.-D. Meier, StV 2003, S. 442 (443) wird man ohnehin festhalten können, dass Güter eben nicht nur ihrer selbst willen, sondern auch wegen der Folgen vom Recht geschützt werden. Insbesondere die psychischen Beeinträchtigungen sollten daher generell umfasst werden; alles andere wäre eine viktimologische Bankrotterklärung des Strafrechts. Zum Stellenwert der Psyche im Strafrecht jüngst eindrücklich Knauer, Der Schutz der Psyche im Strafrecht (2013), S. 149 ff. Die Konsequenz in den Ausführungen bei Bloy, ZStW 107 (1995), S. 576 (586 ff.) liegt sachlich in der Reduzierung dieser Problematik auf ein reines Konkurrenzproblem, nämlich dergestalt, dass nur bei zusätzlicher (vorsätzlicher) idealkonkurrierender Deliktsverwirklichung ein Strafzumessungspotential von Folgen in Betracht kommt. Wenn das richtig wäre, so dürfte man eine gesetzliche Folgenregelung aber auch systematisch dort erwarten. 1940 Anders dagegen SK-StGB/Horn (36. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 106. Wie hier GrosseWilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 557, 569. 1941 I. E. auch Spendel, FS Engisch (1969), S. 509 (525); anders offenbar ders., FS Bruns (1978), S. 249 (262 f.). Beide Stellungnahmen beziehen sich indes auf die „Auschwitz-Morde“, so dass der Verallgemeinerungsgrad wohl auch eher einzuschränken ist. 1942 In diesem Beispiel: der Verlust eines hohen Sachwerts kann dann nicht mehr als Opferschaden straferhöhend wirken. Die Habgier des Täters dagegen bliebe unberührt.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
die gedankliche Rechtsfriedensstörung – bei einem Tötungsverbrechen durchaus variieren. Eine Differenzierung ist allerdings verwehrt, da aus normativen Gründen keine Wertigkeit von Leben vollzogen werden kann. Tätereigen hervorgerufene Belastungen kann mit Zurechnungsregeln begegnet werden, allerdings berührt diese Frage in erster Linie die Verhältnismäßigkeit einer Sanktion.1943 c) Sonderfall: die Folgen bei Gefährdungsdelikten Der Eintritt eines Gefährdungserfolgs ist strukturell zunächst keine Besonderheit für die Sanktionsbemessung. Auch ein solcher Erfolg kann nach seinen Ausprägungen hin befragt werden. Entsprechend der Strafrahmenentscheidung beim Versuch1944 kann man in gedanklicher Umkehrung einer Gefahrenprognose die Erfolgsnähe (Wie wahrscheinlich war ein Schadenseintritt zu bemessen?) und die Art und Schwere der bedrohten Güterbeeinträchtigung (qualitative Wertigkeit und quantitative Verlustanalyse der Güter) bewerten. Die Problematik ist zwar hierbei, dass eine Rückbetrachtung anhand von Fakten naturgemäß schwer fällt1945 und zum Teil hypothetische Erwägungen angestellt werden müssen. Allerdings ist diese Konsequenz kein eigentliches Manko für die Strafzumessungsdogmatik. Soweit die anerkannten Regeln objektiver Zurechnung reichen, wird man auch hier den Angeklagten vor übermäßiger Belastung schützen können. Etwaige verbleibende (ungerechte) Härten weisen dann im Grunde auf die Kriminalisierungsentscheidung des Gesetzgebers zurück. Je abstrakter eine Gefahr als Tatbestandsvoraussetzung umschrieben wird, desto stärker ist der bloße „Unternehmungscharakter“ und damit der schlichte Verbotsübertritt einer Norm sanktioniert. Für die Strafzumessung bedeutet dies, dass eine Differenzierung sich kaum anbietet. Eine Orientierung an „Straftaxen“ wird dann sachgerecht. Der umgekehrte Fall, sprich wenn sich eine Gefahr realisiert, verkürzt sich die Betrachtung auf die Art und Schwere der verletzten Güter. Häufig wird dann ohnehin über das zu erwartende Konkurrenzverhältnis von Delikten eine gesonderte Betrachtung obsolet.1946 1943
S. dazu sogleich unter VIII. S. dazu im folgenden Text unter C. II. 2. a). 1945 Es verhält sich ähnlich wie bei Bewertung einer Ex-ante-Prognose im Nachhinein. Dadurch, dass man durch den Eindruck der Fakten sich nachher immer schlauer fühlt als vorher, wird eine Betrachtung generell ex-post erschwert; zumal hier die Prognose ex-ante nur hypothetischer Natur, weil nicht vorher erstellt, ist. 1946 Im Falle des § 323a StGB entfällt ein solches Konkurrenzverhältnis natürlich. Grundsätzlich gilt aber das zuvor Gesagte. Der Gefährdungserfolg ist der Rausch, dessen Art und Anlass das Handlungsunrecht prägen. Das Erfolgsunrecht, die Rauschtat, konstituiert schließlich das Maß der Rechtsfriedensstörung, vgl. Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (757 f.). Die Vorhersehbarkeit der Rauschtat (mithin des Erfolgs) hängt stark mit der Wirkung der psychotropen Substanzen auf die Täterperson und dessen Kenntnis darüber zusammen. Ein Täter, der aggressionsgeneigt ist, geht mit der enthemmenden Wirkung des Alkohols in der 1944
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V. Das Vorleben des Täters und seine Lebensumstände 1. Grundsatz: keine Verwertung des Vorlebens außerhalb der Strafbarkeit Mit dem Vorleben des Täters wird ein in der Praxis1947 wichtiger, wenngleich nicht unproblematischer Strafzumessungsfaktor benannt. Es wurde bereits dargelegt,1948 dass sich grundsätzlich auch außerhalb des eigentlichen Deliktsgeschehens in einem erweiterten Tatverständnis ein Anknüpfungspunkt für eine Rechtsfriedensstörung finden lässt. Ein Vortatgeschehen kann auch Unrechtsrelevanz besitzen, soweit es das Verständnis vom Tatbild prägt. Gegenstand der forensischen Aufarbeitung kann systematisch stets nur verübtes Unrecht sein, so dass als erste notwendige Einschränkung dieser strikte Unrechtsbezug zu fordern ist. Folglich geht es unter dem hier behandelten Aspekt nie um die Bewertung einer allgemeinen Lebensführung, gleich ob Müßiggang, asoziales Verhalten oder sonstige Verhaltensweisen den Lebensstil kennzeichnen. Die Strafrechtswissenschaft betont dies unter strenger Verneinung einer „Lebensführungsschuld“ als Strafzumessungsfaktor.1949 Dies ist richtig, gleichwohl verdeutlicht diese Bezeichnung den in der Sache durchgreifenden Grund nicht präzise. Es mag zwar nämlich schon bezweifelt werden, ob eine Kategorie einer „Lebensführungsschuld“ überhaupt existiert. Entscheidend ist indes vielmehr, dass es jedenfalls keine rechtliche, sondern allenfalls eine moralische Kategorie sein kein, die sich hinter der Idee „Lebensführungsschuld“ verbirgt. Eine Verarbeitung derselben bedeutete zwangsläufig einer Konfundierung beider selbstständig gedachten Kategorien. Diese strafrechtliche Indifferenz darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Tatgeschehen keine isolierte Erscheinung ist, sondern mit einem Vorgeschehen ursächlich verbunden ist. Die Tatvorgeschichte oder Konfliktgenese muss näher ausgeleuchtet werden, damit der Sachverhalt einer differenzierten rechtlichen Bewertung zugänglich wird.1950 Insofern gibt es bei der Untersuchung des Vorlebens regelmäßig eine sachlich-logische Interferenz mit den Beweggründen, Zielen oder der (aktuellen) Tatgesinnung,1951 mit der die vordergründige Brisanz der Verwertung des Vorlebens abgeschwächt wird. Nichtsdestotrotz muss ein Regressverbot im Hintergrund als ein gedanklicher Begrenzungshorizont vorgehalten werden. Das bedeutet, dass immer wieder normative Zäsuren ausfindig zu machen sind, um die Idee der Regel kein unbekanntes Risiko ein. Entgegen Bruns, FS Lackner (1987), S. 439 (448 f.), liegt darin auch keine Missachtung des Schuldprinzips. Generalpräventive Schärfungen, etwa bei OLG Karlsruhe NJW 1975, 1936, dürften angesichts einer Kriminalisierungsentscheidung am Rande der Verhältnismäßigkeit ausscheiden: eine derartige Erziehung zu Trinkverhalten darf einem Gesetzgeber nicht vorgreifen. 1947 Zur Empirie die Nachweise in Fn. 1463. 1948 S. im 2. Kapitel, B. III. 1. b). 1949 Allg. Meinung, s. nur MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 110. 1950 S. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 642. 1951 So auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 564.
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Aburteilung einer konkreten Tat aufrechtzuerhalten. Die „Metamorphose“ von bloßem Lebensgeschehen zu strafrechtlichem Unrecht muss nachvollziehbar bleiben. In der Folge bedarf es verfahrenstechnisch einer besonderen Begründung der strafrechtlichen Relevanz. Die Anforderungen an die richterliche Begründung wachsen, je mehr sich der Strafzumessungsfaktor in zeitlicher Hinsicht vom eigentlichen Delikt entfernt. 2. Die Bedeutung vorheriger Straffälligkeit a) Die Praxis konzentriert sich bei der Strafzumessung nicht zuletzt ob der dogmatisch prekären Ausgangslage wesentlich auf die strafrechtliche Vorbelastung. Begründungsleitend ist eine Warnungsrhetorik, die auf der Idee einer erneuten Erwartungsenttäuschung aufbaut.1952 Die wiederholte Verletzung der Rechtsordnung erschüttert das Vertrauen in dieselbe. Die Plausibilität dieser Annahme kann sich auf die Alltagserfahrung stützen, dass wiederholte Enttäuschungserlebnisse als tiefgreifender erlebt werden. Die Rechtsfriedensstörung erhöht sich infolgedessen und hinterlässt einen größeren Realschaden. Nicht zu übersehen ist freilich, dass dieses Modell der Warnung ein normatives ist.1953 Eine tatsächliche Verdeutlichung der Norm durch die vorherige Ahndung, so dass man daraus berechtigterweise eine Überwindung einer höheren Hemmschwelle folgern könnte, muss nicht eingetreten sein. Realiter dürfte gar eher ein gegenteiliger Effekt zu erwarten sein, in der Form, dass die Hemmung und schließlich auch das Steuerungspotential sinken.1954 Den (statistischen) Rückfalltäter als Bewährungsversager zu konnotieren, führt deshalb tendenziell in die falsche Richtung. Ein solches (persönliches) Versagen ist nicht von strafrechtlichem Interesse. Ein solches Verständnis ging zwar konform mit der Rückfallschärfung des § 48 a. F. StGB1955, doch eben mit der Aufhebung der Vor1952 Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 565; Waldeyer, Die Bedeutung eines rechtskräftigen Strafurteils (2006), S. 10 ff.; unklar Torikian-Tomassian/Lochmann, StraFo 2018, S. 458 (463 f.), die allein auf die Schwere des Verstoßes gegen die Verhaltensnorm abstellen, indes nicht klar herausstellen, wann die Vorstrafenbelastung einen solchen Verstoß intensivieren kann. 1953 Freilich wird man die konkrete Eignung zur Warnung differenziert zu beurteilen haben, Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (142). 1954 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 209; Schöneborn, GA 1975, S. 272 (280). 1955 § 48 StGB, aufgehoben durch 23. StÄG vom 13. 4. 1986, BGBl. I 393. (1) Begeht jemand, nachdem er 1. schon mindestens zweimal im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Strafe verurteilt worden ist und 2. wegen einer oder mehrerer dieser Taten für die Zeit von mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe verbüßt hat, eine vorsätzliche Straftat und ist ihm im Hinblick auf Art und Umstände der Straftaten vorzuwerfen, dass er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen, so ist die Mindeststrafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten, wenn die Tat
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schrift verliert diese Ausrichtung an Bedeutung. Aus vorheriger strafrechtlicher Auffälligkeit folgt deshalb kein Automatismus einer erhöhten Strafe.1956 Stets ist die Beurteilung der aktuellen Rechtsfriedensstörung zu bestimmen. In vielen Fällen bedeutet das Faktum bisheriger Straffälligkeit keine nachhaltige Störung der Rechtsordnung. Die Störungseignung fehlt regelmäßig bei wiederholter Ahndung von Bagatellstraftaten. Das schließt insgesamt aber nicht aus, dass offenbar werdende Renitenz im Einzelfall straferhöhend zu Buche schlagen kann. Ebenso sind Auslandsvorstrafen, insb. DDR-Vorstrafen1957, gesondert nach ihrer Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung zu untersuchen. b) Die konkrete Vorstrafengewichtung erfolgt anhand der Parameter Anzahl, Frequenz (Zeitabstand), Einschlägigkeit, Strafhöhe, ihrer Verbüßung sowie Bewährungsverhalten.1958 Für die Vortaten kommt es auf formale Aspekte wie eine Verurteilung oder deren Rechtskraft nicht zwingend an. Deren Verwertung verlangt nur die prozessordnungsgemäße Feststellung.1959 Eine Verletzung des Anklageprinzips oder der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) liegt darin nicht, da diese Taten selbst nicht Verfahrensgegenstand sind.1960 Ausreichend, aber auch nicht ohnehin mit einer höheren Mindeststrafe bedroht ist. Das Höchstmaß der angedrohten Freiheitsstrafe bleibt unberührt. (2) Absatz 1 gilt nicht, wenn das Höchstmaß der für die neue Tat angedrohten Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr beträgt. (3) Im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. (4) Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. 1956 Zipf, FS Tröndle (1989), S. 439 (444). Wie hier Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (67). 1957 Dazu LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 172. 1958 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 111. 1959 Foth, NStZ 1995, S. 375; Geppert, NStZ 1996, S. 57 (62), MüKo-StGB/Miebach 2 (2012), § 46 Rn. 113; LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 175 ff. 1960 Anders jedoch zahlreiche Stimmen im Schrifttum. Etwa Gillmeister, NStZ 2000, S. 344 (346), der darin eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit sieht. Vogler, FS Kleinknecht (1985), S. 429 (438); ders., NStZ 1987, S. 127 (129), dessen Einschätzung darauf abzielt, dass die Schuldfeststellung nur im gesonderten Verfahren („Exklusivität“) stattfinden könne. Haberstroh, NStZ 1984, S. 289 (292) meint „prozessordnungsmäßige Feststellung“ sei ein weniger gegenüber „vollständiger Beweisaufnahme“ im Hinblick auf die – schließlich mögliche – Nachtragsanklage. Man wird dem nicht beipflichten können, dass es so eine rechtstheoretische Abstufung gibt. Ob rechtstatsächlich dies eingehalten wird, kann hier nicht beurteilt werden; zweifelnd offenbar Haberstroh, a. a. O. Das ändert aber nichts daran, dass die Grenze nur zwischen faktischer Behandlung als Wiederholungstäter (zulässig) und Nachholung einer Sanktion (unzulässig) zu ziehen ist. Siehe ferner Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 193, der mit Verweis auf BVerfGE 74, 358 (371): Bes. v. 26. 3. 1987 – 2 BvR 589/79 – schlussfolgert, dass ein rechtskräftiger Nachweis dann erforderlich ist, wenn die Schuld allgemein vorgehalten werde, Herv. im Original; ferner Stuckenberg, StV 2007, S. 655 (662) mit dem Schwerpunkt vorausgegangener Einstellungen.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
notwendig, ist deren Bedeutung in der Strafmaßbegründung für die abzuurteilende Tat herauszustellen. Soll dagegen auf einen konkreten Warnungseffekt abgestellt werden, ist die Tatsache einer formalen Ahndung natürlich nicht mehr von untergeordneter Bedeutung. In diesen Fällen sollte auf den Abschluss eines Verfahrens nicht verzichtet werden. Im Übrigen ist die Rechtskraft einer Entscheidung ohne Bedeutung.1961 Das Gegenstück der bisherigen Straffreiheit ist dagegen für die Strafzumessung kein Differenzierungskriterium. Zwar wird man mit Berechtigung sagen können, dass Straffreiheit keine Selbstverständlichkeit ist,1962 doch Rückschlüsse1963 aus der BGH-Rechtsprechung zum „normativen Normalfall“1964 beschreiten in diesem Zusammenhang einen Irrweg. Negativtatsachen sind nur die Aufhebung von eigentlich zu berücksichtigenden Differenzierungskriterien. Das heißt, man kehrt diesbezüglich zum „Nullpunkt“ der Differenzierung zurück. Der normative Ausgangspunkt muss aber in der Straffreiheit liegen, wenn die Sollenserwartung einer Rechtsordnung ihre Berechtigung haben soll.1965 c) Auch im Bereich der Straferhöhung wegen strafrechtlicher Vorauffälligkeit gilt, dass immer zu untersuchen ist, inwieweit die höhere Rechtsfriedensstörung dem Täter zuzurechnen ist.1966 Defizite der Normbefolgungsfähigkeit im Falle einer habituellen Sanktionskarriere, beruhend auf korrespondierenden Sozialisationsproblemen können nach Maßgabe psychologischer Erkenntnisse berücksichtigt werden.1967 1961 Die diskutierte Bindungswirkung, vgl. Waldeyer, Die Bedeutung eines rechtskräftigen Strafurteils (2006), S. 104 f., 273 ff., eines vorangehenden Urteils ist für die abzuurteilende Tat im Grunde sekundär. Für die Einstufung als Strafzumessungsfaktor führt die Tatbestands- oder Gestaltungswirkung eines Urteils als solche über die fakultative Berücksichtigungsfähigkeit von Vortaten nicht hinaus. Faktisch mag dies bedeutsam sein, da über die Verlesung des BZRAuszugs ohnehin regelmäßig keine weitere Beschäftigung im Gericht über Vorstrafen erfolgt. 1962 So LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 182; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 647. 1963 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 112b am Ende. 1964 Grundlegend BGHSt 34, S. 345 (351). 1965 Die Straffreiheit ist nur insoweit eine Facette der Straftat, als dass sie regelmäßig als Indiz für besondere Umstände bei der Tatgenese zu lesen ist, so zu Recht Frisch, GA 1989, S. 338 (358, Fn. 82), zust. StGB-Lackner/Kühl 29(2018), § 46 Rn. 38, wohl auch Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (140): „Vermutung … einmaliger Fehlleistung.“. 1966 Frisch, FS Müller-Dietz (2001), S. 237 (258). 1967 Im Hinblick auf die Verwertung jugendlicher Vorverurteilungen mahnt Knauer, ZStW 124 (2012), S. 204 (228 f.) restriktiven Gebrauch der Warnungsrhetorik an, da gerade die besondere Struktur des Jugendstrafrechts nicht dieselbe Warnfunktion haben könne wie das Erwachsenenstrafrecht. Dem ist insoweit zuzustimmen, als es stets eine Überprüfung bedarf, inwieweit die „Warnung“ nach Entwicklungszustand „ankommen“ konnte. Zu widersprechen wäre, wenn sich dies auch auf die Andersartigkeit der Rechtsfolgen bezöge. Denn die spezialpräventiv motivierten Sanktionen im Jugendstrafrecht werden schließlich nach ihrer Eignung der Normverdeutlichung ausgewählt. Im „Ernst zu nehmen“ dürfen sie dem Erwachse-
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3. Normative Einschränkungen In Rekurs auf den Geist des oben angesprochenen „allgemeinen Regressverbotes“ müssen Zäsuren aus normativen Gründen errichtet werden, damit die Herausstellung der Tat noch ihre Berechtigung hat. a) Solche Zäsuren können explizit aus gesetzlichen Verwertungsverboten, etwa § 51 BZRG (Tilgung) bzw. § 64a Abs. 3 BZRG (DDR) resultieren. Außerhalb expliziter gesetzlicher Vorgaben bestimmt die gesetzliche Systematik etwaige Schranken. Der Rechtsgedanke aus § 51 BZRG1968 könnte auch für Verfahrenseinstellungen (§§ 170 Abs. 2, 153, 153a StPO, etc.) herangezogen werden. Eine (beschränkte)1969 Rechtskraft könnte einer Verwertung folglich entgegenstehen. Allerdings erstreckt sich die Sperrwirkung der Rechtskraft nicht auf die Gründe der Entscheidung.1970 Folglich wäre der Richter formal nicht daran gehindert in Verwerfung der ursprünglichen Entscheidungsgründe den Sachverhalt zu Lasten des Täters im neuen Verfahren zu verwenden.1971 Abseits dieser formalen Ausgangslage sind allerdings zweifache Begründungshürden zu errichten: geht man davon aus, dass aus der Rechtskraft gerade für auch den Betroffenen ein subjektives Recht auf „Rechtsruhe“ entsteht,1972 kann nicht überzeugend mit einer (zusätzlichen) Rechtsfriedensstörung argumentiert werden. Die Richtigkeit der vorangehenden Entscheidung muss nahezu widerlegt werden.1973 In Aufrechterhaltung ihrer ursprünglichen Entscheidungsgründe kann dies kaum gelingen. Zum zweiten muss die Bedeutung der abgelaufenen Geschehnisse gerade für die Rechtsfriedensstörung aus der aktuellen Tat begründet werden. Zumindest eine Rhetorik einer „erneuten Chance“ oder eines Warnungseffekts lässt sich in diesem Kontext kaum mehr anstellen. Völlig schief liegt die Warnungsrhetorik sogar dann, wenn die Warnung nicht einmal förmlich erteilt wurde. Zwar könnte rein tatsächlich auch aus einem Verdacht oder einem Insolvenzantrag nach § 13 InsO ein Warneffekt erwachsen.1974 Dieser nenstrafrecht nichts nachstehen, sonst wäre die Spezialität jugendstrafrechtlicher Rechtsfolgen vom Grunde her gescheitert. 1968 Die Berechtigung dieser registerrechtlichen Sperrwirkung für die Strafzumessung bezweifelt Tepperwien, FS Salger (1995), S. 189 (190 ff.). In der Tat muss man behutsam prüfen, inwieweit solche gesetzlichen Schranken eine strafzumessungsrechtliche Logik in sich tragen. Erst im nächsten Denkschritt kann über eine Verallgemeinerungsfähigkeit nachgedacht werden. 1969 § 153a I 4 StPO, zu weiteren Fällen Radtke, NStZ 1999, S. 481 (484 ff.). 1970 Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 503. 1971 Das gilt selbst für den Freispruch, vgl. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 175. 1972 So Peters, Strafprozeß 4(1985), S. 503 für den Fall eines Freispruchs. 1973 Ob § 362 StPO analog anzuwenden ist, kann hier offen bleiben. 1974 Beispiele und Diskussion bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 182 ff. Stahl, a. a. O., S. 185 f. führt zu Recht aus, dass verhaltenspsychologisch der Effekt nicht zu erwarten ist, wenn die Warnung insofern nicht als Konsequenz eigenen Handelns zu verstehen ist.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
wäre dem Staat aber nicht unmittelbar zuzurechnen, wenn gerade die Finalität der Maßnahme fehlt. Fehlende strafrechtliche Reaktionen und andere außerstrafrechtliche Warnungen können daher keine Bedeutungen haben. Die „Nachholung“ einer Bestrafung im Übrigen ist ausgeschlossen. b) Die vorstehenden Grundsätze gelten prinzipiell zunächst entsprechend auch für die Situation der Verjährung. Der Gesetzgeber hat eine pauschale Einschätzung des Rechtsfriedens dargetan, die auch bei der Einstellung für die neue Straftat Beachtung findet. Andererseits dürfte die Rechtsidee hinter der Verjährung nicht jegliche Verwertung suspendieren. Ein bereits eingetretener Rechtsfrieden soll nicht mehr gestört werden. Metaphorisch gesprochen darf es nicht darum gehen, „einmal abgesetzten Staub neu aufzuwirbeln“. Das wäre aus Sicht der Rechtsidee einer Friedensstiftung kontraproduktiv. Dieser vermutete Effekt muss aber gar nicht eingetreten sein. Hemmung und Unterbrechung zeigen, dass es mit schlichtem Zeitablauf nicht getan ist.1975 Blickt man auf die gängigen materiellen Begründungen,1976 so fällt auf, dass vom Idealfall der nachfolgenden Strafunauffälligkeit ausgegangen wird. Dies spricht dafür, dass zwar die gesetzliche Vermutung des Rechtsfriedens als ein Verfolgungshindernis für die verjährte Tat unaufhebbar bleibt, eine Berücksichtigung innerhalb einer neuen Straftat (für die aktuelle Rechtsfriedensstörung!) dagegen keinem Verwertungsverbot unterliegt.1977 Allerdings wird auch in diesen Fällen aufgrund absoluten Zeitablaufs eine mittelbare Grenze durch § 51 BZRG zu beachten sein. Bei einer fiktiv zu betrachtenden Ahndung wäre nämlich der Ablauftag der Verfolgungsverjährung der letztmögliche Urteilszeitpunkt und mithin letztmöglicher Beginn nach dem Fristensystem der §§ 37, 38 BZRG. Von diesem Tag an können die Tilgungsfristen zur Begründung einer (nunmehr eingetretenen) Unverwertbarkeit zu Rate gezogen werden.1978 c) Verfahrenstechnische Beschränkungen nach §§ 154 Abs. 1, 154a Abs. 1 StPO haben bereits als Anwendungsvoraussetzung, dass eine zu erwartende Rechtsfolge 1975 Insbesondere die zwischenzeitliche strafrechtliche Befassung verhindert, „dass sich Staub absetzt“. 1976 Fehlende generalpräventive Sühnebedürfnisse und spezialpräventive Einwirkungsnotwendigkeit, stv. Maurach/Zipf/Laue, Strafrecht AT 2 8(2014), § 75 Rn. 13. Zur hiesigen Einordnung s. oben im 2. Kapitel, B. III. 3. b). 1977 Jedenfalls ist es kein Problem der Unschuldsvermutung, s. Jähnke, FS Salger (1995), S. 47 (51); anders wieder jüngst Leitmeier, StV 2015, S. 585 (586). Man mag sich eine Serie von Taten sexuellen Missbrauchs vorstellen, von der einige Taten nicht mehr verfolgt werden können. Das Faktum der Serienhaftigkeit bleibt davon unberührt. Diskutabel bleibt allerdings der Einwand, dass der Dokumentationsgrad solcher Taten hinter den eigentlichen Tatfeststellungen zurückbleiben kann, so Leitmeier, StV 2015, S. 585 (586 f.) mit Verweis auf BGH NStZ 1995, 439; kritisch deswegen auch Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (69). Dies wäre allerdings ein Strukturmangel, der nicht im Strafzumessungsrecht an sich zu suchen wäre. 1978 Insoweit sachlich übereinstimmend mit Leitmeier, StV 2015, S. 585 (587), der § 51 BZRG wohl analog zur Anwendung bringen will. Weniger in dem Zusammenhang kann eine angebliche Analogieunfähigkeit der Vorschriften des BZRG eine Rolle spielen, so indes offenbar Sander, StraFo 2004, S. 47 (50). Ein Registergesetz verhält sich allerdings nicht zu eintragungsunfähigen Sachverhalten. Eine Nicht-Verurteilung ist ein solcher Sachverhalt.
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„nicht beträchtlich ins Gewicht fällt“, oder, im Falle des § 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO – unter Berücksichtigung der Belange der Verteidigung der Rechtsordnung – jedenfalls in angemessener Frist nicht zu erwarten ist. Eine veritable straferhöhende Wirkung ist damit bei dieser Ausgangsposition ohnehin nicht zu begründen.1979 Eine normative Irrelevanz im eigentlichen Sinne behandeln diese Vorschriften zwar nicht. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme in § 154 Abs. 3 StPO bzw. Wiedereinbeziehung in § 154a Abs. 3 StPO zeigen auf, dass kein logisches Verwertungsverbot gelten kann, sondern eine prognostische Entscheidung im Sinne einer modellhaft „hypothetischen“ Gesamtstrafenbildung zu erfolgen hat. Je stärker sich aber das Gewicht in der Unrechtsbetrachtung im Nachhinein herausstellt, desto eher war die ursprüngliche Prognose fehlerbehaftet. Folglich liegt es in der Konsequenz diesen Fehler zu korrigieren.1980 4. Vortatverhalten in bonam partem? Zu diskutieren ist schließlich die strafhöhenlenkende Wirkung des Vorlebens in seiner umgekehrten Richtung. Gesprochen wird in diesem Kontext häufig von der „Lebensleistung“ als strafmilderndem Aspekt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Berechtigung dieser Berücksichtigung, wohl auch weil sie dem Täter zu Gute kommt, weitaus weniger hinterfragt wird als die strafschärfende Variante. Im Versuch sich einem Begriff einer solchen „Lebensleistung“ zu nähern, lässt sich diese als ein andauerndes (d. h. in Gesamtheit des Lebens oder zumindest eines Lebensabschnitts), freiwilliges und überobligatorisches Verhalten definieren.1981 Bei der Erstellung einer solchen „Bilanz“ müsste dann allerdings auffallen, dass damit quasi das Gegenstück zur abgelehnten „Lebensführungsschuld“ entworfen wird. Aus dem gleichen Grund wie eine „zweifelhafte“ Lebensführung nicht Gegenstand strafrechtlicher Beurteilung sein kann, lässt sich auch von vorbildlicher Lebensführung an sich nichts für die eigentliche Straftat ableiten.1982 Mehr noch rücken ein Ein1979 Beulke/Stoffer, StV 2011, S. 442 (446). Zu §§ 154, 154a StPO ferner etwa LK-StGB/ Theune 12(2006), § 46 Rn. 180; im Ergebnis auch Einschränkungen der Verwertbarkeit bei Appl, Die strafschärfende Verwertung von nach §§ 154, 154a StPO eingestellten Nebendelikten und ausgeschiedenen Tatteilen (1987), S. 119 ff., 133 ff., 163 ff.; Bruns, NStZ 1981, S. 81 (85). 1980 Ebenso Beulke/Stoffer, ebd. 1981 So der Ansatz von Wittig, FS Beulke (2015), S. 1241 (1245); zur Begriffsbildung nunmehr auch Stadler, Die Lebensleistung des Täters als Strafzumessungserwägung (2019), S. 301 ff., 364 ff. 1982 Völlig zu Recht Wittig, FS Beulke (2015), S. 1241 (1252). Nicht problematisiert bei Matschke, wistra 2012, S. 457 (460) oder Mack, Stbg 2009, S. 270 (272). Problematisch daher auch Stadler, Die Lebensleistung des Täters als Strafzumessungserwägung (2019), der unter Zugrundelegung der Indizkonstruktion (S. 383 ff., 535 ff.) einen „inneren Zusammenhang“ (S. 411 ff., 643 ff.) zur abzuurteilenden Tat gleichwohl herzustellen versucht, indem Handlungen aus der Vergangenheit betrachtet werden die dem geschützten (abstrakten) Rechtsgut gedient haben. Auch wenn das Bemühen um Spiegelbildlichkeit methodisch vielleicht noch stringent ist, überzeugen die Ergebnisse nicht. Das für Verletzungsdelikte angeführte Beispiel (a. a. O., S. 415) eines Vaters, der jahrelang seinen Sohn pflegte um ihn dann auf dessen Wunsch
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fließenlassen von gesamtgesellschaftlich positiven Werten wie soziales Engagement, wirtschaftlich relevante Unterhaltung von Arbeitsplätzen sowie ein gemeindliches Steueraufkommen in Richtung einer Privilegierung bestimmter Tätergruppen. Ein solches „positives Täterstrafrecht“ belastet indirekt diejenigen, die von vorneherein wegen fehlender Mittel gar nicht die Möglichkeit haben, es solchen Großverdienern gleichzutun.1983 Überdies ist die gedankliche kausale Verknüpfung zur Straftat gegenüber dem (evtl.) tadelnswerten Lebensentwurf eigentlich noch weitaus schwächer, da schließlich gerade die Rhetorik von der „devianten Lebensführung, die in der Kriminalität enden musste“ hier noch nicht einmal fruchtbar gemacht werden kann. Wenn die Verfehlung geradezu als „Bruch“ im Leben erscheinen muss, kann eine Verbindung zur Straftat kaum herstellbar sein. Dann ist es aber noch weniger einsichtig, warum dies für die Strafzumessung eine Rolle spielen kann. Soweit sich diesem Gedanken etwas abgewinnen lässt, so ist es die kriminologische Erkenntnis der Ubiquität der Straftat („auch so einem“ kann dies „passieren“). Daraus kann man aber eher nur ableiten, dass der Mensch in dieser Hinsicht stets unter Gleichen ist. Wenn die Singularität einer Verfehlung gewürdigt werden soll, dann in dem Sinne, dass prinzipiell gegenüber einem Ersttäter eine Strafe im unteren Bereich des Unrechtsspektrum angesiedelt werden kann, wenn die Gesetzesübertretung als „Ausrutscher“ oder temporäre Nachlässigkeit erscheint. Der Hinweis auf das bisherige Wohlverhalten verfängt nur dann nicht, wenn damit (an die Selbstverständlichkeit) erinnert werden soll, dass die (möglicherweise aufkeimende) relativ besehen stärkere Empörung oder Enttäuschung über das Delikt ebenso kein Grund ist, diese Empörung oder Enttäuschung in das zu findende Strafmaß zu transformieren. Mit der Lebensleistung als solcher hat dies im Grunde aber ebenfalls nicht zu tun. Es ist daher zu raten, von dieser Wendung schleunigst Abstand zu nehmen.1984
tötete (§ 216 StGB), taugt kaum zur Verallgemeinerung. In vielen Situationen korreliert die Sorge nämlich schon mit einer entsprechenden Garantenpflicht. In anderen mag die fehlen. Aber soll ein Sexualstraftäter, der das Kind für das „Mitwirken“ an seiner Befriedigung etwa luxuriös mit Spielzeug bedenkt, gegenüber einem „schlichten“ Missbrauch privilegiert werden? Einschränkungen daher schon bei ders., a. a. O., S. 478 f. 1983 Zum Aspekt dieser so unvermeidlichen „Klassenjustiz“, Wittig, FS Beulke (2015), S. 1241 (1245, 1253 ff.); J. Hofmann, Strafe und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung (2016), S. 206. Unklar insoweit Stadler, Die Lebensleistung des Täters als Strafzumessungserwägung (2019), S. 419 f. einerseits und S. 461 f. andererseits. 1984 Sehr problematisch daher BGHSt 53, 71 (86), Urt. v. 02. 12. 2008 – 1 StR 416/08, wenngleich „nur“ zu der Entkräftung der Indizwirkung des Regelbeispiels des § 370 III 2 Nr. 1 AO.
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VI. Nachtatverhalten Die Einstellung des Nachtatverhaltens ist nicht ohne weiteres einsichtig, da im Gegensatz zur Vorgeschichte nicht die Dynamik einer Tat selbst erfasst wird. Spätestens mit der Beendigung der Tat gilt das Unrechtsgeschehen an sich als abgeschlossen. Das spräche dafür, dass Nachtatverhalten in der Betrachtung außen vor zu lassen. Der Rechtsbruch als solcher und nicht wenige Auswirkungen einer Tat bleiben irreversibel. Mit der vorherrschenden Indizkonstruktion ist dieses Problem nicht zu lösen, denn der Rückschluss von einem Nachtatverhalten auf die Einstellung zur Tatzeit vermag nicht durchweg zu überzeugen;1985 bei einem Geständnis bspw. geht dieser Gedanke völlig fehl. Die Indizkonstruktion ist daher ungeeignet, aber auch überflüssig. Denn im Wesentlichen geht es bei der forensischen Aufarbeitung um die Beseitigung der Rechtsfriedensstörung. Die Unrechtsrelevanz in Form der Rechtsfriedensstörung unterliegt dagegen der Veränderung. Vollzogene Entwicklungen können bei der Tatbewertung berücksichtigt werden.1986 1. Entlastendes Nachtatverhalten1987 a) In bonam partem kann das Nachtatverhalten bei der Wiedergutmachung im weiteren Sinne des eingetretenen Tatschadens eine Rolle spielen. Soweit eine materielle Schadensbehebung möglich ist, gilt eine Wiedergutmachung in erster Linie dieser. Daneben kann der Vertrauensschaden aus dem Normbruch restauriert werden, indem der Täter die Auflehnung gegen die Rechtsordnung durch aktives Verhalten zurücknimmt.1988 Dazu zählen Reue, Therapiebereitschaft1989, aber auch das Bemühen einer Wiedergutmachung an sich. § 46a StGB stellt insoweit eine Sonderregel bereit, die diesen Rechtsgedanken eminent verkörpert. Zu beachten ist dabei lediglich, dass die Strafrahmenverschiebung in § 46a StGB als antizipierte Strafzumessung die geminderte Rechtsfriedensstörung bereits in Rechnung stellt. Zu einer weiteren Senkung innerhalb eines gemilderten Rahmens kann es deswegen nicht ohne weiteres kommen, sondern nur insoweit der Parameter noch nicht als „verbraucht“ gelten kann. Im Sinne der „Schwellenlogik“ hängt der Verbrauch von der 1985 S. 2. Kapitel, B. II. 1. a) sowie Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 678. Von der „Doppelspurigkeit“ der Indizkonstruktion nach Bruns, Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 231, bleibt dann nicht viel übrig. Man muss nach dieser Lesart in diesen und anderen Fällen allein auf die einspurige Präventionsrelevanz des Nachtatverhaltens ausweichen. 1986 Grundsätzlich postdeliktische Milderungen ablehnend Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 131 ff.; auf der Basis der Lehre der Tatproportionalität in ihrer „klassischen“ Rezeption wird dies indes einsichtig. 1987 Zum Ganzen bereits die Herleitung in Teil 1, 2. Kapitel, B. III. 1. c). 1988 Vergleichbar Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (73). „Gefährdungsumkehr“ thematisiert auch bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 134 f. 1989 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 132.
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Strenge der Auslegung einzelner Anwendungsvoraussetzungen des § 46a StGB ab.1990 Je außerordentlicher ein Umstand verwirklicht ist, desto eher kann er in der Binnendifferenzierung nochmal graduell berücksichtigt werden. Umgekehrt taugen Grenzfälle, die das gesetzliche Merkmal nicht eindeutig erfüllen, weniger zur nochmaligen Einstellung. Im entfernten Sinne ist auch die Anerkennung des Opfers als Opfer hierzu zu zählen. Eine Distanz der Verfahrensbeteiligten zum Opfer ist bei der Aufarbeitung im Prozess strukturell angelegt, wenn eine Unvoreingenommenheit gegenüber dem Täter gelten soll. Das nemo-tenetur-Prinzip tut sein Übriges. Diese grundsätzlich kritische Haltung kann dann einen zusätzlichen Leidensdruck hervorrufen, dessen Spannung durch die Opferanerkennung gemindert wird.1991 Die entsprechende Umsetzung muss nicht in einem Geständnis münden, sondern kann auch in einem Versuch bestehen, einen respektvollen Umgang mit dem Opfer an den Tag legen. b) Zum zweiten kann dem Täter eine Aufklärungshilfe zu Gute gehalten werden.1992 Als Aufklärungshilfe müssen nicht zwingend nur Nova in der Tatsachenfindung herangezogen werden, sondern können bereits verfahrensbeschleunigende
1990 Die hier explizit nicht weiterverfolgt werden sollen. Zu weit dürfte es wohl gehen, den Anwendungsbereich auf ausdrückliche erfolgreiche Täter-Opfer-Begegnungen zu reduzieren, so indes Schmidt, Strafe und Versöhnung (2012), S. 236 f. Wenn die Hürden so hoch angesetzt werden, wird der Anreiz auf Täterseite wohl erheblich reduziert; ein Umstand, der dem „Programm TOA“ eher zuwider laufen würde. 1991 A. A. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips (1998), S. 200 f., der in der Berücksichtigung einen mittelbaren Zwang zur Verfahrensmitwirkung sieht; eine Erschwerung der Verteidigung sieht auch Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (145). Man wird diese Perspektive der Dinge ernst nehmen müssen, aber sie ist Einwänden ausgesetzt, da ein bloßes Unterlassen nicht ohne weiteres zum Zwang erklärt werden kann. Die Problematik ist aus dem Nötigungstatbestand bekannt. Die Strafmilderung kann auch als ein Angebot aufgefasst werden. Kooperation ohne Anreiz ist unwahrscheinlich. Es soll dem Täter (!) eine Chance gegeben werden, an der Aufarbeitung teilzunehmen. An falschen Geständnissen darf der Staat schon kein Interesse haben. Man müsste schon die Vorannahme teilen, dass der Staat stets lieber eine Verurteilung des Beschuldigten sähe. In dem Sinne sollte berücksichtigt werden, dass keine Statusverschlechterung eintritt, da – beim Wortsinn genommen (Nemo tenetur se ipsum accusare – „niemand ist verpflichtet sich selbst anzuklagen“) – das Schweigerecht nicht seinen Wert verliert. Möglicherweise reicht die Beweislage ohne Geständnis gar nicht hin zu einer Verurteilung. Dann gibt es gar keine Strafe. Problematisch ist auch, mit einem „Nichtvorliegen von Strafmilderungsgründen“ gedanklich zu einer Strafschärfung zu kommen. Da ein Schweigen des Beschuldigten prozessual erwartet werden sollte, ist in diesem Zusammenhang ausnahmsweise der „normative Normalfall“ und der diesbezügliche strafzumessungsrechtliche Nullpunkt eindeutig vorgegeben. 1992 S. bereits Schmidt-Hieber, FS Wassermann (1985), S. 995 (998); a. A. wiederum – konsequent – Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips (1998), S. 199. Zweifelnd auch B.-D. Meier, GA 2015, S. 442 (447): „kein positiver Wert“; Murmann, FS Frisch (2013), S. 1131 (1148): Eine gerichtliche Arbeitserleichterung werde schließlich nicht prinzipiell – auch außerhalb von Absprachen – als Strafmilderungsaspekt genutzt werden.
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Maßnahmen gelten. Ein Geständnis kann deshalb unter diesem Aspekt1993 regelmäßig mildernd in Ansatz gebracht werden. Ein rein taktisches Geständnis, welches nicht einmal zur Aufklärung in genannter Form beiträgt, ist dagegen unbedeutend.1994 Ein Geständnis als solches kann nicht den Charakter einer verfahrensbeendenden Prozesserklärung wie etwa ein Anerkenntnis oder Vergleich im Zivilprozess haben. Das erklärt sich bereits aus dem fehlenden Dispositionsgrundsatz des Streitstoffes. Jedes Geständnis muss deshalb erstens auf seine Wahrhaftigkeit überprüft werden. In der Konsequenz kann somit ein substanzarmes Geständnis auch nicht als Verurteilungsgrundlage dienen. Es fehlt daher an einem Eigenwert der bloßen Prozesserklärung. Der „Verdienstlichkeitsgedanke“ der Aufklärungsarbeit greift immer dann ein, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zur abzuurteilenden Tat besteht, da in diesen Fällen die Entscheidungsreife in einem Verfahren durch die Mitwirkung erst hergestellt wird. In diesem Sinne prämieren § 31 BtMG und (nunmehr auch) § 46b StGB diese Konnexität. Der Konnexitätsgedanke sollte zum einen durch strenge Handhabung gesichert werden, zum anderen ist der „Verbrauch“ des Gesichtspunkts als Strafzumessungsfaktor im Übrigen zu beachten.1995
1993 Eine etwaige Reue kann gesondert Geltung beanspruchen. Zu der, wenngleich zugebenermaßen „dünnen“, Herleitung in Teil 1, 2. Kapitel, B. III. 1. c). Die Ausschöpfung des Geständnisses obliegt insoweit dem Tatrichter. (Quantitative) Grenzen gibt das deutsche Recht nicht vor; anders z. B. die Rechtsordnung für England und Wales, s. den Hinweis Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (68), wobei die dortige „Abschlagsbegrenzung“ von maximal 30 % wenigstens für das deutsche Revisionsrecht beachtenswert erscheint. Großzügerere Strafnachlässe wären in der Tat begründungsbedürftig. 1994 Dafür auch Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (146); B.-D. Meier, GA 2015, S. 442 (450) und Streng, FS Schwind (2006), S. 447 (449), gegen einen Automatismus auch Murmann, FS Frisch (2013), S. 1131 (1147). Einschränkend Schmidt-Hieber, FS Wassermann (1985), S. 995 (1000), der „In dubio pro reo“ folgend bereits die Möglichkeit positiv zu bewertender Motive anerkennen will. Das ist in der Form ungenau. Richtig ist, dass der Zweifelssatz auch prinzipiell für Strafzumessungstatsachen gilt. Fraglich ist dagegen, ob dieser überhaupt aktiviert wird. Es verhält sich im Ergebnis nicht anders als bei Prognoseentscheidungen. Denn eine Strafmilderung gebührt einer Kompensationsleistung, die positiv festgestellt werden muss, (reales Substrat der Rechtsfriedensstörungsminderung). Das Verwehren der Strafmilderung (Unterbleiben einer Begünstigung) steht einer Belastung nicht gleich, so dass nicht zu Lasten des Täters agiert wird. Der Umweg über Negativtatsachen („eine Reue konnte nicht festgestellt werden“) verfälscht die Strafmaßfindung, zur gleichen Problematik der „Strafschärfung bei fehlenden Strafminderungsgründen“; zum Problem der Bewertungsrichtung s. C. III. 1. c). 1995 Erste Anzeichen sprechen ohnehin weniger für einen spürbaren Einfluss in der Sanktionslandschaft, vgl. die empirische Untersuchung von Kaspar/Christoph, StV 2016, S. 318 (321 ff.). Danach begegnet vor allem die Strafverteidigung der Vorschrift mit großer Skepsis und wirkt weniger auf eine Anwendung hin. Gemessen am intendierten Adressat der Vorschrift ist dies verblüffend.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
2. Belastendes Nachtatverhalten Eine Entwicklung der Tat ist allerdings auch ad malam partem möglich.1996 Ein Unterbleiben der zuvor aufgezählten, möglichen Verdienste darf dem Täter allerdings im rechtlichen Sinne nicht zum Nachteil gereichen. Bis zur Verfahrensbeendigung (Rechtskraft) kann der Beschuldigte seine Rolle als Beschuldigter wahrnehmen. Das nemo-tenetur-Prinzip und die nicht strafbewährte Selbstbegünstigung schränken die Verwertung ein, gleich ob dies die Anschauung des Falls rein faktisch verändern mag. Denn auch wenn die Sachlage ein anderes menschliches Verhalten grundsätzlich erwarten oder gebieten würde, sind ein fehlendes Tateingeständnis sowie ausbleibende Reue oder Entschuldigung insoweit rechtlich neutral. Eine Sühne wird schon nicht unbedingt am Ende einer vollstreckten Strafe erwartet. Erst recht kann sie nicht am Anfang in die Überlegung eingestellt werden. Straftheoretische Erwägungen einer Erhöhung derart sind nicht gerechtfertigt. a) Dieser Grundsatz strukturiert auch die Einordnung von Prozessverhalten des Täters. Zu unterscheiden ist dabei die schlichte Abwehr des staatlichen Strafanspruchs vs. einer Angriffsstrategie. Ein Verteidigungsverhalten, welches von einer Abwehrhaltung geprägt ist, ist nicht zu beanstanden. Ein offensiver Angriffsstil dagegen geht über die bloße Wahrnehmung von Rechten hinaus und nimmt zusätzliche Schäden zu eigenen Gunsten in Kauf. Wo die Grenzlinien zwischen beiden Typen verlaufen, lässt sich nicht ohne weiteres bestimmen und bedarf einer qualifizierten Analyse von Verteidigungsverhalten. Ein Schweigen oder Leugnen ist jedenfalls unverfänglich. Problematisch wird es insbesondere werden, wenn Verdacht nur durch Bezichtigung anderer oder der Aberkennung einer Opferrolle abzuwehren ist. In Verfahren, in denen der Beschuldigte der einzig in Frage kommende Täter ist, wird sich ein adversatorischer Charakter nicht stets vermeiden lassen. In den Grenzen des § 193 StGB ist dies zu gestatten, soweit die Wahrnehmung der Verteidigung nicht anders möglich ist. Selbst wenn das Opfer dadurch zusätzliche Belastungen erlebt, ergibt sich daraus keine Schadensvertiefung im normativen Sinne. Die Prävention einer sekundären Viktimisierung gewinnt daher umso mehr an Bedeutung.1997 b) Wie weit der Schutz bei Selbstbegünstigung reicht, ist auch Frage bei der Beurteilung von Spurenbeseitigung oder anderweitiger Verdunklung. Eine schlichte Spurenbeseitigung steht in engem Zusammenhang mit dem eigentlichen Gelingen der Straftat. Den Wunsch nach erfolgreicher Tatgestaltung betrifft bereits den Tatplan und sollte dem Täter nicht post delictum angelastet werden.1998 Auch wenn nicht begriffsnotwendig von § 46 Abs. 3 StGB erfasst, berührt dies den Grundgedanken 1996 Restriktiver Frisch, FS Jareborg (2002), S. 207 (230 ff.); ablehnend Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (71). 1997 Welche Forderungen an die Prozessgestaltung zu stellen sind, kann hier nicht vertieft werden. 1998 Nicht verwechselt werden darf dies mit der Frage der Tatmodalität. Dort kann dieses umsichtige Vorgehen unter dem Aspekt der Gefährlichkeit eine Rolle spielen. Dazu auch LKStGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 201.
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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Doppelverwertung. Insofern gilt nicht nur der Gedanke der Selbstbegünstigung. Im Falle qualifizierter Spurenbeseitigung1999 soll eine Strafschärfung dagegen möglich sein. Welchen Grad die Qualifizierung erreichen muss, ist allerdings unklar. Eine bloße Behinderung oder Erschwernis späterer Ermittlungen wird dies kaum erreichen. Zutreffend wird dies nur dann erfüllt sein, wenn zusätzliches, eigenständiges Unrecht verwirklicht wird.2000 Auch eine noch so konsequent fortgedachte (faktische) Belastungsfreiheit erreicht die Grenzen dort, wo die geschützten Rechtssphären anderer verletzt werden. Aus dem Umstand, dass sich der eine selbst vor Strafe schützen will, erwächst auf gegenüberliegender Seite unmöglich eine Duldungspflicht. Die Rechtsordnung kommt in den Fällen kaum umhin, solche Handlungen als rechtswidrig einzustufen Eine Verknüpfung von Unrecht mit Unrecht muss in der Summe ein „Mehr“ in der Anschauung bedeuten. Generell zurückhaltend sollte entgegen der Rechtsprechung2001 aus dem Verhalten auf Rechtsfeindlichkeit geschlossen werden. Gesichtspunkte wie die „Aussichtslosigkeit“ der Verteidigung angesichts einer Überführung oder generelle Uneinsichtigkeit sorgen nach dem dargelegten Ansatz lediglich dafür, dass Chancen zur Strafmilderung (Aufklärung) endgültig vergeben sind. In Fällen der Gesetzeskonkurrenz besagt bereits die Regel der Verdrängung, dass das Unrecht der zurücktretenden Taten durch die verdrängenden Delikte Abgeltung findet.2002 Schließlich müssen die Regeln die Zurechenbarkeit beachtet werden. Das gilt namentlich für das Eigenverantwortlichkeitsprinzip, sofern Dritte an der Spurenbeseitigung oder Verdunklung beteiligt sind.2003 Aber auch im Übrigen kann ein ggf. nachteiliges Tatverhalten daraufhin untersucht werden, ob die Unrechtserhöhung dem Täter angelastet werden kann. Man kann bspw. an eine affektive Störung im Anschluss an eine Tatbegehung denken. Gemessen an den üblichen Zurechnungshürden der Defektmerkmale des § 20 StGB wird dies regelmäßig nur eine Zurechnungsabschwächung, denn einen Ausschluss der Zurechnung im Hinblick auf diese Unrechtserhöhung bedeuten.2004 1999
Vgl. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 204 mit Beispielen. LK-StGB/Theune 12(2006), § 46 Rn. 200, Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 210; krit. indes Kunz, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 135 (144). 2001 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 127 f. mit den Nachweisen. 2002 Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 204. 2003 Bedenken erweckt deshalb die Strafschärfung für den Fall der Benennung von zu Falschaussagen geneigter Zeugen ohne vorhergehende Anstiftung. Das Wissen um eine Falschaussage sollte unter der Berücksichtigung der Eigenverantwortlichkeit Dritter eingestellt werden. 2004 Einen interessanten, in seiner Reichweite aber irritierenden Ansatz wirft Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur (2000), auf, der die Berücksichtigungsfähigkeit einer Straffreistellung durch „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ in den Raum stellt, (zusammenfassend a. a. O., S. 302 f.). Das ist konstruktiv konsequent, aber inhaltlich kaum ver2000
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
VII. Sonstige Strafzumessungstatsachen In aller Regel werden entsprechend der gesetzlichen Formulierung („namentlich“) über die Aufzählung des Kataloges des § 46 Abs. 2 StGB hinaus weitere Strafzumessungsgründe für möglich gehalten.2005 Die Durchsicht der diskutierten Topoi wird indes zeigen, dass diese entweder angesichts der Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen des § 46 Abs. 2 StGB keine Eigenständigkeit beanspruchen oder deren Verwendung im Hinblick auf deren Aussage zum Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat sachlich zweifelhaften Charakter besitzen. 1. Beteiligung anderer Personen Gemäß den vorstehenden Grundsätzen ist die Mitwirkung von Dritten bei der Tat kein eigenständiger, sondern ein abhängiger Strafzumessungsgrund. Faktoren des Erfolgsunrechts betreffen jeweils die Schadenszurechnung. Folglich geht es nicht um Strafzumessungstatsachen im engeren Sinne, sondern um Regeln der Zurechnung nach anteiligen Verursachungs- und Verantwortungsbereichen. Rechtstechnisch gesehen gibt es kein Opferverschulden bei einem Delikt, sondern allenfalls eine Obliegenheit des Selbstschutzes.2006 Unabhängig davon, ob man von einer Obliegenheit je nach Einzelfall sprechen kann, gibt es dennoch nach den Grundsätzen der objektiven Zurechnung ein Prinzip der Eigenverantwortlichkeit.2007 Dieses Prinzip lässt sich auf die Strafzumessung übertragen. Im Gegensatz zur Straftatlehre geht es aber nicht um die Unrechtszurechnung an sich, sondern um eine Quantifizierung der Risikosphären. So kann eine Selbstgefährdung des Verletzten trotz Unwirksamkeit einer Einwilligung (§ 228 StGB) in Rechnung gestellt werden.2008 Insgesamt führt dies zu einer gedanklichen, wenn auch nicht zwingend numerischen Quotelung. Neben dem Opfer kann auch ein Dritter, ggf. der Staat, Zurechnungssubjekt dieser Quotelung sein. Die Beteiligung Dritter kann ebenso wie das Erfolgsunrecht das Handlungsunrecht verändern. Die Begehung durch mehrere Beteiligte betrifft den Modus und damit die Ausführung der Tat. Im Übrigen gehen Dritt- und Opferbeteiligung entweder bereits im Motiv oder im aufgewendeten Willen des Täters auf. Letzteres trifft regelmäßig zu auf Elemente des unterbliebenen Schutzverhaltens des Opfers, bspw. mittelbar: ein „Notstand aufgrund Verbrechen“ ist durch die Selbstbegünstigungsprivilegien des Besonderen Teil wohl abschließend geregelt. S. dazu unter III. 4. d) cc). 2005 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 136. 2006 Vgl. nur Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (759); Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 113 (122), von „Obligation“ spricht; dies, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem (2000), S. 175 (197 f.). 2007 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (761 f.); Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 545. 2008 MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 38.
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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aus Leichtsinnigkeit oder Naivität. Der Verursachungsbeitrag und die Konfliktträchtigkeit des Vorverhaltens Dritter wiederum (er)klären meist das Tatmotiv und ermöglichen so eine bewertende Stellungnahme zu diesem. Staatliches Verhalten ist jenseits der agent-provocateur-Problematik in Fragen bezüglich Mängeln in der Dienstaufsicht und/oder eines möglichen Organisationsverschulden von gewichtiger Bedeutung. Auch ohne Bemühung von Staatsräson wird jede notwendige Aufgabenteilung im Staat durch das Prinzip der Hierarchie abgesichert. Das Maß der Pflichtwidrigkeit eines Amtsträgers hängt deshalb auch entscheidend davon, welches Maß an Delegationsrisiko der Staat als Entität bei der Erfüllung durch seine Amtswalter zu vertreten hat. Da der Staat natürlich nicht selbst handeln kann, bezieht sich das Delegationsrisiko immer auf die Pflicht zu internen Kontrollprozessen. Sind Strukturen so angelegt, dass für diese eine erhöhte Anfälligkeit besteht, muss der Staat seine Möglichkeiten der Verhütung ausschöpfen. Ein pflichtwidriges Unterlassen dieser Aufsicht kann dazu führen, dass im Rahmen der Pflichtdelikte sich der Akzent der Unwertgewichtung verschiebt.2009 Eine solche Rechtspflicht der Behörde ist stets nach Art der staatlichen Aufgabe in Abwägung mit dem Vertrauensgrundsatz zu statuieren. 2. Opferdisposition Insbesondere bei Kontaktdelikten wie Körperverletzung oder Sexualstraftaten kann die Opferdisposition eine gesonderte Rolle spielen. Es belastet den Täter bezüglich der Tätergesinnung, wenn er eine besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers ausnutzt.2010 Vielfach geht es aber primär um die Auswirkungen der Tat oder deren Hintergründe. Es sind die dazu vorgestellten, allgemeinen Zurechnungsregeln anzuwenden.2011 2009 Als Beispiel mag ein Überschreiten der Gewaltschwelle eines Strafvollzugsbeamten herhalten. Es liegt dann zwar Körperverletzung im Amt vor. Deren Gewicht kann aber minder schwer wiegen, wenn die Reizbarkeitsschwelle der Bediensteten herabgesenkt ist durch deren systematische Überforderung mangels ausreichend Personal. Auch wird man dann den Staat selbst in die Verantwortung ziehen müssen, wenn durch „verfilzte Strukturen“ im allgemeinen Korruptionsdelikte geradezu befördert werden. 2010 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 149 i. V. m. Rn. 146; H.-L. Günther, FS Lenckner (1998), S. 69 (76). 2011 Eine weitergehende Diskussion „Opferbeteiligung“ als Strafzumessungsgrund stellt sich aus Gründen der Dogmatik nicht. Denn entweder zieht man die Opferperspektive bereits zur Beschreibung des Tatunrechts (Schaden) heran, vgl. Hörnle, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 175 (181 ff.); Maeck, Opfer und Strafzumessung (1983), S. 23 ff., oder es geht darum die Opferinterferenz als „anteilige“ Aufteilung der Verantwortung am Geschehen zu beschreiben s. Büch-Schmitz, Opfervertrauen und Strafzumessung (1997), S. 162; grundlegend Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten (1981), S. 239 ff.; dort im Einzelnen die Kasuistik mit den Topoi „einwilligungsnah“ (S. 240 ff.); „notwehrähnlich“ (S. 269 ff.); „verwirkungsnah“ (S. 287 ff.), und „beteiligungsnah“ (S. 294 ff.).
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
3. Untersuchungshaft Grundsätzlich wird die Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 StGB der zu verbüßenden Haftzeit angerechnet. Dass der Grund der Kompensation einer Rechtsfriedensstörung gerade durch den Vollzug von Haft bewirkt wurde, legt es nahe, Untersuchungshaft insoweit als antizipierte Vollstreckung zu behandeln. Sie ist daher für die eigentliche Strafzumessung ohne Einfluss. Zwar wird generell für atypische Sondersituationen2012 eine Strafzumessungslösung weiterhin für möglich gehalten, doch sollten, um nunmehr erlittene Nachteile einheitlich und systematisch konsequent handzuhaben, sämtliche Konstellationen auf die Vollstreckungsebene verlagert werden. Es wäre daher zu erwägen, die Vollstreckungsfiktion für atypische Härtefälle über den direkten Anwendungsbereich des § 51 StGB hinaus zu erweitern. Im Übrigen ist der Sachverhalt eher im Entschädigungsrecht zu verorten (vgl. hierzu § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG). Unbenommen bleibt es die Hafterfahrungen für die Bewährungsentscheidung heranzuziehen. 4. Zeitablauf zwischen Tat und Urteil, insb. die lange Verfahrensdauer a) Allgemeine Grundsätze Der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil ist in ständiger Rechtsprechung2013 als Strafzumessungsfaktor anerkannt. Der bloße Zeitabstand selbst zwischen Tat und Verurteilung besagt aber eigentlich nichts von rechtlicher Relevanz. Zwar kann eine Modifikation der Rechtsfriedensstörung innerhalb dieses Zeitfensters relevant werden.2014 Indes beruht diese entweder auf einem bestimmten Nachtatverhalten oder veränderten Auswirkungen der Tat. Kann eine Entwicklung auf einen solchen Sachgrund nicht zurückgeführt werden, spricht nichts dafür, eine Minderung der Strafe anzunehmen. b) Verfahrensverzögerung: Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Der Zeitablauf ist im Grunde erst dann von Interesse, wenn es zu einer Verzögerung in der Aburteilung kommt. Dann befindet sich der Beschuldigte in einem Schwebezustand der Ungewissheit, den man prinzipiell als belastend ansehen kann. Der BGH löste diese Fälle zunächst über ein Strafabschlagsmodell, bis schließlich im
2012
S. StGB-Fischer 62(2015), § 46 Rn. 70. Nachweise bei MüKo-StGB/Maier, 2(2012), Anh. zu § 46 Rn. 16. 2014 Frisch, FS Jareborg (2002), S. 207 (229); Kaspar, Gutachten C DJT (2018), 1 (73); bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 159, ist insofern ausdrücklich von „Anrechnung“ die Rede. 2013
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Jahr 2008 ein Wechsel zur sog. Vollstreckungslösung eingeläutet wurde.2015 Schon beim Strafabschlagsmodell war der auf die das Beschleunigungsgebot verletzende Verzögerung anfallende Anteil separat zu benennen.2016 Die Kompensationspflicht des Staats wird fortan vom Rechtsfolgenausspruch abgelöst und im Vollstreckungsmodus aufgehoben. Der Sachgrund der Kompensationsleistung des Staats wird so widergespiegelt: die erlittenen Nachteile werden zutreffend als Strafsurrogat behandelt. Denn in der Sache relativiert die Verfahrensverzögerung nicht das verschuldete Unrecht.2017 Wenn überhaupt, so liegt eine Veränderung in der Annahme einer Rechtsfriedensstörung vor. Ein Abbau durch schlichten Zeitablauf ergibt sich aber erstens nicht notwendig und zweitens wenn, dann stets vermittelt durch eine Katalogtatsache des § 46 Abs. 2 StGB. Will man tatsächlich einen Abbau kausal auf die Verfahrensverzögerung attribuieren, dann nur weil das Verfahren selbst wie eine Strafe gewirkt hat (hier als sog. Straf- oder Eindruckswirkung durch das Strafverfahren). Die besonderen Belastungen durch ein gestrecktes Verfahren können als vorgezogenes, staatlich „verhängtes“ Übel begriffen werden. Dieses Sonderopfer gleicht im gedanklichen Ausgangspunkt der Untersuchungshaft, so dass die Anknüpfung an dessen Anrechnungsregelung (§ 51 Abs. 1 StGB) sich als folgerichtig erweist. Warum dagegen die Rechtswidrigkeit, welcher im Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK liegt, der Anrechnungssituation die Vergleichbarkeit zu § 51 Abs. 1 StGB nehmen solle,2018 leuchtet nicht ein. § 51 StGB differenziert nicht nach der Rechtmäßigkeit der zuvor angeordneten Maßnahme. Im Übrigen kommt es im Wesentlichen auf das staatlich induzierte Übel an. Das Trennungsprinzip verarbeitet diesen Umstand und fügt sich insgesamt besser in die Logik der Rechtsfolgensystematik ein.2019 Die Vollstreckungslösung ist damit zumindest dem bisher praktizierten Strafabschlagsmodell überlegen.2020 2015
BGHSt 52, 124 – Bes. v. 17. 01. 2008 – GSSt 1/07. Die Entwicklung und Nachweise bis zum Wandel finden sich nachgezeichnet bei Biehl, Die Vollstreckungslösung des BGH (2014), S. 89 ff. 2016 BGH NStZ 1999, 181 (182); 2003, 601. 2017 Insoweit missverständlich BVerfG NStZ 2006, S. 680 (681). 2018 So Biehl, Die Vollstreckungslösung des BGH (2014), S. 179, weitere Nachweise a. a. O., S. 120. 2019 So auch MüKo-StGB/Maier 2(2012), Anh. zu § 46 Rn. 54; Bußmann, NStZ 2008, S. 236 (237). Fehlende Erforderlichkeit des Systemwechsels mahnt dagegen Leipold, NJWSpezial 2008, S. 152, an. Umfassende Nachweise aus dem Schrifttum bei Biehl, Die Vollstreckungslösung des BGH (2014), was Zustimmung (S. 116 ff.) und Kritik (S. 119 ff.) betrifft. 2020 Diese Feststellung genügt insoweit für den Fortgang der Darstellung. Damit wird nicht behauptet, dass sämtliche Aspekte einer Verfahrensverzögerung bereits einer abschließenden Lösung zugeführt wären. Geht man davon aus, dass das Verhalten eine Verwirkung des Strafanspruches rechtfertigt, dann steht weiterhin die Behandlung als Verfahrenshindernis im Raum. Dies mag als zusätzliche Option zur Lösung bereitstehen. Bereits den Strafausspruch und nicht erst seine Durchsetzung als Gegenstand der Verwirkung zu behandeln, insoweit etwa Ignor/Bertheau, NJW 2008, S. 2209 (2212 f.), spräche dem Staat die Berechtigung ab, in diesen Fällen die Tatschuld überhaupt zum Maßstab von Sanktionen zu machen – was im Grunde zurück auf die Strafzumessungslösung verweist, – verkennt als Überlegung die wahre Dimension des Rechtsproblems. Unstrittig ist der Täter durch den höheren Sanktionsausspruch
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Die grundsätzliche Lösung über die Strafvollstreckung beschränkt allerdings nicht das Instrumentarium von rechtlichen Reaktionen auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; auch weil sich die Strafvollstreckungslösung nicht als einzige deduktive Lösungsmöglichkeit anbietet. Je nach Gewichtigkeit des Verstoßes bleibt auch ein Verfahrenshindernis möglich.2021 Problematisch und abzulehnen hingegen ist die partielle Beibehaltung2022 der Strafzumessungslösung. Denn nur bei konventionswidriger Verzögerung solle laut Rechtsprechung die Vollstreckungslösung zur Anwendung kommen.2023 Für eine solche Parallelität von Argumentationen besteht unter Vorzeichen der grundsätzlichen Kurskorrektur der Rechtsprechung kein Bedarf. Soweit in ihren Anwendungsvoraussetzungen beachtet, können indes die Rechtsfolgen der §§ 59, 60 StGB ein Thema werden. Die verwirkte Strafe muss aber dementsprechend unangetastet bleiben.2024
VIII. Beschränkungen der Sanktion aus Erwägungen der Verhältnismäßigkeit Neben den Strafzumessungstatsachen im engeren Sinne existieren weitere sanktionsdeterminierende Faktoren, die bei der Rechtsfolgenwahl zu berücksichtigen sind. Insofern lässt sich auch in diesem Zusammenhang von Strafzumessungsfaktoren reden. Gleichwohl geht es inhaltlich immer um Fragen der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne.2025 Aufgrund dessen ist eine Konzentration dieser Thematik unter dem allgemeinen Rubrum der Verhältnismäßigkeit der Sanktion gerechtfertigt. Die Besonderheit dieser Aspekte ist, dass regelmäßig keine unmitstärker in seinen Rechten aus Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG berührt. Dieses ist aber durch das tatsächlich verwirklichte Unrecht abgesichert. Die Gesellschaft – und insbesondere das Opfer – haben aber ebenso ein Interesse genau dieses wenigstens festgestellt zu wissen. Die Vollstreckungslösung findet diesbezüglich einen Interessensausgleich. Die Annahme, dass dem Verteidiger „Gestaltungsmasse“, im speziellen für Absprachen, verloren geht, sei in ihrer Wahrhaftigkeit unbenommen. Nicht zuletzt sollte man den (wichtigen) Beschleunigungsgrundsatz nicht im Vergleich zu anderen Verfahrensprinzipien überbetonen, dazu schon Tepperwien, NStZ 2009, S. 1 (5). 2021 Vertreten etwa von Hillenkamp, NJW 1989, S. 2841 (2842); ebenso Krehl/Eidam, NStZ 2006, S. 1 (10). 2022 Kritisch auch NK-StGB/Kett-Straub 5(2017), § 51 Rn. 49; Scheffler, ZIS 2008, S. 269 (275 f.); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 7(2017), Rn. 776; zur Systemwidrigkeit weiter noch dies. in früherer Auflage 4(2008), Rn. 443c. Eine „Doppelrelevanz“ und damit gar ein vollständiges Nebeneinander hält Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 167 für denkbar. Ähnlich wohl Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), 1 (74). 2023 Wie zuvor. 2024 Der Beschluss (Fn. 344) stellt das zwar nicht klar heraus. Alles andere wäre aber ein Bruch im System. Insoweit wäre die Kritik von Gaede, JZ 2008, S. 422, dann zutreffend. 2025 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 249 f. spricht von „abschließender Gesamtbetrachtung“.
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telbare (Tat-)Schuldrelevanz vorhanden ist; jedenfalls soweit man dem Konzept einer generalpräventiv imprägnierten Schuld im Sinne der hier postulierten zurechenbaren Rechtsfriedensstörung folgt. Über dieses ohnehin schon weit verstandene Unrechtssubstrat hinaus weitere individuelle Momente in die Schuldbetrachtung einzustellen, ist vom Wortsinn her sicherlich möglich. So mag es vorkommen, dass man dazu geneigt ist, bei besonderen persönlichen Umständen davon zu sprechen, dass eine bestimmte Sanktion (d. h. an und für sich angemessene Reaktion des Staates) die „persönliche Schuld übersteigt“, weil diese in der Gesamtbetrachtung aller Facetten zu hart erscheint. Diese Redeweise beruht implizit und unterschwellig auf einem Verständnis der Schuld als stets „gerecht“ verstandene Belastung – als Kehrseite des verwirklichten Unrechts. Metaphorisch gesehen kann Schuld demnach „nie mehr sein als jenes, was der Einzelne noch im Stande ist zu tragen.“ Man erkennt darin indes das Gedankengut jener klassischen Straftatlehren, die Schuld begrifflich in der Ontik auflösen wollen. Ein solcher Zugang zur Rechtsmaterie entspricht aber nicht (mehr) dem geltenden Legitimitätsverständnis. Ein tatschuldorientiertes Strafrecht gebietet eine strikte Anbindung an das schuldhaft verwirklichte Unrecht. Es ist auch nicht klar, wie eigentlich tatfremde Aspekte in persona des Täters die Tatschuld (noch) verändern können sollen.2026 Die Lösung setzt im Grunde voraus, dass neben der Tatschuld eine weitere, explizit unbenannte (?) Schuldkategorie existiert. Eine solche Duplizität von Systembegriffen ist aber zu vermeiden. Obendrein ist die Integrierung in den Schuldbegriff zudem unnötig. Der wesentliche Sachaspekt liegt in der Vermeidung von unangemessenen Härten zur Schaffung von Belastungsgerechtigkeit. Das ist ein leitender Grundgedanke des Tagessatzsystems bei der Geldstrafe. Tagessatz und -höhe sind zu trennen um letztlich Opfergleichheit herzustellen, weil ansonsten das Sanktionsziel (Konsumverzicht2027) verfehlt würde. Diese Rückanbindung an den Zweck findet auch schon bei der eigentlichen Bemessung statt. In Rekurs auf die generalpräventive Strafbegründung soll die Sanktion nur das an Strafe auferlegen, was zur Wiederherstellung (oder Neubegründung) des Vertrauens in die verletzte Norm erforderlich ist.2028 Verkürzt gesprochen geht es um die Bestimmung des zweckerforderlichen Strafmaßes. Grundsätzlich kann eine staatliche Reaktion, die der Proportion des verwirklichten Unrechts in der Höhe des Strafmaßes Geltung verschafft als erforderlich gelten. Trotz einer Erforderlichkeit genau dieser Strafe kann die Verhängung der Sanktion gegen den Täter in Anbetracht besonderer Umstände aber unverhältnismäßig erscheinen. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB verschafft insofern Raum für individuelle Fallgruppen der Angemessenheit oder der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Auf die Haftung des Täters in voller Höhe der eigentlich verwirkten Schuld wird dann verzichtet. Nicht auszuschließen ist indes, dass täterindividuelle Umstände dazu führen können, dass bereits der Rechtsfrieden per se in der gemeinschaftlichen 2026 Problematisch daher, die Strafzumessungsschuld an die Empfindlichkeit der Sanktion zu koppeln, so bei G. Schäfer, FS Tröndle (1989), S. 395 (397). 2027 MüKo-StGB/Radtke 4(2020), § 40 Rn. 11. 2028 So auch Frisch, FS Jareborg (2002), S. 207 (227).
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Anschauung weniger in Mitleidenschaft gezogen wird. Systematisch müsste man daher annehmen, dass bereits das verschuldete Unrecht dann geringer ist. Theoretisch ist daher Schuldverringerung von einem „Sanktionssurrogat“ zu unterscheiden.2029 In der Diskussion gehen beide Aspekte häufig in der Rede von der Schuldangemessenheit der Rechtsfolge (insgesamt) auf. Die Übergänge von solchen Fallgestaltungen sind freilich fließend. Eine eindeutige Zuordnung mag da schwerlich immer sicher gelingen. Nicht vergessen werden darf, dass Leitprinzip differentieller Strafzumessung stets der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sein muss. Festgestellt wird danach nämlich nur, ob gerade die Relation von Schuld und Rechtsfolge angemessen ist. Es streitet daher grundsätzlich die Vermutung dafür, dass zwei vergleichbare Unrechtssachverhalte auch das gleiche Strafmaß nach sich ziehen müssen.2030 1. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters a) Soweit gemeinhin die „persönlichen Verhältnisse“ als Schuldaspekte herangezogen werden,2031 ist dies trotz den vorhergehenden Ausführungen regelmäßig nicht falsch, freilich aber unpräzise. Zum einen steckt hinter dem Verweis auf die persönlichen Verhältnisse eine verkürzte Schilderung einer objektiv zu beurteilenden Sachlage. Der Verweis auf Sozialisationsbedingungen, Bildung, Gesundheitszustand oder sonstige Lebensverhältnisse kennzeichnen in aller Regel schon eine bestimmte Motivlage. Ob ein Täter eines Vermögensdelikts arm oder reich ist, kann für das Strafrecht kaum relevant sein. So gestellt handelt es sich um keine rechtserhebliche Frage. Für die Bewertung einer Tatentscheidung sieht dies anders aus, da über die Motivbestimmung zum Beweggrund der Tat vorgedrungen wird. So macht es einen Unterschied aus, ob der Täter aus wirtschaftlicher Not heraus gehandelt hat oder aus Habgier. Dieser Unterschied berührt aber schon das Unrecht. Hier und auch in anderen Fällen wird sich ein Anknüpfungspunkt in den tatbezogenen Katalogtatsachen des § 46 Abs. 2 StGB finden lassen. Methodisch gleicht die rechtliche Aufarbeitung dann der von Entschuldigungsgründen. Schon die Situation selbst kann einem entschuldigenden Sachverhalt (§ 35 StGB) nahe kommen. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist, wird geprüft, ob die Haftung bzgl. einer generell gültigen Verbotsnorm unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit eingeschränkt werden kann. Stellt sich die Situation so dar, dass die Bewertung des Rechts als rechtswidrig zwar richtig erscheint, die Erwartung der Normbefolgung aber zurückgefahren ist, weil ausge-
2029
Kaum explizit bezeichnet, vgl. Streng, FS Jung (2007), S. 959 (960 f.). Soweit keine besonderen Umstände vorliegen, erschöpft sich eine Betrachtung in einer proportionalen Unrechtsgewichtung. 2031 LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 15; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3 (2012), Rn. 569 f. 2030
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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hend von einer Normalverteilung2032 prinzipiell jeder Mensch in der Situation des Täters so handelte, dann gibt das den Mechanismus von Entschuldigungsgründen wieder. Analog den Entschuldigungsgründen sind deshalb also individuelle Situationen zu objektivieren. Zum anderen können persönliche Verhältnisse auch Zurechnungsdefizite begründen. Dann sollten aber die Zurechnungsdefizite genau herausgearbeitet und eben als solche benannt werden. Fehlendes Unrechtsbewusstsein (§ 17 StGB) oder trunkenheitsbedingte Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) sind im Wortsinne auch „persönliche Verhältnisse“; sie werden aber nicht auf diese Weise im Recht artikuliert. Die Trennung dieser Denkschritte hilft dabei, den Strafmaßfindungsprozess genauer zu strukturieren. Die häufig anzutreffende Formulierung, die Strafzumessung beruhe nicht nur auf einer Bewertung des Tatgeschehens, sondern auch der Täterpersönlichkeit,2033 ist also bestenfalls ein strafzumessungsrechtlicher Pleonasmus. Das Urteil wird getragen von einer Tatbewertung. b) Diese Ausführungen machen deutlich, dass eine solche Persönlichkeitswürdigung, die den Schuldgehalt einer Tat über Eigenschaften einer Person zu ermitteln versucht, rechtlichen Bedenken begegnet. Diskussionsposten, die unmittelbar2034 an dispositionelle Eigenschaften der Person anknüpfen, sind für die Schuldbetrachtung stets irrelevant. So stellt die häufig diskutierte Ausländereigenschaft bzw. ethnische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als solche keinen Strafzumessungsgrund dar. Allenfalls ist denkbar, dass aus fremden oder subkulturellen Einflüssen eine eingeschränkte Zurechnung von Unrecht erwächst. Gleichfalls können aus Gleichheitsgesichtspunkten die soziale Stellung des Täters oder etwaige Verdienste keine Beachtung finden.2035 c) Als eigentlicher Anknüpfungspunkt und systematischer Ort für eine Persönlichkeitswürdigung bleibt dann die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Sanktion. Auszugehen ist dabei davon, dass die auszugleichende Rechtsfriedensstörung ohne Ansehung der Person zu beziffern ist. Das staatliche Strafinteresse ist bei unveränderten Ausgangsbedingungen also stets gleich. Der Eingriffscharakter der zu bemessenden Sanktion dagegen mag von Person zu Person variieren. Im Anschluss an Henkel2036 wird dies unter dem Phänomen der Strafempfindlichkeit2037 2032 Ausgegangen werden sollte stets von einer realistisch-verständnisvollen Interpretation. Nicht vorausgesetzt wird, dass wirklich jeder einzelne so handelte. Ein Determinismus dieser Art überforderte die Rechtsordnung. 2033 Nachweise dazu bei MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 117. 2034 D. h. eine Rückführung auf Sachausaspekte gemäß den Überlegungen in a) misslänge. 2035 Allenfalls wäre mit Frisch, ZStW 99 (1987), S. 750 (765) zu erwägen, ob eine Stellung Auswirkungen auf die Zurechnung i. S. v. gesteigerter Vermeidemacht haben kann. Versteht man die Frage faktisch in Bezug auf das voluntative Schuldelement, dann ist die Stellung allenfalls ein Beweisindiz für ein Vorliegen der postulierten Fähigkeit, nicht dagegen die Beweistatsache selbst. Normativierte Vermeidemacht indes verweist auf das „Maß der Pflichtwidrigkeit“. 2036 In: FS für H. Lange (1970), S. 179 ff. Dort als „Fühlsamkeit … des Übels“ (S. 179). 2037 Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 196 ff.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
diskutiert.2038 Die Intention, die Strafe nach individuellem Strafleid auszurichten, scheint zunächst als Forderung des Gleichheitsgebots erforderlich.2039 Bei genauerem Hinblick sind diesbezüglich aber Zweifel anzumelden. Das Problem ist, dass die Privilegierung einer Gruppe regelmäßig in der Diskriminierung einer anderen münden kann. Von dieser Sichtwarte aus scheint der Gleichheitsgrundsatz eher gegenteilig Differenzierungsverbote auszusprechen. Denn die eigentliche Schwierigkeit liegt in der Quantifizierung von Strafleid. Von einer Gleichverteilung lässt sich nur sprechen, wenn man die Wirkung der Strafe zuverlässig bestimmen kann. Nun sei unbestritten, dass die Familienverhältnisse, das Alter und der Gesundheitszustand etc. faktisch dazu führen können, dass der Verurteilte die Strafe unterschiedlich aufnimmt. Die Frage ist nur, wie der Staat diesem Phänomen gerecht werden kann. Im Falle der Geldstrafe, deren ratio im erzwungenen Konsumverzicht zu suchen ist, erlaubt das Tagessatzsystem eine Reaktion im Hinblick auf den realen Konsum. Da gerade kein Ablasshandel nach Façon eines Tausches Unrecht gegen Geld erfolgen soll, hat es durchaus Sinn, darauf zu schauen, dass realiter ein Konsumverzicht eintritt. Die Berücksichtigung der Einkommenssituation ist insoweit gerecht.2040 Das Prinzip funktioniert letztlich jedoch eben wegen seines materialisierten Ansatzes. Geld kann in (individuelle) Kaufkraft übersetzt werden. Ein Abstraktum wie Freiheit dagegen zu gewichten stellt die Rechtsordnung vor im Grunde unlösbare Probleme. Am Beispiel des diskutierten Strafnachlasses bei fortgeschrittenem Lebensalter2041 stellt sich etwa das Problem, die geringe Lebenserwartung zu beziffern. Befürworter einer „Altersmilderung“ müssten folglich ein solches „Eintrittsalter“ definieren. Pauschallösungen wie im Jugendstrafrecht sind da durchaus denkbar, aber fehlt ihnen dafür die grundsätzliche Rechtfertigung. Das Rentenalter wäre kein sachliches Äquivalent zur Volljährigkeit. Fraglos könnte ferner eine statistische Lebenserwartung ermittelt werden, doch erscheint eine Anpassung im Einzelfall kaum stringent möglich.2042 Ohne eine verlässliche quantifizierende Formel (wie beim Einkommensprinzip) führt kein Weg daran vorbei, zunächst von einer normativen Gleichwertigkeit auszugehen. Im Hinblick auf den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) täte der Staat gut daran, sich in der Altersfrage einem
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Dass die Diskussion – aus hiesiger Sicht – fälschlicherweise und dem Schuldaspekt abgehandelt wird, ist für die sachliche Berücksichtigung der Tatsache ohne Belang. 2039 So MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 118. 2040 Zu Recht werden die „wirtschaftlichen Verhältnisse“ des Täters daher hauptsächlich auf die Geldstrafe bezogen, etwa bei MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 122. 2041 Dafür z. B. Dalquen, Die Strafzumessung bei Angeklagten mit geringer Lebenserwartung (2003), S. 207 f.; Nobis, in: Brauchen wir ein neues Strafrecht? (2008), S. 109 (120), ders., NStZ 2006, 489 (490 ff.). 2042 Dafür fehlt ein Maßstab, Detter, Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV (2009), S. 275 (286). Die „individuell-statistische“ Lösung bei Nobis, NStZ 2006, 489 (490) spiegelt genau dieses Problem wider. Die Strafzumessungsproblematik wird dabei auf Mikroebene reproduziert. Der „statistische Regelfall“ sagt zu wenig aus, um allein mit ihm arbeiten zu können.
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Urteil zu enthalten.2043 Für individuelle Strafempfindlichkeit bleibt dann grundsätzlich kein Raum,2044 so denn die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe ausscheidet. Ohnehin bleibt zu überlegen, ob dieser Aspekt nicht generell Angelegenheit des Vollstreckungsrechts – so wie partiell in §§ 455, 456 StPO geregelt – ist und dort aufgehoben gehört.2045 d) Diese strafrechtsdogmatischen Erwägungen müssten bei der Begründung einer Unverhältnismäßigkeit einer Sanktion prinzipiell überwunden werden. Inwieweit das dennoch faktisch möglich und praktisch relevant ist, kann hier getrost offenbleiben. Gerade wenn man das aktuelle Instrumentarium des Vollstreckungsrechts für unzureichend hält, nötigt dies verfassungsrechtlich einen Ausgleich zu schaffen. Eine solche Einzelfallkasuistik entzieht sich allerdings einer systematischen Lösung und bleibt hier außen vor. 2. Folgen der Tat für den Täter, insb. „Strafsurrogate“ Nicht nur die persönlichen Verhältnisse, sondern auch die direkten Folgen einer Straftat (resp. Verurteilung) können über die Verhältnismäßigkeit einer Sanktion entscheiden. 2043 Faktisch enthielte ein Urteil dann „Feststellungen“ zum prognostischen Lebensalter. Im Lebensalltag wäre eine solche Überlegung amoralisch und pietätlos. Es fragt sich dann, mit welcher Berechtigung der Staat solche „Lebensbilanzen“ aufstellen will. 2044 Zum Aspekt Lebensalter wie hier deshalb Detter, a. a. O., ferner in: Brauchen wir ein neues Strafrecht? (2008), S. 125 (136). Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld (1992), S. 304 ff. (310); SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 121; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (1999), S. 167 ff., 341 ff.; Müller-Dietz, FS Spendel (1992), S. 413 (428); Schaumann, Alter, Krankheit und Behinderung im deutschen Strafrecht (2001), S. 78 ff.; 98; Streng, NStZ 1988, S. 485 (487); ders., in: Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus (1995), S. 279 (290); ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 721; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 83 III 2a, S. 890 f.; Weßlau, StV 1999, S. 278 (283 f.). Siehe ferner Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3 (2018), Kap. 13 Rn. 15, der die prinzipielle Ablehnung der Strafempfindlichkeit ggf. für die „Herstellung“ bewährungsfähiger Straflängen zu Gunsten des Täters durchbrechen möchte. Anders handhabt die Berücksichtigung der Empfänglichkeit die st. Rspr., Nachweise bei Schäfer, FS Tröndle (1989), S. 395 (395 f.) und passim. Aus dem weiteren Schrifttum auch Frisch, FS Kaiser (1998), S. 765 (772); ders., FS Jareborg (2002), S. 207 (226), der keine Differenzierung anstellt. Problematisch ist vor allem die Annahme, bereits die generalpräventive Begründung der Strafe erfordere eine sensitive Opfergleichheit, so indes bei HartHönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 136. M. E. trüge jede Abweichung von der eigentlich verwirkten Strafe die Begründungslast, weil eine allgemeine gesellschaftliche Erwartung wohl eher eine formale Gleichbehandlung vor Recht und Gesetz beträfe. 2045 Die „Trennungsthese“ vertritt auch Weßlau, StV 1999, S. 278 (282). Insbesondere wenn der Härteausgleich nicht über die Strafartwahl (Aussetzung zur Bewährung inbegriffen) erreicht werden kann, taucht dieses Problem auf. Einstweilen ist zu konstatieren, dass wenn solche Probleme vom Vollstreckungsrecht nicht aufgegriffen werden, dies insoweit dessen Unzulänglichkeit(en) aufzeigt. Wie schon bei der Dynamik der Rechtsfriedensstörung ausgeführt sind die Möglichkeiten „post iudicium“ noch unterentwickelt, 2. Kapitel, B. II. 3.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
a) Gesetzlicher Ausdruck einer Folgenbetrachtung ist § 60 StGB. Danach ist von einer Strafe abzusehen, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre (§ 60, S. 1 StGB). Das Strafmaß wird auf Null gesetzt.2046 Der Gedanke der evidenten Verfehlung meint eine gedankliche Zweckverfehlung von Strafe.2047 Auch wenn sie häufig als Paradebeispiel fehlender Straferforderlichkeit deklariert wird, sollte der eigentliche Sachgrund nicht aus der Betrachtung verdrängt werden: die Plausibilität der Regelung baut darauf auf, dass man den Täter bereits ausreichend „gestraft“ sieht und die Rechtsfriedensstörung insoweit ausgeglichen ist. Nur unter der Voraussetzung einer Minderung der Rechtsfriedensstörung ist dieses Vorgehen schlüssig. Ohne den Grundgedanken einer poena naturalis kommt keine zweckorientierte Erklärung aus, denn andernfalls bliebe offen, warum die Strafnotwendigkeit entfallen sei. Dass infolge einer „Umwidmung“ dieser Folgen die finale Übelzufügung ausbleibt, ist vom Blickpunkt der generalpräventiven Aufgabe des Staats unschädlich.2048 Das Strafübel ist zwar stets ein eigenständiger Grundrechtseingriff, hat aber normtheoretisch dienende Funktion: die staatliche Missbilligung im Schuldspruch soll verdeutlicht werden. Selbständige Bedeutung hat das Übel nur im Geiste des ius talionis. Ein Gleichgewicht durch Vergeltung wird im modernen Strafrecht aber nicht mehr angestrebt. Ist der Zweck, die Normverdeutlichung, bereits anderweitig eingetreten, bedarf es dieser Normverdeutlichung durch Übel nicht mehr.2049 § 60 StGB wird insofern als Ausdruck der Verhältnismäßigkeit gesehen.2050 Einen Automatismus der Sanktionsmilderung bei tätereigenem Schaden gibt es freilich nicht – gerade weil der Zweck einer Verhängung der Strafe nicht mehr vornehmlich in der Spezialprävention gesehen wird. Den Lerneffekt auf Seiten des Täters („schmerzlich an eigenem Leibe erfahren“) könnte der Staat synthetisch wohl kaum besser herstellen. Ob dies für den Rest der Allgemeinheit genauso gilt, mag mit einem Fragezeichen versehen werden. Immerhin wird man berücksichtigen müssen, dass die Evidenzfälle schon über § 153b Abs. 1 StPO ausgeschieden werden können.2051 Der Erweiterung zu einem allgemeinen Leitprinzip ist deshalb mit Vorsicht zu begegnen. Der Gedanke des „Selbstverschuldens“ wird eine Strafmilderung per se nicht untersagen können. Insofern gilt zu Recht, dass die Kenntnis der Folgen nicht schulderhöhend wirkt.2052 Zum einen, weil derartiges Verschulden für alle vorher2046
Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 711. Stv. Hassemer, FS Sarstedt (1981), S. 65 (67); Frisch, FS Jareborg (2002), S. 207 (228). 2048 Abweichend Schork, Ausgesprochen schuldig (2005), S. 170 ff., 178, und Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 759. 2049 Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (302). 2050 Kaspar, a. a. O., S. 289. 2051 Kriterien zur Abschichtung bei Wolter, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, (1996), S. 1 (37). 2052 BGHSt 44, 125 (126) – Schwangerschaft. 2047
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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sehbaren Folgen durch die Zurechenbarkeit der Tat ohnehin systematisch vorgegeben ist. Ein gesonderter Gesichtspunkt erwächst daraus regelmäßig nicht. Eine Strafschärfung wäre ohne erhöhtes Unrecht im Ansatz verfehlt.2053 Zum anderen steht der Grad der Vorhersehbarkeit nicht unmittelbar in Zusammenhang mit der Belastungswirkung. Es geht im engeren Sinne nämlich weder um einen „Mitleidsbonus“ noch um Abstrafung von an den Tag gelegter „Dummheit“. Mittelbar kann dies allerdings Bedeutung erlangen, denn der Grad der Wissentlichkeit kann durchaus Aufschluss darüber geben, ob die vermeintlich schwere Folge überhaupt als lehrreiches Leid empfunden wird. Je stärker das Kalkül in der Tat liegt, desto weniger wird der Gedanke der Verhältnismäßigkeit tragend werden: nämlich den Täter ungerechtfertigt mit der Schwere der Sanktion zu belasten. Auch jene Folgen, die als unmittelbare Kehrseite des Tatunrechts auftreten, verdienen unter dem Gedanken eines Paradoxieverbots in aller Regel keine Anerkennung.2054 Denn Nachteile, die in der Begehung einer Tat selbst bereits angelegt sind, wie etwa Hemmung der beruflichen Karriere und Ansehensverlust bei Bekanntwerden, Schadensersatzansprüche sowie Verfahrenskosten2055 sind Ausfluss des allgemeinen Gedankens, dass sich ein Verstoß gegen das Gesetz rational nicht lohnen soll. Als Differenzierungskriterium einer Sanktion taugt das dann aber nicht, da dieser Fundamentalsatz normativ immer gilt. Nur in Ausnahmefällen, in denen das Eintreten solcher Folgen oder jedenfalls deren Ausmaß nach menschlichem Ermessen nicht vorhersehbar gewesen sind, lässt sich ein Strafnachlass diskutieren. Das Hauptanwendungsfeld sind daher Fälle, in denen aus der Täterperspektive die Folge auf Fahrlässigkeit beruht. Das sind zunächst einmal die Fahrlässigkeitsdelikte selbst. Es sind aber auch zahlreiche Fälle (insb. Verkehrsdelikte) denkbar, in denen die Folgen gar nicht angestrebt bis vollständig unerwünscht sind. b) Im fortschreitenden Informationszeitalter gewinnt vor allem das Phänomen der Medienöffentlichkeit, die ein Strafverfahren begleitet, perspektivisch zunehmend an Bedeutung. Die Frage ist, inwieweit „mediale Vorverurteilung“ (bereits) als Strafsurrogat gelten kann. Da sich zwar auf der einen Seite eine gewisse Haltlosigkeit in der öffentlichen Diskussion beobachten lässt („Shitstorm“), andererseits das Interesse mit der Tagesaktualität schnell schwindet, liegt die Sachlage anders als bspw. bei § 60 StGB. Die Strafwirkung, insbesondere aber deren Nachhaltigkeit, bedarf also insofern noch genauerer Untersuchung. Eine Berücksichtigung erscheint zwar möglich,2056 sollte aber aufgrund des unklaren Wirkungsmechanismus zurückhaltend 2053
LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 18.7. Streng, FS Jung (2007), S. 959 (967); ders., FS Beulke (2015), S. 489 (502). Ferner Terhorst, JR 1989, S. 184 (187 f.); abweichend Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 95 f., der die Schulderhöhung (bewusstes Handeln) gegen die Folgenbetrachtung (Milderung) austarieren will. Ein „Eigenverschulden“ derart ist wie gezeigt unrechtsirrelevant. 2055 Vgl. die Aufzählung bei Terhorst, JR 1989, S. 184 (186). 2056 StGB-Fischer 62(2015), § 46 Rn. 63; deutlich restriktiver MüKo-StGB/Miebach 2 (2012), § 46 Rn. 108 und Roxin, NStZ 1991, S. 151 (152). 2054
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
betrachtet werden. Der Staat hat ein Interesse an einer formalisierten, rationalen Abwicklung des Strafverfahrens. Es ließe sich sogar an staatliche Schutzpflichten denken. Zu denken ist etwa an eine moderate Informationspolitik – etwa im Sinne Ziff. 23 RiStBV – justizieller Presseabteilungen. So denn ein rechtswidriges Verhalten des Staats auszumachen ist, könnte dies ein Verstoß gegen das Recht auf ein unabhängiges und faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) begründen. Insoweit könnten die Überlegungen zum überlangen Verfahren übertragen werden. Allerdings ist die Öffentlichkeit in toto in dieser Bandbreite kaum beherrschbar,2057 so dass ein staatlich zurechenbares Unterlassen einigen Begründungsaufwand erwarten lässt.2058 Auch sollte das Aufkommen von Litigation-PR2059 auf Beschuldigtenseite in Rechnung gestellt werden. Dieses kürzlich entdeckte Gestaltungspotential legt auch viele potentielle Probleme in das strategische Geschick der Verteidigung. Einem Härteausgleich ist deshalb distanziert gegenüberzutreten. c) Aus einer Straftat können neben der Strafe an sich weitere Rechtsnachteile erwachsen. In zahlreichen Gesetzen sind statusrechtliche Folgen für den Fall einer bestimmten verwirkten Strafe vorgesehen.2060 Neben § 45 Abs. 1 StGB sind vor allem beamten- oder ausländerrechtliche2061 Folgen zu nennen. Im Gegensatz zu den „natürlichen“ Folgen ergibt sich hier die Besonderheit, dass die Härte durch den Staat selbst veranlasst ist. Aus dieser intendierten Wirkung lässt sich dogmatisch im Grunde ableiten, dass eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung im Grunde fehl am Platze sein müsste.2062 Das gilt jedenfalls, wenn aus einer bestimmten Strafhöhe eine gesonderte Tatbestandswirkung erwächst. Denn damit würden die formalen Hürden einer anstehenden Statusentscheidung zwangsläufig unterlaufen. Es kommt dann zu der kuriosen Situation, dass die strafmildernde Folge, die entscheidend bei
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So bereits Weigend, FS Rolinski (2002), S. 253 (271). Hassemer, NJW 1985, S. 1921 (1928) verneint insoweit Parallelen zur Verfahrensverzögerung bzw. zum agent provocateur. 2059 Litigation-PR beginnt gerade erst wissenschaftlich erschlossen zu werden. Dazu Volker Boehme-Neßler (Hrsg.), Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung (2010); Mark Eisenegger/Stefan Wehmeier (Hrsg.), Personalisierung der Organisationskommunikation. Theoretische Zugänge, Empirie und Praxis (2010); Ines Heinrich, Litigation-PR – PR vor, während und nach Prozessen. Perspektiven – Potenziale – Problemfelder (2010); Lars Rademacher/Alexander Schmitt-Geiger (Hrsg.), Litigation-PR: Alles was Recht ist. Zum systematischen Stand der strategischen Rechtskommunikation (2012); zum Reputationsmanagement von Verteidigerseite etwa: Stephan Holzinger/Uwe Wolff, Im Namen der Öffentlichkeit – Litigation-PR als strategisches Instrument bei Auseinandersetzungen. (2009); Peter Engel/Walter Scheuerl, Litigation-PR. Erfolgreiche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit im Gerichtsprozess (2011). 2060 Überblick dazu jüngst bei Sobota, Die Nebenfolge im System strafrechtlicher Sanktionen (2015) mit historischem Abriss (S. 70 ff.) und gesetzlichen Anwendungsbeispielen nebst weiteren Nebenfolgen (S. 161 ff.). 2061 Synopse der möglichen Folgen bei Jung, StV 2004, S. 567 (569 f.). 2062 Vgl. Nelles, JZ 1991, S. 17 (20, 24) zu § 45 StGB; Sobota, Die Nebenfolge im System strafrechtlicher Sanktionen (2015), S. 212 f. 2058
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der Strafzumessung Berücksichtigung findet, gar nicht mehr eintreten könnte.2063 Die Folge im Einzelfall zu verhindern bedeutete streng genommen eine antizipierte verwaltungsrechtliche Entscheidung auf strafrechtlicher (!) Grundlage. Hier muss man fragen, ob diese Praxis nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers stattfindet, denn offenbar sind diese Folgen staatlich gewollt. Zumindest wäre jedoch einem Spruchkörper, dem die Entscheidung obliegt, gedanklich immer eine inzidente Richtigkeitsprüfung jener verwaltungsrechtlichen Entscheidungen abverlangt. Das ist aber grundsätzlich außerhalb der strafrichterlichen Entscheidungskompetenz und vom Gewaltenteilungsprinzip nicht vorgesehen. Sollte es dennoch zutreffen, dass manche Rechtsfolgen – etwa die zwingende Ausweisung in § 53 AufenthG oder Beendigung des Beamtenverhältnisses in §§ 41 Abs. 1 BBG, 24 Abs. 1 BeamtStG (früher BRRG) – dem Gebot der Verhältnismäßigkeit widersprechen, dann liegt der Fehler aber eben genau dort, in jenem Gesetz, begründet.2064 d) Für inhaltliche Überschneidungen mit dem beamtenrechtlichen Disziplinarrecht heißt das im Ausgangspunkt zunächst eigentlich nichts anderes. Das Problem liegt hier dennoch in der gesonderten Ahndung des Staats, die im Hinblick auf das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) zu prüfen ist, obwohl per definitionem das Disziplinarrecht nicht unter die „allgemeinen Strafgesetze“ fällt.2065 Zweifel bestehen aber daran, ob es sich bei dieser Form der Ahndung tatsächlich um ein Aliud zur Kriminalstrafe handelt. Die Rechtsnatur der Disziplinarmaßnahme wird selten im Kontext ihrer Berechtigung erörtert, was wohl als Relikt der im „besonderen Gewaltverhältnis“ verbrieften Selbstverständlichkeit zu vermuten ist.2066 Vor allem die Verknüpfung des mahnenden Pflichtenaufrufs mit einem finalen 2063 Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 63; Streng, NStZ 1988, S. 485. Dennoch in genau dieser Konsequenz bestätigt von BGHSt 35, 148 (151) – Verlust der Beamteneigenschaft (BGH, Urt. v. 16. 12. 1987 – 2 StR 527/87). 2064 Das gilt auch für ausländerrechtliche Folgen. Jedenfalls ist der Hinweis auf die „Vernichtung der inländischen Existenz“ bei Nitz, StraFo 2002, S. 316 (317) und J. Schmidt, Verteidigung von Ausländern 3(2012), S. 86 zu universell. Als Argument per se kann das erstens auch auf Inländer zutreffen. Als ein Vorhalt von Diskriminierung wäre dieser im Übrigen an das Verwaltungs(fach)recht zu richten, denn dieses statuiert Sonderregeln gegenüber Ausländern. Dass das Verwaltungsrecht sich dieser Problematik in der Praxis wenig annimmt, so Nitz, a. a. O., S. 318 mag stimmen, ändert aber die Prämisse nicht. Vom Institut Strafe her kann eine Differenzierung nach Staatsangehörigkeit nicht stattfinden. Für eine allgemeine, nachträgliche Restitutionsmöglichkeit nach dem Vorbild des § 45b StGB tritt Sobota, Die Nebenfolge im System strafrechtlicher Sanktionen (2015), S. 240, ein. De lege ferenda ist vieles denkbar. Allerdings müssen systematisch zwei Bereiche auseinandergehalten werden: Regelungsmaterie und Anordnungskompetenz. Maßregeln i. S. v. § 63 StGB bspw. sind sachlich Gefahrenabwehrrecht und liegen nur kraft Sachzusammenhangs beim Strafrichter. Die Frage ist dann, ob genuin verwaltungsrechtliche Entscheidungen beim Strafgericht konzentriert werden müssen. 2065 S. nur GG-Dreier/Schultze-Fielitz 2(2008), Art. 103 III Rn. 22; S/H/H-GG/Schmahl 12 (2011), Art. 103 GG Rn. 42. 2066 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 3/16 ff., dazu die umfangreichen Nachweise a. a. O. vor Rn. 11. Alle sind älteren Datums. Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Disziplinarrecht ursprünglich gar die strafrechtlichen Aufgaben wahrnahm, Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 3/
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Übel2067 übersteigt die Warnungsintention eines gewöhnlichen Arbeitgebers im Übrigen (Abmahnung) doch im beträchtlichen Maße. Ob in der nunmehr „Sonderstatusverhältnis“ genannten Rechtsbeziehung alteinher gebrachte Grundsätze trotz Berufung auf eine spezielle Loyalitätspflicht fortgelten können, erscheint nicht so einfach dargetan. Für ein „Sonderstrafrecht“ ist bei gleichzeitiger Aufgabe des „besonderen Gewaltverhältnisses“ eigentlich kein selbständiger Legitimationsgrund erkennbar.2068 Umgekehrt müssen Erleichterungen im allgemeinen Strafrecht für etwaige Betroffene für den Rest der Gemeinschaft als ungehörige Privilegierung vorkommen.2069 Denn an der Tatschuld ist – vorbehaltlich etwaiger qualifizierender Unrechtsmerkmale – kein Unterschied auszumachen.2070 Allenfalls nicht zu beanstanden ist es, wenn bereits verhängte Disziplinarmaßnahmen bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, soweit bereits das Disziplinarrecht einen Teil der Rechtsfriedensstörung beseitigen konnte. An der Wirklichkeit administrativer Aufgabenverteilung liefe das jedoch vorbei. Die Internalität solcher Prozesse steht dem Gedanken eher entgegen. Von einer Zweckverschiedenheit (präventive Zurechtweisung vs. repressive Strafe) zu sprechen würde jedenfalls dem Anschauungswandel im Strafrecht nicht gerecht werden. Von daher wird man vorläufig Disziplinarmaßnahmen zumindest den Charakter eines Strafsurrogats zukommen lassen müssen. Im Hinblick auf § 46 Abs. 1 S. 2 StGB wird man diese speziellen „Wirkungen der Strafe“ nicht außer Betracht lassen dürfen.2071 Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung, aufgrund derer der Staat eine ganzheitliche Reaktion zu treffen habe, ist daher eine Berücksichtigung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns eigentlich nicht zu vermeiden. Offen-
12 f.; Mestek-Schmülling, Mittelbare Straftatfolgen und ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung (2004), S. 105 (Fn. 414). Ob eine Emanzipation stattgefunden hat, steht nicht außer Zweifel. Das Zusammenspiel der Artt. 72 I, 74 I Nr. 1 GG produziert dann Folgefragen, nämlich inwieweit landesrechtliches Disziplinarrecht mit Strafrechtskompetenzen interferiert. 2067 Vgl. bspw. § 5 BDG, herausgearbeitet bei Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 39 ff. 2068 S. auch Mestek-Schmülling, Mittelbare Straftatfolgen und ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung (2004), S. 110 im Hinblick auf Art. 103 III GG. 2069 Müller-Dietz, FS Spendel (1992), S. 413 (431); Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 55. 2070 Streng, NStZ 1988, S. 485 (486). 2071 I. E. auch Streng, NStZ 1988, S. 485 (487). Weiter gehend Mestek-Schmülling, Mittelbare Straftatfolgen und ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung (2004), S. 114, die je nach Priorität eines Verfahrens wechselseitige Verfolgungshindernisse (Art. 103 III GG in extenso) befürwortet. Abweichend demgegenüber Peglau, wistra 2016, S. 289 (291), der den Wortsinn von § 46 I 2 StGB betont: außerstrafrechtliche Maßnahmen seien keine Wirkung der Strafe selbst. Exegetisch nachvollziehbares Ergebnis, erst Recht, wenn man die Finalität des Strafakts betont. Doch mag man hier den Rechtsbefehl im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weiter verstehen. „Wirkungen der Strafe“ sind dann umfassend zu verstehen als „Wirkungen des Strafverfahrens“ bzw. „strafrechtlicher Ahndung.“
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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kundig wird aber auch, dass dieses undurchsichtige Nebeneinander der Systeme dringend einer Ausbalancierung und Harmonisierung bedarf.2072 e) Vom Grundsatz her unbeachtlich müssen die zivilrechtlichen Nachteile sein. Zivilrechtliche Haftung als Folge der Straftat dient der Kompensation eines begangenen Unrechts zwischen zwei Privatrechtssubjekten, während die Strafe ein final gesetztes staatliches Übel zur Verhaltenskorrektur aufgrund eben dieser Straftat sein soll. Die Belastungen, die aus der zivilrechtlichen Haftung erwachsen, sollen nur den Zustand wiederherstellen, der ohne die Straftat bestünde. Normativ besehen kann dieser „natürliche“ Zustand kaum als ein Strafsurrogat oder unverhältnismäßige Belastung gelten. Dieser Wiederherstellungsgedanke kann auch wie öffentlichrechtlich begründete Schuldverhältnisse herangezogen werden, so z. B. an die Nachzahlungspflicht im Steuerrecht (§§ 71, 235, 240, 371 Abs. 3, 398a AO). Gerade im Wirtschaftsverkehr kann es dazu kommen, dass mit Aufdeckung der Ungesetzlichkeit Schadensersatzansprüche abrupt, in großer Anzahl und in großem Umfang entstehen können. Die Folgen können für ein Unternehmen dann durchaus ruinöse Dimensionen annehmen, etwa der Ausfall einer D&O-Versicherung (§ 81 VVG) oder die Versagung der Restschuldbefreiung, § 290 Abs. 1 InsO. Daher wird immer wieder auch eine Berücksichtigung solcher Folgen bei der Strafzumessung als Forderung erhoben.2073 Aus einer solchen „Mehr“-Belastung einer möglichen wirtschaftlichen Krise ist allerdings an sich keine Strafreduktion angezeigt. Denn „wirtschaftlich“ gedacht verwirklicht sich nur das Risiko, welches man in Anbetracht eines wirtschaftlichen Nutzens bei Begehung der Straftat eingegangen ist. Dieses Risiko soll mithin genau die Abschreckung im Hintergrund bilden um solche Übervorteilung zu unterlassen. Insofern wäre ein Straferlass generalpräventiv kaum zu begründen. Mittelbar indes können wirtschaftliche Nachteile jeglicher Art bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, indem im Falle eines Geständnisses oder (unvollständiger) (Selbst-) Anzeige gerade die psychische Barriere solch drohender Nachteile im Rahmen des Nachtatverhaltens besonders zu würdigen ist. Mit anderen Worten kann besonders honoriert werden, dass der Täter den Weg zurück in die Legalität anstrebt, obwohl der Anreiz zur Aufklärung unbeachtet der möglichen Strafmilderung nicht besonders hoch anmutet. Das bedeutet allerdings auch, dass die
2072 Exemplarisch dafür steht die Ansicht, dass das Doppelverwertungsverbot nicht den disziplinarrechtlichen „Überhang“ umfasst, Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 3/19; Trennungsthese auch bei Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 90; Nolte, in: GG-Mangoldt/Klein/Starck 6(2010), Art. 103 Rn. 214. Was dieser Überhang genau ist und warum dieser dann einen Eingriff in die Rechte der Person erfordert, wird indes nicht deutlich gemacht. 2073 Jüngst etwa Jahn/Ebner, FS von Heintschel-Heinegg (2015), S. 221 (232).
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
konkrete Hemmungswirkung für den Einzelfall bestimmt werden muss. Das kann besonders für Absprachen im Strafverfahren problematisch werden.2074 3. Sanktionskonkurrenzen Pluralität von Rechtsfolgen kann schon auf strafrechtlicher Ebene auftauchen. Im Ausgangspunkt ähnelt die Entscheidungssituation der vorherstehenden Thematik. Die Rechtsfolge rechtfertigt sich regelmäßig in ihrem Anwendung auslösenden Grund. Die hier zu diskutierenden Konkurrenzen beruhen allerdings durchweg auf einer engeren inhaltlichen Verwandtschaft. Zudem ist die formale Entscheidungszuständigkeit beim Strafrecht konzentriert, so dass eine ganzheitliche Betrachtung prinzipiell näher liegt. a) Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB) sowie Einziehung (§ 73 StGB) Es ist in der Autarkie der Systeme angelegt, Maßregeln und Strafen selbständig zu bemessen. Jegliche Interdependenzen ließen sich also mit formeller Begründung zunächst abweisen. Dies vernachlässigte allerdings, dass die Zweispurigkeit über gesetzlich verankerte „Kreuzweichen“ überwindbar ist. Das anschaulichste Beispiel liefert das Prinzip des Vikariierens in § 67 StGB. Aber auch rein phänomenologisch schwindet die Einsicht in das Zweispurigkeitsdogma,2075 das sich nur fernab der Realität zu behaupten vermag, denn eine wirkliche, faktische Differenz von Strafe und Maßregel hat es in weiten Teilen nie gegeben und wird sich als Debatte trotz apodiktischer Bekräftigung eines Abstandsgebots durch das BVerfG2076 keinesfalls erledigen.2077 Diese Ausgangssituation führt zwangsläufig zu einer janusköpfigen Argumentation. Im Grundsatz (scil. als erster Denkschritt) ist die Strafe losgelöst von etwaigen Maßregeln zu bestimmen. Dieses Prinzip findet regelmäßig seine „planmäßige“ Durchbrechung,2078 so dass im Hinblick auf die Belastung der zu verbüßenden Maßregel die Verhältnismäßigkeit nur durch eine Berücksichtigung im Strafmaß gewahrt bleiben kann. Dabei muss deren ggf. ungewisse tatsächliche Dauer2079 zur Restriktion in der Berücksichtigung bei der Strafe anleiten.2080 2074 Die Hemmung wird bei „Anleitung“ zum Geständnis weniger authentisch darstellbar sein. Zum Problem des qualifizierten Geständnisses oben beim Nachtatverhalten, VI. 2075 Überblick zum status quo bei Höffler/Kaspar, ZStW 124 (2012), S. 87 (97 ff.). 2076 Urt. v. 4. 5. 2011 – 2 BvR 2365/09, u. a. – Abstandsgebot. 2077 Zusammenfassend Höffler/Kaspar, ZStW 124 (2012), S. 87 (117 ff.; 128 ff.); Zweifel auch bei Drenkhahn/Morgenstern, ZStW 124 (2012), S. 132 (196). 2078 Zu diesbzgl. Nachweisen in der Rspr. Weider, FS Rissing-van Saan (2011), S. 732 (740 ff.). 2079 Zu diesem Argument Mushoff, Strafe-Maßregel-Sicherungsverwahrung (2008), S. 266 f.
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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Entsprechend der Systematik der Begriffsbestimmung aus § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB sind Erscheinungsformen der Einziehung keine Maßregeln. Da die Einziehung nur das wiederherstellen möchte, was ohnehin einer rechtmäßigen Güterordnung entspräche, bleibt die Strafe von der Einziehung unberührt.2081 Geht man freilich von einem spezifischen Lerneffekt aus der Einziehungsanordnung aus,2082 mag das die Rechtsfriedensstörung und Sanktionsbedarf mindern. Anders als im Falle des § 60 StGB wird die Einziehung allerdings nicht Teil des Schuldspruchs. Mangels dieser expressiv-kommunikativen Funktion dürfte der normstabilisierende Effekt eher fernliegen. b) Nebenstrafen Im Falle der Nebenstrafen wiederum ist eine Berücksichtigung im Rahmen der Hauptstrafen selbstverständlich. Das folgt daraus, dass Schuld und Strafe stets eine Einheit bilden. Gemäß dem Schuldprinzip kann Strafe nur auf der Schuld aufbauen. Soll eine spezifische Nebenstrafe verhängt werden, wird die Schuld (verschuldete Rechtsfriedensstörung) insoweit „aufgezehrt“. Weniger bei der Einziehung von Tatprodukten (§ 74 StGB), die als spezifische Vermögensstrafe gelten kann,2083 als bei den Strafen des Fahrverbot (§ 44 StGB) und des (fakultativen) Ämterverlusts (§ 45 Abs. 2, 5 StGB)2084 sind jedoch Schwierigkeiten bei der Suche nach dem imaginären Umrechnungsfaktor auferlegt. Mit dem Hinweis auf „Bemessung nach Strafzumessungsgrundätzen“2085 lässt sich noch keine konkrete Wertigkeit festle2080 Die Entwicklung ist hier gewiss noch nicht abgeschlossen, so dass die unklaren Richtlinien vor allem der gegenwärtigen diffusen Rechtslage geschuldet sind. Insbesondere muss hinterfragt werden, welche Wechselwirkungen von den einzelnen Maßregeln ausgehen. Der einheitliche Legitimationsgrund (Gefahrenabwehr) reicht offenbar nicht aus, um eine umfassende Lösung für das Strafbemessungsrecht bereitzustellen. Zum zweiten wird ein vikariierendes System wohl unvollkommen bleiben, wenn es um die Durchlässigkeit auf Seiten der Strafe so schlecht bestellt ist. Will heißen: erkennt man den auch dynamischen Charakter der Rechtsfriedensstörung und damit der Schuld an (2. Kapitel, B. II. 3.) lassen sich Härten im Zusammenspiel von Strafe und Maßregel dadurch abfedern, dass auch Strafen abweichend vom Zeit- und Standpunkt des Urteils bei Erfolg (Wiederherstellung des Rechtsfriedens) erledigt werden können. Zu einem späteren Zeitpunkt als dem Urteilszeitpunkt muss ein günstiger Maßregelverlauf nicht mehr mit den anfänglichen Prognoseunsicherheiten belastet sein. 2081 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 161 noch zum Verfall alter Diktion. 2082 Angedeutet bei Miebach, a. a. O. 2083 Zum alten Recht MüKo-StGB/Joecks 2(2012), § 74 Rn. 2 ff. Das Recht der Einziehung ist mit Wirkung zum 01. 07. 2017 reformiert wurden. Auswirkungen der Reform können hier leider nicht weiterverfolgt werden. Von Einzelfragen abgesehen dürfte sich jedenfalls an der Rechtsnatur der Maßnahmen nichts grundlegend geändert haben. Insofern unverändert bei MüKo-StGB/Meißner 4(2020), § 74 Rn. 2 ff. 2084 Die Annahme einer Nebenstrafe erfolgt hier aus der sog. dualistischen Lösung, MüKoStGB/Radtke 4(2020), § 45 Rn. 7 ff. Ebenso Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 75 I, S. 785, nach denen es für eine Maßnahme am symptomatischen Anordnungszusammenhang fehlt. 2085 StGB-Fischer 67(2020), § 44 Rn. 17 u.§ 45 Rn. 9.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
gen.2086 Im Falle des Fahrverbots, dessen Aufwertung zur Hauptstrafe2087 sich in der Diskussion hält, wird in der Regel auf den Denkzettel-Charakter2088 verwiesen, was im Grunde nur die spezialpräventive Motivation seiner Verhängung wiedergibt. Inhaltlich geht es aber um den Verzicht eines Luxusguts, mithin einen Konsumverzicht, der sich vom Übelscharakter der Geldstrafe sachlich annähert. Ein Umrechnungsfaktor von 1:1 zur Geldstrafe allerdings vermittelte ein schiefes Bild, da ein teilweiser Verzicht auf Konsumfreiheit eigentlich nicht einem umfassenden Konsumverzicht entsprechen kann.2089 Wie auch immer die Verhältniszahlen sinnvoll zu wählen wären, im Hinblick auf die geringe Strafkompetenz (1 bis 3 Monaten) des § 44 Abs. 1 S. 1 StGB kann das Fahrverbot ohnehin nur marginale Bedeutung erlangen. Als Lösung aus der Problematik bleibt dementsprechend nur die konkrete Bestimmung eines Nebenstrafmaßes, welches dann als allgemeiner Strafmilderungsfaktor in die Berechnung der Hauptstrafe eingeführt wird. In der Urteilsbegründung ist dies entsprechend zu schildern. c) Mehrheit von Straftaten aa) Das System Gesamtstrafe Soweit eine Mehrheit von selbständigen Straftaten zu gemeinsamer Aburteilung stehen oder zumindest hätten stehen können, soll nach den §§ 53 bis 55 StGB eine Gesamtstrafe gebildet werden. Das Prinzip der Gesamtstrafenbildung steht gedanklich zwischen der Idee einer Einheitsstrafe und einer möglichen Kumulation. Es soll auf eine Strafe erkannt werden, die allerdings die Teilmomente der Einzeltaten (im Gegensatz zu einer Einheitsstrafe) noch erkennen lässt. Die Gesamtstrafe steht damit im Kontrast zur schlichten Addition von Einzelstrafen (als Kumulationsprinzip), welche nach § 54 Abs. 2 S. 1 StGB untersagt ist, und bedeutet im Ergebnis eine Milderung im Verhältnis zu dieser Addition. Gleichwohl verfolgt die Regelung des § 54 StGB ein eigentümliches Prinzip der Asperation2090, welches die Verschärfung der schwersten Strafe vorsieht. Aller terminologischen Formulierung gesetzlicher Mechanismen zum Trotz kann es unbestritten nicht um eine Strafschärfungsregel, sondern sachlich nur um eine Regelung der Milderung gehen. 2086 2087
(70 ff.). 2088
Ebenso Wolters, ZStW 114 (2002), S. 63 (71 f.). Dazu Streng, ZStW 111 (1999), S. 827 (851 ff.); Wolters, ZStW 114 (2002), S. 63
SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 44 Rn. 3. Die (abstrakte) Kontrollüberlegung kann dabei helfen: wer würde schon bei der Wahl zwischen Auto- und Einkommensverzicht auf das Einkommen verzichten? Allein schon, weil der Unterhalt eines Pkw selbst Einkommen aufzehren müsste, wird das Gefälle in der Art des Übels deutlich. Anders kann dies nur bei Personen sein, die aufgrund ihres Stammvermögens keinen spürbaren Konsumverzicht durch eine Geldstrafe erleiden würden. Von daher dürfte darin eine spezielle Zielgruppe für das Fahrverbot anzutreffen sein. 2090 Lat. asperatio: „Verschlimmerung“, zurückgehend auf asper in der Bedeutung von rau, barsch, grob, roh, etc.). 2089
B. Die Strafzumessungsfaktoren
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Aufgrund dessen fällt es nach wie vor schwer, die Logik dieses „Strafrabatts“ zu erfassen. (1) Der Grund dafür tritt nämlich aus der gesetzlichen Regel nicht klar zu Tage. Vom Gedanken der herrschenden Einzeltatschuld wäre ein Kumulationsprinzip durchaus plausibel, denn jede Tat ist in Einzelheit nach ihrem Schuldgehalt eine bestimme Strafe „wert“. Dass sich das Gesetz einer solchen Arithmetik doch verschließt, wird im Grunde daher bereits in der Einzeltat verortet. Die Schuldminderungsthese geht dahin, anzunehmen, dass die Erfahrung der ungestraften Tatbegehung bereits das Steuerungsverhalten der nächstfolgenden Tat beeinflusse.2091 Vereinfacht gesprochen geht es um die Behauptung einer Hemmschwellenminderung, bei der die „erfolgreiche“ Tat in die jeweils nächste hinüberreiche. Bei Zutreffen dieses Gedankens bewegt sich der Mehrfachtäter konsequent in Richtung von Steuerungsunfähigkeit; ein Modell, an dessen Wahrhaftigkeit und normativer Konsequenz durchaus Zweifel anzumelden sind.2092 Fernab der Plausibilität passt die Einschätzung aber auch nicht zum Gesetz, da insoweit bereits die Einzelstrafen zu mildern wären und der Sache mit einem Kumulationsprinzip bereits genüge getan wäre.2093 Insbesondere die Integration der Einsatzstrafe muss fehlgehen, denn ein Modell der Interaktion von Taten orientiert sich nicht an Gewicht, sondern an der Chronologie. (2) Traditionell wird die Erklärung deshalb auch nicht in den Taten selber, sondern in ihrer Bewertung gesucht. Althergebracht wird mit der Idee der Progressivität des Strafübels argumentiert.2094 Diese These lässt sich weder überzeugend belegen noch zwingend ausräumen. Der Normativität einer Aussage ist dieser Zustand des nonliquet nicht unbedingt abträglich.2095 Immerhin wird man sagen können, dass die Argumentation vor allem für den Bereich schwerer Taten zugeschnitten ist, deren Täter hohe Strafen zu erwarten haben, so dass die Plausibilität des Gedankens in seiner Bandbreite nicht in gleicher Weise für alle Tatgestaltungen zu erreichen ist.2096 2091
Schoreit, FS Rebmann (1989), S. 443 (453 f.). S. Deiters, Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit (1999), S. 27 f. 2093 Bohnert, ZStW 105 (1993), S. 846 (852); NK-StGB/Frister 5(2017), § 53 Rn. 3. 2094 Repräsentativ etwa LK-StGB/Rissing-van Saan 12(2006), § 53 Rn. 2 f.; Sch/Sch-StGB/ Sternberg-Lieben/Bosch 30(2019), Vorbem §§ 52 ff. Rn. 4; SK-StGB/Samson/Günther (24. Lfg. März 1995), § 53 Rn. 2. Ursprünge bereits beim RG, Nachweise bei Rissing-van Saan, a. a. O. Zweifel an diesem Argument bei B.-D. Meier, in: Brauchen wir ein neues Strafrecht? (2008), S. 221 (223), der einen möglichen Gewöhnungseffekt als gegenläufiges Phänomen anführt. Dieses Abfinden mit verlorener Lebenszeit in Freiheit lässt sich allerdings auch als Deprivationschaden begreifen, der nur die Abstumpfung gerade wegen der Progressivität des Leids widerspiegelt. 2095 Eine Zurückweisung, z. B. Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 33/14; MüKo-StGB/von Heintschel-Heinegg 2(2012), § 53 Rn. 6, mit Abstrichen auch Deiters, Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit (1999), S. 21 ff.; ob dieser Unsicherheiten muss daher nicht den Ausschlag geben. 2096 Bohnert, ZStW 105 (1993), S. 846 (849). Zur Problematik durch den Wegfall des Fortsetzungszusammenhang Geppert, NStZ 1996, S. 118. 2092
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Die Betonung der Besonderheit oder Eigenständigkeit ihrer Regeln2097 darf überdies nicht dazu führen, dass die Gesamtstrafenbildung im Gesamtsystem der Strafzumessung nicht anschlussfähig ist. Von daher muss die Gesamtstrafe im Ergebnis mit der Idee einer verminderten Rechtsfriedensstörung vereinbar sein. Ansätze, die diese Bedeutung herausstreichen, sind unlängst mit der Postulierung degressiver Schuld-Strafbeziehungen im Vordringen.2098 Geht man davon aus, dass ein Täter nur begrenzt in der Lage ist, die Normgeltung durch wiederholten Normbruch zu schwächen, drückt sich dies in einem nur degressiv wachsenden Strafmaß in Spiegelung einer nur allmählichen Erhöhung der Rechtsfriedensstörung aus.2099 Die neuerlichen Taten fallen relativ nicht ins Gewicht, da der Täter insoweit mit der Anschauung als „Rechtsbrecher“ belastet ist. Dass bspw. der 23. Fall eines Diebstahls gegenüber dem vorherigen noch einen linearen Zuwachs an Enttäuschung, Empörung und dergleichen in der Rechtsgemeinschaft hervorrufen wird, ist daher höchst unwahrscheinlich. Der Gewöhnungseffekt tritt nämlich nicht nur bei Tätern, sondern auch im gesellschaftlichen Umfeld ein. Dieser Sättigungseffekt scheint in gewissem Widerspruch zu Erhöhungsbegründungen von Vorstrafen2100 zu stehen. Richtigerweise wird man daher die Idee einer erneuten Vertrauensverletzung als erhöhte Rechtsfriedensstörung auch nicht überbewerten dürfen. Einem Automatismus der Strafschärfung sollte deswegen auch nicht das Wort geredet werden. Gemeinhin wird es so etwas wie einen Umschlagpunkt geben, ab dem – vorläufig – eine weitere Vertrauensbeschädigung nicht mehr nachvollziehbar wird, weil der Level der Erheblichkeit über- und sowie ein Vertrauensgrundmaß unterschritten ist. Nicht zu verkennen ist indes, dass vor allem die Zäsur einer Verurteilung in ihrer Ermahnungswirkung noch einen Unterschied bilden kann.2101 Dieses System wirkt in der Gesamtstrafenbildung fort, denn kein vorgestellter Begründungsansatz nimmt die gesetzlich begrenzte Bildungsfähigkeit der Gesamtstrafe ansonsten in das Konzept auf. Die formellen Voraussetzungen der Gesamtstrafe stehen bislang jenseits der theoretischen Erfassung.2102 Dazu passt, dass über einen „Härteausgleich“2103 sachlich identische Ergebnisse zu erzielen sind. 2097
Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, (1987), Rnrn. 147, 181, 183. NK-StGB/Frister 5(2017), § 53 Rn. 5 f.; Deiters, Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit (1999), S. 67 f.; letzterer in besonderer Nähe zum hiesigen Standpunkt, vgl. dessen Darlegung a. a. O., S. 42 ff. 2099 Ohne Bezug zur hier verwandten Terminologie, aber mit inhaltlicher Verwandtschaft zur Position, ist die „praktische Proportionalität der Hinsicht“ bei Bohnert, ZStW 105 (1993), S. 846 (859 ff., 865). 2100 S. oben, V. 2101 Zur Operation mit dem „Zäsurgedanken“ bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung hier nur mit Verweis auf NK-StGB/Frister 5(2017), § 55 Rn. 11. Vor- und Nachteile dieser Lösung für den Beschuldigten zeigt Wilhelm, ZIS 2007, S. 82 – 94, auf. 2102 Anklänge ebenso bei Jakobs, Strafrecht AT 2(1991), 33/15. 2103 Die fiktiv zu bildende Gesamtstrafe bleibt dabei zulässige Methode, wobei ebenso die unmittelbare Berücksichtigung der Härte als Strafzumessungsfaktor im Raum steht, s. MüKoStGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 163; StGB-Fischer 67(2020), § 55 Rn. 22. Nach Bringewat, 2098
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(3) Erklärungsbedürftig ist zudem vor diesem Theoriehorizont die Absage an ein Modell der Einheitsstrafe. Im Gegensatz zum Jugendstrafrecht (§ 31 JGG) war die die Einheitsstrafe seit Erlass des RStGB 1871 (§ 74 a. F.) nie gesetzliche Regelung, aber dennoch stets in der Diskussion.2104 Tatsächlich sind die mit der Gesamtstrafe verfolgten Ideen ebenso mit einer Einheitsstrafe zu erreichen. Eine theoretische Differenz ist nicht ersichtlich. Wortführend waren daher neben verfahrenstechnischen Erwägungen regelmäßig auch praktische Befürchtungen, eine Einheitsstrafe stellte dem Richter eine summarische Strafzumessung anheim.2105 Der Fortschritt der rechtlichen Durchdringung des Strafzumessungsrechts lässt letztere Befürchtung allerdings obsolet erscheinen.2106 Straftheoretisch lässt sich ein Konzept der Einheitsstrafe jedenfalls nicht vorab argumentativ suspendieren,2107 denn sämtliche Überlegungen finden ihren notwendigen Fluchtpunkt lediglich im verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit. Schlussfolgernd stellt dieses – entsprechend der hiesigen Einordnung – das einzig materiell-rechtliche Verbindlichkeitsargument, wonach die Problematik der Mehrheit von Taten in einem Strafbemessungssystem aufzulösen ist.2108 bb) Zur Ermittlung der Gesamtstrafe Die Bildung der Gesamtstrafe wird als eigenständiger Zumessungsakt2109 beschrieben. Gemeint kann damit nur sein, dass auf jeden Fall additiv zur Bestimmung der Einzelstrafen spezifische Überlegungen gerade für die letztlich erkannte Strafhöhe im Urteil zu finden sind. Die Realität begnügt sich wohl weitestgehend mit einer performativen „Würdigungsformel“, nach der „unter nochmaliger Abwägung aller
NStZ 1987, S. 385 (388), verbietet das Denkmodell der „fiktiven nachträglichen Gesamtstrafe“ eine dynamische Betrachtung der Strafzumessungsfaktoren, sprich es müsste die fiktive Gesamtstrafe zum Zeitpunkt vor ihrer Erledigung ermittelt werden. Das könne zu Härten bei veränderten Strafzumessungstatsachen führen. Diese Notwendigkeit ergibt sich aber nicht aus dieser gewählten Methode selbst, denn diese ist nicht Gesetz, sondern nur (Hilfs-)Mittel zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit. Einzig die Verhältnismäßigkeit entscheidet; damit ist eine gewisse Flexibilität in der Methodik bereits angelegt. 2104 Zur historischen Entwicklung s. Schnarr, Einführung der Einheitsstrafe (2001), S. 70 ff.; aus neuerer Zeit mit einem Plädoyer für die Einheitsstrafe Erb, ZStW 117 (2005), S. 37 (41 ff.); Fandrich, Das Doppelverwertungsverbot im Rahmen von Strafzumessung und Konkurrenzen (2010), S. 148 ff., 154 und auch B.-D. Meier, in: Brauchen wir ein neues Strafrecht? (2008), S. 221 (231 ff., 236). 2105 Zusammenfassend Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, (1987), Rn. 5 ff. 2106 Schnarr, Einführung der Einheitsstrafe (2001), S. 134 u. 169 f. 2107 Strafprozessual stünden einige wesentliche Umgestaltungen an, die allerdings nicht unbehebbar wären. Eingehend Schnarr, Einführung der Einheitsstrafe (2001), S. 135 ff. 2108 Bzgl. Einzelheiten der Regelungen der §§ 53 – 55 StGB wird auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen. In diesem Rahmen kann eine ausführlichere Besprechung nicht mehr stattfinden. 2109 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 120.
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be- und entlastenden Umstände“2110 eben diese die im Urteil festgelegte Strafe ergeben hat. Dabei scheint das Gesetz selbst (§ 54 Abs. 1 S. 3 StGB) nicht wesentlich mehr vorzugeben. Ein genuiner Bemessungsmodus scheint deshalb für die Gesamtstrafe gesetzlich nicht vorgesehen zu sein. Das kann einmal relative Methodenfreiheit bedeuten, meint aber im Zusammenhang mit der Regelung des § 46 StGB wohl eher, dass keine Besonderheiten im Übrigen zu gelten haben. Insbesondere angewendeten Rechenformeln wird kategorisch eine Absage erteilt, da eine solche Methode keine Stütze im Gesetz fände.2111 Allerdings wird man das von diesem aversiven Dogma ebenso wenig sagen können. Denn obgleich die Strafbemessung (bislang) nicht in einer mathematischen Formel auflösbar ist, ist doch die Bildung von Verhältniszahlen in diesem Kontext nicht ganz abwegig. Wenn man einen spezifischen Gesamtstrafenparameter benennen will, so kann es nämlich nur das Verhältnis der Taten zueinander sein. Ein Relationsgefüge („wiegt halb so schwer wie“) scheint in diesem Zusammenhang in anteiliger Straferhöhung artikulierbar zu sein. Dennoch hat in dieser Hinsicht Vorsicht zu walten, da eine phänomenologische Gewichtung kaum derart evident sein wird. Was mithin den Zusammenhang angeht, wird man diesen nach kriminologischer, sachlicher sowie zeitlicher und situativer Differenz zu analysieren haben.2112 Je enger sich dieser Zusammenhang beschreiben lässt, desto weniger fällt die einzelne Straftat bei der Gesamtstrafe ins Gewicht. Gerade nach Wegfall der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung wird sich deren dogmatischer Gehalt über eine nur moderate Erhöhung von Einsatzstrafen wieder einholen lassen.2113 Wenn Straftaten in vermehrter Anzahl bzw. mit Seriencharakter begangen werden, dann auch, weil sie meistens von vorneherein auf Wiederholung angelegt waren. Insbesondere Kriminalität zur Vermögensakquise (Seriendiebstahl, systematischer Betrug oder Handel mit Betäubungsmitteln) können auf eine im Grundsatz einheitliche Planung zurückzuführen sein. Ferner kann gerade die erfolgreiche (ggf. unentdeckte) Begehung ermuntern, dieses Modell fortzusetzen. In diesem Sinne wird dann häufig von einer erniedrigten Hemmschwelle ausgegangen.2114 Eine solche phänomenologische Einheit wird dann meistens Anlass geben, diese einer rechtlich einheitlichen Beurteilung zuzuführen. Man wird sich dies in diesen Fällen praktisch kaum anders vorstellen können, als dass auf eine imaginäre Einheitsstrafe „hingerechnet“ wird. Man wird zwar methodisch einwenden mögen, dass eine Einheitsstrafe gerade nicht gesetzlich vorgesehen ist. Andererseits wird man, besonders in Fällen, in denen sich 2110 Zu entsprechenden Beispielen Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, (1987), Rn. 178. Die Ausbildungsliteratur vermag da nicht zu mehr anleiten, s. etwa Ziegler, Das Strafurteil 6(2012), Rn. 377. 2111 Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, (1987), Rn. 182 sowie Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1218 mit Rspr. diesbzgl. 2112 Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe (1987), Rn. 186; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1208 i. V. m. 1214. 2113 So auch Geppert, NStZ 1996, S. 118. 2114 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1213.
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die Anzahl in einem hohen zweistelligen oder dreistelligen Bereich häuft, gar nicht anders verfahren können, als eine bestimmte Summe von vorneherein im Blick zu behalten. Da die §§ 39, 40 StGB auch im Bereich der Gesamtstrafe gelten müssen, lassen sich auch keine kleineren Sinneinheiten bilden, die einem Exzess bei isolierter Bemessung vorbeugen könnten. Insofern wird eine sukzessive Erhöhung nur unter Zugrundelegung eines gerade noch vertretbaren Grenzwerts geschehen können. Dass dieses Verfahren nicht völlig abseits der Gesetzessystematik ist, zeigt § 54 Abs. 2 S. 1 StGB. Auch diese Vorschrift setzt einen Grenzwert einer prioritären Addition entgegen. Die Serienhaftigkeit soll allerdings auch eine Verstärkerwirkung haben können, nämlich dann, wenn die Tatwiederholung Ausdruck krimineller Energie ist.2115 Das Bemühen der kriminellen Energie kann leicht etwas redundant werden, denn gewiss ist es immer eine Form von erhöhter „Energie“, falls der Täter sich für mehrfachen Gesetzesbruch entscheidet. Recht trivial ist dieser Gedanke zum anderen, da die mehrheitliche Begehung ohnehin Anwendungsvoraussetzung der Vorschriften für die Gesamtstrafe ist. Der Transparenz wegen wird man dies anders formulieren müssen: entscheidend ist in diesen Fällen vielmehr, dass die Gründe, welche eine phänomenologische Einheit und damit eine Strafreduktion generell nahelegen, auch fehlen können. Dann hat die Einzelstrafe in nahezu unverminderter Form in die Gesamtstrafe einzufließen. Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass vorab stets eine Einzelstrafe ausgeworfen werden muss. Auch in dieser Einzelstrafe wäre eine schulderhöhende wiederholte Tatbegehung prinzipiell zu berücksichtigen. Das kann dann leicht zu einer Doppelverwertung führen, wenn der gleiche Umstand nochmals eine Strafverschärfung begründen sollte. Vor diesem Hintergrund ist der Zweck der Gesamtstrafe, nämlich eine strafentlastende Wirkung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit in Erinnerung zu rufen. In diesem Sinne ist jeder fehlende Entlastungsgrund geeignet, eine höhere Gesamtstrafe zu begründen. Der Gedanke des Doppelverwertungsverbots verbietet es nicht, Tatsachen, die bereits zur Begründung der Höhe der Einzelstrafen herangezogen werdwn, für die Bildung der Gesamtstrafe heranzuziehen.2116 Denn unter dem Aspekt der Bedeutung für die Gesamtstrafe sind diese noch nicht verwertet werden. Allerdings sollte dann die Begründung im Urteil erkennen lassen, inwieweit dieser Strafzumessungsgesichtspunkt explizit die Taten zueinander in Beziehung setzt. Ein Geständnis als solches mag bspw. das Verhältnis beeinflussen, wenn dieses ein umfassendes ist und bei einer Vielzahl angeklagter Taten damit einen minutiösen Nachweis sämtlicher Einzelfälle erleichtert. Die Person des Täters wird ebenfalls als Zumessungsparameter genannt, doch dabei wird es sich lediglich um einen legislatorischen Phraseologismus handeln. Die Person als solche lässt sich schwerlich mit dem Konzept der Gesamtstrafe in Einklang bringen. Soweit persönliche Umstände die Einzeltat geprägt haben, lassen sich 2115 2116
Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1211. Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe (1987), Rn. 184.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
solche Erscheinungen auch als (objektivierte) Tatumstände paraphrasieren. Das sollte für Aspekte wie jugendlicher Leichtsinn oder Vorstrafenbelastung gelten. Denkbar ist es allenfalls, mit Blick auf bestimmte statuswirksame Rechtsfolgen (z. B. § 45 StGB oder die Aussetzungsfähigkeit §§ 56 ff. StGB) einen gedanklichen Grenzwert der Gesamtstrafe vorauszusetzen. Stärker noch als bei der Zumessung der Einzelstrafen steht zu erwarten, dass ein bestimmter „Schwellenwert“ (häufig: zweijährige Freiheitsstrafe) leitend werden wird. Das mutet methodisch etwas inakkurat an, doch anders als bei der Einzelstrafe ist ein degressiver Effekt bei der Strafmaßbestimmung der Gesamtstrafe durchaus ohnehin vom Gesetz vorgesehen. Während es bei der Einzelstrafe zum Unrecht eine gedanklich (wenn auch im konkreten Maße ungeklärte) feste Zuordnung gibt, wird diese Verknüpfung bei der Gesamtstrafe gelockert. Es scheint also vertretbar, der Individualität mehr Raum zu geben, sofern die Schuldangemessenheit nicht völlig verlassen wird.2117 4. Die erwarteten Wirkungen der Strafe (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB) Im Kontext spezialpräventiver Strafbemessung lässt sich die Formel des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB prinzipiell in zweierlei Hinsicht interpretieren: einmal als die Auswirkung für den Betroffenen und als prognostisch orientierte Effekterwartung der Sanktion. In erster Lesart handelt es sich um eine deklaratorische „Erinnerung“ an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dies gliche in etwa der Anordnung von § 62 StGB für die Maßregeln. Sämtliche, hier diskutierte, Beschränkungen einer Sanktion aus Erwägungen der Verhältnismäßigkeit finden dort den (einfachgesetzlichen) normativen Anknüpfungspunkt. Die zweite Lesart legt den Fokus auf den Effekt der Sanktion und verweist im Grunde zurück auf die mit der Strafe intendierten Zwecke. Ob über das Zusammenspiel von generalpräventiver Strafbegründung und spezialpräventiver Begrenzung hinaus die Strafzwecke nochmals für die Strafzumessung fruchtbar gemacht werden können, ist gesonderte Frage einer finalen Steuerung durch Präventionsaspekte.2118
2117 Deutlich restriktiver Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung (2012), Rn. 1219. Der BGH (Bes. v. 19. 08. 2008 – 5 StR 244/08 in: NStZ-RR 2008, S. 369) trennt zwar zu Recht strukturell zwischen Gesichtspunkten der Strafzumessung und der Strafaussetzung zur Bewährung. Nur: einen allgemeinen Degressionsfaktor kennt auch der BGH nicht und er muss im Urteil auch nicht angegeben werden. Im Übrigen zeigen die Ausführungen, dass eher die Bildung der Einzelstrafen unter diesem Aspekt beanstandet wurde: („Die Wendung […] lässt besorgen, dass das Landgericht bei Festsetzung der beiden genannten Einzelstrafen Gesichtspunkte der Strafzumessung […] mit solchen der Strafaussetzung zur Bewährung unzulässig vermengt hat“, Herv. d. Verf.) Das ist wiederum richtig, denn für Einzelstrafen kann dies in der Tat nicht herangezogen werden. Strafen dürfen nicht planmäßig in Hinblick auf eine Bewährung verfälscht werden. 2118 Dazu noch im folgenden Text unter C. V. 5
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5. Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs? Unter dem Topos einer Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs2119 lassen sich sämtliche rechtsstaatswidrigen Ein- oder Mitwirkungen des Staats in den Stadien von der Begehung (Unrechtsverstrickung) bis über das gesamte Strafverfahren hinweg diskutieren. Die Diskussion konzentriert sich im Schwerpunkt auf die – hier schon besprochenen – Fälle der Verleitung zu einer Straftat durch einen Lockspitzel und der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Für die Verhältnismäßigkeit sind vordergründig zwei grundlegende Fragenstellungen von Interesse. Die erste ist prinzipieller Natur und fragt nach den strikten kategorischen Lösungen, nämlich ob eine staatliche Involviertheit generell unbeachtlich ist oder stets zu einem Verfahrenshindernis führen muss. Beides wird man ausschließen können.2120 Das die Strafverfolgung beherrschende Legalitätsprinzip würde erheblich nivelliert werden, wenn jegliche Fehler eine staatliche Reaktion ausschließen müsste. Denn das Legalitätsprinzip ist Korrelat des staatlichen Gewaltmonopols, zu dessen Gunsten der einzelne Bürger eine private Konfliktaufarbeitung aufgibt. Ein pauschales Verfahrenshindernis käme einer Aufgabe dieses Mandats gleich. Umgekehrt wäre es rechtsstaatlich unerträglich, wenn gegenüber rechtswidrigen Handlungen des Staates keine Reaktion erfolgte. Die zweite Überlegung, und nur dieses ist hier kurz aufzugreifen, betrifft dann einen Verstoß gegen das Übermaßverbot durch eine Strafverhängung überhaupt. Phänomenologisch ist der Rechtsverstoß für die Bewältigung der Rechtsfriedensstörung im Grunde ohne Belang, es sei denn eine alternative Behandlung des Normübertretungskonfliktes macht die Sanktion nicht mehr erforderlich. Der Verlust vom Strafanspruch, sofern man die Rede vom Anspruch zulässt, suggeriert schon im Grunde, dass Unrecht entstanden sein muss, denn verwirkt werden können nur Rechte, die prinzipiell einmal (in vollem Umfang) bestanden haben.2121 Das spricht schon nachhaltig dafür, dass sich die Problematik außerhalb bemessungsrechtlicher Grundsätze vollziehen muss. Ein Verfahrenshindernis als Ausfluss staatlicher Disziplinierung beträfe dann also keine genuin strafzumessungsrechtliche Überlegung mehr. Inhaltlich fehlt es bei Lockspitzeleinsätzen nach Lage der Dinge im Gegensatz zum Falle einer rechtswidrigen Verfahrensverzögerung aber bereits am Strafsurrogat,2122 so dass es bereits an der übermäßigen Belastung fehlt.2123 Verfahrensverzö2119
Ausführlich Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung (1995), S. 189 ff. Ebenso Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung (1995), S. 190. Kasuistik bei Hillenkamp, NJW 1989, S. 2841 (2842 ff.). 2121 Das zivilistische Denken in der Kategorie des Anspruchs legt es dann auch, mit den Instituten der Einwendung und Einrede – Einrede insoweit, falls eine „Rügelösung“ im Prozess gefordert wird – zu operieren. 2122 Verfehlt daher die Analogie zur Vollstreckungslösung bei Kraatz, JR 2008, S. 189 (194). 2120
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
gerungsmomente sind in der Vollstreckungslösung im Allgemeinen dagegen bereits vernünftig aufgehoben. Im Übrigen verbleibt das Legalitätsprinzip als schwer überwindbare Hürde. Denn das Konfliktverarbeitungsprogramm nehmen die staatlichen Stellen immer pars pro toto ein, sprich der Staat steht nicht für sich als Rechtssubjekt, sondern in treuhändischer Gestaltung für alle Bürger; jedenfalls soweit man eine Trennung von Staat und Gesellschaft nicht herbeiführen will. Insofern bedarf es stets einer behutsamen, aber tendenziell restriktiven Einzelfallentscheidung, ob und inwieweit die Intensität des Verstoßes die staatliche Strafbefugnis beschränkt. Generell wird von einer Verwirkung daher nur in schweren Ausnahmefällen zu sprechen sein.
C. Der Vorgang der Strafzumessung I. Strafzumessungstheorien als Beschreibung des Strafzumessungsvorgangs Strafzumessungstheorien sind von der Idee her spezifizierte Strafbemessungstheorien.2124 Sie folgen der theoretischen Grundausrichtung ihrer übergeordneten Strafbemessungstheorie und stellen ihren anwendungsorientierten Teil. Ihr Bezugspunkt ist deswegen logisch die Herstellungsperspektive, obwohl freilich offen bleibt, ob die Praxis wirklich bei der Strafmaßfindung auf diese Anleitungen zurückgreift.2125 Trotz ihrer praktischen Orientierung mögen diese wissenschaftlichen Ansätze in grauer Theorie verharren. Die Strafzumessung wird dabei unterteilt in einzelne Arbeitsschritte für den Rechtsanwender. Je nach Feingliederung weisen die Modelle eine unterschiedliche Anzahl von Phasen auf, ohne dass damit regelmäßig bereits eine sachliche Differenz intendiert wäre.2126 Die Darstellung beschränkt sich hier auf die notwendig zu vollziehenden Denkschritte. 2123 Der BGH steht nach einer anfänglichen Aufgeschlossenheit (z. B. BGH NStZ 1982, 126; 156; StV 1984, 4) einem Verfahrenshindernis nunmehr ablehnend gegenüber, grundlegend BGHSt 32, 345; bestätigt in St 45, 321. Zum Stand der Diskussion mit den entsprechend Nachweisen Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 288. MüKo-StGB/Miebach, 2(2012), § 46 Rn. 82 f.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 618. 2124 Zur Unterscheidung der Begriffe Strafzumessungs- und Strafbemessungstheorie bereits oben im 1. Kaptel, A. II. 2125 Zur Diskrepanz von Darstellung und Herstellung genauer unter D. 2126 Auf Basis der herrschenden Spielraumtheorie ergeben sich mindestens drei Schritte, vgl. Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht 2(2021), § 9 Rn. 20; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 882 ff.; Sonnen, FS Puppe (2011), S. 1007 (1009). Drei Schritte auch bei MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 20; Zipf, Die Geldstrafe (1966), S. 72 f.; fünf Phasen unterscheiden H.-L. Günther, FS Göppinger (1990), S. 453 (455 f.); Meine, NStZ 1994, S. 159 (162) und Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 235 f.; sieben bei B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019),
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II. Die Bestimmung des Strafrahmens Jede Strafzumessung beginnt mit dem Auffinden des gesetzlich bestimmten Strafrahmens. 1. Der gesetzliche Strafrahmen a) Die Bedeutung des gesetzlichen Strafrahmens Ausgangspunkt der Bestimmung ist der gesetzliche Normalstrafrahmen. Der Strafrahmen markiert jeweils die Grenzpunkte möglicher Sanktionen. Innerhalb der Grenzpunkte kennt das Strafrecht für jedes Delikt in seiner Grundform eine Strafandrohung, deren Spanne im Einzelnen beträchtlich variieren kann.2127 Der Strafrahmen stellt damit für verschieden schwer gewichtiges Unrecht ein Spektrum an Strafen bereit. Dreher2128 nannte dies einst die kontinuierliche Schwereskala. Die Vorstellung kann leicht zu Missverständnissen führen. Von der Begrifflichkeit der deskriptiven Statistik her ist die Strafe ein diskretes2129 Merkmal, da diese nur eine begrenzte Anzahl von Variablenwerten annehmen kann. (§§ 39, 40 StGB). Die Grenzwerte der Mindest- und Höchststrafe üben in dieser Hinsicht eine erste Orientierungsfunktion aus.2130 Innerhalb dieses Rahmens müssen sich alle Strafen staffeln lassen. Doch stellen sich Probleme ein, wenn man diese Kontinuität mit linearem Wachstum assoziiert. Dass der arithmetischen Mitte des Strafrahmens der „gedanklich mittelschwerste Fall“ zugeordnet werden muss, entzieht sich genauerer Definition. Weder ist dies theoretisch notwendig, noch scheint dies sicher im HinS. 169; acht Phasen bei M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 195; acht bis elf Schritte bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 747 i. V. m. Rn. 653. 2127 Nach Götting, NStZ 1998, S. 542 (547), sollte das Androhungssystem auf 10 – 12 Grundstrafrahmen reduziert werden. 2128 Über die gerechte Strafe (1947), S. 61 ff.; zust. insoweit Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 132; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 130 f.; Montenbruck, Strafrahmen und Strafzumessung (1983), S. 33. 2129 Im Gegensatz zu kontinuierlichen (stetigen) Merkmalen, die jede (beliebige) Variable innerhalb einer Menge annehmen kann, vgl. zur Begrifflichkeit Bamberg/Baur/Krapp, Statistik 17 (2012); Leonhart, Lehrbuch Statistik 3(2013), S. 25. 2130 Ein (extrasystematisches) Problem beschreibt die Überlegung, ob die vorgegebenen Strafrahmen auf einer wohlüberlegten Entscheidung des Gesetzgebers beruhen, insofern berechtigte Zweifel bei Hettinger, GA 1995, S. 399 (402), passim; zur „Nivellierungstendenz“ nach dem 6. StrRG ders., FS Küper (2007), S. 95 (104); Hörnle, FS Philipps (2005), S. 393 (409); Streng, FS Universität Heidelberg (1986), S. 501 (512). Synoptische, stichprobenartige Zusammenstellung der historischen Veränderungen bei Hettinger, FS B. Schünemann (2014), S. 891 (899 ff.). Zur realen Ausschöpfung Anhaltspunkte bei Schott, Gesetzliche Strafrahmen und ihre tatrichterliche Handhabung (2004), S. 250 ff.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
blick auf die Praktikabilität einlösbar.2131 Da die Strafe jeweils auf die Wertigkeit des verschuldeten Unrechts reagieren soll, führt allerdings kein Weg daran vorbei, sich unter einem Strafrahmen zumindest eine Ordinalskala von Unwerten vorzustellen.2132 Wenn man auf der gedanklichen Basis der Tatproportionalität die Sachverhalte ordnet, bedeutet Proportionalität also nicht, dass sich Verhältniszahlen ausbilden lassen. Eine numerisch doppelt so hohe Strafe führt nicht zu der Annahme eines „doppelt so schweren Delikts“. Doch auch unter Verzicht solcher gleichmäßiger Intervall- und Ratioskalen nehmen die Regeln der §§ 39, 40 StGB eine inhaltliche Skalierung vor. Der Strafrahmen wird in eine endliche Zahl von Strafstufen zerlegt und die Anzahl dieser Strafstufen entspricht den logisch möglichen Unrechtsschwerestufen. Beispielsweise beträgt die Strafe beim Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB zwischen 5 und 15 Jahren. Nach der Einteilungsregel des § 39 StGB lassen sich aus der Differenz zunächst zehn Jahresstufen (5 – 14 Jahre) mit jeweils einer 12-teiligen Binnendifferenzierung (0 – 11 Monate) ausbilden. Zusammen mit dem Höchstmaß von 15 Jahren ergibt dies 121 mögliche Strafen. (10x12+1=121). In Vorschriften, in denen zusätzlich die Geldstrafe in Konkurrenz tritt, verkompliziert sich das Verfahren, da zwischen 5 und 3602133 Tagessätzen 356 potentielle Strafhöhen ausgeworfen werden. Dass dies in der tatsächlichen Phänomenologie des Verbrechens an Grenzen stößt, liegt auf der Hand. Der Richter müsste im Prinzip über ein ausdifferenziertes Zuordnungsschema verfügen, nach dessen Kriterien der konkrete Fall eingeordnet werden müsste. Mangels Zuordnungsschema wird die Strafbemessung daher nur praktisch beherrschbar, wenn über das Gesetz hinaus eine vergröbernde Einteilung vorgenommen wird.2134 Wie en detail Strafquanten gebündelt werden (Drittelung, Vierteilung, usw. des Strafrahmens), kann hier in der Betrachtung außen vor bleiben. Einen großen Teil möglicher Strafquanten ungenutzt zu lassen, widerspricht jedenfalls nicht dem Gesetz. Es gibt keinen Rechtssatz, der 2131 Kritisch deshalb Freund, GA 1999, S. 509 (519); Horstkotte, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung (1992), S. 151 (155); Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (51); Neumann, FS Spendel (1992), S. 435 (446); Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 642 ff. 2132 Dass der Skalengedanke axiomatisch ein (auch) quantitatives Schuldprinzip voraussetzt, ist evident. Da Spezialprävention bei der gesetzlichen Ausgangslage aber nicht in Konkurrenz zum Schuldgedanken stehen kann, ist es – entgegen Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 38, 40 – unbedeutend, ob eine rein spezial-präventive Ausdifferenzierung als Alternativmodell denkbar wäre. Das Skalenmodell ist damit nicht unterbestimmt. Die Einwände von Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018) betreffend die fehlende Stimmigkeit der Strafrahmen an sich und untereinander (S. 48 f.) bzw. die faktische Ausdünnung an der unteren Grenze (Opportunitätseinstellungen, S. 49) sind nicht abzuweisen. Kohärenz erfordert eine triviale Ordinalskala aber aus Gründen der Logik noch nicht. Die Forderung nach Reformierung der Strafrahmen Kaspar, a. a. O., S. 107 bleibt indes ein gewichtiges Anliegen, zust. Verrel, JZ 2018, 811 (813). 2133 Im Fall der Gesamtstrafe erweitert sich das Spektrum um weitere 360 Tagessätze, § 54 Abs. 2 Satz 2 StGB. 2134 So wie Puppe, FS Paeffgen (2015), S. 655 (659) von „Mittelbegriffen“ als Zwischenschritte zur Konkretisierung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen spricht, so kann die Bildung von Strafkontingenten methodisch diese Mittlerfunktion ausführen.
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verlangen würde, das volle Spektrum aller möglichen Sanktionen auszuschöpfen.2135 Entscheidend ist im Sinne des Prinzips differentieller Strafzumessung nur, dass gleichwertige2136 Fälle gleiche Strafe verdienen. b) Die absolut bestimmte Strafe: lebenslange Freiheitsstrafe Die Problematik in gegenteiliger Art liegt bei der lebenslangen Freiheitsstrafe vor. Ist diese die einzig mögliche Strafe, ist die Strafe eindeutig bestimmt. Die Tatsache ungewisser, unkonkreter Laufzeit vermag daran nichts zu ändern. Dennoch ist die lebenslange Freiheitsstrafe nicht unumstritten, da durchaus Bedenken gegen den Ausspruch anzumelden sind.2137 Die fehlende Flexibilität wird deshalb seit jeher beklagt. Ein Mindestmaß an Differenzierungsfähigkeit ist im Sinne differentieller Strafzumessung stets erwünscht. 2. Sonderstrafrahmen Um dem Differenzierungsgedanken gerecht zu werden, greifen abweichend vom Regelstrafrahmen in besonderen Konstellationen Strafrahmenverschiebungen. Es treten sowohl Verschärfungen als auch Milderungen des ursprünglichen Strafrahmens auf. Sonderstrafrahmen werden ausgelöst von typisierten Änderungsgründen, bei denen der Gesetzgeber eine grundsätzliche Strafzumessungsrelevanz verortet. Diese prinzipielle thematische Relevanz wird durch die prozessuale Flankierung (§§ 267 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 u. 3 StPO) bestätigt. Sachlich handelt es jeweils um Fälle antizipierter Strafzumessung.
2135 Vergleichbar Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache (1987), S. 262 f. Zwar spricht Hassemer, GS Radbruch (1968), S. 281 (288), von „idealer Amplitude“, wenn zu jeder Strafzahl eine begründete Strafzumessungsbegründung zu leisten wäre. Deren Fehlen ist aus Rechtsgründen aber unschädlich. 2136 Die Gleichwertigkeitshypothese wiederum wird sich realistisch mit der Bildung Gruppen von Fällen zu begnügen müssen. Gruppendefinitionen bedingen es, dass deren Randextrema eigentlich größere Ähnlichkeitsbeziehungen zu den Übergangswerten der benachbarten Klasse aufweisen als jeweils untereinander. (Bsp: Die Note befriedigend versammelt unterschiedliche Leistungen unter einer gleichwertigen Klasse, obwohl das starke „befriedigend“ einem „gut“ näher steht als dem schwachen „befriedigend“). 2137 Überblick bei Kaiser, Kriminologie 3(1996), § 93 Rn. 2 ff.; H-M. Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe: für eine Durchsetzung des Verfassungsanspruchs, (1999), S. 407 ff. mit Nachweisen passim. Vgl. auch Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe (2011), S. 26 ff., die die „Surrogatfunktion“ gegenüber der Todesstrafe hervorhebt. Diese Funktion allein dürfte aber zu legitimationsschwach sein. Stellt man sich auf dem Standpunkt, dass beide Sanktion „ nicht rechtens“ wären, tröstet das Weniger gegenüber der Todesstrafe nicht über dieses Manko hinweg, s. Kett-Straub, a. a. O. selbst (S. 32). Die psychologische Kanalisierungsfunktion (S. 338) der lebenslangen Freiheitsstrafe als ultima ratio dürfte im Grundsatz zutreffen.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
a) Strafrahmenänderungen aus dem Allgemeinen Teil Zu unterscheiden sind obligatorische2138 und fakultative2139 Milderungsgründe, die auf § 49 Abs. 1 StGB verweisen, sowie der Ermessensmilderungsgrund des § 23 Abs. 3 StGB, der auf § 49 Abs. 2 StGB verweist. Ihre Ansiedlung im allgemeinen Teil findet aber nicht nur seine Berechtigung in der ökonomischen „Klammertechnik“ des Gesetzgebers, sondern beruht auch auf dem sachlichen Gedanken, dass jeweils Defizite gegenüber einer täterschaftlichen (!) Vollzurechnung auszumachen sind. Dies entspricht der Filterlogik des strafrechtlichen Verarbeitungsprogramms.2140 Aus diesem Grund sind auch ausschließlich Milderungsgründe vorzufinden.2141 Die fakultativen Strafmilderungsgründe erfordern eine Auswahlentscheidung2142 des Richters. Die Kriterien für eine Strafrahmenverschiebung können rechtslogisch nur in Tatsachen zu finden sein, die thematisch im sachlichen Anwendungsbereich der Vorschrift wurzeln. Die Rechtsprechung dagegen bevorzugt eine Gesamtwürdigung, also die Heranziehung sämtlicher Strafzumessungsaspekte, um eine Rahmenänderung zu begründen.2143 Überzeugen kann dies nicht.2144 Zwar kann diese Methode (gerade) noch als Fall gesetzlich antizipierter Strafzumessung gelten,2145 führt aber in mehrfacher Hinsicht zu Friktionen im Strafzumessungssystem. Bereits die Systematik des Gesetzes legt das Gegenteil nahe: das Gesetz muss davon ausgehen, dass typischerweise in der Verwirklichungsform (also Unterlassung, Versuch, etc.) ein Charakteristikum des Falls liegt. Teleologisch baut das gesetzestechnische Klammerprinzip gerade darauf auf, dass sein Regelungsgegenstand wiederkehrende 2138
§§ 27 Abs. 2 S. 2, 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 2 StGB. §§ 13 Abs. 2, 17 S. 2, 21, 23 Abs. 2, § 46a StGB. 2140 Dazu im 2. Kapitel, B. II. 4. 2141 Anders B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 178, der die Konkurrenzregeln der §§ 52 ff. StGB als Schärfungsgründe behandelt. Rechtstechnisch gesehen hat das seine Berechtigung, da das Asperationsprinzip formal eine Steigerung der sog. Einsatzstrafe bewirkt. In der Zusammenschau geht es jedoch materiell um eine Strafmilderung, da die Gesamtstrafenbildung eine numerische Addition von Einzelstrafen unterbinden soll, vgl. § 54 II StGB, s. bereits oben. 2142 Dass eine fehlerhafte Versagung einer Milderung einen Verfassungsverstoß (Art. 103 II GG) begründet, ist entgegen Langer, FS Dünnebier (1982), S. 421 (440 f.), zu verneinen. Zwar trifft es zu, dass jede Strafschärfung auch eine Strafbegründung ist. Um Strafschärfungsgründe geht es aber ersichtlich nicht. Auch kann nicht auf einem Umweg eine Relation zu einer „eigentlich“ verwirkten, milderen Strafe aufgebaut werden. Ohnehin ist die Rechtsfolgesystematik nicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz zu erfassen. Art. 103 II GG ist tatbestandsbezogen und setzt nur strafbares Verhalten voraus. 2143 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 921 f. mit Nachweisen. 2144 Ebenso NK-StGB/Kett-Straub 5(2017), § 49 Rn. 6 f.; Streng, FS Kühl (2014), S. 489 (490); Schäfer/Sander/van Gemmeren, ebenda. 2145 Strenger Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (388), der dadurch die Gesetzesbindung des Richters dispensiert sieht. 2139
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Grundsätze von Allgemeingültigkeit beinhaltet. Dieser Mechanismus wird mit der Betonung der steten Besonderheit im Einzelfall aber unterlaufen. Für das Modell der Gesamtwürdigung wäre eigentlich das gegenteilige Modell wesentlich brauchbarer: ergibt die Gesamtbetrachtung (vollständig ausgeführte Strafzumessung!), dass eine Strafe im Normalstrafrahmen inadäquat wäre, so müsste eine Pauschalherabsetzung mittels Verrechnungsschlüssel diesem Befund Rechnung tragen. Das umgekehrte Prinzip ist aber weder vom Gesetz regelmäßig vorgesehen noch zwingend ratsam.2146 Die Konsequenz der Gesamtwürdigungslösung auf geltender Rechtslage ist schließlich, dass sie eine hohe Anfälligkeit für logische Fehler produziert: in Erweiterung des Prinzips des § 50 StGB dürfen die Strafzumessungstatsachen nur einmal eingestellt werden. Alles andere führte zu einer unzulässigen Doppelverwertung, die das Ergebnis notwendig verzerrt. Zwar könnte man sich mit der Erwägung behelfen, dass Strafzumessungstatsachen beim Milderungsakt in ihrer Gewichtigkeit vollständig nicht verbraucht würden. Eine anteilige Verwertung erscheint zwar denklogisch nicht abwegig, fordert aber ein Denken in imaginären Bruchteilen mit zum Teil ideellen Gegenständen auf. Das entzieht sich sprachlicher Darstellbarkeit und leistet einer Intransparenz in der Strafzumessung immens Vorschub. Im Ergebnis scheint die hier vorgeschlagene Methode die Begründungsansätze für eine Strafrahmenverschiebung prima facie zu verkürzen. Dem ist genaugenommen nicht so, denn der Auslösungstatbestand wird durch Auslegung schließlich nicht derogiert. Vielmehr ist vom Richter zu verlangen, dass sich seine Urteilsbegründung mit der jeweiligen ratio der Norm2147 auseinandersetzt. Auf diesem Wege lässt sich die Strafe zu den Grundlagen der Strafbarkeit zurückführen, wodurch in puncto Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit diese differenzierte Betrachtungsweise höheren Gewinn verspricht.2148 Die höhere Transparenz vermag intersubjektive Kontrolle zu erleichtern. Der potentielle Anordnungsgrund stellt also das Strafzumessungsthema. So ist beim Versuch die Strafmaßmilderung am Strafgrund des Versuchs2149 zu orientie2146
Welche Probleme das aufwirft, zeigt der Fall, wenn lebenslange neben zeitiger Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Der Umrechnungsschlüssel des § 49 StGB ist dann nicht eindeutig. Die pragmatisch vorgeschlagene antizipierte Strafzumessung, s. etwa NK-StGB/ Kett-Straub 5(2017), § 49 Rn. 8; Sch/Sch-StGB/Kinzig 30(2019), § 49 Rn. 3, führt mitunter zu kuriosen Denkoperationen. Die mildernden Umstände sollen dann hinweg gedacht werden, um zu einem ungemilderten Ergebnis zu kommen. Auf Basis einer Gesamtwürdigung wären das prinzipiell sämtliche Faktoren! Manipulation nicht ausgeschlossen. Eine sachlich korrekte Vorgehensweise wäre eine kombinierte Lösung. Das heißt die Obergrenze wird nach § 49 I Nr. 1 verschoben – das Regelhöchstmaß nach § 39 StGB –, die Untergrenze nach § 49 I Nr. 3 StGB. Mit dem Gesetzeswortlaut ist dies nicht einwandfrei zu vereinbaren. 2147 Vgl. Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (389). 2148 Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (387). 2149 Zum Meinungsspektrum MüKo-StGB/Hoffmann-Holland 4(2020), § 22 Rn. 3 ff. Idealtypisch lassen sich eine subjektive Herangehensweise (Manifestation der Rechtsfeindlich-
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
ren.2150 Wesentliche Bedeutung erfährt dabei der Grad der Erfolgsnähe, soweit der Erfolg für das Unrecht des Delikts prägend ist.2151 Im Übrigen sind „versuchsbezogene“ Umstände zur Differenzierung nur geeignet, wenn sie eine Differenz zum vollendeten Delikt auszumachen.2152 Differenzierungspotential bei Unterlassungsdelikten bietet sich etwa hinsichtlich der Garantenstellung2153 in Art und Rechtsgrund.2154 Ob daraus allerdings eine Unterscheidungskraft zur Sanktionierung gerade in Relation zu Begehungsdelikten erwächst, ist hinterfragungswürdig.2155 Denn die Garantenstellung und die Entsprechungsklausel in § 13 Abs. 1 StGB verlangt schließlich die Gleichwertigkeit. § 13 Abs. 2 StGB nimmt damit eine merkwürdige Reservefunktion in Sachen Strafmilderung ein, die wohl als Antwort auf etwaige dogmatische Unsicherheiten im Rahmen der Unterlassungsdelikte gelten muss. Verlegenheitskonstruktion oder
keit) und eine objektive (Gefahr für das Rechtsgut) unterscheiden, vgl. Haas, ZStW 123 (2011), S. 226 (227 f.) mit Kritik a. a. O., S. 231 f. 2150 Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (392). 2151 Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (396 ff.). Gemeint sind vor allem Verletzungsdelikte, weniger der technisch verstandene Erfolg. 2152 Damit haben nicht etwa sämtliche Aspekte des Versuchs Aussagekraft. So wenig wie die Klassifizierung nach beendetem und unbeendetem Versuch (vorbehaltlich § 24 StGB) über die Strafbarkeit aussagt, so wenig ist eine pauschale Differenzierung geeignet. Überlegungen fortgeführt bei Frisch, FS Spendel (1992), S. 381 (402 ff.). Ablehnung der versuchsspezifischen Auslegung bei Timpe, Die Strafmilderungen des Allgemeinen Teils (1982), S. 106 f., aufgrund dessen Meinung, es gebe kein „versuchspezifisches“ Unrecht, das ausschließlich den Versuch prägt. Zumindest solle die Milderung bei „Rücktrittsähnlichkeit“ in Frage kommen, Timpe, a. a. O., S. 127 ff. Im Übrigen geht es weniger darum, ob Merkmale nur im Versuch auftauchen, sondern dass sie den Versuch prägen. Es kommt auf kohärentes Differenzierungspotential an. 2153 Überblick bei Kühl, Strafrecht AT 7(2012), § 18 Rn. 41 ff. Ein allgemeines Prinzip, auf welches sämtliche Garantenstellungen zurückzuführen wären, ist nicht ersichtlich, vgl. Kühl, a. a. O., Rn. 41. Von daher kann bereits diese Begründungstatsache einer Unterlassungsstrafbarkeit in ihrer Bedeutung und Wertigkeit analysiert werden. Nicht zuletzt erscheint dort, wo die Strafbarkeit bereits als Resultat einer Auslegung des Tatbestands gewonnen werden kann, dazu Sch/Sch-StGB/Bosch 30(2019), § 13 Rn. 1a, eine Verweigerung der Strafmilderung aufgrund dessen begründbar, krit. allerdings MüKo-StGB/Freund 4(2020), § 13 Rn. 299 f. 2154 Beckschäfer, Die Strafrahmenmilderung beim Begehen durch Unterlassen (2012), S. 95 ff. differenziert nach Überwachungsgaranten (grundsätzlich Strafmilderung, S. 101 ff.) und Beschützergaranten (Ausschluss der Milderung, S. 105 ff.). Der sachliche Grund im ersten Fall soll in einer teilnahmeähnlichen Differenz liegen. Dahinter steht eine Vorstellung von Distanz. Genau wie der Täter gegenüber dem Helfer „näher dran“ ist am Geschehen, stehe der Überwachungsgarant in Abstand zur eigentlichen Quelle (S. 103). Das ist ein interessantes Bild, erscheint aber nicht für alle Situationen anschlussfähig. Gerade bei objektbezogenen Pflichten fällt es schwerer eben jenes Objekt als „eigentlich“ strafrechtlich verantwortlich zu sehen. Im zweiten Fall bewirkten generalpräventive Erwägungen eine Dispensierung der Milderung: die Vertrauensstellung (S. 105) kompensiere das Starfwürdigkeitsminus der Unterlassung, (S. 115). 2155 Ablehnend Timpe, Die Strafmilderungen des Allgemeinen Teils (1982), S. 153 ff., 197; 217 tendenziell zustimmend Bruns, FS Tröndle (1989), S. 125 (136 f.).
C. Der Vorgang der Strafzumessung
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nicht, als „Ventil“ zur Kompensation harter Strafbegründung (Fälle „schwacher“ Garantenstellungen) erscheint die Formel jedenfalls brauchbar.2156 Im Rahmen der schuldrelevanten Milderungen (§§ 17, 21 StGB) bedingt in aller Regel das Zurechnungsdefizit die Wahl zugunsten des milderen Strafrahmens. Ausnahmen von der Regel können nur greifen, wenn der Grund für das Defizit dem Täter vorwerfbar ist und gleichsam die Minderung kompensiert.2157 Nach dieser Methode sind Interferenzen von Strafzumessungsgründen zu vermeiden.2158 b) Strafrahmenänderungen aus dem Besonderen Teil Methodisch sind drei Gruppen zu unterscheiden: bei privilegierenden bzw. qualifizierenden Abwandlungen eines Grunddelikts handelt es sich systematisch um einen selbstständigen Tatbestand, der einen eigenen „Deliktscharakter“ repräsentiert.2159 Dagegen geht es bei Fällen, in denen „minder schwere“ bzw. „besonders schwere“ Fälle den Strafrahmen definieren, um unselbstständige Abwandlungen (§ 12 Abs. 3 StGB). Die dritte Gruppe sind spezielle Ermessensmilderungsgründe, die auf § 49 Abs. 2 StGB verweisen. In ihr werden zwar insgesamt heterogene Sachverhalte zusammengeführt, die aber mehrheitlich die Funktion von Rücktrittssurrogaten übernehmen.2160 Vor allem die praktisch bedeutsame zweite Gruppe beschäftigt die wissenschaftliche Diskussion. 2156
Einzelheiten müssen daher aus dem jeweiligen Delikt herausgearbeitet werden. Für § 17 StGB siehe die Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, A. III. 2. Ein verschuldeter Defekt im Rahmen des § 21 StGB kann nur die Intoxikationspsychosen betreffen. Vergleicht man diesen Ausschluss mit den übrigen Gründen in § 20, fällt natürlich ins Gewicht, dass die eigens gewählte Berauschung abseits der Sucht nicht den gleichen „schicksalhaften“ Übergriff des Defektes über die Person beinhaltet. Die Überlegungen des 3. Strafsenats (BGH NStZ 2003, 480 – Urt. v. 27. 03. 2003 – 3 StR 435/02), die Haftung an die Regelung des Vollrausches anzunähern, liegen nicht vollständig neben der Sache. Dennoch wird nicht jede einfache Fahrlässigkeit das Zurechnungsdefizit kompensieren können. Breite Ablehnung auch im Schrifttum, vgl. etwa Streng, NJW 2003, S. 2963 (2964 ff.) und Schöch, GA 2006, S. 371 (375) mit weiteren Nachweisen in Fn. 27. 2158 Konkurrenzprobleme können sich lediglich beim Zusammentreffen von § 27 II StGB mit § 28 I StGB stellen. Führt allein das Fehlen einer besonderen Subjektstellung nach § 28 I StGB schon dazu, dass konstruktiv nur Beihilfe (z. B. das Fehlen der Vermögensbetreuungspflicht bei der Untreue) vorliegt, erscheint eine doppelte Strafrahmenmilderung im Grunde widersinnig, vgl. LK-StGB/Schünemann 12(2007), § 28 Rn. 83 f. Ob der Doppelverwertungsgedanke zu Recht greift oder der Gesetzesautomatismus contra legem korrigiert wird, s. etwa Gribbohm, FS Salger (1995), S. 39 (44), soll hier nicht vertieft werden. Es ist zumindest kein Problem einer Strafrahmenwahl. 2159 Sog. benannte Strafschärfungs- bzw. Strafmilderungsgründe, vgl. Kühl, Strafrecht AT 7 (2012), § 1 Rn. 7. 2160 Da in vielerlei Fällen eine erhebliche Vorverlagerung des Erfolgseintritts einen strafsystematischen Rücktritt ausschließt, kommen rücktrittsähnliche Rechtsfiguren zur Anwendung. Zu nennen sind die Aufgabe der Tat bzw. ihre Erfolgsvereitelung (§§ 84, 89a, 98, 129, 129a StGB), ggf. durch Mitteilung an Behörden (§§ 98, 129 VI Nr. 2, 129a VII StGB) und Fälle der tätigen Reue (§§ 83a I; 84 V, 306e, 314a, 320, 330b StGB, in diesen Zusammenhang ebenso 2157
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
aa) „Besonders schwere Fälle“: zur legislatorischen Methode der Regelbeispielstechnik Die „besonders schweren Fälle“ gehen meist einher mit der sog. Regelbeispielsmethode.2161 Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen wird auf diese Technik verzichtet.2162 Kennzeichen der Regelbeispiele ist ihre sog. Indizwirkung. Erfüllt die Subsumtion den Tatbestand eines Regelbeispiels, so kann nur in gesondert begründeten Ausnahmefällen die Auslösung des Sonderstrafrahmens verhindert werden. Dieser Mechanismus kommt einer gesetzlichen Vermutungsregel gleich. Daneben werden unbenannte (sonstige) schwere Fälle für möglich gehalten, wenn zwar keines der gesetzlichen Regelbeispiele einschlägig ist, aber nach Art und/oder Gewicht Umstände vorliegen, die diesen in der Wertung gleich stehen (sog. Analogiewirkung). Ähneln die Gründe sachlich den Regelbeispielen, soll die Analogiewirkung eine enge sein, ergibt sich die Gleichheit nur über die Schwere der Tat wird auch von weiter Analogiewirkung gesprochen.2163 Die fehlende Verbindlichkeit eines Merkmals einerseits und die unbenannten schweren Fälle andererseits werfen Fragen auf bezüglich ihrer Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz. Weniger bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die formale Qualifikation als Strafzumessungsregel bzw. Tatbestandsmerkmal.2164 Die hiesige Konzeption, die sämtliche Strafzumessungsfaktoren auch als Bestandteile des Unrechtstatbestands auffasst, muss eine solche Frage bereits für fruchtlos halten.
§ 158 StGB, auch wenn von Berichtigung die Rede ist). Nicht in diesen Kontext gehören § 113 IV (Irrtums- und Zumutbarkeitsregelung), die minder schweren Fällen der § 90 II (ausdrücklich) und „konkludent“ in den §§ 157, 236 StGB sowie in §§ 84 IV, 129a VI StGB (als Fälle der Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung); vgl. dazu auch Bergmann, Die Milderung der Strafe nach § 49 Abs. 2 StGB (1988), S. 6. Ob es sich letztlich um „Sonderstrafrahmen“ oder Strafrahmenerweiterungen „nach unten“ handelt, dazu eingehend Bergmann, a. a. O., S. 20 ff., 60 ff., ist zunächst sekundär. Da in Ermangelung eines einheitlichen Prinzips der Auslösungstatbestände keine gemeinsame Methode zu erwarten ist, empfiehlt sich eine methodische Anbindung an den „Sachgrund“ der Milderung, d. h. rücktrittsähnliche Rechtsfiguren orientieren sich an den Versuchsgrundsätzen, minder schweren Fälle an entsprechender Wertgruppenbildung, usw. 2161 Aus dem StGB: §§ 94 II, 99 II, 100, 100a IV, 113 II, 121 III, 125a, 177 II, 218 II, 240 IV, 243, 253 IV, 261 IV, 263 III, 264 II, 266 II, 266a IV, 267 III, 283a, 283d III, 291 II, 292 II, 300, 303b IV, 316b III, 330 I. Eine interessante, wenngleich hier nicht weiter zu verfolgende Frage ist es, warum der Gesetzgeber von diesem Instrument nur selektiv Gebrauch macht, vgl. Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), 1 (54). 2162 Aus dem StGB: §§ 106 III, 109e IV, 176, 179 III, 212 II. 2163 Dazu und zur Terminologie im Ganzen Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 201 f. 2164 Zu dieser Auseinandersetzung Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 144 ff. Die Strafzumessungslösung z. B. bei Esko Horn, Die besonders schweren Fälle und Regelbeispiele (2001), S. 26 f.; Maiwald, FS Gallas (1973), S. 137 (149); ders., NStZ 1984, S. 433 (435); Gössel, FS H.-J. Hirsch (1999), S. 183 (198); Zieschang, Jura 1999, S. 561 (565 ff.).
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Die Regelbeispiele formulieren dann Tatbestandsmerkmale.2165 Geschuldet ist die Differenz zu rechtlichen Qualifikationsregelungen lediglich der Gesetzestechnik,2166 so dass es aus Sicht der Strafbemessung keinen substantiellen Unterschied macht. Das jeweils verwirklichte Unrecht ist Gegenstand der Beurteilung. Aber auch im Übrigen kann die bloße Etikettierung als Strafzumessungsregel keinen Beitrag zu dieser inhaltlichen Diskussion leisten. Denn Tatbestandsmerkmale determinieren die Rechtsfolge und sind rechtslogisch gesehen ebenso immer (auch) Strafzumessungsregeln.2167 Inhaltlich ist zumindest die abgeschwächte Konditionalstruktur, mithin der Indizcharakter der Regelbeispiele, gesetzestechnisch unproblematisch, da die Indizwirkung, und nur darauf kann es ankommen, (relativ) eindeutig umschreiben werden kann. Der Täter kann sich also immer auf das Auslösen dieser Wirkung einstellen. Die Entkräftung eines Regelbeispiels mag in diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwar unbestimmt sein; diese Unklarheit geht aber nicht zu Lasten eines Täters. Auf mehr als diese Warn- und Klarstellungsfunktion eines gesetzlichen Verbots hat der Gesetzesadressat indes keinen Anspruch. Schwieriger stellt sich die Sache bei den sonstigen schweren Fällen dar. Der BGH versucht eine allgemeine Annäherung über eine Abweichung vom Durchschnitt, nämlich wenn in der Tat oder in der Person des Täters außergewöhnliche Umstände liegen, die eine Anwendung des höheren Strafrahmens gebieten.2168 Mehr als ein Pleonasmus ist dies nicht. Gerade in Fällen, in denen Regelbeispiele verwendet werden, scheint eine solche Formel auch überflüssig. Die Existenz solcher unbenannten schweren Fälle wird wohl seit jeher vorausgesetzt,2169 obwohl die (aktuelle) Gesetzesformel dies gar nicht zwingend fordert. Der Bezugspunkt der Wendung „in der Regel“ ist in diesem Kontext nicht eindeutig. So könnte eine Lesart aus-
2165 R.-P. Calliess, NJW 1998, S. 929 (934); zuvor ders., JZ 1975, S. 112 (116 f.); Neuhaus, DRiZ 1989, S. 95 (96 f.). Die „Tatbestandslösung“ auch bei Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 151 ff., 189 mit entsprechenden Nachweisen (S. 151, Fn. 41). Mit dieser Charakterisierung, freilich de lege ferenda auch Hettinger, FS Paeffgen (2015), S. 267 (280). 2166 Vgl. auch Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT 6(2011), § 5 Rn. 9. 2167 Maiwald, FS Gallas (1973), S. 137 (148). 2168 Grundsätzlich BGH, 28. 02. 1979 – 3 StR 24/79; BGHSt 28, 318 (319). Kritisch dazu Hettinger, FS Maiwald (2010), S. 293 (314 f.), der zu Recht anmerkt, dass eine Abschichtung dergestalt sinnlos ist, solange eine Überschneidung der Strafrahmen eine Korrespondenz von Strafhöhe und Unrechtsqualität in den Überlappungsbereichen verhindert. 2169 Man kann dies wohl nur historisch erklären. Das RStGB kannte bei Erlass „Die besonders schweren Fälle“ nicht, sondern es fanden diese erst sukzessive Eingang ins Gesetz, vgl. Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 70 ff. Die Explikation über Regelbeispiele hat der Gesetzgeber dann offenbar als Komplementärerscheinung gedacht, vgl. die Nachweise bei Eisele, a. a. O., S. 94 f.; H.-J. Hirsch, FS Gössel (2002), S. 287 (299); Maiwald, NStZ 1984, S. 433 (438). Spezialität bei Esko Horn, Die besonders schweren Fälle und Regelbeispiele (2001), S. 16.
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schließlich die gesetzlich angelegte Indizwirkung in Bezug nehmen.2170 In der Folge wäre die sogenannte Analogiewirkung ausgeschlossen. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Vorschriften wäre das jedenfalls nicht ohne Belang, soweit man nicht ohnehin auch schon die unbenannten Vorschriften nach der Verfassung für zulässig hält. Dies verdeutlicht, dass das Problem weniger in der Verwendung der Rechtsfigur des schweren Falls, sondern in der potentiellen Spannweite der Strafrahmen liegt. Der Gesetzgeber könnte immerhin in diesem Sinne auf die Regelbeispielstechnik verzichten und einen Einheitsstrafrahmen aufstellen. Demgegenüber bringt die Regelbeispielstechnik nur einen Gewinn an Bestimmtheit.2171 Die Vorstellung eines (virtuellen) Einheitsstrafrahmens ergibt sogar durchaus Sinn, wenn man sich in dem Regelungsgehalt phänomenologisch ohnehin nur eine Variation des allgemeinen Deliktstypus vorstellt. Ein derart reduzierter Konflikt verspricht gleichwohl keine eindeutigeren Antworten. Zwar wird man ganz generell die Erstreckung des nullum-crimen-Satzes auch auf die Rechtsfolge für begrüßenswert halten dürfen, und auch den Standpunkt vertreten können,2172 dass nicht für jedes Delikt beliebig viele Rechtsfolgen vorgehalten werden können. Es erschiene sehr zweifelhaft für einen Diebstahl von der Geldstrafe bis zur zeitigen Freiheitsstrafe (15 Jahre) sämtliche Strafen verhängen zu können. De facto ist die aktuelle Regelung aber nicht weit weg davon. Auch für eindeutige Qualifikation (§§ 244, 244a StGB) wird effektiv lediglich geringfügig die Mindeststrafe erhöht, wenn man zudem die Möglichkeit minder schwerer Fälle berücksichtigt. Von einer merkmalsspezifischen Leitfunktion kann also kaum die Rede sein. Dann steht einem einheitlichen Tatbestand und letztlich auch den unbenannten schweren Fällen keine fassbare Hürde entgegen. Das ist rechtsstaatlich unbefriedigend und somit nicht unbedenklich. In konkreten Zahlen(spannen) lässt sich das Bestimmtheitsgebot für die Rechtsfolgenhöhe aber offenbar nicht fassen. Von daher spricht es eher dafür, den nullum-crimen-Satz auf die Verbotsnorm zu beschränken2173 und für die Rechtsfolgenseite, anstatt von gelockerten Anforderungen zu sprechen,2174 dort von vorneherein (nur) das Willkürverbot walten zu lassen, wenn es um die Höhe2175 der Rechtsfolge geht. 2170 Äquivalent zu: „Ein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn […], es sei denn …“ ist der Sinn dann: „Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel, [aber auch nur dann] vor, wenn …“. In diesem Sinne Hettinger, FS Maiwald (2010), S. 293 (318). 2171 So auch Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot (1982), S. 207. Im Tenor vgl. auch Zieschang, Jura 1999, S. 561 (564), der dennoch von einer gesetzgeberischen „Kapitulation“ ausgeht, wenn der Gesetzgeber die Konkretisierungsaufgabe nicht wahrnimmt. Eine weitere Ausdifferenzierung regt Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (111), an. 2172 Maiwald, FS Gallas (1973), S. 137 (147); Roxin, Strafrecht AT 4(2006), § 5 Rn. 80 ff.; Schier, Die Bestimmtheit strafrechtlicher Rechtsfolgen (2012), S. 212; Zieschang, Jura 1999, S. 561 (564). Auch Dannecker, FS Roxin II (2011), S. 285 (302), der lediglich die konkrete Strafzumessung im Einzelfall davon ausschließen will. 2173 Kindhäuser, FS Triffterer (1996), S. 123 (126). 2174 Krahl, Tatbestand und Rechtsfolge (1999), S. 110 mit Nachweisen zur (offenbar) h. M. 2175 Für die Art der Rechtsfolge mag das Bestimmtheitsgebot mehr Wirkung zeigen.
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bb) Die Konkretisierung der sonstigen besonders schweren Fälle Aus der verbreiteten Verbindung von Qualifikationen mit minder schweren Fällen, aber vor allem die selektive Behandlung2176 von inhaltlich gleichen strafschärfenden Merkmalen einmal als Qualifikation, zum anderen als (bloßes) Regelbeispiel, ergibt schwerlich Aufschluss über ein bestimmtes Rationalitätskonzept der besonders schweren Fälle. Ein neuer Tattypus des Unrechts wird sich aus dem gesetzlichen Textbefund nicht ableiten lassen.2177 Das Überschneiden von Strafrahmen mag damit nicht erklärt werden können, doch ist dieses als Relikt der Vollstreckungsdifferenzierung nunmehr funktionslos.2178 Die Argumente stellen sich nicht sachlich anders dar, wenn sie einmal im Kontext zur Begründung eines unbenannten besonders schweren Ausnahmefalls dienten, dann aber gleichsam nivelliert würden um doch eine Strafe abschließend zu wählen, die auch der Normalstrafrahmen ermöglicht. Es ist also fiktiv von einem einheitlichen Gesamtstrafrahmen auszugehen.2179 Für die Auslösung der Sonderstrafrahmen selbst kann im Grunde nichts anderes gelten als für die Änderungen des Allgemeinen Teils.2180 Von der Semantik im Gesetz her gedacht beziehen sich besonders schwere Fälle auf das typisierte Tatunrecht, also das geschützte Rechtsgut sowie die vollzogenen Angriffsmodalitäten. Es geht also um unrechtsbedeutsame Veränderungen 2176
Vgl. Gössel, FS H.-J. Hirsch (1999), S. 183 (188 f.). Vgl. auch H.-J. Hirsch, FS Gössel (2002), S. 287 (296); Horn, GS H. Kaufmann (1986), S. 573 (584). 2178 I. E. ebenso Maiwald, FS Gallas (1973), S. 137 (160). Offenbar wird das vielfach anders gesehen, wenn der Überlappungsbereich eine sachliche Funktion haben soll, so Montenbruck Strafrahmen und Strafzumessung (1983), S. 94; und (im Kontext des AT) Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils (1983), S. 81. Das erscheint aber nicht schlüssig. Für den Tenor schon spielt die Einstufung als minder/besonders schwerer Fall keine Rolle. Sachlich wäre das nur gerechtfertigt, wenn sich eine derart feste Auslegung der erschwerenden Gründe herauskristallisiert, dass diese den Rang einer Quasi-Qualifikation erreichen. Aber auch dann wäre zu klären, wann es sich um (bloße) Strafzumessungsgründe (im geänderten Rahmen) handeln, und wann um kontraindizierende Gründe bzgl. der Strafrahmenwahl. Dem Einwand von Montenbruck, NStZ 1987, S. 311 (312), dass auch das qualifizierte Delikt geringer bestraft werden kann als das Grunddelikt, so dass eine Stufenlogik der Tatschwere zum Teil hinfällig ist, kann nicht wirklich entgegnet werden. Es zeigt aber eigentlich nur, dass auch die „Typusfunktion“ der Qualifikationen am phänomenologischen Unrecht nicht viel ändert. Ein Diebstahl mit Waffen (§ 244 StGB) bleibt im Kern ein Diebstahl. 2179 Maurach/Zipf, Strafrecht AT 2 7(1989), § 62 Rn. 39, abweichend Maurach/Zipf/Dölling, Strafrecht AT 2 8(2014), § 62 Rn. 45. 2180 Die Rechtsprechung vertritt hier wiederum die Lösung über eine Gesamtwürdigung. Bemerkenswerterweise wird durchaus differenziert nach minder bzw. besonders schweren Fällen. Während für die minder schweren Fälle eine Gesamtbetrachtung über die Strafwürdigkeit des Falles erfolgt; s. die Aufbereitung mit umfangreichen Nachweisen durch Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1101 u. 1107 ff., konzentriert sich die Entscheidung bei besonders schweren Fällen auf Umstände der Tatbegehung, s. entsprechend Schäfer/Sander/van Gemmeren, a. a. O., Rn. 1136 ff. Das ist methodisch nicht sonderlich konsequent, so zu letzterem Schäfer/Sander/van Gemmeren, ebd. 2177
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der Tatbegehung. Das Modell der „halbabstrakten“ Merkmale2181, also einzelnen typisierten Merkmalen eine Art generalisierte Leitfunktion zuzuweisen, dürfte, dort wo Regelbeispiele fehlen, deren Funktion übernehmen können. Für eine diffuse Gesamtwürdigung besteht dann kein Anlass.2182 Aufgrund des Doppelverwertungsverbots wird man zudem ausschließen müssen, die strafrahmenbegründenden Umstände nochmals zu verwerten.2183 Von der analogen Bildung besonders schwerer Fälle im Übrigen sollte perspektivisch Abstand genommen werden. Auch wenn diese Analogiewirkung intra legem rechtsstaatlich nicht unhaltbar ist,2184 so zieht sie doch eine unnötige Unsicherheit nach sich. Die Gegenschlusswirkung zu überwinden dürfte auch sachlich kaum angezeigt sein.2185 Klare Kandidaten dafür sind einstweilen nicht ersichtlich.2186 Die Zukunft sollte daher eher in echten Qualifikationstatbeständen mit Milderungsoption gesucht werden.2187 Die Entkräftigung eines besonders schweren Falls wird sich letztlich auch nach denselben Regeln zu vollziehen haben. 2181
Montenbruck Strafrahmen und Strafzumessung (1983), S. 95 ff. Fandrich, Das Doppelverwertungsverbot im Rahmen von Strafzumessung und Konkurrenzen (2010), S. 57; Gramsch, Strafrahmenkonkurrenz (1999), S. 135; Horn, GS H. Kaufmann (1986), S. 573 (582). A. A. Maiwald, NStZ 1984, S. 433 (439). Man wird insoweit zugeben müssen, dass die Methode der halbabstrakten Merkmale Schwächen bei der Benennung derselben hat. 2183 Horn, GS H. Kaufmann (1986), S. 573 (583); ähnlich auch Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 10 Rn. 13. Abweichend Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 215, der als Äquivalent zur Tatbestandsauslegung die Gesamtwertung (in concreto: die Wertgruppenbildung) an sich dem Doppelverwertungsverbot unterwirft. Das ist konstruktiv nachvollziehbar, setzt allerdings voraus, dass diese Wertgruppenbildung nicht schon alle strafzumessungsrelevanten Umstände einbezieht. Denn ansonsten wäre die abschließende Konkretisierung (Gesamtbetrachtung!) der Strafe ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung dessen sind keine anderen Ergebnisse als hier zu erwarten. 2184 Dannecker, FS Roxin II (2011), S. 285 (302); Kastenbauer, Die Regelbeispiele im Strafzumessungsvorgang (1986), S. 251; a. A. Esko Horn, Die besonders schweren Fälle und Regelbeispiele (2001), S. 64 ff., 139 f. 2185 Je eindeutiger und vorhersehbarer diese Fälle sind, desto eher wird man ein Tätigwerden des Gesetzgebers erwarten dürfen. Die gepriesene Flexibilität hat also praktisch nur dann einen vorgehobenen Wert, wenn tatsächlich ein Bedarf für hohe Strafen jenseits der üblichen Normalstrafrahmen besteht. Angesichts der kritisierten „punitiven“ Haltung des Gesetzgebers muss dies verwundern. 2186 Der von Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1148 angeführte „Bundesbankfall“ (BGHSt 29, 319) scheint m. E. nur die prozessuale Auseinandersetzungspflicht (§ 267 III StPO) widerzuspiegeln. Dass dies das Verständnis der h. M. gebietet, ist prozessual konsequent, über die inhaltliche Typisierung besagt dies noch nichts. Denn ein (formaler) Verstoß gegen die Würdigungspflicht zwingt noch nicht zu folgern, dass auch auf einen besonders schweren Fall zu erkennen ist. 2187 Dannecker, FS Roxin II (2011), S. 285 (303); Esko Horn, Die besonders schweren Fälle und Regelbeispiele (2001), S. 146 ff.; für Verzicht der besonders schweren Fälle wirbt auch H.-J. Hirsch, FS Gössel (2002), S. 287 (295 ff.); aus neuerer Zeit votieren für eine Abschaffung Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (118) und Verrel, JZ 2018, 811 (813). 2182
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cc) Die minder schweren Fälle Die minder schweren Fälle tragen nicht das Laster der Unbestimmtheit in sich, da die Rechtsfolgenwahl den Täter begünstigt. Die Probleme für den Rechtsanwender sind indes die gleichen. Ihre Verwendung ist recht zahlreich,2188 der überwiegende Teil steht im Zusammenhang mit Qualifikationen.2189 Daraus lässt sich für ihre Anwendung ein allgemeiner Grundsatz ziehen, dass jeweils dann, wenn die ratio der Strafschärfung, die zum Qualifikationsstrafrahmen führt, nicht erfüllt wird, eine „Korrektur“ über die minder schweren Fälle herbeizuführen ist. Spiegelbildlich zur Schwerebildung kommen zur Strafrahmenverschiebung nur Minderungen des tatbestandsspezifischen Unrechts in Frage.2190 Der BGH dagegen behilft sich auch in diesen Fällen mit der Gesamtbetrachtung.2191 Allgemeine Minderungsumstände tragen allerdings nichts zur typisierten Bewertung bei.2192 Eine verminderte Zurechnung, bspw. durch Alkoholisierung, ändert schließlich nichts an der Anschauung des objektiven Tatbilds. Sie kann im Ergebnis nur dazu führen, dass die verwirklichten Umstände dem Täter nicht in Vollständigkeit angelastet werden. Auch im Bereich des Versuchs sollte semantisch ein Unterschied bestehen zwischen einem minder schweren Fall des Versuchs eines Delikts (wenn versuchsspezifische Milderungsaspekte vorliegen) und einem minder schweren Fall des Delikts im Versuch (wenn bloß das Versuchsstadium erreicht wurde). Die undifferenzierte Betrachtungsweise ebnet zwei verschiedene Aspekte völlig ein. Man darf aber annehmen, 2188 Aus dem StGB: §§ 81 II, 82 II, 83, 89a V, 90 II, 100 III, 105 II, 145d IV, 146 III, 152b III, 154 II, 164 III, 176a IV, 177 V, 179 VI, 213, 221 IV, 224 I, 225 IV, 226 III, 227 II, 232 V, 234 II, 234a II, 234 VI, 237 IV, 239 III, 239a II, 239b II, 244 III, 244a II, 249 II, 250 III, 258a I, 260a II, 263 V, 267 IV, 306 II, 306a III, 308 IV, 309 V, 310 II, 312 V, 315 IV, 315b III, 316a II, 316c II, 318 V, 330 III, 330a III, 332 I, II, 334 I, 340 I, 343 II, 344 I, 345 I. Für eine Ausweitung und Überführung in den Allgemeinen Teil spricht sich Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (110), aus. 2189 §§ 145d IV, 146 III, 152b III, 154 II, 164 III, 176a IV, 177 V, 179 VI, 221 IV, 224 I, 225 IV, 226 III, 227 II, 232 V, 234 VI, 239 III, 244 III, 244a II, 250 III, 258a I, 260a II, 263 V, 267 IV, 306a III, 308 IV, 309 V, 312 V, 315 IV, 315b III, 318 V, 330 III, 330a III. 2190 Auszuscheiden hat dann auch eine Folgenbetrachtung, Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen (1992), S. 116; anders Mestek-Schmülling, Mittelbare Straftatfolgen und ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung (2004), S. 148 und Schäfer, FS Tröndle (1989), S. 395 (404 f.), mit Berufung auf die früher gesetzliche Regelungspraxis der „mildernden Umstände“. Die Gesamtbetrachtungslehre (s. folgende Fn.) nach der Rspr. kann dies entsprechend verarbeiten. Zur Rspr. auch Nicolaus, a. a. O., S. 106. 2191 „Für die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall angenommen werden kann, ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH maßgebend, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle so sehr abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Hierzu ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen.“ (Urt. v. 19. 3. 1975 – 2 StR 53/75 – BGHSt 26, 97, (98); Urt. v. 12. 1. 2000 – 3 StR 363/99 – NStZ 2000, 254). 2192 Man beachte auch die Kritik bei Montenbruck, NStZ 1987, S. 311 (312).
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
dass der Gesetzgeber im Allgemeinen Teil Sonderregelungen antizipierter Strafzumessung geschaffen hat. Die BGH-Formel der Gesamtabwägung sollte deswegen auch hier aufgegeben werden.2193 dd) Konkurrenzen von Milderungsgründen Die exklusive Verwertung von Milderungsgründen ist nicht ganz friktionsfrei in das Gesetz einzufügen. Werden die hier vorgestellten Maßstäbe befolgt, sind Interferenzen von Milderungsgründen prinzipiell ausgeschlossen.2194 § 50 StGB geht indes offenbar von der Möglichkeit der Koinzidenz („zugleich“) von Milderungsgründen aus.2195 Das ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechungspraxis, die der Gesetzgeber schließlich kannte, zu erklären. Der substantielle Regelungsgehalt wäre allerdings auch unter Anerkennung der Rechtsprechung fraglich. Denn auch ohne diese explizite Vorschrift wäre das Doppelverwertungsverbot an dieser Stelle gültig und sachlich geboten. Die in der Literatur vorgeschlagene „Günstigkeitslösung“2196 als Auswahlkriterium bei Milderungskonkurrenz wird jedenfalls nicht durch § 50 StGB gefordert. Der Leerlauf der Vorschrift2197 kann deswegen in Kauf genommen werden. Kritikern wird man entgegenhalten können, dass immerhin die Methode den Vorrang des Gesetzes wahrt: Folgt man dem hier vorgeschlagenen Konzept, kann
2193
Alberts, Gesetzliche Strafmilderungsgründe und richterliche Strafrahmenwahl (1985), S. 170; Fandrich, Das Doppelverwertungsverbot im Rahmen von Strafzumessung und Konkurrenzen (2010), S. 57; Hettinger, FS Pötz – 140 Jahre GA (1993), S. 77 (109 f.); Horn, GS H. Kaufmann (1986), S. 573 (582); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 4(2015), S. 177. 2194 Als Besonderheit in diesem Kontext vermag hier das Zusammenspiel von § 213 StGB und § 21 StGB erscheinen. Ohne auf die Problematik in diesem Rahmen näher eingehen zu können, lässt sich dennoch methodisch hier erinnern: Unrecht und Zurechnung sind systematisch getrennt. Geht man davon aus, dass § 213 StGB Unrechts- und Tatschuldaspekte (Rechtsfriedensstörung) regeln, dann bedeutet dies, dass eine Überlagerung im engeren Sinne gar nicht vorliegt, sondern unterschiedliche Strafzumessungstatsachen nur eine gemeinsame Faktenbasis teilen. § 213 StGB und § 21 StGB regeln dann im Ergebnis substantiell verschiedene Gegenstände. Geht man von einer sachlichen Überschneidung (also § 213 StGB als Form spezifizierter Zurechnung) aus, dann führt der Spezialitätsgrundsatz zur Verdrängung der allgemeineren Norm. Im Fall des Zusammentreffens mit § 49 Abs. 2 StGB (lediglich Untergrenzenverschiebung) entschärft sich die Problematik, da dann für eine „Wahl“ keine Notwendigkeit besteht, soweit die beiden Gesetzesaussagen kumulativ vereinbar sind, Frisch, JR 1986, S. 88 (91 f.). 2195 Insofern korrekt Horstkotte, FS Dreher (1977), S. 265 (272 f.). 2196 Horn, GS H. Kaufmann (1986), S. 573 (583); Horstkotte, FS Dreher (1977), S. 265 (277); ferner dazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 694 f.; ders., FS Kühl (2014), S. 489 (493). Zu anderen Modellen Gramsch, Strafrahmenkonkurrenz (1999), S. 144 ff., selbiger für die Konkurrenzlösung der Spezialität (S. 158 f.). 2197 I. E. so wie hier noch: Sch/Sch-StGB/Stree 27(2006), § 50 Rn. 23; nunmehr dort die „Günstigkeitslösung“ Sch/Sch-StGB/Kinzig 30(2019), § 50 Rn. 2; ferner Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht 2(2021), § 9 Rn. 44.
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gegen § 50 StGB schon gar nicht verstoßen werden.2198 Die Problematik zeigt deutlich, dass sich der Gesetzgeber der Konzeption der Milderungsgründe annehmen muss.2199
III. Einstellung und Gewichtung der relevanten Strafzumessungstatsachen 1. Das Einstellen relevanter Strafzumessungstatsachen Das Einstellen relevanter Strafzumessungstatsachen meint im Grunde eine Zusammenstellung des Bewertungsstoffs. a) Prozessuale Grundsätze der Einstellung Eine reguläre Einstellung fordert eine Feststellung der Strafzumessungstatsachen im Strengbeweis.2200 Für eine Verwertung von Tatsachen betreffend ausgeschiedener Taten nach §§ 154, 154a StPO sollten entsprechend §§ 264, 265 StPO richterliche Hinweise ergehen. b) Verbot der Doppelwertung (§§ 46 Abs. 3, 50 StGB) aa) Das Verbot der Doppelverwertung umschreibt systematisch ein Einstellungsverbot. Da jeder Umstand nur einmal in die Berechnung eingestellt werden soll, könnte man es als „Gebot der Logik“2201 bezeichnen. Diesbezüglich kann man sich argumentativ darauf zurückziehen, dass bereits der Gesetzgeber durch die Aufstellung des Strafrahmens antizipierte Strafzumessung betrieben und die Fakten insoweit verwertet hat.2202 Das Entscheidende gehört allerdings noch pointierter 2198 Ein neuer § 50 StGB sollte die hier propagierte „Trennungslösung“ gesetzlich festschreiben. 2199 Ein einheitliches Minderungskonzept ist jedenfalls kaum zu erkennen, vgl. Goydke, FS Odersky (1996), S. 371 (372). Ein monistisches Milderungssystem im Allgemeinen Teil, welches Goydke, a. a. O., S. 382 f. räsoniert, scheint m. E. nur die Gesamtwürdigung zum Gesetz machen zu wollen. 2200 MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 21. Die Ermittlung solcher Umstände gebietet überdies die Aufklärung von Amts wegen. Es kann daher unabdingbar sein, Zeugen im Hinblick auf die persönlichen und wirtschaftlichen Umstände zu laden und zu vernehmen, Bartel, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 187 (189 f.). Die Praxis sieht – auch unter dem Damokles-Schwert der Verfahrensverzögerung freilich bisweilen anders aus, dazu Bartel, a. a. O. 2201 Mit berechtigter Kritik El-Ghazi, JZ 2014, S. 180 (181). Mit Formallogik hat das im Grunde nichts zu tun. 2202 Eisele, Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004), S. 133; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 79 f.; Schall/Schirrmacher, Jura 1992, S. 624 (626); Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 37, Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
herausgestellt: Fälle, die sachlich das Doppelverwertungsverbot berühren, sind zur Differenzierung des Falles untauglich.2203 Umstände, die notwendig eingetreten sind bzw. eintreten müssen, machen in der Betrachtung keinen Unterschied aus. Dass die Tatsache des Tods zur Differenzierung eines Totschlags nichts beitragen kann, leuchtet ohne weitere Erklärung unmittelbar ein. Man wird allerdings auch nicht erwarten, dass derart plumpe Begründungen in einem Urteil auftauchen. Die Gefahr besteht auch eher im Umstand einer unerkannten Verwertung. So gesehen bedeutet ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelwertung eine Verkennung der strafzumessungsrechtlichen Irrelevanz. Abzugrenzen von schlichten Paraphrasierungen des gesetzlichen Umstands sind dagegen unterschiedliche tatbestandliche Ausprägungen einer Verwirklichung gesetzlicher Merkmale. Diese sind wieder zur Differenzierung geeignet und deshalb nicht vom Verbot erfasst. Die Tatsache als solche ist argumentativ „verbraucht“, aber noch nicht entsprechend gewichtet.2204 Aus demselben Grund wird man auch eine strafzumessungsrechtliche Binnendifferenzierung von Tatbestandsalternativen nicht als Verstoß gegen die gesetzliche Vorwertung zu behandeln haben.2205 bb) Das sog. Regeltatbild ist nicht unmittelbar erfasst von der Norm des § 46 Abs. 3 StGB, dennoch bewegt es sich in dessen Wirkungskreis. Gemeint sind dann jeweils Umstände, die regelmäßig bzw. häufig mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestands einhergehen, so dass keine besondere Bedeutung für die Strafzumessung daraus erwächst. Das Regeltatbild soll in Verwandtschaft zum Doppelverwertungsverbot stehen, da der Gesetzgeber sich dieses normale Erscheinungsbild bei der (2004), S. 22; weitere Nachweise jeweils auch a. a. O. Weitere Begründungsansätze bei Fandrich, Das Doppelverwertungsverbot im Rahmen von Strafzumessung und Konkurrenzen (2010), S. 23 ff. Als Ausfluss des Schuldprinzips bei El-Ghazi, JZ 2014, S. 180 (181 f.). 2203 Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 27 f.; ders., ZStW 111 (1999), S. 156 (163). Zur älteren Kritik am Doppelverwertungsverbot s. eingehend Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 48 ff. 2204 Vorsicht geboten ist allerdings, wenn das Gesetz quantifizierende Gewichtungen entweder verbietet oder sonst als irrelevant behandelt. Denn dann wird von Gesetzes wegen nur der Umstand als solcher gezählt. So verhält es sich z. B. bei Tötungsdelikten. Eine Tötung eines Säuglings wird nicht anders bewertet als die eines 100jährigen Greises, auch wenn man mit einer gewissen Berechtigung sagen könnte, dass wohl mehr potentielle Lebenszeit vernichtet würde. Gegenstand der strafrechtlichen Tabus ist aber das Leben an sich, nicht dessen vermeintliche Wertigkeit. Mit dem eigentlichen Verbot der Doppelverwertung hat dies aber nichts mehr zu tun, richtig daher Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 27 f.; Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen (2004), S. 26 f. 2205 Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 136; El-Ghazi, JZ 2014, S. 180 (183); Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 42 f. Anders Timpe, Die Strafmilderungen des Allgemeinen Teils (1982), S. 49 (Fn. 122) und Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen (2004), S. 30 f. Die fehlende legislative Staffelung ist zunächst nur ein Indiz für die Gleichwertigkeit. Die Vorannahme, dass für jede Variante jedes Strafmaß zur Verfügung stehen muss, ist durch den Text nicht belegt; vgl. Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 159 (Fn. 25). Der Text schließt es lediglich nicht aus.
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Schaffung des Tatbestands bereits zu Eigen gemacht und soweit mitberücksichtigt habe.2206 Aus dieser Ähnlichkeit folgt allerdings noch nicht die Annahme eines Einstellungsverbots. Denn im Gegensatz zu Tatbestandsmerkmalen ist das Regeltatbild eben nicht zwingend verwirklicht. Folglich besteht immer noch die Möglichkeit einer Differenzierung. Von antizipierter Strafzumessung kann dann aber auch keine Rede sein. Der Gesetzgeber kann sinnvollerweise nämlich nur das regeln, worüber er Kenntnis bei Etablierung der Norm gehabt hat. So kann er mittels Strafrahmen festhalten, dass die Tatsache der Rechtsgutverletzung eine Strafe zwischen den beiden Endpunkten ergeben muss. Im Beispiel einer Vergewaltigung (§ 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) kann er also antizipieren, dass eine Penetration im Falle sexueller Nötigung mit zwei bis 15 Jahren Strafe bedacht werden soll. Bedenkt man zudem, dass die Regelbeispielswirkung der § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB auch noch außer Kraft gesetzt werden kann, erweitert sich der Strafrahmen noch einmal um ein Jahr nach unten. Eine solch beträchtliche Weite eines Strafrahmens hat seine Berechtigung nur, wenn die Tat infolge mannigfaltiger Differenzierungsfähigkeit verschiedene Strafen verdient. Insofern hat der Gesetzgeber eher eine Vielzahl von Fällen als ein Regeltatbild vor Augen. Bezüglich des Ausgangsbeispiels wird man daher konstatieren können, dass etwa der Umstand von ungeschütztem Verkehr oder einer Ejakulation sachlich nicht schon geregelt ist. Man wird sogar so weit gehen müssen und sagen können, dass für die gegenteilige Annahme eine ausdrückliche Regelung mit Strafmaßbindung erforderlich, aber auch leicht möglich gewesen wäre. Ungeschützter Verkehr mit Ejakulation birgt für das Opfer sowohl das Risiko einer ungewollter Schwangerschaft als auch die Ansteckung mit Infektionskrankheiten. Eine Verwirklichung ist deshalb eindeutig unrechtserhöhend gegenüber geschütztem Verkehr. Es ist also kein Fall eines Einstellungsverbots im Sinne des § 46 Abs. 3 StGB. Der BGH distanzierte sich daher in begründeter Weise von seiner ursprünglichen Rechtsprechung.2207 Die Diskussion beherbergt in Wahrheit ein ganz anderes Problem. Denn die Idee der Abgeltung speist sich daraus, dass Differenzierungskriterien nur dann entstünden, wenn sie vom Regeltatbild abweichen. Jegliche Umstände, die auf das Regeltatbild zutreffen, werden in ihrer potentiellen Wirkung absorbiert. Das setzt aber voraus, dass neben seiner phänomenologischen Existenz dem Regeltatbild eine bestimmte Strafe zugeordnet wäre. Auf diese Weise bemüht das Regeltatbild die 2206
BGH NStZ 1985, 215. BGH, Bes. vom 26. 10. 1984 – 3 StR 427/84; tendenziell Neumann, StV 1991, S. 256 (257); Weßlau, StV 1991, S. 259 (260). 2207 So auch Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung (2003), S. 88; El-Ghazi, JZ 2014, S. 180 (184); Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 27 f.; ders., ZStW 111 (1999), S. 156 (163); Fandrich, Das Doppelverwertungsverbot im Rahmen von Strafzumessung und Konkurrenzen (2010), S. 62; Hettinger, GA 1993, S. 1 (11); Schall/Schirrmacher, Jura 1982, S. 624 (627); Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen (2004), S. 40. Zu der vorgestellten Beispielsproblematik s. BGHSt 37, 153 (155), Urt. v. 14. 08. 1990 – 1 StR 62/90 vs. BGH NStZ 1985, 215. Weitere Nachweise zur vorgehenden Rspr. hinsichtlich zum Regeltatbild bei Wilcken, a. a. O., S. 32 f.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Auskleidung der Argumentationsfigur des sog. „normativen Normalfalls“.2208 Von diesem Fixpunkt aus in einem Relationsgefüge gedacht, verliert ein Umstand natürlich seine Differenzierungsfähigkeit, weil er dann bereits verwertet wurde. Aber dieser Fixpunkt ist gemeinhin unbekannt – mithin auch keiner Strafmaßfindung vorgelagert, sondern Teil derselben. Demgemäß ist es auch völlig unerheblich, ob dem Gesetzgeber ein bestimmtes Regeltatbild als eine Art Leitbild bei der Kreation des Tatbestands vorschwebte, solange dies im Strafmaß nicht ausdifferenziert wurde. Das Doppelverwertungsverbot kennt eine Ausdifferenzierung des Strafmaßes aber nur in der Korrelation von Strafrahmen und Tatbestandsmerkmal in dem hier dargestellten Sinne. c) Das Problem der „Bewertungsrichtung“ aa) Die Festlegung der Bewertungsrichtung von Strafzumessungstatsachen wird gemeinhin als Phase der Strafzumessung geführt.2209 Inhaltlich geht es eigentlich um die Bewusstwerdung der Qualität von Strafzumessungstatsachen. Der strafrechtliche Sprachgebrauch teilt dies ein in belastende und entlastende Umstände. Ein „Festlegungsakt“ im Sinne einer rechterheblichen Entscheidungsfrage ist dabei allerdings kaum denkbar.2210 Schon bei der Feststellung ihrer Unrechtsrelevanz werden die Strafzumessungstatsachen des § 46 Abs. 2 StGB entsprechend klassifiziert. Das ist im Grunde ein Evidenzurteil, welches in den seltensten Fällen misslingen wird. Bedürfte es erst eines Erkenntnisakts zur Bestimmung, dann hat sich die Regelvermutung einer Irrelevanz dieser Tatsache für die Strafzumessung im Grunde bestätigt.2211 bb) Davon zu unterscheiden ist das Phänomen der sog. Ambivalenz von Strafzumessungstatsachen. Hierbei geht es nicht im engeren Sinne um ein Definitionsproblem, sondern darum, dass die vorgefundenen Tatsachen bildlich gesprochen in zwei Richtungen zu verweisen scheinen. Dieser gegenteilige Impetus erfordere nun eine richterliche Auflösung dieser Ambivalenz. Aber auch hier suggeriert die Bemühung einer Festlegung jedenfalls ein falsches Bild. Richtigerweise hätte sich der Richter hier gar nicht für die von ihm bevorzugte Richtung zu entscheiden. Der Richter müsste, soweit festgestellt, beide Aspekte grundsätzlich würdigen. Der Sache nach handelte es sich vielmehr um ein internes Verrechnungsmodell, ver2208
In diese Richtung Frisch, GA 1989, S. 338 (361). Zum normativen Normalfall sogleich. Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 243 ff.; unverändert bei Bruns/ Güntge, Das Rechtder Strafzumessung 3(2018), Kap. 15; H.-L. Günther, FS Göppinger (1990), S. 453 (459); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 234 ff. 2210 So auch Frisch, FS Pötz – 140 Jahre GA (1993), S. 1 (25) – jedenfalls nicht losgelöst von der Frage der relativen Gewichtung (Abwägung). 2211 Man könnte diese Haltung als dezisionistisch kritisieren, doch rechtstheoretisch ist – erinnert sei an die gewerberechtliche Unzuverlässigkeit – nur eine Einstufung als richtig verbleibt, vgl. Niemöller, GA 2012, S. 337 (349): „kein Beurteilungsspielraum“. Es ist darin zu erinnern, dass – auch bei Zweifelsfällen – am Ende einer Subsumtion eine Evidenzbehauptung steht, s. zur Technik nur Arzt, Die Strafrechtsklausur 7(2006), S. 24. 2209
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gleichbar der Verrechnung von Vektoren mit entgegengesetzter Richtung. Diese „Kräftebilanz“ von Vektoren und Gegenvektoren wiese dann aber auch nur noch einen Faktor aus. Man könnte insoweit auch von annihilierender Wirkung sprechen. Allerdings ist eine echte Ambivalenz von Strafzumessungstatsachen bereits im Grunde logisch ausgeschlossen:2212 entweder eine Tatsache belastet oder entlastet. Lediglich zu bedenken ist, dass ein Lebenssachverhalt mehrere Strafzumessungstatsachen in Form unterschiedlicher Aspekte liefern kann. So kann bei einer Sexualstraftat die Naivität und Kritiklosigkeit des Opfers zwar einerseits entlastend2213 erscheinen, da dem Täter augenscheinlich nur geringer Widerstand entgegengebracht worden ist, zum anderen der Missbrauch einer Vertrauensstellung aber schwerwiegend ins Gewicht fallen. Bei genauerer Betrachtung sind dann zwei Aspekte als logisch getrennte Überlegungen strafzumessungsrelevant: der Vertrauensmissbrauch und der zu brechende Widerstand. Soweit beide Aspekte logisch unabhängig voneinander bestehen, besteht kein Grund sie nicht als eigenständige Strafzumessungsgründe einzuführen.2214 Man wird noch nicht mal sagen können, dass sich solche Tatsachenpaare in ihren Effekten generell (partiell) gegenseitig aufheben. Man sollte daher in diesem Kontext auch vermeiden von einer Kompensation zu sprechen, denn auf diese Weise wird ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Begriffen suggeriert, welches nicht notwendig besteht. cc) Ohnehin ist die gebräuchliche Rede von strafschärfenden Faktoren und -mildernden Faktoren im Rahmen der Strafzumessungsbegründung nicht unproblematisch. Solche Relationsattribute setzen einen festen Bezugspunkt voraus, über den sich die Strafzumessungswissenschaft im Grunde nicht im Klaren ist. Gemeint ist wiederum die schillernde Rechtsfigur des normativen Normalfalls. Die Rechtsprechung2215 verneint einen solchen normativen Normalfall.2216 Dies ist richtig, wenn man darauf abstellt, dass zu diesem Denkkonstrukt phänomenologisch kein Korrelat existiert.2217 Ein vom Gesetz angenommener Normalfall muss jedenfalls als unbekannt gelten. Das entbehrt allerdings nicht der Notwendigkeit einen Fixpunkt der Strafzumessung nominal zu definieren, von dem aus der zu beurteilende Fall eine Schärfung oder Milderung der Strafe erfordert. Ohne diesen gedanklichen Nullpunkt ist jede Rede von Milderung bzw. Schärfung entweder sinnlos oder wenigstens
2212
LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 81. Beispiel nach B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 236. 2214 In diesem Sinne auch Niemöller, GA 2012, S. 337 (345); Schall/Schirrmacher, Jura 1992, S. 514 (517). 2215 BGH (GS) St 35, S. 345. 2216 Dieser Ansicht folgend etwa Bruns, JZ 1988, S. 1053 (1055); Horn, StV 1986, S. 168 (169 f.); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 236; Streng, NStZ 1989, S. 393 (396). 2217 Mit dieser Akzentuierung ebenso Grasnick, JZ 1991, S. 933 (934); Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen (2004), S. 85. 2213
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
unvollkommen.2218 Insoweit lässt sich aus der Rechtsprechung lediglich (zutreffend) folgern, dass dieser Bezugspunkt von Gesetzes wegen nicht determiniert ist. In der Auswahl des Bezugspunkts ist der Rechtsanwender also prinzipiell frei. Dieser Bezugspunkt ließe sich als „normativer Normalfall“ bezeichnen, ohne dass damit ein bestimmter deskriptiver Gehalt verbunden wäre.2219 Das Phänomen, Strafänderungsgründe als Negativum zu formulieren, ist für diesen Sachzusammenhang unerheblich.2220 Die Redeweise vom „Handeln ohne Not“ ist deshalb im Prinzip unschädlich. Es belegt zwar eine Erwartungshaltung, die ggf. auf ihre Berechtigung zu prüfen wäre. Solange diese in der Urteilsbegründung deutlich wird und die Relationsgefüge plausibilisiert werden, ist das nicht zu beanstanden. Die Verwirrung stiftende Ausdrucksweise ist an dieser Stelle jedoch unnötig. Für die Stoffsammlung genügt eine isolierte Betrachtung.2221 Behelfen kann der Additionsgedanke:2222 jeder relevante Strafumstand wird zunächst „gezählt“. Das Vorzeichen nach entlastend oder belastend kann durch den Ausgangspunkt beeinflusst werden; in der Summe der Faktoren muss es im Gedankenmodell aber zum selben Ergebnis führen.2223 Aufgabe an dieser Stelle ist es also nur, das Strafzumessungsmaterial seiner Bedeutung nach zu strukturieren um dieses für eine Abwägung fruchtbar zu machen. 2218 Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung (2003), S. 95; Foth, JR 1985, S. 397; Frisch, GA 1989, S. 338 (346); Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 279; H. L. Günther, JZ 1989, S. 1025 (1028); Hettinger, GA 1993, S. 1 (15); Horn, StV 1986, S. 168. 2219 Neumann, FS Spendel (1992), S. 435 (448). Frisch, GA 1989, S. 338 (361) schlägt das Regeltatbild als stillschweigende Basisannahme der Strafzumessung vor. 2220 Montenbruck, Abwägung und Umwertung (1989), S. 34 f. 2221 Bruns, JR 1987, S. 89 (94); ders., JZ 1988, S. 1053 (1058); Niemöller, GA 2012, S. 337 (344): isolierte Betrachtung. Anders Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung (2003), S. 98 und auch diesbezüglich abweichend Niemöller, GA 2012, S. 337 (351), die am „normativen Normalfall“ festhalten. Allerdings legen insbesondere die nachfolgenden Ausführungen Niemöllers dort die Vermutung nahe, dass keine inhaltliche Abweichung gemeint ist, wenn er meint, es müssten damit nur die Grenzen des „neutralen Terrains“ des Strafzumessungsrechts abgesteckt werden. m. E. folgt daraus, dass damit lediglich der Blick für die be- bzw. entlastenden Umstände freigemacht wird. M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 116 spricht von einer „Ausgangsfallgruppe“ ohne besondere Konkretisierung. Das dürfte ebenso auf einen freien Bezugspunkt verweisen. 2222 Anklänge bei Foth, JR 1985, S. 397 (398). 2223 Es gibt demnach schon eine logische Erkenntnis, dass ein Fehlen von Strafschärfungsgründen mildert bzw. das Fehlen von Strafmilderungsgründen schärft. Die Frage ist nur, ob der entsprechende Aspekt in der Bewertung bereits verarbeitet wurde. Nochmal verdeutlicht an der Begrifflichkeit: Sinnvoll „fehlen“ kann nur etwas, was im Bestand oder als Prüfungsgesichtspunkt vorausgesetzt wird. (Man erkenne darin das Syndrom vom Checklistendenken!) Die „Nullhypothese“ muss dagegen solche Gedankenspiele als absurd verwerfen. Vgl. dazu folgendes Extrembeispiel: So ist selbstverständlich richtig, dass bei einem Diebstahl nicht mildernd berücksichtigt wird, dass keine Untreue begangen wurde. Dies zeigt: der Große Senat wollte in Absage an ein hypothetisches Konstrukt die Berücksichtigungsfähigkeit an das tatsächliche Vorhandensein von Faktoren herauskehren. Mit dieser Deutung auch Hettinger, GA 1993, S. 1 (22 f.); Niemöller, GA 2012, S. 337 (347).
C. Der Vorgang der Strafzumessung
459
2. Die Abwägung (als Gewichtung der Faktoren) Beim Abwägungsvorgang sind die eingestellten Strafzumessungstatsachen nach ihrer relativen Bedeutung zu gewichten. Dabei geht es nicht um eine Gegenüberstellung von Positivtatsachen mit verwirklichtem Unrecht, mit dem Ziel diese im Ergebnis zu saldieren. Das trügerische Bild der Waage ist hier keinesfalls wörtlich zu nehmen.2224 Abgesehen von Reue und echtem restaurativen Nachtatverhalten stellen viele anerkannte Milderungsgründe keine Gegenfaktoren, die etwaiges verwirktes Unrecht in irgendeiner Weise zu kompensieren vermögen. Trunkenheit und geschützter Verkehr bei einer Vergewaltigung sind keine Verdienste des Täters, sondern führen nur zu einer anderen relativen Gewichtung, wenn dies nicht der Fall wäre. Die unglückliche Formulierung des § 46 Abs. 2 S. 1 StGB eines Für und Wider führt also in die Irre. Die einzelnen Umstände sind zueinander ins Verhältnis zu setzen und ihrer Bedeutung nach zu ordnen. Denkbar wäre hier, ein Punktwertverfahren analog der Praxis statistischer Kriminalprognose2225 einzuführen um den Relationen rechnerisches Gewicht zu verleihen. Die Entwicklung eines solchen Manuals steht aber noch aus.2226 Zudem dürfte nur beschränkter Erkenntnisgewinn zu erwarten sein.2227 Dennoch wird es so sein, dass der gewichtigste Faktor regelmäßig eine leitende Funktion bei der Prägung eines Tatbilds übernimmt. Die anderen Strafzumessungsgründe können um diesen Kern- oder Leitfaktor herum „andocken“. Eine Subtraktion von einem ursprünglich höheren Strafmaß findet also nicht statt, die Strafzumessungsgründe führen ausgehend vom Mindestmaß des Strafrahmenanfangs grundsätzlich zu einem Anwachsen der Strafe. Dabei wird fraglos augenfällig, dass diese Methode ohne einen Basiszahlenwert im Grunde nicht nutzbar gemacht werden kann. Deshalb kann diese Zwischenphase für den Rechtsanwender auch nur dazu dienen, den Sachverhalt für die eigentliche Umwertung aufzubereiten. Es gilt sich darüber bewusst zu werden, welche Faktoren in welcher (Grob-)Gewichtung (im Sinne eines mehr oder weniger an Bedeutsam2224 Es fehlt primär an der klassischen dichotomen Struktur, so jedenfalls Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (95). Das Abwägen sowie vom Wortstamm verwandte Erscheinungen wie das (er-)wägen beziehen sich heute im Hochdeutschen indes schon auf das gründliche Durch-/Nach-/Überdenken eines Sachverhalts. Die Assoziation zur Waage/Abwiegen findet seine Berechtigung in den gemeinsamen Wurzeln, s. wägen bzw. wiegen in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch 24(2002), S. 967 bzw. S. 988. 2225 Zu Prognosetafeln mit Prädikatorgewichtung Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3 (2012), Rn. 790 ff. 2226 Zu erwähnen und hervorzuben aus jüngster Zeit allerdings die Modellierung bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 180 ff., auf Basis der Lebensqualitätsanalyse der tatproportionaler Lehren. 2227 Man könnte bspw. die Folgen einer Tat mit dem Faktor 1,6 und die Gesinnung mit dem Faktor 1,2 gewichten. Solche Faktoren wären wohl ein Stück weit willkürlich gewählt, wenn keine konkrete Strafvorstellung dahintersteht. Dann kann man auch gleich auf diese Strafvorstellungen zurückgreifen.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
keit) den zu entscheidenden Fall prägen. Dies ist nicht unbedingt als gesonderter Arbeitsschritt zu begreifen, denn dies wird automatisch – intuitiv – bei der Stoffsammlung geschehen. Insofern handelt es sich eher um einen Komplementärgedanken zur Einstellung, so dass insgesamt Einstellung und Gewichtung als ein einheitlicher Vorgang stattfinden wird.
IV. Die Umwertung in den Strafrahmen Bei der Umwertung in den Strafrahmen geht es darum, dem abzuurteilenden Fall ein festes Strafmaß aus dem Strafrahmen zuzuordnen. Diese theoretisch einfach formulierte Aufgabenstellung ist das Kardinalproblem der Strafzumessung. Auch wenn die Vorstellung, Strafzumessungsregeln modellhaft als verkappte Konditionalsätze zu begreifen,2228 dogmatisch konsistent ist, so ist dieses Konditionalschema in seiner Unvollkommenheit doch nicht subsumtionsfähig. Denn es gibt keine natürliche Wertebeziehung zwischen Unrecht und Strafmaß. Das gilt zunächst einmal eindeutig für absolute Zahlenwerte, da von vorneherein jegliche Zuordnung stets dem kontemporären Unrechtsverständnis einer Gesellschaft unterworfen wäre und sich keine unumstößliche Konstante im Sinne metrischer Maßeinheiten aufstellen ließe. Aber auch in relativer Hinsicht besteht das Problem, das lediglich ordinal skalierbare Unrecht in ein Kardinalsystem zu überführen. 1. Die Ausdifferenzierung der Strafe – die eigentliche „Abwägung“ Der entscheidende Schritt zum Strafmaß ist die Verknüpfung des Sachverhalts mit einem Zahlenwert. Dafür bieten sich mehrere Wege an. a) Der reizvollste, aber praktisch schwierigste Weg besteht darin, eine Modellierung mittels einer mathematischen Funktion zu erreichen. Die Variablen stünden für die Strafzumessungsmerkmale, der Variablenkoeffizient stellte die entsprechende Gewichtungsregel. Die Endstrafe wäre dann mit Hilfe einer mathematischen Formel berechenbar. Es ist nicht unversucht geblieben, dieses Vorhaben umzusetzen. Pionierarbeiten auf diesem Gebiet sind vorgelegt worden von Karl Haag2229 sowie von Bernhard von Linstow2230. Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie die Strafzumessung in eine mathematische Formel überführen wollen.2231 Haag orientiert sich bei seiner Arbeit an den ökonomischen Entscheidungsmodellen der operations research.2232 Ähnlich wie bei wirtschaftlichen Entscheidungsproblemen geht er bei der Strafzumessung von einem Optimierungsproblem 2228 2229 2230 2231 2232
Vgl. 1. Kapitel, A. II. 1. Rationale Strafzumessung, Diss. Saarbrücken (1970). Berechenbares Strafmaß, Diss. München (1972). Ausführliche Auseinandersetzung bei Köberer, Iudex non calculat (1996), S. 60 ff. Haag, Rationale Strafzumessung (1970), S. 15 ff.
C. Der Vorgang der Strafzumessung
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aus,2233 bei welchem die verschiedenen Ziele (als Zielfunktionen2234) und Restriktionen (als Nebenbedingungen2235) des Strafens in einem mathematischen Gleichungssystem zur Geltung gebracht werden sollen. Bei von Linstow werden die strafzumessungsrelevanten Merkmale nach Stärke ihrer Ausprägung katalogisiert (sog. Merkmalswert) und mit einer Verknüpfungsregel operationalisiert um eine sog. „Strafrohzahl“ zu erhalten.2236 Die Strafrohzahl hängt von den jeweiligen, tatbestandsspezifischen Verknüpfungsregeln2237 ab. Mittels eines Algorithmus von sog. allgemeinen Entscheidungsregeln wird die Strafrohzahl (tatbestandsunspezifisch) in das Endprodukt transformiert.2238 Das Durchsetzungspotential dieser Ansätze war bislang gering, weil die eigentliche Schwierigkeit, einen realen Sachverhalt in ein mathematisches Modell zu überführen, durch diese Modellbildung nur in Ansätzen geleistet ist. Im Ergebnis fehlt es noch an ausreichender Operationalisierung. Das erste Hauptproblem besteht dabei darin, dass die unabhängige Variable, „das Unrecht“, in eine Vielzahl von Variablen zerfällt. Entsprechend der obigen Einteilung lassen sich sieben2239 Hauptdimensionen bilden, die indes, je nachdem wie viele Lebenssachverhalte sich unter ein Gesetzesmerkmal subsumieren lassen, weiter aufzugliedern sind. Die Komplexität eines Gleichungssystems nimmt mit der Anzahl der Variablen beträchtlich zu, so dass keine einfache Bearbeitung mehr möglich ist. Auf der anderen Seite droht eine benutzerfreundliche Reduktion von Komplexität die „Messgenauigkeit“ des Verfahrens wesentlich zu verringern. Das zweite Kardinalproblem solcher Funktionen liegt in der Veränderlichkeit ihrer Parameter. Der Exponent einer Variablen ist im Grunde unbekannt. Eine Linearität von Zusammenhängen darf nicht einfach unterstellt werden. So steht zwar die Strafzeit in proportionaler Beziehung (vier Jahre sind doppelt so lang wie zwei Jahre), nicht jedoch zwingend das erzeugte Strafleid. Da man annehmen darf, das Strafübel verändere sich mit der Zeit progressiv (vier Jahre sind nicht automatisch doppelt so „hart“ wie zwei Jahre), führt dies dazu, dass ein degressives Wachstum von Strafhöhen dem Phänomen Rechnung tragen müsste.2240 Konsequenterweise lässt sich für den Strafzumessungssachverhalt nicht ohne weiteres ein lineares 2233
Haag, Rationale Strafzumessung (1970), S. 43. Haag, Rationale Strafzumessung (1970), S. 54 ff. 2235 Haag, Rationale Strafzumessung (1970), S. 57 f. 2236 v. Linstow, Berechenbares Strafmaß (1972), S. 10 f. 2237 v. Linstow, Berechenbares Strafmaß (1972), S. 143 ff. 2238 v. Linstow, Berechenbares Strafmaß (1972), S. 121. 2239 Vgl. die Darstellung bei B. I. – VI. (Beweggründe und Ziele des Täters, […] Nachtatverhalten), wobei die Auswirkungen der Tat (IV) wohl besser selbständig gezählt werden. 2240 Das ist in der Sache aber im Grunde noch ungeklärt. Deprivationssyndrome sprechen dafür, wobei gegenteilig auch Abstumpfungseffekte angeführt werden. Diese könnte allerdings selbst Deprivationsfolgen sein. Eine resignative Lebenszeiteinstellung zu einem dispositionellen Vorteil zu erklären, erscheint sehr fraglich. Zur Diskussion Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 230 ff. 2234
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Gleichungssystem aufstellen.2241 Damit stößt man letztlich zum – bekannten – Kernproblem vor, ein Relationsgefüge (hier: „Input“) auszuarbeiten.2242 Man kann bspw. mittels allgemeingültiger Beziehungen (Input: Länge x Breite x Höhe) das Volumen eines Körpers (Output) berechnen. Das funktioniert auch bei komplexeren Gebilden (etwa Kugel), wenn der Ableitungsprozess zur Formelgewinnung auf logischen Schlussfolgerungen beruht. Dagegen gibt es kein natürliches Aussagesystem, welches eine inhärente Logik für Strafzumessung liefern würde, weil weder Prämissen noch Ableitungen feststehen. Die Prämissen sind daher notwendig vollständig zu synthetisieren; und zwar so(weit), dass die Ergebnisse stets ihre Gültigkeit behalten. Das führt dazu, dass man letztlich vom Ergebnis her denken wird. Denn die einzelnen Wegschritte dorthin besitzen in aller Regel keine Sinnbeziehung zu den einzelnen Parametern.2243 Eine Formel wird dann (als) richtig (akzeptiert), wenn der jeweilige Input den (gewünschten) Output bestätigt. Es müsste also zu aller Erst ein gültiges Beziehungsgefüge erstellt werden. Nicht zuletzt bedarf es umfassenden Datenmaterials, so denn diese empirischen Daten zur Berechnung überhaupt verfügbar sein sollen. Ob dieser Probleme wird deshalb die Strafzumessungsentscheidung in diesem Sinne für berechnungsfeindlich gehalten.2244 Man wird sich einer solchen Kapitulation nicht vorschnell und zwangsläufig unterwerfen müssen. Grundsätzlich steht hinter beiden Modellen aber keine abstrakte Anwendungsformel für einzelne Delikte, sondern (zunächst) nur die modellhafte Behauptung, dass Strafe einer Berechnung zugänglich sein muss. In Anbetracht von Zahlen als Gegenstand und den mittlerweile immensen Rechnerleistungen von Computern ist der Einsatz zur Berechnung keineswegs abwegig. Aber das Ausrechnen – welches EDV-basiert erfolgen kann2245 – ist aber tatsächlich auch nicht die eigentliche Hürde. Am Anfang steht für jedes Berechnungsmodell, will es denn Ergebnisse erzielen, die Notwendigkeit für die unabhängigen Variablen das Funktionsargument bereitzustellen. Mit anderen Worten: Jenseits der Problematik der richtigen Formel kommt man nicht 2241
Dies gilt insoweit als (juristischer) Konsens, vgl. Giannoulis, a. a. O., S. 198. Die allgemeine Form des Strafmaßes ist dann die Summe der Strafzumessungsfaktoren x1-xn : 8 ax1e1 +bx2e2+ … bxnen = Strafmaß S, wobei Koeffizient und Exponent hier exemplarisch für die Möglichkeit einer unterschiedlichen Gewichtung einzelner Strafmaßfaktoren zu sehen ist. 2243 Vgl. v. Linstow, Berechenbares Strafmaß (1972), S. 14: keine materielle Funktion der Strafrohzahl. 2244 Zuletzt etwa Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (99). Auf sozialwissenschaftlicher Grundlage Köberer, Iudex non calculat (1996), S. 81 ff., 89, 109 ff., S. 133 ff.: Im Kern geht es um die Möglichkeit überhaupt eine Ordinal- in eine Intervallskala zu überführen. 2245 Sog. Decision-Support-Systeme sind ohne weiteres vorstellbar, s. auch Philipps, MschKrim 81 (1998), S. 263 (271). Nachhaltig wiederbelebt bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 309 ff., 368 ff. auf Basis von Fuzzy-Logik. Machbar, aber legitimatorisch zweifelhaft nach M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 88; a. A. Hippel, FS R. Lange (1974), S. 285 (292 f.), weil die Konkurrenzen mathematisch nicht modellierbar wären. Ohne Bezug auf v. Hippel, aber mit dem gleichen Urteil hinsichtlich der (bestehenden) Konkurrenzlehre, Köberer, Iudex non calculat (1996), S. 101 und passim. 2242
C. Der Vorgang der Strafzumessung
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umhin, den einzelnen Variablen Zahlen zuzuordnen. Von einer Formel ist die Strafrechtswissenschaft also noch weit entfernt.2246 b) Den (ausdrücklich) umgekehrten Weg beschreitet der Rechtsanwender, wenn er ausgehend von den möglichen Strafen die passenden Sachverhalte sucht. Der Strafrahmen lässt sich aufteilen in Strafeinheiten, wobei die gesetzlichen Höhenbemessungsregeln (§§ 39, 40 Abs. 1 StGB) die jeweilige Differenzierungsgrenze stellen. Dieses gesetzliche Differenzierungs-potential braucht nicht „ausgereizt“ werden, d. h. bei einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr können, müssen dagegen nicht 12 Schweregruppen gebildet werden. Ebenso wenig müssen die Strafintervalle symmetrisch ausgestaltet sein. Die Fälle der leichten Kriminalität können daher fast ganzheitlich an der Strafuntergrenze platziert werden („enges Intervall“), während nach oben hin die Strafintervalle breiter werden können. So ist man in der Lage, auch der progressiven Strafwirkung Rechnung zu tragen. Die gedankliche Vorarbeit besteht nun darin eine Fülle von Komparativbeziehungen („leichter/schwerer als“ bzw. gleichwertig) zu erstellen. Schließlich ist der zu beurteilende Fall mit dem vorhandenen Fallmaterial abzugleichen und in die Höhenskala einzuordnen. Je nach Unterteilung des Strafrahmens ergibt sich eine dementsprechende Anzahl von Schwereklassen. Die Methode ist also der Vergleich. Der Vorteil dieser Methode ist, dass eine Überführung der Ordinalskala in die Kardinalskala relativ mühelos gelingt. Voraussetzung ist allerdings, und da liegt in gewisser Weise der Nachteil, dass diese Ordinalskala vorher festgelegt ist. Im Grunde – und bestenfalls – müssten sämtliche denkbaren Fallkonstellationen bekannt sein, um der Ordinalskala einen hohen Anwendungswert zu verschaffen. Damit bedeutet (auch) diese Methode letztlich ein strenges Denken vom Ergebnis her. Eine Rechtsanwendung ist immer dann überzeugend, wenn sie weitestgehend vom Gesetz determiniert erscheint. Gleiche Rechtsfolgen erleben höhere Akzeptanz, wenn sie als Ausfluss einer unabhängigen Rechtsanwendung begriffen werden können. Das zeigt das Bild der (fiktiven) Rechenformel. Gerade weil vor der Rechenoperation das genaue Ergebnis erst noch ermittelt wird, wirkt die Methode weniger2247 manipulationsanfällig und insofern objektiver. Das Wertgefüge einer Ordinalskala bietet bisweilen nicht die gleiche Gewähr.2248
2246 Giannoulis, a. a. O., stellt Potenz- (S. 202 ff.) und logarithmische (S. 199 ff.) Funktionen im Modell gegenüber. Eine andere Frage ist es, ob solche Verfahren, wenn man sie sich denn „serienreif“ vorstellt, überhaupt angenommen würden. Eine „Rebellion“ durch Manipulation der Faktoren ist immer denkbar, W. Hassemer, ZStW 90 (1978), S. 64 (70). Man wird aber auch eingestehen müssen, dass die „Ergebnisperspektive“ auch im Übrigen die Entscheidung leiten kann. 2247 Selbstredend können die Variablen bei Kenntnis ihres Einflusses so gesteuert werden, dass ein „gewünschtes“ Ergebnis erhalten wird. Dann wird aber rechtlicher Strafmaßfindung zugunsten der Intuition ohnehin eine Absage erteilt. 2248 Das zeigt vor allem das Gefälle der lokalen Sanktionskulturen. Eine Tat an einem Ort hat nicht die gleiche Strafe zu erwarten wie an einem anderen Ort.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
c) Ein gedanklicher Mittelweg kombiniert deswegen beide Findungsstrategien.2249 Zunächst wird ein Fall mittels der Vergleichsmethode anhand einer pauschalen Typizität klassifiziert. Die Kategorien können hier durchaus grob ausfallen, da die anschließend folgende Ausdifferenzierung die Einzel- und Besonderheiten des Falls würdigt. Der abzuurteilende Fall bekommt eine gedankliche Basisstrafzahl zugeordnet. Sinnvollerweise bezieht sich die Basisstrafzahl auf die Verletzung des geschützten Rechtsguts. Das bedeutet, dass die Erfolgsdimension bestimmt wird.2250 Bei Vermögensschäden betrifft dies klassischerweise die Schadenshöhe, bei persönlichen Rechtsgütern Art und Umfang der eingetretenen Verletzung. Die Dimension ist nach der Tatschwere zu klassifizieren. Wie erwähnt ist theoretisch eine Klassifizierung innerhalb der gesetzlichen Höhenbemessungseinheiten (§§ 39, 40 Abs. 1 StGB) frei. Doch es bietet sich an, die Komplexität nicht über Gebühr zu beanspruchen. So sollten mindestens drei Kategorien (leicht, mittel, schwer) zu bilden sein, wobei eine Fünfteilung, die zwei Minorstufen (geringfügig, leicht) sowie zwei Majorstufen (gravierend, schwerstwiegend) neben eine Mittelstufe stellt, als ein vernünftiger Kompromiss zwischen Darstellbarkeit und Differenzierung gelten darf.2251 In einem zweiten Schritt wird die Strafe ausdifferenziert. Ausgehend von der Basisstrafzahl wird die konkrete Strafe gefunden, indem für belastende Umstände die Strafe um weitere Strafeinheiten erhöht oder erniedrigt wird. Ob die Strafe gesenkt oder erhöht wird, hängt letztlich von ihren Bezugsgrößen ab. Ist der Ausgangstypus eine Straftat leichten Grades, so wird tendenziell verschärft. Bei schweren Einstiegsfällen gilt das gleiche unter umgekehrten Vorzeichen. Diese Strafeinheiten könn(t)en nun, um hohes Differenzierungspotential zu erreichen, auch in kleinerem Maßstab gefasst werden als es das Gesetz in der Verhängung der Endstrafe zuließ. Auf diese Weise könnten Straferhöhungen um Tage, etc.2252 zur Berechnung herangezogen werden. Es verhielte sich dann im Grunde nicht anders als bei Rechnungen im Finanzbereich, bei denen Werte auch unterhalb der ausgegebenen Verkehrswertstückelung möglich sind. Dieser Konkretisierungsalgorithmus2253 ist dann
2249
M. E. auch die Strategie Frischs, in: FS Pötz – 140 Jahre GA (1993), S. 1 (30 ff.). Ebenso Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 262 ff. Grenzen zeitigt diese Methode bei Straftaten, die im Stadium des Versuchs verbleiben. Da der Versuch gewissermaßen konstruktiv antizipiertes Unrecht ist (Tatentschluss bzgl. eines Erfolgs), muss der angestrebte Erfolg, ggf. prognostisch, als Größe maßgebend sein. 2251 Hier nach Hörnle, in: Frisch (Hrsg.), Tatproportionalität (2003), S. 99 (108). Ähnliche Skalierungen bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 61; ders., JZ 1988, S. 1053 (1053); Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (98); Montenbruck, Abwägung und Umwertung (1989), S. 50 f. und Streng, FS Kühl (2014), S. 489 (496). Siebenteilung bei Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 276 f., mit einer Dreiteilung des Mittelfelds. 2252 Das ließe sich theoretisch (!) sogar in Stunden, Minuten, Sekunden fortsetzen. 2253 Folglich ist – in Antwort auf die aufgeworfene Frage Frischs, in: FS Pötz – 140 Jahre GA (1993), S. 1 (26) – die Abwägung als stufenweiser Konkretisierungsprozess anzusehen. 2250
C. Der Vorgang der Strafzumessung
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nach Bedarf2254 fortzusetzen. Die so ermittelte Strafe entspricht dem Tatunrecht, wobei Rundungen die Strafe zurück auf die gesetzlichen Maßeinheiten führen. 2. Die Problematik der Einstiegsstelle Der zuletzt beschriebene Mittelweg bietet im Vergleich die aussichtsreichste Vorgehensweise, da einstweilen weder Rechenformel noch eine geschlossene Ordinalskala in Vollständigkeit vorliegen. Auf Basis des Gedanken tatproportionalen Unrechts sind also zunächst Fälle nach dem Vergleichsprinzip in grober Typizität zu ordnen, welche dann anschließend, soweit sie sich vom Vergleichsmaterial phänomenologisch abheben, differentiell ausgearbeitet werden.2255 Das eigentliche Problem besteht nun – wiederum – darin, dem Bezugspunkt, von dem aus ein Vergleich gezogen werden soll, ein bestimmtes Strafmaß zuzuordnen. Eine erste Orientierung bieten die Strafrahmengrenzen. Mit dem Mindest- und Höchstmaß der Strafe korrespondiert zwar nicht unbedingt zwingend ausschließlich der (eine) denkbar leichteste Fall bzw. die (eine) absolut schwerste Verwirklichungsform. Dennoch bleibt es selbst bei Anerkennung einer geringen Variationsbreite gedanklich bei Extremwerten. Zumindest das Schwerstextrem besitzt grundsätzlich (auch) eine „Vorhaltefunktion“, mit der auf Entwicklung im phänomenologischen Bereich reagiert werden können soll. Aufgrund dessen dürfte dieser Ausgangspunkt nicht geeignet sein, einen Leittypus zu entwickeln. Ein wenig anders gelagert liegt die Sache am anderen Ende des Strafrahmens. Das Unrecht in seiner leichtesten Form scheint auf den ersten Blick ein vergleichbares, bloßes Theoriekonstrukt, doch wird dieses normativ vorausgesetzt, da die Schwelle des Übergangs vom Recht zum Unrecht hin prinzipiell definierbar sein muss. Das bedeutet, dass begrifflich notwendiges Unrecht, so etwas wie der „kleinste gemeinsame Nenner“ aller Verwirklichungsformen einer Straftat, in seiner Existenz berechtigterweise angenommen werden muss und so auch als Ausgangspunkt der Strafmaßzählung fungieren können
2254 Dabei wird man sich einzugestehen haben, dass die Konkretisierung sich in wenigen Schritten erledigt haben wird. Das ist aber weder straftheoretisch dysfunktional noch Gegenargument zu diesem Modell. Man kann die Kreiszahl p auf dreißig Nachkommastellen ausrechnen oder sich mit dreien begnügen. Gestaltpsychologische Erkenntnisse weisen auf eine Strukturerwartung hin, die im Bereich der Strafen eine Präferenz bestimmter, „runder“ Ergebnisse erwarten lässt; sog. Prägnanztendenz. Dazu bei Lampe, GS Noll (1984), S. 231 (232 ff.), Montenbruck, Abwägung und Umwertung (1989), S. 56 f. und eingehend Rolinski, Die Prägnanztendenz im Strafurteil (1969), S. 29 ff.; Schott, Gesetzliche Strafrahmen und ihre tatrichterliche Handhabung (2004), S. 241 f. Zu beachten ist möglicherweise auch eine Inflexibilität infolge sog. Anchoring-Effekte, vgl. Streng, FS Kühl (2014), S. 489 (497) m. w. N. Ausgedrückt werden soll damit, dass es offenbar größerer Anstrengung bedarf um sich von einem vorgegeben „Ankerwert“ zu lösen. 2255 Ähnlich bei B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 242, der einen Fall anhand typischer Leitmerkmale in das Spektrum einordnet um diesen anschließend zu „reindividualisieren“.
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müsste.2256 Nichtsdestotrotz konnte ein solcher Deliktsarchetyp bislang (noch) nicht nutzbar gemacht werden.2257 Als dritter Bezugspunkt kommt ein Fall gedanklicher mittlerer Schwere in Betracht, der genau in gleichem Abstand zu den beiden Extrema steht. Im ersten Zugriff sind dies Fälle, die mit keiner Besonderheit aufwarten, so dass sie mit hoher Eignung als neutrales Element, sozusagen als ein Nullpunkt der Strafzumessung, eingehen können. Wertprädikaten, gleich ob wie hier in den Paaren leicht vs. schwer, oder in anderen Fällen (alt vs. jung, dunkel vs. hell) gewinnen jeweils dann an Kontur, wenn diese sich gedanklich vom Durchschnitt einer Masse abheben. Man kann dies einen normativen Durchschnittsfall nennen. Von so einem Mittelfall lässt sich die Strafe in beide Richtungen gleichermaßen plausibel abändern. Methodisch ist allerdings wenig gewonnen. Die Thematik kreist hier sozusagen zum Dritten um das Phantom eines „normativen Normalfalls“, welches nicht recht mit Leben gefüllt werden kann.2258 Darunter leidet auch die im theoretischen Ansatz zutreffende Idee von Frisch, ein „normativiertes“2259 Regeltatbild als Referenzpunkt zu nehmen. Das Regeltatbild ist als merkmalreduziertes, aber damit pointiertes Konstrukt taugliche Argumentationsfigur für einen Differenzierungsmaßstab. Über die Berücksichtigung gesetzlicher Vorwertungen ist zudem der normative Erwartungshorizont legitim treffend abgesteckt. Aber das Hauptproblem ist aktuell noch, dass diese Maßfigur
2256
Faktische Verzerrung besteht zudem durch die Möglichkeit von Einstellungen. Verkehrt ist es allerdings, aus dem Einstellungsinstrumentarium einen fehlenden unteren Grenzwert zu behaupten, s. dazu indes Freund, GA 1999, S. 509 (519). Es gibt phänomenologisch keinen Fall, der zwingend zur Einstellung führen muss. Auf einen Bagatelldiebstahl kann grundsätzlich richtigerweise mit einer Einstellung nach § 153 StPO reagiert werden. Wiederholt sich dies allerdings kontinuierlich, wird ab einem – wie auch immer definierten – Umschlagpunkt eine solche nicht mehr erfolgen. § 153 StPO setzt zudem tatbestandlich „geringe Schuld“ voraus. Wenn nicht aus Strafmaßgesichtspunkten, welche Schuld sollte stattdessen in Bezug genommen werden? Strafrechtlich relevantes Unrecht außerhalb der (Strafmaß-)Grenzen des Garantietatbestands (Art. 103 II GG!) kann es nicht geben. 2257 Einem solchem Konstrukt fehlt noch die Anschauung – auch weil eine solche wohl erst Produkt einer umfassenden Ordinalordnung von Unrecht sein könnte. 2258 „Normallfall“ im Sinne des gedanklichen Durchschnittsfalls. Ablehnend auch Hettinger, Das Doppelverwertungsverboden bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 143; ders., FS Frisch (2013), S. 1153 (1165); in diese Richtung auch Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 129, 204 f. 2259 GA 1989, S. 338 (361 ff.); reduktionistischer Ansatz auch bei Montenbruck, Abwägung und Umwertung (1989), S. 37; LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 63 f. und ähnlich Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung (2003), S. 120. Letztere beiden wollen ihren Entwurf aber als „normativen Normalfall“ behandelt wissen; AhlersGrzibek, a. a. O., S. 128 ff. mit Konkretisierungsvorschlägen. Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 282 f. benennt den eigenen normativen Normalfall als das Konstrukt mit neutraler Strafzumessungsausprägung. Dies könnte dann sowohl Median als auch Mindestwert sein.
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einstweilen synthetisiert werden muss. Wo innerhalb des Strafrahmens dieses Konstrukt liegt, ist damit vorerst nicht zu beantworten.2260 Es bleibt noch die Einstiegstypik anhand bekannter Phänomenologie zu entwickeln. Angesprochen ist damit der statistische Regelfall. Dieser lässt sich zumindest empirisch ermitteln – und ist zudem als häufiges Phänomen der Praxis in seiner Anschauung allgegenwärtig.2261 Der Regelfall ist in diesem Sinne ein Rechtsbegriff, welcher empirisch abgesichert ist.2262 Des Weiteren steigt derart die Chance, auf einen (relativ) gefestigten Wertungskonsens zu treffen.2263 Die vorhandene Rechtsprechungspraxis mit den gewöhnlich verhängten Strafen ist in diesem Sinne eine Rechtserkenntnisquelle, die (auch) Aufschluss über einen ersten Wertungsmaßstab gibt.2264 Es entspricht derzeit noch gängiger forensischer Erfahrung, den Regelfall in der leichten Kriminalität zu verorten. Der Einstieg in den Strafrahmen kann dementsprechend im unteren Drittel des Strafrahmens mit relativer Zuverlässigkeit2265 erfolgen.2266 2260 Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 220 ff., 236 f. Ablehnend daher Ahlers-Grzibek, Der normative Normalfall in der Strafzumessung (2003), S. 115; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (1982), S. 151, ders., FS Frisch (2013), S. 1153 (1168). 2261 Horn, StV 1986, S. 168 (169); Verrel, FS Wolter (2013), S. 799 (809), in diesem „Geiste“ auch Bruns, JZ 1988, S. 1053 (1057). A. A. dagegen Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (791 f.), der wiederum den Regelfall als unbekannt einstuft, ebenso kritisch Fahl, Zur Bedeutung des Regeltatbildes bei der Bemessung der Strafe (1996), S. 210 f., ferner Hettinger, FS Frisch (2013), S. 1153 (1166), letzterer betont eine nicht zu bändigende phänomenologische Vielfalt. Angesichts des Potentials EDV-unterstützter Statistiken wird man dem nur unter Vorbehalt zustimmen können. S. auch Götting, Gesetzliche Strafrahmen und Strafzumessungspraxis (1998), S. 213 ff., 233 und Verrel, a. a. O., 811 f. Richtig ist insoweit, dass eine qualitative Erfassung mit immensem, (auch finanziellem) Aufwand verbunden ist. 2262 SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 89. 2263 Gemeint ist nicht Einigkeit im Sinne von Homogenität. Aber eine Vielzahl von Fällen wird zu signifikanten Häufungen in einem bestimmten Strafmaß führen, vor dessen Horizont Ausreißer eliminiert werden können. 2264 Als Indizwirkung des Üblichen für Rechtsrichtigkeit bei Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz (1973), S. 76; ders., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 163 (167); zum Faktor Tradition auch Frisch, GA 2009, S. 385 (392), relativierender indes ders., in: Tatproportionalität (2003), S. 155 (163 f.). Für Richtigkeitsgewähr steht das Übliche zwar sicher nicht. Aber nur anhand dieses Ankerpunkts wird sich eine eventuelle Fehlannahme in der Strafmaßhöhe korrigieren lassen, indem die bisherige Praxis als zu gering/hart bestrafend ausgewiesen wird. Als diesen ersten Schritt anerkennend auch Wilcken, Die Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen (2004), S. 134. 2265 Man wird nicht einwenden können, dass es keinen theoretischen Zusammenhang zwischen Bagatellhaftigkeit und Häufigkeit gibt. Das ist richtig wie unerheblich. Die kriminologische Ubiquitätsthese der Verbrechenswirklichkeit, vgl. Kaiser, Kriminologie 3(1996), § 36 Rn. 4, erhellt sich doch vor dem Hintergrund, dass jeder Mensch in seinem Leben in Konflikt mit Normen gerät, ohne deswegen gleich in eine anti-soziale, normindifferente Persönlichkeit zu entwickeln. Diese Annahme setzt voraus, dass sich die Masse der Delikte lediglich am Rand der Normwidrigkeit bewegen wird. M. Maurer, Komparative Strafzumessung
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
3. Strafzumessungsrichtlinien als Ausweg? Nicht zuletzt ob der beschriebenen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Strafmaßfindung haben sich Überlegungen nach einer Standardisierung als Arbeitserleichterung für den einzelnen Richter herausgebildet. Während in den USA sog. „sentencing guidelines“ die Entscheidung struktualisieren, ist auf kontinentaleuropäischer Seite die Rezeption eher gering geblieben.2267 Die Etablierung von Strafzumessungsrichtlinien nach US-amerikanischen Vorbild wird mittlerweile allerdings auch in Deutschland diskutiert.2268 Die sentencing guidelines haben ihren Ursprung im Wechsel vom Resozialisierungsparadigma zum Bewertungsmaßstab eines „just deserts“ unter Hinzuziehung des Prinzips der Tatproportionalität.2269 Begleitet von einem konservativ geprägtem „truth in sentencing“2270 hat sich diese Neuausrichtung zum Ziel gesetzt, dem beklagten Phänomen der Strafdisparitäten zu begegnen. Neben der Intention einer Gleichförmigkeit soll zudem eine höchstmögliche Vorhersehbarkeit der Strafe für eine Tat zu erreichen sein. Diese Prognostizierbarkeit hatte allerdings weniger Bestimmtheit im Sinn als vornehmlich die Planbarkeit: die hohen Gefängnispopulationen überforderten zum Teil die Strafvollzugsanstalten.2271 Das Programm der Planbarkeit sollte im Wesentlichen in den
(2005), S. 105, sieht eine dynamische Zusammensetzung des Regelfalls als Unsicherheit des Ankerpunkts. Eine Anpassungsleistung ist der Praxis aber durchaus zuzutrauen. 2266 SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 87; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 241. Perspektivisch müsste aus diesen Basisannahmen (Ubiquität von Bagatellkriminalität, Zuwachs an Datenmaterial über verhängte Strafen, prinzipielle Modellierbarkeit des normativierten Regelfalls) Konvergenz der Modelle zukünftig zu erwarten sein. Sehr skeptisch indes Hettinger, FS Frisch (2013), S. 1153 (1173 u. 1179). 2267 Mit Ausnahme von Schweden, vgl. H. Jung, FS Miyazawa (1995), S. 437 (438) mit den Nachweisen. Zu Empfehlungen des European Committee on Crime Problems (CDPC) des Europarats ein Überblick a. a. O., S. 440 ff. 2268 Anfänge bei Weigend, FS 600 Jahre Universität Köln (1988), S. 579 (589 ff., 595 f., 599 f.); Horstkotte, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung (1992), S. 151 (178). Monographisch eingehend aus dem deutschsprachigen Raum: Alder, Die Strafzumessungsrichtlinien der USA in ihrem Kontext mit Plea Bargaining (2001); Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing Guidelines (1999); Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999); Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998). 2269 F. Meyer, ZStW 118 (2006), S. 512 (514 f.); Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 140 ff.; Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 92 ff., 107 ff. 2270 „Die Wahrheit in der Strafe“ darf man wohl als pathetisches Schlagwort für die expressiv-kommunikative Funktion der Strafe auffassen. Die Bedeutung/Wertigkeit der Strafe soll deutlich vor Augen geführt werden. 2271 Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 147 ff.; Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 127 ff.
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„sentencing guidelines“ seine Umsetzung finden.2272 Die Entwicklung initiierte der Staat Minnesota (1980), dessen Vorbild in naher Abfolge auf föderaler Ebene (1984) und in anderen Bundesstaaten gefolgt wurde.2273 Grundlage der Strafbemessung bilden besondere Kategorialsysteme, in denen die Strafzumessungsfaktoren in einer Strafzumessungsmatrix verarbeitet werden. In einer vertikalen Achse wird die Tat anhand ihres sog. „offense level“2274 klassifiziert, während horizontal die Täterbelastung als „offender score“ oder „criminal history“ (strafrechtliche Vorauffälligkeit) abgetragen ist.2275 Der so ermittelte Wert gibt Auskunft über das Strafmaß. Da eine Abweichung nur unter engen Voraussetzungen möglich ist,2276 ergibt sich ein Ergebnis mit relativ hoher Verbindlichkeit. Bei genauerem Hinblick entpuppen sich diese „sentencing guidelines“ als institutionalisierte Umsetzung von hierzulande versuchten Modellen mathematisierter Strafzumessung oder anderen konsensorientierten Wertmaßstäben. Die Einwände ähneln sich daher strukturell. Eine rigide Handhabung setzt sich latent dem Verdacht menschlichkeitsferner Technokratie aus,2277 wenn der Einzelfall nicht mehr in den Blick kommt. Die Brauchbarkeit solcher Modelle hängt dann letztlich ab von der Passgenauigkeit ihrer Schablonen. Die intendierte Gerechtigkeit durch Gleichheit verkommt zu formaler Scheingleichheit, wenn die Gleichbehandlung aus Sachgründen nicht ausreichend abgestützt ist. Diese materielle Gleichheit ist allerdings zentrale Forderung differentieller Strafzumessung. Es nimmt daher nicht wunder, dass das Rechtswesen versucht die Flexibilität entgegen vorgegebener Restriktionen wiederzugewinnen. Zum einen sind stets Umgehungsstrategien, insbesondere Manipulation der (tatbestandlichen) Voraussetzungen,2278 zu besorgen. Daneben sollte 2272 Zur Einordnung des parallelen, stark simplifizierenden „determinate sentencing“ s. Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 151 Fn. 65, entwickelt am Beispiel Kaliforniens a. a. O., S. 166 ff. 2273 Überblick bei Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 134 f. 2274 Was zu einem „objektivierten“ Tatstandard gehört, ist nicht von vorneherein eindeutig. Das zeigt die Diskussion „charge offense vs. real offense“, dazu Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 210 ff. Sachlich kann man diese im Kontext der Suche nach Tatproportionalitätsfaktoren nachvollziehen, dazu im 1. Kapitel, A. II. 4. 2275 Alder, Die Strafzumessungsrichtlinien der USA in ihrem Kontext mit Plea Bargaining (2001), S. 25; F. Meyer, ZStW 118 (2006), S. 512 (516 f.); Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 131. 2276 Dazu Alder, Die Strafzumessungsrichtlinien der USA in ihrem Kontext mit Plea Bargaining (2001), S. 28, 150 f.; Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 220 f. 2277 Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing Guidelines (1999), S. 159; s. F. Meyer, ZStW 118 (2006), S. 512 (523 f.), letzterer auch mit Nachweisen zu „interner“ Kritik aus dem anglo-amerikanischen Recht. Grundsätzlich ablehnend auch Verrel, JZ 2018, 811 (812). 2278 Savelsberg, in: Kaiser/Kury/Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren (1988), S. 281 (291); Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 765.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
insbesondere vor dem Hintergrund des praktizierten plea bargaining2279 ohnehin die Konsequenz der Modelllösung nicht zu hoch veranschlagt werden. Gerade das USamerikanische adversatorische Strafverfahren zeigt sich da besonders anfällig.2280 Nicht zu verkennen ist allerdings, dass konsensuale Elemente, in Form von Absprachen, unlängst auch im deutschen Recht Einzug gehalten haben. Eine höhere Immunität des deutschen Rechtssystems sollte man daher nicht propagieren. Im Hinblick auf faktisch regional-lokale Strafzumessungskulturen, deren Fortbestand über die Referendarausbildung gesichert zu sein scheint,2281 kommt man letztlich sowieso nicht umhin, der deutschen Rechtspraxis eine Etablierung von wenigstens informellen Strafzumessungsrichtlinien zu attestieren. Die Aufmerksamkeit ist deshalb vor allem der instanziellen Bewältigung von Strafzumessungsrichtlinien zu widmen. Die Hauptfrage gilt nämlich weniger ihrer Einrichtung an sich, als vielmehr, wer mit der Aufgabe der Ausarbeitung betraut werden sollte.2282 Hierbei steht vor allem die demokratische Legitimation in Rede. Unbedenklich diesbezüglich wäre fraglos ein Tätigkeitwerden des Gesetzgebers,2283 dass aber angesichts von Komplexität der Materie sowie Langwierigkeit eines Gesetzgebungsverfahrens alsbald nicht zu erwarten steht. Die Exekutive [BMJ] mag die notwendige Handlungsfähigkeit aufweisen, wobei die Befürchtung, die Strafzumessung könnte dem politischen Tagesgeschäft preisgegeben werden, nicht unbe-
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Ausführlich Alder, Die Strafzumessungsrichtlinien der USA in ihrem Kontext mit Plea Bargaining (2001), S. 97 ff. 2280 Eine Machtverlagerung auf die Staatsanwaltschaft wird moniert, vgl. dazu Alder, Die Strafzumessungsrichtlinien der USA in ihrem Kontext mit Plea Bargaining (2001), S. 132; Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing Guidelines (1999), S. 156; Savelsberg, a. a. O. 2281 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 244 mit Hinweis auf Dreher, Anm. zu OLG Stuttgart MDR 1961, S. 344. Empirie zu den Strafmaßdisparitäten bei Pfeiffer/Savelsberg, in: Pfeiffer, C./Oswald, M. (Hrsg.), Strafzumessung – empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog (1989), S. 17 (26 ff.). Einen Überblick zu weiteren Untersuchungen bietet Heinz, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung (1992), S. 85 (121 ff.). 2282 So Weigend, FS 600 Jahre Universität Köln (1988), S. 579 (595 f.); (ergebnisoffen) auch bei Hoven, KriPoZ 2018, S. 276 (290). 2283 „Legislative Einmischung“, wie erwähnt bei Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 225, kann strukturell eigentlich kein Problem darstellen, immerhin ist der Gesetzgeber zu solchen Entscheidungen zuvorderst legitimiert, vgl. Savelsberg, in: Kaiser/Kury/Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren (1988), S. 281 (286). Faktisch sind solche Bedenken aber ernst zu nehmen, wenn Richtlinien an das politische Tagesgeschäft überantwortet werden, so denn Nachhaltigkeit durch Denken in Legislaturperiodenzyklen erschwert wird; so M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 78 f. „Illusorisch“ als Einschätzung bei Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 225. Eine erhöhte Anfälligkeit für Überalterung und ständigen Anpassungsdruck moniert ohnehin Streng, StV 2018, S. 593 (600).
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gründet erscheint.2284 Die Legitimation steht sogar doppelt auf dem Prüfstand: ein Konflikt mit der Gewaltenteilung droht nicht nur aufgrund des Wesentlichkeitsprinzips, sondern auch mit der Garantie richterlicher Unabhängigkeit aus Art. 92 GG. Weitsichtigkeit mag hier nur hier nur eine austarierte Expertenkommission aus Wissenschaft und Praxis einlösen können.2285 Damit ist man indes am Status quo wieder angelangt. Genau genommen versucht jede wissenschaftliche Annäherung, jedes Handbuch, eben solche Richtlinien mit Anspruch der Rechtsrichtigkeit zu formulieren. Ein komparatives Kategorisierungsmodell nach Vorbild der sentencing guidelines mag da seinen Beitrag leisten können, dennoch darf Differentialität als Denkprinzip der Strafzumessung damit nicht ausgeschaltet werden. Einer gesetzlichen Determinierung durch Richtlinien wird daher generell nur eine begrenzte Reichweite zukommen;2286 jedenfalls soweit man die urteilssprechenden Spruchkörper vor Augen hat.2287 2284 Vgl. Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 269. Die Homogenität des Systems wird der Kurzfristigkeit von Bedürfnissen kein Hindernis sein. Bemerkenswerterweise wird gerade bei Gebrauch von sentencing guidelines eine Zunahme an Punitivität registriert, dazu Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 127 ff.; Weigend, FS 600 Jahre Universität Köln (1988), S. 579 (590); Bedenken einer Eskaltion auch bei Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (82). 2285 Ebenso Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 297, 406 ff.; Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), S. 1 (113 f.). Grundaufgabe muss es hier sein, eine überregionale Datenerfassung zu etablieren, Kaspar, a. a. O., S. 115; Streng, StV 2018, S. 593 (599); Verrel, JZ 2018, 811 (815). Nun wird gerade auch in der Auswertung von Datenbanken Potential für den Einsatz sog. Legal Tech Instrumente gesehen, vgl. die Stimmen von Ofterdinger, ZIS 2020, S. 404 (408); Rostalski/Völkening, KriPoZ 2019, S. 265 (271); Ruppert, KriPoZ 2021, S. 90 (97). Die Diskussion kann hier nicht vertieft werden. Ob Algorithmen in naher Zukunft Einsatz finden können, erscheint zumindest höchst fraglich. Dass eine Maschine in Rechenleistungen bessere (=schnellere) Ergebnisse erzielen kann, bedarf nicht der Diskussion. Die Fütterung der Algorithmen mit Daten setzt indes einen Wertungskonsens hinsichtlich der Behandlung der Informationen voraus, der eben noch nicht besteht. Ganz grundsätzlich muss man aber auch mit dem Problem rechnen, dass die Arbeitsweise des Algorithmus transparent bleiben muss, so auch Ofterdinger, ZIS 2020, S. 404 (409). Da bei Juristen im Allgemeinen nicht Programmierungskompetenzen vorausgesetzt werden können – und umgekehrt nicht juristsiche Kompetenzen bei Programmierern – steht zudem ein komplexes Zusammenspiel von Richtern und „Sachverständigen“ bevor. 2286 Begrenzte Reichweite in zweierlei Bedeutung: einmal im Grad ihrer Verbindlichkeit und zum anderen im Hinblick auf die Regelungsmaterie. Ersteres betrifft sachlich die Regelbeispielsmethode. Letzteres meint die Beschränkung der Richtlinien auf ausgewählte Deliktsbereiche. In Bereichen, in den gleichförmige Spruchpraxis regelmäßig materielle Gerechtigkeit verspricht, dürfte ein solches Straftaxenrecht Chancen auf Verbesserung der Rechtslage in Aussicht stellen, so etwa für einfach strukturierte Massenkriminalität; so Frisch, in: Tatproportionalität (2003), S. 155 (167); Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien (1998), S. 232. Positiver Befund für das Steuerstrafrecht bei Fischer, Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U.S. Sentencing Guidelines (1999), S. 251 und auch J. Hofmann, Strafe und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung (2016), S. 251. Siehe auch Jung, FS Samson (2010), S. 55 (59), der durch Leitlinien des Revisionsgerichts nur eine institutionelle Differenz zum amerikanischen Ansatz sieht; ebenfalls exerziert am Beispiel des Steuerstrafrechts. Ein Manual für Vermögensdelikte
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
V. Die Präventionsaspekte als finale Elemente Entsprechend der klassischen Dreiteilung Spendels2288 ist abschließend zu den verbleibenden sogenannten finalen Strafzumessungsgründen zurückzukehren. Die generalpräventive Begründung der Strafe geht aus von einer rechtlich relevanten Rechtsfriedensstörung, gegenüber der mit einer Sanktion reagiert werden muss. Das Maß der Rechtsfriedensstörung ist das Endprodukt einer gesamtgesellschaftlichen – und insoweit real-empirischen – Schadensanalyse unter normativ restringierten Zurechnungserwägungen, die im Wesentlichen methodisch von der Idee der Tatproportionalität geleitet wird. Die Rechtsfriedensstörung wird dem Täter – soweit verschuldet – als die Schuld zugerechnet. Damit ist der Eingriffscharakter der schuldangemessenen Strafe umrissen. Hier steht die Theorie differentieller Strafbemessung im Endergebnis im Einklang mit klassisch schuldorientierten Strafbemessungslehren. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass es im Sinne der Spielraumtheorie liegt, nach der Bestimmung eines Schuldrahmens den präventiven Elementen innerhalb dieses Rahmens Raum zu geben.2289 Mit Hilfe dieser Heuristik2290 soll die Sanktionsfindung einer faktisch nicht näher spezifizierbaren Tatschuld vollendet werden.2291 Mit den Prinzipien einer differentiellen Strafzumessung ist das im Ausgangspunkt zunächst vereinbar, soweit man Präventionsmerkmale einer konkreten Tat für zulässige Differenzierungskriterien hält. 1. Modifikation aus generalpräventiven Gründen Da Schuld und positive Generalprävention nach hiesiger Auffassung nicht zur Differenzierung veranlassen, ist ein eine weitere Binnendifferenzierung begrifflich ausgeschlossen.2292 Dieser Gleichlauf ist zumindest inhaltlich weitestgehend verarbeitet, so denn behauptet wird, die schuldangemessene Strafe sei die aus Sicht der
anhand der Schadenshöhe erarbeitet Giannoulis, Studien zur Strafzumessung (2014), S. 324 ff., 371 ff. Zu einer Bestandsaufnahme für die USA F. Meyer, ZStW 118 (2006), S. 512 (543 ff.). 2287 Die eigentliche Eignung solcher Richtlinien liegt daher womöglich ohnehin bei der Exekutive, sprich Staatsanwaltschaft. Die hierarchisch-monokratische Struktur der Anklagebehörde eignet sich vom Prinzip her gut für die Anleitung durch Richtlinien. Auch ist – im Gegensatz zu dem der Verteidigung – das Plädoyer der Staatsanwaltschaft in Sachen Strafmaß wohl nicht mit unerheblichen Einfluss auf das Endergebnis der Strafe, vgl. die Befunde bei Streng, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 39 (53 f.). 2288 Die Lehre vom Strafmaß (1954), S. 191 ff. 2289 Zu Teilen ähnlich Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rnrn. 545 f., 549. 2290 Vgl. zum methodischen Ansatz auch B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 176. 2291 LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 Rn. 44 führt die Existenz der Spielraumtheorie allein auf die Unsicherheiten in der Schuldbewertung zurück. Dagegen ist nichts erinnern. 2292 Dazu auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 545 f.
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Integrationsprävention wirksamste.2293 Eine überschießende „Verteidigung der Rechtsordnung“ (um ggf. bestimmte Rechtswerten wieder mehr Geltung zu verleihen), geht daher schon konstruktiv fehl. Das muss namentlich auch für die Annahme des BGH gelten, dass im Falle eines (rechtswidrigen) Lockspitzeleinsatzes eine tatschuldunabhängige, generalpräventiv motivierte Milderung in Ansatz gebracht werden könne.2294 Im Ergebnis nichts anderes gilt für die Strafschärfung infolge einer intendierten, erhöhten Abschreckungswirkung. Bei einer Statuierung eines Exempels am konkret abzuurteilenden Fall ist eine gleichheitswidrige Rechtsanwendung zu besorgen.2295 Grundsätzlich ist zudem Vorsicht geboten wegen der fehlenden empirischen Validierung solcher Effekte.2296 Einer zusätzlichen Abschreckung neben der Strafandrohung2297 und ihres Vollzugs bedarf es daher nicht. Sollte tatsächlich ein Anstieg von Straftaten zu verzeichnen sein, ist zu erwarten, dass sich diese Beunruhigung ohnehin zu einer realen Erhöhung der Rechtsfriedensstörung verdichtet.2298
2. Modifikation aus spezialpräventiven Gründen Auch aus Motiven der Spezialprävention lässt sich Strafe theoretisch erhöhen oder senken. a) Gerade für die Erhöhung lassen sich wenig triftige Gründe vortragen. Das Resozialisierungspotential der Strafe wird heute im Allgemeinen eher gering ge2293 Achenbach, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 135 (143); Müller-Dietz, FS Jescheck (1985), S. 813 (823 f.); Schöneborn, GA 1975, S. 272 (276 f.). Vgl. auch Dölling, ZStW 102 (1990), S. 1 (15 f.); Frisch, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 3 (20); Streng, in: Frisch (wie vorstehend), S. 39 (58), weitere Nachweise bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 74. 2294 Zur Rspr. s. MüKo-StGB/Radtke 2(2012), Vor §§ 38 ff. Rn. 58, dort mit entsprechender kritischer Anm. Integration in das Schuldmodell fordert Bruns, MDR 1987, S. 177 (180 f.). 2295 Als Instrumentalisierungsverbot bei: Frisch, FG BGH IV (2000), S. 269 (277, 284). Zum Wandel in der Hinsicht Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 98 gegenüber ders., in: FS v. Weber (1963), S. 75 (80). 2296 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (365 ff.). In der Praxis allerdings genießt der Ansatz nicht diese Geringschätzung, vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 544 mit Nachweisen zur Rspr. und Wissenschaft, zur Empirie ebd., Rn. 58 ff. 2297 Thematisch wird das Doppelverwertungsverbot berührt, vgl. SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 15; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 227. 2298 Auf das gleiche läuft die Rspr. hinaus, etwa jüngst BGH bei Detter, NStZ 2011, S. 335, wenn sie eine konkrete, gemeinschaftsgefährdende Zunahme von Delikten der abzuurteilenden Art verlangt. Weitere Nachweise bei LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 26. Vergleichbar Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 489 auf der Basis seines Schadensbegriffs. Weitergehend indes Foth, NStZ 1990, S. 219 (221), der schon die Verhinderungsintention genügen lässt. Das wäre aber nicht mehr als eine inhaltliche Wiederholung des allgemeinen Strafrechtszwecks und ist daher für die nochmalige Sanktionskonkretisierung ungeeignet.
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schätzt. Selbst wenn man das Verbrechen in Teilen pathologisiert und einen Einwirkungsbedarf der spezialpräventiven Idee nach begründen kann, sind die augenblickliche Ausgestaltung und verfügbaren Mittel des Strafvollzugs nicht dazu angetan, solche Defizite wirkungsvoll zu beheben. Jedenfalls ist eine längere Verweildauer im Strafvollzug nicht mit einer höheren Legalbewährungsquote verbunden. Dem verleiht die „sog. Austauschbarkeitsthese“ Ausdruck.2299 Deshalb ist einer abschreckungsorientierten Rückfallschärfung mehr als skeptisch gegenüberzutreten.2300 Daneben bleibt als weitere Form negativer Spezialprävention noch der Schutz der Allgemeinheit durch die Inhaftierung des Täters. Der Verwirklichung eines Sicherungseffekts ist durch die Faktizität der Haft naturgemäß chancenreicher, jedoch dürfte das allgemeine Sicherungsbedürfnis2301 innerhalb der schuldbedingten, bereits generalpräventiv verwirkten Rechtsfriedensstörung regelmäßig aufgehoben sein. Jenseits dieser gerät jede Erhöhung zu einem „Strafüberschuss“, mit dem gleichzeitig ein entsprechendes Gefährlichkeitspotential korrespondieren müsste. Unabhängig von dem prognostischen Problem einer konkreten Wiederholungsgefahr kollidiert ein alleiniger Sicherungszweck auch mit den formalen Anforderungen der Sicherungsverwahrung. Dass unterhalb dieser Schwelle „Sicherungshaft“ angeordnet werden darf, muss ausgehend vom Schuldgedanken der Strafe doch bezweifelt werden.2302 Nicht weniger problematisch ist die positive Losung, nämlich Strafe zum (vermeintlichen) Wohle des Verurteilten auszudehnen. Mit der Wortschöpfung der Strafempfänglichkeit2303 wird einem Täter eine generell hohe Präventionseignung diagnostiziert. Diese Bescheinigung darf dem Täter aber im Geiste des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht zum Nachteil gereichen. Eine Straferhöhung aus dem Förderungsgedanken würde in dieser Konsequenz die Ursprungsidee eher konterkarieren. Gute Einwirkungschancen sollten dazu ermuntern, das Potential von ambulanten Sanktionsentscheidungen auszuschöpfen.2304 2299
Streng, in: Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik (2007), S. 62 (67 ff.); ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 331. Kritisch zu dieser Einschätzung allerdings Bock, ZStW 102 (1990), S. 504 (506 f.). 2300 Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 41, 130; Kunz, in: Kielwein (Hrsg.), Entwicklungslinien der Kriminologie (1985), S. 29 (43); Schäfer, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung (1992), S. 183 (205); Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 540. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT 5(1996), § 85 IV 5 b), S. 879 f. 2301 Zum dominierenden Aspekt der Sicherung in der Bevölkerung, s. z. B. die Untersuchung von Streng, FS Egg (2013), S. 495 (501 ff.). 2302 Die Möglichkeit in praxi über den Begriff des Rechtsfriedens (resp. Schuld) Sicherungserwägungen apokryph einzuführen, darf freilich nicht unterschätzt werden. 2303 Im Ursprung zurückgehend auf Henkel, FS für H. Lange (1970), S. 179 ff.; s. auch Zipf, Die Strafzumessung (1977), S. 57; ferner Maurach/Zipf/Dölling, Strafrecht AT 2 8(2014), § 63 Rn. 116. 2304 Insbesondere die zu treffenden Entscheidungen im Rahmen einer Strafaussetzung können auf das Phänomen eingehen. Stationäre Gestaltung ist einem Vollzugsplan vorbehalten.
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b) Vielversprechendere spezialpräventive Ziele liegen folglich in der weitestgehenden Vermeidung von Entsozialisierung.2305 Generell sollte nicht verhehlt werden, dass die Strafe ein massiver Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten ist, der aufgrund der damit verbundenen Folgewirkungen das Leben umso tiefgreifender umgestaltet je höher die Strafe ausfällt. Das betrifft selbstredend den im Tenor liegenden Tadelsausspruch wie auch das auferlegte Übel. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB dient nach verständiger Lesart vielmehr der Begrenzung von Sanktionen.2306 Die Vorschrift ist damit einfachgesetzlicher Ausdruck der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. In diesem Wissen ist auch das immer wieder diskutierte Problem der „Schuldunterschreitung aus spezialpräventiven Gründen“2307 aufzulösen. Gemeint sind jeweils Fälle, in denen wegen des verschuldeten Unrechts nur ein geringer oder gar kein spezialpräventiver Einwirkungsbedarf besteht. Man hat sich davor zu hüten, in diesen Konstellationen vorschnell einer falschen Dichotomie zu verfallen. Denn die Schuld als personifizierte Rechtsfriedenstörung wird dann nicht so hoch ausfallen (können), dass eine unangemessene Strafe zu erwarten wäre. Gerade im unteren Sanktionsbereich steht ein ausgefächertes Instrumentarium zur Verfügung. Zudem sichert die Individualisierung innerhalb der Schuld kompetent ab, dass entlastende Momente berücksichtigt werden.2308 Durch das Schuldprinzip wird garantiert, dass dem Täter nicht ein Zuviel an Schuld zugewiesen wird. Mangelt es aber an einem Bagatellcharakter der Tat oder an entlastenden Umständen in Person des Täters, so ist die Strafe generalpräventiv notwendig verbürgt. Das Tatschuldprinzip steht somit auch für den Zuordnungsgrundsatz: eine Tat – eine Strafe. Es ist ein Gebot der Gleichheit im Recht, dass das Strafrecht generell gleichförmig durchgesetzt wird. Für eine Schuldunterschreitung fehlt dann schon die Plausibilität.2309 Die Verhältnismäßigkeit greift erst dann ein, wenn ein berechtigtes (!) staatliches Interesse in Anbetracht der drohenden Folgen für das Individuum in der Abwägung unterlegen wäre. Generell geht es dann aber nicht um eine erneute (!),
2305
Im Ergebnis letztlich auch B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 247. NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 StGB Rn. 34; ders., Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 548; Weigend, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? (2004), S. 181 (192 f.); jetzt auch Frisch, FS Kaiser (1998), S. 765 (772), offener ders., zuvor in: ZStW 99 (1987), S. 349 (370). 2307 Wiederholt Roxin, zuletzt in: FS Volk (2009), S. 601 (614 f.). Vgl. Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992), S. 18; MüKo-StGB/Radtke 4(2020); Vor §§ 38 ff. Rn. 55 ff.; Sch/Sch-StGB/Stree/Kinzig 29(2014), Vorbem §§ 38 ff. Rn. 21. 2308 LK-StGB/Theune 12(2007), § 46 StGB Rn. 19; wohl auch Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 156, der von „praktischer Konkordanz“ im Hinblick auf das Bedürfnis der Normstabilisierung spricht. Das dürfte dann aber auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung hinauslaufen, s. aber auch. a. a. O., S. 160 f. 2309 Bruns, MDR 1987, S. 177 (178); Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 23 Rn. 13; Schaumann, Alter, Krankheit und Behinderung im deutschen Strafrecht (2001), S. 98, 106 ff.; ferner Frisch, in: FG BGH IV (2000), S. 269 (280); ders., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 3 (25 f.): Vollstreckungsproblem. 2306
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
abstrakte Gegenüberstellung2310 von staatlichem Reaktions- vs. individuellem Freiheitsinteresse. Eine solche Trivialität erläge einer Zweckkonfusion.2311 Daraus folgt zwar insgesamt, dass eine Schuldunterschreitung prinzipiell möglich ist und vielleicht sein muss, aber dennoch stets Ausnahmecharakter hat und die Hürden des tendenziell gewichtigen Strafinteresses des Staats erst zu überwinden hat. Zu erinnern ist, dass gerade die Quantifizierung von individuellem „Strafleid“ bislang kaum gelungen ist und insoweit der normative Gleichheitssatz einer Berücksichtigung entgegensteht. Eine spezialpräventive Feinjustierung der Strafmaßfindung findet nicht mehr statt.2312 3. Zusammenfassung: Strafzumessungspotential von Zweckerwägungen Aus diesen Grundsätzen folgt, dass eine Feinjustierung der Strafe mittels (nochmaliger) Bemühung der Strafzwecke letztlich keinen Erfolg verspricht.2313 Die Unterentwicklung der Zwecklehren zur Geburtsstunde der Spielraumtheorie und deren sich fortpflanzende Dominanz haben diesen Befund nachhaltig verdeckt. Es liegt daher ein fundamentales Missverständnis des § 46 Abs. 1 StGB vor, wenn aus der redaktionellen Gestaltung gefolgert wird, zunächst müsse (zwingend!) die Schuld (als Grundlage, S. 1) bestimmt werden, um anschließend den Strafzwecken (S. 2) Geltung zu verschaffen.2314 Die Befunde zur Genese der Vorschrift können jedenfalls darüber nicht hinweghelfen, dass die seinerzeit gefundene Kompromissformel in der damaligen Zugangsweise für den Stand der Strafzumessungswissenschaft heute unbrauchbar geworden ist. Damit ein Grundrechtseingriff der Intensität von Strafe überhaupt vor der Verfassung Bestand hat, muss dieser über den (Straf-) Zweck abgesichert sein. Ein solches, (theoretisch) umfassendes Begründungsgerüst bietet allein die positive Generalprävention.2315 Die Reziprozität in den Begriffen von positiver Generalprävention und (verschuldeter) Rechtsfriedensstörung verdeutlicht, dass Schuldvergeltung weder selbstständiger Zweck ist noch sein kann. Dazu bedarf es auch nicht zwingend einer Implementierung funktioneller Elemente in den Schuldbegriff. Entscheidend ist allein, welches Deutungsschema die Gesellschaft 2310 Die Verhältnismäßigkeit des Gesetzes und nicht erst des Einzelakts widmet sich dieser abstrakten Frage. 2311 Da die spezialpräventive Idee die Strafbegründung nicht zu tragen vermag, sollte diese auch nicht unversehens in die staatliche Zweckverfolgung eingestellt werden. 2312 Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie (2015), S. 154. Zur Strafempfindlichkeit s. im vorherigen Abschnitt unter VIII. 1. c). 2313 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 349 (372). Anders wohl grundsätzlich die herrschende Meinung, soweit sie die Spielraumtheorie verfolgt, vgl. unter 8. bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 653. 2314 Das ist die wohl h. M. – regelmäßig gegen die Stellenwerttheorie gerichtet, Bruns, FS Dreher (1977), S. 251 (261); Roxin, FS H. Schultz (1977), S. 463 (468) (= in: Pönometrie (1977), S. 55 (60)); ders., FS Bruns (1978), S. 183 (187 ff.); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 173; H.-L. Schreiber, NStZ 1981, S. 338 (339). 2315 Zum theoretischen Gerüst sei auf den Beginn dieses Abschnitts verwiesen.
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mit der Schuldpraxis vorhält. Da die Gesellschaft kein Interesse haben kann mit schuldferner Vergeltung zu operieren, ist eine Trennung von Schuld und Generalprävention überholt. Schuldvergeltung, so man den Begriff aufrechterhalten möchte, erfolgt stets zweckgebunden. Solange die Präventionsbilanz von Strafen insgesamt eher dürftig ausfällt, dürfen individuelle Präventionsmerkmale keinen zusätzlichen Raum beanspruchen. Eine solche folgenorientierte Auslegung würde den Richter nicht nur schlicht überfordern,2316 sondern auch zu nicht begründbaren Entscheidungen nötigen. Ohne konkrete Erfolgsaussicht drängt nicht zuletzt das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Strafe im Zweifelsfall stets an den unteren Rand vertretbarer Strafen. Bei gleicher Präventionseignung ist stets die mildere Strafe zu wählen. Spezialpräventive Momente sind aussichtsreicher in der Wahl der Strafart und deren Vollstreckungsmodi aufgehoben.2317 Die klassische Trennungsthese der Stellenwerttheorie ist deswegen berechtigt. Im Übrigen hat der Gesetzgeber freilich eindeutige Zweckbekenntnisse gemieden2318, so dass diese Unklarheiten grundsätzlich zwar eine Pluralität in der Zweckverfolgung zulassen.2319 Die mitunter unübersichtliche Begriffslandschaft suggeriert allerdings auch eine Vielfalt von Modellen, deren eigenständiger Erklärungsgehalt zuweilen offenbleibt. Insbesondere die kolportierte vernachlässigte „Opfer-Genugtuungsfunktion“ dürfte keinen systematischen neuartigen Ansatz bieten.2320 Denn die Gesellschaft nimmt sich dem Täter2316
So auch Hassemer, FS Coing (1982), S. 493 (519 f.). So i. E. auch Kaspar, Gutachten C 72. DJT (2018), 1 (32); Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien (1999), S. 297. 2318 Anders noch die Reformdiskussion, § 2 I AE-StGB (Zweck und Grenze von Strafe und Maßregel): „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft“. 2319 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 24. 2320 Diesbezüglich bietet das Schrifttum kein klares Bild. Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers (2007), S. 190 ff. stellt der Generalprävention seine Theorie der „Spezialrestitution“ gegenüber. J. Weber, Zum Genugtuungsinteresse des Verletzten als Strafzweck (1997), S. 151, 155 ff., 167 scheint auf der einen Seite ein solcher selbständiger Zweck vorzuschweben. Auf der anderen Seite soll dieser sich akzessorisch zur Nebenklage (a. a. O., S. 157 f.) verhalten. Dieser derivative Charakter nimmt dem Zweck im Grunde die Selbständigkeit. Hörnle, in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem (2000), S. 175 (177), spricht zwar von vernachlässigter Opferperspektive, hält aber offenbar bei einer Retrospektivität verarbeitenden Strafzumessung diesen Belang für gewahrt. Günther, FS Lüderssen (2002), S. 205 (214) bemängelt zwar eine einseitige Fixierung auf den staatlichen Strafanspruch, hält aber die Opferperspektive im (geltenden?) Strafverfahren für abbildbar. Für bereits bestehende, ausreichende Integration dagegen Grasnick, JZ 1990, S. 704 (705); Hamel, Strafen als Sprechakt (2009), S. 187 f., der die individualpsychologische und sozial-systemische Perspektive unmittelbar gekoppelt sieht, (Herv. nicht im Original); Hillenkamp, StV 1989, S. 532 (533); Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014), S. 88; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 39; anders noch ders. in JuS 2005, 769 (773); Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters (1999), S. 29 und Weigend, RW 2010, S. 39 (44); restriktiver noch ders., in: JR 1990, S. 29 (30): Opfergenugtuungsinteresse konfligiert mit § 46 Abs. 3 StGB. Aus dem älteren Schrifttum Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 208, weitere Nachweise zur Diskussion bei Holz, a. a. O., in Fn. 353 bzw. 355. 2317
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
Opfer-Konflikt stellvertretend an. Dieses „Mandat“ füllt der Staat nur unzureichend aus, wenn Opferbelange zu kurz kommen.2321 Von daher stellt sich Strafe im Ergebnis insgesamt in den Dienst der Zwecklehre. Konflikte mit der geltenden Regelung sind – unter Vernachlässigung der subjektivhistorischen Auslegung – auch nicht zu befürchten.2322 Die Formel der „Grundlage“ ist semantisch zu unterbestimmt, als dass detaillierte Forderungen daraus abzuleiten wären. Grundlage kann prioritär verstanden werden, gleichermaßen aber programmatisch für Basalität stehen, oder aber auch für eine komplementäre Berücksichtigung innerhalb eines Programms. Nur letztere Annahme stützt den Spielraumgedanken, bildet aber inhaltlich das schwächste Argument. Denn wenn Prävention im Schuldgedanken selbst („Spielraum“) aufgehoben ist, dann kann es durch diese integrale Zuordnung kein additives Moment sein, sondern allenfalls ein Einzelschritt chronologischer Art innerhalb einer Denkoperation („Erst-dann“). Das verliehe dem Spielraumgedanken mithin Gesetzeskraft! Das geht aber über die gewöhnliche Auslegung hinaus.2323 Nimmt man dagegen Schuld als basalen Grundgedanken (§ 46 Abs. 1 S. 1), der in Ausgleich mit den Rechten des Betroffenen zu bringen ist (S. 2), so wird die Norm Wortlaut wahrend den Interessen des Strafzumessungsrechts genügend ausgelesen.
VI. Die Anrechnung erlittener Einbußen im Erkenntnisverfahren Beim Strafausspruch sind die Nachteile während des Strafverfahrens zu berücksichtigen. § 51 StGB ist insoweit die Anrechnungsgeneralnorm. Soweit die Idee des Strafersatzes trägt, empfiehlt es sich, die Vollstreckungsfiktion als allgemeines Prinzip einzuführen.2324
2321 Insbesondere Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 142 ff. betont die Einbeziehung der Handlungsfolgen unter dem Gesichtspunkt des subjektiven Rechts des Opfers auf Folgenberücksichtigung, S. 142 ff. Es hätte fatale Außenwirkung, wenn die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft einer kompetenten Aufarbeitung nicht mehr vertrauen könnten. Dieses Krisensymptom macht bereits eine Re-Stabilisierung der Norm kaum wahrscheinlich. Damit ist aber schon die generalpräventive Aufgabe verfehlt. Umgekehrt gibt es kein originäres Opferinterventionsrecht. Möglich ist lediglich der Anschluss per Nebenklage (§ 395 StPO), deren Instrumentarium aber gerade in Sachen Strafzumessung durch ein eingeschränktes Revisionsrecht (§ 400 Abs. 1 StPO) kein Zugriff auf die Rechtsfolgenentscheidung erlaubt. Insofern ist das Modell Webers (wie zuvor) nicht einleuchtend. 2322 Frisch, FS Kaiser (1998), S. 765 (772). 2323 Vgl. insoweit auch Neumann, FS Spendel (1992), S. 435 (443 f.): Die Spielraumtheorie ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für präventive Strafzumessungssteuerung. 2324 In die gleiche Richtung argumentiert NK-StGB/Kett-Straub 5(2017), § 51 Rn. 49.
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VII. Absprachen und Strafzumessung – eine neue Strafzumessungsmethodik? Mit dem Einzug von Absprachen2325 in den deutschen Strafprozess besteht auch die Notwendigkeit, diese neue Verfahrensrealität in die Strafrechtsdogmatik einzuordnen. Die Diskussion2326 und Bedenken2327 werden trotz der gesetzlichen Verankerung in § 257c StPO wohl auch in Zukunft nicht verstummen. Gemäß § 257c Abs. 2 S. 1 StPO können die Rechtsfolgen zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden. Sachlich wird man dies als Form antizipierter Strafzumessung betrachten müssen. Entsprechend der Ausgangslage für den Gesetzgeber vollzieht sich antizipierte Strafzumessung in Form einer Rahmenbildung. Als „Verhandlungsgegenstand“ kommen also Ober- und Untergrenze der möglicherweise zu erwartenden Strafe in Betracht (§ 257c Abs. 3 S. 2 StPO), während regelmäßig auf Beschuldigtenseite das Geständnis (§ 257c Abs. 2 S. 2 StPO) steht. Das „Rahmenangebot“ entspringt lediglich kursorischer2328 Würdigung mit der Folge, dass innerhalb dieses Rahmens jede Strafe noch in Betracht kommt.2329 Der Rahmen selbst muss so gewählt werden, dass dieser nicht den nötigenden Charakter einer Sanktionsschere (§ 136a StPO) annimmt.2330 Zudem muss es Aufgabe des Richters sein, deutlich zu machen, welche Aspekte des vorbereiteten Geständnisses als Höhenparameter innerhalb dieses Rahmens zum Tragen kommen. Nach den hiesigen Grundsätzen können dies nur Aspekte von Aufklärungshilfe an sich sowie die verfahrensbeschleunigende Wirkung sein. Der tatsächliche Gewinn des Geständnisses entscheidet schließlich über die Wertigkeit der erbrachten Leistung des Beschuldigten.2331 Dieses Prognoserisiko trägt letztlich der Beschuldigte. Es dürfte
2325
Empirische Untersuchung zum Einfluss der Kooperationsbereitschaft auf das Strafmaß, Streng, FS Schwind (2006), S. 447 (451 ff.). 2326 Monografische Auswahl allein aus jüngerer Zeit: Karsten Altenhain, Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren (2007); André Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen (2007); Judith Hauer, Geständnis und Absprache (2007); Martin Müller, Probleme um eine gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren (2008); Susanne Niemz, Urteilsabsprachen und Opferinteressen – in Verfahren mit Nebenklagebeteiligung (2011); Gabriele Schöch, Urteilsabsprachen in der Strafrechtspraxis (2007); René Seppi, Absprachen im Strafprozess: der Versuch der Quadratur des Kreises (2012); Tobias Viering, Absprachen als verfahrensökonomische Lösung des Schuldnachweisproblems im Strafverfahren: Voraussetzungen und Grenzen unter Berücksichtigung der ökonomischen Analyse des Rechts, (2009). 2327 Kontemporärer Überblick bei Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 394 f., mit Nachweis zu krit. Stimmen. Siehe auch Dippel, FS Widmaier (2008), S. 105 (120 ff.). 2328 MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 211. 2329 StGB-Fischer 62(2015), § 46 Rn. 118 nimmt indes eine verkappte Einigung zugunsten der Punktuntergrenze an. Denn mehr als den Eintritt der Bedingung (Geständnis) könne der Beschuldigte nicht bewirken. 2330 BGHSt 43, 195 (204 ff.). 2331 Ebenso MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 218.
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2. Teil, 1. Kap.: Die Grundzüge einer Dogmatik der Strafzumessung
allerdings auch Aufgabe effektiver Strafverteidigung sein, den Wert der Aussagen ihres Mandanten für den konkreten Verfahrensgang einzuschätzen. Ein Grundproblem dieses Konsensmodells wird es in methodischer Hinsicht sein, dass die kontraktualistischen Züge auch die Frage nach einem „Leistungsstörungsrecht“ aufkommen lassen. Für das materielle Recht lässt sich dies noch einfacher beantworten als für das Verfahrensrecht. Das Scheitern einer Absprache als solches kann prinzipiell keine neue Erwägung für die Strafmaßfindung stellen. Die Frage, wer das Scheitern zu vertreten hat, – soweit man das in der Klarheit überhaupt beantworten kann –, sollte deshalb auch nicht herangezogen werden.2332 Ein rechtswidriges Verhalten des zuständigen Gerichts wird einen Verstoß gegen das faire Verfahren begründen können, welcher revisibel gerügt werden kann. Im Anschluss kann im neuen Verfahren die rechtswidrige Verzögerung innerhalb der Grundsätze der Vollstreckungsfiktion berücksichtigt werden. Entsprechendes annehmen können müsste man für Ignoranz des Spruchkörpers für eine Verständigungsbereitschaft, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die Eignung im Sinne von § 257c Abs. 1 StPO ein revisibler Rechtsbegriff ist.2333 Ein ermessenfehlerhaftes Übergehen dieser Eignung – wie auch immer die Rechtsfehlerhaftigkeit zu begründen wäre – bewirkt eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Verzögerung zu Lasten des Beschuldigten.2334 Umgekehrt indes darf fehlende Beschleunigungsbereitschaft des Beschuldigten keinen Strafschärfungsgrund an sich bedeuten. Allenfalls soweit sich die Sache in gezieltem Missbrauch prozessualer Rechte darstellt, mag dies als verfahrensverschleppendes Nachtatverhalten zu beurteilen sein.2335 Ob ein Geständnis verwertbar bleibt,2336 stellt sich für die Strafzumessung nicht als direktes Problem dar. Denn das Geständnis an sich hat keinen formalen Wert, sondern nur dessen Wirkungen. Die Wirkungen bleiben ohne Widerruf desselben unberührt. Bei Widerruf hängt die Verwertung im Hinblick auf den Umstand der Aufklärungshilfe wie auch die Überführungseignung des Geständnisses selbst dann nur von dessen Beweiswert ab. Das ist Frage der richterlichen Beweiswürdigung und hängt von der individuellen Prozesssituation ab. 2332
Anders MüKo-StGB/Miebach 2(2012), § 46 Rn. 229. Dafür Strate, NStZ 2010, S. 362 (365). 2334 Eine eigens dafür zugeschnittene „Ermessensfehlerlehre“ müsste erst noch entworfen werden. Sieht man den Zweck des Ermessens einzig in der Verfahrensbeschleunigung, vgl. Salditt, FS Tolksdorf (2014), S. 377 (384), mit Hinweis auf BVerfG, Urt. v. 19. 3. 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 („kein neues „konsensuales“ Verfahrensmodell“), dann führt konsequenterweise eine nicht gerechtfertigte Verzögerung zum Ermessensmissbrauch – zumindest aus Sicht dieser Verfahrensnorm. 2335 Einzelheiten können nicht behandelt werden. Fraglos sollte nicht vorschnell eine unzulässige Verteidigung angenommen werden, da dieses indirekt eine Sanktion des Scheiterns wäre. Es muss Ausdruck einer offensiven Konfliktverteidigung sein. 2336 Zu den diskutierten Ansätzen, Kuckein, FS Meyer-Goßner (2001), S. 63 (67). 2333
D. Die Strafbemessung in der Urteilsbegründung
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D. Die Strafbemessung in der Urteilsbegründung Die Rechtsfolge ist als Teil des Schuldspruchs ebenso Gegenstand der Urteilsbegründung. Sie liefert die unerlässliche Basis für eine etwaige Überprüfungsmöglichkeit seitens des Revisionsgerichts. Nebenbei zwingt die Darlegung der Gründe den Tatrichter sein (ggf. nur intuitiv) gefundenes Strafmaß zu kontrollieren. Insofern dient die Begründung auch einer Selbstkontrolle.2337 Die Begründung der Strafrahmenwahl ergibt sich zum einen aus der Benennung des angewendeten Strafgesetzes (§ 267 Abs. 3 S. 1 1. HS StPO) zum anderen aus der Erörterung von straferhöhender bzw. -mindernder gemäß §§ 267 Abs. 2, 267 Abs. 3 S. 2 StPO. Die Zentralvorschrift für die Strafzumessung stellt in diesem Zusammenhang § 267 Abs. 3 S. 1 2. HS StPO, wonach die Umstände anzuführen sind, die für die Zumessung der Strafe „bestimmend“ gewesen sind. Nach einhelliger Ansicht ist daraus zu folgern, dass nicht sämtliche Strafzumessungsgründe mitzuteilen sind.2338 „Bestimmend“ ist in diesem Fall in etwa als „gewichtig, herausragend bzw. bedeutsam“ zu verstehen. Das ist aber im Ausgangspunkt problematisch. Es steht von vorneherein nicht fest, ob ein Strafzumessungsfaktor bedeutend ist oder nicht. Eine abstrakte Regel nach der bedeutsame von nicht bedeutsamen Faktoren zu trennen wären, existiert nicht, so dass eine solche Einschätzung im Vorfeld allenfalls die irrelevanten Aspekte eines Sachverhalts ausblenden kann. Dass für den konkreten Fall nicht eine Negativliste der (potentiell unendlichen) unwirksamen Tatsachen zu erstellen ist, versteht sich im Grunde von selbst. Ergibt sich allerdings die Unwichtigkeit eines (potentiell) bedeutsamen Strafzumessungsumstands erst aus der Spezialität des Sachverhalts, ist eine Mitteilung darüber durchaus zu erwägen und wäre auch zu begründen. Im Übrigen ist die Entscheidung für die Gewichtigkeit eines Strafzumessungsaspekts im Grunde stets eine Entscheidung über eine Rechtsfrage, die einer revisionsrechtlichen Nachprüfung unterliegt.2339 Die Verkennung des (realen) Gewichts eines Umstands wäre ein Wertungsfehler und das Urteil in der Revision aufzuheben.2340 Jede Auswahlentscheidung und relative Gewichtung des 2337
Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 231 ff. Detter, JA 1997, S. 586; KK-StPO/Kuckein/Bartel 8(2019), § 267 Rn. 24; StPO-MeyerGoßner 64(2021), § 267 Rn. 18; BeckOK-StPO/Peglau (Ed. 39, Jan. 2021), § 267 Rn. 27, 45. In diesem Zusammenhang wird auch zwischen „prozessualer“ und „materiell-rechtlicher“ Begründungspflicht unterschieden; Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 130. Maurach/Zipf/ Dölling, Strafrecht AT 2 8(2014), § 63 Rn. 188 f. Dabei stellt erstere (nur) eine Wahrhaftigkeit der Gründe sicher, letztere meint die erschöpfende Würdigung des Strafzumessungssachverhalts. Abgesehen von den Konsequenzen für die Revisionserhebung (Verfahrensrüge vs. Sachrüge) wird der Wert einer solchen Unterscheidung aber nicht ganz klar. Gibt das materielle Recht eine Pflicht zur vollständigen Dokumentation bereits vor, so ist nicht einsichtig, warum prozessual bloß ein Minus abzusichern ist. 2339 So in der Tendenz ähnlich BeckOK-StPO/Peglau (Ed. 39, Jan. 2021), § 267 Rn. 45; AK-StPO/Wassermann (1993), § 267 Rn. 17. Siehe auch AnwK-StPO/Martis 2(2010), § 267 Rn. 18: „Ausführungen können erforderlich sein, wenn sich […] Erörterung einer Rechtsfrage aufdrängt.“ Letzteres ist der Fall. 2340 Zur Revision diesbezüglich unter III. 2. e) im folgenden Abschnitt. 2338
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Strafbemessungssachverhalts müssen daher nachvollziehbar sein. Das ist eigentlich nur zu leisten, wenn die wirksam gewordenen Umstände nach Möglichkeit vollständig mitgeteilt werden. Das gilt prinzipiell auch für sich aufhebende, entgegengesetzte Effekte, denn die postulierte Annihilation könnte auch auf einer fehlerhaften Anschauung des Rechts beruhen. Zu bedenken gilt es auch, dass die Vorschrift des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO aus einer Zeit datiert, in der die „Verrechtlichung“ der Strafzumessung noch nicht weit fortgeschritten und noch die Vorstellung einer prinzipiell eingeschränkten Revisibilität vorherrschend war.2341 „Bestimmend“ ist daher eher zu lesen als Umstände, die eine Entscheidung determinieren. Das führt letztlich zwar dazu, dass eine umfassende Auseinandersetzung mit den Strafzumessungsgründen zu leisten ist. Dem Ökonomiegedanken läuft ein solcher Ansatz zwar freilich zu wider. Eine Reduktion der Darstellung bei der Urteilsbegründung begegnet aber unter Berücksichtigung einer Kontrollmöglichkeit durchgreifenden rechtlichen Bedenken.2342 Inwieweit einzelne Denkschritte en detail nachzuzeichnen wären, ist dann eine sich aufdrängende Frage. Ob eine erschöpfende Aufzählung wirklich „unmöglich“2343 oder nicht einfach nur – gegebenenfalls – unverhältnismäßig mühsam ist, müsste genauer beleuchtet werden. Um einer Praktikabilität im Gerichtsalltag gerecht zu werden, kann hier sicherlich nicht zu kleinschrittig gedacht werden. Zumindest die – nach bisher gemeiner Lesart – bestimmenden“ (scil. herausragende) Faktoren sollten mit einer Größenordnung versehen werden, so dass eine „Hausnummer“ als Orientierung vorherrscht.2344 Allerdings ist auch nicht zu verkennen, dass in der Praxis in der Dokumentation Herstellung und Darstellung einer Entscheidung2345 auseinander fallen können.2346 Um eine reine Darstellung handelt es sich, wenn Urteilsgründe lediglich unter dem 2341
§ 267 Abs. 3 S. 1 in dieser Fassung ist seit dem 1. Oktober 1950 geltendes Recht. Neben zwei sprachlichen Anpassungen ist vor allem die Streichung der Sollens-Vorschrift eine grundlegende Änderung gegenüber der Ursprungsfassung der Norm seit ihrer Einführung zum 1. April 1924. Damals hieß es: „(3) 1Die Gründe des Strafurt[h]eils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und [sollen] die Umstände anführen, die [welche] für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind“, [Ursprungsfassung in Klammern]. 2342 Zumal zu bedenken ist, dass Verteidiger durchaus geraten wird, „Milderungsgründe“ zurückzuhalten um diese für eine Revision fruchtbar zu machen, s. etwa Tondorf/Tondorf, in: Hamm/Lohberger (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. (2010), S. 472 (502). 2343 Detter, JA 1997, S. 586. 2344 In diesem Sinne etwa auch Bauer, Der Strafzumessungsvorgang (1984), S. 185 f.: Transparenz des Strafrahmenabschnitts. 2345 Zum Problem s. stv. W. Hassemer, ZStW 90 (1978), S. 64 (91); ders., Einführung in die Grundlagen des Strafrechts 2(1990), S. 117 f.; ferner R. Hassemer, MschKrim 66 (1983), 26 (37 f.). 2346 Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 744 mit zahlreichen Nachweisen zu empirischen Studien. Weitergehend (in gewisser Überzeichnung) sogar Bruns, ZStW 94 (1982), S. 111 (123) der das Begründungsphänomen vierfach auffächert: Gründe der Beratung, Verkündung, Niederschrift (Urteil) und die „wahrhaftigen“ Gründe.
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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Aspekt der Rechtfertigung für das intuitiv gewonnene Strafmaß abgefasst werden. Diesem Phänomen wird allerdings weder durch umfangreiche noch durch eine eng fokussierte Begründung entgegenzutreten sein. 2. Kapitel
Die Strafzumessung in der Revision In der Revisionsinstanz kann das Strafmaß in zwei unterscheidbaren, dennoch vom Wesen her in engem Zusammenhang stehenden Facetten Gegenstand des Verfahrens werden. Einmal ist dies die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung der jeweiligen Vorinstanz. Das Urteil des Tatgerichts kann (auch) auf Rechtsfehler hinsichtlich der Strafmaßfindung überprüft werden. Zum zweiten lässt sich die Überlegung anstellen, inwieweit die Revisionsinstanz selbst auf eine Strafe, sowohl in Art und Höhe, erkennen kann. Das Bindeglied beider Ausprägungen stellt die rechtliche Erkenntnisquelle der Revisionsinstanz: (nur) das angefochtene Urteil selbst kann zur rechtlichen Einschätzung herangezogen werden. Im Folgenden soll dies anhand der Maßstäbe gegenwärtiger Rechtsprechung2347 aufgezeigt werden.
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung I. Grundlagen der Strafmaßrevision 1. Die Revision Die Revision ist ein devolutives und suspensives Rechtsmittel,2348 welches in der Grundstruktur als reine Rechtsbeschwerde2349 konstruiert ist. Für die Strafmaßrevision bestehen keine eigenständigen Regeln. In der Konsequenz muss sie prinzipiell denselben Regeln folgen. Das heißt auch, dass Aufgabe und Zweck der Revision im entsprechenden Interpretationskontext ihre Bedeutung entfalten. Einigkeit besteht daher nur insoweit, als sich die Revision nicht auf einen einheitlichen Gedanken zurückführen lässt, der sämtliche Funktionen umfassend erklären kann. Im Übrigen konkurrieren als anerkannte Zwecke die Wahrung der Rechtseinheit2350, die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit2351 und die damit verwandte Theorie der Ge2347 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an herrschender Rechtsprechung, um einen entsprechenden Überblick zu leisten. Das hier vertretene Konzept differentieller Strafzumessung wird deshalb nicht ausdrücklich in Bezug genommen. Abweichungen für die Revision stehen allerdings ohnehin nicht zu erwarten, sonst erfolgt ein entsprechender Hinweis. 2348 Stv. zur allgemeinen Charakterisierung Ranft, Strafprozessrecht 3(2005), Rn. 2080. 2349 StPO-Meyer-Goßner 64(2021), Vor § 333 Rn. 1. 2350 Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht II (2007), Rn. 1230. 2351 AK-StPO/Maiwald (1996), Vor § 333 Rn. 2.
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
währung eines realistischen Rechtsschutzes.2352 Die wohl h. M. kombiniert diese Interpretationsstränge zu einer Synthese.2353 Das Rangverhältnis der Zwecke zueinander gilt noch ungeklärt, wird aber auch für bedeutungslos2354 gehalten. Letzterem wird man in dieser Pauschalität nicht ohne weiteres beipflichten können,2355 denn eine unterschiedliche Akzentuierung ist geeignet, die Ausrichtung der Revision zu beeinflussen. So wird eine an der Einzelfallgerechtigkeit orientierte Revision prinzipiell im Kontrollumfang und der -dichte weiterreichend sein, während eine den Rechtseinheitsgedanken stärkende Position sich (zumindest vom Prinzip her) auf Beurteilung von Grundsatzfragen zurückziehen kann. Zu einer übertriebenen Hochstilisierung dieser Ausgangsüberlegung nötigt die generelle Nützlichkeit für die Auslegung indes nicht. Bei genauerer Ansicht stehen Einzelfallgerechtigkeit und Einheit vom Wesen her schon nicht im Gegensatz, eher verhalten sich beide Ansätze schon in ihrer Anlage konvergent. So bedeutet der Einzelfallgerechtigkeit dienen zu wollen im Ergebnis nichts anderes als den Maßstab der Beurteilungsobjekte zu vergrößern, um so Unterschiede sichtbar machen und so würdigen zu können. Eine andere Frage ist die nach ihrer praktischen Umsetzbarkeit. Die Zwecke der Revision können nicht isoliert von der realen Leistungsfähigkeit eines Rechtsmittelgerichts aussichtsreich Geltung beanspruchen. Dieses reale Moment – den Ansatz der „Gewährung eines realistischen Rechtsschutzes“ aufnehmend – dürfte in Wahrheit das konstituierende Moment strafrechtlicher Revision sein.2356 In diesem Zusammenhang genügt abschließend die Feststellung, dass jeder der genannten Zwecke ihre Berechtigung hat und die Revision ihnen prinzipiell gerecht werden will und auch kann.2357 Im Lichte einer differentiellen Strafzumessung haben jedenfalls beide Prinzipien ihre Berechtigung. Ein ideal verstandenes Differenzierungsprinzip streitet tendenziell für ein hohes Maß an Einzelfallgerechtigkeit („Gleiche Strafe für gleiches Unrecht“), während der Einheitsgedanken dessen flächendeckende Umsetzung erfordert. Im Einzelfall wird darauf zurückzukommen sein.
2352
Roxin, Strafverfahrensrecht 25(1999), § 53 Rn. 10. KK-StPO/Gericke 8(2019), Vor §§ 333 Rn. 6; StPO-Meyer-Goßner 64(2021), Vor § 333 Rn. 4. Bei Knauer, NStZ 2016, S. 1 (10) bringt diese Dialektik den übergeordneten Zweck der „Kontroll-und Disziplinierungsfunktion“ hervor. 2354 Meyer-Goßner, a. a. O.; KMR-StPO/Momsen (54. EL Mai 2009), Vor § 333 Rn. 6; HKStPO/Temming 6(2019), Vor § 333 Rn. 2. 2355 SK-StPO/Frisch 5(2016), Vor § 333 Rn. 15; LR-StPO/Hanack 25(Mai 1999), Vor § 333 Rn. 8. 2356 Insofern – faktisch – wie Roxin, Strafverfahrensrecht 25(1999), § 53 Rn. 10. Wenngleich der Gedanke kaum rein revisionsspezifisch sein kann, so bereits Otto, NJW 1978, S. 1 (2) zur Vorauflage 14(1976). 2357 Zutr. daher Hanack, wie zuvor. Eine andere Perspektive leuchtet Rosenau, FS Widmaier (2008), S. 521 (537 ff.), aus, wenn er die „schwebende“ Disziplinierungsfunktion gegenüber Nachlässigkeiten in der Tatsacheninstanz anführt. 2353
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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2. Verfassungsrechtliche Aspekte a) Gesetzliche Richter Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Die Garantie des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sichert die Neutralität und Unabhängigkeit des Richters im gerichtlichen Verfahren. Bereits aus Art. 97 GG erwächst die sachliche Unabhängigkeit „von innen“ heraus, so dass die Gewähr ihre größte Wirkkraft gegenüber sachfremden Einflüssen „von außen“ entfaltet.2358 Die Manipulationsmöglichkeit über gezielte Fremdsteuerung ist damit gegenüber des „historischen Feindbildes der Kabinettjustiz“2359 die einzige gegenwärtige Gefahr für den Bürger aus dem Justizinnenraum. Für den Gesetzgeber folgt daraus die Pflicht, Regelungen zu schaffen, aus denen möglichst eindeutig hervorgeht, welcher Richter im Einzelfall zuständig ist.2360 Daneben weist die Norm auch eine bedeutsame rechtsstaatliche Funktion auf.2361 Es entspricht insgesamt dem heutigen Wissenschaftsstand, dem Gerichtsverfahren nicht nur einen dienenden Charakter beizumessen, sondern auch gerade deren Eigenwert herauszustellen.2362 Klare Entscheidungszuständigkeiten dienen in hohem Maße auch der Transparenz und Rationalität im gerichtlichen Verfahren. Aus dieser Perspektive zeigt sich der gesetzliche Richter als ein allgemeines Ordnungsprinzip.2363 Von der Einhaltung der Aufgabenverteilung geht allgemein eine Rationalitätsvermutung aus, deren stabilisierende Kraft besonders im streng formalisierten Strafverfahren mit seinen einschneidenden Rechtsfolgen ihren Niederschlag zu finden verspricht. Dies äußert sich unter anderem in einer Dekonzentration von Macht in Form von vertikaler Aufspaltung,2364 welche für den hier interessierenden Zusammenhang eine hervorgehobene Rolle spielt. Man wird daraus ein allgemeines Indiz ableiten können, dass Arbeitsteilung zumindest als ein Instrument der Prophylaxe von Machtübergewichten im Rechtssystem auch prinzipiell eine abstrakte Rollenverteilung im Instanzenzug verlangt und gewährt. Eine darüber hinaus gehende inhaltliche Fixierung von Rollenbildern ist durch die Garantie des gesetzlichen Richters jedoch nicht in der Weise vorgezeichnet, dass man daraus in Einzelheiten ableiten könnte „wer“ denn „was“ zu entscheiden hätte. Individualrechtlich besehen lässt das sog. „grundrechtsgleiche“2365 Recht verfahrensrechtliche Kompetenzverteilungen zwar zu einer verfassungsrechtlichen Absicherung derselben hin erstarken. Abgesichert wird damit aber nur, „dass“ Zuständigkeiten in ihrem Bestand als solche 2358
GG-Mangoldt/Klein/Starck/Classen 6(2010), Art. 103 GG Rn. 1. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 5. 2360 BVerfG 95, 322 (327 ff.) – Bes. v. 08. 04. 1997 – 1 PBvU 1/95 (Überbesetzung von Spruchkörpern). 2361 Dazu GG-Mangoldt/Klein/Starck/Classen 6(2010), Art. 103 GG Rn. 3. 2362 Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 131. 2363 GG-MD/Maunz (Aug. 1971), Art. 101 I Rn. 13. 2364 Vgl. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 181. 2365 Terminlogie variiert, vgl. GG-Dreier/Schultze-Fielitz 2(2008), Art. 101 Rn. 17. 2359
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
überhaupt einzuhalten sind. Alles andere würde dagegen den organisationsrechtlichen Charakter2366 der Norm sprengen. b) Recht auf Instanzenzug Für die Rechtskontrolle von Bedeutung ist, inwieweit die Verfassung ein Recht auf Instanzenzug gewährt. Diese Frage ist für die Revision deswegen interessant, weil – insoweit sie zu bejahen wäre – dieses für eine umfassende Kontrollbefugnis der Revisionsgerichte spräche. Andernfalls bestünde ein partielles Rechtsschutzvakuum. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG könnte daher bemüht werden, dieses Anliegen zu begründen. Tatsächlich liefert der Wortlaut mit der „öffentlichen Gewalt“ einen gewichtigen Anknüpfungspunkt für die Inklusivität der Judikative. Dennoch wird der Begriff von der öffentlichen Gewalt von der h. M. teleologisch reduziert2367 – der Richter stelle als unabhängige Institution keine Gefahr für die Rechtssphäre des Bürgers dar.2368 Berechtigter ist da schon der Einwand, dass eine so verstandene Rechtsschutzgarantie einen Rechtsweg ad infinitum als Konsequenz hätte. In diesem Sinne hat das BVerfG ein Recht auf Instanzenzug abgelehnt.2369 Argumentative Umwege über Art. 103 Abs. 1 GG können dieses Axiom nicht überwinden. Das rechtliche Gehör sichert die Subjektstellung des Angeklagten im Verfahren, indem es ihm die Möglichkeit der Einflussnahme gewährt, um so das Verfahren mitzugestalten.2370 Dies verschafft ihm Gehör innerhalb eines anhängigen Verfahrens, dient damit jedoch nicht der Rechtswegeröffnung.2371 Es findet der bekannte Ausspruch Bestätigung, dass sich in die Verfassung zwar viel hinein-, aber nicht herauslesen lässt. c) Art. 3 Abs. 1 GG Die gesetzesbezogene Ermittlung von Tatsachen und einheitliche Gesetzesanwendung bewirken Gleichheit durch Gesetzmäßigkeit. Diese Gesetzmäßigkeit hat 2366 Als „Grundnorm der Gerichtsorganisation“ bei Degenhart, in: Sachs GG 6(2011), Art. 101 Rn. 1. 2367 S/H/H-GG/Hofmann 12(2011), Art. 19 Rn. 44; a. A. GG-Mangoldt/Klein/Starck/Huber 6 (2010), Art. 19 Rn. 439; insb. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter (1993), S. 175 ff. 2368 Dagegen überzeugend, Schünemann, JA 1982, S. 71. 2369 St. Rspr. seit BVerfGE 4, 74 (94 f.) – Bes. v. 21. 10. 1954 – 1 BvL 9/51, 1 BvL 2/53 – (Ärztliches Berufsgericht); weiter E 87, 48 (61). Demgegenüber sehen einige Stimmen ein nicht akzeptables Rechtsschutzdefizit bei Fehlen einer Kotrollinstanz, so Rosenau, FS Widmaier (2008), S. 521 (539) mit Nachweisen. Einen anderen Akzent setzt BVerfGE 112, 185 (207 f.), Bes. v. 25. 01. 2005 – 2 BvR 656/99, 2 BvR 657/99, 2 BvR 683/99, wenn insoweit bestehende Vorschriften nicht so ausgelegt werden dürfen, dass der Rechtsschutz insoweit leerläuft. 2370 GG-Mangoldt/Klein/Starck/Nolte 6(2010), Art. 103 Rn. 4. 2371 GG-MD/Schmidt-Aßmann (48. Lfg. Nov. 2006), Art. 103 I Rn. 7.
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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die Rechtsprechung als Gleichheit vor dem Gesetz zu garantieren.2372 Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass die Wissenschaft diesen Gedanken in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch nicht ausblenden kann. So fordert selbstredend der die differentielle Strafzumessung leitende Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG auch für die Strafzumessung eine Rechtsanwendungsgleichheit. Die hiesige Untersuchung nimmt die Differenzierbarkeit von Sachverhalten unter dem Gebot von Art. 3 Abs. 1 GG zum Anlass. Aber auch die Wissenschaft im Übrigen hat sich diesem Topos unlängst angenommen. Die Unsicherheit über die Effektivität der Präventionsziele und die Strafungleichheit2373 hat Alternativkonzepte wie die Lehre von der Tatproportionalität intensiv gefördert. Gerade dessen Vertreter sehen sich dem Gleichheitsgedanken in hohem Maße verpflichtet. Eingedenk dessen scheint Art. 3 Abs. 1 GG prädestiniert für eine Kardinalposition im Revisionsrecht. Gleichwohl hat die gleichheitsrechtliche Rechtsprechung im materiellen Strafrecht2374 keinen nennenswerten Raum eingenommen. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Zurückführen lässt sich das in einer Hinsicht auf die sloganartige Formel „keine Gleichheit im Unrecht“2375, denn die Wiederholung fehlerhafter Rechtsanwendung steht nicht im Einklang mit Art. 3 GG.2376 Von höherer Bedeutung ist noch die Erkenntnis, dass Gleichheit als solche keinen Rechtswert darstellt.2377 Rein formelle Gleichförmigkeit im Sinne schlichter Strafarithmetik ist für ein zweckbezogenes Strafrecht unbefriedigend. Jenseits der speziellen Differenzierungsverbote des Abs. 3 trifft das Gesetz keine Aussage darüber, wann zwei Sachverhalte als „gleich“ zu behandeln sind. Der zu wählende Vergleichsmaßstab stellt dabei die Weichen einer rechtlichen Prüfung, an deren Ende die Ergebnisse je nach Feinheit der gewählten Perspektive erwartbar variieren können. Nichts anderes kann für ein Prinzip differentieller Strafzumessung gelten. Dies erklärt die strukturelle Schwierigkeit eines revisionsrechtlichen Nachweises. Insofern bedarf eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung einer behutsamen Darlegung. Demgemäß wurde auf einen Gleichheitsverstoß erst erkannt, „wenn die Auslegung oder Anwendung des Rechts sachfremden Erwägungen [folgte].“2378 Diese (bisherige) Zurückhaltung scheint die Bedeutung der Grundrechte zu vernachlässigen, doch dürfte in Sachen Gleichheitssatz diese weniger mit einer 2372
GG-Mangoldt/Klein/Starck/Starck 6(2010), Art. 3 Rn. 282. Grundlegende Untersuchung bei Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (1984), S. 1, 14, passim; zum Problem auch Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 145 f.; Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 18 f. 2374 S. bspw. BVerfGE 1, 332 (345), Urt. v. 13. 06. 1952 – 1 BvR 137/5 – (Vollstreckung eines DDR-Urteils in der BRD). 2375 Geprägt von Dürig, in: GG/MD (Dezember 1973), Art. 3 I Rn. 164. 2376 GG-Sachs/Osterloh 6(2011), Art. 3 Rn. 213. 2377 Dürig, ebenda. 2378 BVerfGE 81, 132 (137); E 96, 189 (203). 2373
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
mangelnden theoretischen Fundierung als vielmehr mit einer überzeugenden praktischen Handhabung zu tun haben. Denn die Leitideen der Revision (Rechtseinheit und Einzelfallgerechtigkeit) entstammen gleichheitsrechtlicher Provenienz. Zudem ist die Einrichtung eines Instanzenzuges ein gewichtiger Gleichheitsfaktor.2379 Zwar erwächst daraus – gemäß dem vorstehenden – nicht generell eine institutionelle Garantie eines bestimmten Instanzenzugs. Mit der Entwicklung und Überwachung von Standards übernimmt die revisionsgerichtliche Rechtsprechung indes eine qualitätssichernde Aufgabe.2380 Eine solche Aufgabe deutet prinzipiell auf eine umfassende Revisibilität wenigstens hin.2381 Man darf daher annehmen, dass die Beschränkung auf die klassische Willkürkontrolle unter diesen Vorzeichen im Wesentlichen dazu dient, den Anreiz für Revisionsführer, sich über den Gleichheitssatz ein schlichtes, aber effektives Revisionsvehikel verschaffen zu wollen, bedeutsam zu minimieren. Es ist daher Aufgabe, jeweils konkretisierende Maßstäbe für die Revision zu entwerfen, welche die grundrechtliche Komponente umfassend abbilden.
II. Bestimmung der Kontrolldichte – Punktstrafe vs. Strafrahmenmodelle Die Strafzumessung wird unisono als Rechtsanwendung ausgewiesen.2382 Damit ist auch schon gesagt, dass die Strafzumessung prinzipiell der Rechtskontrolle unterworfen ist. Die Wissenschaft hat sich von der historischen Vorstellung2383 gelöst, die Strafzumessung sei als rein tatsächliches Phänomen nicht der Revision zugänglich. Die gewandelte Anschauung beruht letztlich auf der Trennung von der 2379
So auch GG-MD/Dürig (Dezember 1973), Art. 3 I GG Rn. 413. Jedenfalls dann, wenn die verfahrensrechtliche Verarbeitung des Rechtsstoffs vom Amtsermittlungs-grundsatz her geprägt ist, verbürgt sich der Staat für eine umfassende Sachaufklärung. Die Inquisitionsmaxime verlangt auf diese Weise eine angemessene Ausschöpfung des Differenzierungspotentials eines Falles. Ein hohes Differenzierungsniveau eröffnet wiederum mehr Möglichkeiten im Hinblick auf Einzelfallgerechtigkeit. Über eine entsprechende Kontrolle kann das Postulat der Einzelfallgerechtigkeit schließlich eingelöst werden. Nota bene: natürlich darf das nicht dahingehend missverstanden werden, dass in der Revisionsinstanz eine Sachverhaltsaufklärung zum Zwecke der Differenzierung stattfindet. Es geht freilich nur um die auf den tatsächlichen Feststellungen fußende Rechtsanwendung. Der Rechtschutz wäre paradox unvollkommen, wenn der Staat einerseits zugunsten einer gerechten Entscheidung (hohen) Ermittlungsaufwand tätigt, bei der rechtlichen Auswertung eines solchen Sachverhalts (Rechtsanwendung) dann aber den Aufwand durch geringe Kontrolle nivellieren würde. 2381 Vgl. die conclusio bei Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 145 f. 2382 S. nur Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 671 (690); LK-StGB/Theune 12(2006), Vor § 46 Rn. 5; Hamm/Sarstedt, Die Revision in Strafsachen 7(2010), Rn. 1318; Grosse-Wilde, Erfolgszurechnung in der Strafzumessung (2017), S. 224. 2383 Dazu etwa Frisch, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 217 (218 f.). Materialien bei Hahn, S. 242 ff., 258 f. 2380
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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Tatsachenerhebung und ihrer rechtlichen Würdigung.2384 Die zu § 46 StGB entwickelten Strafzumessungsgrundsätze gehören zum materiellen Recht, deren Verletzung der Revisionsführer mit der Sachrüge nach § 337 StPO geltend machen kann.2385 Die prinzipielle Anerkennung gibt allerdings noch keine Auskunft über den Umfang rechtlicher Kontrolle. Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich die spezielle Struktur der Strafzumessung auch im Stadium der Revision auswirken muss. Denn wenn schon der Tatrichter an Erkenntnisgrenzen stößt, muss auch der Revisionsrichter entsprechende Zurückhaltung walten lassen. Es kann demnach schwerlich um reine Ergebniskontrolle gehen. Am Grundsatz der Strafzumessung als Angelegenheit des Tatrichters2386 soll nicht gerüttelt werden. Vielmehr rückt die Überprüfung des „verrechtlichten“ Entscheidungsvorgangs in den Vordergrund. Denn die Revision überprüft das Urteil anhand der sie tragenden Urteilsgründe. Nach § 267 Abs. 3 S. 1 StPO sind die bestimmenden Zumessungstatsachen und -erwägungen mitzuteilen. Das Revisionsgericht kann also – prinzipiell – den Prozess der Straffindung nachvollziehen. Man dürfte zunächst erwarten, dass die Art und Weise des Zugriffs seitens eines Revisionsgerichts von der zugrunde liegenden angewandten Strafzumessungstheorie abhängt. Dies ist allerdings nur bedingt der Fall. Die Vertreter der Punktstrafe haben keine Probleme, eine umfassende Revisibilität zu begründen. Wird die Struktur des § 46 StGB als verkappter Konditionalsatz begriffen, der bei Vorliegen bestimmter Umstände xi die Strafe y (xi) festlegt, so folgt daraus, dass jede Strafe, die eben diese Strafe S verfehlt, rechtlich fehlerhaft sein muss. Verfehlt das verhängte Strafmaß die verwirkte Schuld, ist die Strafe an sich schon fehlerhaft.2387 Vom verfolgten Ausgangspunkt ist dies konsequent, doch muss diese Theorie ihre Eindruckskraft unweigerlich einbüßen, da sie ihren Ausgangspunkt mit Praktikabilitätserwägungen aufweichen muss. Denn eine allgemein konsentierte Operationalisierung der Strafzumessungsvariablen steht eben noch aus. Dagegen geht mit der Statuierung eines Schuldrahmens ein gewisser Beurteilungsspielraum einher. Die Strafrechtswissenschaft ist dazu übergegangen, den richterlichen Erkenntnisakt als rechtlich gebundenes Ermessen zu beschreiben.2388 2384
Frisch, FS Eser (2005), S. 257 (262, 264 f.); ders., FS Fezer (2008), S. 353 (369) mit Fundstellen zur Entwicklung. 2385 Wovon die Praxis rege Gebrauch macht: vgl. als Bsp. die Untersuchung Nacks, in: NStZ 1997, 153 (155) für den Zeitraum 1992 – 1995 beim BGH, für den Zeitraum 1979 – 1981 bei Rieß, NStZ 1982, S. 49 (51 f.). 2386 Vgl. BGHSt 17, 35 (36). 2387 Zum Ganzen bereits im 1. Kapitel, A. II. 1. 2388 Vgl. hier stv. B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 162. Der Ermessensbegriff ist strafrechtlich problematisch, zur Diskussion der 1. Kapitel, A. III. 1. a) bb). Rechtstheoretisch ist die begriffliche Einkleidung in das Ermessen eher das Korrelat zum Problem der Unterbestimmung aufgrund fehlender konkreter Rechtssätze, Hassemer, in: Gesetzesplanung, EDV und Recht Bd. 4, (1972), S. 95 (106).
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
Die obergerichtliche Rechtsprechung kann eine sich in diesem Rahmen bewegende Strafe nicht der Schuld wegen beanstanden, selbst wenn das Revisionsgericht nach Lage der Dinge eine andere Strafe verhängt hätte.2389 In Hinblick auf diesen Spielraum sei eine exakte Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen.2390 Dagegen lässt sich zu Recht einwenden, der Begriff des Spielraums fungiere mehr als Synonym für eine eingeschränkte Revisibilität2391 denn für ihre Begründung. In der Sache sagt sie trotzdem nicht aus, dass eine beliebige Strafe in dem Rahmen zu wählen sei, sondern dass angesichts der Schwierigkeit, die Schuld konkret zu beziffern, ein breiteres Spektrum schuldgerechter Strafen akzeptiert wird. Zudem darf die – wenngleich deswegen verunglückte Begriffswahl – des Ermessens nicht mit dem Begriffsverständnis des Verwaltungsrechts assoziiert werden, denn das Strafrecht verfolgt einen genuinen Ansatz.2392 Im Gegensatz zum Verwaltungsrecht sind die verschiedenen möglichen Rechtsfolgen nicht gleichwertig; das Tatgericht hat einen Konkretisierungsauftrag, „die“ richtige Strafe als Antwort auf den Rechtsbruch zu geben.2393 Insofern liegen die Ausgangspole schon nicht derart weit auseinander, als dass unterschiedliche Aufgaben dem Revisionsgericht aufwarten würden. Der Theorienstreit ist für die Kontrollperspektive der Revision damit auch ohne Bedeutung im engeren Sinne. Denn man muss sich lediglich verdeutlichen, welches Prüfungsprogramm das Revisionsgericht vollziehen muss. Die Revision ist begründet, wenn (ungeachtet möglicher Verfahrenshindernisse) das Urteil nach § 337 Abs. 1 StPO auf einer Gesetzesverletzung beruht. Die mögliche Gesetzesverletzung bestimmt § 337 Abs. 2 StPO: Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Das Revisionsgericht untersucht, ob der Anwendungsbefehl eines Gesetzes missachtet worden ist. In (zumindest von der Idee her) „einfach“ strukturierten Fällen geht es um nicht mehr als den Beleg eines Ergebnisfehlers. Entweder ist die Prämisse (Definition) oder die Schlussfolgerung (Subsumtionsvorgang) falsch. Der Regelfall wird meist sein, dass die Revisionsinstanz eine Rechtsansicht negiert und damit die Ausgangsprämisse aufhebt. Diese Vorgehensweise setzt allerdings ein eindeutiges Konditionalprogramm voraus, anhand dessen man den Abgleich des Ergebnisses (Rechtsfolge) mit dem vorgelagerten Tatbestand durchführen kann. Bei der Strafzumessung ist dies deutlich 2389
BGHSt 17, 35 (37). BGHSt 29, 319 (320). 2391 Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 89; ähnlich Theune, StV 1985, 162 (163); Maurach/Zipf/Dölling, Strafrecht AT 2 8(2014), § 63 Rn. 14. 2392 Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 88, 91 f.; Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 162; genauer 2. Teil, 1. Kapitel, A. III. 1. a) bb). Abweichend Güntge, ZIS 2018, S. 384 (385 f.), der keine epistemologischen Grenzen vorschiebt. 2393 Bereits frühzeitig Bruns, FS Engisch (1969), S. 708 (716). Darin liegt kein Widerspruch zum Spielraumgedanken. Innerhalb des Rahmens ist die Strafe nach präventiven Aspekten möglichst genau zu ermitteln. Das ändert aber nichts daran, dass die gefundene Strafe vom Revisionsgericht u. U. nicht falsifiziert werden kann, vgl. LR-StPO/Hanack 25(1999), § 337 Rn. 191. 2390
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schwieriger. Abgesehen davon, dass bereits falsche Strafrahmen gewählt werden könnten, hängt die Rechtsanwendung nicht mehr an den einzelnen Straftatbeständen. Der Rechtsanwendungsbefehl des Strafmaßes ist die Grundnorm des § 46 StGB. Diese sieht im Prinzip drei Arbeitsschritte vor: 1. Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe (vgl. Abs. 1 S. 1). 2. Die Wirkungen der Strafe sind zu berücksichtigen (vgl. Abs. 1 S. 2). 3. Das Gericht wägt die Umstände der Tat gegeneinander ab (vgl. Abs. 2 S. 1). Dieses sind von der Gesetzesstruktur her Handlungsgebote an den Richter. Die Norm gibt damit den Weg für ein bestimmtes Ziel vor, das Endergebnis aber nicht. Statuiert das Gesetz nicht mehr als ein Handlungsgebot, kann die Revision auch nicht mehr als die Befolgung desselben verlangen. Das bedeutet eine Einschränkung der Rechtskontrolle auf den Prozess der Entscheidungsfindung. Selbst wenn der richtigen Strafe eine verkappte Konditionalstruktur im Sinne der Punktstrafe zugrundezulegen wäre, ändert dies nichts an dem tatsächlichen Umstand, dass die Unvollkommenheit des Konditionalprogramms durch Konkretisierung seitens des Rechtsanwenders rechtsschöpferisch zu kompensieren wäre. Die Finalität der Strafmaßfindung ist damit letztlich nicht überwindbar. Die Lehre der Tatproportionalität wiederum legt den Schwerpunkt auf Art und Gewicht von Abwägungsdirektiven. Die Finalität der Abwägung bleibt davon unberührt. Das zeigt, dass die Revision sich ein Stück weit der Theorieunsicherheit emanzipieren und indifferent ihr gegenüber verhalten kann. Die allgemeine Revisibilitätsformel („Spielraumtheorie“) spiegelt diese Erkenntnis insofern wider, als diese als ein revisionsrechtliches Kontrollinstrument sich darauf beschränkt, Fehler nur dann als solche zu kennzeichnen, „wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind (Anm. des Verf.: Verstoß gegen § 46 Abs. 2 bzw. 3 StGB), wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt (Anm. des Verf.: Verstoß gegen § 46 Abs. 1 S. 2 StGB), oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (Anm. des Verf.: Verstoß gegen § 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Nur in diesem Rahmen kann eine ,Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO)‘ vorliegen.“2394 2394 BGHSt 34, 345 (349). Bes. v. 10. 4. 1987 GS 1/86. Im Original: „Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine ,Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. StPO)‘ vorliegen. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen.“
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Zusammenfassend gesprochen lässt sich also gar keine eigens auferlegte Selbstbeschränkung ausmachen. Es gilt nämlich auch hier die Falsifikationsmethode. Befürchtungen eines strukturellen Rechtsschutzdefizits sind folglich übertrieben. Denn die Annahme einer rechtsfehlerhaften Strafe trotz korrekter Prozedur ist nicht ohne weiteres plausibel. Als Kontrollüberlegung hilft – trotz aller Scheu vor der Mathematisierung der Strafzumessung – die Vorstellung, dass ein Rechenergebnis auch nicht falsch sein kann, ohne dass sich irgendein Fehler bei der Rechenoperation eingeschlichen hat.2395 Die eigentliche Malaise in diesem Kontext kann allenfalls in einer intransparenten Operationalisierung von Strafzumessungsfaktoren bestehen; eine Problematik, die aber von der prozeduralen Seite der Herstellung lediglich auf Kontrollebene fortwirkt.
III. Fehlertypologie Wenn auch die Revisibilität der Strafzumessung von Rechts wegen nicht vorab beschränkt werden muss, so muss der besonderen Struktur einer Rechtsfindung in praktischer Hinsicht begegnet werden. Die Konkretisierungsbefugnis des Richters statuiert zumindest faktisch einen Beurteilungsspielraum des Tatrichters, der über die Revision bei Einhaltung seiner Grenzen nicht beanstandet werden kann. Rechtstechnisch sollte man zwar nicht von einer Ermessenshoheit des Strafrichters sprechen. Eine dem Verwaltungsrecht entsprechende Klassifikation ist wegen der Typverschiedenheit im Grunde untunlich und konnte sich zu Recht nicht durchsetzen.2396 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedenfalls der Kontrollmechanismus ähnlichen Regeln folgt. Trotz seiner dogmatischen Unschärfe indes hilft gerade die Anlehnung an die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren praktizierte Ermessenskontrolle anhand einer „Fehlerlehre“ die Arbeit des Revisionsrichters zu verdeutlichen. Eine Typologie hat auch den Vorteil, dass durch ihre hohe Anschaulichkeit die apodiktische Lehre vom revisionsfreien Raum entmystifiziert wird. Der BGH vollzieht dies, indem er das Urteil an seiner bereits erwähnten „Revisionsformel“ misst.2397 Im Folgenden sollen auf Basis der Methodik höchstrichterlicher Rechtsprechung die möglichen Fehlerquellen innerhalb der Strafzumessungsphasen systematisch eingeordnet und die faktische Kontrolldichte aufgezeigt werden. Eine ausführliche Kasuistik bleibt den Kommentaren und den periodischen Rechtsprechungsübersichten der Fachzeitschriften vorbehalten.
2395 „Eine ungerechte Strafe ist nie frei v. Rechtsfehlern“, so Bruns, FS Engisch (1969), S. 708 (709). 2396 Siehe zur Herleitung auch oben, 1. Kapitel, A. III. 1. a) bb). 2397 S. im Vorstehenden. St. Rspr. BGHSt 17, 35 (36 f.); St 29, 319 (320); St 34, 345 (349).
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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1. Fehler bei der Bestimmung des Strafrahmens Bei der Ermittlung des gesetzlichen Strafrahmens erfolgt die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Vorgang der Strafzumessung. Fehler auf dieser Ebene müssen unweigerlich zur „falschen“ Strafe führen. Hinsichtlich der Arten ist folgendermaßen zu differenzieren: a) Missachtung der gesetzlichen Strafandrohung Die Strafandrohung für das jeweilige Delikt ist aus dem besonderen Teil des StGB zu entnehmen. Hierbei sind mannigfache Fehlleistungen denkbar: Der vorgesehene Strafrahmen wird unter- bzw. überschritten, die Strafart könnte schon falsch gewählt, das Fahrverbot des § 44 StGB zur Hauptstrafe aufgewertet sowie überhaupt eine ungesetzliche Strafe verhängt werden. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass diese Fälle eine grobe Missachtung des Gesetzes bedeuten und zwingend zu korrigieren sind. In ihrer Trivialität sollten sie praktisch allerhöchste Ausnahme und schon durch schlichten Gesetzesnachvollzug problemlos zu vermeiden sein. b) Verkennung einer Strafrahmenverschiebung Neben den normalen Strafrahmen eröffnen einzelne Delikte den Zugriff auf Sonderstrafrahmen für besonders schwere Fälle bzw. minder schwere Fälle. Daneben kennt der allgemeine Teil des StGB vertypte Milderungsgründe.2398 Hier kann einmal eine Verschiebung überhaupt übersehen werden. Wird auf die Möglichkeit eines Sonderstrafrahmens im Urteil nicht eingegangen, obwohl die Sachlage hinreichend Anlass zur Erörterung gegeben hat, ist das Urteil fehlerhaft.2399 In diesen Kontext gehört bspw. auch die Fehlvorstellung, Normal- und Sonderstrafrahmen stünden in einem prinzipiellen Regel-Ausnahmeverhältnis, mit der Folge, dass eine darauf rekurrierende Ablehnung ausscheiden muss. Die Entscheidung für oder gegen die Wahl eines Sonderstrafrahmens unterliegt im Übrigen als Rechtsfrage generell der Überprüfung. Das gilt uneingeschränkt für obligatorische Strafmilderungsgründe. In Fällen zwingender Rechtsfolgen ist das Revisionsgericht seinem Telos gemäß berufen, die einheitliche Auslegung zu wahren. Eine andere Situation stellt sich in den Fällen der fakultativen Milderungen ein. Erlaubt eine Vorschrift die Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB bzw. verweist sie auf die Ermessensmilderung nach § 49 Abs. 2 StGB, obliegt es dem Tatrichter eine Auswahlentscheidung zu treffen. Zur Begründung eines Sonderstrafrahmens greift der BGH dann auch auf eine Gesamtbetrachtung zurück, die sich in einem diffizilen (und mitunter diffusem2400) Abwägungsprozess äußert.2401 Dem Ziel dieser Indivi2398
Einzelheiten oben, 1. Kapitel, C. II. 2. a). LR-StPO/Hanack 25(1999), § 337 Rn. 228. 2400 Kritik dazu ausführlich oben, 1. Kapitel, C. II. 2. a), vgl. auch Frisch/Bergmann, JZ 1990, 944 (946); SK-StGB/Horn (Jan. 2001), § 46 Rn. 157. 2399
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
dualisierung entsprechend ist das Revisionsgericht auch nicht zu generalisierenden Maßstäben aufgerufen,2402 sondern lediglich zur Wahrung dieser Zweckbindung. In Terminologie der Ermessenslehre gesprochen ist jeglicher Ermessensfehlgebrauch vom Gesetzeszweck nicht mehr gedeckt und stellt eine Verletzung des Gesetzes dar. In der Konsequenz der Gesamtwürdigungslösung läge eine schwächere Prüfungsintensität in Hinblick auf diesen Konkretisierungsauftrag vor. In praxi behalten die Obergerichte über die Begründungsanforderungen die Kontrolle.2403 Soweit der Gesetzgeber zur Regelbeispielstechnik übergegangen ist, wirkt ein strengerer Kontrollmaßstab. Die gesetzlichen Voraussetzungen werden nicht zuletzt wegen ihrer Ähnlichkeit den Tatbestandsmerkmalen entsprechend erschöpfend überprüft.2404 Indes kann auch der lediglich indizielle Charakter der Regelbeispiele nach geltender Praxis durch eine kompensatorische Gesamtwürdigung überwunden werden. Zu beachten in dieser Hinsicht ist schließlich § 50 StGB. Dessen Reichweite werde der in tatrichterlichen Praxis tendenziell überspannt,2405 doch sollten jene Appelle nicht den Blick auf das dahinter stehende Doppelverwertungsverbot trüben. Entscheidend muss hier stets eine materielle Untersuchung sein, inwieweit ein Umstand in seinen Facetten (aus-)gewertet worden ist. Ein „Verbrauch“ eines Milderungsgrunds liegt erst dann vor, wenn die mehrfache Herabsetzung auf denselben Umstand gestützt werden soll, nicht schon bei Rückgriff auf die konkrettatsächlichen Gegebenheiten.2406 Soweit ein Strafrahmen nicht angewendet wurde, obwohl dies nach Sachlage geboten war, handelt es sich um eine Nichtanwendung des Gesetzes. Diese ist eine nach § 337 Abs. 2 StPO relevante Verletzung des Rechts und damit revisibel. Bei Verkennung des Auswertungspotentials beruht eine Entscheidung – wiederum in terminologischer Anlehnung an die Fehlerlehre – auf unzulässigem Ermessensschwund.2407 2. Verstoß gegen Strafzumessungsgrundsätze § 46 StGB formuliert ein Leitlinienprogramm zur Strafzumessung. Entsprechend dieser Finalstruktur der Norm kann das Revisionsgericht auch nur nachvollziehen, ob diese Gebote beachtet worden sind.
2401 Dazu Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 679 (695 f.); Schäfer/Sander/Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 508 f. 2402 Vgl. SK-StPO/Frisch 5(2016), § 337 Rn. 163: Vertretbarkeitskontrolle. 2403 Dazu Kalf, NJW 1996, 1447 (1448 ff.). 2404 LR-StPO/Hanack 25(1999), § 337 Rn. 221. 2405 So die Einschätzung bei StGB-Fischer 62(2015), § 50 Rn. 5. 2406 Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 679 (695). 2407 Frisch, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 217 (228).
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a) Verstoß gegen Schuldgrundsatz Die Schuld ist nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB die Grundlage jeder Bemessung. Jede schuldinadäquate Strafe leidet damit an einem Mangel.2408 Ein Missgriff bedeute metaphorisch ein „Vergreifen in der Oktave“ dar.2409 Wenigstens diese „Oktave“ muss aber definiert werden. Dabei beschränkt sich die Überprüfung nach dem hiesigen methodischen Ausgangspunkt auf die Einhaltung der Grenzen eines (fiktiven) Schuldrahmens. Die Randpunkte sind gedankliche Schwellenwerte, innerhalb deren Rahmen alle jene Strafhöhen umfasst werden, die vor dem Hintergrund der tatsächlichen Feststellungen über die Begründung noch plausibilisiert werden können. Eine Strafe jenseits dieser Toleranzgrenze kann nicht mehr vom Schuldgrundsatz gedeckt sein. Methodisch bewältigt die Rechtsprechung diese Problemstellung im Vergleich, so dass die Erörterung unter dem Gleichheitsaspekt behandelt werden soll.2410 b) Beachtung der Strafzwecke Der Tatrichter muss sich bei jeder Verhängung einer Strafe bewusst machen, welches Ziel die Strafe in concreto erreichen soll. Dabei hat er jedenfalls die anerkannten Strafzwecke der General- sowie Spezialprävention zugrunde zu legen. Daher dürfe er weder neue Strafzwecke kreieren noch die etablierten verfälschen.2411 Diese rechtliche Bindung an die legitimen Strafzwecke ist folglich als vollständig revisibel anerkannt,2412 wobei die Revision die Unsicherheiten der Tatinstanz unweigerlich teilen muss. Die Praxis tut sich schwer, innerhalb des proklamierten Antinomie-Problems2413 die einzelnen präventiven Zwecke zueinander in ein Rangverhältnis zu setzen. Die Anwendung der Spielraumtheorie verschafft hier keinen Erkenntnisgewinn;2414 letztlich verfolgt sie aber diesen Anspruch auch nicht. Ungeachtet des Rückzugs des Repressionsgedankens in der Wissenschaft2415 löst die Praxis das Spannungsverhältnis in der Regel zugunsten eines Primats des Sühne-
2408
(154). 2409
S. 697. 2410
Horstkotte, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung (1992), S. 151 Bild von Schmidt-Leichner, 41. DJT. 1955, Bd. II D 72, zitiert nach Detter, wie zuvor,
Siehe dazu sogleich unter 3. Vgl. etwa Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 219. Angesprochen dürfte damit aber lediglich der nicht weiter spezifizierte Rahmen sein, von dem BVerfGE 45, 187, Urt. v. 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 – (Lebenslange Freiheitsstrafe) ausgeht. 2412 Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 32; ders., in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 217 (232). 2413 Zur Diskussion bereits oben, 1. Kapitel, A. I. 2. b). 2414 MüKo-StGB/Radtke 4(2020), Vor §§ 38 Rn. 61. 2415 Stv. etwa Roxin, Strafrecht AT 4(2006), § 3 Rn. 44 ff. 2411
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
zwecks auf.2416 In diesem Sinne schiebt die Rechtsprechung vor allem der spezialpräventiv motivierten Schuldunterschreitung einen Riegel vor.2417 Neben der abstrakten Frage ließe sich auch der konkrete Zweckeinsatz überprüfen.2418 So wäre eine fehlerhafte Beurteilung der Präventionsbedürftigkeit und -zugänglichkeit aufgrund von Fehlwertungen im Einzelfall korrigierbar, weil dies eine der Wirklichkeit widersprechende Projektion strafrechtlicher Reaktion – und damit einem Subsumtionsfehler vergleichbar – wäre. Freilich wird man sich vor Augen halten müssen, dass das Revisionsgericht ohne eigene Ermittlungen dies kaum sichtbar machen könnte.2419 Diese scheinbar unbefriedigende Befundsituation relativiert sich allerdings stark vor den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung.2420 Eine isolierte Anwendung von Strafzwecken ist danach weder im Allgemeinen von Nöten noch im Einzelfall angebracht. Einerseits findet das Leitmotiv in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB zahlreiche Konkretisierungen bereits in einzelnen Strafzumessungsregeln. Positive Generalprävention darf man – so denn man sich nicht ohnehin für die Identitätsthese2421 öffnen will – gemeinhin durch den herkömmlichen Schuldausgleich abgedeckt sehen. Härtefallregelungen verkörpern wiederum angewandte Verhältnismäßigkeitserwägungen im Sinne (positiv-) spezialpräventiver Schonung. Ein Gericht kann damit den Anforderungen des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB schon dadurch gerecht werden, dass es das vorhandene Spektrum der Vorschriften ausschöpft. Gegenüber Negativausprägungen der Prävention ist generell Vorsicht geboten, denn diese ziehen allesamt eine Strafschärfung nach sich, die behutsame Rechtfertigung erfordert. Spezialpräventiv motivierte Strafschärfung müsste darlegen, warum gerade dieser Täter genau diese verhängte Strafe bedarf. Das Ziel von Besserung respektive Abschreckung durch eine maßgeschneiderte Strafe setzt auf eine Effektivitätsvorstellung, die in der Realität bestenfalls unbelegbar, aber wahrscheinlich bereits gegenteilig belegt ist.2422 Einer zusätzlichen Sicherung durch Erhöhung der Straflänge muss im Angesicht geltender Zweispurigkeit des Sanktionssystems und den daraus resultierenden speziellen formellen und materiellen Anforderungen für Maßregeln skeptisch entgegengetreten werden.
2416
Vgl. schon Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974), S. 218 f. u. 263 ff. BGHSt 29, 319 (321 f.), zur Kritik vgl. das Schrifttum in Fn. 629. 2418 Vgl. auch Zipf, Die Strafmaßrevision (1969), S. 220 f., ferner Maurach/Zipf/Dölling, Strafrecht AT 2 8(2014), § 63 Rn. 193, ausgehend von einer spezifischen (reduzierten) Revisibilität von Präventionsfaktoren ebenda. 2419 Zum Umweg über die Begründung s. sogleich. 2420 Die theoretischen Grundlagen zu Beginn des 2. Teil, S. 472 ff.; zur „finalen“ Steuerung noch im 1. Kapitel, C. V. 2421 S. oben Teil 1, 2. Kapitel, B. II. 2. 2422 Vgl. als Stichwort die Ernüchterung des „nothing works“, B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 33. 2417
A. Die Revisibilität der tatrichterlichen Strafzumessung
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Sollen sich schließlich Äußerungen zu präventiver Ausdifferenzierung nicht in Leerformeln ergießen dürfen, stoßen erkennende Gerichte ohnehin in ihrer Darstellung im Urteil an Grenzen. Revisionsrechtliche Probleme erweisen sich in dieser Hinsicht dann als Phantom. c) Erheblichkeit der Strafzumessungstatsachen Der für die Strafzumessung festgestellte Sachverhalt kann vollumfänglich auf Mängel untersucht werden. Dabei kann er in der Regel nicht auf Vollständigkeit hin beurteilt werden. Das liegt weniger in einer nur beispielhaft gedachten Aufzählung des gesetzlichen Katalogs des § 46 Abs. 2 StGB, dessen Inhalte sklavisch abzuarbeiten wären, sondern mehr in der Bindung an die tatrichterlichen Feststellungen. Unterbliebene Sachaufklärung ist auch für das Revisionsgericht verloren gegangen. Offensichtliche Lücken im Sachverhalt oder unzureichende Erforschung naheliegender „klassischer“ Strafzumessungserwägungen dagegen werden dem Revisionsgericht mit hoher Wahrscheinlichkeit auffallen und aus diesen Gründen auch beanstandet. Die Maßstäbe sind nicht anders zu wählen als bei einer Aufklärungsrüge im Übrigen. Das Hauptaugenmerk der Kontrolle gebührt daher eher der Ausfilterung irrelevanter Strafzumessungstatsachen. Eingang in die Strafzumessung dürfen nur solche Faktoren finden, die sich zur Schuld (oder ggf. zu den legitimen Strafzwecken) in Beziehung setzen lassen.2423 Den bedeutsamsten Unterfall bildet dabei das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Jede nochmalige, strafschärfende Verwertung tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen oder Erfolge ist untersagt.2424 Die Zugehörigkeit des sog. Regeltatbilds zu diesem Problemkreis hat der BGH mit seiner Absage an einen fiktiven „normativen Normalfall“2425 beendet. Sachfremden Erwägungen im Urteil hat das Revisionsgericht entgegenzutreten. Ein schillerndes Beispiel stellt die strafschärfende Berücksichtigung der Ausländereigenschaft2426 dar. Verstöße gegen die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG im Allgemeinen führen zur Aufhebung. Selbiges muss für andere Differenzierungsverbote gelten. Im Übrigen widerspricht jeglicher Rekurs auf eine Charakteroder Lebensführungsschuld dem heutigen Konzept eines Tatstrafrechts.
2423 Vgl. an dieser Stelle für die h. M. nur B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 196; Frisch, in: Frisch (Hrsg.), Grundfragen des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht (2011), S. 217 (226); ausführlich: Die Strafzumessungsfaktoren im 1. Kapitel unter B. 2424 Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 679 (699) mit Bsp. 2425 BGHSt 37, 153 (154 f.); zur früheren Rspr. Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2 (1985), S. 133 f. 2426 Z. B. BGH NStZ 1993, 337; NJW 1972, 2191.
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
Schließlich sind der belastenden Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten enge Grenzen gesetzt.2427 Die Wahrnehmung von Beschuldigtenrechten kann dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen, denn das entwertete die rechtsstaatlichen Garantien massiv; strafschärfend kann es nur dann gewertet werden, wenn es allgemeine Rechtsfeindschaft, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche offenbart.2428 d) Bewertungsrichtung der Tatsachen Eine strafzumessungsrelevante Tatsache kann für den Angeklagten nur in zwei Richtungen wirken: entweder positiv oder negativ. Dieser banale Befund weist in die Richtung einer umfassenden revisionsgerichtlichen Kontrolle. Es handelt sich strukturell nicht um ein tatrichterliches Ermessen, sondern um eine reine Auslegungsfrage. So mögen die Ansichten im Einzelfall zwar auseinandergehen. Doch genauso wenig wie die Gefährlichkeit eines Werkzeugs oder der Bandenbegriff in seiner Auslegung den Instanzgerichten überlassen wird, kann das Strafrecht hier Divergenzen dulden. In diesen Fällen entspricht es der Rechtseinheitsaufgabe der Revision, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung ihre Auffassung durchsetzt.2429 Diese Grundprämisse wird auch nicht durch die Existenz sog. ambivalenter Strafzumessungstatsachen abgestuft werden. Weniger betrifft dies die Fälle einer abstrakten Ambivalenz, bei denen eine Tatsache deliktsspezifisch unterschiedlich wirkt. Das sollte angesichts verschiedener Unrechtsgehalte nicht weiter verwundern. Virulent wird dieses Phänomen nur, wenn es innerhalb des gleichen Delikts auftaucht. Dann ist es indes Aufgabe des Tatrichters diese konfligierenden Aspekte aufzulösen.2430 Denn in der Sache geht es stets um ein Zuordnungsproblem. So denn ein tatsächlicher Umstand unterschiedliche Wertungen zeitigt, erweist sich der Sachverhalt regelmäßig als teilbar.2431 Die Teilaspekte sind in ihrer Wertung dar- und nach Gewicht einzustellen. So denn gegenläufige Effekte sich vollumfänglich eliminierten, bedeutet dies schlicht, dass der Umstand als Differenzierungskriterium untauglich ist. Rechtlich gesprochen handelt es sich insoweit um Unerheblichkeit. Die Darstellung im Urteil wird damit im Grunde entbehrlich. Ein Verzicht kann allerdings revisionsrechtlich dann Bedeutung erlangen, wenn diese Wertung sich nicht, sei es aus allgemeiner Lebenserfahrung oder dem Urteilstatbestand, unmittelbar für die Prüfungsinstanz erschließt. Von daher ist ein Schweigen der Urteilsgründe nur in offenkundigen Fällen unbedenklich.
2427 2428
(168). 2429 2430 2431
SK-StGB/Horn (35. Lfg. Jan. 2001), § 46 Rn. 133. Hamm/Sarstedt, Die Revision in Strafsachen 7(2010), Rn. 1325; Mösl, DRiZ 1979, 165 Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2(1985), S. 250 5. Hauptteil, I 6. BGH NJW 1995, 1038; LK-StGB/Gribbohm 11(1994), § 46 Rn. 63, oben. Zum Problem der Bewertungsrichtung im 1. Kapitel, C. III. 1. c).
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e) Fehler in Gewichtung und Abwägung Die Abwägung ist als sozialer Gestaltungsakt2432 der am schwierigsten greifbare Teil der Nachprüfung. Hier kann es nur darauf ankommen, dem Abwägungsgebot überhaupt nachzukommen,2433 so dass allenfalls ein vollständiger Abwägungsausfall problemlos nachweisbar scheint. Die einzelnen Umstände müssen daher nicht nur aufgelistet, sondern auch in Beziehung gesetzt werden. Eine Missachtung des Abwägungsgebots dürfte in der Praxis so kaum vorkommen. Ansonsten bleibt es bei dem viel bemühten, denknotwendigen Spielraum,2434 der einer intersubjektiven Kontrolle nur bedingt zugänglich ist. Die dabei eingestellte Gewichtung der Faktoren ist in ihrer abstrakten Gestalt überprüfbar, soweit rechtliche Vorwertungen existieren, die dafür einen Maßstab liefern.2435 Dies ist etwa für Sachverhaltsgestaltungen anzunehmen, die sich in tatsächlicher Nähe zu Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen bewegen. f) Unrichtige Umwertung Die Einordnung des konkreten Falls in Schuld- und Strafrahmen bewältigt die Praxis durch Vergleich mit überlieferten Erfahrungssätzen.2436 Jahrelange Strafzumessungspraxis hat geläufige Straftaxen herausgebildet, an deren Maßstab das Übliche für ein Delikt gemessen wird. Im Bewusstsein dieses Vorgehens lässt sich dieser Ansatz für die Revision problemlos nutzen. Dementsprechend unterzieht das Revisionsgericht das Endergebnis einer Vertretbarkeitskontrolle im Hinblick auf Abweichungen vom Usus der Bewertung.2437 Eine inhaltliche Begründung für materielle Gerechtigkeit liefert der richterliche Konsens zwar nicht;2438 doch liefert er zumindest ein „Expertenurteil“2439. Auch ist er eine systemkonforme Lösung, denn auch die richterliche Entscheidung vollzieht sich bei Kollegialgerichten nach dem Mehrheitsprinzip.2440 Mangels Alternativen höherer Eignung besteht darin zudem die einzige Kontrolloption, soll dem Tatrichter hier nicht vollends das Feld überlassen werden. Und gerade wegen ihrer ausschlaggebenden Bedeutung für das
2432
In diesem Sinne Dreher, JZ 1967, S. 40 (44). Schmid, ZStW 85 (1973), S. 360 (393). 2434 MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 23. 2435 Frisch, FS Eser (2005), S. 257 (275). 2436 Zur Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (1984), S. 239 ff.; Theune, StV 1985, 205 (207 f.). 2437 Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 679 (697 f.); M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 130 ff.; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht 2(2021), § 11 Rn. 13. 2438 Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 661 ff. 2439 Theune, FS Pfeiffer (1988), S. 449 (458 f.). 2440 Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (1984), S. 300 f. 2433
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Strafmaß erscheint es schließlich auch unbefriedigend, an dieser Stelle vollständig aus der Kontrolle auszusteigen.2441 3. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz Eindeutige Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz sind Missachtungen der Differenzierungsverbote der Absätze 2 und 3 des Art. 3 GG.2442 Darüber hinaus wird in der Rechtsprechung selten ein solcher explizit benannt werden. Gleichwohl hat die Untersuchung der letzten Phasen gezeigt, dass gerade der Gleichheitsgedanke entscheidend deren Nachprüfung motiviert. Dort, wo die rationale Fassbarkeit abnimmt und die Deduktion zunehmend schwerer fällt, geht die Rechtsprechung auf die induktive Methode über. So ist der Gleichheitsaspekt nicht nur eine Einstiegshilfe, sondern auch der Gradmesser der Vertretbarkeitskontrolle. Das gilt insb. für diejenigen, die – entsprechend dem hier vorgestellten Modell differentieller Strafzumessung – relative Gerechtigkeit auch für ein Argument „absoluter“ Gerechtigkeit halten.2443 Fällt eine Entscheidung „aus dem Rahmen“2444, wird sie ohne entsprechende Begründung leicht angreifbar. Das Abweichen vom Üblichen indiziert insoweit einen Rechtsfehler. Das gilt für den Schuldrahmen und seine Ausfüllung gleichermaßen. Dieser Ansatz ist sicher nicht über jeden Zweifel erhaben. Ein Grund dafür ist die selektive Datenbasis der Obergerichte, die auf dem Prinzip des Trichtermodells2445 beruht. Neben die Auslese durch Aufklärung und Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft tritt auf der Stufe der Verurteilung ein weiteres Spezifikum:2446 Nicht jeder Verurteilte wird von Rechtsmitteln Gebrauch machen, sondern nur derjenige, der mit der Strafe unzufrieden ist und sich Erfolgsaussichten in der Revision ausrechnet. Auf der anderen Seite wird die Staatsanwaltschaft nicht schon dann Rechtsmittel einlegen, wenn die verhängte Strafe unter ihrem plädierten Maß liegt.2447 Ihre Wächterfunktion wird vielmehr erst bei evidenter Verfehlung aktiviert werden. Der Reichtum von Erfahrungswissen ist deshalb schon relativiert. Die Wertindifferenz der vergleichenden Methode bewirkt ferner, dass der Erkenntnisgewinn im Ergebnis relativ dünn bleibt.
2441
Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 38 f., 54 ff. Mellinghoff, FS Hassemer (2010), S. 503 (517). 2443 M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 201 f.; Schier, Die Bestimmtheit strafrechtlicher Rechtsfolgen (2012), S. 218 ff.; Streng, FS Universität Heidelberg (1986), S. 501 (517 f.). 2444 M. Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 165 ff., (168) spricht in seiner Untersuchung von einem faktischen Toleranzbereich von 50 % des üblichen Strafmaßes! 2445 Kaiser, Kriminologie 3(1996), § 37, S. 362. 2446 Vgl. auch Köberer, StV 1996, S. 428 (430); Streng, StV 2018, S. 593 (597). 2447 Vgl. RiStBV Nr. 147. 2442
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Verzichten lässt sich auf den Vergleich dennoch nicht, will man nicht vor dem Phänomen der „seltsamen Justizgeografie“2448 und damit vor den bundes- /landesweiten Differenzen kapitulieren.2449 Hier kommt namentlich die Vereinheitlichungsaufgabe des Revisionsgerichts zum Tragen. 4. Fehlerhafte Beurteilung der Konkurrenzverhältnisse/ Bildung der Gesamtstrafe Die Konkurrenzen entscheiden über die Notwendigkeit, ob eine Gesamtstrafe gebildet wird. Dementsprechend schlagen Fehler bei dieser rechtlichen Beurteilung notwendig auf das Strafmaß durch. Die Problematik, ob bei unrichtiger Annahme von Tatmehrheit bzw. Tateinheit sich Gesamtstrafen unter dem Aspekt des NichtBeruhens in Einzelstrafen und vice versa umdeuten lassen,2450 hat sich inhaltlich durch die Einführung des § 354 Abs. 1b StPO erledigt.2451 Die Zumessung der Gesamtstrafe selbst unterliegt vom Prinzip her den gleichen Kontrollmaßstäben. Die Einhaltung der Grenzwerte des § 54 Abs. 2 StGB sind uneingeschränkt nachprüfbar. Im Übrigen muss die Nachprüfung der Gesamtstrafe die strukturellen Grenzen der Revisibilität einer jeden Strafmaßentscheidung teilen. Denn das Asperationsprinzip § 54 Abs. 1 S. 2 StGB stellt keine fassbaren Degressionsfaktoren bereit; d. h. in welchem Umfang eine Einzelstrafe die Einsatzstrafe erhöhen darf, ist nicht gesetzlich festgelegt. Fehlt es indes an solchen konsentierten Maßstäben, kann sich die Revision diesbezüglich nur auf eine Willkürkontrolle zurückziehen, was sich nur in einer absoluten Unvertretbarkeit der Gesamtstrafe äußern kann. In diesem Sinne geht es nur um eine Plausibilitätskontrolle, nach der die Höhe stets entweder implausibel zu hoch oder zu niedrig sein kann. Dass in diesem Zusammenhang die Revisionsrechtsprechung mit Gewissheit annimmt, eine Operationalisierung mittels Rechenmodell sei zur Ermittlung unzulässig,2452 überzeugt nicht vollends.2453 Richtig dürfte insoweit nur sein, dass eine undifferenzierte sta2448
Tröndle, BAK 1971, S. 73 (74). Detter, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 679 (698); Theune, FS Pfeiffer (1988), S. 449 (458 f.); ablehnend Pauli, NStZ 1993, 233 (234). 2450 Vgl. dazu Kalf, NStZ 1997, S. 66 (67 f.) vs. Basdorf, NStZ 1997, S. 423. 2451 Zur Diskussion der eigenständigen Strafmaßkompetenz des Revisionsgerichts sogleich. 2452 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1218 mit Nachweisen. 2453 Zur möglichen Begründung s. oben. Im krassen Kontrast dazu stehen Versuche mittels pauschaler Rechenmodelle einen Fehler aufzeigen zu wollen: „Eine Gesamtstrafe, die die Einsatzstrafe dreifach oder mehr erhöht, überschreitet in aller Regel den Strafrahmen, den § 54 StGB dem Tatrichter zur Verfügung stellt, OLG Düsseldorf, III-5 Ss 226/06 – 85/06 I mit Verweis auf BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 8, 10, 12; BGH NStZ-RR 2003, 9; NStZ-RR 2005, 374, 375 a. E.; 4 StR 203/02 vom 25. Juni 2002; 2 StR 266/05 vom 21. September 2005; 5 StR 439/05 vom 15. Dezember 2005; 4 StR 21/06 vom 21. März 2006; 1 StR 61/06 vom selben Tag. 2449
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
tische (!) Ermittlungsformel keine Abwägung im rechtlichen Sinne darstellt und somit eine Verletzung des Gesetzes ist.
IV. Fehler bei der Strafzumessungsbegründung Die Begründung selbst muss geeignet sein, den gefundenen Strafausspruch nachvollziehbar zu machen. Das Anforderungsprofil an die Substantiierungspflicht steigt bei Abweichung von dem üblichen Maß ebenso wie bei der Näherung an die Grenzen des Strafrahmens.2454 Lücken oder Mängel in der Darstellung im Urteil über den Strafzumessungsvorgang bedeuten einen sachlichen Rechtsfehler. Die Verletzung des materiellen Rechts versteht sich – sofern man sich nicht der Annahme einer materiellen Begründungspflicht2455 anschließt – zwar nicht von selbst, denn der Tatrichter könnte trotz unzureichender Begründung das Recht korrekt angewendet haben. Und auf die Möglichkeit einer Rechtsverletzung stellt § 337 StPO nicht ab. Doch auch bloße Wiedergabefehler kontaminieren das Urteil unheilbar, denn der Tatrichter muss sich an der im Urteil niedergelegten „prozessualen Wahrheit“ messen lassen.2456 Deuten die Ausführungen auf einen materiell-rechtlichen Fehler, existiert er auch in der „Rechtswirklichkeit“ – einem tatsächlich richtigen Erkenntnisprozess zum Trotz. Freilich überprüft das Revisionsgericht auf diese Weise selten den eigentlichen Entscheidungsprozess, sondern im Grunde nur Fähigkeiten des Tatrichters zur Urteilsbegründung lege artis.2457 Die Darstellung der richterlichen Entscheidung muss nämlich nicht unbedingt ihre Herstellung wiedergeben.2458 Ein intuitiv gefundenes Strafmaß mag in diesen Fällen mit einer vertretbaren Begründung gerechtfertigt werden, um es gegen die Revision zu imprägnieren. Auf diese Weise fungiert die Begründung wiederum zuvorderst als Vertretbarkeitsmaß. Konstruktiv ist dieser Typus somit akzessorisch zu den anderen Fehlertypen, denn über diese „Ausweichkonstruktion“ verschafft sich die Rechtsprechung erst Zugriff auf die Fehler jener Phasen, die sich durch einen größeren Gestaltungsraum kennzeichnen.
2454 SK-StGB/Horn (Jan. 2001), § 46 Rn. 96; KMR-StPO/Momsen (54. EL Mai 2009), § 337 Rn. 118. 2455 Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1985), 264 ff.; auch Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung 3(2018), Kap. 23 Rn. 17; ferner LR-StPO/Hanack 25(1999), § 337 Rn. 181; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung 6(2017), Rn. 1361. 2456 SK-StPO/Frisch 5(2016), § 337 Rn. 150 f.; Wagner, ZStW 106, S. 259 (265). 2457 Schünemann, JA 1982, 123 (126). 2458 Bereits Thema im vorhergehenden Abschnitt D.
B. Eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts
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V. Zusammenfassende Betrachtung Die Darstellung hat gezeigt, dass in jeder der Strafzumessungsphasen Fehler auftreten können, die die Revision folgerichtig zu beanstanden hat. Damit ist das Strafmaß prinzipiell voll revisibel. Die Proklamation eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums als einen autonomen, der Revision schlechthin entzogenen Raum taugt daher im Rahmen der Strafzumessung allenfalls als deskriptiver Begriff denn als rechtliche Kategorie. Denn eine Einschränkung der Revision folgt letztlich erst aus den eingeschränkten kognitiven Möglichkeiten der Revisionsinstanz, dem Tatgericht einen Fehler nachzuweisen.2459 Lässt sich in den einzelnen Phasen kein Rechtsfehler nachweisen, hat es wenig Sinn, die Strafe zu beanstanden. Dann oktroyiert der erkennende Senat lediglich seine Richtigkeitsvorstellungen, die sich per definitionem nicht auf einem höheren Legitimationsniveau bewegen.2460 Dass sich der Revisionssenat über ein bloß postuliertes Begründungsdefizit einer Art Trojanischem Pferd bedienen könnte, um einen scheinbaren Rechtsfehler zu eruieren, lässt sich denklogisch schwer bestreiten. Das „soft law“ der Strafzumessung bietet dabei ausreichend Angriffsfläche. In Wahrheit betriebe das Revisionsgericht dann aber verdeckte, eigene Strafzumessung, wenn es seine Würdigung anstelle der des Tatrichters setzte. Das Medium der Rechtskontrolle würde dann zugunsten einer allgemeinen Sozialkontrolle verlassen.2461 Das ist in Hinblick auf seine Aufgabe, respektive Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG2462, fraglos problematisch.2463 Es liegt an der persönlichen Restriktion der Revisionsrichter selbst, dann Zurückhaltung walten zu lassen, wenn „sie es nicht besser wissen“. Von Rechts wegen gibt es dagegen keinen Schutz.
B. Eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts I. Das Recht zur eigenen Sachentscheidung – die Grundsatznorm des § 354 Abs. 1 StPO Erachtet der erkennende Senat die Revision für begründet, hebt er nach § 353 Abs. 1 StPO das Urteil auf. Das Instrumentarium stellt dann zwei Optionen bereit: Entweder wird die Strafsache an die Ausgangsinstanz nach § 354 Abs. 2 S. 1 2459
So bereits Bruns, FS Henkel (1974), S. 287 (298); Maatz, StraFo 2002, 373 (379). Andere Einschätzung offenbar bei Frisch, NJW 1973, 1345 (1349). Puppe, FS Paeffgen (2015), S. 655 (658) spricht in diesem Kontext nicht von höherer Kompetenz, sondern von höherer „Autorität“ des Revisionsgerichts, was im Grunde aber ähnliches meint, es sei denn, es wird damit ausschließlich auf die formale Entscheidungsmacht abgestellt. 2461 Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen (1999), S. 278. 2462 So auch MüKo-StGB/Franke 1(2005), § 46 Rn. 75. 2463 Die Diskussion über die Erkenntnisfähigkeit u. etwaiger Restriktion in der Entscheidungsbefugnis der Revisionsgerichte soll im aktuellen Kontext des § 354 Ia StPO sogleich ausführlich geführt werden. 2460
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
StPO zurückverwiesen oder das Revisionsgericht schließt das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1 StPO mit einer eigenen Sachentscheidung ab. Die Gesetzessystematik kann hier leicht täuschen. Die Zurückverweisung bildet trotz Voranstellung der Sachentscheidungskompetenz den Regelfall. „In anderen Fällen“ ist nämlich das Verfahren nach Abs. 2 fortzusetzen. Aus dieser Formulierung lassen sich der Ausnahmecharakter sowie der intendierte abschließende Regelungsgehalt des Abs. 1 entnehmen. Damit scheint sie auf der Seite einen Bruch in der Systematik des Revisionswesens einzuführen, denn die Ausgestaltung als bloßes Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf diese Weise verlassen. Die eigentliche Aufgabe eines Revisionsgerichts ist es, das an einem Rechtsfehler leidende Urteil aufzuheben. Doch sehen auf der anderen Seite nicht nur ebenso die anderen Verfahrensordnungen (vgl. etwa § 563 Abs. 3 ZPO, § 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO, § 170 Abs. 2 SGG, § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO) vor, dass in der Sache selbst entschieden werden kann. Der Sache erweist sich diese Methodik als unschädlich, soweit das Gericht aufgrund einer erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts über eine ausreichende Informationsbasis für eine abschließende Entscheidung verfügt. Bei Vorliegen dieser Entscheidungsreife kann es sich allein der rechtlichen Würdigung widmen. Als Grundvoraussetzung für jegliche Entscheidung bedarf es damit vollständiger sowie fehlerfreier Feststellungen des Tatgerichts.2464 Verdichtet sich der Entscheidungsspielraum des erkennenden Gerichts von Rechts wegen auf nur eine rechtmäßige Entscheidung, dann hätte es wenig Sinn, allein wegen des Rechtsfolgenausspruchs an die Ausgangsinstanz zurückzuverweisen, wenn doch das Revisionsgericht die einzig mögliche Rechtsfolge schon selbst aussprechen kann. Es spricht dann bildlich gesehen „mit dem Mund des Gesetzes“2465 ; eine Verlängerung des Verfahrens ist vollständig überflüssig und hat aus Gründen der Prozessökonomie und der Schonung der Verfahrensbeteiligten zu unterbleiben.2466 Der Text des § 354 Abs. 1 StPO erlaubt nun, ein Verfahren in fünf Fällen abzuschließen. Die dogmatische Struktur wird hier kurz vorgestellt.
II. Die Anwendungsfälle des § 354 Abs. 1 StPO 1. Freispruch (1. Alt.) Tragen die Feststellungen des Tatgerichts die Verurteilung aus Rechtsgründen nicht, verbleibt nur die Möglichkeit des Freispruches. Dieser kann auch nur teilweise
2464 LR-StPO/Hanack 25(1999), § 354 Rn. 1. Daraus folgt auch zwingend, dass für eine Handhabung über AbS. 1 nur Sachmängel in Betracht kommen, vgl. K. H. Bode, Die Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst (1958), S. 5. 2465 Ignor, FS Dahs (2005), S. 281 (283). 2466 Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 19; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (1997), S. 48.
B. Eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts
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erfolgen.2467 Unter der Prämisse, dass die getroffenen Feststellungen vollständig und fehlerfrei sind, besitzt das Gericht eine ausreichende Erkenntnisbasis. Zu beachten ist dabei, dass sich vollständige Sachverhaltsaufklärung in diesen Fällen keinesfalls von selbst versteht,2468 schließlich können vom Tatgericht im Hinblick auf die scheinbar ausreichende Beweislage Beweiserhebungen unterblieben sein. Aufgrund dieser Unsicherheit ist eine neue Hauptverhandlung geboten. 2. Einstellung des Verfahrens (2. Alt.) Die Einstellung betrifft nach übereinstimmender Auffassung nur die Fälle des Verfahrenshindernisses i. S. v. § 260 Abs. 3 StPO.2469 Beim Vorliegen eines solchen fehlt eine Prozessvoraussetzung, und in der Sache darf gar nicht erst entschieden werden.2470 Das Verfahren ist durch Prozessurteil zu beenden. 3. Absolut bestimmte Strafe (3. Alt.) Entsprechend der ratio legis erfasst die Norm nur die Fälle, in denen lebenslange Freiheitsstrafe die einzig mögliche Reaktion ist. Derzeit sieht das Strafrecht dies nur in den Fällen des § 211 StGB und den Tatbeständen der §§ 6 Abs. 1; 7 Abs. 1 Nr. 1, 2; 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB vor. Der Grundgedanke der Regelung wird konsequent weiterverfolgt: Verbleibt nur die Höchststrafe als einzige Reaktion auf eine Tat, ist es dem Revisionsgericht ohne weiteres möglich, auf diese zu erkennen. Diese scheinbare Eindeutigkeit wird in den §§ 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 VStGB durch die Möglichkeit eines minder schweren Falls relativiert, auf dessen Vorliegen in der Regel vom Revisionsgericht nicht abschließend erkannt werden kann. Schwerwiegender, weil praxisrelevanter, sind die Probleme, die bei der Sanktion für die Begehung eines Mords auftreten können. In diesem Falle hat die Rechtspraxis durch die sog. Rechtsfolgenlösung2471 im Lichte einer verfassungskonformen Auslegung des Heimtücke-Merkmals2472 den strengen Anwendungsbereich der lebenslangen Freiheitsstrafe gelockert. Ferner stellt sich im Hinblick auf die Aussetzungsentscheidung nach § 56a StGB die Frage nach der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Beachtlich ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des BVerfG,2473 diese 2467
StPO-Pfeiffer 5(2005), § 354 Rn. 2. Vgl. LR-StPO/Hanack 25(1999), § 354 Rn. 2. 2469 Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 25; KK-StPO/Gericke 8(2019), § 354 Rn. 7; StPO-Meyer-Goßner 64(2021), § 354 Rn. 6. 2470 Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 273. 2471 BGHSt GrS 30, 105 ff., Urt. v. 19. 05. 1981 – GSSt 1/81 (Analoge Anwendung § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB). 2472 BVerfGE 45, 187 (262 f.) – Urt. v. 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 – (Lebenslange Freiheitsstrafe). 2473 BVerfG, 2 BvR 1041/88/2 BvR 78/89 – Bes. v. 03. 06. 1992. 2468
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Aufgabe entgegen der ursprünglichen Systematik der StPO nicht dem Vollstreckungsgericht, sondern dem erkennenden Gericht zuzuweisen. Aus diesem Gesamtzusammenhang wird abzuleiten sein, dass regelmäßig eine Entscheidung des Revisionsgerichts ohnehin ausscheiden müsste. Das Schrifttum verhält sich uneindeutig.2474 Weniger Bedenken wirft die entsprechende Heranziehung der Vorschrift für die Fälle auf, in denen nach Verfahrenslage nur eine eindeutig bestimmte Rechtsfolge in Betracht kommt.2475 Dabei wird der beschriebene Regelungsgedanke hinreichend geachtet. Allerdings wurde dies bisher nur für den Fall der Einziehung entschieden.2476 Der Anwendungsbereich der Var. 3 dürfte nach dem Gesagten beträchtlich geschrumpft sein. 4. Gesetzlich niedrigste Strafe und Absehen von Strafe (4. u. 5. Alt.) Einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft vorausgesetzt, kann das Revisionsgericht die Rechtsfolge auf die Mindeststrafe reduzieren oder von Strafe absehen. Die Entscheidung hängt von einer Angemessenheitsprüfung ab. Im Gegensatz zu den vorherigen Alternativen bezeichnet dies damit eine originäre Strafzumessungskompetenz des Revisionsgerichts. Das Prinzip der Aufgabenteilung zwischen Tat und Revisionsgericht ist mithin zugunsten der Prozessökonomie eingeschränkt. Gleichwohl ist diese Systemwidrigkeit unschädlich, da in den vorgesehenen Fällen die für den Angeklagten günstigste Rechtsfolge ausgesprochen wird. Aus der Sicht der materiellen Verteidigung erleidet der Beschuldigte keine Einbuße. Schließlich darf auch die Wahrung der materiellen Gerechtigkeit im Strafprozess als gewahrt betrachtet werden, da die Beteiligung der Staatsanwaltschaft als „Wächter des Gesetzes“2477 über das Antragserfordernis gesichert ist, um einen Gebrauch der Vorschrift in ungeeigneten Fällen zu unterbinden.2478
2474 Siehe etwa KK-StPO/Gericke 8(2019), § 354 Rn. 8; StPO-Meyer-Goßner 64(2021), § 354 Rn. 9 vs. Ranft, Strafprozessrecht 3(2005), Rn. 2241; Peters, Strafprozeß 4(1985), S. 664 f.; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (1997), S. 246 ff., 264 f. 2475 Meyer-Goßner, GS Schlüchter (2002), S. 515 (521); KMR-StPO/Momsen (54. EL Mai 2009), § 354 Rn. 8. 2476 RGSt 57, 428 (429). 2477 Vgl. dazu Krey, Strafverfahrensrecht I (2007), Rn. 143. 2478 Starke Zweifel bei AK-StPO/Maiwald (1996), § 354 Rn. 9.
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III. Erweiterung der Sachentscheidungsbefugnis durch § 354 Abs. 1a StPO Diese Befugnis des Abs. 1 wurde durch das 1. JuMoG vom 24. 8. 2004 durch Abs. 1a angereichert. Es wird dem Revisionsgericht eröffnet, von der Aufhebung des Urteils abzusehen, wenn es die verhängte Rechtsfolge als angemessen ansieht. Die Strafe wird demnach trotz Rechtsfehler aufrechterhalten bzw. kann sogar auf Antrag der Staatsanwaltschaft gesenkt werden. Die Möglichkeit des sog. Durcherkennens wurde damit ausgebaut. Der Hintergrund liegt in dem Bestreben um Prozessökonomie und Ressourcenschonung der Justiz.2479 Freilich öffnete diese Vorschrift jedenfalls der Rechtswirklichkeit keine neuen Türen, denn der Regelungsgehalt war schon durchgängige Entscheidungspraxis.2480 Den Zugriff auf die Rechtsfolgenentscheidung sicherte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung mit Hilfe einer analogen Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO. Auf diese Weise wurden in der Vergangenheit Änderungen des Schuldspruchs wie auch des Rechtsfolgenausspruchs bewerkstelligt. Methodisch war dieses Vorgehen angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift durchaus fragwürdig.2481 Infrage gestellt wurde die erstgenannte Methode trotz zuvor intensiv geäußerter Kritik2482 erst durch eine Entscheidung des BVerfG2483. Der 2. Senat rügte in der Entscheidung eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Auf diese Weise fungierte das BVerfG als Katalysator2484, wenn nicht gar als Initiator für die Gesetzesbemühungen diesen Usus der Senate zu legalisieren. Weniger Schwierigkeiten bereitete die Möglichkeit die Revision mit der Begründung als unbegründet zu verwerfen, das Urteil beruhe im Ergebnis nicht auf der gefundenen Gesetzesverletzung (§ 337 StPO), um damit die als angemessen betrachtete Strafe zu bestätigen. Dies war rechtstechnisch gesehen nicht zu beanstanden, überzeugen vermochte dies wegen der oftmals gewagten Hypothese, das Tatgericht hätte auch bei Beachtung des Rechts genauso entschieden, noch weniger. Zumal keine Einigkeit herrschte, ob auf den früheren bzw. auf den neuen Tatrichter abzustellen war.2485 Von dieser Begründungsakrobatik sollte das Revisionsgericht ausweislich der Gesetzesbegründung befreit werden.2486 2479
BT-Drucksache 15/3482, S. 21 f. Zu ihr die eingehende Untersuchung von Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002). 2481 Ignor, FS Dahs (2005), S. 281 (297); Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 133 ff., 136 f.; differenzierend Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (1997), S. 327 ff., 360 ff. 2482 Foth, NStZ 1992, S. 444 ff.; Hanack, StV 1993 S. 63 ff.; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (1997), S. 383 f. 2483 Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, StraFo 2004, S. 131. 2484 SK-StPO/Wohlers 5(2016), § 354 Rn. 2. 2485 Frisch, StV 2006, S. 431 (433), Gribbohm, NJW 1980, S. 1440 (1441). 2486 Man lese BT-Drucks 15/3482, S. 22. 2480
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IV. Kritik an der Ausdehnung der revisionsrechtlichen Strafzumessung 1. Die Modellhaftigkeit der Neuregelung für die gesamte Strafmaßrevision Das Echo auf den Erlass des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO fiel geteilt aus: Zum einen wurde die Vorschrift teilweise ausdrücklich begrüßt,2487 zum anderen wird sie verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.2488 Der Zugriff auf die ursprünglichen Aufgaben des Tatgerichts wird mit Hilfe der Einrichtung einer Angemessenheitsprüfung erheblich erweitert. Eingangs festzuhalten ist, dass sich die Diskussion mit der entscheidenden Frage auseinanderzusetzen hat, inwieweit die tradierte Aufgabenteilung von Tat- und Revisionsgericht statischer Natur ist, oder ob die Verschiebung der Kompetenzen hin zum Revisionsgericht unter dem Leitmotiv der Prozessökonomie gerechtfertigt werden kann. Ein falsches Bild entstünde, wenn diese Fragestellung in den Kontext des überwundenen Antagonismus von Tatsachen- und Rechtsfrage eingebettet wird. Über die Eigenschaft der Strafzumessung als Rechtsanwendung besteht heute Konsens.2489 Soweit den literarischen Stellungnahmen tatsächlich andere Vorstellungen zugrunde liegen, verfolgen sie einen Irrweg. Das eigentliche Wesen der Diskussion betrifft vielmehr die Erkenntnisfähigkeit2490 der Instanzgerichte sowie die Systembalance der StPO und der daraus folgenden Kompetenzabschichtung. Die Argumentation kreist dabei um die Grundkonzeption der Revision sowie verfassungsrechtliche Topoi. Die gesamte Diskussion steht damit stellvertretend Modell für die Möglichkeiten des Revisionsgerichts in Sachen Strafzumessung überhaupt. Soweit das Recht eine eigene Entscheidung zulässt, reicht auch immer der Prüfungsmaßstab der Revision für die Strafzumessung. Denn kann das Revisionsgericht das Recht selbst „erkennen“, wird es davon auch die Rechtsverletzung scheiden können.
2. Ausgangspunkt Allein terminologisch aus der Begrifflichkeit „der Revision“ ein bestimmtes Substrat ableiten zu wollen, dürfte in der Sache zu wenig ergiebig sein.2491 Der Befund, dass sich das aktuelle Verständnis der Revision im Wandel der Zeit von der historischen Idee entfernt hat, ist für sich genommen nichtssagend. Der „moderne“ Gesetzgeber ist nicht für die Ewigkeit an die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts gebunden. Indes hat die tradierte StPO ein weitgehend kohärentes, austariertes und im Grundsatz bis heute bewährtes System hervorgebracht. An dieser Vorgabe wird 2487
Senge, FS Dahs, S. 475 (480 f.); Schubert/Moebius, NJ 2004, S. 433 (436). Güntge, NStZ 2005, S. 208 (210); Sommer, StraFo 2004, S. 295 (298). 2489 S. stv. die Nachweise in Fn. 2378. 2490 Erkenntnisfähigkeit i. S. d. „Leistungstheorie“, dazu LR-StPO/Hanack 25(1999), Vor § 333 Rn. 5; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen 7(2010), Rn. 11 f. Zustimmend Franke, FS Widmaier (2008), S. 239 (248). 2491 Ähnlich LR-StPO/Hanack 25(1999), Vor § 333 Rn. 1. 2488
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sich jede neue Regelung messen lassen müssen. Mit dem Motiv, das Verfahren zu beschleunigen, setzt sich der Gesetzgeber ein legitimes Ziel und stellt die Vorschrift in den Dienst der anerkannten Prozessmaximen der Beschleunigung bzw. Konzentration.2492 Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass zum einen mit Zeitablauf die Güte der Beweismittel abnimmt und zum anderen das Strafverfahren dem Beschuldigten unter Geltung der Unschuldsvermutung ein Sonderopfer abverlangt.2493 Wenn die Gesetzesbegründung allerdings von Ressourcenschonung2494 spricht, macht das deutlich, dass hiermit eher die andere Seite der Medaille gemeint ist. Es geht dann primär um Entlastung der Justiz. Ungeachtet dessen hat sich die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ als anerkanntes Rechtsgut etabliert.2495 Die Ersparnis von Zeit, Geld und Arbeitskraft steht auch generell für ein Erreichen eines positiv-gehaltvollen Werts.2496 Allerdings steht zuvorderst die Frage, zu welchem Preis Vorteile errungen werden. Die ursprüngliche Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht kann nur bedingt verlassen werden, ohne die Balance der StPO im Kern zu berühren. 3. Anforderungsprofil durch die Leistungstheorie Die Gesetzesarchitektur der StPO bedingt es, dass die Instanzen eine differenzierte Eignung für Entscheidungstypen besitzen. Dies wurde auch als der Leistungsgedanke2497 formuliert. Das Revisionsgericht überprüft die Rechtsanwendung; ist aber an die Feststellungen des Tatgerichts gebunden. So kann das Revisionsgericht über die Angemessenheit der Strafe nur anhand des angefochtenen Urteils befinden. Das Gesetz kennt ein ähnliches Procedere zwar im Bereich der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO; im Unterschied zum Revisionsgericht ist das erkennende Gericht jedoch zuvor schon mit der Sache befasst gewesen. a) These von der defizitären Datenbasis § 46 Abs. 2 StGB verlangt nun als Teilaspekt der abzuwägenden Umstände, auch Merkmale der Täterpersönlichkeit zu würdigen. Zugang zu diesen Aspekten verschafft oftmals erst der persönliche Eindruck über den Angeklagten. Während im Verfahren nach §§ 460, 462 StPO wenigstens über die vorangegangene Hauptver2492
Zu dieser Prozessmaxime s. Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 26. Roxin, Strafverfahrensrecht 25(1998), § 16 Rn. 3. 2494 Vgl. dazu Fn. 2475. 2495 BVerfG 74, 257 (262) – Bes. v. 25. 2. 1987 – 1 BvR 1086/85. Berechtigte Einwände bei Roxin, Strafverfahrensrecht 25(1998), § 1 Rn. 7. 2496 Junker, StraFo 2004, 132 (133). 2497 Peters, Strafprozeß 4(1985), S. 639 f.; kritisch Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (1997), S. 58. 2493
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
handlung ein Eindruck zu gewinnen war,2498 sieht es im Revisionsverfahren anders aus. Eine Hauptverhandlung muss nicht stattfinden, und bei Durchführung einer solchen ist die Anwesenheit des Angeklagten nicht vorgeschrieben. Richtig ist zwar die Feststellung, dass der persönliche Eindruck an sich kein zulässiger Strafzumessungsumstand sei.2499 Mit dieser Erkenntnisquelle besitzt der Tatrichter aber einen Informationsvorsprung, dem in der Verfahrenswirklichkeit eine erhebliche Bedeutung beigemessen wird.2500 Dieses Fehlen könnte sich demgemäß in einem beachtlichen Informationsdefizit auf der Seite des Revisionsspruchkörpers widerspiegeln. Dies gilt insbesondere für spezialpräventive Aspekte, die sich nach Urteilsspruch ändern können. Die dogmatische Struktur der originären Entscheidung des Revisionsgerichts fußt jedoch nach der gesetzlichen Konzeption entscheidend auf der lückenlosen und fehlerfreien Sachverhaltsaufklärung. Kompensation vermag die Urteilsbegründung kaum leisten. § 267 Abs. 3 StPO fordert nur die Angabe der „bestimmenden“ Zumessungsfaktoren.2501 Sämtliche tragenden Entscheidungsmomente gelangen also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Kenntnis des Revisionsgerichts; mitunter geschieht dies auch ganz gezielt.2502 Man wird demgegenüber einwenden können, dass diesem Problem mit verbesserter Kommunikation zumindest abgeholfen werden könnte. Aus einer ausführlichen Begründung kann sich ein Gericht im Prinzip umfassend informieren, ohne den Angeklagten selbst erlebt zu haben.2503 In dem Wissen, dass die Kontrolldichte bzgl. der Strafzumessung in der Revisionsinstanz kontinuierlich zugenommen hat, neigen die Tatgerichte ohnehin schon zu ausführlichen Begründungen, um auf diese Weise den Anforderungen der Rechtsprechung gerecht zu werden.2504 2498 2499
S. 568.
Berenbrink, GA 2008, S. 625 (637); Sommer, StraFo 2004, S. 295 (298). Frisch, StV 2006, S. 431 (434), mit Verweis auf Bruns, Strafzumessungsrecht 2(1974),
2500 Hamm/Sarstedt, Die Revision in Strafsachen 7(2010), Rn. 1316; Leipold, NJWSp. 2005, 519 (520); H. Schäfer, MDR 1992, S. 399 (400); Sommer, a. a. O. Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (652) weist allerdings zutreffend auf die (eingeschränkte) Möglichkeit der Strafzumessung per Aktenlage im Strafbefehlsverfahren hin, § 407 II StPO. 2501 S. auch Altvater, FS Widmaier (2008), S. 35 (43). Man muss diesen Umstand aber nicht als unveränderlich oder gar unumstößlich behandeln, siehe nur hier 1. Kapitel, D. Die Strafbemessung in der Urteilsbegründung. 2502 W. Hassemer, ZStW 90 (1978), 64 (80 f.). Unklar demgegenüber Gericke, FS Tolksdorf (2014), S. 243 (250) der die Fähigkeit zur „revisionssicheren“ Dokumentation mit vollständiger Sachaufklärung ohne weiteres gleichsetzt. 2503 So Frisch, StV 2006, 431 (434); Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 157. Hettinger, FS Frisch (2013), S. 1153 (1180) bringt die Videoaufzeichnung als Mittel der Dokumentation ins Gespräch. Ob dies ein Weg zur Qualitätssteigerung sein kann, soll hier offen bleiben. Die Notwendigkeit kann man methodisch anzweifeln, denn wenn Beobachtungen nicht in Worte gefasst werden können, sollte die Frage eher sein, wie sie am rationalen Entscheidungsprozess legitim teilhaben dürfen. 2504 Schmid, ZStW 85 (1973), 360 (394).
B. Eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts
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Was auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtet, kann sich bei näherer Betrachtung als zweischneidig erweisen: einmal dürfte in den längeren Begründungen der Urteile auch ein tieferer Hintergrund ihrer erhöhten Fehleranfälligkeit zu sehen sein. Im Bemühen, sämtliche Umstände irgendwie mitzuteilen, erhöht sich das Risiko, ungeschickte Formulierungen zu gebrauchen, die sich wiederum in einem Rechtsfehler niederschlagen. Das Revisionsgericht ist dann gehalten, diesen Rechtsfehler zu rügen, obwohl es eine der Gewissheit nahe kommende Vermutung hegt, das Urteil sei in der Sache „richtig“, weil angemessen. Dies vor Augen lässt erahnen, warum die Rechtspraxis auf der Notwendigkeit einer solchen Regelung beharrt. Allerdings führt dies dazu, dass Symptome rechtswidriger Strafzumessung (fehlerhafte Begründung derselben) mit Hilfe (einer) der eigentlichen Ursachen bekämpft werden sollen. Dies offenbart gleichsam ein weiteres Paradoxon im Strafrecht, wenn über das Bestreben nach mehr Transparenz und Rationalität in der Strafzumessung vermehrt Imponderabilien ins Urteil Eingang finden. Selbst wenn die Schilderung der Urteilsgründe (rechtskonform) detaillierter ausfiele, mag also zu bedenken sein, dass nicht jeder Entscheidungsaspekt verbalisiert werden kann.2505 Die Sozialpsychologie verortet dieses in dem Phänomen der nonverbalen Kommunikation.2506 Das „Erleben“ in der Hauptverhandlung hat zudem einen unterschätzten, aber im Prinzip unverzichtbaren Kontrolleffekt: die Konfrontation mit den Betroffenen. Die Distanz zum „Entscheidungsgegenstand“ im Sinne einer „Verobjektivierung“ kann buchstäblich dazu führen, dass das Bewusstsein für eine Subjektqualität aller Beteiligten abnimmt. Die Vergegenwärtigung zwingt zur persönlichen Auseinandersetzung, welche sich zumindest eignet, derartige schädliche Tendenz zu hemmen („Positiver Erlebenseffekt“).2507 Das subjektive Unvermögen, das Erlebte schriftlich zu fixieren, tritt zusätzlich in seiner Kehrseite auf: Das geschriebene Wort beinhaltet zwar eine versachlichte Information, welche der Interpret jedoch womöglich trotzdem nicht im Sinne seines Urhebers versteht. Das Interpretationsspektrum des Wortlauts macht den Kommunikationsvorgang störanfällig und ist dem Juristen ein bekanntes Alltagsproblem. Kurz gesagt kann sich zweierlei ergeben: Nicht alles, was der Richter wahrnimmt, kann er mitteilen und das, was er mitteilt, wird auch noch u. U. missverstanden. Die beobachtende Wahrnehmung nonverbaler Vorgänge ist demnach nicht ohne weiteres
2505
W. Hassemer, ZStW 90 (1978), S. 64 (91). Dazu Herkner, Sozialpsychologie 5(1991), S. 277. 2507 Eine rationale Behandlung verlangt Distanz, allerdings kann die Distanz dazu führen, dass auf dieser Ebene Momente des Verstehens verlorengehen können. Für ein Verbrechen wird es am Ende der Beurteilung selbstredend keine guten argumentativen Gründe geben. Die Verstehensebene, wird eher durch direkte Konfrontation aktiviert. „Positiver Erlebenseffekt“ meint dann in diesem Kontext eine Verminderung der Abstraktion, die einer jeden juristischen Aufarbeitung systemimmanent ist. Die Gefahr der Abstraktion wird bereits angesprochen bei Horstkotte, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung – empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog. (1989), S. 281 (288). 2506
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zu ersetzen.2508 Der StPO ist diese Erkenntnis jedenfalls gegenwärtig: Nicht zufällig ist die freie Beweiswürdigung in § 261 StPO ein kennzeichnendes Prinzip. An diesem Punkt stellt sich folglich die Frage, welches Maß dieses Darstellungsdefizit in der Wirklichkeit einnimmt. Nach Einschätzung Frischs2509 betrifft dies nur eine entfernte Gefahr, dass Informationen verlorengehen. Durch das Kräftezusammenspiel von Staatsanwaltschaft und Verteidigung werde diese de facto gegen null minimiert.2510 Das hat eine gewisse Plausibilität für sich, muss in der Sache aber leider unbewiesen bleiben. Richtig ist wohl, dass die Dunkelziffer der brisanten Fälle nicht zu hoch angesetzt werden sollte. Die Erfahrung mit der Rechtswissenschaft lehrt, dass die Vielzahl der mühsam von der Wissenschaft theoretisch konstruierten Denkmöglichkeiten in der Praxis als Fälle nicht auftauchen.2511 Überdies wird diesem Phänomen der Informationsreduktion durchaus zu einem gewissen Grad auch Heilsamkeit attestiert; könnten doch auf diesem Wege auch sachfremde Faktoren wie Anti- oder Sympathie aus der Beurteilung eliminiert werden, („negativer Erlebenseffekt“).2512 Schließlich ist die Forderung nach rationalisierter Strafzumessung das zentrale Anliegen der Wissenschaft des Strafzumessungsrechts. Gleichsam muss es auch hier als ungeklärt gelten, in welchem Umfange sich diese abstrakte Gefahr im Strafverfahren tatsächlich realisiert. Jedenfalls dürfte ein Pauschalurteil der Richterwelt kaum gerecht werden. Wenn die Irrationalität in der Bewertung wirklich beherrschenden Raum eingenommen hätte, wäre es nur konsequent im Sinne Foths,2513 die rechtliche Würdigung der Beweisaufnahme dem Tatrichter generell zu entziehen. Bemerkenswert ist außerdem, dass empirische Untersuchungen zur Ungleichheit des Strafens mittels Befragung der Richter zu fiktiven Fällen eher Anlass zu Ernüchterung gegeben haben.2514 Als Modell für eine einheitlichere Strafzumessung konnte es sich bislang nicht durchsetzen. Letztlich geht es um die Frage, wie man einen möglichen Rationalitätsgewinn gegenüber dem zu erwartenden Informationsverlust gewichtet. Das stellt die Wissenschaft vor ein großes Problem, denn eine quantifizierende, valide Aussage über diese Effekte wird man bei dem zur Verfügung stehenden Erkenntnisvermögen nicht
2508
Leipold, StraFo 2006, S. 305 (307). Frisch, StV 2006, S. 431 (435). 2510 Frisch, a. a. O. 2511 Vgl. als Bsp. Jägers Glosse zur „Lehrbuchkriminalität“, in: MschrKrim 56 (1973), S. 300 ff. 2512 NK-StGB/Streng 5(2017), § 46 Rn. 195. 2513 In NStZ 1992, S. 444, der dies freilich gezielt provokant in seiner Anmerkung postuliert. 2514 S. dazu B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen 5(2019), S. 259 f. sowie Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit (1984), S. 75 ff. 2509
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treffen können und somit unweigerlich das Feld der Spekulation öffnen müssen. Rein argumentativ stellt sich somit (vorerst) die Situation eines non liquet ein. b) Informationsvorteil über Erfahrungswissen Man kann sich der Untersuchung nach dem Leistungsvermögen auch von anderer Perspektive nähern. Aus dem Wesen als Rechtskontrollinstanz verfügt das Revisionsgericht über einen breiten Horizont des üblichen Maßes von Strafen für bestimmte Deliktskonstellationen.2515 Daraus lässt sich auch ein Argument gerade für die Angemessenheitsprüfung ableiten. Denn wenn das Gericht schon die Angemessenheit der Rechtsfolge überprüfen kann, müsste es sie konsequenterweise auch selbst aussprechen können. Das ist einerseits richtig, andererseits auch nicht zu überschätzen. Der Datenfundus des Revisionsgerichts ist verzerrt.2516 Und um das vergleichende Prinzip überhaupt nutzbar zu machen, hätte das Revisionsgericht den konkreten Fall in das Spektrum der vorhandenen Sachkonstellationen einzuordnen. Dieses ist im Fall des § 354 Abs. 1a StPO erheblich erschwert. Immerhin leidet das Urteil an einem Rechtsfehler. Die korrekte Einordnung bedingt die vorherige Bereinigung des Fehlers. Dann müsste das Gericht jedoch wieder prognostizieren, wie das Urteil ohne Rechtsfehler ausgefallen wäre. Der Weg zurück auf das unsichere Terrain der Hypothesenbildung wäre vorgezeichnet. Davon sollte das Gericht aber befreit werden. Insoweit mutet dieser argumentative Rückgriff als Legitimation für die Neuregelung zirkulär an. c) Zwischenfazit Auf dieser Ebene kann also keine zuverlässige Aussage über die Eignung des Revisionsgerichts für die Entscheidung über die konkrete Strafzumessung getroffen werden. Rückschlüsse auf die Vereinbarkeit der jetzt geregelten Ausweitung der Sachentscheidungsbefugnis lassen sich an dieser Stelle nicht ziehen. 4. Rechte des Beschuldigten Der deutsche Strafprozess kennt in seiner Ausformung als rationales und streng formalisiertes Verfahren eine Vielzahl von Verfahrensgarantien. Nicht selten wird die Befürchtung angemeldet, dass für den Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie wesentliche Einschnitte in die Rechte des Beschuldigten in Kauf genommen werden.2517
2515 Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 158; Senge, FS Dahs, S. 475 (487); Streng, JZ 2007, 154 (155); ders., FS Beulke (2015), S. 489 (500). 2516 Zu den Erwägungen vgl. 3. Kapitel, A. III. 3. 2517 Etwa Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, S. 221 (222).
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a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Ein Recht auf Instanzenzug lässt sich aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG nicht ableiten.2518 Dies war die Antwort auf die Ausgangsfrage, inwieweit die Verfassung eine Aussage über die Revisibilität der Strafzumessung und damit auch für die eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts bereithält. Im Fokus soll deshalb an dieser Stelle nicht der Ausgangspunkt, sondern die Folgenbetrachtung stehen. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gewährt nicht nur den Zugang zu den Gerichten, sondern verlangt auch die Effektivität des Rechtsschutzes.2519 Die Auslegung von Rechtsmittelvorschriften der Fachgerichte darf folgerichtig den Zugang nicht unzumutbar erschweren.2520 Eine Beeinträchtigung könnte sich aus dem profanen Aspekt der Kostenbelastung ergeben. Der unterliegende Revisionsführer trägt die Kosten des Verfahrens, § 473 Abs. 1 S. 1 StPO. Das Rechtsmittel bleibt erfolglos, obwohl er in der Sache berechtigt einen materiellen Rechtsfehler rügt. Mit einer großzügigen Anwendung des § 473 Abs. 4 StPO kann das Gericht allerdings Abhilfe schaffen.2521 Dieser Aspekt bildet nur einen Teilausschnitt der generell beklagten Unberechenbarkeit der Revision.2522 Selbst erfahrenen Spezialisten ist eine zuverlässige Entscheidungsprognose nur in Grenzen möglich. Dies mag angesichts der Einheit stiftenden Zwecksetzung schon verwundern, ist aber kein spezifisches Problem des § 354 Abs. 1a StPO.2523 Die geschmälerten Erfolgsaussichten darf man vor allem nicht mit der Ineffektivität des Rechtsmittels gleichsetzen. In der Kosten-NutzenAnalyse offenbart sich vielmehr das gewachsene Risiko einer Ineffizienz, das sich in Form einer gestiegenen Unattraktivität darstellt. Unattraktivität ist nicht gleich Unzumutbarkeit und damit nicht Ineffektivität. Die Ausweitung einer Entscheidungsbefugnis bedeutet deswegen noch keine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. b) Recht auf ein faires Verfahren Das Gebot des „fair trial“ ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und als subjektive Verfahrensgarantie in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG individualrechtlich verbürgt.2524 Weitere Ausformung hat das Prinzip in Art. 6 EMRK erhalten. Zum Teil wird es aber auch als das Produkt der Artt. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3, 101 Abs. 2 S. 2, 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen.2525 Beide offene An2518
S. dieses Kapitel unter A. I. 2. b). GG-Dreier/Schulze-Fielitz 2(2004), Art. 19 IV Rn. 80 f. 2520 BVerfGE 96, 27 (39), Bes. 30. 4. 1997 – 2 BvR 817/90, 728/92, 802 u. 1065/95 – Durchsuchungsanordnung. 2521 Streng, JZ 2007, S. 154 (155). 2522 Schlothauer, StraFo 2000, S. 289 (290). 2523 Zur „Krise“ der Revision s. Schlothauer, a. a. O. 2524 Vgl. allgemein dazu Hellmann, Strafprozessrecht 2(2006), Rn. 9. 2525 Etwa Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 28. 2519
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sätze verdeutlichen, dass eine Ableitung konkreter Verfahrensvorgaben Schwierigkeiten bereitet. Zu Recht hält sich daher der BGH bzgl. eines bestimmten Substrates auch zurück.2526 Wenn das Prinzip aber mehr als die Summe der Einzelgarantien der StPO darstellen soll, kann der Sinn nur darin liegen, in Konfliktsituationen mit der Effizienz der Strafrechtspflege den Interessen des Beschuldigten Geltung zu verschaffen.2527 Doch was ist im Interesse des Beschuldigten? Die Beschleunigung des Verfahrens dient auch dem Interesse des Angeklagten. In erster Linie wird indes das Ergebnis, sprich die konkrete Rechtsfolge, wichtig sein. Das knüpft teilweise an die obige Erörterung der Entscheidungsqualität der Gerichte an. Mit anderen Worten: Wem traut der Angeklagte die „bessere“ Entscheidung zu? Strafverteidiger beurteilen dies nicht einheitlich. Während die einen den Obergerichten höhere Kompetenzen zumessen und ihre Mandanten dort besser aufgehoben wissen,2528 sehen die anderen in der neuen Hauptverhandlung zusätzliches Gestaltungspotenzial,2529 um eine günstige Rechtsfolge herbeizuführen. Dieses Potenzial droht dementsprechend verlorenzugehen, wobei dabei immer im Auge behalten werden sollte, dass der Gesetzgeber der Erfahrung Rechnung tragen wollte, dass es nicht zu wesentlich anderen Entscheidungen in der Neuverhandlung kommt,2530 zumal die neue Verhandlung wegen § 358 Abs. 1 StPO nicht gänzlich bei null beginnt. Die bestätigende Spruchpraxis erscheint so eher die empirische Widerlegung der These vom Gestaltungspotenzial. Von dieser pragmatischen Sichtweise der Verteidigung zu trennen ist die formalrechtlich Seite. Die materielle Verteidigung gehört zum Inhalt des fairen Verfahrens.2531 Genauer erfordert Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, dass eine „strafrechtliche Anklage […] verhandelt wird“. Dieser Textbefund des § 354 Abs. 1a StPO drängt nach Leipold2532 über eine konventionskonforme Auslegung zu einer mündlichen Verhandlung. Unterstützung findet diese These in Art. 6 Abs. 3c EMRK, wonach als Mindestrecht dem Angeklagten die eigene Verteidigung zugestanden wird. Daraus folge demnach ein Anwesenheitsrecht des Angeklagten. Eine solch offensive Forderung weiß jedenfalls die Rechtsprechung des EGMR nur bedingt hinter sich. Einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz stellt auch der EGMR erst im Rahmen einer Gesamtwürdigung fest.2533 Die Struktur als Kontrollgericht, dessen Tätigkeit sich in der Erörterung von Rechtsfragen erschöpft,
2526
BGHSt 40, 211 (217 f.). So Volk/Engländer, Grundkurs StPO 8(2013), § 18 Rn. 9. 2528 Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung (2002), S. 158; Rosenthal, StV 2004, S. 686 (687); dagegen: Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, S. 221 (223). 2529 Langrock, StraFo 2005, S. 226 (227 f.); Leipold, StraFo 2006, S. 305 (308). 2530 BT-Drucks 15/3482, 22. 2531 LR-StPO/Gollwitzer 25(2004), Art. 6 EMRK Rn. 187. 2532 In: StraFo 2006, S. 305 (308); ähnlich Jung, StV 2006, S. 404 (405). 2533 Ambos, Internationales Strafrecht 3(2011), § 10 Rn. 40. 2527
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rechtfertigt einen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung.2534 Eine Beschwörung der überkommenen Dichotomie von Tat- und Rechtsfrage hilft in diesem Zusammenhang nicht weiter. Auch die Angemessenheitsprüfung ist in der Sache Rechtskontrolle. Dass diese Wertungsproblematik eine andere Dimension als eine schlichte Nachprüfung der Gesetzesanwendung aufweist, sei insoweit unbestritten. Augenscheinlich driftet die Diskussion aber von ihrer eigentlichen Intention ab. Sie rankt dann vielmehr um das schon erörterte Erkenntnisproblem der Falsifikationsmethode der Revision – wofür aber Art. 6 Abs. 1 EMRK direkt keine neuen Impulse liefert. Mittelbar bewegt sich die Argumentation allerdings auf der richtigen Spur. Sie betrifft nämlich einen wesentlichen Kern der Verteidigung, nämlich das rechtliche Gehör vor Gericht. Selbige Garantie bildet einen Teilaspekt des Fair-trail-Prinzips,2535 wenngleich es sich empfiehlt, auf das höherrangige Verfassungsprinzip zurückzugreifen. c) Art. 103 Abs. 1 GG Art. 103 Abs. 1 GG gebietet es, vor Erlass einer Entscheidung den Betroffenen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu Wort kommen zu lassen. Der Wortlaut des § 354 Abs. 1a StPO sieht das indes nicht vor.2536 Aus den Entscheidungsgründen ist lediglich der Rechtsfehler zu subtrahieren, um dann über die Angemessenheit zu entscheiden. Dies überrascht, da sich die Entscheidungsgrundlage des Revisionsgerichts geringfügig, aber entscheidend verändert haben kann. Als hinreichende Entscheidungsbasis taugt nur ein vollständiger Sachverhalt auf aktuellem2537 Informationsstand. Unverkennbar korreliert das Gebot der Anhörung mit der ausführlichen Diskussion um die Tragfähigkeit der Entscheidungsgrundlage2538 von Rechtsfolgebemessungen in der Revisionsinstanz. Eine erneute Anhörung des Angeklagten ist deshalb schon geboten. Neue Entwicklungen müssen dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden. In rechtlicher Hinsicht muss das Gericht die Einschätzung des Betroffenen zur Angemessenheit zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Aus diesen Überlegungen folgt in einem ersten Schritt, dass eine Entscheidung nach § 349 Abs. 2 StPO nicht stattfinden dürfte.2539 Dieses Ergebnis sollte an und für sich schon die korrekte Anwendung des § 349 Abs. 2 StPO sicherstellen, da eine Angemessenheit der verhängten Strafe selten evident zu Tage tritt.2540 Weiter
2534
LR-StPO/Gollwitzer 25(2004), Art. 6 MRK Rn. 191. S. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht 2(2007), § 10 Rn. 53. 2536 Zur Kritik bereits vor Einführung des Abs. 1a vgl. Hanack, StV 1993, 63 (65). 2537 Dass damit der maßgebliche Entscheidungszeitpunkt verlagert werden kann, ist revisionstechnisch eher unüblich; vgl. Altvater, FS Widmaier (2008), S. 35 (44). 2538 Siehe „die These von der defizitären Datenbasis“ oben. 2539 S. dagegen BT-Drs. 15/3482, Anl. 2, S. 18; BGH NJW 2006, 1605. 2540 Knauer/Wolf, NJW 2004, S. 2932 (2936). 2535
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müsste das entscheidende Gericht immer ein Anhörungsverfahren voranschalten.2541 Gegenüber diesen Bedenken hatte das BVerfG schließlich ein Einsehen und etablierte im Wege verfassungskonformer Auslegung ein Anhörungsverfahren.2542 Auf diese Weise konnte ein Großteil der Brisanz der Regelung entschärft werden. So wird die Kritik an der Missachtung der Anhörungsrechte natürlich hinfällig.2543 Auch das postulierte Argument vom Informationsdefizit wird im Wesentlichen entkräftet. Denn nun steht mit dem Anhörungsverfahren eine fundierte Informationsquelle zur Verfügung. So sehr das Bekenntnis des BVerfG zur Anhörung zu begrüßen ist, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an einem methodologisch-technischen Schönheitsfehler leidet: Der Beschluss bejaht relativ unbedarft die verfassungskonforme Auslegung, ohne die Erfüllung der Voraussetzungen nachdrücklich zu durchleuchten. Neben der Auslegungsfähigkeit des Wortlauts kommt es entscheidend auf die Vereinbarkeit mit der Teleologie der Norm an.2544 Der avisierte Normzweck der Beschleunigung wird aber schon im Grundsatz verfehlt.2545 Bringt die Anhörung Nova zum Vorschein, ist die Sache in die Vorinstanz zurückzuverweisen. Realistisch gesehen wird ein neuer Tatsachenvortrag regelmäßig zu erwarten sein. Eine geschickte Verteidigung wird diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen.2546 Selbstredend wird nicht jede Behauptung zum Ziel führen können. Das BVerfG unterwirft die Stellungnahme der Kategorie der Plausibilität2547. Die StPO kennt einen solchen Begriff zwar nicht, mehr als Glaubhaftmachung2548 kann er indes nicht bedeuten.2549 Ob dies in diesem Zusammenhang mit „in dubio pro reo“ ohne weiteres vereinbar ist, muss hier offen bleiben.2550 Die Hürde erscheint jedenfalls über-
2541
Anders Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (655), der über Revisionsbegründung als auch Erwiderung auf den Verwerfungsantrag ausreichende Möglichkeit zur Stellungnahme sieht. 2542 BVerfGE 118, 212 (= StV 2007, S. 393), Beschl. v. 14. 6. 2007 – 2 BvR 1447/05 u. 136/ 05. 2543 A. A. Langrock, StraFo 2005, S. 226 (227). 2544 Vgl. BVerfG StV 2007, S. 393 (396) selbst; unter Verweis auf BVerfGE 88, 203 (331). 2545 Zuvor schon Leipold, StraFo 2006, S. 305 (308); auch Paster/Sättele, NStZ 2007, S. 609 (612); Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (655 f.). 2546 Vgl. Gaede, HRRS 2007, S. 292 (293): Entkräftigung der Einwände nur schwerlich möglich. 2547 BVerfG BVerfG StV 2007, S. 393 (397). 2548 Vgl. §§ 26, 45 StPO. 2549 Schon Paster/Sättele, NStZ 2007, S. 609 (612 f.); Peglau, JR 2011, S. 181 (182). 2550 Im Rahmen von §§ 26, 45 StPO gilt dieser Grundsatz. nicht; für die h. M.: StPO-MeyerGoßner 64(2021), § 26 Rn. 7 u. § 45 Rn. 10; a. A. AK-StPO/Lemke (1988), § 45 Rn. 21; ders., in: HK-StPO 3(2001), § 26 Rn. 12; im Sinne der h. M. nunmehr HK-StPO/Temming 6(2019), § 26 Rn. 11.
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windbar. Dann aber bliebe es beim Regelverfahren der Zurückverweisung.2551 Der Anwendungsbereich des § 354 Abs. 1a StPO wird durch diese Lesart derart degradiert, dass der eigentliche Zweck bis zur Unkenntlichkeit verkümmert. Dass bei dieser Stauchung der Normzweck konserviert werden können soll, ist nur schwerlich haltbar und muss Zweifel hervorrufen.2552 Der genetische Befund spricht insoweit eine klare Sprache: Das jedenfalls hat der Gesetzgeber sichtbar nicht gewollt. Man mag dem BVerfG im Geiste des judicial self-restraint und in Respekt vor der Gewaltenteilung zugestehen, § 354 Abs. 1a StPO nicht das Verdikt der Verfassungswidrigkeit überstülpen zu wollen. Aus dogmatischer Perspektive kann das jedoch nicht überzeugen. Freilich wird eine rechtstheoretische Empörung – wenn überhaupt vorhanden – im Hinblick auf die zweifellos sinnvolle Regelung sich schnell verflüchtigen;2553 zumal niemand die Grenze einer „noch“ bzw. einer „nicht mehr“ konformen Auslegung trennscharf ziehen und für sich beanspruchen kann. Dennoch zeichnet eine „Saturierbarkeit“ mit Normen lediglich am gesetzlichen Limit ein eher bedauerliches Bild. d) Gesetzliche Richter Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Man mag sich der Sichtweise des BVerfG insgesamt anschließen wollen – das letzte Hindernis ist damit noch nicht genommen. Die Garantie des gesetzlichen Richters stellt die Neuregelung auf die letzte Probe. Systematisch handelt es sich bei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG um ein grundrechtsgleiches Recht2554 und es gehört als Verfahrensgarantie in den Kontext der Beschuldigtenrechte. Gleichwohl verdient das Prinzip gesonderte Würdigung, da es nicht nur in seinem Abwehrcharakter, sondern auch in der objektiven Dimension wertvolle Erkenntnisse für das Strafverfahren liefert. Die Akzessorietät zum einfachen Gesetzesrecht bedingt es, dass Veränderungen der konkreten Zuständigkeit in der Definitionsmacht des Gesetzgebers stehen.2555 Die Wandelbarkeit unterliegt aber auch Grenzen. So ergibt die Neuregelung des § 354 Abs. 1a StPO eine bedenkliche Gemengelage,2556 wenn neben die Strafzumessungskompetenz der Instanzgerichte eine originäre Befugnis des Revisionsgerichts tritt. Bewegliche Zuständigkeiten sorgen stets für Diskussion,2557 denn die geforderte Präzision können sie selbstredend nicht einlösen. Sie werden aber gemeinhin gebilligt, soweit das dahinterstehende Gefahrenpotenzial gebändigt scheint. 2551
Gaede, GA 2008, S. 394 (406): de facto Widerspruchsrecht. I. d. S. zuvor schon Leipold, StraFo 2006, S. 305 (308 f.); Dehne-Niemann, ZIS 2008, S. 239 (255); Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (656). 2553 Zust. Paster/Sättele, NStZ 2007, S. 609 (611). 2554 GG-Sachs/Degenhart 6(2011), Art. 101 Rn. 1. 2555 Paster/Sättele, NStZ 2007, 609 (613); Peglau, JR 2005, S. 143 (144); Senge, StraFo 2006, S. 309 (310). 2556 Vgl. etwa Franke, GA 2006, 261 (267). 2557 GG-Dreier/Schulze-Fielitz 2(2010), Art. 101 Rn. 46. 2552
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So werden die beweglichen Zuständigkeiten des Gerichtsverfassungsrechts mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG für vereinbar gehalten, da die Wahl der Staatsanwaltschaft2558 im Zwischenverfahren der gerichtlichen Überprüfung unterliegt, die ihrerseits durch den gesetzlichen Richter abgesichert ist.2559 Auch im Fall des § 354 Abs. 1a StPO hält das BVerfG die bewegliche Zuständigkeit für vertretbar, weil eine Gefahr der Parteilichkeit des bisher nicht befassten Revisionsgerichts nicht zu erwarten sei.2560 Letzteres mag zutreffen, bildet aber die sich stellende Problemlage nicht vollständig ab. Die ohnehin zweifelhafte2561 Willkürformel2562 als Maßstab für eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist auf einen error in procedendo zugeschnitten und mit dieser Fragestellung inkommensurabel. Ferner erschöpft sich das Prinzip des gesetzlichen Richters nicht in der Zuständigkeitsfrage. In seiner objektivrechtstaatlichen Dimension fordert der gesetzliche Richter den gesetzmäßigen Richter. Ähnlich argumentierte seinerzeit schon das BVerfG, wenn es meinte, „gesetzlicher Richter [ist derjenige, der] in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes genügt“2563. Gesetzmäßig bedeutet im hiesigen Zusammenhang, dass die Zuständigkeit (vollumfänglich) im Einklang mit dem geltenden Recht steht. § 354 Abs. 1a StPO ist in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis auszustellen.2564 Die Norm schlägt einen erkennbaren Konfrontationskurs zu den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit ein,2565 wenn eine Strafmaßbestätigung ohne Besehen des Angeklagten möglich sein soll. Unverkennbar fußen diese Prinzipien auf dem oben erörterten Leistungsgedanken. Eine solche Argumentation ist nicht etwa zirkulär, vielmehr schließt sich der Kreis. Die differenzierte Aufgabenteilung von Tat- und Revisionsgericht ist eine genuine Wertentscheidung des Gesetzgebers,2566 die zwar nicht statisch festgeschrieben ist, aber eine stabile Gesetzesarchitektur hervorgebracht hat; ein partieller Eingriff in die Mechanik bleibt da nicht ohne Auswirkungen auf die Gesamtappa2558
In den Fällen der §§ 24 I, 74 I 2 GVG; § 7 ff. StPO. BVerfGE 9, 223 (228 f.), Urt. v. 19. 3. 1959 – 1 BvR 295/58 – („Bewegliche“ Zuständigkeit – Anklage vor dem Landgericht). 2560 BVerfG, StV S. 393 (398); zust. Paster/Sättele, NStZ 2007, 609 (614). 2561 Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (1999), S. 218; Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 216 ff. 2562 BVerfGE 29, 45 (49) – Urt. v 30. 6. 1970 – 2 BvR 48/70 (Anspruch auf den gesetzlichen Richter). 2563 BVerfGE 10, 200 (213); Bes. v. 17. 11. 1959 – 1 BvR 88/56, 59/57, 212/59 – Friedensrichter Baden-Württemberg; a. A. Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (1999), S. 49 ff.; Wassermann, in: AK-GG 3(2001), Art. 101 Rn. 11. 2564 Dehne-Niemann, ZIS 2008, S. 239 (245); Gaede, GA 2008, S. 394 (408). 2565 Leipold, StraFo 2006, 305 (306 f.). 2566 Leipold, a. a. O., auch Franke, FS Widmaier (2008), S. 239 (248): „Grundsatz der Verantwortungsteilung“. Vgl. auch Altvater, FS Widmaier (2008), S. 35: „Gleichgewicht“, abweichend allerdings nachfolgend. 2559
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ratur.2567 Diese strukturelle Unwucht stört nicht nur den Kodifikationsgedanken der Gesetzesväter empfindlich. Rein praktisch gedacht ist mit der Einbuße von systematischer Geschlossenheit2568 durch ein Patchwork-Gebilde von Partikularregelungen regelmäßig ein Verlust an „Auslegungsklarheit“ verbunden. Man muss dafür sicherlich nicht das Menetekel nachlassender Gesetzgebungskunst heraufbeschwören. Dieses Aufgabenmodell beruft sich nicht auf irgendeinen Ästhetizismus2569, sondern dient – staatstheoretisch unentbehrlich – Verhinderung von Machtkonzentration durch vertikale Aufteilung. Dieses Gleichgewicht ist für die Verwirklichung des Rechtsfriedens2570 im Strafprozess elementar von Bedeutung. Denn die viel beschworene „Ergebnisrichtigkeit“2571 verkennt, dass gerade eine ausbalancierte Verfahrensarchitektur die „Richtigkeit“ eines Ergebnisses vermittelt. Darin liegt auch der Schlüssel für die Verknüpfung mit dem gesetzlichen Richter. Am Anfang stand das Misstrauen gegenüber einer abhängigen Kabinettsjustiz.2572 Gegenüber einer Allmacht der Revisionsgerichte scheint aktuell ein vergleichbares Misstrauen wieder aufzukeimen. Selbstverständlich verbietet es sich, die Ausweitung der Befugnisse mit dem Absolutismus gleichzusetzen. Die vehement geführte Kontroverse zwischen Strafverteidigern und Rechtsprechung ist indes ein akutes, ernst zu nehmendes Krisensymptom. Wenn das BVerfG2573 die Prozessökonomie zu einem höherrangigen Interesse erklärt, kann dem hier nicht gefolgt werden.2574 Die 2567
Systemfremdheit moniert auch Hamm, StV 2008, S. 207 (209). Ein nicht zu überschätzender, aber realiter häufig unterschätzter Aspekt. Die Strafrechtsdogmatik, so denn sie Dogmatik sein will, vertritt auch immer einen Systemanspruch; vgl. zum Systemanspruchsdenken, Pawlik, FS Jakobs (2007), S. 469 (474). 2569 Was gar nicht gar nicht abwegig sein muss: Ästhetik und Dogmatik als keine inkommensurablen Kategorien bei Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz (1999), S. 325 und öfter. 2570 Vgl. zu den Zielen des Strafprozesses stv. Beulke, Strafprozessrecht 12(2012), Rn. 3. 2571 Frisch, FS Fezer (2008), S. 353 (378). 2572 Zur Geschichte ausführlich, Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 27 ff. 2573 BVerfG, StV 2007, S. 393 (398). 2574 Kritisch zur „Hypertrophie des Beschleunigungsgrundsatzes“ auch Dehne-Niemann, ZIS 2008, S. 239 (245); Fezer, FS Frisch (2013), S. 1313 (1320); Franke, FS Widmaier (2008), S. 239 (250); auf der anderen Seite Frisch, FS Fezer (2008), S. 353 (388) zur Ressourcenabhängigkeit auch der Revision. Selbstverständlich ist die Rechtsgestaltung nach Gesichtspunkten der Prozessökonomie nicht per se suspendiert, zutreffend insoweit Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (653). Generell erscheint mir aber die Bemühung von Prozessökonomie zum Schlagwort auszuufern. Praktische Konkordanz muss das vorrangige Ausgleichsziel sein, vgl. auch Gollwitzer, FS Kleinknecht (1985), S. 147 (151 f.). Ob und wieweit das „Konzept der begrenzten Rationalität“, vgl. Volk, FS Widmaier (2008), S. 987 (992), im Strafrecht überhaupt brauchbar gemacht werden kann, ist noch nicht intensiv untersucht. Allokationseffizienz (auch) im Recht ist dabei durchaus diskutabel, wenn klar ist, mit welchen Maßstäben und Gewicht dieser Gedanke an der Abwägung teilhaben soll – vgl. den Einwurf auch bei Weßlau, FS Frisch (2013), S. 1289 (1295): „Rationalität des Wettbewerbsdenkens“ als mögliche Fortschreibung der Max Weber’schen Verknüpfung von Staatsform und Rechtsdenken. Indes Effizienz besagt allein nichts über Legitimität, vgl. Volk, a. a. O., S. 994. Wenn man Recht nicht unbedingt in Zeit und (vor allem!) Geld messen will, landet man schnell bei Inkommensurabilität. 2568
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Neuregelung nivelliert das Prinzip des gesetzlichen Richters2575 und unterliegt deshalb durchgreifenden Bedenken. 5. Konsequenzen für die Auslegung des § 354 Abs. 1a StPO Von der bereits erläuterten Grundidee des § 354 Abs. 1 StPO hat sich der Abs. 1a merklich entfernt. Das ist mit dem Regelungskonzept der StPO an für sich nicht zu vereinbaren. Um diese Diskrepanz im Rahmen zu halten, ist restriktive Anwendung anzumahnen.2576 Die Kompetenz nach § 354 Abs. 1a StPO kann nur so weit reichen, wie sich das Revisionsgericht des zugrunde liegenden Sachverhalts sicher sein kann.2577 Die Anwendung scheidet aus, wenn der Schuldumfang unvollständig oder unzutreffend ermittelt wurde und eine neue Verhandlung dem Angeklagten ein günstiges Ergebnis einbringen kann.2578 Im Übrigen müssen die Feststellungen den Anforderungen der StPO gerecht werden, d. h. sie müssen frei von Verfahrensfehlern ermitteln werden.2579 Dies ist ggf. durch Anhörung des Angeklagten abzusichern. Daran gemessen kann eine Betätigung einer angefochtenen Entscheidung bei gleichzeitigem Vortrags neuer strafzumessungsrelevanter Tatsachen kaum in Betracht kommen. Andernfalls dürfte gegenüber der ehemals praktizierten Gesetzesauslegung kaum ein Unterschied bestehen. Die Attraktivität der „Beruhenslösung“ lehrt aber offenbar das Gegenteil.2580
V. Lösung über die Etablierung eines Rechtsmittels sui generis? Die dogmatisch-konservative Position erscheint ein Stück weit unbefriedigend, weil sie das legitime Anliegen der Praxis ignoriert. Kritik fällt natürlich stets umso leichter, solange sie sich nicht genötigt sieht, eine Lösung vorzubringen. Die sich abzeichnende Wiederauferstehung2581 der „Beruhenslösung“ droht obendrein den 2575 A. A. etwa Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (653), der eine solche spezifische Aufgabenverteilung der Verfassung verneint; ähnlich Altvater, FS Widmaier (2008), S. 35 (43). Für den Wortlaut ist das zuzugeben. Ich meine allerdings, aus dem Telos der Garantie wenigstens eine Tendenz für eine klare Rollenverteilung zu erkennen. 2576 Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess 7(2008), Rn. 591; Frisch, StV 2006, 431 (436). Vgl. auch die Prognosen bei Dehne-Niemann, ZIS 2008, S. 239 (254); Gaede, HRRS 2007, S. 292 (293); Maier, NStZ 2008, S. 227 (228); Peglau, JR 2008, S. 80 (82). 2577 Streng, JZ 2007, 154 (155); Ventzke, NStZ 2005, 461 (462). 2578 OLG Nürnberg, Bes. v. 3. 4. 2007, StV 2007, 409; Maier/Paul, NStZ 2006, 81 (84). 2579 A. A. Senge, StraFo 2006 309 (314); auch BGH NJW 3362, zust. Streng, a. a. O.; krit. Leipold, StV 2007, 287. 2580 Jedenfalls eröffnet der BGH mit Bes. vom 04. 08. 2015 – 3 StR 224/1 weitgehende Möglichkeiten. Nach Dehne-Niemann, StV 2016, S. 601 (604 ff.), sei dies nicht im Einklang mit den mit Gesetzeskraft ausgestatteten Vorgaben des BVerfG zu bringen. 2581 Vgl. auch Knauer, NStZ 2016, S. 1 (4); Radtke, FS Maiwald (2010), S. 643 (657 f.) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung und BGH wie zuvor.
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2. Teil, 2. Kap.: Die Strafzumesung in der Revision
legislativen Ansatz zu unterminieren. Deshalb soll hier eine Alternative de lege ferenda angeboten werden. Nichts liegt nämlich näher, als die zwei konträren Positionen mit einem vermittelnden Ansatz zu versöhnen. Die erweiterte Revision ist im Grunde die Antwort der Praxis auf die empfundene Unzulänglichkeit bloß einer Tatsacheninstanz.2582 Für erstinstanzliche Urteile des Landgerichts steht keine Berufungsinstanz zur Verfügung; in diese Lücken stößt fast schon folgerichtig die Revision. Denn bietet das Instanzurteil nur irgendeine Angriffsfläche in der Begründung, wird das Revisionsgericht diese nutzen, um ein ihr missliebiges Urteil zu kippen. Anstatt auf einem Veränderungsnihilismus zu beharren, sollte die Chance für eine Reform aufgegriffen werden. Mein Vorschlag gilt daher der Einführung einer speziellen Strafmaßrüge nach österreichischem Vorbild.2583 Ihr Gegenstand wäre allein auf die Rechtsfolge beschränkt; der Schuldspruch bliebe dabei unangetastet. In ihrem Bereich soll sie volle Tatsacheninstanz sein. Damit hätte sie den Charakter einer beschränkten Berufung.2584 Den Strafverteidigern müsste dies recht sein: Die Berufungsverhandlung sichert ihnen das geschätzte Gestaltungspotenzial im Genuss des Devolutiveffektes. Spannungen zu den Beschuldigtenrechten würden von vorneherein vermieden. Natürlich läuft diese Forderung evident gegen den Trend. Die Berufung ist stetig auf dem Rückzug, welchen § 313 StPO und auch der Ausbau der Revision eindrucksvoll demonstrieren. Insgesamt erfreut sie sich nur sehr geringer Wertschätzung. Als vollständige Wiederholung der Erstinstanz gilt sie als umständlich, die das Verfahren auch ohne jeden Anlass und Begründung verlängern kann.2585 Auch hält sich latent die Befürchtung, eine Berufung animiere zur Sorglosigkeit der Erstinstanz.2586 Ohne Zweifel sinkt mit Zeitablauf die Beweisqualität,2587 so dass nach der Berufungsverhandlung nicht unbedingt ein „besseres“ Ergebnis zu erwarten ist. Unter all diesen Aspekten erscheint sie letztlich kontraproduktiv und im Hinblick auf die „erweiterte Revision“ auch überflüssig.2588 Wenig überraschend spielte sie in den verebbten Reformüberlegungen auch keine Rolle. Diese Einwände mögen gewichtig sein, doch gehen sie in Bezug auf die Strafmaßrüge fehl. Durch ihren beschränkten Gegenstand erfordert die Strafmaßrüge keine mühselige Wiederholung der ersten Instanz. Darin liegt ein wesentlicher 2582 Vgl. Altvater, FS Widmaier (2008), S. 35: Ausweitung der Revisionsbefugnisse als Äquivalent zum zweistufigen Rechtsmittelsystem. 2583 Dazu Goydke, FS Meyer-Goßner (2001), S. 541 (549 ff.); für die Strafmaßrüge vgl. schon Bruns, FS Henkel (1974), S. 287 (300). 2584 Zu dieser Idee bereits Goydke, FS Meyer-Goßner (2001), S. 541 (557). 2585 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht 9(2015), Rn. 1060. 2586 Vgl. Ranft, Strafprozessrecht 3(2005), Rn. 1991. 2587 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht 25(1998), § 52 Rn. 5. 2588 Jerouschek, GA 1992, 493 (515).
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Konzentrationsfaktor.2589 Auch steht eine nachlassende Qualität der Beweismittel in diesem Kontext nicht zu befürchten. Erstens ist die Berufungsverhandlung auf die tatbezogenen Unrechtsfaktoren mit der Rechtskraft des Schuldspruchs in Teilen prädeterminiert. Schuldmerkmale, die sich auf die subjektive Tatseite beziehen, lassen sich ohne entsprechende Einlassung des Angeklagten ohnehin oftmals nur über die objektiven Umstände rekonstruieren. Hinzu kommt, dass für die prospektiven Strafzumessungsfaktoren der Zeitablauf auch von Vorteil sein kann.2590 Der aktuelle Informationsstand befähigt zu einer präziseren Diagnose und kann die Prognosesicherheit stärken. Schließlich bleibt die These, eine Berufung animiere zur Sorglosigkeit, ihren Nachweis schuldig.2591 Damit wären wesentliche Bedenken gegen eine Strafmaßrüge ausgeräumt. Natürlich müssten die Berufungsurteile, die dem Instanzenzug entsprechend von den Oberlandesgerichten zu fällen wären, mit der Revision angegriffen werden können. Das scheint auf den ersten Blickden Nutzen dieser Idee von Grund auf wieder in Frage zu stellen. Man sollte den Gebrauch beider Rechtsmittel indes nicht kategorisch überschätzen.2592 Der Anteil der Revision auf Berufungsurteile fällt mit ca. 15 %2593 relativ gering aus, so dass von einer „Gefahr“ einer Verfahrensaufblähung nicht die Rede sein kann. Aus Sicht des BGH dürfte diese „Zwischenstation“ als Filter gar als willkommen erscheinen. In diesem Rahmen kann nicht mehr als eine Skizze gezeichnet werden. Sie erhebt auch nicht den Anspruch, ein Deus ex Machina des Revisionsrechts zu sein. Im Gegenteil, es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten, um dieser Idee (aktuell) einen eher schweren Stand vorherzusagen. Der Praxis bietet sie keinen wirklichen Anreiz, denn es „funktioniert auch so“; zugleich müsste den Traditionalisten der Makel einer durchaus komplexen Neuregelung schmackhaft gemacht werden. Doch es lohnt sich die Reformbemühungen wieder aufzunehmen, um der Rechtspraxis wieder ein solides Fundament zu liefern. Eine Reform ist die Chance für eine „ehrliche“ Regelung, die den Kodifikationsgedanken wider der unsäglichen Partikulargesetzgebung aufnehmen kann.
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Gleichzeitig auch ein Entflechtungsfaktor. Die aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis stammende verfahrensrechtliche Trennung von Tatschuld und Rechtsfolge wird für eine gezieltere Rechtsfolgenfestsetzung als Vorbild erwogen, s. Horn, ZStW 85 (1973), S. 7 (8 ff.). Zumindest im Rechtmittelrecht könnte dies umgesetzt werden; mithin auch nur dann, wenn eine „Nachfrage“ durch den Rechtsmittelführer bestünde. 2590 Goydke, FS Meyer-Goßner (2001), S. 541 (555). 2591 Ranft, a. a. O. 2592 Bode, Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren (2000), S. 112; Hellmann, Strafprozessrecht 2(2006), Rn. 875. 2593 Bode, a. a. O. m. w. N.
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2. Teil, 3. Kap.: Perspektiven für Schuld und Strafmaßfindung
3. Kapitel
Perspektiven für Schuld und Strafmaßfindung – Ergebnisse und Metabetrachtungen – I. Das Schuldstrafrecht befindet sich in einer veritablen Krise. So müsste man doch wohl annehmen, wenn man die Vehemenz der Kritik und die fundamentalen Uneinigkeiten in der Diskussionskultur beobachtet. Sein Bestand muss nachhaltig als gefährdet gelten, wenn die neuerlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Hirnforschung nicht nur Kritikers Mühlen mit reichlich Wasser betreiben, sondern gar dieses Wasser gedenkt eine etablierte Rechtskultur hinfort zu schwemmen. Der unbefangene Beobachter steht dem Befund etwas ratlos gegenüber. Kann ein solches Fundamentalprinzip „plötzlich“ und „endgültig“ nicht mehr gelten? Es beschleicht einen Skepsis. Die – so hat die Untersuchung gezeigt – hat ihre Gründe. 1. Der sprachphilosophische Einstieg hat gezeigt, dass die Rede von Schuld in der Sprache zwar fest etabliert und omnipräsent ist, aber bei Detailnachfragen eine merkwürdige Unsicherheit aufkeimt. Es ist die typische Verlegenheit, die sich einstellt, wenn es darum geht Selbstverständlichkeiten, die der Mensch im Leben vorfindet, als schlüssige sowie stimmige Gegebenheit zu beschreiben und zu erklären. Für das Rechtssystem ist dieser Zustand zunächst ein nahezu unerträglicher Mangel, will es doch mit genau operationalisierbaren Begriffen hantieren. Im zweiten Besehen relativiert sich dieses Unbehagen, da diese konturenscharfen Begriffe, die der Rechtsanwender sich wünscht, generell nicht seinen Alltag bestimmen. Es würde auch die ganze Zunft der Juristen in Frage stellen, wenn es Worte gäbe, die nachhaltig Streitlosigkeit versprechen und das Recht „ablesen“ lassen wie eine Zahlenabfolge. Freilich müssten dies auch schon merkwürdige Kunst(be)griffe sein, mit deren Hilfe man sich eine erfolgreiche Verständigung nur schwer vorstellen mag, um das „Gemeinte“ schließlich an die allgemeine Rechtsgesellschaft zu vermitteln. So kommt man zu dem Schluss, dass das „Gemeinte“ mit dem Wort der Schuld insgesamt ganz gut aufgehoben ist. 2. Was das „Gemeinte“ nun ist, dazu hat der philosophische bzw. historischdogmatische Abriss einigen Aufschluss vermittelt. Stets geht es um ein Modell „gerechter Zurechnung“, welches die Verbindung von Tat und Täter aufzuzeigen versucht, um derentwillen man sich berechtigt sieht, eine Strafe zu verhängen. Die Tat selbst ist mit der Aufgabe des reinen Erfolgsstrafrechts nicht mehr der Zurechnungsgrund, sondern das Zurechnungsobjekt. Der Zurechnungsgrund liegt dann unausweichlich im menschlichen Verhalten selbst, dass er nun mehr vor der Gemeinschaft zu verantworten hat. Unter Bezugnahme auf den US-amerikanischen Wissenschaftsphilosoph Thomas Samuel Kuhn2594 lassen sich dabei stets konzep2594
Kuhn (*1922, †1996), The Structure of Scientific Revolutions 2(1970); 1(1962).
2. Teil, 3. Kap.: Perspektiven für Schuld und Strafmaßfindung
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tionelle Herangehensweisen mittels Paradigmen beobachten, die Modeerscheinungen gleichen und offenbar wellenförmigen Wechselabläufen folgen. Der Ausgangspunkt menschlichen Verhaltens war im menschlichen Willen identifiziert worden, so dass die klassische Schuldidee des fehlbaren und verfehlten Willens konsequent seinen Lauf genommen hat. Dabei fällt beim historischen Blick auf, dass die nun attestierte, gegenwärtige Krise des Schuldstrafrechts eine latente ist, da bereits mit Erlass des RStGB die Idee des Schuldstrafrechts eigentlich schon um-, wenn nicht gar bestritten war. Spätestens die Erkenntnis, dass Recht nicht zwingend einer vorgegeben Seinsordnung entspringen muss, sondern auch eine positivistische Kopfgeburt sein kann, ebnete den Weg dahingehend, dass Recht mehr das Lenkungsinstrument der Politik ist, als denn nur die bloße Festschreibung bestimmter Individualgarantien. Dieser gedankliche Umschwung fiel in eine Zeit der Ausdifferenzierung der Rechtswissenschaft als emanzipierte Wissenschaftsdisziplin. Die Rechtswissenschaft als Wissenschaft nahm für sich zum einen die Aufgabe an, die Rechtsdogmatik mit der zielorientierten Kriminalpolitik zu harmonisieren. Auf der anderen Seite verlangte die Jurisprudenz zur selbstbestätigenden Anerkennung als Wissenschaft das Prinzip einer anerkannten Methode. Dies führte die paradigmatische Denkweise auch für die Dogmatik der Straftat ein. Die naturalistische Schule, die mit dem Namen von Liszt identifiziert wird, orientierte sich in diesem Spannungsfeld zwischen Gesetzesexegese und naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal an der gemeinwissenschaftlichen Idee des Positivismus und wurde auf weitestgehend deterministischer Grundlage Opponent der freiheitsvoraussetzenden Schuldstraflehren. Für die naturalistische Denkweise war der Schuldbegriff damit ein Problem; wenn schon nicht denkgesetzlich unauflöslich, so doch zumindest für das ausgelobte Zweckstrafrecht im eigentlichen Sinne unbrauchbar. Die zweckgeleitete Idee von Gefährlichkeit als Moment der Schuld fügte sich nur ungelenk in die bisherige Semantik der vorherrschenden Rechtsbegriffe. Für die Durchsetzungsfähigkeit des neuen Paradigmas bedeutete dies ein empfindliches Defizit. Es zeigte sich allmählich, dass der innovative Ansatz allein nicht in der Lage war, die bisherigen Konzeptionen zu verdrängen. In diesem Sinne nimmt es sich nicht Wunder, dass mit Verblassen der Zugkraft der spezialpräventiven Idee und dessen axiologischer Unterbestimmung die klassische Rechtsidee ein Wiedererstarken fand. Gleichzeitig offenbarte dieser Prozess eine grundsätzliches, wissenschaftstheoretisches Phänomen: die Strategie der Adaption. Um als Paradigma nicht unterzugehen, musste die Anschlussfähigkeit an den bisherigen Konsens gewahrt werden. Im Ringen um die richtige Rechtsidee erweist es sich als vorteilhaft, sich nicht nur über Dogmen zu positionieren, sondern auch die Neuerungen zu rezipieren und in der Architektur der Straftat zu verwerten. So hat sich die klassifikatorische Begriffsdidaktik der Naturwissenschaft für das Begriffsdenken des Strafrechts durchgesetzt und wurde nunmehr im Geiste der Materialisierung axiologisch überformt. Ergebnis dieses Ausleseprozesses war der normative Schuldbegriff: die individuelle Vorwerfbarkeit der Tat. Parallel dazu konnte aber ein eigentümlicher, evolutionsgeleiteter Fortschrittsoptimismus die Idee von einer planvollen Gesellschaftssteuerung behaupten.
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2. Teil, 3. Kap.: Perspektiven für Schuld und Strafmaßfindung
Die kategorische Trennung von Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik, die bei von Liszt noch vorausgesetzt wurde, verzeichnete einen entscheidenden Rückgang. Das Changieren zwischen Biologismus und materialer Wertidee sowie Zweckstrafrecht hatte seinen traurigen Höhepunkt in der fatalistischen Gesellschaft des Dritten Reichs. Dieses gesamtnationale Erbe einer Abgrenzungsnotwendigkeit prägte schließlich auch das Schuldstrafrecht der Nachkriegszeit. Das Bild der Entwicklung lässt sich fortan nicht mehr linear zeichnen, da verschiedene Ansätze im Kern überlebt haben und die Zäsur für „ihren“ Neubeginn proklamierten. Diese Aufsplitterung der Konzepte dürfte den Hauptgrund dafür liefern, dass das Zurechnungsprinzip der Schuld als Gewissheit an Stellenwert eingebüßt hat. Insgesamt kristallisierte sich die Polarität des klassischen Schulenstreits wieder heraus. Die rechtsphilosophische Richtung besann sich einer individual-ethischen moralischen Verantwortung des Menschen, insbesondere auch als Antwort auf die Pervertierung des Rechtsgedanken des NS-Denkens, und forcierte die Schuld als (individual-ethisches) Anders-Handeln-Können. Dagegen bekannten sich spezialpräventive Ideen (im Gegensatz zu von Liszts Zeiten) offensiv zur Aufgabe des konservativen Schuldstrafrechts zu Gunsten eines modernen Zweckstrafrechts im Gewande eines (eher humanitären) Behandlungsgeists. Auch wenn die klassische Position sich bis heute ausdrücklich als Bastion gegen missbräuchliche Zweckdeutungen versteht, so lässt sich bilanzieren, dass sich wenigstens der Zweckgedanke im Recht als Paradigma bis auf weiteres durchgesetzt hat. Wesentlich für die Entwicklung ist vor allem die argumentative Kraft der Verfassung gewesen. Der legitime Zweck als Voraussetzung für einen Grundrechtseingriff macht eine Zweckabstinenz für die rechtliche Argumentation unbrauchbar. Die alsbald aufkeimenden funktionalen Schuldlehren haben dieses Programm zu Nutzen verstanden und schließlich den Zweckgedanken direkt im Schuldbegriff implementiert. Zuletzt bildeten sich vor allem Mischformen der Schuldbestimmung heraus. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbart damit die gleichen Konvergenztendenzen, die zum Ende der Weimarer Republik zu beobachten waren. Der idealistische Wertkonservatismus (ontologisch) wird durch funktionale Rechtsbetrachtung abgelöst. Um aber die Legitimität in das System wieder einzuholen, wird der funktionelle Herstellungsmechanismus axiologisch (sozialethisch) angereichert.2595 Mit einem bevorstehenden Atavismus ist dies sicherlich nicht gleichzusetzen. 3. Die zweite verbleibende Strategie, und das wirft die Frage nach der Zukunft des Schuldprinzips auf, wäre in der Novation des Systems zu suchen. Das neurowissenschaftliche Paradigma schickt sich an, diese Rolle einzunehmen. Inwieweit das nachhaltig gelingt, bleibt natürlich abzuwarten. Die Strahlkraft der Argumentation beruht allerdings zu einem großen Teil auf immensen Exspektanzen an technischem 2595 Die Konvergenz ist lediglich eine allgemeine Überwindungsstrategie der vorgefundenen Polarität und fördert nicht zwingend Totalitarismus.
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Fortschritt; das Versprechen, in naher Zukunft eine große Bandbreite von neuen Erkenntnissen zu gewinnen, dürfte realistisch gesehen etwas überzogen sein. Schon jetzt fordert die Hypertrophie an Neuroszientismus reaktionäre Gegenreflexe heraus, die die Durchschlagskraft verringern werden. Misst man die Fortschrittserwartungen am sog. Hype-Zyklus2596, befindet sich das Neuroparadigma (noch) auf dem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“2597, der aber alsbald von einer regressiven Entwicklung aufgrund sich einstellender Ernüchterung abgelöst wird. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die „neuro-rechtliche“ Stoßrichtung diesem Trend entziehen können wird. Die wissenschaftliche Pointe gewissermaßen ist, dass der neue Naturalismus im Recht, der nun antritt, die Strafrechtsdiskussion auf den Ursprung am Ausgang des 19. Jahrhunderts zurückbewegt. Man wird diesen Naturalismus effektiv nur durch ein neues spezialpräventives Programm begleitet sehen können, welches aber, und darin liegt die Krux, die Gründe des (womöglich nur vorläufigen) Scheiterns der vorherigen spezialpräventiven Ideen ausräumen müsste. 4. Dafür stehen die Zeichen in der Postmoderne denkbar schlecht. Kennzeichen der Zeit ist die Schnelllebigkeit der Realität. Strukturelle Probleme mit nachhaltigen Umwälzungen begegnen zu wollen, bedürfte mächtige Ressourcen in Form von Zeit und Geld, die eine Gesellschaft in einer kurzlebigen Skandalisierungskultur kaum aufbringen wird.2598 Das „Aufmerksamkeitsfenster“ der breiten Öffentlichkeit ist dafür zu klein. Das gesellschaftliche pluralistische Meinungsbild tut für einen Konsens dann sein Übriges. Der Weg vom (Neo-)Klassizismus zum Primat der positiven Generalprävention ist inhaltlich genau genommen ein kleiner, aber ein bedeutender: der Anschluss an die positive Generalprävention trotzt der häufig postulierten Legitimationskrise der Schuld. Und er stellt die „einfache“ Bewältigungsstrategie parat, auf die eine Entlastung suchende Praxis einstweilen kaum verzichten wird. Diese Entwicklung dürfte also bis auf weiteres einen Schild gegenüber reformistischen Tendenzen bieten. Die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit in seiner Historie hat insgesamt gezeigt, dass der Schuldbegriff trotz äquivoker Vorstellungen im Detail die kommunikative Kraft zu besitzen scheint, der jedem anderen, farblosen Begriff einer subjektiven Zurechnung zu fehlen scheint. 2596 Verwiesen sei auf Jackie Fenn/Mark Raskino, Mastering the hype cycle: how to choose the right innovation at the right time (2008). 2597 Der Gipfel der überzogenen Erwartungen entspricht dem absoluten Höhepunkt der „Begeisterungskurve“ der enthusiastischen Phase, in der die Potentiale der Neuerungen systematisch überschätzt werden. 2598 Auch auf die Gefahr hin, nur griffige Schlagwörter zu präsentieren, so belegen doch Modewortschöpfungen wie „Sofortness“ oder „Fear of missing out“ auf der einen Seite und „Burn-out“ und der Wunsch nach „Voluntary Simplicity“ auf der anderen Seite einen speziellen, hektisch verstandenen Zeitgeist, der ein bemerkenswertes Effizienzdenken menschlichen Zeiterlebens suggeriert. Wenn Effizienz sich zudem über den Geldaufwand artikuliert, kann auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit neuen Konzepten nur spärlich funktionieren, wenn kostengünstige Heuristiken zur Verfügung stehen. Zum „akademischen Kapitalismus“ P.-A. Albrecht, KritV 2009, S. 266 (267 f.).
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Aus diesem Grund sollte die Terminologie, trotz aller Unsicherheiten im Detail, nicht ohne Not aufgegeben werden.2599 In diesem Sinne scheint es neben Realpolitik auch eine Form von Realjurisprudenz zu geben. Wer davon ausgeht, wie soziologisch nicht selten vermutet, dass Schuldstrafrecht vor allem ein Instrument konservativer Machterhaltung sei, wird einstweilen auch in neuerer Zeit ein „wehrhaftes“ Schuldstrafrecht erwarten müssen. II. Der Streit um den Schuldbegriff scheint schließlich zu einem deutlich überwiegenden Teil ein bloß scholastischer zu sein: denn man muss sich schon fragen, wozu die theoretische Deutungshegemonie gut sein soll, wenn sie erstaunlich wenig dogmatische Konsequenzen nach sich zieht. Jedenfalls sind in der Rechtsanwendung wenige bis gar keine Abweichungen intendiert.2600 Von daher ist das Augenmerk auf die Ausarbeitung der Regulatoren der §§ 17, 20 StGB zu richten. Der kognitive Verbotsirrtum an sich, so hat die Untersuchung gezeigt, ist weitestgehend theorieindifferent und verschiebt die Strafbarkeitsfrage auf die Vermeidbarkeit desselben. In Rede steht dann strukturelle Fahrlässigkeit, die letzten Endes durch das Kriterium der Unzumutbarkeit reguliert wird. Das empirische Herzstück der Schuldlehre, § 20 StGB, erweist sich dagegen nur als bedingt strukturalisierbar. Ein normatives Konzept eines juristischen Begriffs der Steuerungsfähigkeit ist möglich, aber gleichzeitig labil. Es ist konzeptionell sinnlos, die Steuerungsfähigkeit als Substrat einer Willens- oder Entscheidungsfreiheit zu begreifen, da die Identitätsthese das Zurechnungssystem wegen unauflöslicher Probleme kollabieren lässt. Als zentraler gemeinsamer Nenner bleibt eine Abwesenheit (ganz) bestimmter Defekte, was sich denklogisch in Form einer doppelten Verneinung (modellarisches Negativ) artikuliert. Denn ein Defekt meint ja einen Mangel, von dem eigentlich ein vorgestelltes vollständiges Etwas existent vorausgesetzt wird. Zu dem modellarischen Negativ muss es also grundsätzlich eine positive Passform als Kehrseite geben. Man mag sich diesen dazugehörigen Begriff als eine Art „Freiheitstypus“ vorstellen, abschließend definiert ist er jedenfalls noch nicht. Ohne ein solches Leitprinzip wiederum kann die Defektlogik nicht auf Konsistenz geprüft werden. Diesem Dilemma verschafft ein normatives Verständnis nur bedingt Abhilfe. Dessen Entscheidungsprogramm beruht implizit auf einem rechtlichen Zuständigkeitsdenken, der die zu beurteilenden Sachverhalte nach einem intuitiven Konzept von Schicksal vs. persönlicher Fehlentscheidung kodiert. Große Bedeutung hat in diesem Modell das Krankheitsparadigma. Einmal ermöglicht der Krankheitsbegriff wenigstens teilweise eine Rückführung auf biologisch-chemisch beobachtbare Phänomene. Zudem kann eine natürliche Vorstellung von (psychi2599 Bereits Roxin, FS Bockelmann (1979), S. 279 (303), anders Achenbach, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984), S. 135 (137) und Otto, GA 1981, S. 481 (494). 2600 Dieser scharfsinnigen Beobachtung bei B. Schünemann, FS Lampe (2003), S. 537 (553) ist nichts hinzuzufügen.
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scher) Krankheit als „ungewollt“ widerfahrenes Ereignis intuitiv fehlende Verantwortlichkeit plausibilisieren. Diese prima-facie Intuition stellt sich aber als brüchig dar, da der Krankheitsbegriff weder in der benötigten Weise eindeutig ist, noch das Oktroi der Krankheit zuverlässig etwas über den menschlichen Beitrag zu derselben aussagt. Soll das normative Programm nicht irgendeinem Dezisionismus verfallen, so liegt es auch hier nahe (wenigstens) in der Zumutbarkeit das Regulativ der Zuständigkeitsverteilung zu sehen. Der empirische Wahrheitsanspruch des Schuldprinzips wird weitere Forschung zum Abbau der Unsicherheiten nötig machen. Weiterführend kann hier nur ein interdisziplinärer, aber gleichsam unabhängiger Dialog sein. Jedenfalls wenn der Wunsch nach empirischer Unterfütterung konstant bleibt, kommt man nicht umhin eine autarke forensische Psychiatrie zu fordern, deren Kerngeschäft so wenig wie möglich die normative Entscheidungskompetenz interferiert. Denn eine Delegation an die Medizin ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Entschuldigungsgründe und deren Derivate sind dagegen unproblematisch auf die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zurückzuführen. Ob der bisherige Kanon abschließend gedacht werden muss, ist vom theoretischen Ansatz offen. Gleichwohl erscheint aktuell keine Erweiterung notwendig. Der aktuell dominierende Normativismus im Schuldstrafrecht ist vom verfassungsrechtlichen Schuldaxiom besehen grundsätzlich kein degeneratives Anzeichen, solange etwaige Unzulänglichkeiten in der Auslegung der Merkmale noch als Vollzugsdefizit einer Rechtspraxis anzusehen sind.2601 Im Übrigen sichern verfassungsrechtliche Implikationen des Strafrechts eine „gerechte“ Schuldspruchpraxis ab: die Grundrechtsgarantien als Grenzformeln schützen vor unverhältnismäßiger Inanspruchnahme eines jeden Einzelnen. Das gilt auch für das Schuldprinzip als absolute Eingriffsschranke. Aufgrund der historisch gewachsenen Konnexität von Schuld und Strafe ist jede ausgerufene Obsoleszenz des Schuldprinzips verfrüht. Inwieweit neue Modelle allein über die Verhältnismäßigkeit zu erschließen sind, bedarf keiner zwingenden Beantwortung. Da der Verfassungsexegese kein Atomismus eigen ist, der dazu führen müsste, verschiedene Verfassungsprinzipien ihrem Schutzgehalt nach abzufragen, sind solche Überlegungen müßig. Die Verfassung garantiert einen Schutz aus ganzheitlicher Konzeption. III. 1. Eine Strafzumessungslehre mag unter diesen prekären Vorzeichen kein leichtes Auskommen finden. Die Bürden des Schuldbegriffs trägt sie notwendig mit, soweit sie sich einer Systemgeschlossenheit verpflichtet fühlt. Es sollte nach der hiesigen Untersuchung allerdings deutlich geworden sein, dass ein isoliertes Nebeneinander von Tatbestand und Rechtsfolge kein befriedigender Zustand sein kann. Der Tatbestand löst die Rechtsfolge aus; die Rechtsfolge ist Reaktion auf einen Tatbestand. Es verhält sich in diesem Falle nicht anders als mit Frage und Antwort. Diese Zu2601 Vollzugsdefizit insoweit, als dass das Schuldprinzip sämtliche Umstände, die eine Verantwortung des Menschen ausschließen, von Schuld im Rechtssinne freistellen müsste.
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sammengehörigkeit verbietet im Grunde jedes Schisma von Schuldbegriffen. Wer eine Trennung befürwortet, lässt entweder die Frage offen oder erlaubt eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Übersetzt in das Strafrecht bedeutet das wahlweise ein Legitimationsdefizit oder Inkohärenz. Beides kann unumwunden nicht als Alternative gelten. Die Integrationsbemühungen müssen vorangetrieben werden. Das Selbstverständnis der Strafzumessungswissenschaft muss sich in diesem Kontext keiner Dogmatik einer Straftatlehre unterordnen. Ohnehin liegt der Fokus nach dem hier befürworteten Ansatz auf dem Unrecht. Die Frage nach den prägenden Unrechtsfaktoren wird die Zukunftsaufgabe der Strafrechtswissenschaft sein. Während die „Rechtsgutsdebatte“ und die vorgeschlagenen Anknüpfungssurrogate bereits eine Kriminalisierungsentscheidung des Gesetzgebers kritisch begleiten, wird dies für die Strafzumessungsfaktoren in gleicher Weise gelten müssen. Gerade die prekären Momente des Vorverhaltens (Rückfallstrafbarkeit), der inneren Beteiligung des Täters (Gesinnung, Motive) und die übertatbestandliche Folgenbetrachtung müssen weiterhin auf ihre Berechtigung in einem Unrechtskonzept untersucht werden. Die Legitimität von Straffaktoren kann dabei fraglos jederzeit bis zu einem Taxenstrafrecht verengt werden. Vor einem allzu vorschnellen Rückzug des Strafrechts in diesen Sachbereichen mit Schlagworten der „Freiheitlichkeit“ und „Rechtsstaatlichkeit“ ist zu warnen. Denn bei aller Sympathie für ein Zurückdrängen der gemeinschaftlichen Punitivität darf die Hauptaufgabe der forensischen Aufarbeitung, die Konfliktbereinigung innerhalb der Gesellschaft, nicht aus den Augen verloren werden. Gerade die negativen Assoziationen an den Grenzen des Unrechts am Beispiele der Folgenbetrachtung („Erfolgshaftung“) sowie der inneren Beteiligung des Täters („Gesinnungsstrafrecht“) zeigen doch eindrücklich, dass eine monoparadigmatische Ausrichtung am Schaden bzw. am Handlungsunrecht offenbar nicht erfolgsversprechend ist. Die „Weisheit“ des Rechts kann die Alltagsmoral durchaus überformen und sollte stets Anstoß zu einem rationaleren und gerechteren Umgang der Menschen miteinander geben. Rechtswissenschaft und Justiz dürfen sich nicht vom Aktualzustand einer Gesellschaft ablösen, so denn sie mit ihren Ideen und Forderungen perspektivisch nicht in die Leere laufen wollen. Das bedeutet wohl auch, dass nicht sämtliche proklamierten „Fortschritte“ kurzfristig Eingang in die Strafrechtsdogmatik finden können, ohne eine Balance zu gefährden. Die Balance im Recht meint die Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Trotz aller Fremdheit der Rechtsfriedensstörung als tradierter Systembegriff muss Gegenstand einer jeden Straftat daher systematisch auch die Rechtsfriedensstörung sein. So kommt man nicht umhin, das verschuldete Unrecht als Substrat einer Rechtsfriedensstörung zu deuten. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass die Wiederherstellung des Rechtsfriedens die positive Generalprävention in Bezug nimmt. Die sich abzeichnende Begriffskonfusion verstört das kategorial geschulte Denken des Juristen; was aber nicht daran hindern sollte, die Interpretation der
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Rechtsfriedensstörung für beide Aspekte offen zu halten.2602 Die Rechtsfriedensstörung als Begriff wird in dieser „Brückenfunktion“ ihren Wert gewinnen. Prävention und Unrecht scharf zu trennen fällt nicht zuletzt desto schwerer, je stärker das Recht formal den Schutzgedanken einer bestimmten Verhaltensnorm an sich in Bezug nimmt. Phänomene der Vorfeldkriminalisierung, Gefährdungsdelikte und Kollektivrechtsgüter mögen kritisch betrachtend zu begleiten sein. Mit der Kategorie von Nicht-Recht darf man ihnen nicht begegnen. Das heißt dann allerdings auch, dass ein Unrechtsverständnis die Präventionsorientierung in seiner Ausgestaltung erfassen muss. Das Unrecht gelangt so in einen Kontext eines erweiterten Tatbegriffs, der die Komplexität dieser erforderlichen Differentialität verarbeiten kann. Ein solcher Tatbegriff definiert sich über die Rechtsfolgenrelevanz und nähert sich damit zwangsläufig dem prozessualen Tatbegriff an. Preis dieser systemischen Ausweitung ist seine relative semantische Unbestimmtheit. Diesen Makel teilt der erweiterte Tatbegriff allerdings mit unzähligen Rechtsbegriffen, deren Vorteil nur in einer traditionsbedingten Auslegungsübung besteht. Selbst Traditionen haben aber einen Ursprung. So gilt es, in Zukunft Momente ausfindig zu machen, die ein Geschehen zum erweiterten Tatbegriff als zugehörig ausweisen. Das gelingt nur durch Bildung von nachvollziehbaren Zäsuren, welche normative Regress- und Verwertungsverbote statuieren werden. 2. In der Positionierung ihrer Selbst oszilliert die Strafzumessungswissenschaft bisweilen zwischen den Momenten einer Herstellungs- bzw. Begründungswissenschaft.2603 Fraglos macht es einen Unterschied aus, ob man die Aufgabe der Strafzumessungslehre in der Herstellung oder Rechtfertigung eines Strafmaßes sieht. Rechtstheoretisch lässt sich dies leicht beantworten, da die Rechtserkenntnis vor ihrer Anwendung stehen sollte. Die beklagte „Erstarrung“ in einem Rechtfertigungsstatus ist daher nachvollziehbar.2604 Dennoch sollte auch hier dialektisch gedacht werden: über die Begründungsfähigkeit von einzelnen Strafen speist sich letztlich eine induktive Idee ihrer Herstellung(smöglichkeit). Nach hiesiger Vorstellung ist das Prinzip differentieller Strafzumessung als ein Ertrag dieser Arbeit eben dieser dialektisch motivierte Komplementärgedanke zu den seit jeher mit Unbehagen registrierten, bundesweiten Strafdisparitäten. Vom Verfassungsrechtsrechtssatz der Gleichheit getragen ist sich die Differentialität von strafbaren Sachverhalten zu vergegenwärtigen, um danach ausgerichtet die Strafen in komparativer Methode nach dem Schweregehalt zu staffeln. Unentbehrlich in diesem Zusammenhang ist eine Methodik, die aspektgeleitet die Entscheidungsfragen auflöst. Strafrahmenänderungsgründe oder aber Bewertungs2602 Erinnert sei an das Beispiel des physikalischen „Welle-Teilchen-Dualismus“, der diese Eindeutigekit ebenso nicht zulässt. 2603 Vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 761 ff. 2604 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 751 (793).
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richtung von Strafzumessungstatsachen müssen nach allgemeinen, überindividuellen Fallmerkmalen geordnet werden. Die zurückhaltende Formulierung solcher Grundsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung („Gesamtbetrachtung“ einerseits, „normativer Normalfall“ andererseits) ist kein zwingend methodischer Fehler einer Strafmaßfindung. Doch drückt eine solche Zurückhaltung dann zwangsläufig eine grundlegende Skepsis gegenüber Richtlinien für die Strafzumessung aus. Die gesetzestechnische Grundidee eines „Allgemeinen Teils“ der Strafzumessung steht damit fundamental in Frage. In diesem Fall müsste allerdings ein „Besonderer Teil“ der Strafzumessung, quasi als Annex der einzelnen Tatbestände, die Zukunft sein. Die Problematik der Umwertung von Unrecht in Strafquanten würde freilich damit ohnehin gar nicht geändert werden. Umwertung im Wege „natürlicher“ Betrachtung ist strukturell versperrt. Es ist folglich ein Beziehungsgefüge synthetisch herzustellen, welches sich an praktisch verfügbaren Zahlen orientieren wird. Die Praxis von Strafen mit ihren gesammelten Erfahrungswerten dürfte, auch ohne ursprüngliche Verwendung eines theoretischen Bemessungsmodells, dafür – positiv wie negativ – das wichtigste Erkenntnismittel auf dem Weg zu einem Wertungskonsens sein. Stellt man sich den öffentlichen Diskurs als einen Algorithmus vor, sollte an dessen gewähltem Abschluss Konvergenz zu verzeichnen sein. Fruchtbare Impulse sind mit einer angemessenen Beherrschung des (Be-)Wertungsproblem für die Fortentwicklung der Herstellungs-perspektive zu erwarten, welche die Idee einer „rationalen Strafzumessung“ aus dem Rang einer Utopie zu entheben vermag.2605 Ob die Verrechtlichung des Prozesses der Strafzumessung tatsächlich stagniert2606, steht als Befund hier nicht zur Entscheidung. Aber selbst wenn die jüngsten Entwicklungen zu gesteigertem Optimismus vielleicht eher keinen Anlass bieten, ist das Projekt einer Strafzumessungslehre noch nicht gescheitert. Die Aussichten dafür stehen wissenschaftstheoretisch nicht prinzipiell schlecht, da die terminologisch zerklüftete Theorienlandschaft hohes Vereinigungspotential besitzt. Resümierend ist damit der Weg für eine Vervollkommnung aufgezeigt, aber noch in den Anfängen. 3. Hemmende Entwicklungen für eine stärkere methodische Durchdringung sind gleichwohl ebenso nicht zu verkennen. Das Strafzumessungsrecht ist in seiner Aufarbeitung ressourcenintensiv, was eine ausführliche Auseinandersetzung wesentlich erschwert. Wissenschaftliche Projekte auf diesem Gebiet brauchen einen langen Atem, was in Zeiten einer Forschung im Zeichen der „Budgetfreundlichkeit“ weniger wahrscheinlich wird. Für eine mögliche Rezeption in der Praxis verschärft der Faktor Zeit zusätzlich die Eingangshürden. Die Empirieundurchlässigkeit2607 der Praxis mag auf Unwilligkeit beruhen können, sie ist doch vornehmlich eher dem Dezernatsdruck geschuldet. Nicht von ungefähr üben Absprachen in Bezug auf die Strafzumessung hohe Attraktivität auch auf die Jurisdiktion aus. Für die Konkreti2605
Zurückhaltender Streng, Strafrechtliche Sanktionen 3(2012), Rn. 768. Bruns, Neues Strafzumessungsrecht? (1988), S. 7. 2607 Berichte bei Oswald, in: Wolfgang Greive (Hrsg.), Mehr Transparenz in der Strafjustiz, (1991), S. 160 (161), die auch von „Mikrokosmos“ spricht. 2606
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sierung von Strafquanten ist diese Praxis eher misslich, denn sie verdunkelt eher Entscheidungsprinzipien, als dass Fortschritte daraus erwachsen. § 354a Abs. 1 StPO bestätigt diese verfahrensökonomische Tendenz. Auch hier verstellt die vermeintliche „Rechtsrichtigkeit“ des Angemessenen den Blick für das Wesentliche: es geht um Kontrolle der Herstellungsprozesse, nicht um eine vordergründige „Ergebnisrichtigkeit“. Der Eigenwert eines solchen Verfahrens wird nämlich umso bedeutsamer, je weniger Zugriff man auf materielle Rechtsrichtigkeit hat.2608 IV. Für die Zukunft von Schuld- und Strafmaßfindung ist nach alledem nur ein offenes Fazit möglich. Man wird niemals davon ausgehen können, dass eine Strafrechtsordnung vor jeglichen Atavismus gefeit ist. Die Geschichte des Schuldstrafrechts hat sich dabei als eine stets konservative gezeigt. Die Rezeption menschlicher Moral- und Ethikgeschichte – man mag den Zeitrahmen hier spannen wie man will – wird im Ergebnis daher vertraute Strukturen hervorbringen. Alles andere wäre nicht nur unwahrscheinlich, sondern für das Recht auch nicht ratsam. Revolution im geisteswissenschaftlichen Bereich wird regelmäßig die Gefolgschaft verweigert, so denn die Beweisführung im Sinne einer „Wahrheit“ oder „Gewissheit“ kann nicht geführt werden können. Recht als ordnende Kraft ist aber auf die Akzeptanz seiner Bürger angewiesen, sonst endet es zielsicher als „totes Recht“. „Recht kann immer nur der Deutungsversuch für eine richtige Sozialordnung unter den wechselnden Bedingungen […] sein.“2609. Auf einem Zeitstrahl gedacht ergibt sich damit nur etwas wie eine provisorische Akzeptanz.2610 Dem stetigen Wandel einer Gesellschaft unterworfen, ist also eine zeitüberdauernde Lösung der vom Schuldprinzip tangierten Probleme nicht zu erwarten. Die Diskussion über Schuld und Strafe wird mithin lebendig bleiben; sie muss lebendig bleiben. Dafür sind die Eingriffe in die Personalität zu stark und nachhaltig, als dass eine Gesellschaft guten Gewissens mit einwandfreier Selbstverständlichkeit und Klarheit ihren Umgang damit einläuten könnte. Der Tag, der Schuld und Strafe nicht mehr als eine prekäre Angelegenheit vorfindet, besiegelte damit auch ein Ende einer Vergewisserungskultur.2611 Es wäre ganz sicher ein Tag sinisterer Gewissheit, der zu jeder Sorge um jene Gesellschaft berechtigt.
2608 Dies sollte als allgemeine Lehre aus der Verfassungsrechtsprechung zu ziehen sein, zum Grundrechtsschutz durch Verfahren, BVerfG E 35, 79 – Urt. v. 29. 05. 1973 (Hochschul-Urteil); E 53, 30 – Bes. v. 20. 12. 1979 – (Mülheim-Kärlich); E 65, 1 – Urt. v. 15. 12. 1983 – (Volkszählung). 2609 Welzel, FS Grünhut (1965), S. 173 (184). 2610 Pawlik nennt dieses Phänomen auch „ephemere Kämpfe um aktuelle Diskursmacht“, in: FS Paeffgen (2015), S. 13 (29). 2611 Jüngst Maas, NStZ 2015, S. 305: „Das Strafrecht braucht den Zweifel“. Ein ähnliches Fazit, und das erscheint nach 35 Jahren mitnichten dogmatischen Stillstands bemerkenswert bei Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips (1977), S. 49.
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Stichwortverzeichnis Abartigkeit, seelische 236 ff. Abolitionismus 56, 126, 150 ff. Abschreckung/Abschreckungsgedanke siehe Generalprävention Absehen von Strafe 421 ff., 506 Absehen von Verfolgung (§ 153/153a StPO) 270, 309, 403 Absorptionsprinzip (§ 52 StGB) siehe Konkurrenzen Absprachen im Strafverfahren 479 ff. Abstand zwischen Tat und Urteil 414 Abstandsgebot 86, 428 Abwägung der Strafzumessungsfaktoren 459 ff., 499 actio libera in causa 64, 89, 200, 252 Affekt, asthenische/sthenische 233 ff., 252, 264 Agnostizismus (Epistemischer) 136, 166 f., 176 ff., 230 Alkohol/Alkoholkonsum/Alkoholsucht 200, 233, 252, 398 Alter des Opfers/des Täters 413/420 Alternativentwurf E 1966 122, 344 Ambivalenz von Strafzumessungstatsachen 456, 459 Amtsfähigkeit siehe bei Statusfolge Amtsträgerschaft als Strafzumessungstatsachen 413 Ancel, Marc 152 ff. „Angemessenheit“ bei § 354 Abs. la stopp 508 ff. Angemessenheit der Strafe 77, 371, 418, 509, 513 Anklagegrundsatz 401 Anstiftung 379 Antinomie der Strafzwecke 340 ff., 372 Anvertrautheit/Anvertrautsein 390 Art der Ausführung siehe Handlungsunwert/ Handlungsunrecht Asperationsprinzip siehe Gesamtstrafe Attribution, externale bzw. internale 57 f.
Aufgaben des Strafrechts 77, 142, 317 f., 334 Aufklärungshilfe (auch: Aufklärungsbemühen, Aufklärungserfolg) und Präventionshilfe – § 31 BtMG 409 – als allgemeiner Milderungsgrund 310, 408 – Konnexität 311 – Präventionshilfe 311 Ausführung der Tat siehe Handlungsunwert/ Handlungsunrecht Ausländer(eigenschaft) 384, 419, 497 ausländerrechtliche Folgen 424 f. Außertatbestandliche/-tatbestandsmäßige Folgen 303 ff., 393 ff. Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung 436 Austauschbarkeit der Sanktionen 125, 474 Auswirkungen der Tat siehe Folgen der Tat bei Strafzumessung Auswirkungen des Verfahrens und der Strafe 436 Bagatellkriminalität/Bagatelltaten 401, 467 Beamter/Beamtenstellung/beamtenrechtliche Konsequenzen 424 f. Begründungsmangel 502 Begründungspflicht(en) nach § 267 Abs. 2 und 3 StPO/Begründungszwang 481, 502 Beihilfe 379 Belastungsgleichheit 419 Berufung, Strafzumessung 522 Beschleunigungsgebot 414 f. besondere Schwere der Schuld (§ 57a StGB) 322 ff. besonders schwerer Fall 446 bestimmende Umstände im Urteil (Revision) 481, 510
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Stichwortverzeichnis
Bestimmtheitsgebot 88, 299, 448 Bestimmung des gesetzlichen Strafrahmens 439 ff. Bestimmungsnorm 102, 121, 258, 304, 316 Beurteilungsspielraum 364, 367, 492, 503 Beweggründe, niedrige 277 f. Bewertungsnorm 102, 258 Bewertungsrichtung 456 ff., 498 Bewusstseinsstörung, tiefgreifende 233 ff. Beziehungstaten 378 Blutalkoholkonzentration 233 Bundeszentralregister 403 Charakterschuld 98, 113, 138 ff., 187 Culpa 29, 45, 93 DDR-Vorstrafen 401 Deal siehe Absprachen im Strafverfahren Défense Sociale 124 f., 152 ff., 187, 360 Determinismus 54 ff., 131, 135, 150, 166, 172 ff., 227 Devianz, sexuelle 239 Differenzierungsverbote 23, 375, 420, 487, 497, 500 Diskursethik 51 ff., 146 f., 165 Disziplinarrecht siehe beamtenrechtliche Konsequenzen Diversion 70 Dolus eventualis 291, 388 Doppelverwertungsverbot 369, 383 f., 393, 435, 450, 453 ff., 494, 497 Drogen 233 DSM IV-TR/DSM-V 233 Durchschnittsfall 466 Effekterwartung der Sanktion 436 eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts, § 354 Abs. 1/Abs. la StPO siehe Revision Eigenschaften einer Person 419 Eingangsmerkmale des § 20 StGB 206, 231, 242, 251 f. Einheitslösung 237, 261 Einheitsstrafe 344, 430 ff. Einlassung 523 Einsichtsfähigkeit 200, 207, 331 Einwirkung auf den Täter 369 Einziehung 429
Entschuldigender Notstand § 35 StGB 263 ff. Entschuldigung, Begriff der 256 Entschuldigungsgrund, übergesetzlicher 266 ff. Entschuldigungsgründe 102 f., 164, 256 ff., 383 Erfolgshaftung/versari in re 39, 91 Erfolgsunrecht bzw. -unwert 117 f., 288 ff., 351, 393 f., 412 f. Erlaubnistatbestandsirrtum 119 ff., 202 ff., 219 ff., 282 Ermessen 348 f., 364 ff., 375, 489 ff. Erziehungsgedanke 153, 182 Ethik, deontologischer 50, 57, 389 expressive Funktion der Strafe 165, 343 Fahrlässigkeit – (bewusste/unbewusste) 101, 134, 217 – Fahrlässigkeit als Schuldformen 101 f., 112, 282 f. – Fahrlässigkeitsdelikte 218, 222, 271, 278, 283 f., 423 – Rechtsfahrlässigkeit 199, 202, 222 f. – Verhältnis zum Vorsatz 93, 101 f., 134, 201 ff., 219, 307 Fahrverbot 429 f. faires Verfahren 414 f., 424, 514 fakultative Strafrahmenverschiebung 442, 493 Fehlen von Milderungsgründen als Strafschärfungsgrund 408 Finalismus 115 ff., 202 f., 304 Folgen der Tat siehe Strafzumessung Forensische Psychiatrie Fragmentarischer Charakter des Strafrechts 70, 396 Freiheitsstrafe – kurze 368 f. – lebenslange 66, 322, 441 Garantenstellung 444 Garantietatbestand (Art. 103 Abs. 2 GG) 299 ff. Geeignetheit 78 Gefährdungsdelikte 398 Gefährlichkeit des Täters/Gefahr für die Allgemeinheit 182, 277, 280, 309
Stichwortverzeichnis Geldstrafe – Tagessatzsystem 417 – Verhältnis zur Freiheitsstrafe 368 – Zielsetzung 369 Generalprävention 125 ff., 142 ff., 64, 182 – negative 338, 356 – positive 79, 295, 317 ff., 339 ff., 355 ff., 374, 436, 472 ff., 477, 496, 527 ff. Genugtuung 313, 477 Gerechtigkeit, prozedurale Theorie der 51 ff. Gesamtstrafe 430 ff. – Asperationsprinzip 309, 430, 442 – Gesamtschau der Taten 433 – Härteausgleich 432 – nachträgliche Bildung 432 f. Gesetzlicher Richter (Art. 101 GG) 518 Gesinnung – die aus der Tat spricht 306 ff., 385 ff. – Gesinnungsmerkmale 276 ff. – Gesinnungsschuld/-strafrecht 112 Geständnis 292 f., 313 f., 407 ff. Gewerbsmäßigkeit 392 Gewichtung der Faktoren 459 f. Gewissenstäter 204, 385 Gleichbehandlungsgrundsatz/Gleichheitssatz 23, 374, 390, 418, 420 ff., 469 ff., 475, 486 ff., 500 Gramatica, Filippo 152 f. Grundlagenformel (§ 46 Abs.1 S. 1 StGB) siehe Strafzumessung Günther, Klaus 52 f., 146 f., 165 f. Habgier (§ 211 StGB) 277, 382 Handlungsbegriff 94, 116, 295 ff. Handlungsunwert/Handlungsunrecht 117 ff., 201 ff., 275, 288 f., 316 – Art der Ausführung der Tat 391 f. – Beweggründe des Täters 288, 303, 377 ff., 385, 399 – Beziehungstaten 378 – Gesinnung, die aus der Tat spricht 306 ff. – Maß der Pflichtwidrigkeit 389 – Regelbeispiel 446 – Rücktritt 292, 444 ff. – Versuch 444 – Vor- und Nachtatverhalten 308 f., 407 ff. – Wille, der bei der Tat aufgewendete 388
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– Ziele 377 ff. Handlungsutilitarismus siehe Utilitarismus Härteausgleich 424, 432 Hasskriminalität 386 Hauptstrafen 430, 493 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44 ff., 96, 108, 137, 144, 163 f., 315, 340 f. Hegelianismus 46, 94 ff. Heimtücke 505 Hemmschwelle/Hemmschwellenlogik 290, 379, 382, 389, 400, 431, 434 Hemmungsfähigkeit bzw. -vermögens siehe Steuerungsfähigkeit Hilfe zur Aufklärung siehe Aufklärungshilfe Hilflosigkeit des Opfers siehe Opferdisposition ICD-10 233, 238 Identitätsthese 224, 226, 253, 528 Imputationslehren siehe Zurechungslehren Indeterminismus siehe Determinismus Indizkonstruktion (Strafzumessung) 288 ff., 407 Indizwirkung 406, 446 ff. in dubio pro reo … 310 induktive Methode 288, 293 ff. Inkompatibilismus 172 Integrationsprävention siehe Generalprävention, positive intellektueller Verbrechensschaden siehe Rechtsfriedensstörung Intelligenzminderung siehe Abartigkeit Irrationalismus 106 ff. Jugendstrafrecht
34, 223, 402
Kant, Immanuel 44 f., 100 ff. Kaufmann, Arthur 48 ff. Kausalität – der Sorgfaltspflichtverletzung 305 ff. – Kausalitätsbegriff, Maximilian von Buris 97 Kindhäuser, Urs 52, 146 ff. Kirche, Kirchlich-theologische Perspektive 38 ff. kommunikativer Gehalt einer Tat 51, 306, 385 ff.
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Stichwortverzeichnis
kommunikativer Prozess 165 ff., 194, 317, 353 Kompatibilismus 55, 172, 177 Kompensationsentscheidung wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensdauer 414 Konflikttaten 378 Konkurrenzen/Konkurrenzlehre 392, 501 Konnexität siehe Aufklärungshilfe Konventionenregel der Exkulpation 245 f. Krankhafte seelische Störung 231 f. Krankheitsbegriff, psychiatrischer 234 ff. Kriminalprognose 322 Kriminelle Energie 291 f., 378, 389 f., 435 Kriterienkatalog 236 Kronzeuge/Kronzeugenregelung siehe Aufklärungshilfe labeling approach 57, 124, 150 lange Verfahrensdauer 414 Lebensentscheidungs- bzw. Lebensführungsschuld 113, 138 ff., 200, 287 f., 300, 399 Lebenserwartung 420 Lebenslange/Lebenslängliche Freiheitsstrafe siehe Freiheitsstrafe Lebensleistung 405 f. Leichtfertigkeit 377 Leidensdruck siehe Strafempfindlichkeit Leistungstheorie 509 Leitmerkmal 465 Leugnen 310, 410 Libertarismus 172 Liszt, Franz von 95 ff., 108 f. Lockspitzel 380 Maß der Pflichtwidrigkeit 303, 389 ff., 413 Maßregel/Maßregeln der Besserung und Sicherung 76 ff., 428 ff. – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 76 – Vikariieren 428 – Wesen 76, 80 f., 85 f., 138, 183 – Zweispurigkeit 496 Mathematisierung der Strafzumessung siehe Strafzumessung mathematische Formel Menschenbild 42, 64, 98, 116, 149, 187 ff. Menschenwürde (Art. 1 GG) 41, 62 f., 72 f., 84 f., 106, 116, 188 ff.
Milderung gemäß § 49 StGB 442 ff. minder schwerer Fall 449, 451 ff. Missbrauch 390 mittelbare Tatfolgen 304 ff., 394 ff. Mitursächlichkeit/Mitverursachung 412 Mitverschulden Dritter 412 Motivationsbegriff/Motivationsgefüge 227 ff., 253, 382 Motive siehe Tatmotive Nachahmungsgefahr 356 Nachtatverhalten siehe Strafzumessung Naturalismus, Naturalistische Schule 95 ff. Naturrecht 42 ff. Nebenfolge 424 Nebenstrafe 429 Neukantianismus 92, 100 ff. niedrige Beweggründe 277 Normalfall, normativer 408, 454 ff., 466, 532 normative Ansprechbarkeit siehe Schuld Normenlogik/-theorie 103, 168 Normgeltungsschaden 250; siehe auch Rechtsfriedensstörung Normvertrauen, Stabilisierung/Enttäuschung 144 ff., 295 „nothing works“ siehe Austauschbarkeit der Sanktionen Notlage siehe Tatmotive Notstand, entschuldigender (§ 35 StGB) siehe Entschuldigender Notstand Notwehrexzess (§ 33 StGB) 264 ff. „nulla poena sine culpa“ 21, 36, 62 f., 80 Obliegenheit 412 offensichtlich verfehlte Strafe, Oktave, vergriffen 495 Opfer – Anerkennung des Opfers 313, 408 – Opferdisposition 413 – Opfergleichheit 417, 421 – Opferperspektive 308, 339, 394, 413, 477 – Opferverstrickung 252, 412 Ordinalskala 440, 463 Ordnungswidrigkeiten, Recht der 34, 192 f., 208, 279
Stichwortverzeichnis Perseveranz/Persistenz 229 persönliche Verhältnisse des Angeklagten 418 Persönlichkeitsstörungen 233, 238 f. Pflichtwidrigkeit siehe Maß der Pflichtwidrigkeit philosophia negativa siehe Arthur Kaufmann Planung siehe Art der Ausführung bei Handlungsunwert/-unrecht Positivismus 46, 95 ff. Prävention siehe General- bzw. Spezialprävention Präventionshilfe siehe Aufklärungshilfe Präventionsweg und Präventionszweck 82, 335, 356 Provokation 379 prozessualer Tatbegriff 301, 531 Prozessverhalten 410 Psychopathien 238 Psychopathologie, strukturale 247 Psychose 232 ff. Pufendorf, Samuel 42 f. Punktstrafe 346 ff., 363 ff., 488 ff. Punktwertverfahren bei der Strafzumessung 459 Qualifikationen 393, 449 quantitative Täterschaft 379 Rechtsfriedensstörung 155, 307 ff., 314 ff., 320 ff., 344, 359, 376 ff., 387, 390, 395, 399 f., 403 f., 407, 414, 422, 426, 429, 432, 437, 472 f., 476, 530 f. Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit 47 ff. Rechtsprinzip 89 rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung siehe Verfahrensdauer Rechtswidrigkeitsdoktrin, materielle 101 reformatio in peius siehe Verschlechterungsverbot (Revision) Regelbeispiele, Regelbeispielsmethode/ -technik 446 ff. Regelfall 420, 467 f. regelmäßige Tatfolgen siehe Auswirkungen der Tat Regeltatbild 298, 454 ff., 466 f., 497
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registerrechtliche Folgen siehe Bundeszentralregister (BZR) Resozialisierung siehe Spezialprävention Reue, tätige Reue 292, 31, 324, 407, 409, 410, 445 Revisibilität/Revision – bestimmende Umstände im Urteil 510 – Bestimmung der Kontrolldichte/Prüfungsumfang des Revisionsgerichts 488 ff. – eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts, § 354 Abs. 1 StPO 504 ff. – eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts, § 354 Abs. la StPO 507 ff. – Einstellung bei Verfahrenshindernissen 505 – Prüfungsmaßstab 488 ff. – Richtigkeitskontrolle 490 – Strafzumessung, Grundsatz der Revisibilität 488 ff. – Strafzumessung als Rechtsanwendung 488 – Strafzumessungsfehler 494 ff. – Vertretbarkeitskontrolle 492, 499 f. Rückfall/Rückfallstudien siehe Vorstrafen Rücktritt 292 Sachentscheidung des Revisionsgerichts siehe Revision sachlogische Strukturen (Hans Welzel) 47 f., 112 Sachverständigengutachten 251, 255 Sack, Fritz 57, 124 Schadenswiedergutmachung (§ 46a StGB) 310 Schizophrenie 232 Schmidhäuser, Eberhard 50 ff. Schneider, Kurt 232 Schuld – als „Andershandelnkönnen“ 132 – als Entscheidungsstufe 191 ff. – als normativer Ansprechbarkeit 134 ff. – als Produkt von Zuschreibung 159 ff. – als rechtlich missbilligte Gesinnung 133 ff. – als Sühnefähigkeit 154 ff. – als Systembegriff 94, 287 – als Vorwerfbarkeit 102 ff., 117, 131 ff.
610 – – – –
Stichwortverzeichnis
als Werturteil 192 ff. Anthropologie der 37 ff. besondere Schwere der 322 ff. im Nationalsozialismus siehe Irrationalismus – schuldangemessene Strafe (Schuldproportionalität) 65 – Schuldartendogma siehe psychologischer Schuldbegriff – Schuldausgleich 78, 340, 349, 370 f., 491, 496 – Schuldfähigkeit 231 f., 284, 287 – Schuldidee 35 ff., 53, 97, 133, 191, 285 ff. – Schuldmerkmale, objektive 274 f. – Schuldmerkmale, spezielle 276 ff. – Schuldmerkmale, strafbarkeitsbegründende 279 ff. – Schuldminderung (§§ 17, 21, 35StGB) 218, 237, 235 ff., 260 – Schuldmoment, voluntatives 225 ff. – Schuldrahmen/-theorie siehe Spielraumtheorie – Schuldstrafecht der Weimarer Republik siehe Weimarer Republik – Schuldvorwurf, ethischer (Tadel) 86, 154 f. Schuldbegriff – axiologischer Schuldbegriff (Schmidhäuser) 50 f. – diskursiver Schuldbegriff 146 f. – Ersetzung 71 ff. – formeller Schuldbegriff 191 – funktionaler Schuldbegriff 131 f., 142 ff. – Gegner des 150 ff. – individual-psychologische (Schulddeutung) 105, 159 ff. – Institutsgarantie 63 ff. – materieller Schuldbegriff 193 – normativer Schuldbegriff 102 ff., 129 ff. – Optimierungsgebot 198 – Schuldprinzip 60 ff. – Selbstreferentialität des 148, 162 – sozialpsychologischer Schuldbegriff 145 – soziologischer Schuldbegriff 160 ff.
– systemtheoretischer Schuldbegriff 143 ff. – (Tat-)Schuldprinzip/-grundsatz 201, 281, 286 f., 294, 475 – Übermaßverbot 65 – Untermaßverbot 68 – Verfassungsrechtliches 84 ff. Schulenstreit (Psychiatrie) 230, 241 Schulenstreit (Strafrecht) 96 ff. Schutzbereich der Norm 395 Schwachsinn 236 Schweigen/Schweigerecht des Beschuldigten 310, 408, 410 Schwereskala, kontinuierliche 439 Schwurgerichtslösung 324 Selbstanzeige 311 sentencing guidelines 468 ff. Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit siehe auch Spezialprävention Sicherungsverwahrung 86 Sonderopfer 86, 415, 509 Sonderstrafrahmen 441 ff., 493 sozialer Gestaltungsakt siehe Theorie vom sozialen Gestaltungsakt Sozialkontrolle 337, 503 Sozialschädlichkeit 82, 207, 213 Sozialverteidigung siehe Défense Sociale soziologischer Geltungsbegriff 56 Spezialprävention 98, 124, 338, 343 f., 350, 359 f., 422, 440, 473 f., 495 Spielraum/Spielraumtheorie 347 ff., 358 f., 371 f., 472, 476 ff., 491, 495 Spontantaten, Spontaneität 378 standesrechtliche Konsequenzen siehe Nebenfolge statistischer Regelfall siehe Regelfall Statusentscheidungen/-folge/-rechtliche Folgen siehe Nebenfolge Stellenwerttheorie 349 f. Steuerungsfähigkeit, Steuerungsunfähigkeit 135, 223 ff., 242 ff., 253 ff. Steuerungsvermögen 226 f., 229, 242 Störung, krankhafte seelische/psychische 231 Strafartwahl 368 Strafbegründungsschuld 22, 35, 191, 286 ff., 302 Strafbemessung 345 ff.
Stichwortverzeichnis Strafbemessung, Differentielle 334, 362 ff., 369 f., 374, 418, 441, 469, 472, 484, 487 Strafe – ohne Vorwurf 155 ff. – Strafempfänglichkeit 141, 474 – Strafempfindlichkeit 358, 419, 421, – verfassungsrechtlicher Begriff von Strafe 80 ff. Strafmaß – Strafmaßrevision 483 ff. – Strafmaßrüge 522 f. – Strafmaßtabelle siehe sentencing guidelines – Strafmaßtaxen 470, 499 Strafpraxis anderer Gerichte 499 Strafrahmen strafrahmenbestimmende Umstände im Urteil 481 Strafrahmenverschiebung – fakultative 442 – obligatorisch (zwingend) 442 Strafrahmenwahl 439 ff. Straftatmodell 327 Straftaxen siehe Strafmaßtaxen Straftheorie 77, 337 ff. – generalpräventive 144, 338 f. – retributive 125, 341 – Vereinigungstheorien 343 – Vergeltung 96, 126, 136, 338 ff. Strafurteile, früher ergangene siehe Vorstrafen Strafzumessung – als sozialer Gestaltungsakt 361, 367, 499 – Begründung/Begründungspflicht der Strafzumessung 481 ff., 502 – -erwägungen/-faktoren/-gründe-/ -tatsachen/-erhebliche Umstände 376 ff., 497 ff. – Mathematisierung der Strafzumessung/ mathematische Formeln 434, 460 ff. – Strafzumessung als Rechtsanwendung 488 – Strafzumessungsgründe, ungeschriebene 412 – Strafzumessungslösung 414
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– Strafzumessungsrichtlinien siehe sentencing guidelinies – Strafzumessungstheorien 345 ff., 438 – Strafzumessungsvorgang 438 Strafzumessungsschuld – einzelne Faktoren 376 ff. – Erfolgskomponente/Erfolgsunwert 393 ff. – Folgen der Tat 393 ff., 421 f. – Gliederungsschemeta/Phasenmodelle 438 – Grundlagenformel in § 46 Abs. 1 StGB 344, 376 – Handlungsunwert 117 ff., 201 ff., 275, 288 f., 316 – Nachtatverhalten 308 ff., 320 f., 407 ff. – Strafzweck siehe Straftheorie – Vortatverhalten 290, 308, 399 ff. strict liability 157 ff. Subjektives Recht – auf Rechtsruhe (Verjährung) 403 – des Opfers auf Folgenberücksichtigung 478 Sühne/Sühneprinzip 39, 154 ff. Sünde, Reziprozität von Sünde und Schuld 40 f. Systemtheorie (Luhmann) 143, 163, 332 f. Tagessatzanzahl/-höhe/-system siehe Geldstrafe Talion(sprinzip) 96, 338, 342, 422 Tatausführung siehe Handlungsunwert/ -unrecht Tateinheit/-mehrheit siehe Konkurrenzen Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) 310 Täterpersönlichkeit in der Strafzumessung 300, 351, 419 Tatfolgen siehe Folgen der Tat bei Strafzumessung Tatmotive Beweggründe siehe Beweggründe bei Handlungsunwert/-unrecht Tatort 391 Tatproportionalität/Tatproportionale Strafzumessung 350 ff., 370 ff., 440, 465, 468, 472, 487 Tatprovokation 379 Tatschuld(prinzip)/-grundsatz siehe Schuldprinzip
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Stichwortverzeichnis
Tatspuren, Beseitigung 410 Tatunrecht siehe Erfolgsunwert/Erfolgsunrecht bzw. Handlungsunwert/-unrecht Theorie vom sozialen Gestaltungsakt siehe Strafzumessung Therapie statt Strafe 129, 152 tiefgreifende Bewusstseinsstörung siehe Bewusstseinsstörung Tilgungsfrist 403 f. Trennungsthese 285 f., 421, 477 Trichtermodell der Strafverfolgung 332 Trichtermodell der Verbrechenslehre 327 ff., 332 Trunkenheit 419, 459 Überdetermination 112, 117, 171, 179 Übermaßverbot siehe Verhältnismäßigkeit Überschießende Innentendenz 279, 281, 287, 388 Überzeugungstäter 204 Umwertung in den Strafrahmen 460 ff. unbestimmter Rechtsbegriff 364, 367 Uneinsichtigkeit 411 Unrecht(s) – -begriff/-lehre, personale(r)/personalisierte(r) 110, 116 ff., 121, 193, 275, 278, 315, 352 – schuldloses 94, 136 f. – verschuldetes 195 f., 314, 344, 415, 418, 530 Unrechtsbewusstsein 104, 118, 196 ff., 282, 289 ff., 419 Unschuldsvermutung 69, 159, 401, 404, 509 Untergrenze der Strafe 463, 479 Unterlassungsdelikt 272, 390, 444 Untermaßverbot 68 ff., 198 Unterschreiten schuldangemessener Strafen 69, 349, 475 f., 496 Untersuchungshaft, Anrechnung 414 Unwerturteil 81, 83, 132, 196 Unzumutbarkeit, ~ normgemäßen Verhaltens 105, 256 ff., 284, 411, 528 Utilitarismus 53 ff., 79 f., 127, 157, 164, 185, 267 Verbotsirrtum 104, 120 f., 144, 196 ff. Vereinigungstheorie siehe Straftheorien
Verfahrensdauer/-verzögerung 414 Verfahrenshindernis 380, 415 f., 437 Verfall siehe Einziehung Vergeltung 30, 77, 96, 111 ff., 124, 145 f., 338 ff., 355, 422, 477 Verhaltensnorm 531 Verhältnismäßigkeit(sgrundsatz) 65 ff., 74 ff., 269, 342, 352, 355 ff., 371 ff., 398, 416 ff., 425 f., 433, 436 f., 475, 496, 529 Verjährung 292, 320 f., 404 verminderte Schuld/Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) 206 f., 235 ff., 393, 445, versari in re illicita siehe Erfolgshaftung Verständigung (§ 257c StPO) siehe Absprachen im Strafprozess Versuchsstrafbarkeit, Versuch siehe Handlungsunwert/Handlungsunrecht Verteidigung der Rechtsordnung 323, 369, 405 vertypte Milderungsgründe 293, 442 f., 493 Verwertungsverbot 403 ff. Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs 380, 415, 437 Viktimisierung, sekundäre 410 Vollstreckungslösung 415 f. Vorhersehbarkeit 283, 377, 395 f., 423 Vorleben siehe Vortatverhalten Vorsatz 45, 117 ff., 198 ff., 226, 282 ff., 388 ff. – Verhältnis zur Fahrlässigkeit 93, 101 f., 134, 201 ff., 219, 307 – Vorsatzformen 291, 388 Vorstrafen 290, 308, 357, 400 ff., 432, 436 Vortatverhalten 308, 399 ff. Vorwerfbarkeit 49, 83, 102 ff., 117, 127, 130 ff., 142 f., 155, 160, 166 f., 192, 289 f. Wahl der Strafart siehe Strafartwahl Warnungen früherer Verfahren, Warnungseffekt/-rhetorik 290, 400 ff. Weimarer Republik 103 ff. Welzel, Hans 47 ff., 108, 112, 116 ff., 140, 167, 179 Wesen der Strafe 84 ff. Wiedergutmachung (im weiteren Sinne) 310 ff., 407 Wiederholungsgefahr 392, 474
Stichwortverzeichnis Willensbildung 117, 225 Willensfreiheit siehe Determinismus Willensschuld 21, 40, 45, 117, 126, 167, 175, 180, 283 f. Willkürverbot 64, 84, 448, 488 Wirkungen der Strafe 436 Wirkungen des Verfahrens 478 Zäsurwirkung/Gesamtstrafe 432 Zeitablauf zwischen Tat und Urteil Ziele des Täters 377
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zulässiges Verteidigungsverhalten siehe Nachtatverhalten Zumutbarkeit 103 ff., 167 f., 199 f., 205, 212 ff., 284 f., 418; siehe auch Unzumutbarkeit Zurechnung/Zurechnungslehre 42 ff., 187 Zweck-Mittel-Relation 381 ff. Zweifelssatz siehe in dubio pro reo Zweispurigkeit des Sanktionensystems 76, 80, 85, 137, 184, 428, 496