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German Pages [281] Year 2018
Alexandra Grund-Wittenberg / Ruth Poser (Hg.)
Die verborgene Macht der Scham Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Lebenswelt Mit Beiträgen von Jan Dietrich, Sabine Föllinger, Alexandra Grund-Wittenberg, Martina Kepper, Claudia Janssen, MariaSibylla Lotter, Stephan Marks, Thomas Naumann, Ruth Poser, Christian Strecker und Ulrike Wagner-Rau
2018
Vandenhoeck & Ruprecht
Biblisch-Theologische Studien 173 Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3249–3 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter www.sonnhueter.com DTP: Dorothee Schönau
Vorwort
Dieser Sammelband geht zurück auf die interdisziplinäre Tagung »Die verborgene Macht der Scham«, die im September 2016 in Marburg stattgefunden hat. Der Tagung war eine große Neugier der zum Teil aus ganz unterschiedlichen Fachkulturen stammenden Referent_innen und Tagungsteilnehmenden an den anderen Fächern und eine aufgeschlossene Gesprächsatmosphäre anzumerken, die der Diskussion des so empfindlichen wie tiefgreifenden Themas der Scham angemessen und zuträglich war. Ausdrücklich gedankt sei an dieser Stelle denjenigen, die auf verschiedene Weise zum Gelingen der Tagung beigetragen haben: zunächst einmal bei der Organisation der Tagung Prof. Dr. Thomas Naumann, dann für ihren weiteren Verlauf Josephine Haas, Charlotte Voss, Andrea Schönfeld und nicht zuletzt Swaantje Winski, die sich zudem bei den Arbeiten für die Drucklegung mit großer Sorgfalt und viel Engagement eingebracht hat. Einen großen Dank aussprechen möchten wir auch der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Nassau sowie dem Helga-Kuhlmann-Fonds für großzügige Zuschüsse zur Finanzierung der Tagung. Den Professoren Dr. Bernd Janowski und Dr. Friedhelm Hartenstein danken wir herzlich für die bereitwillige Aufnahme dieses Bandes in die Reihe »Biblischtheologische Studien« und Frau Dorothee Schönau
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Vorwort
für die Erstellung der Druckvorlage. Und Dr. Volker Hampel vom Neukirchener Verlag sei – aller Voraussicht nach leider ein letztes Mal – von unserer Seite für seine überaus professionelle Betreuung eines BThSt-Bandes gedankt. Marburg, am Reformationstag 2017 Ruth Poser und Alexandra Grund-Wittenberg
Inhalt
Vorwort ................................................................. V Alexandra Grund-Wittenberg Verborgenheit und Ambivalenz der Scham Zur Einführung in diesen Band......................... 1 Stephan Marks Menschenwürde und Scham ............................... 19 Martina Kepper Wie sagt man, was man fühlt? Linguistische Bemerkungen zur Frage der Interrelation von Sprache und Gefühl am biblischen Wortfeld »Scham« ......................... 36 Jan Dietrich Zur Individualität und Sozialität der Scham im Alten Testament ............................................. 58 Thomas Naumann Schuld- und Beschämungsdiskurse im Auftritt des Propheten Natan (2Sam 12) .......................... 84 Ruth Poser »Ja, auf die Armen hört ydie Lebendigey, ihre Gefangenen verachtet sie nicht« (Ps 69,34) Beschämung und Anerkennung in ausgewählten Psalmen ...................................112
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Inhalt
Sabine Föllinger Die Bedeutung der Scham für die Moral in Platons Philosophie ........................................ 139 Claudia Janssen »Ich schreibe das nicht, um euch zu beschämen« (1Kor 4,14) Beschämung und Scham im Kontext antiker Genderdiskurse und in den paulinischen Gemeinden ............................... 159 Christian Strecker »Ich schäme mich des Evangeliums nicht …« Ehre, Scham und Schuld in der kulturwissenschaftlichen und neutestamentlichen Forschung ..................... 183 Maria-Sibylla Lotter »What dost thou know me for?« Stanley Cavell über die Dynamik der Scham in der Spannung zwischen dem Streben nach sozialer Anerkennung und der Anpassungsverweigerung ........................ 221 Ulrike Wagner-Rau Religiöse Spielarten der Scham .......................... 246 Verzeichnis der Beitragenden ............................ 272
Alexandra Grund-Wittenberg
Verborgenheit und Ambivalenz der Scham Zur Einführung in diesen Band
Scham ist eine machtvolle Größe, die nicht selten im Verborgenen wirkt. Sie ist ein heimliches, nach Möglichkeit verheimlichtes Gefühl, das Menschen oft mit sich selbst ausmachen. Der vorliegende Sammelband, der aus einem interdisziplinären Forschungskolloquium an der Philipps-Universität Marburg im September 2016 hervorgeht, versucht, der oft verborgenen Macht der Scham und ihrer ambivalenten Bedeutung auf die Spur zu kommen. Mit »Scham« werden in der einschlägigen Diskussion Begriffe wie »Ehre« und »Schuld« gepaart, deren Verhältnis zur Scham hier ebenfalls thematisiert wird. Einen Schwerpunkt des Bandes bildet gewiss die Fragestellung, wie das Alte Testament von Scham spricht. Doch gewinnen Besonderheiten des Alten Testaments vielfach erst an Profil, wenn man zugleich einen Blick in dessen kulturelles und kanonisches Umfeld wirft. Zugleich werfen die Rezeptionen biblischer Texte in kirchlichen und kulturellen Praxisfeldern Fragen auf, die deren exegetische Wahrnehmung produktiv verändern und neue Perspektiven eröffnen können. Insofern bildet besonders die Praktische Theologie eine Schnittstelle, zumal von ihrer Seite bereits seit einiger Zeit1 psychologische Einsichten2 zur Scham in die Theologie 1
Albers, Shame; Pattison, Shame; Wagner-Rau, Blick; dies., Scham; Zobel, Scham; Strodmeyer, Scham. 2 Wurmser, Maske; Hilgers, Scham; Kühn u.a., Scham; Bastian, Blick; Wurmser, Wirklichkeit, Tisseron, Scham; Seidler, Blick;
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integriert wurden. Soziologische,3 kulturhistorische4 und philosophische5 Studien können in Theologie und Bibelwissenschaft aber noch vermehrt wahrgenommen werden; sie schärfen den Blick für die narrative, poetische und diskursive Bearbeitung von Schamphänomenen in biblischen Texten. Scham zeigt sich auch in den Beiträgen dieses Bandes als ein sozial- und selbstbezügliches Phänomen.6 Sie resultiert vielfach aus Beschämung durch andere – Demütigung, Bloßstellung u.a. –, und wird als Instrument der sozialen Degradierung im menschlichen Zusammenleben bewusst oder unbewusst bzw. habitualisiert eingesetzt. Beschämung entfaltet ihre tiefste Macht aber erst im Selbstverhältnis der Einzelnen, im Sich-Schämen.7 In »L’être et le néant« analysiert J.-P. Sartre treffend die vernichtende Selbstvergegenständlichung in der Übernahme des verdinglichenden Blicks der anderen: »Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in einem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen«.8 Ein Zuviel an Scham, das durch nicht mehr zu bewältigende Beschämungserfahrungen ausgelöst wird, wirkt sich für die Betroffenen lebensmindernd, persönlichSchüttauf/Specht/Wachenhausen, Drama; Jacoby, Scham-Angst; (o. Hg.), Beschämung. 3 Berger/Berger/Kellner, Unbehagen; Neckel, Status; Lietzmann, Theorie; Marks, Scham; ders., Beschämung; ders./Immenschuh, Würde. 4 Elias, Prozess der Zivilisation; Duerr, Nacktheit; Bologne, Nacktheit; Burkhart, Ehre; dies., Geschichte. 5 Scheler, Scham; Margalit, Würde; Williams, Scham; Rappe, Scham; Appiah, Ehre; Lotter, Scham; vgl. hierzu auch den Forschungsüberblick bei Strecker, Ehre, 186–206 (in diesem Band) 6 Vgl. Dietrich, Individualität, 60–68 (in diesem Band). 7 Vgl. Wagner-Rau, Spielarten, 254 (in diesem Band). 8 Sartre, Sein, 381.
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keits- und letztlich auch gemeinschaftszerstörend aus. Denn die Reaktion der Schamabwehr kann sich nicht nur gegen die eigene Person, sondern auch gegen Andere richten und zum untergründigen, destruktiven Fortwirken der Scham führen.9 Doch Scham hat keineswegs nur diese Kehrseiten. Sie ist zunächst ein Grundaffekt, der Menschen befähigt, sich selbst in der Einschätzung bedeutsamer Anderer (significant others) wahrzunehmen und diese Einschätzung möglicherweise in bewusster Auseinandersetzung zu verarbeiten. Insofern spielt sie eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Selbst-Bewusstseins,10 was auf seine Weise auch in der alttestamentlichen Paradieserzählung reflektiert wird.11 Nur wer sich schämen kann, entwickelt, zusammen mit der Empathie, auch ein Taktgefühl, ein Bewusstsein der Schamgrenzen anderer und die Fähigkeit, deren Würde und Integrität zu schützen.12 Daher ist Scham Voraussetzung einer Kultur der Würde und kann sich bei der Ausbildung von Moralität konstruktiv auswirken.13 Da sich ein Zuviel an Scham bei den einen in Situationen einstellt, in denen sich andere durch eine versuchte Herabsetzung noch ermutigt fühlen oder die Scham jedenfalls konstruktiv verarbeiten, sind Schamphänomene in ihrer Ambivalenz letztlich nur in einer dynamischen Sichtweise zu erfassen.14 9 Vgl. Marks, Scham, 71–101; Marks, Menschenwürde, 23 (in diesem Band); Poser, Beschämung, 112f (in diesem Band). 10 Wagner-Rau, Spielarten, 254f. 11 Crüsemann, Frage, 63–79; Grund, Anthropologie, 121; Poser, Scham, 140; Dietrich, Sozialität, 72–75 (in diesem Band); Poser, Beschämung, 113f (in diesem Band). 12 Vgl. Marks, Menschenwürde 32–34 (in diesem Band); Poser, Beschämung, 112 (in diesem Band). 13 Vgl. Föllinger, Bedeutung, 157 u. passim; Lotter, Dynamik, 244 u. passim; Kepper, Bemerkungen, 50–52; Wagner-Rau, Spielarten, 260f (alle in diesem Band). 14 Vgl. Lotter, Dynamik, 225; Wagner-Rau, Spielarten, 253f (beide in diesem Band).
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Neben biographischen Voraussetzungen und vorhandenen Ressourcen der Anerkennung ist etwa von Bedeutung, inwiefern beschämende Personen zu den bedeutsamen Anderen gehören oder auch in anderer Hinsicht Macht über die beschämte Person ausüben können. Scham ist also ein komplexes und ambivalentes Phänomen, das zudem eng mit dem der »Schuld« verflochten ist. Während sich jedoch Schuldgefühle nach einem gängigen Verständnis auf die verantwortliche Schädigung anderen Lebens, also auf konkrete Handlungen beziehen und damit von der Person unterschieden werden können, betreffen Schamgefühle die ganze Person. Sie stellen sich ein, wenn jemand von einer normativen Vorstellung von sich für andere, jedenfalls aber für sich selbst erkennbar so abweicht, dass die eigene Integrität Schaden nimmt.15 In der Theologie ist die Bedeutung der Scham erst in den letzten Dekaden entdeckt worden,16 in der Gegenwart aber wird sie zunehmend diskutiert. Das zeigen der auf eine Tagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie zurückgehende, interdisziplinäre Band »Verstrickt in Schuld, gefangen von Scham?« (2015)17 sowie die Studie des praktischen Theologen K. Fechtner »Diskretes Christentum«, nach dem Scham im Sinne eines diskreten Umgangs mit der eigenen Religiosität integraler Teil spätmoderner Religionspraxis ist.18
15 Vgl. zur Diskussion der Unterscheidung von Scham- und Schuldgefühl s. auch Naumann, Beschämungsdiskurse, 84–87; Strecker, Ehre, 184–192 (beide in diesem Band). Schwer zu bestimmen ist ferner das Verhältnis von Scham und Minderwertigkeitsgefühl, wobei erstere i.d.R. mit einer, und sei es imaginierten, Exponierung zusammenhängt. 16 Bammel, Augen; Bauks/Meyer, Kulturgeschichte u.a. 17 Link-Wieczorek, Schuld. 18 Fechtner, Christentum.
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Die zunächst besonders im englischsprachigen Bereich geführte alttestamentliche Diskussion hat die Frage nach der etwaigen Zugehörigkeit des antiken Israel zu den so genannten Schamkulturen herausgehoben.19 Die Unterscheidung zwischen fernöstlichen und mediterranen »Schamkulturen«, in denen Schamgefühle als normatives Regulativ des Verhaltens dominieren, und westlichen Schuldkulturen, in denen weitgehend Schuldgefühle diese Funktion übernehmen, geht zurück auf die grundlegenden Arbeiten der Pionierinnen der Kulturanthropologie Margaret Mead und Ruth Benedict20, die vom Gräzisten Eric Dodds für die frühe griechische Kultur21 und von Kulturanthropologen um John Peristiany22 für zahlreiche mediterrane Kulturen rezipiert wurden – eine Forschungsdiskussion, aus der auch das eingeführte Begriffspaar »Ehre und Scham« / »honor and shame« stammt. Allerdings wird die Gegenüberstellung von Schamkulturen und Schuldkulturen von kulturanthropologischer Seite bereits seit einiger Zeit als homogenisierend, archaisierend und exotisierend kritisiert,23 was auch in einschlägigen deutschsprachigen alttestamentlichen Beiträgen24 und in Beiträgen dieses Bandes25 hervorgehoben wird. Offenbar sanktio19 Noble, Naked; Bechtel, Shame; Moxnes, Honor; Stansell, Honor; Bechtel, Perceptive; Olyan, Honor; Plevnik, Honor; Botha, Shame; Hobbs, Reflections; Matthews, Honor; Botha, Honour u.a. Über die honor and shame-Debatte hinaus gelangt u.a. die differenzierte Studie von Stiebert, Construction. 20 Mead, Statement; Benedict, Chrysantheme. 21 Dodds, Griechen. 22 Peristiany / Pitt-Rivers, Shame; dies., Grace. 23 S. hierzu Herzfeld, Honour; Giordano, Ehrkomplex; Lembke, Konflikt; Hauschild, Ritual u.a. 24 Grund, Anthropologie, 115f; Dietrich, Ehre, 420 mit Anm. 4; Wilke, Ehre; Nojima, Ehre 141–144 u. passim; Grund, Schmähungen, 176–179; Poser, Scham, 138. 25 Naumann, Beschämungsdiskurse, 84–86; Föllinger, Scham, 139; Strecker, Ehre, 186–206 (in diesem Band).
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niert ja jede Gesellschaft die Überschreitung für sie wichtiger Normgrenzen und die Verfehlung von Wertvorstellungen mit potentieller Beschämung und wirkt so darauf hin, dass ihre Mitglieder ihr Verhalten, ja ihre Gefühle, schon aus Schamangst unbewusst an Rollengrenzen ausrichten, so dass man fragen kann, ob die kulturellen Variablen nur darin bestehen, wofür man sich in dieser oder jener Kultur schämt. Dass sich die Vorstellungen der Menschen des alten Israel hinsichtlich Scham und Schande von denjenigen moderner Gesellschaften unterscheiden, wird ohnehin nicht überraschen; von größerem Interesse sind daher die Besonderheiten im Verhältnis zu dessen Nachbarkulturen. Im Einzelnen geben die alttestamentlichen Überlieferungen bereits in sich ein differenziertes Bild ab.26 Dementsprechend decken die alttestamentlichen Beiträge dieses Bandes verschiedene Überlieferungsbereiche – von der Genesis über Samuel- und Prophetenbücher zu den Psalmen und der späten Weisheitsliteratur – ab. Als grundsätzliche Schwierigkeit ist zu werten, dass das Nachdenken über »Scham« hier in einem modernen, deutschsprachigen Kontext erfolgt, dass aber etwa das Biblische Hebräisch – die einschlägigen Lexeme sind bôš, klm und ḥpr – das Gefühl der Scham nicht von der sozialen Situation der Schande bzw. Schmach unterscheidet,27 darin dem englischen »shame« vergleichbar. Überhaupt stellt sich das semantische Inventar für »Scham« in Sprachen der Gegenwart und Antike alles andere als einheitlich dar. Scham kommt eher außersprachlich, am Körper und in Gesten, zum Aus26
Zu Scham/Schande in den unterschiedlichen alttestamentlichen Überlieferungsbereichen vgl. Grund, Scham; dies., Schande; dies., Schmach; Dietrich, Individualität (in diesem Band). 27 Vgl. hierzu immer noch Klopfenstein, Scham.
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druck, und wenn sprachlich, dann eher indirekt, in literarischen, künstlerischen oder abstrahierenden Verarbeitungsformen, was den Zugang zu Schamphänomenen zusätzlich erschwert.28 Zugleich können Texte durchaus von Scham handeln, ohne dass ein entsprechender Reflexionsbegriff verwendet wird.29 Der eröffnende Beitrag von Stephan Marks kennzeichnet Formen des destruktiven Umgangs mit Scham, etwa wenn diese in einem »Schambock-Mechanismus« auf marginalisierte Personen abgewälzt, als strukturelle Beschämung unsichtbar gemacht, verdrängt und über Generationen hinweg weitergegeben wird. Mit der Unterscheidung zwischen einem Zuviel an Scham und einer konstruktiv zu bewältigenden Scham bringt er ihre guten Seiten zur Geltung, wie etwa die, Wächterin der Würde zu sein. Marks analysiert Mechanismen der Scham-Abwehr von der Arroganz bis zum Zynismus, unterscheidet zahlreiche Ursachen von Schamgefühlen und plädiert schließlich für Umgangsweisen und Strukturen, in denen alle Beteiligten Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität erfahren. Martina Keppers Beitrag verdeutlicht grundlegende methodische Probleme des Zugangs zu erlebten Emotionen anhand von Texten, zumal wenn sie aus fernen Kulturen und Zeiten wie der Antike stammen. Ausdrücke des semantischen Felds »Scham« sind als Reflexionsbegriffe von unmittelbareren sprachlichen Repräsentationen von Emotionen wie etwa Interjektionen so weit entfernt, dass ihr Gebrauch, zumal im literarischen Zusammenhang, offen lässt, ob sie tatsächliche Emotionen wiedergeben oder strategisch bei den Rezipient_in28
Zur methodischen Problematik s. Kepper, Bemerkungen, passim; Strecker, Ehre, 186f (beide in diesem Band). 29 Kepper, Bemerkungen, 49f.
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nen solche evozieren wollen. Kepper verdeutlicht die Problematik sowohl am Modell des Kunstprojekts »Schamkasten« des Aktionskünstlers C. Jankowski und als auch an antiker Reflexionsliteratur, wie der großen Lehrrede über die Scham in Sir 41,14–42,5 sowie an SapSal 2 und 5. Jan Dietrich beschreibt die Scham als »Urphänomen« des menschlichen Daseins, das in unterschiedlichen historischen und kulturellen Ausprägungen zu Tage tritt. Dass Scham, die ein Bewusstsein der Bewertung durch andere impliziert und in einem komplementären Verhältnis zum Ehrgefühl steht, ein soziales Phänomen ist, zeigt sich auch daran, dass die hebräischen Ausdrücke des Wortfeldes Scham/Schande bôš, klm, ḥpr oder qlh als soziale Verhältnisbegriffe gelten können. In Korrespondenz zur Leibesehre wird die Leibesscham an der Minderung der körperlichen Erscheinung sichtbar. Die biblische Paradieserzählung zeigt Scham als Fähigkeit der individuellen, die prophetischen Schriften zeigen sie eher als Fähigkeit der kritischen Selbstreflexion. Thomas Naumann arbeitet den Unterschied zwischen Scham und Schuld heraus und diskutiert kritisch die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen. In der Drohrede des Propheten Natan in 2Sam 12 zeigt er auf, wie hier Davids Ehebruch und Mord als Beschämung des göttlichen Patrons gezeichnet werden, der den Angriff auf seine Ehre dadurch abwehrt, dass er nun seinerseits David beschämt. Naumann verdeutlicht die Problematik des allzu anthropopathischen Bildes eines Gottes, der nach einer sozialen Degradierung in den für patriarchale Gesellschaften typischen Wettkampf von Männern um das symbolische Kapital der Ehre eintritt. Ruth Poser unterscheidet beim ambivalenten Begriff der Scham zwischen einem traumatischen Übermaß und einem »gesunden« Maß an Scham,
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deren konstruktive Funktionen an Gen 2,4–3,24 ersichtlich werden. An Ps 69–71 und Ps 109 zeigt sie, wie dort ein öffentlicher Gegen-Raum gegen die Schamerfahrung entworfen wird, in dem die Beschämenden selbst die von ihnen zugefügte Scham erfahren, während das betende Ich die bislang versagte Anerkennung und Reintegration in die Gemeinschaft durch JHWH erlebt. JHWHs Segen erweist sich als Gegenmittel gegen ein Übermaß an Scham. Im Gegenzug gegen Beschämung wird somit nicht »Ehre«, sondern Anerkennung ersehnt. Daher ist es vielversprechend, zum besseren Verständnis der sozialen Dynamiken der Schambewältigung in den Psalmen das Anerkennungskonzept des Sozialphilosophen A. Honneth fruchtbar zu machen. Sabine Föllingers Beitrag verdeutlicht, dass Platons Sokrates zwar für eine Moral plädiert, die nicht eine von außen kommende Bewertung zum Maßstab nimmt, dass die Scham jedoch bei Platon, insbesondere in den Nomoi, weiterhin eine zentrale Rolle für die Motivierung menschlichen Handelns spielt. Da nicht jeder Bürger, wie es wünschenswert wäre, aus Einsicht in das Gute handelt, setzt Platon mit der Angst vor Scham und dem Druck der ›öffentlichen Meinung‹ auf ein gesellschaftliches Sanktionierungsverfahren anstelle nur staatlicher Strafen für Fehlverhalten. Ebenfalls in den Nomoi empfiehlt er als Gegenteil von zu großer Selbstliebe die Nachahmung eines Besseren, »ohne sich zu schämen«. Auf diese Weise wird ein ›idealer Beobachter‹, der besser als man selbst das Gute erkannt hat, verinnerlicht zu derjenigen inneren Instanz, vor der man Scham vor sich selbst empfindet. Christian Strecker führt in seinem Beitrag ein in zentrale Fragestellungen und Themen der philosophischen, psychologischen, ethnologischen und soziologischen Forschungsdiskussion zur Scham und
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mit ihr gepaarte Begriffe wie Schuld und Ehre. Auch wenn die Kritik an einer allzu schematischen Anwendung der Parameter einer Ehr-Kultur durch B. Malina und die so genannte »Context Group« an die römische Welt berechtigt ist, ist doch die Orientierung an Scham/Schande und Ehre in der griechisch-römischen Kultur als Kontext der neutestamentlichen Schriften ernst zu nehmen. Nach Röm 1,16 und 1Kor 1,18–25 »ent-schämt« Gott als letztgültige Instanz den Kreuzestod, mit der Folge, dass die Getauften nicht mehr zur Welt der Ehre ihrer Umwelt, sondern zu einer Welt gleicher Würde gehören. Claudia Janssen arbeitet die Bedeutung von Ehre und Scham/Schande im römischen Imperium am Beispiel der ikonographischen Inszenierung von männlich konnotierter Ehre und von Beschämung unterlegener, un-männlich dargestellter Feinde heraus und zeigt strukturelle Beschämung als bewusste Herrschaftsstrategie auf. Dagegen ruft Paulus in 1Kor 4 die Gemeinde zur Solidarisierung mit den Gesandten Gottes auf, die wie die Todgeweihten in der Arena und als »un-men« behandelt werden, macht damit die entsolidarisierende Wirkung struktureller Beschämung sichtbar und unterläuft sie zugleich. An diesen Erniedrigten, die darin dem gekreuzigten und auferstandenen Messias ähnlich werden, wird vielmehr Gottes dynamis erkennbar, zugunsten der Überwindung imperialer Gewaltund Unrechtsstrukturen. Maria Sibylla Lotters Beitrag erkundet an Studien des Philosophen und Kunsttheoretikers Stanley Cavell die Bedeutung der Scham für die Entwicklung einer selbstverantwortlichen, individualisierten Lebensführung. Cavell arbeitet modellhaft die Bedeutung der Scham am Beispiel von Shakespeares King Lear heraus, der, seiner Identität und seines Wertes ohne den Status der Königswürde unsicher, der echten Liebe der Cordelia nicht ver-
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traut und aus Scham und Selbstschutz vor Enttäuschung vor ihr flieht, während Cordelia ihrerseits aus Scham die kostbare Liebe zu ihrem Vater durch Verweigerung einer öffentlichen Liebesbekundung zu schützen sucht. Cavells an Emerson und Nietzsche anschließendes Konzept verdeutlicht die Bedeutung der Scham für die moralische Entwicklung, die u.a. darin besteht, sich einer konformistischen sozialen Identität zu schämen und aus Scham über soziale Beschämtheit zu einem Streben nach Selbstveränderung zu gelangen. Ulrike Wagner-Rau legt neuere Einsichten zum Zusammenhang von Religion und Gefühl zugrunde, um ambivalente Auswirkungen von Scham in der christlichen Religionspraxis aufzuzeigen, wie etwa bei der Vorstellung eines die geheimsten Regungen und Nöte der Glaubenden erfassenden Gottes – ein Gottesbild, das in Wechselwirkungen mit anderen Beziehungserfahrungen treten und sich auf das Selbstbild auswirken kann. Die Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten erscheint im christlichen Kontext zwar als unvermeidbar, birgt aber die Gefahr, dass die Glaubenden in eine Art Dauerscham versetzt werden. Wagner-Raus Relecture einer religiösen Rede Paul Tillichs zeigt, dass Beschämung und gütige Anerkennung als paradoxe, aber zugleich notwendig aufeinander bezogene Seiten des christlichen Gottesbildes zu verstehen sind. Der Tenor der Beiträge bleibt gegenüber der Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen zurückhaltend, ohne dass sich eine Bereitschaft zu einem Verzicht auf sie abzeichnet, zumal ihr weiterhin eine mindestens heuristische Bedeutung zuerkannt wird. So behält auch P.L. Bergers Unterscheidung einer an prinzipieller Gleichheit aller orientierten Welt der Würde und einer agonalen, soziale Distinktion und Antagonismen schaffenden
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Welt der Ehre30 ihr Recht. Bei einer differenzierten Sichtweise kann zugleich festgehalten werden, dass in spätmodernen westlichen Gesellschaften Welt der Würde und Welt der Ehre einander durchaus durchdringen und miteinander ringen. Denn auch hier wird im Zuge zunehmender sozialer Differenzierung eine agonale Welt der Ehre untergründig akzeptiert und kultiviert, während in vielen Zusammenhängen nur vordergründig Anschluss an eine humanistische, auch an christlichen Traditionen orientierte Kultur der Würde gesucht wird. Kritik hieran gilt nicht dem Grundsatz »Ehre, wem Ehre gebührt«, sondern intendiert eine Reflexion darüber, welche Verhaltensweisen tatsächlich mit Ansehen belohnt werden sollten. Auch in gegenwärtigen »westlichen« Lebenswelten ist die konstruktive Seite der Scham, als Entwicklungsanreiz verarbeitet werden zu können, in ihrer Bedeutung für die Herausbildung von Moral von größerer und noch weiter aufzuklärender Bedeutung. Im Unterschied zu einer westlichen Philosophie der Moderne, die an einem von der Sozialität gelösten Selbstbewusstsein des »Ich denke« orientiert ist und die Scham eher als Ausdruck einer unerwünschten Sozialabhängigkeit ansieht, stellt sich heraus, dass Menschen auch in so genannten Schuldkulturen moralische Verantwortlichkeit gewinnen, »indem sie sich die normativen Erwartungen der anderen so zu eigen machen, dass sie sich an ihnen wie an eigenen orientieren«, so dass »in den meisten Kulturen Mechanismen der Außen- und Innensteuerung des Handelns aufeinander bezogen sind, wenn auch in kulturell beträchtlich differenten Gewichtungen«.31 Die von Emerson und Nietzsche skizzierte Scham über dis-
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Vgl. Strecker, Ehre, 196.215. Naumann, Schamdiskurse, 86 (in diesem Band).
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tanzlose Rollenerfüllung32 zeigt, dass die Orientierung am Ideal einer selbstverantwortlichen und individualisierten Lebensführung in der Moderne den Status einer normativen Erwartung erreicht hat. Erfüllt werden kann dies paradoxer Weise nur, wenn die über Rollenerwartungen hinausstrebende Selbstveränderung vor allem aus Scham vor sich selbst33 vollzogen wird, die offenbar eine wichtige Fähigkeit des reifen Menschen ist. Neutestamentliche Schriften wie die paulinischen Briefe nehmen im Kontext der Kultur der Ehre des römischen Reiches eine Umwertung des schändlichen Kreuzestodes zugunsten der Etablierung einer Welt der Würde vor. Auch heute vermag der Glaube, dass Gott im Gekreuzigten selbst als zutiefst Beschämter erscheint, Erniedrigte in den Zusammenhang des Heils einzubeziehen und eine Gegenwelt gegen Beschämungen zu etablieren.34 Maßgebliche alttestamentliche Überlieferungen gehören dabei zu den Grundlagen einer Würde-Orientierung wie bei Paulus, etwa wenn Ehre und Pracht (kābod wehādār) in Ps 8,6 als Gabe Gottes oder wenn die Imago Dei (Gen 1,26–28) als unverlierbare Bestimmung für alle Menschen geltend gemacht wird. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Einsicht, dass etwa in den Psalmen durchaus nicht Ehre, sondern Anerkennung und Integration in eine intakte Gemeinschaft als heilvolles Gegenerlebnis gegen Beschämung ersehnt werden.35 So ist es auch heute wichtig, eine sich an humanistische und jüdischchristliche Traditionen anschließende Kultur der Würde zur Geltung bringen, in der bewusst auf 32 33
Lotter, Dynamik, 239. Lotter, Dynamik, 241f.244; Föllinger, Bedeutung, 153.156f; Wagner-Rau, Spielarten, 260–262 (in diesem Band) 34 Poser, Beschämung, 128–130 u. passim; Wagner-Rau, Spielarten, 259 (in diesem Band). 35 Poser, Beschämung, 131f (in diesem Band).
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strukturelle, habituelle oder strategische Beschämungen verzichtet wird, in der Scham und Beschämung aufgearbeitet werden und in der das Potential der Scham zum Tragen kommt, Wächterin der Würde zu sein.
Literatur Beschämung – Ressentiment – Vergeltung, Psyche 62 2008 (Sonderheft) Albers, R.H., Shame. A Faith Perspective, New York 1995 Appiah, A., Eine Frage der Ehre oder wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011 Bammel, C.M., Aufgetane Augen – Aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch, Öffentliche Theologie 19, Gütersloh 2005 Bastian, T., Der Blick, die Scham, das Gefühl. Eine Anthropologie des Verkannten, Göttingen 1998 Bauks, M. / Meyer, M. (Hg.), Zur Kulturgeschichte der Scham (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 9), Hamburg 2011 Bechtel, L.M., Shame as a Sanction of Social Control in Biblical Israel: Judicial, Political, and Social Shaming, JSOT 49, 1991, 47–76 – The Perceptive of Shame within the Divine-HumanRelationship, in: L.M. Hopfe (Hg.), Uncovering Ancient Stones (Essays in memory of H.N. Richardson), Winona Lake / IN 1994, 79–92 Berger, P.L. / Berger, B. / Kellner, H., Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a.M. [u.a.] 1975 Bologne, J.C., Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls, Weimar 2001 Burkhart, D., Ehre. Das symbolische Kapital, München 2002 – Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt 2006 Botha, P.J., Shame and the social setting of Psalm 119, Old Testament Essays 12, 1999, 389–400 – Honour and shame as keys to the interpretation of Maleachi, OTEs 14, 2001, 392–403 Crüsemann, F., Was ist und wonach fragt die erste Frage der Bibel? Oder: das Thema Scham als »Schlüssel zur Paradiesgeschichte«, in: Fragen wider die Antworten. FS J. Ebach, hg. v. K. Schiffner u.a. (2010) 63–79
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Stephan Marks
Menschenwürde und Scham
Salman Rushdie vergleicht die Scham mit einer Flüssigkeit, die aus Automaten gezogen wird: »Sie drücken den richtigen Knopf, und ein Becher plumpst unter einen pissenden Strahl der Flüssigkeit«.1 Was passiert jedoch, wenn zu viel Flüssigkeit aus dem Automaten strömt oder wenn der Becher verschüttet wird? Viele Kulturen, aber auch Organisationen, Schulen usw. haben eine kleine Teilgruppe auserwählt, deren Aufgabe es ist, die Scham, die zu viel ist – die keiner will, zu der sich keiner bekennt – aufzusaugen und zu verkörpern. Und »obwohl sie unser Schmutzwasser aufnehmen«, so Rushdie weiter, haben wir »keine sehr hohe Meinung von ihnen.«2 Etwa von den Parias (Unberührbaren) in hinduistischen Gesellschaften; von den Hochlandbewohnenden (aus Sicht der Bewohnenden der Küstenregionen) Perus; von den Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus; kurz: von »diesen Leuten«, die von einer Gesellschaft oder Gruppe ausgegrenzt werden als »Scham-Böcke«. Der Mechanismus ist ähnlich wie bei den »SündenBöcken« (nur hat Scham häufig nichts mit Sünde oder Schuld zu tun): eine unangenehme, schmerzhafte Emotion wird entsorgt.
1 2
Rushdie, Scham, 145. Rushdie, Scham, 145.
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Stephan Marks
Auf diese Weise wurde die Scham in unserer Gesellschaft zu einem Nicht-Thema. Der Nachteil ist, dass dadurch auch ihre konstruktiven Aufgaben aus dem Blick geraten. Denn Scham ist zwar schmerzhaft, hat jedoch auch positive Funktionen, sie ist, in Anlehnung an Leon Wurmser, die Hüterin der Menschenwürde.3 Um diese Funktion fruchtbar zu machen, ist es notwendig, die Scham aus der Tabu-Zone zu holen. Viele Menschen empfinden den Begriff der Menschenwürde als wichtig, aber abgehoben, diffus, abstrakt. Dies liegt m.E. auch daran, dass er traditionell vor allem von Juristen, Philosophen und Politikern, nicht jedoch von Psychologen gefüllt wurde. So wird er im Grundgesetz und in der MenschenrechtsErklärung vor allem als Gegenkonzept gegen die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus verstanden, d.h. negativ, als Verbot von Menschenversuchen, Folter, Massenmord usw. Dies ist wichtig, ist jedoch vom Alltag vieler Bundesbürger recht weit entfernt.
Seit einigen Jahren gibt es jedoch auch psychologische Forschung über die Würde, namentlich über diejenige Emotion, die psychologisch für die Würde ›zuständig‹ ist: Scham. Ich möchte hier also die Würde aus scham-psychologischer Sicht zu einem positiven, alltagstauglichen Begriff konkretisieren.4 Rushdie schildert weiter, wie die Scham der Eltern in die Seele des Kindes abgefüllt wird:5 Ein patriarchalischer Vater blickt sein Erstgeborenes voller Wut und Verachtung an, weil es »nur« ein Mädchen ist. Daraufhin errötete das Baby. Es wächst geistig behindert heran und wird schließlich zur Mörderin. In dieser Szene sind schon einige wichtige Aspekte der Scham geschildert: Ihre Entwicklung beginnt sehr früh, schon der erste Kontakt mit den 3 4 5
Wurmser, Maske. Vgl. Marks, Würde. Rushdie, Scham, 107f.
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Eltern ist bedeutsam. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Blick; wesentlich ist, ob das Kind mit Liebe oder mit Verachtung angeschaut wird. Scham hängt auch von den Werten und Erwartungen der Eltern bzw. Gesellschaft ab; hier ist es das Patriarchat und die Erwartung, dass das Erstgeborene ein Junge sein soll. Scham wird häufig von oben nach unten weitergereicht, von den Stärkeren auf die Schwächeren. Diese Weitergabe von Scham geschieht transgenerational und kann über viele Generationen, über Hunderte von Jahren geschehen. So ist z.B. in Lateinamerika deutlich zu beobachten, wie die massive Entwürdigung, die die Spanier über die Urbevölkerung brachten, bis heute noch sehr lebendig ist in Form von Schamgefühlen vieler Lateinamerikaner, z.B. darüber, die ›falsche‹ (dunkle) Hautfarbe oder einen ›falschen‹ (indianischen) Namen zu haben usw. An anderer Stelle verfolge ich die »deutsche Scham« bis mindestens zum großen Trauma der Deutschen, dem Dreißigjährigen Krieg, zurück.6 An dieser Weitergabe von Scham beteiligen sich viele Einrichtungen einer Kultur, oft von der frühkindlichen Erziehung bis hin zu Schule, Hochschule, Berufsausbildung, Militär, Medien u.v.a. Diese Weitergabe geschieht in personaler Weise (z.B. durch beschämende Worte, verächtliche Gesten, Mimik, Blicke), oft aber auch in einer Form, die nur schwer wahrnehmbar ist, weil sie alltäglich ist und auf Strukturen, Institutionen, Werten, Normen und Diskursen basiert. In Anlehnung an Johan Galtung7 bezeichne ich dies als strukturelle Beschämung. Dazu noch einmal Rushdie: »Scham ist wie alles andere; leben Sie nur lange genug damit, und sie wird Teil des Mobiliars.« Man findet sie »in jedem Haus; 6 7
Marks, Würde. Galtung, Gewalt.
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sie brennt im Aschenbecher, hängt gerahmt an der Wand, liegt als Decke auf dem Bett. Doch niemand nimmt sie mehr wahr. Und alle sind wohlerzogen.«8 Nach diesem literarischen Einstieg möchte ich nachfolgend einige grundlegende Informationen aus Sicht von Psychologie, Sozialpsychologie und Gehirnforschung vorstellen; ich beziehe mich dabei vor allem auf Léon Wurmser, Micha Hilgers, Michael Lewis, Donald Nathanson, Allan Schore und Boris Cyrulnik.9 Scham ist universell. Alle Menschen kennen dieses Gefühl; es gehört zum Mensch-Sein, auch wenn es individuell verschieden ausgeprägt ist.10 Scham ist auch verschieden ausgeprägt je nach Alter sowie nach Geschlechts- und Kultur-Zugehörigkeit. Scham ist ein sehr peinigendes Gefühl, das selten in Worte gefasst wird. Sie ist eng mit Körperreaktionen verbunden: Erröten, Senken des Blicks, Sich-Zurückziehen oder Im-Erdboden-versinkenWollen. So zeigt auch die Körpersprache, dass der Mensch im Zustand der Scham ganz um sich selbst kreist, wie ein Igel, der sich zu einer Kugel zusammenrollt.11 Scham trennt und isoliert – jedenfalls, solange sie unbewusst ist. Unter Scham verstehe ich eine Gruppe von Gefühlszuständen, die von kurz bis dauerhaft, von oberflächlich bis intensiv reichen können: Von leichter Peinlichkeit oder Verlegenheit bis hin zu 8 9
Rushdie, Scham, 33. Nathanson, Timetable (1987); Lewis, Scham (1993); Wurmser, Maske (1997); Hilgers, Scham (1997), Schore, Experiences (1998) und Cyrulnik, Scham (2011). 10 Diese Unterschiede werden von Cyrulnik, Scham, 122, erklärt aus dem Zusammenwirken gesellschaftlicher, epigenetischer und genetischer, den Serotoninspiegel regulierenden, Faktoren. 11 Riedel, Igel.
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chronischen, abgrundtiefen Selbstwertzweifeln, dem Gefühl, »der letzte Dreck« zu sein. Scham und Beschämung sind zu differenzieren. Erstere ist eine eigene Leistung der sich-schämenden-Person, die es anzuerkennen gilt. Sie ist eine natürliche Reaktion (z.B. wenn ein junger Mensch Unrecht begangen hat) und potentiell Anstoß für seelisches Wachstum. Demgegenüber fordert jedoch die Tradition der »schwarzen Pädagogik«12, dass z.B. ein sich schämender Schüler noch zusätzlich beschämt, verspottet, angeprangert, beschimpft oder ausgegrenzt werden sollte. Dadurch kann leicht ein gefährliches Zuviel an Scham entstehen, welches ihre Entwicklungs-Impulse blockiert. Denn es ist wichtig, zwischen einem gesunden Maß an Scham und einem pathologischen ›Zuviel‹ zu unterscheiden. Gesunde Scham kann von Betroffenen noch verarbeitet und integriert werden, d.h. ihre Entwicklungs-Impulse können wahrgenommen werden. Pathologische Scham bedeutet jedoch, dass die sich schämende Person von Schamgefühlen wie überflutet wird (»die Scham hat mich«). Einen Fehler gemacht zu haben wird dann erlebt als »ein Fehler sein«. Den Unterschied möchte ich am Beispiel zweier Jugendlicher illustrieren, die durch das Abitur gefallen sind und sich dafür schämen. Der eine nimmt daraufhin Nachhilfekurse, lernt und übt, so dass er ein Jahr später ein hervorragendes Abitur schafft; der andere geht auf den Dachboden und erhängt sich. Beim einen Schüler konnte die Scham konstruktiv zu einem Entwicklungs-Impuls werden; beim anderen wirkte sie ganz selbstdestruktiv. Beide Beispiele zeigen, wie machtvoll diese Emotion ist.
12
Rutschky, Pädagogik.
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Im Zustand von heftiger, akuter Scham werden andere, primitivere neuronale Systeme aktiviert als in Situationen, in denen wir Würde erfahren. Dies ist wie ein »Schock, der höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen bringt«.13 Vernünftiges Denken ist dabei nicht möglich: Scham macht das, was umgangssprachlich »dumm« genannt wird. Wenn zum Beispiel eine Schülerin vorne an der Tafel steht und ausgelacht wird, dann kann sie die Physik-Formel nicht erinnern, auch wenn sie diese bis vor wenigen Minuten wusste. Die höheren Gehirnfunktionen werden durch das vegetative Nervensystem (das so genannte primitive »Reptilienhirn«) in den Hintergrund gedrängt. Dieses ist ganz darauf ausgerichtet, der Angstquelle zu entkommen (tatsächlich werden unter Scham dieselben Gehirnregionen aktiviert wie bei existenzieller Angst). Alles Verhalten ist reduziert auf primitive Schutzmechanismen: Angreifen, Fliehen oder Verstecken. Das vegetative Nervensystem kontrolliert die grundlegenden körperlichen Funktionen wie Herz, Atmung, Verdauung und Stoffwechsel. Es besteht aus dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem (auch als Sympathikus und Parasympathikus bezeichnet). Ersteres wirkt aktivierend, Letzteres deaktivierend; normalerweise sind beide antagonistisch tätig. Der Sympathikus verstärkt bei Stress die Funktionen, die den Körper in erhöhte Handlungsbereitschaft bringen: Puls, Blutdruck und Blutglukosespiegel steigen, um schnell mehr Energie verfügbar zu machen. Nach Beendigung der Stress-Situation bekommt der Parasympathikus ein Übergewicht; Puls und Blutdruck werden langsamer, der Glukosespiegel im
13
Nathanson, Timetable, 26.
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Blut sinkt, dadurch stellt sich der Organismus auf Erholung ein.14 Im Zustand der Scham besteht nun, so Allan Schore, ein extrem fehlregulierter Zustand, in dem Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig erhöht sind: man ist extrem aktiv und zugleich extrem passiv.15 Dies erklärt Reaktionen wie das Erröten oder Schwitzen, das Zusammensacken des Körpers, den Abbruch der Beziehungen, die intellektuelle Verwirrung etc. Weil die Scham so unerträglich und neurobiologisch ein extrem instabiler Zustand ist, springen wir häufig aus der Scham in eine andere, weniger unerträgliche Verhaltensweise. Ziel ist es, die Scham »los« zu werden: Schamlosigkeit. So beobachteten wir z.B. in einer kleinen Studie, wie ein Junge im Sportunterricht ausgelacht wird und kurz darauf einen Mitschüler brutal tritt. Für diesen Jungen und für alle Zeug/-innen könnte diese Situation eine wichtige Lernchance sein – wenn sie aufgearbeitet würde, da in Schamgefühlen wesentliche Entwicklungs-Impulse verborgen sind. Diese werden jedoch oft nicht wahrgenommen: Weil Heranwachsende nur selten ein Umfeld vorfinden, dass sie darin unterstützt oder indem die Chancen durch zusätzliche Beschämungen verschüttet werden. Werden diese Entwicklungs-Impulse wiederholt verbaut, besteht die Gefahr, dass Heranwachsende stattdessen bestimmte Strategien (»Masken«) erlernen, um sich – akut oder prophylaktisch – vor Schamgefühlen zu wappnen, z.B. durch herrisches Auftreten oder durch Vermeidung bestimmter Situationen. Aus diesem Grund ist Scham oft nur schwer zu erkennen: weil sie sich hinter anderen Verhaltensweisen verbirgt. Einige verbreitete For-
14 15
Marks, Psychologie, 66f. Schore, Shame.
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men von Scham-Abwehr möchte ich kurz vorstellen: Projektion: Andere werden mit den Eigenschaften ausgestattet, für die man sich selbst schämt; z.B. »schwache« Gefühle. Projiziert auf Andere wird daraus: »Schwächling«. Beschämung: Um die eigene Scham nicht zu fühlen, werden Andere gezwungen, sich zu schämen. Dazu werden sie verhöhnt, entwürdigt, schikaniert, verachtet, wie Luft behandelt, zu Objekten gemacht, ausgegrenzt oder vernichtet. Negativismus: Man zeigt keine »schwachen« Gefühle (wie z.B. Hoffnung, Mitgefühl, Liebe oder Trauer), weil das verletzbar machen würde. Stattdessen zeigt man sich nur skeptisch, zynisch, abwertend (»das bringt ja alles nichts«). Arroganz: Man verbirgt seine Unsicherheit oder Selbstwertzweifel hinter einer Fassade, z.B. einem protzigen Auto oder betont machohaftem Verhalten. Wut, Trotz, Gewalt: Aus passiv wird aktiv, aus Ohnmacht wird Macht. Man ist lieber ein Täter als Opfer. Beweisen bzw. Wiederherstellen der eigenen Ehre: Kategorien wie »Schande« und »Ehre« haben in so genannten »Scham-Kulturen« oberste Priorität. Für ihre Ehre ziehen Männer in den Krieg oder ermorden ihre geliebte Tochter (»Ehrenmorde«). In so genannten »Schuld-Kulturen« sind diese Mechanismen eher latent wirksam (zu beobachten z.B. bei Männern in ländlichen Diskotheken oder bei rechthaberischen akademischen Disputen). Die bisher genannten Formen von Scham-Abwehr richten sich gegen Andere, sie sind traditionell eher typisch für Jungen und Männer. Die folgenden Formen sind gegen die eigene Person gerichtet, traditionell eher charakteristisch für Mädchen und Frauen; einige Beispiele:
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Anpassung, Disziplin, Selbstaufgabe: Die betreffende Person sucht mögliche Beschämungen zu vermeiden, indem sie sich duckt, unsichtbar macht, ihr »Licht unter den Scheffel stellt« (»ich bin ja sowieso nicht kreativ«) – auch auf die Gefahr hin, sich damit viele Lebenschancen zu verbauen. Rechtfertigen, Ausreden, Lügen: Um jeden Preis muss die Scham vermieden werden, z.B. bei einem Fehler ertappt zu werden. Daher muss dieser durch alle möglichen sprachlichen Manöver kaschiert werden. Ehrgeiz kann ein konstruktiver Weg sein, sich vor Scham zu schützen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Abwehr nicht generell pathologisch, sondern auch gesund sein kann. So beobachtete der Psychologe George Vaillant anhand von biographischen Daten aus sieben Jahrzehnten, wie sich z.B. der Zynismus eines Jugendlichen, den dieser aufgrund traumatischer Erfahrungen entwickelt hatte, im weiteren Verlauf seines Lebens auswachsen und zu einem wunderbaren Humor wandeln konnte.16 Perfektionismus ist eine übersteigerte Form von Ehrgeiz, die dazu führen kann, dass ein Mensch bis zur Selbstdestruktion arbeitet (»Ich werde nur dann nicht ausgelacht, wenn ich perfekt bin«). Offenkundig spielt diese Abwehrform den vielfältigen Industrien in die Hände, die den Konsumierenden perfekte Haare, perfekte Haut, einen makellosen Körper usw. zu verkaufen suchen. Abbruch der Beziehung, emotionale Erstarrung: Man steigt aus einer emotional gefährlichen Situation aus und macht ›dicht‹, zeigt sich nach außen ›cool‹. Man friert sein Gefühlsleben ein; dies kann zu Depression führen, im Extrem bis zum Suizid. Wenn rot die Farbe der Scham ist, dann ist mancher Betroffener »lieber tot als rot«. 16
Shenk, Leben.
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Sucht: Schamgefühle werden durch den Konsum von Suchtmitteln betäubt – wofür man sich wiederum schämt (diese Scham wird nicht selten von Mitmenschen verstärkt, indem Sucht als Willensschwäche bewertet wird) – ein Teufelskreis. Diese unvollständige Aufzählung veranschaulicht, dass abgewehrte Scham häufig die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftet. Wenn z.B. das Klima einer Schule durch Beschämungen, Verachtung, »Coolness«, Gewalt oder »Sich-kleinMachen« beherrscht wird, dann ist Lernen, Wachstum, Entwicklung blockiert. Daher ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass in der Arbeit mit Menschen kein Zuviel an Schamgefühlen entsteht. Es geht nicht darum, die Scham ›los‹ zu werden (»Schamlosigkeit«)! Zwar können z.B. Seelsorgende oder Beratende nicht vermeiden, dass manche Klient/-innen mit Schamgefühlen in die Beratung kommen. Bereits »die Inanspruchnahme psychotherapeutischer oder psychiatrischer Hilfe stellt in der Regel an sich schon eine erhebliche Schamquelle dar«, so Micha Hilgers.17 Nicht selten mag dieses Gefühl, manifest oder latent, hinter dem Wunsch nach Hilfe stehen. Es ist auch nicht zu vermeiden, dass während der Beratung oder Therapie Schamgefühle ausgelöst werden. Dies ist, noch einmal Hilgers,18 häufig der Fall, wenn ein Mensch neue Einsichten über sich selbst, über Verborgenes, Unbewusstes, Neues, gewinnt. Umso notwendiger ist es, dass Beratung oder Therapie ein Ort ist, in denen die Klient/-innen nicht auch noch zusätzliche, überflüssige Scham erfahren. Es sollte, zugespitzt formuliert, vermieden werden, dass Berater oder Therapeuten ihr eigenes Zuviel an Scham dadurch ›los‹ zu werden suchen, 17 18
Hilgers, Scham, 45. Hilgers, Scham.
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indem sie dieses (bewusst oder unbewusst) an ihre Klienten weitergeben. Was dies im Einzelnen bedeutet, möchte ich nachfolgend verdeutlichen. Dabei möchte ich die Scham differenzierter betrachten, denn Scham ist nicht gleich Scham. Es ist m.E. hilfreich, vier Themen oder Grundformen der Scham zu unterscheiden (auch wenn diese im Einzelfall ineinandergreifen können): Erstens, Schamgefühle infolge von Missachtung: Axel Honneth zeigt die grundlegende Bedeutung von Anerkennung.19 Dieses Grundbedürfnis wird verletzt, wenn Menschen – in personaler oder struktureller Form – missachtet, wie Luft behandelt, übersehen, ignoriert, beschämt oder verachtet werden. Inmitten von Milliarden Mitmenschen auf dem kleinen Planeten Erde sind solche Erfahrungen unvermeidbar und – in gesundem Maße – konstruktiv (z.B. insofern Heranwachsenden daraus lernen, sich aktiv um Anerkennung sowie SelbstAnerkennung zu bemühen). Es gibt jedoch Menschen mit massiven Defiziten an Anerkennung, z.B. aufgrund früher Missachtungen, wie sie durch die deutsche Erziehungstradition (am deutlichsten formuliert von Haarer20) systematisch erzeugt wurden. Sie sind in besonderer Weise gefährdet, einen maßlosen Hunger nach Anerkennung zu entwickeln. Sie sind später vielleicht zu allem bereit, um gesehen zu werden (dies erklärt z.B. die besondere Bedeutung von Hitlers Blick, von dem NS-Anhänger/-innen noch Jahrzehnte später in Interviews schwärmen). Einem Menschen vermeidbare Scham zu ersparen bedeutet, zusammengefasst, ihm mit einer Haltung von Anerkennung zu begegnen. 19 20
Honneth, Kampf. Haarer, Mutter (1934).
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Zweitens, Schamgefühle infolge von Grenzverletzungen: Diese bleiben zurück, wenn das Grundbedürfnis nach Schutz missachtet wurde; wenn ein Mensch seelisch oder körperlich zu viel von sich gezeigt hat; wenn etwas öffentlich wurde, was privat, intim ist.21 Normalerweise, eine gesunde SchamEntwicklung vorausgesetzt, lernt der Mensch, seine Intimitäts-Grenzen zu regulieren (»Was kann ich in dieser Situation zeigen? Was muss ich dort verbergen?«). Diese schützende Funktion kann jedoch beschädigt sein, wenn jemand massive Verletzungen seiner Grenzen erlebt hat, etwa durch Missbrauch, Vergewaltigung oder Folter. Einem Menschen vermeidbare Scham zu ersparen bedeutet, ihm einen geschützten ›Raum‹ zur Verfügung zu stellen, in dem seine körperlichen und seelischen Intimitätsgrenzen respektiert werden. Drittens, Schamgefühle infolge von Ausgrenzung: Diese werden ausgelöst, wenn das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit verletzt wird, z.B. wenn jemand »peinlich« war oder den Erwartungen von Familie, Gruppe oder Gesellschaft nicht entspricht und ausgegrenzt wird. Weil in Deutschland insbesondere ›Schwäche‹ verachtet wird, schämen sich viele Menschen für Krankheit, Armut, Alter, Behinderung, Depression, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung oder berufliches Scheitern. Die Erfahrung von Peinlichkeit gehört zum Menschsein. Dies ist konstruktiv, weil man daraus lernt, sich künftig – je nach Situation – angemessen zu verhalten, z.B. sich situationsgerecht zu kleiden. Es gibt jedoch Menschen, die massive Ausgrenzungen erlitten haben. Sie stehen in Gefahr, einen Hunger nach Zugehörigkeit – um jeden Preis – zu entwickeln; so übermächtig, dass sich daneben die Stimme des Gewissens nur schwach entwickeln kann, einer 21
Schüttauf/Specht/Wachenhausen, Drama.
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Gruppen-Erwartung zu widerstehen: »Nein, dies ist Unrecht, da mache ich nicht mit!« Einem Menschen überflüssige Scham zu ersparen bedeutet, ihm Zugehörigkeit zu vermitteln. Viertens, Schamgefühle durch Verletzung der eigenen Integrität: Diese Scham wird ausgelöst, wenn ein Mensch gegen das eigene Gewissen gehandelt hat, Unrecht getan hat, zum Täter geworden ist; wenn er sein Grundbedürfnis nach Integrität verletzt hat. Sie bleibt auch zurück, wenn ein Mensch sich selbst etwas schuldig geblieben ist, z.B. seinen Lebens-Sinn verpasst. Oder wenn jemand Zeuge von Unrecht geworden ist, z.B. wenn ein Kollege oder eine Kollegin vom Vorgesetzten ungerecht behandelt wird und ich dazu schweige aus Angst um meinen Job. Nur bei dieser Scham geht es um Schuld, alle zuvor genannten Formen haben nichts mit Schuld zu tun: Menschen die missachtet, missbraucht oder ausgegrenzt werden sind nicht schuldig! Auch diese »Gewissens-Scham« ist konstruktiv, sie dient »dem Schutz innerer Werte«.22 Denn sie spornt Menschen, die schuldig geworden sind, dazu an, durch Schuldeinsicht und Reue moralisch zu wachsen und sich zu versöhnen durch Bitte um Entschuldigung und Wiedergutmachung. Einem Menschen vermeidbare Scham zu ersparen bedeutet, ihm einen ›Raum‹ zur Verfügung zu stellen, in dem er integer sein darf, in dem er sich nicht ›krumm‹ machen muss, in dem er sich treu bleiben kann. Zusammengefasst ist Scham wie ein Seismograph, der anzeigt, wenn eines der genannten Grundbedürfnisse – Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit, Integrität – verletzt wurde. Die Würde eines Menschen zu achten, bedeutet aus schampsycholo22
Gieler u.a., Scham, 33.
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gischer Sicht: ihm oder ihr überflüssige, vermeidbare Scham zu ersparen; d.h. einen ›Raum‹ zur Verfügung zu stellen, in dem er oder sie Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität erfährt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass z.B. in der Seelsorge oder Beratung Selbsterkenntnis und seelische Entwicklung möglich sind; dass auch Scham-Erfahrungen anerkannt und ihre Entwicklungs-Impulse wahrgenommen werden können. Ich stelle mir die vier Themen der Scham wie ein Mobile vor, das in jeder Lebenssituation neu ausbalanciert werden muss. In Fortbildungen berichten Berufstätige häufig von solchen Konflikten zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Integrität: »In meiner Einrichtung geschieht Unrecht. Aber wer sich dagegen ausspricht, der ist sofort ›draußen‹. Darum halte ich meinen Mund und schäme mich dafür.« Was tun? Für einen bewussten und konstruktiven Umgang mit Scham ist es, erstens, wichtig, die eigenen Erfahrungen und den eigenen Umgang mit ihr zu reflektieren. Denn in jeder Arbeit mit Menschen kann die eigene Scham-Geschichte aktualisiert werden. Wer sich dessen nicht bewusst ist, steht – insbesondere unter Stress – in Gefahr, das eigene Scham-Schicksal am Anderen zu wiederholen. Darüber hinaus ist die Scham in besonderer Weise gegenübertragungsmächtig. So teilen sich Schamgefühle (z.B. aufgrund einer Peinlichkeit) auch den Zeugen der peinlichen Szene mit.23 Das Wahrnehmen von Schamgefühlen kann für die therapeutische Tätigkeit diagnostisch hilfreich sein – allerdings nur, wenn beide Seiten von Gegenübertragungen wahrgenommen werden: eigene Anteile und die übertragenen Anteile des Gegenübers.24 23 24
Krach u.a., Flaws. Gysling, Antwort.
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Es gilt, zweitens, aufmerksam zu sein für die Schamgefühle, die Patient/-innen oder Klient/-innen in die Beratung mitbringen. Mit dem Wissen über die Scham und ihre Abwehr-Formen wird es vielleicht möglich, hinter ihren Masken (z.B. emotionaler Erstarrung) ihre abgrundtiefe Angst wahrzunehmen, denn nichts weniger ist die Scham. Dabei birgt jede Arbeit mit Menschen ihre spezifischen Gefahren und Chancen. So besteht z.B. bei Beratung oder Therapie die Gefahr, dass IntimitätsGrenzen verletzt werden, etwa durch vorschnelle ›Deutungen‹ oder gutgemeinte Ratschläge. Positiv gewendet, bietet jede beraterische ›Schule‹ oder ›Methode‹ ihre je spezifischen Chancen, den Klient/-innen Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität zu vermitteln. Diese Chancen gilt es ganz konkret herauszuarbeiten, z.B. in Bezug auf die Gestaltung des Raumes, Sitzordnung, Sprache, Kleidung u.v.a. Viele Schamgefühle werden, drittens, durch die Rahmenbedingungen geschaffen, in denen Beratung oder Therapie stattfindet. Ein Beispiel: Viele Altenpflegekräfte schämen sich, weil sie durch die Strukturen des Pflegesystems gezwungen werden, alte Menschen in einer Weise abzufertigen, die sie vor ihrem Gewissen nicht vereinbaren können. Demnach wäre es wichtig, sich für Menschen würdigende Rahmenbedingungen einzusetzen: Strukturen, in denen alle Beteiligten – Beratende/ Therapierende und Klient/-innen – Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität erfahren; in denen sie sich nicht ›verbiegen‹ müssen, um vorgegebenen entwürdigenden Vorgaben gerecht zu werden.
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Stephan Marks
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Martina Kepper
Wie sagt man, was man fühlt? Linguistische Bemerkungen zur Frage der Interrelation von Sprache und Gefühl am biblischen Wortfeld »Scham«
Es dürfte ein Allgemeinplatz sein zu behaupten, Gefühle zu erleben sei die unmittelbarste und elementarste der menschlichen Eigenschaften. Wenn wir indes über Gefühle sprechen, verliert sich diese Unmittelbarkeit bereits. Wenn wir nun sogar nicht über die eigenen Gefühle reden, ist ein weiteres Stadium der Verfremdung erreicht. Und noch weiter entfernt von der tatsächlich erlebten Emotion sind wir, wenn wir anhand von Texten, und gar noch antiken Texten, über Gefühle reden. Insofern ist es nicht selbstverständlich, das Gefühl der »Scham« in der Bibel zu untersuchen. Von Seiten der Sprachforschung tut sich ein weites Feld auf. Innerhalb der Neurolinguistik wie der Spracherwerbsforschung ist der Zusammenhang von Emotion und Sprache seit langem ein Thema, wurde doch vor nicht allzu langer Zeit sogar ein »emotional turn« ausgerufen.1 Es empfiehlt sich, heuristisch zwischen zwei Weisen linguistischer Emotionswiedergabe zu unterscheiden, dem emotionalen Modus und dem emotiven.2 Beim ersteren dient die Sprache dazu, die gleichzeitig mit der sprachlichen Äußerung erlebten Gefühle zum Ausdruck zu bringen, was auch als Denotation bezeichnet wird. Der emotive Modus ist dagegen be1
Vgl. Foolen / Lüdtke / Schwarz-Friesel, Kognition, 214f.; Huizing, Scham, 27–29. 2 Begriffe nach Lüdtke/Frank, Sprache, passim.
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reits konnotierend, das heißt, die Sprache dient dazu, die erlebten Emotionen indirekt zu repräsentieren oder die repräsentierten Emotionen bei anderen hervorzurufen. Damit ist klar: Sprachlich haben wir es bei den biblischen Äußerungen über Scham ausschließlich mit dem emotiven Modus zu tun: Der Text vermittelt sprachlich die Emotion, unabhängig davon, ob der Urheber des Textes die Emotion selbst erlebt hat, im Moment des Schreibens erlebt, sie gleichsam akademisch behandelt oder gar die rein sprachlich vermittelte Emotion »benutzt«, um bei seinen Leserinnen und Lesern eine Emotion hervorzurufen.3 1. Unmittelbare Emotionsrepräsentanzen: Ein grammatikalischer Überblick Strategien zum sprachlichen Ausdruck von (erlebten) Emotionen im emotiven Modus kommen in allen Sparten der Grammatik vor, angefangen vom unmittelbaren Artikulieren, was in der Phonetik behandelt wird, über die Morphologie und Semantik bis in Syntax und Pragmatik von Texten. Als Beispiele für solche Strategien lassen sich auf dem Gebiet der Phonetik etwa die Onomatopoesie und Alliteration nennen, morphologisch ließe sich auf Diminuitive und Verstärkungspartikel verweisen. De-Personifikationen und Pejorative sind lexikalische Repräsentationen von Emotionen. Syntaktisch auffällige Fügungen wie etwa Anakoluthe oder Exklamationen transportieren ebenfalls Emotionen. 3
Theoretische Abhandlungen über Emotionen und deren Hervorrufung fehlen innerhalb des biblischen Sprachraums. Wir sind über die Bedeutung von Sprache zur Erzeugung von Emotionen allerdings aus der griechischen Antike bestens informiert. Man kann auf Aristoteles verweisen, für den diese Technik wesentlicher Bestandteil der rhetorischen Ausbildung ist, vgl. Aristoteles, Rhet. 1356a 3.
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Schließlich können auf dem Gebiet der Textpragmatik durch Verwendung von Soziolekten oder rhetorischen Fragen und ironischen Bemerkungen Gefühle zum Ausdruck gebracht werden. Für alle diese Strategien gibt es reichlich Beispiele auch im Alten Testament, allen voran die Interjektionen.4 Nicht zuletzt der schwache Stichprobenraum dieses Textkorpus bewirkt, dass die meisten allerdings polysem sind. Das onomatopoetische Wort hôy beispielsweise kann die Trauer beim Begraben ausdrücken, eine Drohung aufgrund von Schuld oder proleptisch empfundene triumphale Gefühle bezeichnen.5 Noch breiter streut sich etwa die Semantik von hæ’āḥ: Echte Freude und Lachen kann so umschrieben werden (Jes 44,16), genauso gut aber Schadenfreude (Ez 25,3) und sogar das Wiehern eines Pferdes (Hi 39,25). Da Biblisches Hebräisch auch eine eher überschaubare morphologische Varianz hat, sind Steigerungsformen und Diminuitive zwar nicht markiert, aber semantisch bzw. syntaktisch verwirklicht. In Am 7,5 wird z.B. durch ein einfaches prädikativ gebrauchtes Adjektiv Mitleid erregt6 oder durch Wiederholung Staunen oder Furcht.7 4
»Interjections are words of emotion«, JM § 105, vgl. auch GK § 105. Als Beispiel für eine modern-populäre Form der unmittelbaren Emotionsrepräsentanz ließe sich auf den scherzhaft sogenannten »Erikativ« verweisen, benannt nach Dr. Erika Fuchs, der langjährigen Übersetzerin der MickyMaus-Comics. Durch Reduktion aller Flexionsmorpheme hat sie Inflektive wie »grunz«, »stöhn« oder »gähn« geschaffen, die die Gefühle der Comic-Helden griffig umschreiben. 5 Vgl. das Vorkommen in der Leichenklage (»Ach, mein Bruder«, 1Kön 13,30), im Drohwort (»Wehe, dem sündigen Volk«, Jes 1,4) oder beim Triumphgesang (»Ha, ein Brausen vieler Völker«, Jes 17,12). 6 »Wie könnte Jakob bestehen? Er ist doch so klein!«: kî qāton hû’. 7 Vgl. die Quivis-Konstruktion dôr wādôr in Jes 58,12 bzw. Joel 2,2 und dazu JM § 136d.
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Als Beispiel für eine De-Personifikation mit dem Stichwort Scham ließe sich auf 1Sam 20,30 verweisen: Saul beschimpft seinen Sohn Jonatan auf das Übelste als Hurensohn (ben na‛ªwat hammardût). Deutsche Übersetzungen, wie z.B. die Zürcher Übersetzung von 2007, scheuen sich, die folgende Beschimpfung von Jonatans Mutter, die einen derben Ausdruck für den Genitalbereich benutzt, sprachlich nachzuahmen.8 Saul spricht hier aber genauso, wie heutige latent aggressive Jugendliche in Auseinandersetzungen untereinander die Mütter ihrer rivalisierenden Altersgenossen verunglimpfen. Pejorative als Zeichen der Entrüstung wie der Selbsterniedrigung finden sich ebenfalls.9 Die hebräische Pendens-Konstruktion, leicht mit Anakoluthen zu verwechseln,10 kann auf syntaktischer Ebene Emphase, Freude oder Aufregung ausdrücken, was ebenso für exklamatorische Syntagmen unterschiedlichster Ausführung gilt.11 Spuren textpragmatischer Repräsentation von Emotionen lassen sich ebenfalls im Hebräischen ausmachen.12 Man könnte hier z.B. auf die Funktionen von mî-Fragen verweisen, die als Modusäquivalent gelten und die Möglichkeit oder Unmög-
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Vgl. Zürcher: »... dir selbst und der Scham deiner Mutter zur Schande« (ûlěboŝæt ‘ærwat ’immækā). 9 Vgl. 1Sam 17,43 und 2Kön 8,13, wo der hebr. Begriff »Hund« (kælæb) zur (Selbst-)Erniedrigung gebraucht wird. Eine parallele außerbiblische Verwendung findet sich auf Ostrakon 5 aus Lachisch. 10 Vgl. Ex 32,1: kî zæh mošæ‛ hā‛iš ‛ªšær ... lo‛ jād’û...: Denn dieser, Mose, der Mann, der ...: wir wissen nicht ...«. Vgl. aber GK § 167, der das Beispiel nicht unter die Anakoluthe rechnet. 11 Vgl. 1Kön 13,2: mizbeªḥ mizbeªḥ: Altar! Altar! 12 Studien zur Textpragmatik und den Soziolekten des Hebräischen sind in jüngerer Zeit verstärkt erschienen, vgl. in Auswahl Miller/Zevit, Diachrony; Schniedewind, Prolegomena; ders., Social History.
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lichkeit von Handlungen oder Wünsche transportieren.13 Der knappe Überblick zeigt, dass in der Literatur des Alten Testaments sprachliche Emotionsrepräsentationen Einzug gefunden haben, wie sie auch die moderne Linguistik für die gesprochene Sprache unserer Zeit beschreibt. Damit scheint zumindest für einen Großteil der alttestamentlichen Schriften der Graben zwischen den Zeiten und Kulturen zumindest auf dem Gebiet der Emotionsrepräsentationen nicht so groß zu sein, wie man annehmen könnte. Allerdings bestehen aus linguistischer Sicht mindestens zwei größere Probleme bei der Erforschung von Emotionen in der Hebräischen Bibel: Zum einen besteht natürlich grundsätzlich das Problem der Übertragbarkeit sprachlicher Begriffe von der einen in die andere Sprache. »[E]motions cannot be investigated ›naked‹«,14 was bedeutet, dass die Sprache und Kultur des Betrachtenden den Bezugsrahmen für das Verständnis der Begriffe setzt. Zum anderen können wir bei sprachlichen Äußerungen nicht sicher sein, ob sie eine tatsächliche Emotion beschreiben oder nicht eher strategisch eine Emotion bei den Lesenden evozieren wollen, ohne auf tatsächlich Erlebtes zu rekurrieren.15 13 14
Beispiele hierfür wären Ps 14,7 oder 2Sam 15,4. Theodoropoulou, Emotion, 434. Unabhängig davon ist nochmals das generelle Problem zu sehen, dass die historischen Quellen erst in unsere Zielsprache übersetzt werden müssen, vgl. Chaniotis, Emotions, 14f. 15 Vgl. Chaniotis, Emotions, 20f. und vor allem 119f–121, mit dem Beispiel eines Dekrets der Stadt Ephesos, in dem die Stadt den Römern ihre kampflose Übergabe an König Mithridates mit der Angst vor dessen Heer erklären will, obwohl andere Quellen belegen, dass Ephesos sich eher freudig von den Römern abgewandt und Mithridates zugewandt habe. Diese Diskrepanz ist für den Historiker nur durch die Quellenlage nachvollziehbar. Den meisten der biblischen Berichte fehlt dieser »Blick von außen«.
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2. Semantische Emotionsrepräsentanz »Scham«: Ein Überblick Diese allgemeinen linguistischen Beobachtungen gelten nun auch für die Beschäftigung mit dem Wortfeld »Scham« im Alten Testament. Das in den letzten 20 Jahren verstärkt zu bemerkende Interesse an dieser Emotion ist vornehmlich aus kultur-/ sozialanthropologischer Perspektive und damit dezidiert interdisziplinär geprägt.16 Den Ausgangspunkt – und damit unterscheiden sich die neueren Studien nicht grundsätzlich methodisch von älteren Arbeiten – stellt das semantische Feld »Scham« dar, d.h. es werden die vornehmlich hebräischen Begriffe, die »Scham«, »Schande«, »zuschanden werden« etc. bedeuten, auf ihre Verwendung im Alten Testament hin untersucht. Diese probate und erprobte semantische Methode zeigt eine gewisse Offenheit des Wortfeldes. Anders als vom Deutschen her zu vermuten, findet sich eine Reihe von Kontexten, in denen das Wortfeld für lebensbedrohliche Situationen wie Krankheit oder Dürre benutzt wird. Die Verbalwurzel bôš in der Bedeutung »zuschanden werden« zeigt einen subjektiven und einen objektiven Aspekt.17 Die Beschreibung eines als lebensbedrohlich empfundenen Zustandes liegt auch dem Vorkommen der Wurzel bei Bundesschlüssen zugrunde.18 Dies ist die objektive Seite der Verwendung. Die subjektive Adaption des Gefühls der Gefährdung und Lebensbedrohung würde dann unserem »sich schämen« entsprechen, wobei für das Empfinden von uns Heutigen die Selbstminderung gegenüber der direkten Lebensbedrohung im Vordergrund stehen dürfte. 16 17 18
Vgl. Dietrich, Rationality, 25f. Begriffe nach Stolz, bôš, 270. Olyan, Honor, 201–218.
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Zum zweiten gehört das Wortfeld Scham in die Prophetie und in das Gebet. Das zeigt die Distribution der einschlägigen Wurzeln überdeutlich. Die Wurzel bôš weist 99 seiner insgesamt 167 Belege bei den Propheten auf, weitere 42 im Psalter. Ebenso treten von den 69 Belegen von »sich mit Schande bedecken«, hebr. kālam, 39 in den Prophetenbüchern und 13 in den Psalmen auf.19 Ein drittes »sich schämen«, ḥāpar, zeigt nahezu alle seiner 17 Belege in Prophetie und Psalter, lediglich das Hif’il in der Bedeutung »Schande bereiten« findet in der Spruchweisheit Verwendung. Die 24 Belege von qālah, ebenfalls »sich schämen«, reihen sich in die Beobachtung ein. Deutlich unterrepräsentiert im Vorkommen ist die erzählende Literatur. Hier findet das Qal der Wurzel qālal »leicht, gering sein« Verwendung, das insgesamt aber sehr selten in dieser Bedeutung gebraucht wird. Gerade die Verwendung im Psalter zeigt, dass die Verbalwurzeln die Tendenz haben, zu Chiffren zu werden: Das betende Ich beschreibt weniger ganz konkrete Schamerfahrungen, sondern nutzt das linguistische Material, um im Wesentlichen zwei Themen zum Ausdruck zu bringen: die Hoffnung auf das Zuschandenwerden der Feinde im Krieg (objektive Verwendung) und die Klage über die Beschämung, vornehmlich des Frommen (subjektive Verwendung).20 Trotz der Formulierung in der ersten Person sind die getroffenen Aussagen überindividuell und unkonkret, d.h. sie lassen sich nicht als unmittelbare Emotionsrepräsentanten ansprechen. In der bislang letzten großen, wenn auch in vielem ergänzungsbedürftigen begriffsgeschichtlichen 19 20
Zahlen nach Klopfenstein, Scham, 29.118. Vgl. Klopfenstein, Scham, 106 sowie Grund, Schmähungen, 181f, mit einer kritischen Aufnahme Klopfensteins Scham, 106 Anm. 43.
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Studie zum Thema Scham kann Martin Klopfenstein zwar recht präzise formulieren: »Der Israelit schämt sich nicht vor sich selbst bzw. vor einem von ihm verletzten abstrakten ethischen Prinzip. Vielmehr schämt er sich vor seinem Nächsten und vor Gott,«21 aber sie kann nicht mit gleicher Präzision angeben, wessen sich der israelitische Mensch schämt, d.h. die Schaminhalte sind durch die rein an der Semantik orientierten Untersuchung nicht einzuordnen.22 In dieselbe Richtung weist auch die Verwendung der von diesen Wurzeln abgeleiteten Substantive būšah, bošät und kǝlimmah.23 Sie gehören allesamt zur Gruppe hebräischer Wörter, die keinen Plural bilden. Das ist m.E. ein signifikantes Phänomen. Ihre Nominalpattern sind dabei durchweg Abstraktbildungen, sei es durch markierte Feminina, oder durch Reduplikation und Verdopplung. Diese Nominalpattern markieren im Hebräischen den höchsten Grad an Abstraktion.24 Die Substantive des Wortfeldes Scham lassen somit erahnen, dass diese Art der Gefühle vom alttestamentlichen Menschen offenbar als ganzheitlich gedacht wurde. Man kann sie nicht aufteilen. Sie sind da oder nicht. Auf der anderen Seite zeigt die für hebräische Verhältnisse überaus elaborierte Bildeweise, dass sie sich gleichsam weit von der sprachlichen Repräsentanz direkter Eindrücke oder Erfahrungen, wie sie etwa Interjektionen darstel21 22
Klopfenstein, Scham, 209. Nicht zuletzt die divergierenden Auslegungen zu Gen 2,25, dem locus classicus für die Schamdiskurse im AT, zeigen dies. Vgl. knapp unter Ablehnung einer reziproken Deutung des Verses Grund, Anthropologie, 118. 23 Neef, Nomina, 94. 24 Michel, Grundlegung, 70f. Auf die Frage, ob diese Art der Nominalbildung auch diachron ausgewertet werden kann, vgl. JM § 88C, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden.
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len, entfernt haben. Sie sind Teil des emotiven Modus von Sprache, und mehr noch: sie sind allesamt Reflexionsbegriffe.25 Dieselbe, den tatsächlichen Emotionen übergeordenete Bezeichnungsfunktion, lässt sich auch bei der Übertragung dieser hebräischen Begriffe in den Bereich des Griechischen im Rahmen der Septuaginta beobachten, stellt diese Übersetzung bei aller Treue zum Ausgangstext doch auch eine Adaption der in den Texten verhandelten Diskurse an eine andere Kultur mit einem anderen kulturellen Koordinatensystem dar. Es zeigt sich ein interessantes sprachliches Leveling: sowohl bôš als auch ḥāpar und kālam können mit der griechischen Wurzel αἰσχύνειν κτλ und ihren Derivaten übersetzt werden.26 Für den Begriff der Scham/Schande, gr. αἰσχύνη, liegt seit Aristoteles nun eine klare Definition vor: »Scham sei definiert als eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung über solche Übel, die offensichtlich zum Verlust des guten Rufes führen, seien diese nun gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Übel.«27 Diese Definition zeigt klar, dass auch für das Griechische Scham ein Reflexionsbegriff ist. Neben dieser Definition beschreibt Aristoteles auch die Funktion der Scham: Sie sei keine Tugend, sondern eher unter die Affekte (πάθοι) zu zählen, da sie ähnlich der Furcht körperliche Reaktionen wie das Erröten hervorru25 Diese u.a. auf Kant zurückgehende Bezeichnung meint Begriffe, die übergeordnete Bezeichnungsfunktion haben wie z.B. Angst, Welt, Arbeit. Sie gehen zwar auf Konkreta zurück, vermeiden aber unangemessene Ontologisierungen. Vgl. allgemein Janich, Propädeutikum, 152f. 26 Deutlich seltener werden die Wurzeln ατιµέω »in Unehre bringen« bzw. καταλαλέω »verleumden« benutzt oder nominal umschrieben. Vgl. zum Befund die Artikel in ThWAT bzw. Muraoka, Hebrew/Aramaic Index, s.v. 27 Aristoteles, Rhetorica 1383b 6: ἔστω δὴ αἰσχύνη λύπη τις ἢ ταραχὴ περὶ τὰ εἰς ἀδοξίαν φαινόµενα φέρειν τῶν κακῶν, ἢ παρόντων ἢ γεγονότων ἢ µελλόντων.
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fe. Nur bei jungen Menschen sei sie sinnvoll, damit diese durch die Scham vor zu vielen Fehlern bewahrt würden. 3. Grenzen und Chancen semantischer Analyse Besteht das Wortfeld »Scham« somit vornehmlich aus Reflexionsbegriffen und ist Scham eine durch körperliche Reaktionen angezeigte Furcht vor dem Verlust des »guten Rufes«, scheint also das »Eigentliche« in antiken Schamdiskursen gar nicht rein sprachlich vermittelt. Die Kluft zwischen direktem Erleben einerseits, sprachlich vermittelter Repräsentanz in den antiken Texten andererseits und drittens unserer neuzeitlichen – zumal meist nur durch Übersetzungen vermittelten – Wahrnehmung ist so groß, dass sich die Frage stellt, ob man aus einem vorfindlichen literarischen Text überhaupt auf ein Gefühl zurückschließen kann, das uns Heutigen zugänglich wäre. Ausgehend vom literarischen Text als sprachlichem Nukleus kämen nämlich verschiedene Anliegen antiker Texte zum Tragen: Hinter der sprachlichen Äußerung könnten erlebte Schamerfahrungen liegen, allerdings aber auch nicht. Denn es könnte zur Strategie des Textes gehören, die durch den sprachlichen Nukleus bezeichneten Gefühle bei den Rezipienten hervorzurufen. Da es sich beim Untersuchungsgegenstand alttestamentlicher Texte um historische Dokumente handelt, deren Hintergrund uns nicht unmittelbar zugänglich ist, soll dieser Sachverhalt an einem rezenten Beispiel erläutert werden. Die drei Sätze »Ich schäme mich für meinen Körper.« »Ich schäme mich für meine Lieblosigkeit.« »Ich schäme mich für meine Triebhaftigkeit.«
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markieren einen in der Oberflächenstruktur28 identischen Nukleus: Jeder Satz besteht aus einem Subjekt jeweils in erster Person Singular, demselben verbum finitum mit reflexiv besetzem Vorfeld im Präsens Indikativ, ergänzt um eine pronominal im zweiten Grad reflexiv erweiterte präpositionale Fügung mit einem Substantiv. Die Emotion Scham ist zwar semantisch durch den Reflexionsbegriff »sich schämen« repräsentiert, doch welche Emotionen noch im Spiel sind, erschließt sich erst durch den Kontext der Sätze. Die zitierten Sätze entstammen dem Kunstprojekt »Der Schamkasten« und stehen auf Plakaten, die zufällig vorbeigekommene Leute auf ein Plakat notiert haben, das sie in einem Schaufenster sitzend Passanten zeigten. Die Reaktionen der Probanden wie der Passanten wurden gefilmt. Initiiert wurde das Projekt 1992 von dem Aktionskünstler und heutigem Professor für Bildhauerei und Performancekunst in Stuttgart Christian Jankowski. Fotos der Performance, sog. »Filmstills«, sind leicht im Internet abzurufen.29 Der Film macht möglich das zu beobachten, was uns bei den antiken Texten fehlt: den Kontext der Abfassung. Dabei zeigen sich Parameter, die bei einer rein semantisch arbeitenden, grammatikalischanalytisch vorgehenden Untersuchung nicht erfasst werden können. Alle drei Sätze sind im emotiven Modus verfasst, d.h. zeigen keinerlei unmittelbare Emotionsrepräsentation. Wie sich die Probanden fühlen, bleibt sprachlich nicht fassbar, sondern ist 28 Begriff und Beschreibungskriterien nach der Konstituenten-Struktur-Grammatik, vgl. Chomsky, Structures; Dürscheid, Syntax. 29 Diese Abfrage kann z.B. über www.google.de erfolgen. Der gesamte Film mit den Reaktionen der Passanten wurde zuletzt 2016 auf einer von Nina Hoss kuratierten Jankowski-Retrospektive in Berlin gezeigt.
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allenfalls anhand der Körpersprache im Film nachvollziehbar. Im Fall von »Ich schäme mich für meinen Körper« scheinen sich genannter Schaminhalt und (Selbst)-Wahrnehmung zu decken, da er von einem landläufig nicht unbedingt als attraktiv geltenden Mann geäußert wird. Der Satz »Ich schäme mich für meine Lieblosigkeit« stammt von einer sehr korrekt gekleideten und sehr beherrschten Dame, so dass man vermuten kann, genannter Schaminhalt und (Selbst-)Wahrnehmung könnten ebenfalls deckungsgleich sein. Die Äußerung »Ich schäme mich für meine Triebhaftigkeit« legt die Deckungsgleichheit ebenfalls nahe, da sie von einem seine Virilität durch eine provokante Sitzpose unterstreichenden jungen Mann formuliert ist. Was die drei durch Bilder repräsentierten Situationen unterscheidet, ist zweierlei: Die zu postulierende Motivation der Probanden und die Wahrnehmung der Passanten. Beide sind indes von entscheidender Bedeutung für die Situation, ohne dass sie in irgendeiner Weise sprachlich repräsentiert wären. Ebenso ohne sprachliche Repräsentanz ist das allgemein gesellschaftlich normierte Geflecht von Normen und Vorstellungen, das durch das Kunstprojekt in mehrfacher Hinsicht herausgefordert wird und doch die Gesamtsituation, wie sie im Film wahrnehmbar ist, bestimmt.30 Obwohl also die drei sprachlichen Äußerungen nach denselben linguistischen Kriterien gebaut sind, ist ihre Pragmatik offenbar sehr unterschiedlich. Die in modernen Diskursen über Scham, Schamerfahrung und Schambewältigung gern ver30 Daher wäre es aus kulturhistorischer Sicht sicher nicht uninteressant, das Projekt heute, über 20 Jahre später, zu wiederholen, um zu beobachten, ob sich die in der Reaktion der Passanten zeigenden gesellschaftlichen Normen verschoben haben. Vgl. auch den Exkurs »Selfie, Belfie, Footsie, Nudie« bei Huizing, Scham, 215–232.
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handelten Dichotomien Autonomie und Autonomieskepsis, soziologisch-gesellschaftliche Normen und anthropologisch-psychologische Faktoren scheinen hier – gute Kunst kann das – seltsam aufgehoben und verschwimmen. Der Film zeigt drei völlig unterschiedliche Szenarien: Scham wird empfunden, ausgehalten und dadurch überwunden. Scham wird bekannt, aber deren Ursache nicht selbst behoben; man glaubt nicht, dass dem Bekenntnis Handlung folgt, die nötig wäre, um die Ursache für Schamgefühle zu beheben. Scham wird möglicherweise vorgetäuscht und konterkariert durch den Versuch, sie zu instrumentalisieren. Und alle drei völlig unterschiedlichen Reaktionen fußen auf einer sprachlichen Äußerung, die nach linguistischen Kriterien identisch sind. Die Filmstills zeigen eine Matrix auf, die für die sprachlich vermittelte Emotionsrepräsentation »Scham« fruchtbar gemacht werden kann: Die Bedeutung des stereotypen sprachlichen Nukleus ergibt sich erst aus der Selbstreflexivität der sich äußernden Person, im Zusammenspiel mit ihrer nonverbalen Repräsentation und der Wahrnehmung, nicht etwa der direkten Kommunikation, mit der Gruppe der Betrachter. Insofern decken sich die Beobachtungen anhand des Projektes mit neueren kulturanthropologischen Definitionen von Scham als selbstreflexiver Emotion.31 Als schwierig, weil in den Texten sprachlich nicht greifbar, erweist sich indes, die Reaktionen auf die sprachliche Äußerung zu greifen, die die Funktion der »signifi-
31 So nach Werden, Schamkultur, 216. Werden definiert Scham ebd. als »emotionale Realisierung der Verletzung eines für das Selbst so bedeutsamen Wertes, dass diese Verletzung den zumindest subjektiv empfundenen schwerwiegenden Verlust von Anerkennung und in der Folge eine Selbstwertkrise zur Folge hat.«
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cant others«32 repräsentieren. Diese »anderen« stellen die tatsächlich präsente oder nur imaginierte Öffentlichkeit dar, vor deren Augen und Ohren sich der Schaminhalt offenbart oder offenbaren könnte und die als die Instanz verstanden wird, durch die Scham überhaupt erst ausgelöst oder durch deren Reaktion Entehrung und Statusverlust befürchtet wird.33 Überträgt man diese Einsichten auf die sprachlichen Äußerungen zum Thema Scham in antiken Texten, so ist klar, dass die Parameter Selbstreflexivität und Schaminhalt die Größen wären, die sprachlich vermittelt und damit linguistisch untersucht werden könnten. Allerdings greifen dabei rein semantisch vorgehende Untersuchungen zu kurz, weil sie gerade keinen Blick auf die »significant others« werfen können. Diese »significant others« kommen aber in alttestamentlichen Texten durchaus zu Wort. Als ein Beispiel mag 2Sam 12 dienen. David hat massiv, aber subtil Gewalt ausgeübt, um seine Interessen zu verwirklichen. Er hat einen seiner Soldaten bewusst und ohne echten militärischen Grund an die Front geschickt. Er hat gehofft, dass der Soldat fällt, und zwar nur, um dessen Ehefrau zu bekommen. David hat sogar Erfolg, der Ehemann fällt wirklich und er kann die nur kurz zuvor verwitwete Frau zu seiner Geliebten machen. Pikanterweise wird sie sogar später die Mutter des Thronfolgers Salomo. Es kommt zur Konfrontation mit dem Propheten Nathan als Repräsentanten der moralischen Ord32
Vgl. zum Begriff Lomen, Sünde, 59–62; Moxnes, Honor, 168; Grund, Anthropologie, 115f. 33 So bereits Aristoteles, Rhet 1384 b, der darauf hinweist, dass Scham eine innersubjektive Vorstellung von Ehrverlust ist (περὶ ἀδοξίας φαντασία) und man sich daher nur vor den Leuten schämt, die man achtet (τούτους αἰσχύνεσθαι ὧν λόγον ἔχει), allerdings fürchte man den Ehrverlust als solchen, nicht allein die Folgen davon.
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nung, der David unmissverständlich auch genau sein Vergehen verdeutlicht. Er ist ein significant other. Dessen »Du bist der Mann!«, die Veröffentlichung und die Konfrontation mit der Schuld, führt nun aber nicht zu »Scham«, kein Wort dieses Wortfeldes tritt auf. David unterwirft sich zwar JHWH und bekennt seine Schuld, aber dass er Scham empfindet, findet keine sprachliche Repräsentation. Scham wird durch einen Konflikt mit dem eigenen oder gesellschaftlichen normativen System evoziert. David dürfte als Teil der israelitischen Gesellschaft auch Kenntnis von dessen Ethos gehabt haben. Daher wäre die Situation eine »Scham«-Erzählung, ohne dass ein einziges Wort aus dem semantischen Feld benutzt wird. 4. Der mūśar bôšæt des Jesus Sirach als Beispiel für intersubjektiv geltende Schaminhalte Hinweise auf dieses Ethos, also das Normen- und Wertesystem der israelitischen Gesellschaft, sind innerhalb des AT nicht direkt enthalten, sondern müssen aus den Narrationen wie den legislativen Passagen erschlossen werden, ohne dass Aussagen darüber gemacht werden könnten, ob sie die tatsächlich geltenden Normen und Werte repräsentieren oder im Sinne einer Utopie einfordern, d.h. die Pragmatik bleibt hinter der Semantik verschlossen. Anders ist dies bei einem Text aus hellenistischer Zeit, der großen Lehrrede über die Scham (mūśar bôšæt) des Jesus Sirach in 41,14–42,5.34 Wie das Sirachbuch insgesamt, spricht auch dieser Ab34 Die Rekonstruktion dieses in griechischer Fassung sowie in hebräischen Fragmenten erhaltenen Textes ist schwierig. Da dies nicht Inhalt dieses Beitrages ist, folge ich vereinfachend in Zählung und Textbestand der Lutherbibel 2016. Der griechische Text ist greifbar in Ziegler, Sirach. Für den hebräischen Text vgl. Beentjes, Book.
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schnitt in eine pädagogische Situation hinein: Von einem Lehrer zu seinen Schülern, von einem gelehrten Weisen zu solchen, die dies werden sollen und nur werden können, wenn sie sich dem gesellschaftlich Erwartbaren entsprechend verhalten. Für diese Form der Sozialisation und Adoleszenzbewältigung empfiehlt Sirach nun gerade nicht positiv den Erwerb von Ehre als handlungsleitende Motivation,35 sondern die Schamvermeidung. In zwei langen Sätzen werden verschiedene Situationen aufgerufen, vor denen man sich schämen sollte bzw. sich gerade nicht schämen muss. Die Syntagmen nutzen die semantische Repräsentation bôš. Einmal regiert das Verb die Präposition min (grie. περί), einmal die Präposition ‛al (griech. ἀπό), ohne dass in der Pragmatik dadurch ein Unterschied auszumachen wäre.36 Einen großen Raum nehmen Schaminhalte aus dem Bereich der Sexualität ein: Unzucht (pāḥaz/πορνεία) soll man den Eltern nicht zumuten, keinen Ehebruch durch Anblicken einer verheirateten Frau oder einer Fremden begehen (κατανόησις γυναικός), nicht zu Prostituierten (ἑταίραι) gehen und nicht mit einer Magd das Bett teilen (hitqomem ‛al yaṣǣha). Als »significant others« werden neben den Eltern die politisch Verantwortlichen genannt (ªdōn; gibbor / ἡγοῦµενος, δυναστής) und Vertreter der Justiz (‘edāh; ‘ām) für den öffentlichen Bereich. Die Größen des sozialen Miteinanders repräsentieren der Nächste, der Freund (reª‘) und der Nachbar. Die Scham dient dazu, alles das zu vermeiden, was vor diesen Personen als gemeinschaftshinderlich empfunden werden könnte. Im zweiten Teil der Lehrrede werden dieselben Bereiche angesprochen, allerdings insofern ver35
So etwa in der griechischen Kultur seit Homer verankert, vgl. aber Moxnes, Honor, 175. 36 Anders Reymond, Remarks, 391.
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schränkt, als die angesprochenen Mitglieder der Zielgruppe nun ihrerseits so handeln sollen, damit dieselben gemeinschaftsfördernden Handlungen und Ansichten weiter bestehen bleiben. Wiederum dient die Scham als handlungsleitende Motivation: In Gesellschaft und Familie für derlei Werte selbst einzutreten, soll nicht als Scham empfunden werden. Im Rückschluss wird demnach wiederum die Strategie der Schamvermeidung empfohlen, um auch das aktive Handeln der Angesprochenen anzuregen. In beiden Teilen der Rede kommt als dritter Bereich neben dem öffentlichen und dem sozialen Umfeld auch der religiöse Bereich vor. Die Scham vor dem Nichteinhalten religiöser Gebote und Pflichten gehört ebenso zu einer umfassenden, das Zusammenleben fördernden und gelingenden Lebensgestaltung, die durch Schamvermeidung angestrebt werden soll. Es entsteht ein relativ umfängliches Bild, wie man sich idealtypisch einen pater familias vorzustellen hat. In syntaktisch auffälliger Ideosynkrasie entfaltet sich so eine Lehre über die »richtige« Beachtung von Scham. Die Generation der patres familiae wird daran erinnert, wie man sich als ein anständiger, in der Gesellschaft anerkannter, für sich, seine Familie und sein Umfeld Sorge tragender Mensch zu verhalten habe, also wie man sich geben muss, um selbst ein »significant other«, ein Vorbild für andere zu sein. Die aufgeführten Schaminhalte sowie diese Pragmatik der Lehrrede machen den Text besonders: Anders als in den meisten anderen alttestamentlichen Texten vor allem der Psalmen37 meint Scham gerade nicht das Empfinden sich als marginal verstehender Einzelner, sondern markiert den Raum, innerhalb dessen sich der Einzelne intersubjektiv als zugehörig und anerkannt empfinden kann. Sirach 37
Vgl. nur die Psalmen 35; 44; 71 und vor allem 69 und 119.
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liefert daher einen Schamdiskurs im Sinne eine »Präventivethik«38, der positiv das Ethos für die nachfolgende Generation vorstellt und zum aktiven Einsatz für das Weiterleben dieses Ethos wirbt. Diese Tendenz ließe sich als durchaus konservativ beschreiben: ein »significant other« schreibt für kommende »significant others«. 5. Die Rede der Gottlosen in der Weisheit Salomos als Beispiel für einen intrasubjektiven Schamdiskurs Dass das Ideal eines in sozialen wie religiösen Bereichen besonnen und vorbildlich agierenden Menschen nicht immer verwirklicht werden kann, zeigt ein anderer Text, dessen Pragmatik ähnlich wie Sirach eine pädagogisch-werbende Stoßrichtung zeigt, die in Form eines hellenistischen Logos Protreptikos ewiges Leben als Restitution für irdisches Leiden anbietet, wenn man sich als Gerechter von der Weisheit leiten lässt.39 In den Kapiteln 2 und 5 der Sapientia wird diese Restitution des Gerechten durch zwei Reden beschrieben. In einer Art Diptychon redet dieser Gerechte aber nicht selbst, sondern die alttestamentlich vorgeprägten Antipoden des Gerechten, die Gottlosen, kommen zu Wort. Dieser Text ist alttestamentlich einmalig, denn ein sich sicherlich selbst zu den Gerechten zählender Autor lässt die Gottlosen ihre Gefühle schildern, die diese beim Anblick der Gerechten haben. Durch diese doppelte Ver38 39
Begriff nach Huizing, Scham, 12. Zum Text vgl. die vorzügliche Ausgabe von Niebuhr, Sapientia Salomonis, der den griechischen Text von J. Ziegler zusammen mit einer kommentierten Übersetzung sowie einer Reihe von Essays zum geschichtlich-philosophischen Hintergrund der wahrscheinlich jüngsten Schrift des griechischen Alten Testaments bietet.
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schränkung lesen sich die Reden wie ein Spiegelbild von Ps 69: Dort klagt das sich als marginalisiert empfindende betende Ich, hier klagen die sich als marginalisiert empfindenden Gottlosen. Schamvokabular wird indes nicht ausdrücklich benutzt, kann aber erschlossen werden: Die Gottlosen empfinden den Gerechten als unbequem (δύσχρηστος; Sap 2,12) und lästig (βαρύς; Sap 2,13). Ihre Empfindung der Marginalisierung bringen sie durch das Bild des Falschgeldes zum Ausdruck (κίβδηλος; Sap 2,16), für das sie der Gerechte hält. Sie fühlen sich und ihre Lebensweise abqualifiziert, wie man modern ein Mobbing empfinden würde: Sie werden aus der Gemeinschaft abgesondert, was im Bild des Schmutzes und der Verunreinigung gerinnt (ὡς ἀπὸ ἀκαθαρσίων; Sap 2,16). Die Gottlosen empfinden Scham und brechen zur Schamvermeidung in massive Gewalt aus (ὕβρις, βάσανος; Sap 2,19). Diese Gewalt mündet schließlich im Tod des Gerechten. Nur an dieser Stelle wird ein Begriff aus dem Wortfeld Scham benutzt: Der Tod ist ehrlos und schändlich (ἀσχήµονος; Sap 2,20). Die Rede benutzt Vokabular und ganze Phrasen aus dem AT. Diese literarische Verarbeitung der Marginalisierung legt nahe zu vermuten, dass keine Verarbeitung erlebter Emotion vorliegt, sondern es sich um kunstvolle Reflexionsliteratur handelt. Möglicherweise haben wir es sogar tatsächlich einmal mit einem Nachdenken darüber zu tun, was penetrantes Insistieren auf die väterliche Tradition und u.U. massives Zur-Schau-Stellen religiöser Überlegenheit beim Gegenüber, dem eigenen Glaubensgenossen, bewirken kann.
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6. Jenseits der Semantik Die vorgestellten sprachwissenschaftlichen Beobachtungen versuchten zu zeigen, dass sich in der Literatur des Alten Testaments sehr wohl Emotionsrepräsentationen finden lassen. Für die Emotion »Scham« hingegen stellte sich eine rein semantisch arbeitende Vorgehensweise als zu eng heraus, weil eine ganze Reihe von Schamdiskursen so nicht erfasst werden konnten. Nach der älteren, sozialwissenschaftichen Theoriebildung wurde Scham als Betonung des Ichgefühls und Herabsetzung desselben verstanden. Neuere Definitionen verstehen Scham stärker als intersubjektives Geschehen.40 Die vorgestellten sprachwissenschaftlichen Beobachtungen haben versucht, dies auch für die Texte des Alten Testamentes aufzuzeigen und auf die Spuren von Scham und Anerkennung aufmerksam zu machen, wie sie in den sprachlich-literarischen Fassungen des ehemals recht pauschal als »Schamkultur«41 klassifizierten antiken Israel aufzuspüren sind. Dabei zeigte sich eine Tendenz dahingehend, in den als Schamdiskurse durch die semantischen Wortfelder gekennzeichneten Texten aus sprachwissenschaftlicher Sicht weniger aktuelle Emotionsrepräsentationen zu sehen, denn Reflexionsliteratur. Positiv ließen sich indes ebenfalls Spuren nachweisen, die anschlussfähig sind an die auch in anderen Disziplinen in der Diskussion befindliche Theorien zu der Bedeutung von Scham. Über die Untersuchung von Schaminhalten ließe sich fruchtbar auf die jeweiligen Ideale von Gesellschaft schließen, die als solche wahrscheinlich nicht vollständig verwirklicht waren, aber immerhin orientieren wollten. Die mögliche, sich zaghaft zeigende Selbstreflexivi40 41
Vgl. Schüttauf, Gesichter, 844. Vgl. Grund, Schmähungen, 175 Anm. 7 mit Lit.
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tät in Texten könnte genutzt werden, um das Selbstverständnis der textproduzierenden Gruppen zu untersuchen. Jenseits der Semantik ist noch viel zu entdecken. Literatur Aristoteles, Ars Rhetorica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W.D. Ross, Oxford 1959 Beentjes, P.C., The Book of Ben Sira in Hebrew. A Text Edition of all extant Hebrew Manuscripts and a Synopsis of all parallel Hebrew Ben Sira Texts (VT.S 68), Leiden 2006 Chaniotis, A. (Hg.), Unveiling Emotions: Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World (HABES 52), Stuttgart 2012 – Ducrey, P. (Hg.), Unveiling Emotions II: Emotions in Greece and Rome: Texts, Images, Material Culture (HABES 55), Stuttgart 2013 Chomsky, N., Syntactic Structures, Paris 1957 Dietrich, J., Human Relationality and Sociality in Ancient Israel: Mapping the Social Anthropology of the Old Testament, in: E.M. Becker / J. Dietrich / B. Kristian (Hg.), »What is Human?«: Holm Theological Encounters with Anthropology, Göttingen 2017, 23–44 Dürscheid, C., Syntax, UTB 3319, 5. Aufl. Göttingen 2010 Foolen, A. / Lüdtke, U. / Schwarz-Friesel, M., Kognition und Emotion, in: O. Braun / U. Lüdtke (Hg.), Sprache und Kommunikation – Behinderung, Bildung und Partizipation (Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik 8), Stuttgart 2012, 213–229 Grund, A., »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69, EvTh 72 (2012), 174–193 – »Und sie schämten sich nicht …« (Genesis 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Genesis 2–3, in: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5) (FS B. Janowski), hg. von M. Bauks / K. Liess / P. Riede, Neukirchen-Vluyn 2008, 115–122 Huizing, K., Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, Gütersloh 2016 Janich, P., Logisch-pragmatische Propädeutik. Ein Grundkurs im philosophischen Reflektieren, Weilerswist 2001
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Klopfenstein, M.A., Scham und Schande nach dem Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu den hebräischen Wurzeln bôš, klm und ḥpr (AThANT 62), Zürich 1972 Lomen, M., Sünde und Scham im biblischen und islamischen Kontext (Mission scripts 21), Nürnberg 2003 Lüdtke, U. / Frank, B., Die Sprache der Gefühle – Gefühle in der Sprache. Ausdruck, Entwicklung und pädagogische Regulation von Emotionen am Beispiel der Jugendsprache, in: R. Arnold / G. Holzapfel (Hg.), Emotionen und Lernen. Die vergessenen Gefühle in der Erwachsenenpädagogik, Hohengehren 2007, 119–142 Michel, D., Grundlegung einer hebräischen Syntax, Teil 1: Sprachwissenschaftliche Methodik, Neukirchen-Vluyn 2 2004 (1977) Moxnes, H., Honor and Shame, BTB 23 (1993), 167–176 Muraoka, T., Hebrew/Aramaic Index to the Septuagint, Grand Rapids 1998 Neef, H.-D., Nomina ohne Plural im Hebräischen, ZAH 13 (2000), 91–105 Niebuhr, K.-W. (Hg.), Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos) (Scripta antiquitatis posterioris ad ethicam religionemque pertinentia 27), Tübingen 2015 Olyan, S.M., Honor, Shame, and Covenant Relations in Ancient Israel and its Environment, JBL 115 (1996), 201–218 Reymond, E.D., Remarks on Ben Sira’s »Instruction on Shame«, ZAW 115 (2003), 388–400 Schniedewind, W., Prolegomena for the Sociolinguistics of Classical Hebrew, JHS 5/6, 2004 – A Social History of Hebrew. Its Origins through the Rabbinic Period, Anchor Bible Reference Library, New Haven / London 2013 Schüttauf, K., Die zwei Gesichter der Scham, Psyche 62 (9/10) (2008), 840–865 SEMEIA, Honor and Shame in the World of the Bible, Vol. 69, Atlanta 1994 Stark, R., Die Bedeutung der AIDOS in der aristotelischen Ethik, in: ders., Aristotelesstudien. Philologische Untersuchungen zur Entwicklung der aristotelischen Ethik, hg. v. P. Steinmetz (Zetemata 8), München 21972 (1954), 119–133 Stolz, F., Art. bôš, THAT 1 (1973), 269–272 Theodoropoulou, M., The Emotion Seeks to be Expressed, 433– 468 Werden, R., Schamkultur und Schuldkultur. Revision einer Theorie (Studien der Moraltheologie N.F. 3), Münster 2015 Ziegler, J., Sapientia Iesu Filii Sirach (Septuaginta XII,2), 2. Aufl. Göttingen 21980
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I. Menschliche Scham: Scham ist ein genuin menschliches Gefühl Scham ist ein genuin menschliches Gefühl. Sie unterscheidet den Menschen vom Tier und gehört dem Menschen doch genauso an wie auch der Schlaf, der Hunger, der Durst und die Sexualität. Das Schamgefühl hat es trotz aller historischen und sozialkulturellen Unterschiede zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf je unterschiedliche Weise gegeben, und die Scham ist deshalb kein modernes Phänomen, das dem »primitiven« oder vormodernen Menschen in geringerem Maße zugekommen wäre.1 Umgekehrt ist sie auch kein Phänomen, das in sogenannten »Schamkulturen« vorherrschend ist, die für das Phänomen der Schuld noch nicht so empfänglich wären.2 Stattdessen scheint das Scham1 Vgl. Duerr, Nacktheit, 9–12 und passim, in Auseinandersetzung vor allem mit Elias, Prozeß. In diesem Beitrag steht das grundlegende menschliche Schamgefühl im Alten Testament aus »exegetisch-phänomenologischer« Perspektive im Vordergrund. Pathologische Formen der Scham stehen nicht im Zentrum der folgenden Untersuchung. 2 Die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen geht auf Benedikt, Chrysantheme, 196f zurück, ist von Dodds, Griechen, besonders 15–37 auf das antike Griechenland übertragen worden und wird auch immer wieder in Bezug auf die Mittelmeerkulturen (vgl. Peristiany / Pitt-Rivers, Honour), die neutestamentliche Welt (vgl. Malina, World) sowie in Bezug auf das alte Israel behauptet (vgl. etwa Bechtel, Shame). Sie
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gefühl eine menschliche Universalie in je unterschiedlichen Ausprägungen zu sein. »Schon längst sind unser aller Augen ›aufgegangen‹, und es gehört zum Wesen des Menschen, sich seiner Nacktheit zu schämen, wie immer diese Nacktheit auch historisch definiert sein mag«.3 Als ein genuin menschliches Phänomen scheint das Schamgefühl deshalb auch weder den Tieren noch den Göttern zuzukommen: »Sein eigentlicher ›Ort‹ scheint schon auf den ersten Blick der lebendige Kontakt zu sein, den im Menschen der Geist, d.h. der Inbegriff aller übertierischen Akte: Denken, Schauen, Wollen, Lieben, und deren Seinsform, die ›Persönlichkeit‹, mit Lebenstrieben und Lebensgefühlen gefunden hat, die von den tierischen nur graduell verschieden sind. Dem Tiere, das so viele Gefühle mit dem Menschen teilt, Furcht, Angst, Ekel, selbst Eifersucht, scheint darum nach allen bisherigen Beobachtungen das Schamgefühl und ein bestimmter Ausdruck seiner zu fehlen. Geradezu widersinnig wäre es, sich eine ›sich schämende Gottheit‹ vorzustellen.«4
wird in der neueren Literatur jedoch weder für das antike Griechenland (vgl. vor allem Cairns, Aidōs, 27–47 und passim) noch für das alte Israel aufrechterhalten (vgl. Dietrich, Ehre, 420f; Grund, Schmähungen, 174–177). Für die im Alten Testament enge Verschränkung der Scham- und Schuldproblematik wählt Laniak, Shame, 8f, den passenden Ausdruck »guiltbased shame«. 3 Duerr, Nacktheit, 12. 4 Scheler, Scham, 67. Hervorhebungen im Original. Dies gilt nur eingeschränkt für anthropomorphe Gottesvorstellungen. Zum Beispiel kann der Gott der Hebräischen Bibel durch die Gräueltaten der Israeliten beschämt werden ebenso wie die mesopotamischen Götter, die die Sintflut bringen, durch Opfergaben beschämt werden können (vgl. Klopfenstein, Scham, 23; Steinert, Menschsein, 333). Das differentium specificum bei der Scham liegt hier nicht im Verhältnis zu den Göttern, sondern zu den Dämonen, die sich anders als die Menschen nicht schämen können (vgl. Steinert, Menschsein, 338f).
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Folgt man also einem trans-anthropomorphen oder sogar streng philosophisch-metaphysischen Gottesbegriff, so scheint die Scham weder dem Tier noch Gott zuzukommen, sondern ein »Urphänomen« des menschlichen Daseins zu sein, das zwar in je unterschiedlichen historischen und kulturellen Ausprägungen zu Tage tritt, aber ursprünglich in dem Sinne ist, dass es nicht aus anderen Gefühlen oder Bewusstseinszuständen abgeleitet werden kann.5 Und so wie der Mensch ein genuin soziales Wesen ist,6 so ist auch die Scham ein soziales Phänomen, was der folgende Abschnitt aufweisen soll. II. Soziale Scham: Scham ist ein genuin soziales Phänomen Scham ist ein genuin soziales Phänomen, denn es setzt im Bewusstsein den Blick eines anderen voraus. Ich kann mich nur vor jemandem schämen, sei dieser Andere nun ein konkreter anderer, ein allgemeines Publikum oder das eigene Selbst. Wenn wir vorläufig das wichtige Phänomen der SelbstScham einmal ausblenden, dann erscheint die Scham »von vornherein [als] ein Phänomen des menschlichen Gemeinschaftslebens und kann nur in dieser Ebene hinreichend ursprünglich begriffen werden.«7 Wie wir im weiteren Verlauf dieser Beobachtungen sehen werden, gilt für das alttestamentliche Verständnis der Scham ebenso wie für das homerische Verständnis, »daß αἰδώς aus der Gesellschaft entsteht und an sie gebunden ist. Stets bezieht sie sich auf das Verhalten des Einzelnen zu den Mitmenschen, hat für den Menschen nur 5 6
Vgl. Bollnow, Ehrfurcht, 120. Zur Sozialanthropologie des Alten Testaments vgl. Dietrich, Sozialanthropologie. 7 Bollnow, Ehrfurcht, 91.
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Sinn, soweit er in Beziehung zur ihn umgebenden Gesellschaft steht.«8 Ein zwar nicht identisches, aber durchaus ähnliches Verständnis können wir gewinnen, wenn wir uns den hebräischen Begriffen zuwenden, die Scham und Schande bezeichnen. bôš, klm, ḥpr oder qlh beinhalten in den meisten Fällen auf die eine oder andere Weise eine relationale Logik9 und bezeichnen entsprechend einen sozialen Aspekt, zumeist negativ in Form der Minderung öffentlichen Ansehens. »Alle vier untersuchten Wurzeln erweisen sich als soziale Verhältnisbegriffe.«10 In diesem sozialen Sinne steht die Scham in einem komplementären Verhältnis zum Ehrgefühl und bezeichnet als Schamgefühl die sozial bedingte Scheu (akkadisch buštu; griechisch αἰδώς), die »vor Verletzungen von Verhaltenskodizes um der eigenen Ehre willen zurückschrecken lässt«11. Ehrgefühl und Schamgefühl gehören deshalb zusammen und verbinden sich als »die Gefühle der Ehrfurcht und der Scham zu einer unauflöslichen Einheit. Beide können nur miteinander und durcheinander bestehen […]. Beide sind im Grunde nur entgegengesetzte Blickweisen einer und derselben ursprünglich einheitlichen Erscheinung«.12 Im Griechischen zeigt sich dies auch sprachlich darin, dass der Begriff αἰδώς nicht nur die Scham und Scheu, sondern auch die Ehrfurcht »als Ehrfurcht vor Eltern und Älteren, vor im Rang höher Stehenden, Freunden, Fremden und Schutzflehenden«13 bezeichnen kann. Im Hebräischen verhält es sich mit der Wurzel bôš ganz ähnlich. Auch für bôš gilt: 8 9 10 11
Von Erffa, ΑΙ∆ΩΣ, 36. Vgl. Hartenstein, Beobachtungen, 287 in Bezug auf bôš. Klopfenstein, Scham, 209. Jedan, aidôs, 19 in Bezug auf αἰδώς. Zum akkadischen būštu/ baj(j)ašu vgl. Steinert, Aspekte, 334–342. 12 Bollnow, Ehrfurcht, 63. 13 Von Erffa, ΑΙ∆ΩΣ, 38.
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»Scham empfindet die Verbindlichkeit solcher Verhaltensnormen, Schamlosigkeit setzt sich über sie hinweg. Wichtig ist, daß ›sich schämen‹, im Sinn der Hemmung, sich unangemessen zu verhalten, einen ethisch positiven Sinn bekommt: Subjektive Scham ist dann Grund zu objektiver Ehre, subjektive Schamlosigkeit Grund zu objektiver Beschämung. Die Ambivalenz der Wurzel bôš, die in allen ihren Stammformen beides bedeuten kann, muss man stets im Auge behalten.«14
So wie Ehrgefühl und Schamgefühl auf der subjektiven Ebene zusammengehen und Ehre und Schande entgegengesetzte, objektive Pole der öffentlichen Anerkennung bzw. Schmach bilden, so sind Scham und Schande komplementäre Weisen des Unehrenhaften: Während Scham mehr das subjektive Gefühl und den entsprechenden selbstreflexiven Bewusstseinszustand bezeichnet, so Schande den objektiven Zustand des Unehrenhaften, in den ein Mensch vor aller Augen geraten kann. Die objektive Bedeutung der Scham als Schande und öffentliche Entblößung ist im Alten Testament weit verbreitet. Während jedoch im Griechischen zwischen der subjektiven und der objektiven Bedeutung sprachlich mittels αἰδώς und αἰσχύνη unterschieden werden kann, ist das im Hebräischen nicht der Fall: Hier können dieselben Wurzeln sowohl subjektive Scham als auch objektive Schande bezeichnen. Der Übergang und Zusammenhang zwischen der subjektiven und objektiven Bedeutung kommt in dem kollektiven Bußgebet Esr 9,6.7b deutlich zum Ausdruck. Hier wird das subjektive Gefühl der Scham des Beters unter anderem mit dem objektiven Zustand der Schande der Väter begründet:
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Klopfenstein, Scham, 46. Hervorhebungen im Original.
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Esr 9,6.7b (6) Da hob ich an: Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, mein Gott, meine Hände zu dir zu erheben, denn unsere Missetaten sind (uns) über den Kopf gewachsen, und unsere Schuld ist groß bis an den Himmel. (…) (7b) Und wegen unserer Missetaten sind wir preisgegeben worden – wir, unsere Könige (und) unsere Priester – in die Hand der Könige der Länder: dem Schwert, der Gefangenschaft und der Plünderung sowie der öffentlichen Beschämung (der »Schande des Angesichts«), wie (auch) heute.
Empfindet ein Mensch nicht nur subjektiv Scham, sondern wird er öffentlich bloßgestellt, so wird häufig der »Desintegrationsbegriff«15 klm neben bôš verwendet. Beispielsweise stehen die beiden Begriffe in Jes 30,3 im Parallelismus und bezeichnen den öffentlichen Aspekt der Beschämung: Jes 30,3 Doch es wird für euch der Schutz Pharaos zur Schande (lebošæt) und die Zuflucht im Schatten Ägyptens zur Schmach/ Entblößung (liklimmāh).
In meinem Beitrag über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament habe ich zwischen verschiedenen Formen der Ehre, nämlich Leibesehre, Statusehre, Ruhmesehre, Totenehre sowie der Ehre des Weisen und Demütigen unterschieden.16 Zumindest komplementär zur Leibesehre kann man auch von Leibesscham sprechen. Die Leibesscham ist »das ›natürliche Seelenkleid‹« des Menschen. Sie gleicht »geradezu einer feinen Aura von als objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit«, während »die faktischen Kleider […] nur eine Kristallisation der Scham« darstel-
15 16
Wagner, כלם, 196. Vgl. Dietrich, Ehre.
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len.17 So wie sich Adam und Eva Feigenblätter zu einem Schurz machen, um ihre Blöße zu verbergen, so kann vorhandene Schmach metaphorisch als ein Kleid beschrieben werden, das den Menschen umhüllt. »The shamed ›clothes himself in his shame‹«, wie es bei Johannes Pedersen heißt.18 Dabei wird häufig die Wurzel lbš (»bekleiden«) oder eine entsprechende Form mit den typischen Schandbegriffen verbunden. In dieser negativen Form kommt die Kleidmetapher oft in den Psalmen zur Sprache.19 So heißt es beispielsweise im Zusammenhang mit dem davidischen Königtum: Ps 89,46 Du hast verkürzt die Tage seiner Jugend, du hast ihn bedeckt mit Schande. Ps 132,18 Seine Feinde kleide ich mit Schande, aber auf ihm wird seine Krone erstrahlen.
Der Beter der Psalmen kann nicht nur seine Schande als ein Kleid beschreiben, das ihn öffentlich auf schmachvolle Weise »bedeckt«, sondern er kann auch hoffen, dass diese Bloßstellung seine Gegner trifft: Ps 71,13 Zuschanden werden, zugrunde gehen sollen die Widersacher meiner Lebenskraft. Es sollen sich in Schmach und Schande hüllen, die mein Unglück suchen.
17 18 19
Scheler, Scham, 86f. Pedersen, Israel, 241. Vgl. im Akkadischen etwa ša bu-uš-tam ḫa-al-pu »einer, der mit Scham bekleidet ist« (OB Lu2 Rez. B ii 29; vgl. Steinert, Menschsein, 335).
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Ps 109,29 Kleiden sollen sich meine Widersacher in Schmach und sich hüllen wie in den Mantel ihrer Schande.
Diese Kleidmetaphorik der Schande wird in anderen biblischen Büchern aufgenommen: Hi 8,22 Deine Hasser werden sich in Schande kleiden, und das Zelt der Frevler wird nicht bestehen. Jer 3,25 Wir müssen uns betten in unsere Schande und bedecken soll uns unsere Schmach.
Die Sichtbarkeit von Leibesehre und Leibesschande zeigt sich beispielsweise auch in den Davidgeschichten.20 In 2Sam 10 werden die Diplomaten Davids am Königshof der Ammoniter durch Leibesschande aufs äußerste entehrt (V.5), indem man ihnen die Bärte und Kleider bis zum Gesäß abschneidet und sie dann fortschickt (V.4).21 Auf diese Weise wird ihre Beschämung allen öffentlich vor Augen gestellt. Nicht nur mit der Beschneidung des Bartes,22 sondern vor allem mit der gewaltsamen Entblößung des Gesäßes23 werden die Diplo20 Vgl. dazu Stansell, Honor. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang 2Sam 6 zu nennen: Hier prallen nach der Ansicht Michals Davids Körperverhalten und Statusehre unversöhnlich aufeinander und gereichen ihm zur Unehre. 21 Vgl. zum Folgenden Dietrich, Ehre, 428f. 22 Wurde der Bart als Zeichen eines ehrenvollen Ranges gewaltsam abgeschnitten, galt dies als öffentliche Beschämung (vgl. neben 2Sam 10,4 auch Jes 7,20), da er ansonsten nur als Zeichen der Trauer rituell entfernt wurde (vgl. Jes 15,2; Jer 41,5; 48,37; Esr 9,3). 23 Die gewaltsame Entblößung des Gesäßes ist einem gewaltsamen Aufdecken der Scham vergleichbar und stellt eine öffentliche Beschämung dar. In Jes 20,5 wird die Entblößung des Gesäßes ausdrücklich als Schande (bôš) gewertet. In V.4 wird sie als Entblößung der Scham (‘ærwāh) angesehen, die
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maten der Macht der Ammoniter unterworfen und ihres Status als zu ehrende Vertreter eines fremden Königs beraubt. Als Königsvertreter hat ihre Entehrung und Leibesschande kollektive Dimensionen, weil ihr Ehrverlust die Ehre des Königs selbst betrifft. Um diese wiederherzustellen, befiehlt David den Diplomaten einen Akt zur Rettung ihrer Leibesehre: Da Ehre stets einen öffentlichen Aspekt beinhaltet, muss die Leibesschande vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Deshalb sollen die Diplomaten in Jericho bleiben, bis ihr Bart wieder gewachsen ist. Die Leibesscham wird in ihren objektiven Dimensionen der Leibesschande auch am Angesicht deutlich, etwa wenn man einem anderen ins Antlitz spuckt wie in Num 12,14 und Dtn 25,9 (vgl. Jes 50,6; Hi 30,10).24 Schon in der Erzählung über Kain und Abel geht es nicht nur um den Umgang mit Verantwortung und Schuld, sondern auch um den Umgang mit dem Gefühl der Beschämung. Dass sich Kain durch die göttliche Missachtung (formuliert mit š‘h »blicken; ansehen«) seines Opfers beschämt fühlt, kommt in den Wendungen mit pânîm (»Antlitz«) zum Ausdruck. Seine Beschämung äußert sich zwar in wütendem »Entbrennen«, aber bezeichnenderweise zusammen mit einem Ausdruck über das »Fallen« der Gesichtszüge: Gen 4,5b–7 (5b) Da entbrannte es Kain sehr und sein Gesicht fiel. Da sprach Jhwh zu Kain: Warum entbrennt es dir und warum fällt dein Gesicht? Ist es nicht (so): Wenn du recht tust, Ersomit nicht nur die Frau (vgl. Jes 47,3; Ez 16,37; mit ma‘ar statt ‘ærwāh Nah 3,5), sondern genauso den Mann treffen kann (vgl. noch Gen 9,22f). Zur Ehre der Frau vgl. etwa Janssen/Kessler, Ehre, 97; Staubli/Schroer, Menschenbilder, 395. 24 Auch das Verhüllen des Hauptes wird ausdrücklich mit Termini der Scham und Schande in Verbindung gebracht (vgl. etwa die Verwendung von bôš und klm Hofal in Jer 14,3f).
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hebung (des Antlitzes), aber wenn du nicht recht tust, lauert die Sünde an der Tür?
Das Gefühl der Beschämung äußert sich leiblich durch das Fallen der Gesichtszüge und den gesenkten Blick: »Es ist eine bestimmte Gefühlshaltung, wie sie schon äußerlich an den ›schamroten‹ (oder gar ›schamvioletten‹) Wangen, am niedergeschlagenen Blick und überhaupt an allen Zeichen der Gedrücktheit und Befangenheit erkennbar ist. Wer sich schämt, findet sich in diesem Gefühl ausgeschlossen aus dem freien Verhältnis zu den andern Menschen. Er kann ihnen nicht mehr unbefangen ins Auge sehen.«25
Wer dagegen recht handelt (Hi 11,15) oder über eine ehrenvolle Position verfügt (2Kön 5,1; Jes 3,3), kann erhobenen Angesichts sein – und genau dies wird offenbar Kain in Gen 4,7 vor Augen gehalten. In anderen alttestamentlichen Texten wird die Leibesscham in ihren objektiven Dimensionen der Leibesschande deshalb nicht nur durch die allgemeine Kleidmetapher der Schande, sondern auch durch das Bedecken des Angesichts mit Schande zum Ausdruck gebracht: Ps 44,16 Jeden Tag steht meine Schmach vor mir, und Schande bedeckt mein Gesicht. Ps 69,8 Denn deinetwegen trage ich Schmach, bedeckt Schande mein Antlitz. Ez 7,18 Dann gürten sie Sackgewänder um und Schauder wird sie bedecken.
25
Bollnow, Ehrfurcht, 87.
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Und auf allen Gesichtern ist Schande und auf allen ihren Köpfen Kahlheit.
In wieder anderen Texten wird die Leibesschande nicht nur durch die Beschreibung, dass Schande das Angesicht bedeckt, sondern durch den speziellen Ausdruck »Schande des Antlitzes« (bošæt pânîm) beschrieben. Sanherib beispielsweise muss nach 2Chr 32,21 »in der Schande seines Antlitzes« in sein Land zurückkehren. Und auch in dem oben schon zitierten Text Esr 9,7b klagt der Beter darüber, dass die Judäer der »Schande des Angesichts« preisgegeben wurden. Auf diese Weise dient die Bedeckung nicht dem Schutz und der Körperscham, sondern »wird paradoxerweise […] zur rückhaltlosen Enthüllung des entehrten Status vor allen anderen.«26 Die genannten Textbeispiele kehren die soziale Dimension der Scham eindrucksvoll hervor. Dennoch wäre es zu wenig, wollte man die Scham einzig und allein als soziales Phänomen deuten, auch wenn dies in der alttestamentlichen Forschung zumeist so gesehen wurde. Deshalb wenden wir uns in einem letzten Abschnitt den individuellen Aspekten der Scham zu. III. Reflektierende Scham: Scham ist ein genuines Phänomen des reflektierenden Selbstbewusstseins Scham ist ein genuines Phänomen des reflektierenden Selbstbewusstseins. Es wäre zu wenig, die Scham einzig und allein in ihrem Gegensatz zur Ehre und als soziales Phänomen der Anpassung, nicht aber auch als eine Fähigkeit der individuellen Selbstreflexion zu begreifen. Wird die Scham bloß 26
Grund, Schmähungen, 188.
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wie schon in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles »als eine äußere Anpassung an die Forderungen der herrschenden Sitte aufgefaßt«,27 bleibt ein entscheidender Aspekt, der der Scham ebenfalls innewohnt, unberücksichtigt. Schon das Phänomen der Scham als »Schutzmantel« lässt diesen Aspekt deutlich werden. Die Scham ist eine Art Schutzmantel der Ehre. Ähnlich wie im antiken Griechenland die αἰδώς ist auch im Alten Testament die Scham »Schutzgefühl des Individuums«28, das für die eigene Ehre sensibel ist, sie umhegt und sich auf diese Weise als ein Phänomen der »Sorge« um das eigene Selbst darstellt, nicht in Schande zu geraten und sich den entblößenden Blicken der Anderen zu entziehen. Auf diese Weise resultiert die Scham in ihrem Kern gerade nicht aus einem minderen Selbstbewusstsein, das sich durch Schamgefühl zu schützen sucht.29 Ein solches derivatives Verständnis allein würde der Scham als einem menschlichen »Urphänomen« nicht gerecht. Dieses entspricht vielmehr einem gewachsenen Selbstbewusstsein und ist, anders als die Schüchternheit, kein Ausdruck eines kränklichen, sondern eines »natürlichen« Selbstwertgefühls, das immer auch schon soziokulturell geprägt ist und den gängigen Erwartungen der Mitmenschen entgegenkommt. Der entscheidende Punkt, auf den es mir hier jedoch ankommt, ist nicht die immer schon gegebene sozialkulturelle Prägung, sondern die Scham als Ausdruck erhöhter Selbstreflexion. Deutlich wird dies vor allem dort, wo der Mensch 27 Bollnow, Ehrfurcht, 113. Allerdings vertritt Aristoteles in der Eudemischen Ethik noch eine andere Position, vgl. Stark, Bedeutung. Die oben genannte Sichtweise ist auch für die alttestamentliche Forschung typisch, vgl. etwa Grund, Scham, 347. 28 Scheler, Scham, 80. Hervorhebung im Original. 29 »Scham ist sicher nicht nur eine Folge eines Unwertbewußtseins.« (Scheler, Scham, 148)
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sich nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst schämt und Scham eine »Rückwendung auf ein Selbst«30 beinhaltet, die seit Demokrit auch philosophisch bedacht wird.31 Max Scheler führt dafür ein einleuchtendes Beispiel an: »Dies wird äußerst deutlich da, wo die Scham ganz plötzlich einsetzt, nachdem vorher z.B. ein nach außen zielendes starkes Interesse ein Bewußtsein und Gefühl des eigenen Selbst ausschloß. Eine Mutter, die etwa bei einem Brande ihr Kind retten will, zieht nicht zuerst einen Rock an, sondern wird auch im Hemde oder nackt aus dem Hause stürzen; aber sowie die erste Sicherung erreicht ist und die Rückwendung erfolgt, stellt sich die Scham ein.«32
Scham ist damit Ausdruck sensiblen Selbstwertgefühls und gewachsener Selbstreflexion. »Scham entwickelt sich erst mit dem Selbst- und Individualbewußtsein und -wertbewußtsein als Folge der Beziehungswahrnehmung dieses zu unserer Gattungsexistenz.«33 Auch für Hans Lipps ist die Scham Quelle des menschlichen Bewusstseins, denn: »Sie steht am Ursprung des Sich-seiner-bewußt-seins.«34 Und ganz ähnlich betont auch Otto Friedrich Bollnow: »Das Schämen enthält also, soweit es bisher entwickelt werden konnte, schon immer ein ganz bestimmtes Selbstverständnis des Menschen, das in der reflektierenden Be30 31
Scheler, Scham, 78. Hervorhebung im Original. Vgl. von Erffa, ΑΙ∆ΩΣ, 197f; Stark, Bedeutung, 119f. Bei Aristoteles dient in der Eudemischen Ethik (anders als später in der Nikomachischen Ethik) die Scham unter anderem dazu, die Besonnenheit zu fördern (vgl. Stark, Bedeutung, 125; Ricken, aidôs, 10). Zu Demokrit und einer Kritik an von Erffa vgl. Rappe, Scham, 206–217. 32 Scheler, Scham, 78. 33 Scheler, Scham, 148. Hervorhebungen im Original. 34 Lipps, Natur, 31. Vgl. auch ebd. 43: »Scham ist aber gerade eine Weise des Selbstbewußtseins.«
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trachtung herausgehoben und dann allerdings auch noch sehr verschieden ausgedeutet werden kann«.35
In der neueren englischsprachigen Forschung sind Gabriele Taylor und im Anschluss an sie Douglas Cairns ebenfalls auf den selbstreflexiven Gehalt der Scham aufmerksam geworden.36 Die kritische Funktion des Blickes der Anderen (ob tatsächlich oder imaginiert) »is to bring the individual who is subject to the emotion to focus on the self«37. »Shame requires a sophisticated type of self-consciousness. A person feeling shame will exercise her capacity for selfawareness, and she will do so dramatically: from being just an actor absorbed in what she is doing she will suddenly become self-aware and self-critical. It is plainly a state of selfconsciousness which centrally relies on the concept of another, for the thought of being seen as one might be seen by another is the catalyst for the emotion.«38
Auf diese Weise tritt der Scham empfindende Mensch neben sich selbst und betrachtet sich aus einer nicht-identifizierenden Perspektive, die der Diskrepanz zwischen realem und idealem Selbstbild gewahr wird. Dies beinhaltet »to see oneself in a different light, to step back from self-absorption and take a detached view«39 und gilt nicht nur für eine allgemeine phänomenologische Perspektive, sondern auch für das antike Verständnis: »As well as looking towards others in these different ways, however, aidōs also looks towards the self, and reflects the
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Bollnow, Ehrfurcht, 92. Taylor, Pride; Cairns, Aidōs; vgl. im deutschsprachigen Raum neuerdings auch Lotter, Scham, 65–88. 37 Cairns, Aidōs, 15. 38 Taylor, Pride, 67. 39 Cairns, Aidōs, 16, im Anschluss an Taylor, Pride.
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individual’s own values, character, and ideals; it springs, I should say, from the conscience of the individual«.40
Entsprechendes gilt auch für das Alte Testament: »Shame is a self-conscious emotion.«41 Der Grundmythos für diesen Wesenszusammenhang ist zweifellos die biblische Paradieserzählung, denn anstatt das reflektierende Bewusstsein, wie zumeist angenommen wird, als eine Folge von Sünde und Schuld zu begreifen, erzählt der Mythos von der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Selbstbewusstsein und Scham.42 »Scham ist also nicht eine üble Folge der Sünde, sondern eine Mitgift der Erkenntnis von Gut und Böse.«43 Mit dem Essen der Frucht entstehen Selbstreflexion und Schamgefühle, sodass das Menschenpaar »erst durch die erschütternden Erfahrungen der Scham zum Bewußtsein aufgeschreckt wird.«44 Für den »typologisch« ersten Menschen, der beginnt, sich seiner zu schämen, gilt ja, dass er sich von nun an nicht mehr dem unreflektierten Bewusstsein des Tieres oder Kindes hingeben und unreflektiert in der eigenen Tätigkeit aufgehen kann. Vielmehr gilt mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis und dem Sich-Einstellen des Schamgefühls, dass sich der Mensch nicht nur seiner Tat bewusst wird, sondern auch seinem eigenen Selbst als nackt.45 Die reflek40 41 42
Cairns, Aidōs, 141. Stiebert, Shame, 23. Die sogenannte »Sündenfallgeschichte« erzählt deshalb weniger von einem »Fall in die Sünde« als von einem »Fall in die Scham«, vgl. Poser, Scham, 140 im Anschluss an Crüsemann, Frage. 43 Grund, Anthropologie, 121 im Anschluss an Westermann, Genesis, 342. Vgl. auch dies., Scham, 348. 44 Bollnow, Ehrfurcht, 94. 45 Vgl. Taylor, Pride, 59. Die Nacktheit hat hier nichts mit Geschlechtlichkeit zu tun, sondern mit ehrlosem Status, vgl. Hartenstein, Beobachtungen, 279f.
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tierende Selbstbezüglichkeit der Scham wird dabei negativ schon in dem Überleitungssatz Gen 2,25 zum Ausdruck gebracht: Gen 2,25 Und beide waren sie nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht.
Weil viele Exegeten das Phänomen der Scham allein auf seine soziale Dimension engführen, übersetzen sie Gen 2,25b reziprok im Sinne von »Sie schämten sich nicht voreinander.«46 Tatsächlich jedoch kann man sowohl phänomenologisch als auch philologisch für ein reflexives Verständnis argumentieren. Weil die Scham, wie oben gezeigt, ein soziales Phänomen ist, das gleichzeitig eine reflektierende Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck bringt, kann Gen 2,25b auch im reflexiven Sinne verstanden und übersetzt werden. Und weil ein reziprokes Verständnis von bôš, wie Alexandra Grund argumentiert,47 im Hitpolel ungewöhnlich wäre und sonst nicht weiter belegt ist, ist es auch sprachlich wahrscheinlich, dass Gen 2,25 das Fehlen des selbstreflektierenden Bewusstseins beschreiben und im Folgenden das Aufkeimen eben dieses Selbstbewusstseins am Beispiel des Schamgefühls ätiologisch aufzeigen möchte.48 »Nach Gen 2,25 ist der Blick des anderen auf die eigene Nacktheit noch nicht als unangenehm und bedrängend 46 Vgl. etwa Klopfenstein, Scham, 31–33; Westermann, Genesis, 320f; Hartenstein, Beobachtungen, 286–288. 47 Vgl. Grund, Anthropologie, 118. Vgl. auch Joüon, Notes, 74f; Bauks, Nacktheit, 18 mit Anm. 3 sowie die Übersetzung 24 (reflexiv) und der Hinweis 29: »Der Vermerk auf die Relationalität des Sich-Schämens als mögliche Scham voreinander (bôš hitpolal) darf nicht überinterpretiert werden.« 48 Gen 2–3 ist eben eine »weisheitliche Erzählung« und »ganz und gar ätiologisch und nicht utopisch ausgerichtet« (Schmid, Weisheit, 21.32).
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ins eigene Bewusstsein getreten.«49 Dies geschieht dann im anschließenden Teil der Paradieserzählung. Hier heißt es entsprechend in Gen 3,7 nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis: Gen 3,7 Da wurden ihrer beider Augen aufgetan und sie erkannten, dass sie nackt waren. Da banden sie Feigenblätter und machten für sich Schurze.
Bezeichnend ist, dass das Anfertigen der Schurze erfolgt, noch bevor die Stimme Gottes nach ihnen ruft und das Auge Gottes nach ihnen sucht. Dies spricht für die These von Gabriele Taylor, dass es zur Scham nicht einer aktuellen und konkreten Öffentlichkeit bedarf, sei diese nun real oder imaginiert, sondern »nur« des entstehenden, reflektierenden Bewusstseins, das sich selbst in den Blick nimmt und dabei durchaus geprägt ist von den Vorgaben seiner sozialen Umwelt: »Das Bewußtsein ist die Folge der entscheidenden Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, in die er durch die Erfahrungen der Scham hineingezwungen wird. Und erst in dieser Auseinandersetzung wird der Mensch er selbst.«50
Die Hervorhebung der Selbstreflexion bei der Scham schließt die sozialkulturelle Prägung natürlich nicht aus, ganz im Gegenteil, denn beides spielt bei der Entstehung des Bewusstseins zusammen. Scham ist Ausdruck gesteigerter Selbstreflexion, weil und indem sie sich über die Blicke der Anderen klar wird und so das Gewahr-Werden des eigenen Selbst durch die Blicke der Anderen ermöglicht, selbst wenn keine konkrete Öffentlich49 50
Grund, Anthropologie, 118. Hervorhebungen im Original. Bollnow, Ehrfurcht, 94.
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keit aktuell zur Stelle ist. In der Paradiesgeschichte sind die Blicke der Anderen, die sich in das sozial geprägte Selbstbewusstsein eingraben, zunächst einmal die Augen des menschlichen Gegenübers (Adams bzw. Evas) und dann vor allem die Augen Gottes, vor denen sich das Paar vergeblich zu verstecken sucht und dessen Anruf sie nicht unbeantwortet lassen können.51 Die Schreiber der alttestamentlichen Texte machen auf diese reflexive Dimension des Selbstbewusstseins, das in der Scham zutage tritt, nicht nur anhand der Paradieserzählung aufmerksam. Auch die »Gottesmetapher« in Form der Anrufung im Gebet kann als Katalysator des Denkens dienen und eine erhöhte Selbstreflexion in der schamvollen Beziehung des Beters zu Gott zum Ausdruck bringen. In dem oben schon zitierten kollektiven Bußgebet Esr 9,6 äußert sich das reflektierende Selbstbewusstsein in der schamvollen Reflexion über die eigene Schmach: Esr 9,6 (6) Da hob ich an: Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, mein Gott, meine Hände zu dir zu erheben, denn unsere Missetaten sind (uns) über den Kopf gewachsen, und unsere Schuld ist groß bis an den Himmel.
Vor allem im Buch Ezechiel kommt der intellektuelle Aspekt der Scham zum Vorschein.52 Hier gibt es mehrere Stellen, in denen Gott die Israeliten auffordert, sich zu schämen und die eigenen Vergehen zu bedenken. Eine »Vorankündigung« die-
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Am Ende schützt Gott sowohl die leibliche Verwundbarkeit als auch die Scham des Menschen, indem er ihn mit Fellen bekleidet (Gen 3,21). 52 Vgl. auch Klopfenstein, Scham, 145–155 sowie Lapsley, Shame. Poser, Ezechielbuch, 529–536, differenziert zwischen fünf verschiedenen Formen der Scham bei Ezechiel.
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ses Zusammenhangs zwischen Erkenntnis und Scham findet sich bereits in Ez 36,32aβ.b.53 Ez 36,32aβ.b Erkennt für euch: Schämt euch und seid beschämt vor euren Wegen, Haus Israel!
Wie oben angesprochen, ist eine strenge Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen nicht überzeugend. Im Buch Ezechiel liegt eine enge Verknüpfung der Scham- und Schuldthematik im Sinne von »schuldbasierter Scham«54 vor. Für Ezechiel und seine Schule ist typisch, dass die Scham/Schuldproblematik mit Erkenntnis einhergeht und Scham ein intellektueller Vorgang der selbstkritischen Einsicht wird, sodass klm in diesen Fällen eher den subjektiven Vorgang des SichSchämens als den objektiven Vorgang des Zuschanden-Werdens beschreibt. »Scham und Schande aufgrund der Vergangenheit bezeugen ein neues, empfängliches, reuiges Herz, das die Zukunft Israels beseelen wird.«55
In der wohl später hinzugefügten Tempelvision Ez 40–48 ist es das Wissen um die anvisierte Architektur des Tempels, die zum einen das Bewusstsein eigener Scham hervorrufen sowie umgekehrt sich als Folge selbstkritischer Scham einstellen soll: Ez 43,10f Du, Menschensohn, verkünde dem Haus Israel den Tempelbau, damit sie sich vor ihren Missetaten schämen und das Modell messen. Und wenn sie sich schämen wegen allem, was sie getan haben: Lass sie die Form des Hauses und 53
Israel »will be brought to a ›new level of consciousness of the self‹« (Lapsley, Shame, 157). 54 »guilt-based shame« (Laniak, Shame, 8f). 55 Greenberg, Ezechiel, 330.
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seine Einrichtung und seine Ausgänge und seine Eingänge und seine ganze Form und alle seine Ordnungen und alle seine Vorgaben wissen und schreib vor ihren Augen auf, damit sie seine ganze Form bewahren und alle seine Ordnungen, und sie werden sie tun.
Entsprechend heißt es auch in Ez 16,54, »dass du deine Schande trägst und dich schämst wegen allem, was du getan hast«, während in Ez 16,61 (vgl. auch 16,63) das Bedenken der eigenen eingeschlagenen Wege zur beschämten, selbstkritischen Einsicht führt: Ez 16,61 Und du wirst deiner Wege gedenken und dich schämen.
Es ist also nicht nur Schuld, die »bewusstseinsaufrüttelnd« wirkt, sondern auch Scham wirkt bewusstseinsaufrüttelnd: »Die Verbindung von niklăm bzw. bôš mit zakăr ›gedenken an, sich vergegenwärtigen‹ in den vv 61.63 deutet immerhin an, daß die Vorstellung einer intellektuellen Schulderkenntnis vorherrscht.«56
Im Buch Jeremia und auch bei Zephania findet sich eine ähnliche Verbindung zwischen Erkenntnis und Scham. Wer schamlos handelt, hat das Sich-Schämen verlernt und »kennt« es nicht mehr:57 56 Klopfenstein, Scham, 155. Poser, Scham, 146–148, hebt nicht so sehr den intellektuellen, sondern den traumatischen Aspekt des Schamdiskurses im Ezechielbuch hervor und spricht von »traumatischer Scham«. Die Aufforderung, sich zu schämen, versteht sie aber »als Reflexion darüber, was es zur Entwicklung schützender Intimitätsscham und lebensförderlicher Gewissensscham braucht« (ebd. 147f). 57 Vgl. im Akkadischen ša bu-uš-tam la i-du-ύ »einer, der die Scham nicht kennt« (OB Lu2 Rez. B ii 26; vgl. Steinert, Menschsein, 335). »Die Formulierung ›der keine Scham kennt‹, die mit dem Adjektiv ›schamhaft, bescheiden‹ verknüpft wird,
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Jer 6,15a Sie werden zuschanden, weil sie Gräuel tun. Weder schämen sie sich der Schande noch kennen sie Scham. Zeph 3,5 JHWH ist gerecht in ihrer Mitte, nicht tut er Unrecht. Morgen für Morgen stellt er sein Recht ans Licht – nie fehlt es. Aber der Ungerechte kennt keine Scham.
Der kritische Umgang des Propheten mit den Verhaltensweisen seines Volkes ist nicht nur schuldaufdeckend, sondern auch schamaufdeckend. Die vielen provokativen Metaphern und Zeichenhandlungen, die die Propheten verwenden, um die Schande und Schmach Israels aufzuzeigen, dienen auch dazu, ein schamvolles Bewusstsein hervorzurufen, das die eigenen Verhaltensweisen beschämt hinterfragt. Scham ist damit nicht nur ein Phänomen der sozialen Anpassung, sondern dient der kritischen Selbstreflexion. Diesen Zusammenhang zeigt auch sehr schön Jer 31,19: Jer 31,19 Ja, nach meiner Umkehr bereue ich, und nach meinem Zur-Einsicht-Kommen schlage ich auf die Hüfte. Ich schäme mich und bin auch zuschanden, denn ich trage die Schmach meiner Jugend.
Scham gewinnt hier als selbstkritische Bewusstseinsbildung eine positive Funktion. In 2Chr 30,15 dient sie anscheinend sogar als bewusstseinsmäßige Voraussetzung der Priester zur Heiligung und zum Tempeldienst: 2Chr 30,15 Und sie schlachteten das Passa am vierzehnten Tag des zweiten Monats. Und die Priester und die Leviten schämten verortet die Eigenschaft būštu im Bereich des Wissens und Verhaltens.« (ebd. 336; vgl. auch ebd. 337)
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sich und heiligten sich und brachten Brandopfer zum Haus des Herrn.
Als selbstreflexive Sozialform, die über imaginierte, letztlich aber nicht durchgeführte Handlungsmöglichkeiten antizipierend und »theoretisierend« nachsinnt, tritt die Scham schließlich in einer Selbstaussage Esras in Erscheinung und zeigt die enge Verknüpfung zwischen sozialen und selbstreflexiven Dimensionen der Scham: Esr 8,22a Denn ich schämte mich, vom König Soldaten und Reiter zu erbitten, um uns vor dem Feind auf dem Weg zu helfen.
Der Umgang mit Scham dient der kritischen Selbstreflexion – und insbesondere die Propheten geben hierfür entscheidende provokative Anstöße. Dennoch soll die Bedeutung der Scham für die Ideenund Theologiegeschichte des Alten Testaments nicht überschätzt werden. Auch wenn Scham und Schamgefühl faktisch für die Entwicklung des Bewusstseins, für sozialkulturelle Normen sowie ethische und religiöse Forderungen eine wichtige Bedeutung gespielt haben, so treten im Laufe der Zeit andere Ideen und Konzepte in den Vordergrund des kulturellen Bewusstseins im alten Israel. Auch wenn der Mythos der Paradieserzählung die Entwicklung des Bewusstseins mit dem aufkommenden Schamgefühl korreliert, so betonen die Schreiber der alttestamentlichen Bücher konzeptuell nicht die Scham, sondern die Idee der Gerechtigkeit als leitende sozialethische Kategorie. Ähnlich wie in Griechenland, wo die αἰδώς zwar stets bedacht wird, aber bei Hesiod58 und dann vor allem
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Vgl. von Erffa, ΑΙ∆ΩΣ, 52; Meyer, Scham, 44f.
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bei Platon59 der Idee der Gerechtigkeit den Vortritt lassen muss,60 so werden bei den Propheten und Weisheitslehrern des Alten Testaments auf je ihre Weise Bilder von Ehre, Scham und Schande verwendet, um moralisches und religiöses Verhalten einzufordern sowie selbstkritische Bewusstseinsbildungen anzustoßen, doch geschieht dies alles unter den leitenden Ideen der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit.
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So »sagt Platon unter Anspielung auf Hesiod, die jungfräuliche Tochter der a. [aidôs; J.D.] sei die Gerechtigkeit« (Schönberger, Scham(gefühl), 244). 60 Vgl. etwa auch Ruhnau, Scham, 1209.
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Thomas Naumann
Schuld- und Beschämungsdiskurse im Auftritt des Propheten Natan (2Sam 12)
I. Einführung Die Diskussionen über das Verhältnis von Schuld und Scham haben gezeigt, dass die scharfe Distinktion zwischen beiden, die sich in der Gegenüberstellung von Scham-Kulturen und Schuld-Kulturen ausspricht, vielfach zu relativieren ist. Zwar ist es sinnvoll Scham und Schuld konzeptionell und begrifflich klar zu unterscheiden, aber sie berühren und durchdringen einander vielfach.1 So umfasst Scham Gefühle und subjektive Erfahrungen des Verfehlens, des Beschämtwerdens in einem sozialen Raum, während Schuldzusammenhänge handlungsbezogen und daher in anderer Weise objektivierbar sind. Während Schuld stets auf eine konkrete Normverletzung bezogen bleibt, können Schamerfahrungen von Schuldzusammenhängen völlig abgekoppelt sein. Nicht selten etwa liegt der Erfahrung des Beschämtseins gar keine Schuld zugrunde. Andererseits können auch schuldig gewordene Menschen sich ihrer eigenen Taten schämen (Gewissensscham) oder mit ehrverletzenden Sanktionen durch andere beschämt werden (Be1
Zum Verhältnis von Scham und Schuld in sozialwissenschaftlicher Perspektive vgl. Marks, Scham, 59–61; im Hinblick auf alttestamentliche Texte Bechtel, Shame, 47–54; Stiebert, Shame, 255–260; Grund, Scham/Schande, Abschnitt 1: »Scham, Schuld und Sünde sind zwar klar unterschieden, liegen … jedoch näher zusammen, als dass sie Gegensätze wären.«
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schämung als Strafe). Schamerfahrungen begleiten auch Schuldzusammenhänge. Das Schamgefühl als Hüterin der sozialen Integrität und Würde kann auch dazu führen, dass wir vermeiden, schuldig zu werden, weil sich in dem, was als beschämend gilt, grundlegende Handlungsorientierungen auffinden lassen. Sicher gilt für die Schamerfahrung im Unterschied zur Schulderfahrung, dass sie vor den anderen empfunden wird. Die Kontrollinstanz der Scham liegt eher außen, im realen oder imaginierten Blick der »bedeutend Anderen«, also derjenigen Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen und die für unser Bedürfnis nach Anerkennung die entscheidende Größe bietet. Bei Schulderfahrungen lehrt die philosophische Ethik, dass die Kontrollinstanz dafür eher im Gewissen als dem inneren Bereich des Menschen liegt. Aber auch diese allzu scharfe Unterscheidung von innen und außen wird dadurch unterlaufen, dass – wie M.S. Lotter gezeigt hat – die moralische Ansprechbarkeit und Gewissensbildung stark davon abhängt, sich mit den Augen anderer sehen zu können, und davon, dass wir uns in einem sozialen Raum wechselseitiger Anerkennung bewegen.2 Menschen werden dadurch verantwortlich, dass sie die normativen Orientierungen nicht aus einem individualisiert gedachten Gewissen schöpfen, sondern indem sie sich die normativen Erwartungen der anderen so zu eigen machen, dass sie sich an ihnen wie an eigenen orientieren. Und dabei spielt das Gefühl der Scham, das Abwägen von Erwartung und Pflicht, von Vorsicht und Rücksicht in einer Gruppe, deren Anerkennung man braucht, eine entscheidende Rolle. Und im Hinblick auf die Schamerfahrung zeigt sich, dass sie zwar »unter den Augen der Anderen« empfunden wird, aber gleichwohl auch als Akt der 2
Vgl. Lotter, Scham, passim.
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Selbstdeutung, als Phänomen des reflektierenden Selbstbewusstseins aufzufassen ist.3 Die Ethnographie hat auf Kulturen hingewiesen, die vor allem eine außengeleitete Verhaltenssteuerung zu kennen scheinen. R. Benedict und M. Mead haben dafür den Begriff der »Schamkultur« eingeführt. Die Angst, in den Augen der Anderen beschämt zu werden, bestimmt das Handeln. Solange niemand etwas gesehen hat, ist es nicht geschehen.4 Eine innengeleitete Verhaltenssteuerung scheinen solche »Schamkulturen« nicht zu kennen. Doch hat sich auch im Hinblick auf die westlichen Gesellschaften gezeigt, die Benedict als »Schuldkulturen« ansprach, dass hier die Verhaltenssteuerung keineswegs ohne Schamregulierung von statten geht. Mit einigem Recht beschreibt St. Marks die Scham als die in der westlichen Welt am meisten unterschätzte Emotion.5 Kulturvergleichend würde sich wohl zeigen lassen, dass in den meisten Kulturen Mechanismen der Außen- und Innensteuerung des Handelns aufeinander bezogen sind, wenn auch in kulturell beträchtlich differenten Gewichtungen. Auch wenn Scham und Schuld zu unterschiedlichen Vorstellungskreisen gehören, so überlagern sich beide Themen in den konkreten Lebensvollzügen oder literarischen Darstellungen von SchuldStrafe-Zusammenhängen ständig und in vielfältiger Weise. Dies ist auch in den alttestamentlichen Texten nicht anders. So werden Unheil und Schädigungen aller Art als Beschämungen, Ehr- und Statusverlust erfahren. In der Rechtsüberlieferung haben die verhängten Strafen und Sanktionen nicht selten den Charakter von öffentlichen Beschämun3 4
Vgl. den Beitrag von Jan Dietrich in diesem Band. Benedict, Chrysantheme, passim, sowie mit zeitgenössischen afrikanischen Beispielen Sundermeier, Scham, 23f. 5 So der Untertitel der Monographie von Marks, Scham.
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gen (Ausschluss aus der Gemeinschaft; negative Stigmatisierung; beschämende Todesstrafen wie Steinigung oder Pfählen, Verweigerung von Begräbnissen u.a.). Umgekehrt gilt der Angriff auf die Ehre und die öffentliche Anerkennung eines Menschen als schweres Delikt, das strafrechtlich relevant und entsprechend zu ahnden ist (z.B. Verleumdungen oder unterlassene Solidarverpflichtungen bei der Leviratsehe). II. Die Szenerie von 2Sam 10–12 Die Textwelten der Samuelbücher zeigen in vielfältiger Weise die außerordentliche Bedeutung, die öffentliche Ehre, Status und Ansehen haben, und auf der anderen Seite die vernichtende Wirkung von Ehrverlust, Beschämung und Schande.6 Im Zusammenhang der Erforschung des Honor/Shame-Paradigmas in mediterranen Gesellschaften hat G. Stansell schon früh darauf hingewiesen, dass sich entsprechende Konstellationen gerade in den Überlieferungen der Samuelbücher finden.7 Ich 6
Die Fachliteratur, die sich unter der genannten Fragestellung speziell mit den Samuelbüchern befasst, ist nicht zahlreich. Monographische Bearbeitungen fehlen. Vgl. Stansell, Honour (1992), Clines, David (1995), Olyan, Honor (1996) und Dietrich, Ehre (2009). 2Sam 12,7–14 ist darin bisher nicht untersucht worden. 7 Stansell, Honour, 114: »Many elements within the various episodes reflect the social world of ancient Israel, as the anthropological studies of Bedouin and Mediterranean societies help clarify: the challenge-response pattern, revenge for insults, mediation, family solidarity, and sexual purity of the female bound up in the honor of the male.« Die Frage, ob die biblische Literatur insgesamt oder die altisraelitische Kultur als typisch mediterrane Schamkultur anzusprechen ist, wird heute mehrheitlich kritisiert. Vgl. Stiebert, Shame, 259–263; Grund, Scham/Schande; Chibici-Revneanu, Ehre/Scham, bes. 4.2.3 »›honor and shame‹ – ein Erklärungsmodell für biblisch-
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möchte nur ein einziges, freilich berühmtes Beispiel herausgreifen, nämlich die göttliche Reflexion von Davids Ehebruch und Mord in der Drohrede des Propheten Natan in 2Sam 12. Im Gedächtnis der Nachwelt ist von Natans Auftritt nicht diese Gottesrede, sondern vor allem seine Parabel geblieben, in der es um die Gier eines reichen Mannes geht, der einem Armen sein einziges Schaflamm raubt, um es einem Gast vorzusetzen. Mit seinem berühmten »Du bist der Mann!« überführt der Prophet den schuldig gewordenen König.8 Daran schließt sich eine in mancherlei Hinsicht problematische Strafandrohungsrede Gottes an (V.7–14). Die ganze Szenerie von Davids Ehebruch und den Folgen ist erzählerisch eingebettet in einen Krieg gegen das Nachbarvolk der Ammoniter. Dieser Krieg wird seinerseits als Reaktion auf eine öffentliche Beschämung geführt (2Sam 10). Angesichts des Todes des ammonitischen Königs schickt David Diplomaten nach Rabbat Ammon, um dem verstorbenen König die Totenehre zu erweisen und an den Trauerriten teilzunehmen. Die Ammoniter sehen die Boten Davids jedoch als feindliche Spione und behandeln sie entsprechend entehrend. Sie verunstalten ihre Bärte, schneiden ihnen die Kleider bis zum Gesäß ab und schicken sie fort. Damit sind nicht nur die königlichen Diplomaten Davids auf das Äußerste entehrt und vor aller Augen, öffentlich schwer beschämt, sondern auch derjenige, der sie entsandt hat. Man kann hierbei den Unterschied von Beschämung und Schande sehr anexegetische Wissenschaft?« und den Beitrag von Christian Strecker in diesem Band. 8 Darauf macht auch Berger, Ehre, 79 aufmerksam. Für ihn ist Natans »Du bist der Mensch!« (sic) ein frühes Beispiel für die Entdeckung der menschlichen Würde, die Berger als Bewusstsein einer Menschlichkeit versteht, die es »hinter und unterhalb der von der Gesellschaft auferlegten Rollen und Normen« gibt.
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schaulich zeigen. Zwar ist Beschämung eine Erfahrung des Verlustes an Anerkennung, die »vor den anderen« empfunden werden muss, aber Schande geht über diese subjektive Erfahrung hinaus. Sie bezeichnet ihr objektives Resultat, die soziale Degradierung, den Verlust an Status und Ehre in einem sozialen Raum. David rät seinen Diplomaten, so lange in Jericho zu bleiben, bis die Bärte nachgewachsen sind. Erst dann können sie ohne Gesichtsverlust »vor aller Augen« zurückkehren, weil auch diese Leibesschande vor der Öffentlichkeit in Israel verborgen werden muss. Als die Ammoniter sehen, dass sie sich auf diese brachiale Weise in den Augen Davids verhasst gemacht haben – das hebräische Wort dafür ist drastischer: »als sie sich David gegenüber stinkend gemacht haben« – rüsten sie zum Krieg. Dieser Akt der Beschämung ist zugleich ein demonstrativer Akt der Aufkündigung etwaiger vertraglicher Verpflichtungen.9 Auch David nimmt diese Kriegserklärung an und zieht nun seinerseits gegen die Ammoniter, bis die Hauptstadt Rabbat Ammon nach längerer Belagerung fällt. David revanchiert sich für die ihm angetane Schande, indem er sich die feindliche Königskrone aufs Haupt setzt und das besiegte Kriegsvolk versklavt, also Reputation und Ansehen seiner Feinde seinerseits in aller Augen erniedrigt. Schon hier ist zu sehen, dass öffentliche Entehrung eine irreversible Beleidigung darstellt und als hinreichender Kriegsgrund aufgefasst wird. In diesem Beispiel sind die Aspekte der Leibesehre (der eigene Körper als Träger von symbolischem Kapital der Ehre) aufs Engste mit der Statusehre, dem sozialen Rang und Ansehen in der Öffentlichkeit verbunden.10 9 Vgl. zu 2Sam 10 Stansell, Honor, 109–111; Olyan, Honor, 212–213. 10 Zur Differenzierung von Leibes- und Status- und Ruhmesehre Dietrich, Ehre, 422–437.
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David selbst bleibt während der Kämpfe in Jerusalem und erscheint vor den Toren von Rabbat Ammon erst, um als Sieger die Königswürde der eroberten Stadt entgegen zu nehmen. In Jerusalem begeht David Ehebruch mit der schönen Batscheba, der Ehefrau des Hetiters Urija. Als Batscheba schwanger wird, lässt David seinen Krieger Urija von der Front zurückbeordern und versucht vergeblich, ihn zum Beischlaf mit seiner Frau zu überreden, damit Urija als Vater des Kindes hätte gelten können. Als Urija dies mit Hinweis auf das religiöse Kriegerethos ablehnt, schickt ihn David mit dem berühmten »Urijabrief«11 zurück an die Front. In diesem Brief wird General Joab aufgefordert, Urija an vorderster Front bei der Belagerung einzusetzen und ihn im Kampf dann allein zu lassen, damit er getötet wird. Dies geschieht auch. Urija stirbt und David quittiert seinem General Joab die Todesnachricht lapidar: »Es sei diese Sache nicht böse in deinen Augen. Denn das Schwert frisst mal diesen und jenen.« (2Sam 11,25) Nach dem Ende der Trauerzeit nimmt David sodann die Kriegerwitwe zu seiner Ehefrau und in seinen Palast, wo sie für David einen Sohn zur Welt bringt. Eigentlich könnte über diese Sache jetzt Gras wachsen. Nun kommt aber Gott ins Spiel, der dem König diesen schweren Frevel nicht durchgehen lässt: »Und es war die Sache, die David getan hatte, böse in den Augen Jhwhs« (2Sam 11,27b). Und Jhwh schickt nun den Propheten Natan zu David. David hat sich zweifellos mehrerer schwerer Vergehen schuldig gemacht: zunächst der Ehebruch, der nach altorientalischem Recht als Vergehen gegen die Zugehörigkeitsrechte eines anderen Mannes zu verstehen ist und in allen antiken Rechtskulturen harte Sanktionen bis hin zur Todesstrafe 11
Zu diesem Erzählmotiv vgl. Naumann, David als exemplarischer König, 136–167.
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nach sich zog. Zum anderen die hinterhältige Tötung seines Kriegers, was neben dem Mord noch einen schweren Schatten auf die Heerführerqualitäten des Königs wirft. Der Erzählung ist es wichtig, David auf mehreren Ebenen als paradigmatischen Schuldigen zu zeigen, um damit auch aufweisen zu können, dass sich sogar Könige wie David der göttlichen Beurteilung ihres Handelns, also der Prophetie, unterzuordnen haben.12 Denn nur durch die Anerkennung seiner Schuld entgeht der überführte David der Todesstrafe. III. Göttliche Reflexion von Davids Schuld in 2Sam 12,7–12.13–14 Natans Auftritt beginnt mit der erwähnten Parabel, in deren Zentrum die Gier des Mächtigen gegenüber dem Schwachen steht. Der empörte David, der Natans Erzählung als Bericht über einen aktuellen Rechtsfall missversteht, fordert die Todesstrafe für den Täter und vierfachen Schadensersatz für den beraubten armen Mann. Wir befinden uns mitten in einem Schuld-Strafe-Diskurs. Von Ehre und Scham war in der ganzen Ehebruchserzählung bisher ausdrücklich nicht die Rede. Diese Ebene wird nun erst durch die Gottesrede eingebracht: Davids Reaktion auf Natans Parabel 5 Und der Zorn Davids entbrannte heftig über den Mann, und er sagte zu Natan: »So wahr Jhwh lebt: Ja, ein Kind des Todes ist der Mann, der, der so etwas tut. 6 Und das Lamm soll er vierfach ersetzen, deswegen, weil er diese Sache getan, und dafür, dass er kein Mitleid empfunden hat.« 12 Zu den Erzählinteressen von 2Sam 10–12 vgl. Naumann, David als exemplarischer König, passim.
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7 Da sagte Natan zu David: »Du bist der Mann!« Gottesrede Prolog – heilsgeschichtlicher Rückblick »So spricht Jhwh, der Gott Israels: Ich habe dich zum König über Israel gesalbt, und ich habe dich aus der Hand Sauls gerettet. 8 Ich habe dir das Haus deines Herrn (Sauls) gegeben, und die Frauen deines Herrn (Sauls) in deinen Schoß. Und ich habe dir das Haus Israel und Juda gegeben, und wenn das zu wenig war, so füge ich dir noch dieses und jenes hinzu. Erstes zweiteiliges Gerichtswort 9 Aber warum hast du das Wort Jhwhs verachtet und etwas getan, was Böse in seinen Augen ist? Urija, den Hethiter, hast du mit dem Schwert erschlagen, und seine Frau hast du dir zur Frau genommen; und ihn hast du durch das Schwert der Ammoniter umgebracht. 10 Und jetzt – soll das Schwert nicht mehr von deinem Haus weichen für immer (‘ad ‘ôlām), denn du hast mich verachtet und du hast dir die Frau des Hetiters genommen, damit sie deine Frau werde. Zweites zweiteiliges Gerichtswort 11 So spricht Jhwh: Siehe, aufrichten werde ich gegen dich Böses in deinem Haus, und ich werde dir deine Frauen wegnehmen vor deinen Augen und sie deinem Nächsten geben; er wird bei deinen Frauen liegen unter den Augen dieser Sonne. 12 Ja, du hast es heimlich getan, ich aber werde diese Sache tun vor ganz Israel und vor der Sonne« (vgl. 2Sam 16,21f).
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Davids Erwiderung 13 Darauf sagte David zu Natan: »Ich bin gegen Jhwh schuldig geworden.« Natans Erwiderung Natan antwortete David: »Zwar hat Jhwh deine Verfehlungen vorübergehen lassen, du musst nicht sterben, weil du jedoch Jhwh durch diese Sache verhöhnt hast, vor seinen Feinden,13 muss auch der Sohn, der dir geboren wird, gewiss sterben.«14
Für unser Thema ist zum einen interessant, dass Gott die Schuld Davids gegenüber den menschlichen Betroffenen als Angriff auf sich selbst und als Störung des Gottesverhältnisses interpretiert. Vor allem aber, dass ausschließlich Verben aus dem Begriffsfeld von Ehre und Scham gewählt werden, um diese Störung und die sich daraus ergebenen Sanktionen zu beschreiben. Es heißt nicht »Warum bist Du schuldig geworden?«, sondern »Warum hast Du mich verachtet?« (V.9.10b »verhöhnt«). Und weil du mich verachtet und vor dem Forum meiner Feinde verhöhnt hast (V.14), deshalb werde ich dich jetzt und künftig öffentlich beschämen und entehren. Verachtung und Verhöhnung Gottes ist der Grundvorwurf der Rede. 13
Der hebräische Text (MT) wäre wörtlich zu übersetzen: »weil du die Feinde Jhwhs schändlich verhöhnt hast«, was im Wortsinn widersinnig ist. Vielmehr gehört die Einfügung der Feinde zu den sich mehrfach in den Samuelbüchern findenden Euphemismen, die eine ältere Textvorlage aus theologischen Gründen abmildern, um nicht so deutlich von der Vera letzung der Ehre Gottes sprechen zu müssen. Auch 4QSam weiß hier nichts von den Feinden. Vgl. zum Ganzen Tov, Text, 225f; Schorch, Euphemismen, 50–52. 14 Zur Begründung dieser Übersetzung vgl. Oswald, Natan, 129, der auf S. 116–129 eine ausführliche Untersuchung und überzeugende Gliederung der Gottesrede vorlegt.
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Dieser Diskurswechsel öffnet einen symbolischen Raum, in dem es um Status und Anerkennung sowohl Gottes wie auch des schuldig gewordenen Davids geht. Und das Anliegen meines Betrags liegt darin, diesen sozialen Raum auszuleuchten, in welchem der Erzähler Gott hier agieren lässt. Schon die Verben »verachten« und »verhöhnen« zeigen soziale Relationsbegriffe der Degradierung, die hier ohne Umschweife als anthropomorphe Projektion mit Gott verbunden werden: Das hebr Verb bāzāh, das hier mit »verachten« wiedergegeben wird, gehört in die soziale Welt von Anerkennung auf der einen und Geringschätzung, Beschämung und Verachtung auf der anderen Seite. Es meint in seiner Grundbedeutung »geringschätzig behandeln«.15 Parallele Ausdrücke wären »beschämen, erniedrigen, verfluchen«. Eine bāzāhHandlung ist ein Angriff auf das »symbolische Kapital« der Ehre, des Ranges und des Status einer Person in einer sozialen Gemeinschaft. Davids Ehebruch und Mord wird in der Gottesrede demnach als Angriff auf die Ehre und den Status der Gottheit verstanden.16 Davids eigene Reaktion auf diese Gottesrede – sein Schuldeingeständnis – argumentiert dann aber nicht im Zusammenhang von Ehre und Beschämung der Gottheit, sondern kehrt in den Diskurszusammenhang der Schuld und ihrer Folgen zurück. Wenn er einräumt: »Ich bin gegenüber Gott schuldig geworden!«, akzeptiert er zwar die vertikale Dimension seiner Schuld. David sieht sie nicht (nur) als Schuld gegenüber den betroffenen Individuen und ihren Familien, sondern als Schuld gegenüber Gott. Er selbst aber nimmt zu dem Vorwurf, dass er seinen Gott verachtet und dessen 15 16
Vgl. Görg, Art. bāzāh, 580–585. Dieses Verb begegnet in den Samuelbüchern noch mehrfach (vgl. noch 1Sam 2,30; 10,27; 17,42; 2Sam 6,16).
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Status-Ehre verletzt habe, nicht Stellung. Die Erwiderung des Propheten kehrt jedoch in diesen Scham/Schande-Diskurszusammenhang der Gottesrede zurück. Zwar werden Davids Verfehlungen am Täter vorübergehen, so dass er nicht sterben muss. Aber da er Gott durch sein Verhalten vor seinen Feinden »verhöhnt« hat, wird sich Davids Verfehlung auch im Nahbereich seiner Familie so auswirken, dass der im Ehebruch gezeugte Sohn gewiss sterben muss.17 Das hebr. Verb nāʾaṣ, hier im Intensivstamm gebraucht, meint nicht nur geringschätzig ansehen, sondern auch Aktionen, mit denen ein anderer verächtlich gemacht wird. Vor allem ist hier an verbale Schmähungen, Lästerungen, Verleumdungen zu denken.18 »Vor den Feinden« markiert nun genau den sozialen Raum, in dem Gott um Status, Ehre und Anerkennung kämpft. Die Feinde Gottes sind die »Augen der bedeutend Anderen«, das bewertende Forum, das für Beschämungserfahrungen notwendig ist. Wer diese Feinde Gottes sind, wird nicht gesagt. Es müssen aber Instanzen sein, mit denen Gott (auf Augenhöhe) um Status und Ehre wetteifert, sonst könnte er die sozial degradierende Erfahrung, verhöhnt zu sein, gar nicht machen. Warum sieht sich die Gottheit durch Davids Schuld überhaupt betroffen, verachtet und verhöhnt? Sie könnte doch in richterlicher Vollmacht einfach Davids Schuld benennen und die Tatfolgen festlegen, so wie es David selbst in der Pose des Richters über den reichen Mann in der Parabel getan hat (V.6). Ich vermute, dass der Erzähler das Gottesverhältnis Davids nach dem Modell von Pa17 Oswald, Natan, 129: »Insgesamt hat David drei Tatfolgen zu gewärtigen: eine in kurzer Frist eintreffende, der Tod des Kindes, eine mittelfristig eintreffende, der Missbrauch seiner Frauen, sowie eine langfristig wirkende, das Wüten des Schwertes in seiner Dynastie.« 18 Vgl. Wildberger, Art. nʾṣ, 3–6; Ruppert, Art. nāʾaṣ, 129–137.
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tron und Klient gestaltet. Denn wenn David als Klient gegen die ihm von seinem Patron auferlegte Verpflichtung handelt, fällt das von ihm begangene Unrecht auf seinen göttlichen Patron zurück, wird dessen Status verletzt und dessen Ehre bedroht. Der Patron muss sich dann zwingend gegen diesen Ehrverlust wehren, um seine Statusehre wieder herzustellen. Die formale Struktur der Gottesrede ist nicht so konfus, wie gelegentlich behauptet wird, auch wenn in V.9–12 einige Aspekte doppelt begegnen.19 Sicher lassen sich zwei mit der Botenformel eingeleitete Redeteile (V.7b–10.11f) abgrenzen, die jeweils in ein Unheilswort münden, das wiederum mit einem Nachsatz begründet wird.20 Durch Stichwörter und Sachanklänge ist die Rede mit dem unmittelbaren literarischen Kontext der Ehebruchserzählung verknüpft,21 auch wenn ihr Hori19 Zweimal ist in je unterschiedlicher Weise von Urijas Geschick vor Rabbat Ammon die Rede (V.9aβ durch das Schwert Davids; V.9bβ durch das Schwert der Ammoniter), zweimal davon, dass David die Frau Urijas zur Frau genommen hat (V.9bβ.10bβ). Dass David Jhwh verachtet hat, wird in V.9aα. 10bα ebenso doppelt erwähnt wie das Angesicht der Sonne in V.11bβ.12bβ. Diese Wiederholungen begegnen nie als wörtliche Dubletten, sondern sind in synchroner Hinsicht Variationen zur Verstärkung der jeweiligen Aussage. 20 Vgl. Oswald, Natan, z.St. Vgl. auch Fokkelman, Art, und Hentschel, Auftritt. 21 Der zentrale Vorwurf des Ehebruchs und des Mordes binden die Prophetenrede an die in Kap. 11 erzählten Ereignisse. Das Stichwort vom »Tun des Bösen in den Augen Gottes« (V.9a) nimmt 11,27a auf. Das Stichwort des unbefugten »Zur FrauNehmens« (11,4; 12,4) wird in V.9.10.11 dreifach wiederholt, zweimal im Schuldaufweis, einmal in der Gerichtsankündigung, und ist für Oswald der zentrale Vorwurf der Natanrede. Mit der Szenerie der Parabel lässt sich das Stichwort »im Schoß liegen« (vgl. beḥêq V.3b.8a) verbinden. Und das Argument von V.8, dass Gott David alles im Überfluss geschenkt habe, nimmt das Bild vom Überfluss des reichen Mannes der Parabel auf, greift freilich auch auf 2Sam 7 zurück.
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zont weit darüber hinaus geht und das Ergehen der gesamten Dynastie Davids umfasst. Inhaltlich umkreist die Gerichtsrede die beiden Verbrechen Davids gegenüber dem Hetiter Urija (Ehebruch und Mord), reflektiert diese aber nicht individualethisch, wie es Natans Erzählung vom Viehdiebstahl nahelegen könnte, sondern staatspolitisch mit Blick auf Königtum und Dynastie, womit auch die Verfügung über die (königlichen) Frauen verbunden wird. Nicht nur der Mord an Urija, auch das königliche »Nehmen« der Frau des Urija (beides doppelt erwähnt in V.9–10) werden nicht als individuelle, sondern als politische Schuld verstanden. Die Tötung Urijas, die in V.9a David unmittelbar angelastet wird, führt im strengen TatFolge-Zusammenhang dazu, dass das Schwert (also Zwietracht, Krieg und Tod) von Davids Haus und Dynastie »‘ad ‘ôlām – für immer« nicht mehr weichen wird. Der heimliche Ehebruch mit der Frau des Urija wird zur Folge haben, dass einer aus Davids Haus die königlichen Frauen Davids öffentlich »beschläft« und auf diese Weise David bleibend entehrt und beschämt. Die angekündigten Tatfolgen nehmen ihr Maß an den Vergehen und steigern ihre Wirkungen entsprechend. Wir haben hier erkennbar zwei Linien: Die eine sanktioniert den Mord an Urija durch das Schwert damit, dass infolgedessen das Schwert nicht mehr vom Hause Davids weichen wird. Der zeitliche Horizont des ersten Gerichtswortes ist viel weiter. Wenn das Schwert vom Haus Davids für immer nicht mehr weichen soll, ist die gesamte davidische Dynastie und wahrscheinlich schon ihr Ende im Blick. Alle kommenden politischen Wirren der davidischen Dynastie, die doch gerade erst begonnen hat, werden hier als Folge von Davids Tötung des Hetiters Urija verstanden. Mit seiner Gerichtsdrohung »‘ad ‘ôlām« nimmt der Prophet Natan die bekannte göttliche Bestandsgarantie für das Haus Davids
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(‘ad ‘ôlām in 2Sam 7,16) zwar nicht zurück, aber ergänzt sie um eine göttliche Gewaltgarantie. Die andere Linie zielt auf die bleibende Beschämung und öffentliche Herabsetzung des Täters, die im Verlust und in der Entehrung seiner Frauen gesehen wird. Das Thema »Frauen geben« und »Frauen nehmen« durchzieht den ganzen Text. Damit sind wir in einem Vorstellungsfeld, wonach die Statusehre eines Mannes vor allem im Status der ihm zugehörigen Frauen gesehen wird, wie es für viele patriarchale Kulturen, auch die antiken Mittelmeerkulturen, typisch erscheint. Dieser Zusammenhang wird hier sehr drastisch entfaltet und zeigt, wie Ehebruch im Normenhorizont männlicher Statusehre verstanden wird. Die Gottheit reagiert hier in gewisser Weise als beschämter Patron, als Mann, der seine Ehre angegriffen sieht und die ihm geltende Beschämung dadurch abwehrt, dass er sich an den Frauen seines Beschämers vergreift. Damit möchte er den Schädiger treffen und nun seinerseits beschämen. Es sei daran erinnert, dass Ehebruch als Eingriff in die Zugehörigkeitsrechte eines anderen Mannes verstanden wird, der diesen nachhaltig in seinem Status und Ansehen beschämt und beschädigt. Es ist eine Auseinandersetzung unter Männern: Schon der Schuldaufweis orientiert sich ausschließlich an Davids Vergehen gegenüber dem Mann Urija, wenn es heißt: »Urija, den Hethiter, hast du mit dem Schwert erschlagen, seine Ehefrau hast du dir zur Ehefrau genommen« (V.12). Davids außerehelicher und ehebrecherischer Sexualkontakt mit Batscheba spielt hier gar keine Rolle, auch ihr Name wird nicht erwähnt. Batscheba wird ausschließlich als Ehefrau des Urija aufgerufen. Auch von einer Mitwirkung am Ehebruch ist hier nicht die Rede. Der Text macht klar, dass es ausschließlich um eine Auseinandersetzung um Ehre und Ehrverletzung unter Männern geht. David ist an Urija und gegenüber seinem göttlichen
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Patron schuldig geworden. Und die vorgesehenen Sanktionen Gottes zielen auf die öffentliche Beschämung Davids. In der Vorstellungswelt dieser prophetischen Unheilsrede sind Frauen »Verfügungsmasse« männlicher Patrone (Ehemann, König, Gott).22 Hierzu gehört auch die Vorstellung, dass der König die Frauen seines Vorgängers übernimmt.23 Gott selbst, so seine Einschätzung in V.8a, habe die Frauen Sauls in Davids Schoß transferiert und wird nun dafür sorgen, dass Davids Frauen weggenommen und von einem aus Davids Haus öffentlich geschändet werden. So wie Urija seine Frau durch David verloren hat, wird auch David seine Frauen verlieren. Aber was David heimlich tat, wird ihm alsbald öffentlich im Angesicht der Sonne und ganz Israels widerfahren, und zwar durch Gott selbst, der in V.12 als eigentliches Subjekt dieses Vorgangs hervortritt. Die betroffenen
22 Clines, David, 223f. zeigt, wie diese Statuskämpfe unter Männern das »masculinity-Konzept« der Davidüberlieferung prägen. Männer sind in eine Männergemeinschaft eingebundene »bonding male«, und Frauen spielen darin nur selten und dann auch nur als »Prestigeobjekte« eine Rolle. Dies berührt sich mit Bourdieus Beobachtung, der die Bedeutung des Wettbewerbs für die Konstruktion von Männlichkeit hervorhebt. Die »ernsten Spiele« dieses Wettbewerbs werden stets unter Männern ausgetragen, die sich als Gegner/Partner gegenüberstehen. Frauen sind hier »Spieleinsatz« im Wettbewerb der Männer untereinander. Vgl. Bourdieu, Herrschaft, 78– 95. 23 Ein Thema, das bereits in 2Sam 3,7f (Abner und Rizpa) anklang. Aus dieser und anderen Stellen hat die ältere Forschung (Fohrer, Tsevat, Ishida) geschlossen, dass es im antiken Israel wie auch im Alten Orient Brauch gewesen sei, dass der Nachfolger den Harem seines Vorgängers zu übernehmen habe. Doch ist die These zurückzuweisen. Weder tauchen Sauls Ehefrauen in den Frauenlisten Davids auf, noch hören wir aus der übrigen Königsüberlieferung darüber etwas. Und die beigebrachten altorientalischen Belege sind nicht überzeugend. Vgl. Kiesow, Löwinnen, 67f.
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Frauen treten als Opfer und Leidtragende dieser grausigen Szenen jeweils nicht in den Blick. Das hier Angekündigte wird später tatsächlich erzählt. Auf dem Höhepunkt des Putsches von Prinz Abschalom gegen den eigenen Vater, der David machtpolitisch nahezu völlig isoliert und zur Flucht aus Jerusalem treibt, spielt sich unmittelbar nach Abschaloms Einzug in Jerusalem die folgende Szene ab: 21 Ahitofel sprach zu Abschalom: Geh ein zu den Nebenfrauen deines Vaters, die er zurückgelassen hat, um das Haus zu bewahren, so wird ganz Israel hören, dass du dich bei deinem Vater in Verruf gebracht (wörtl. stinkend gemacht) hast; dann werden alle, die zu dir stehen, desto kühner werden. 22 Da machten sie Abschalom ein Zelt auf dem Dach, und Abschalom ging zu den Nebenfrauen seines Vaters ein vor den Augen ganz Israels.
Auch diese Aktion steht im Zeichen der öffentlichen Beschämung und Beschädigung des abwesenden Feindes. Ihr Ziel wird deutlich genannt. Es geht um eine irreversible Beschämung des Gegners, um die öffentliche Demonstration der unüberwindbaren Feindschaft Abschaloms mit seinem Vater, aus der es kein Zurück gibt. Damit soll Gefolgschaftstreue generiert werden. Ganz Israel soll erkennen, dass sich Abschalom gegenüber seinem Vater »stinkend«, d.h. abscheulich und verhasst gemacht hat, wie es drastisch heißt. Die öffentliche Beschämung des Gegners soll die Kampfkraft der Männer Abschaloms stärken.24 Die zehn Palastfrauen sind auch hier nur Mittel zum
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Für die ältere These, dass diese Szene als symbolischer Akt der Thronübernahme aufzufassen ist, fehlt jeder Anhalt im Text wie in den Umweltkulturen. Es geht um eine irreversible Beleidigung des Feindes, um Kampfeswillen und Gefolgschaftstreue zu sichern.
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Zweck.25 Wieder geht es um den Wettstreit um die männliche Statusehre. Das gleiche Verb nibʾaš »sich verhasst, sich stinkend machen« ist uns bereits in der eingangs erwähnten Szene von der öffentlichen Beschämung der Diplomaten Davids (2Sam 10,6) begegnet. Über das weitere Schicksal dieser zehn Palastfrauen unterrichtet 2Sam 20,3. Bei seiner Rückkehr nach Jerusalem nimmt David diese zehn Frauen und bringt sie in ein bewachtes Haus, wo sie versorgt werden. Der König pflegte aber keinen sexuellen Umgang mehr mit ihnen. »Und sie blieben eingeschlossen bis zum Tag ihres Todes – Witwen zu Lebzeiten ihres Mannes.« Wir kehren zu 2Sam 12 zurück und fragen nach dem kulturellen Hintergrund der in der Gottesrede entfalteten Beschämungsvorstellungen. IV. Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund der Gottesrede 1. Die Frauen und der Wettbewerb um männliche Statusehre Wir haben gesehen, dass die Gottheit die Beschämung und öffentliche Herabsetzung des königlichen Täters mit dem Verlust und der Entehrung seiner königlichen Frauen verbindet. Damit sind wir in einem sattsam bekannten und vielfach beschriebenen Vorstellungsfeld,26 wonach die Status25 Gegenüber der Ankündigung von 2Sam 12,11f fällt auf, dass es sich hier nicht um Haupt-, sondern um Nebenfrauen handelt, die David bei seiner Flucht aus Jerusalem zurückgelassen hat. Es fehlt in 2Sam 16 auch ein Erfüllungsvermerk hinsichtlich des göttlichen Gerichtswortes. Daraus lässt sich folgern, dass die dtr. Gottesrede in 2Sam 12 auf die in der Überlieferung bereits vorliegende Szene 16,21–23 Bezug nimmt und entsprechend gestaltet wurde. 26 Aus der anthropologischen Honor/Shame-Forschung vgl. Campell, Honour, und Peristiany, Honour; dazu Bourdieu, Herr-
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ehre eines Mannes vor allem im Status der ihm zugehörigen Frauen gesehen wird. Danach ist das Konzept der Ehre primär mit dem Mann verbunden. Männer stehen untereinander in einem Wettbewerb um ihre Ehre und verteidigen sie, wenn sie angegriffen werden, häufig durch Gegenangriff (Schamabwehr), während die »Ehre« der Frau in besonderer Weise darauf gerichtet ist, ihre sexuelle Scham zu bewahren und sich entsprechend sorgsam zu verhalten und von allem Abstand zu nehmen, was »in den Augen der Anderen« als schändlich gilt. Eine Verletzung dieser sexuellen Scham würde nicht nur die Frau, sondern vor allem ihren Mann und damit die ganze Familie entscheidend beschädigen. Und ihr Mann wäre in einem solchen Fall ohne Rücksicht auf die Kosten verpflichtet, diese Schmach zu vergelten. Wie aber kommt der prophetisch inspirierte deuteronomistische Autor der Gottesrede in 2Sam 12 dazu, Gott in dieser Weise auftreten zu lassen? Diese göttlichen Unheilsdrohungen lassen Verbindungslinien zu den Fluchreihen altorientalischer Vasallenverträge erkennen. Darin werden den Vasallen im Fall eines Vertragsbruches in langen Fluchreihen martialische Folgewirkungen angedroht, die auch das Schicksal der königlichen Frauen betreffen. In den allermeisten Fällen ist allerdings die königliche Familie insgesamt betroffen, also Frauen, Brüder, Söhne und Töchter. In einzelnen, seltenen Fällen aber wird dem eidbrüchigen assyrischen Vasallen auch die Schändung seiner Ehefrauen angedroht, so im § 42 der Vasallenverträge Assarhaddons mit medischen Fürsten (7. Jh. v.Chr.): schaft, 90–96. Ich verzichte darauf, dieses Honor/Shame-Konzept der Typik von Mittelmeerkulturen zuzuweisen. Es reicht m.E. aus, hier eine für patriarchale Gesellschaften typische Codierung von Ehre versus Scham zu sehen.
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»So möge Venus, die Strahlendste unter den Sternen, vor euren Augen eure Gattinnen im Schoße eures Feindes liegen lassen, eure Söhne mögen euer Haus nicht besitzen, ein fremder Feind möge euer Gut verteilen und dafür sorgen, dass eure Frauen vor euren Augen im Schoß eurer Feinde liegen!«27
Auch hier ist die Gottheit selbst diejenige, welche die Schändung der königlichen Frauen durch den Feind bewirkt. Und der Vorgang soll – um die Beschämung zu steigern – »vor den Augen« des vertragsbrüchigen Königs stattfinden. Überdies wird die Schändung der königlichen Frauen in eine Reihe der Verluste königlichen Eigentums gestellt. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass es unter den vielen Inschriften, die von der Grausamkeit der Assyrer mit unterworfenen Feinden handeln, bisher kein Dokument gibt, das die Realisierung eines solchen Fluches belegen würde.28 Ein zweites Beispiel stammt aus dem gleichfalls assyrisch beeinflussten Vasallenvertrag auf der aramäischen Inschrift von Sefire (Mitte 8. Jh. v.Chr.). Hier heißt es: »Und wie dieses Kalb zerstückelt wird, so werde zerstückelt Mati’el und werden zerstückelt seine Großen […] so sollen die Frauen des Mati’el und die Frauen seiner Nachkommen und die Frauen seiner Großen entblößt werden, ergriffen und ins Angesicht geschlagen werden.«29
Der Angriff auf die Ehre des Vertragsbrechers durch die Beschämung seiner königlichen Frauen wird hier nicht als sexuelle Gewalttat, sondern als 27
TUAT I/2, 170 (Borger), vgl. Parpola/Watanabe, Treaties, 46 Z. 428f. Zur Bedeutung der altorientalischen Fluchtraditionen für die die Vorstellung von göttlich verursachter sexueller Gewalt in prophetischen Gerichtsworte vgl. Magdalene, Curses, passim. 28 Vgl. Fuchs, Assyrer, 71f. 29 TUAT I/2, 181f (Rössler).
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Verlust der Kleidung (Schmach der Entblößung, vgl. 2Sam 10) und durch beschämende Schläge ins Gesicht vorgestellt. Spuren solcher Fluchreihen finden sich auch im Alten Testament, etwa in Dtn 28, wo es heißt: »Eine Frau wirst du dir verloben, aber ein anderer wird mit ihr schlafen […] Deine Söhne und deine Töchter werden einem anderen Volk preisgegeben werden und deine Augen müssen es mit ansehen […] aber du wirst machtlos sein« (V.30). C. Koch resümiert für die altorientalischen Vertragsrechtstraditionen, dass in ihr »die Preisgabe der eigenen Frau(en) an den/die Gegner als die größte Schmach« erscheint.30 Auch prophetische Untergangsdrohungen im Alten Testament nehmen solche Traditionen auf, wenn etwa der Prophet Amos dem Oberpriester des Heiligtums von Bet-El, Amazja, die Verbannung ankündigt: »Deine Frau wird zur Hure werden in der Stadt, und deine Söhne und deine Töchter fallen durch das Schwert, und dein Boden wird mit der Messschnur verteilt …« (Am 7,17). In Jes 13,16 wird den Babyloniern das Unheil kriegerischer Niederlage angedroht, bei dem die Kinder zerschmettert, die Häuser geplündert und ihre Frauen geschändet werden. Kann man hier an die für Frauen und Kinder furchtbaren Folgen kriegerischer Niederlagen denken, werden auch in prophetischen Gerichtsworten königliche Frauen und andere Mitglieder der königlichen Familie mehrfach als Beute im Krieg erwähnt.31 Aber sicher muss man bei diesen Gräueln noch einmal differenzieren zwischen der Vergewaltigung von Frauen im Zusammenhang von Kriegshandlungen oder 30 31
Koch, Vertrag, 224. Vgl. 2Kön 24,15; Jer 38,22f. Die königlichen Frauen sind Kriegsbeute wie andere auch. Sie werden hier aber m.E. nicht aus den anderen Mitgliedern der königlichen Familie herausgehoben und erfahren auch keine gesonderte Behandlung zur Beschämung des besiegten Herrschers.
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Plünderungen, dem Verlust der Ehefrauen (als Teil der königlichen Familie) als Kriegsbeute sowie der öffentlichen Schändung der königlichen Frauen durch den Sieger. Für das, was in 2Sam 12,11f angedroht wird, gibt es (wenige) Parallelen in den altorientalischen Fluchtraditionen, nicht aber für das, was in 2Sam 16,21f vollzogen wird. 2. »… unter den Augen der Sonne«32 Es fällt auf, dass in V.11 und V.12 zweimal die Sonne als Zeugin für die Schändung der königlichen Frauen Davids erwähnt wird. Zwar sind die Formulierungen jeweils etwas anders,33 aber es ist klar, dass die Sonne als Gegenbegriff zu Davids »heimlichen« Ehebruch hier eine Instanz der Öffentlichkeit beschreibt, vor der Davids Schuld geahndet wird. Angesichts von religionsgeschichtlichen Überlegungen zu den solaren Konnotationen Jhwhs in der Jerusalemer Theologie hat O. Keel die These vertreten, dass Natan als Vertreter der Jerusalemer Kulttraditionen in 2Sam 12 androhe, dass Davids Untaten vor der Jerusalemer Sonnengottheit rituell gerächt werden müssen,34 zumal auch in Num 25,4 eine barbarische Strafmaßnahme erwähnt wird, die im Gliederverrenken oder Pfählen bestand und vor der Sonne (»nægæd haššæmæš« wie in 2Sam 12,12) ausgeführt wurde. Besonders der hinweisende Akzent der Phrase in V.11 »unter den Augen dieser Sonne« lässt nach O. Keel an die Sonne als personale Größe denken. Würde man diese Szene mit der Symbolik des Sonnengottes oder des solaren Jhwh verbinden, dann stünde 32 33
Für den Hinweis auf diesen Aspekt danke ich Jan Dietrich. V.11 »unter den Augen dieser Sonne«; V.12 »vor ganz Israel und vor der Sonne.« 34 Vgl. Keel, Geschichte, 281, der sich auf Stähli, Elemente, 28–30 beruft.
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die hier aufgerufene Sonne für Gerechtigkeit und die Wahrung der Weltordnung, wodurch noch einmal hervorgehoben werde, dass erst durch die Schändung der königlichen Frauen Davids die göttliche Gerechtigkeit wieder hergestellt wird. Ist Letzteres sicher zutreffend – der Zusammenhang von Sonne und Gerechtigkeit ist biblisch vielfach belegt – ergeben sich doch Einwände gegen die Vorstellung, dass die Schändung der königlichen Frauen hier als Schädigungsritual vor der Jerusalemer Sonnengottheit zu verstehen ist. Denn in der Ausführung dieser Unheilsdrohung in 2Sam 16,21f wird die Sonne gar nicht erwähnt. Der Rat Ahitophels in 2Sam 16,21 sah zunächst vor, dass Abschalom »zu den Nebenfrauen Davids eingeht«, damit »ganz Israel davon hört«. Ausgeführt wird der Vorschlag dann in einem Zelt auf dem Dach (des Palastes) »vor den Augen ganz Israels«. Es geht hier jedenfalls nicht um ein Ritual vor dem Angesicht der Sonne, sondern um die öffentliche Beschämung des Gegners, wobei es völlig ausreicht, dass ganz Israel davon hört (V.21). Auch die Wendung »vor den Augen ganz Israels« heißt nicht, dass ganz Israel bei der Schändung zugeschaut hat, sondern nur, dass ganz Israel davon Kenntnis erlangt. Von hier aus wäre auch die doppelte Erwähnung der Sonne in 2Sam 12,11f vor allem ein Hinweis auf die Öffentlichkeit, in der Davids »heimliche« Untaten öffentlich gemacht und geahndet werden.35 Daher ist es wahrscheinlicher, die Phrase (»nægæd haš-šæmæš« – vor der Sonne) als stereotype Wendung für »in aller Öffentlichkeit« in Parallele zu »in den Augen ganz Israels« und als 35
Ähnlich verhält es sich mit dem nur zweimal im AT vorkommenden seltsamen Schädigungsritus des Gliederverrenkens oder Pfählens. In Num 25,4 wird diese rituelle Strafhandlung »vor der Sonne« ausgeführt, in 2Sam 21,6.9 aber, wo die gleiche Handlung »für Jhwh« erfolgt, wird die Sonne gar nicht erwähnt.
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Gegenwort zu »heimlich« zu verstehen, wie dies auch in 2Sam 12,12 explizit geschieht. Überdies ist natürlich zu beachten, dass die Gottesrede in V.7b– 12 sicher kein altes Überlieferungsgut, sondern eine frühestens exilische, vermutlich aber noch spätere dtr. Ergänzung darstellt, so dass sich von hier aus Rückschlüsse auf alte Jerusalemer solare Racherituale eher verbieten. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass die altisraelitischen Rezipient_innen angesichts der doppelten Erwähnung der Sonne in V.11f auch an Gott als den Wächter und Wahrer der Gerechtigkeit gedacht haben. Schlusserwägungen Bekanntlich wird das Gottesbild in der prophetischen Literatur nicht selten nach der Art eines gekränkten und in seiner Ehre verletzten Ehemannes konstruiert.36 So wird die Aufkündigung der Bundesverpflichtung und der Kult fremder Götter als göttliches Eifersuchtsdrama inszeniert. Das Volk Israel oder die Stadt Jerusalem werden selbst als ehebrecherische Frau angesehen oder als Hure beschimpft, welche die Statusehre des als verlassenem Ehemann vorgestellten Gottes grob verletzt haben. Auch hier sind die in Aussicht gestellten Sanktionen Akte drastischer Beschämung. Allerdings ist in dieser Metaphorik die ehebrecherische Frau die allein Schuldige und die entehrenden Sanktionen gelten ausschließlich ihr.37 In 2Sam 12 liegt der Fall jedoch anders. Hier geht es um einen Männerwettstreit um die Status-Ehre, der über die 36 Vgl. Hos 1–3; Mi 1,6f; Jer 2; 3,1–13; 13,20–27; Ez 16; 23; Jes 49,14–21; 50,1; 54,1–10; 57,3–13; 62,4–5. In Verbindung mit der Scham-Thematik vgl. die Arbeiten von Bechtel, Shame, und Stiebert, Shame. Zum Gesamthorizont: Baumann, Gottesbilder, 110–125. 37 Auch in dieser Bildwelt wird das öffentliche Entblößen der Scham genannt (Ez 22,10; Ez 16,37; 23,10.18; Jes 57,8).
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Schändung der zugehörigen Frauen ausgefochten wird und dessen Ziel es ist, den männlichen Gegner zu beschämen. Eine mögliche Mitschuld Batschebas am Ehebruch wird nirgends in Betracht gezogen. Wir haben gesehen, dass die Gottheit in Natans Gerichtsrede nicht auf der Diskursebene von Schuld und Tatfolge bleibt, sondern Davids Ehebruch und Mord als Angriff auf ihre göttliche Statusehre beurteilt und bewertet, als Verachtung und Verächtlichmachung vor dem Forum der Feinde. Dahinter steckt wohl die Vorstellung eines Gottesverhältnisses im Modell von Patron und Klient, wie wir Vergleichbares auch in den assyrischen Vasallenverträgen finden: Wenn der Klient gegen die geschlossene Vereinbarung handelt, wird die Ehre des göttlichen Patron angefochten und begangenes Unrecht fällt auf diesen selbst zurück. Wenn wir diesen Gestus schampsychologisch näher bestimmen, fühlt sich die Gottheit durch Davids Taten in den Augen von bedeutend Anderen (seine Feinde) beschämt, verachtet und in seinem Status gekränkt. Die Gottheit sieht sich als Geber von Wohltaten für David und ist daher viel unmittelbarer betroffen, wenn sich der Empfänger ihrer nicht als würdig erweist. Man könnte diesen Umschlag eines SchuldStrafe-Diskurses in einen Diskurs von Anerkennung und Beschämung zunächst durchaus positiv deuten und sagen: Die menschliche Schuld, die David auf sich geladen hat, betrifft Gott so sehr, dass er dies selbst als Entehrung und Verachtung der eigenen Person versteht. Insofern verstärkt die Beurteilung von Davids Vergehen als Verachtung Gottes das Gewicht seiner Übertretungen, weil es die Gottesfrage ins Zentrum der Schuldbeurteilung gegenüber Urija stellt. Aber die Art, wie Gott mit seinem eigenen Beschämtsein umgeht, bleibt für uns Heutige sehr irritierend. Er tritt ein in den für
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patriarchale Gesellschaften typischen Wettkampf der Männer um das symbolische Kapital der Ehre. Er reagiert durch aggressive Schamabwehr, indem er Davids Schuld als eigene Beschämung und Angriff auf seine Statusehre auffasst, und er setzt seinerseits öffentliche Beschämung als Sanktion für schwere Schuld ein. Gott verwandelt Schuld in Scham. Eine wesentliche Sanktion ist die Beschämung des männlichen Täters, die hier in der öffentlichen Schändung von zehn gänzlich unbeteiligten Palastfrauen besteht. Literatur Baumann, G., Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006 Bechtel, L.M., Shame as a Sanction of Social Control in Biblical Israel: Judicial, Political, and Social Shaming, JSOT 49 (1991), 47–76 Benedict, R., Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt a.M. 2006 [am. Original 1946] Berger, P., Über den Begriff der Ehre und seinen Niedergang, in: ders. u.a. (Hg.), Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a.M. u.a. 1975, 75–86 Borger, R., Die Vasallenverträge Asarhaddons mit medischen Fürsten, in: TUAT I/2 (1986), 160–176 Bourdieu, P., Die männliche Herrschaft, Frankfurt 2005 Campell, J., Honour, Family and Patronage: A Study of Institutions and Moral Values in a Greek Mountain Community, Oxford 1964 Chibici-Revneanu, Nicole, Art. Ehre/Schande (NT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2010 (Zugriffsdatum: 20.8.2016) Clines, D.J., David the Man: The Construction of Masculinity in the Hebrew Bible, in: ders., Interested Parties: The Ideology of Writers and Readers of the Hebrew Bible (JSOT.S 205), Sheffield 1995, 212–243 Dietrich, J., Über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel: Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i.Br. u.a. 2009, 419–452
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»Ja, auf die Armen hört ydie Lebendigey, ihre Gefangenen verachtet sie nicht« (Ps 69,34) Beschämung und Anerkennung in ausgewählten Psalmen1 I. Scham und Beschämung Auch wenn dem Gefühl der Scham oftmals eine negative Konnotation innewohnt, hat es doch, so haben Forscher_innen zu diesem Affekt in den letzten Jahren vermehrt festgehalten, konstruktive Funktionen. Stephan Marks zufolge kann Scham »Anstoß für Selbstreflexion, Reue, Umkehr und Veränderung sein«2. Als konstruktiv erweist sich Scham jedoch erst in einem entsprechenden Kontext, »in einem ›Raum der Würde‹ [...], in dem Schamgefühle ›sein‹ dürfen und in dem deren Entwicklungsimpulse konstruktiv begleitet und gefördert werden«3. Scham ist also, so sagt es Micha Hilgers, »zunächst kein pathologisches Gefühl, sondern gegenteilig ein wichtiger Regulationsmechanismus [...]. [...] Erst ihre überwältigende Qualität – wenn Schamaffekte das Ich überschwemmen – führt zu destruktiven Entwicklungen [...].«4 Wesentlich sind zwei Unterscheidungen: Zum einen die zwischen einem »gesunden« Maß an Scham und einem traumatischen Übermaß, zum 1 Überarbeiteter und ergänzter Vortrag, gehalten beim Marburger Forschungskolloquium »Die verborgene Macht der Scham« am 02.09.2016; der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Übersetzung von Ps 69,34 in Anlehnung an BigS. 2 Marks, Hüterin, 33. 3 Marks, Hüterin, 33. 4 Hilgers, Scham, 15.
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anderen die zwischen Scham und Beschämung. »Beschämung« bedeutet, dass einem Menschen durch das Umfeld Schamgefühle zugefügt werden, sei es personal oder strukturell.5 Ein überwältigendes Zuviel an Scham zerstört deren konstruktive Entwicklungsimpulse und führt in einen Zustand existentieller Bedrohung – wie etwa beim Ertrinken. Konsequenz ist die Ausbildung verschiedener Mechanismen der Schamabwehr, wobei sich abgewehrte Schamgefühle gegen die eigene Person oder gegen andere richten können.6 Die Hebräische Bibel enthält mit der Paradieserzählung in Gen 2 und 3 einen Text, in dem es um das Zu-Tage-Treten der Scham als eines »natürlichen« Gefühls geht.7 Die Erzählung lässt sich dahingehend deuten, dass die »ersten Menschen« allererst zu einem Empfinden von Scham kommen (müssen) und dass dies gleichsam Voraussetzung für das Eingehen naher, solidarischer Beziehungen sowie für einen anerkennenden Umgang mit der göttlichen Weisung ist. Ohne Scham gibt es kein wirklich menschliches Miteinander im Angesicht Gottes! Das Erlernen von lebensförderlicher Scham wird dabei nicht als etwas von außen in den Menschen Hineinkommendes, sondern im Sinne einer Entdeckung geschildert, die nicht als Beschämung zu missdeuten ist – Gott nämlich stellt »Adam und Eva nicht bloß, sondern bedeckt ihre Scham«8 (Gen 3,21). »Fortan« sind Menschen aufgefordert, in Auseinandersetzung mit dem Gefühl der Scham Leben zu gestalten – und haben mit diesem Gefühl zugleich eine »Grundausstattung«, wie dies wür5
Bei Neckel (ders., Status, 21) heißt es: »Scham ist Wahrnehmung von Ungleichheit, Beschämung eine Machtausübung, die Ungleichheit produziert.« 6 Vgl. hierzu Marks, Scham, 71–101. 7 Vgl. Crüsemann, Frage, passim; Wagner-Rau, Scham, 186– 188; Poser, Scham, 140–145. 8 Marks, Scham, 53.
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devoll gelingen kann.9 Was geschehen kann, wenn Menschen sich nicht anerkannt bzw. beschämt fühlen und wenn sie keinen Umgang mit diesen Gefühlen finden, zeigt eindrucksvoll die Erzählung von Kain und Abel in Gen 4 auf: Ein NichtUmgehen-Können mit dem Gefühl der Scham führt zur hier biblisch erstmals erwähnten »Sünde« (Gen 4,7), zur Eskalation von Gewalt.10 In den Psalmen der Hebräischen Bibel geht es, wenn »Scham-Wörter« auftauchen, vor allem um Beschämungsvorgänge, denen sich die Psalmbeter_innen etwa durch verächtliches Reden von »Widersachern« ausgesetzt sehen. Immer wieder auch werden Gewalterfahrungen ins Bild gesetzt, die für die Betroffenen »scham-induzierend« sind oder jedenfalls sein können – sei es im Sinne von vernichtenden (traumatischen) Schamgefühlen oder im Sinne eines von außen zugewiesenen Status der »Schande«, der ebenfalls lebenszerstörende und -vernichtende Folgen haben kann. Darüber hinaus enthalten nicht wenige der sog. Feindklagen den Wunsch, die Gegner_innen der Betenden mögen »sich schämen«, »in Schande geraten«, »zuschanden werden« (vgl. z.B. Ps 6,11; 129,5). Den mit diesen Aspekten gesetzten Spuren will ich im Folgenden genauer nachgehen, indem ich zunächst nach den Vorkommen verschiedener Scham-Begriffe im Psalter frage und deren Verteilung über das Psalmenbuch genauer in den Blick nehme (II.). Auf die Analyse einiger ausgewählter Psalmen (III.) folgt in Abschnitt IV. der Versuch, das Anerkennungskonzept von Axel Honneth für die Scham-/Beschämungsdiskurse des Psalters fruchtbar zu machen bzw. dieses Konzept im Sinne eines Verstehensmodells für die in den
9 10
Vgl. Wagner-Rau, Scham, 187f; Poser, Scham, 143–145. Vgl. Wagner-Rau, Scham, 193–195.
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Psalmen versprachlichten Missachtungs- und Anerkennungsprozesse allererst »anzudenken«.11 II. Scham und Beschämung in den Psalmen – Überblick Es ist nicht ganz einfach, sich den Themen »Scham/ Beschämung im Alten Testament« und »Scham/ Beschämung in den Psalmen« begrifflich anzunähern. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die hebräischen Hauptbegriffe des Wortfelds Scham, zu denen die Wurzeln bôš, ḥāpār, ḥārāp, kālām und qālāh gehören, in den biblischen Texten schwer voneinander zu trennen sind12 und darüber hinaus zumeist »sowohl die subjektive Scham als auch die soziale Beschämung«13 bezeichnen. Die Texte unterscheiden also nicht zwischen dem Gefühl der Scham, das einer Person »zu eigen« ist, und der Situation der Schande (gelegentlich bzw. veraltet 11
Vgl. hierzu Janowski, Anerkennung, 198; Dietrich, Sozialanthropologie, 232, Anm. 41. Beide beziehen sich im Zusammenhang ihrer Überlegungen zur ersttestamentlichen Anthropologie auf das Honnethsche Konzept; es bleibt allerdings bei »Andeutungen«. 12 Eine etymologische Differenzierung der Begriffe ist aber gleichwohl möglich und aufschlussreich – so hängt etwa die hebräische Verbalwurzel bôš mit den akkadischen Begriffen būštu, »Schamhaftigkeit«, »Zurückhaltung«, »Selbstbeherrschung«, »Bescheidenheit«, und bāštu, »was den Respekt der Mitmenschen bewirkt«, »Lebensfülle«, »Lebenskraft«, »dignity«, zusammen (vgl. hierzu Staubli/Schroer, Menschenbilder, 393; Seebaß, Art. bôš, 568–570). Die hebräische Verbalwurzel kālām lässt sich mit dem akkadischen Verb kullumu, »gekränkt, beschimpft sein«, »sich beschimpft fühlen«, »sich schämen«, »zuschanden werden«, zusammenbringen (vgl. hierzu Wagner, Art. kālām, 196f). qālāh stellt eine Nebenform zu qālāl, »leicht, gering, unbedeutend sein«, dar (vgl. hierzu Marböck, Art. qālāl II, 34f). Zu ḥāpār vgl. darüber hinaus Gamberoni/Botterweck, Art. ḥāpār, passim; zu ḥārāp Kutsch, Art. ḥārāp II, passim. 13 Grund, Art. Scham, 347.
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auch »Schmach«), die mit einer an gemeinschaftlichen/gesellschaftlichen Wertmaßstäben orientierten Negativbeurteilung der betroffenen Person durch Außenstehende zusammenhängt.14 Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu – die Frage nämlich, wie Gefühle überhaupt »literarisch werden«. Diese nämlich lässt sich mit dem Hinweis auf ein bestimmtes Vokabular nicht erschöpfend beantworten; es ist vielmehr davon auszugehen, dass Schamempfinden und Beschämungsvorgänge auch vermittels »weiterer« Sprachbilder zum Ausdruck gebracht werden können.15 In den Psalmen finden sich 42 Belege für bôš und Derivate, 33 für ḥārāp und Derivate, 13 für kālām und kelimmāh, sieben für ḥāpār und zwei für qālāh bzw. qālôn (Ps 38,8 fraglich). Statistisch betrachtet, kommen die genannten Wurzeln für »schämen« und deren Derivate im Psalter in besonderer Häufung vor. Dabei fällt zweierlei auf: (1) Zum einen finden sich die weitaus meisten der 97 Belege, nämlich 66, in der ersten Hälfte des Psalters, die bis Ps 78,36 reicht, die zweite Hälfte weist mit 31 Belegen wesentlich weniger Vorkommen auf. Ähnlich wie das Psalmenbuch insgesamt einen Meditationsweg von der Klage zum Lob beschreitet, zeichnet sich in ihm auch ein Weg von Beschämung hin zu Anerkennung und Würde ab. Würde und Würdigung der Gottheit Israels erweisen sich dabei immer wieder auch als abhängig vom »Status« der Betenden und des Volkes Israel, zu dem sie gehören. Erst wo Letztere von entwürdigender Beschämung frei werden, wird die Würdigung Gottes und seines Willens möglich. In die14
Hilgers (ders., Scham, 25) definiert »Schande« als »Scham, die bei aktiver Demütigung von außen erlebt wird (zum Beispiel Folter).« 15 Vgl. hierzu den Beitrag von Martina Kepper im vorliegenden Band.
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sem Sinne heißt es schließlich in Ps 119,46: »Vor Königen werde ich sprechen von dem, was dich [Gott] bezeugt, und ich schäme mich nicht.« (2) Des Weiteren konzentrieren sich die 97 Vorkommen auf insgesamt 34 der 150 Psalmen, wobei 20 Psalmen nur einen oder zwei Belege enthalten, während es andererseits zu deutlichen Häufungen in einzelnen Psalmen kommt. Ps 25 (4), 31 (4), 35 (7), 40 (4), 44 (6), 69 (11), 70 (4), 71 (6), 109 (4) und der lange Ps 119 (9) weisen jeweils vier bis elf Belege auf.16 Vor allem Ps 35, 44, 69 und 71 lassen sich deshalb als regelrechte »Scham- bzw. Beschämungs-Psalmen« betrachten. Mit den Psalmen 69 bis 71 enthält der Psalter darüber hinaus – und an prominenter Stelle – eine kleine Psalmengruppe, die durch »das Themenfeld ›Scham – Schande – Schmähung‹ [...] verknüpft«17 ist. Dieser kleinen Sammlung will ich mich nun, mit Schwerpunkt auf Ps 70 und Ps 71, zuerst zuwenden, bevor Ps 109, in dem das Thema der Beschämung auf besondere Weise zugespitzt wird, genauer in Augenschein genommen wird.
16 Die Klammern hinter den Psalmen geben die Anzahl der jeweils enthaltenen Scham-Belege an. 17 Weber, Psalmen I, 323. Weber deutet an, dass Reflexionen über das genannte Themenfeld auch bei der Redaktion des ersten (Ps 3–41) und zweiten Psalmenbuchs (Ps 42–72) bzw. bei der Zusammenstellung von Teilsammlungen zu einer (ersten) größeren Psalmensammlung (Ps 3–72 bzw. Ps 2–89) eine wichtige Rolle gespielt haben könnten (vgl. a.a.O., 316f.321f). Es springt jedenfalls ins Auge, dass auf das Thema »Scham/ Beschämung« sowohl am Ende des ersten (über die »Einbringung« von Ps 40 = Ps 70) als auch am Ende des zweiten Psalmenbuchs (Ps 69–71) eine Art »Achtergewicht« fällt.
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III. Textbeispiele 1. Die Psalmen 69, 70 und 71: Schämen sollen sich ... die Beschämenden Bei Ps 69 handelt es sich um ein Klagelied eines/einer Einzelnen, das mit elf Scham-Begriffen »die sozialen Mechanismen von Demütigung und Scham so facettenreich erfasst« wie kein anderer Psalm.18 Da der Text bezogen auf die in ihm enthaltenen Scham-Ehre-Aspekte schon ausführlich analysiert wurde,19 beschränke ich mich im Folgenden auf die Benennung einiger zentraler Aspekte: (1) Mit V.6 trennt Ps 69 deutlich zwischen Scham und Schuld. Es ist, so beschreibt es Alexandra Grund, »nicht Anlass von Scham, dass JHWH um Torheit und Schuld des betenden Ich weiß.«20 (2) In V.7–13 zeichnet der Psalm ein sich potenzierendes Geflecht aus traumatischer Scham und Beschämung, das das betende Ich selbst nicht mehr zu unterbrechen vermag. Die Demütigungen, die das sich für den Tempel JHWHs einsetzende betende Ich durch »Mächtige« (vgl. V.13) erfährt, drohen nicht nur auf andere Anhänger_innen der Gottheit Israels überzugehen, sie drohen auch JHWH selbst zu treffen (V.10). Mit der Würde der ihn Verehrenden steht zugleich die Würde Gottes auf dem Spiel. Erst – und das ist hier das argumentum ad Deo des betenden Ich – wenn Gott sich zu dessen massiver Beschämung in Beziehung setzt, dieser Beschämung »begegnet«, können auch Gotteslob und Anerkennung Gottes neu Raum bekommen. 18 19 20
Grund, Schmähungen, 180. Vgl. Grund, Schmähungen, 179–193; Poser, Scham, 148–154. Grund, Schmähungen, 188.
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(3) Die (Beschämungs-)Aussagen insbesondere in V.20–22 und nicht zuletzt die »Feindschädigungsbitten« in V.24–29, die darauf zielen, dass die »Feinde« von Gott her die Lebensminderung erfahren mögen, die das betende Ich erlebt, bringen die vernichtenden, ja tödlichen Konsequenzen von traumatischer Scham und Beschämung deutlich zum Ausdruck (vgl. auch Ps 42,11). Auch bei den Rabbinen werden Beschämung und die Auslöschung von Leben parallelisiert: »Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt, so ist es ebenso, als würde er Blut vergießen«, lautet eine Aussage in Baba Mezia 58b.21 (4) Die doppelte Bitte um die Zuwendung des göttlichen Angesichts (V.17f) sowie der Wunsch des betenden Ich, dass die Augen der »Feinde« dunkel werden und nicht mehr sehen mögen (V.24), machen den Zusammenhang von Scham/ Beschämung und (imaginiertem) Blick des oder der anderen, aber auch die Bedeutsamkeit des wertschätzenden »An-Sehens« im Zusammenhang lebensförderlicher Anerkennung besonders »augenfällig«. (5) Nachdem sich das betende Ich vermittels der »Feindschädigungsbitten«22 ein Stück weit aus der Umklammerung der »Schmähenden« gelöst hat, verspricht es, Gott mit einem Loblied die Ehre zu geben (V.31f). Indem dieses Loblied in V.33f wiedergegeben wird, entsteht literarisch eine Öffentlichkeit, in die sich das zuvor völlig isolierte (vgl. V.9.21) betende Ich reintegriert und durch die es sich restituiert weiß. Der neue »Beziehungsraum« wird dabei dadurch eröffnet und geschützt, dass – so sagt es der Beter / die Beterin – die Gottheit Israels »auf die Armen hört und ihre Gefangenen nicht verachtet (bāzāh)« (V.34; vgl. Ps 22,27). Der 21 22
Talmud, Band 7, 634. Vgl. hierzu vor allem Bail, Art. nakam, passim.
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Psalm mündet schließlich in eine politische Vision, die aufnimmt und übersteigt – und damit anerkennt –, was Anlass für die Beschämung des betenden Ich war: der Einsatz für das Haus JHWHs (V.36f). Ps 70, bis auf wenige Abweichungen mit Ps 40,14– 18 identisch,23 ist ebenfalls zu den Klageliedern des/der Einzelnen zu zählen. Drängende Bitten um JHWHs rasches Eingreifen zugunsten des betenden Ich (V.2.6, Du-Ich-Stil) rahmen einen antithetisch gestalteten Mittelteil, der sich in »Feindschädigungsbitten« (V.3f) und Bitten für die (eigene) Gruppe der Gott Suchenden (V.5) gliedert.24 Die vier in Ps 70 enthaltenen Scham-Begriffe (Verbformen von bôš, ḥāpār und kālām; adverbiale Bestimmung båštām) konzentrieren sich auf V.3f und beziehen sich allesamt auf die Feind_innen, die dem betenden Ich »nach dem Leben (næpæš) trachten« (V.3aβ), sich an dessen »Unglück freuen« (V.3bβ)25 und abfällig »›Ha! Ha!‹ schreien« (V.4b). Auch wenn die Notsituation – wie in vielen Psalmgebeten – für verschiedene Konkretionen offen ist, so wird doch deutlich, dass diese »als lebensbedrohend empfunden wird«,26 dass das betende Ich »in höchster Todesgefahr schwebt«.27 Zenger deutet die Sprachbilder im Sinne eines »Vernichtungsangriff[s]« gegen das betende Ich; entsprechend sieht 23 Gegenüber Ps 40,14–18 stellt Ps 70 vermutlich die Erstfassung dar (vgl. Weber, Psalmen I, 316; Zenger, Psalmen, 1117). 24 Vgl. Zenger, Psalmen, 1117. 25 Dabei besteht eine große (literarische) Nähe zu dem ebenfalls durch das Thema »Scham/Beschämung« geprägten Ps 35; vgl. v.a. Ps 70,3 mit Ps 35,4.26. Zu diesen und weiteren Parallelen zwischen Ps 70 und Ps 35 (sowie Ps 40 und Ps 71) vgl. ausführlich Zenger, Psalm 70, 283–285. 26 Weber, Psalmen I, 315. 27 Kraus, Psalmen, 487.
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er die Feindklagen durch Kriegsmetaphorik geprägt: »Die ›Angreifer‹ sollen wie ein geschlagenes Heer davonlaufen müssen. Die sich bereits als die großen Sieger feierten, sollen entehrt und voll Schande das ›Kampffeld‹ räumen.«28 Dies würde heißen, dass das Psalmgebet ein »herkömmliches« Scham/Schande-Ehre-Konzept (»Siegen« im Krieg bedeutet »Ehre«; »Unterliegen« im Krieg bedeutet »Scham/Schande«) einigermaßen »unkritisch« reinszeniert. Zwar lässt sich dies nicht prinzipiell ausschließen, m.E. aber wird über die Scham-Begriffe eine weitere Deutungsebene eingezogen, auf der es darum geht, der versuchten Verhöhnung des betenden Ich durch die Angreifenden (vgl. v.a. V.4b) eine eindeutige Absage zu erteilen. Gerade im Zusammenhang massiver Gewalterfahrungen kommt es, wie Marks vermutet aufgrund der Zertrümmerung der schützenden Intimitäts-Scham,29 häufig dazu, dass Gewaltopfer mit Schamgefühlen angefüllt werden – Schamgefühle, die eigentlich die Gewalttäter_innen haben müssten. Ps 70 ist hier, wie der Psalter insgesamt, sehr eindeutig: Schämen sollen sich die Täter_innen, nicht die Opfer von Gewalt. Vor allem vermittels der Formulierung »in ihrer Scham (båštām)«30 in V.4 (vgl. auch Ps 109,29 und hierzu unten) versucht das betende Ich, das Schamempfinden bei den Angreifenden »unterzubringen« – und macht hierüber vielleicht auch jene Scham stark, die »Anstoß für Selbstreflexion, Reue, Umkehr und Veränderung«31 sein kann und 28 29 30
Zenger, Psalmen, 1117. Vgl. Marks, Scham, 29–33, 38–43. Zenger übersetzt hier – möglicherweise im Duktus seiner Idee von der Kriegsmetaphorik – »wegen ihrer Schande« (vgl. ders., Psalm 70, 282). 31 Marks, Hüterin, 33; vgl. auch oben Abschnitt I. Vgl. auch Marks, Scham, 33–35.
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die Léon Wurmser als eine »Haltung von Respekt anderen und sich selbst gegenüber«32 beschreibt. Ähnlich wie in Ps 69 wird mit Ps 70,5 ein öffentlicher Gegen-Raum entworfen, der nicht durch eine einfache Umkehrung der Verhältnisse geprägt ist – nicht die Wiederherstellung oder das Neu-zuEhren-Kommen des betenden Ich und/oder der Niedergang der Feind_innen stehen im Zentrum, sondern das Groß-Werden bzw. das (gemeinschaftliche) Groß-Machen der Gottheit Israels. Durch ein regelrechtes queering des Vokabulars der vorstehenden Feindklagen33 erscheint V.5 gleichzeitig als argumentum ad Deo und als politische Vision. Vor diesem Hintergrund fordert das betende Ich JHWH in V.6 noch einmal zum raschen rettenden Einschreiten auf und heraus.34 Mit sechs Scham-Begriffen ist auch Ps 71 ein »schamvoller« Psalm. Der Anfang des Gebets in V.1–3 entspricht fast wortwörtlich Ps 31,2–4; auch insgesamt lässt sich Ps 71 mit Frank-Lothar Hossfeld als »ein Mosaik bzw. eine Collage von vorgeformten Teilen [...] und ein formenkritisches Mischgebilde«35 beschreiben, in dem Bitten und Klagen, Vertrauensäußerungen, hymnische Lobpreisungen und Dankversprechen zum Tragen 32 33
Wurmser, Maske, 74. Vgl. vor allem V.3aβ mit V.5aβ (»die mir nach dem Leben trachten« – »alle, die nach dir [JHWH] trachten«), V.4b mit V.5bα (»die sagen: ›Ha! Ha!‹« – »sie sollen immerfort sagen: ›Groß ist die Gottheit!‹«), sowie V.3bβ mit V.5aα/V.5bβ (»die Gefallen haben an meinem Unglück« – »jubeln und sich über dich [Gott] freuen«/»die deine Rettung lieben«). 34 Dabei lassen die »Selbstbezeichnung des Beters als ›elend und arm‹ (V.6a) und die theologisch reflektierte Kontrastierung der ›Feinde‹ und der ›Gottsucher‹ in V.35« Zenger zufolge »auf die Polarisierung der nachexilischen Gesellschaft« als Entstehungshintergrund des Psalms schließen (ders., Psalm 70, 286). 35 Hossfeld, Psalm 71, 292.
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kommen. Singulär wird Ps 71 durch die (fiktionale) Situation des betenden Ich, die in V.9 und V.18 angesichts Gottes zur Sprache gebracht wird: »Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters! Wenn meine Kraft schwindet, verlass mich nicht!« (V.9) – hier kommt, so Erich Zenger, ein »alter Mensch« zu Wort, »der unter der feindseligen Reaktion seiner Umgebung leidet«36. Auch wenn, wie bei vielen Psalmen, noch andere »Sitze im Leben« denkbar sind – dass Altwerden und damit verbunden Gefühle der Schwäche und des Rückgangs von Möglichkeiten, zunehmender Angewiesenheit und Bedürftigkeit zur Quelle von Anfeindung und Beschämung werden können, ist uns vielleicht heute noch eher einsichtig als wir geneigt sind, es für das Alte Israel anzunehmen. Eine weitere Besonderheit des Psalms ist der Umstand, dass seine Gesamtdynamik durch »SchamAussagen« am Anfang, in der Mitte und am Ende geprägt ist. Dies entspricht der Konzentrik des Psalms, der sich in eröffnende Bitten (V.1–4), Vertrauensbekenntnis (V.5–8), zentrale Bitten mit Feindschilderung und Lobgelübde (V.9–16), nochmaliges Vertrauensbekenntnis (V.17–21) und Dankversprechen (V.22–24) gliedern lässt.37 Gleichzeitig kennzeichnen die Scham-Aussagen einen Transformationsprozess, der im Verlauf des Psalmgebets geschieht. Zu Beginn setzt sich das betende Ich selbst zum Phänomen der Scham in Beziehung und bittet (V.1f) in der Übersetzung von Hossfeld: »Bei dir, JHWH, habe ich Zuflucht gesucht, ich will mich niemals schämen. In deiner Gerechtigkeit sollst du mich retten und mich herausreißen. Neige zu mir dein Ohr und hilf mir!«38 Ob »ich will mich nie36 37 38
Zenger, Psalmen, 1118. Zenger, Psalmen, 1118. Hossfeld, Psalm 71, 290.
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mals schämen« die angemessene Übersetzung für ʼāl-ʼebôšāh leʽôlām ist, erscheint mir aus psychologischen Gründen fraglich, doch ist dies in jedem Falle »richtiger« als das »Lass mich doch niemals scheitern« der Einheitsübersetzung, die Gott zum Subjekt von ʼebôšāh (1. Pers. comm. Sg. Impf. qal) macht. Möglich ist auch die Übersetzung »Ich will nicht für immer beschämt werden«. Am Ende des Psalms – und dadurch wird zugleich ein Rahmen gesetzt – heißt es dann (V.24):39 »Auch meine Zunge, den ganzen Tag soll sie murmeln von deiner Gerechtigkeit, denn es schämen sich, denn gescheitert sind, die mein Unglück suchen.« Zwar ist auch hier die Übersetzung nicht ganz eindeutig, bošû und ḥāperû (jeweils 3. Pers. Pl. Pf. qal) können jeweils mit »sie schämen sich« oder »sie sind beschämt worden« wiedergegeben werden, deutlich ist aber, dass die Scham nun dort »angekommen« ist, wo sie dem Psalmgebet zufolge hingehört – bei denjenigen, die die Beterin zu beschämen versucht haben. Als Wendepunkt in diesem Schamgeschehen erscheint V.13 im Zentrum des Psalms: »Sie sollen sich schämen (yebošû), sie sollen dahinschwinden, die Widersacher (śoṭnê) meines Lebens, bedecken (yāʽaṭû – »sie sollen sich hüllen in«, vgl. Ps 69,8) sollen Schmach (ḥærpāh) und Schande (kelimmāh) die, die mein Unglück suchen.« Was genau ist die Beschämung, die das betende Ich fürchtet und die sprachlich auf die feindlichen Mächte zurückgewandt wird? Dies bleibt – ebenfalls ein Kennzeichen vieler Psalmgebete – relativ offen. Das in V.4 verwendete Partizip ḥômeṣ kann, so Hossfeld, »durchaus auf Unterdrückung bzw. soziale Bedrängnis anspielen«40, yād und kāp, ebenfalls in V.4, lassen allgemein auf Machtmissbrauch oder aber auf körperliche Gewalt schließen. Deutli39 40
Übersetzung: Hossfeld, Psalm 71, 291. Hossfeld, Psalm 71, 295.
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cher beklagt das betende Ich die sprachliche Gewalt, die V.10 und 11 zufolge von den Widersachern ausgeht. Diese wähnen die Beterin gottverlassen, schwach und völlig isoliert, so dass sie sie verfolgen und ergreifen (tāpāś) wollen. Während hier Kriegsmetaphorik zum Tragen kommt, könnte die Wurzel śāṭān in V.13 in einen rechtlichen Kontext verweisen (»Ankläger«), wohingegen die Formulierung »die mein Unglück suchen« (V.13.24) wiederum sehr allgemein ist. Hossfeld nennt die Feindschilderung »stark typisiert und in gar keiner Weise für das Alter des Beters spezifisch«, sie »könnte ebenso in ein Gebet des Kranken wie in das Klagegebet eines politisch Verfolgten oder eines in Rechtshändel verwickelten Beters gehören«.41 Sich selbst beschreibt das betende Ich als beständig der Gottheit Israels trauend, sie lobend, von ihrem befreienden Handeln erzählend – V.7 zufolge erlebt es sich »wie ein Zeichen (kemôpet) für viele«. Die pluralischen Formulierungen in V.20 lassen erkennen, dass sich die Beterin auch als Teil einer – gefährdeten – Gemeinschaft begreift, für die sie Zukunft erhofft. Möglich ist, dass es auch ihr Bezug auf eine scheinbar machtlose Gottheit ist, der den Widersachern Anlass zur Verhöhnung und Unterdrückung der Beterin gibt. Gleichzeitig erscheint die Treue des betenden Ich JHWH gegenüber als argumentum ad Deo – JHWH soll das betende Ich vor dessen Verfolgern retten, was einerseits Gottes Gerechtigkeit neu erweisen, andererseits aber dem betenden Ich den Lobpreis der Gottheit Israels für deren Gerechtigkeit neu ermöglichen wird. Die im Psalmgebet errungene Rettung vor den Beschämungen durch die feindlichen Mächte bedeutet gleichzeitig die Anerkenntnis des »Lebenswerks« der Beterin durch JHWH, das im dau41
Hossfeld, Psalm 71, 297.
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erhaften öffentlichen Erzählen von JHWHs gerechtem Handeln besteht – und das sie auch als wirkmächtigen (und anerkennenswerten!) Beitrag für die Gemeinschaft begreift. 2. Psalm 109: »Verfluchen« als Zuspitzung von »Beschämen« Als weiteres Beispiel für »Schamdiskurse« in den Psalmen Israels habe ich Ps 109 ausgewählt, einen Psalm, der zwar relativ wenige Belege von Schambegriffen enthält (ḥærpāh: V.25, bôš: V.28, bošæt: e V.29, k limmāh: V.29), der aber mit der in V.6–19 zitierten Anklagerede der Feinde eine potenzierte Form von Beschämung in Worte fasst: den Fluch. Der Psalm, der auf »christlicher« Seite eine lange Missbrauchsgeschichte hinter sich hat, der ausgehend von Apg 1,20 gegen das Judentum gewendet und zum ›Totbeten‹ von angeblichen oder wirklichen Feinden eingesetzt wurde,42 ist, so Zenger, »der Hilfeschrei eines Menschen, der als der Verfolgte und Angefeindete schlechthin gezeichnet wird«43. »[Ö]ffentliche Verleumdung, feindselige Bedrohung, Verwicklung in das Gerichtsverfahren einer korrumpierten Justiz, soziale Isolierung und wirtschaftlicher Ruin. Dies alles empfindet er als Lüge und Hass von Menschen, die ihn und seine Familie kaputt machen wollen.«44 Der Psalm stellt ein individuelles Klagelied einer möglicherweise aus der Oberschicht stammenden Person dar, die ein »Amt«, eine pequdāh (V.8) innehat(te), die sich aber, aufgrund der Machenschaften der Feinde, gegenwärtig als »elend und arm« (‛ānî we’æbyôn), als physisch, ökonomisch und sozial tödlich bedroht erfährt und beschreibt (vgl. die Ich-Klage in V.21–25). 42 43 44
Vgl. Zenger, Gott, 122–126. Zenger, Psalmen, 1166. Zenger, Psalmen, 1166.
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Seine Isolierung stellt das betende Ich vermittels einer »Beschämungsaussage« dar: »Ich aber, ich bin für sie zur Schmach (ḥærpāh) geworden, die mich sehen, schütteln ihren Kopf« (V.25). »Seine Gegner verhöhnen und verspotten ihn [...] und wollen durch diese Erniedrigung so seine Würde sowie seine Lebenskraft zerstören [...].«45 Zenger zufolge ist der Psalm in einem doppelten Sinne juristisch imprägniert, was vor allem im ersten Teil des Gebets in V.1–20, einer Anrufung Gottes mit klagender Notschilderung, deutlich wird. Hier appelliert das betende Ich zunächst an JHWH als oberste Rechtsinstanz (V.1–5) und erläutert sodann den Rechtsfall vor JHWH (V.6–20). Dabei nimmt die Rezitation des Fluchs, mit dem die Gegner den Beter und die Seinen »sakralrechtlich« zu vernichten suchen, breiten Raum ein (V.6–19),46 abgeschlossen mit den Worten: »Dies ist, was meine Widersacher mir von JHWH wünschen, die Böses reden gegen mein Leben« (V.20). Die ersten Sätze des betenden Ich kennzeichnen dieses »Rechtsverfahren« als manipuliert und die Vorwürfe der Feinde als völlige Verkehrung der »Wahrheit« in Lüge. Der Anklagepunkt allerdings wiegt sehr schwer: Der Beter selbst habe einen »Armen und Elenden« verfolgt, er habe einen schwachen Menschen zu töten versucht (V.16), er habe den Fluch mehr geliebt als den Segen – dies alles soll nun auf das betende Ich gewandt, nach Meinung der Gegner zurückgewandt werden. Der zweite Teil des Psalms, der von V.21–29 reicht, beginnt mit einer neuerlichen Anrufung Gottes; in ihm bittet der Beter um ein Ende der Not, zunächst in Form einer Ich-Klage (V.21–25), 45 46
Zenger, Psalm 109, 190. Zur (m.E. sehr plausiblen) Deutung von V.6–19 als Rezitation des Fluchs der Gegner vgl. ausführlich Zenger, Psalm 109, 181–184.
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die bereits beschrieben wurde, dann in V.26–29 in Form einer Feindklage. V.27f enthält dabei einmal mehr ein argumentum ad Deo – JHWH möge zugunsten des Beters eingreifen, so dass dieser, wie das den Psalm beschließende Lob- bzw. Dankversprechen in V.30f zeigt, (neuen) Anlass zum Gotteslob hat. Gleichzeitig wird sich JHWH damit als seiner Rechtsordnung gegenüber treu und als Anwalt der Armen und Elenden – und damit auch des betenden Ich – erweisen, wie V.31 zeigt: »Denn JHWH tritt zur Rechten des Armen, um ihn zu retten vor denen, die ihn verurteilen«. Die Gottheit Israels tritt damit auch an die Stelle des (falschen) Anklägers, der in V.6 genannt ist – und erweist das Angeklagtsein des betenden Ich als Lüge, als völlige Rechtsverdrehung. Dies – ich komme noch einmal auf die Feindklage zurück – sollen die Widersacher V.27 zufolge erkennen. Die sog. Feindklage greift aber auch die Themen »Fluch« und »Scham« noch einmal auf: »Sie mögen fluchen, du aber wirst segnen, stehen sie auf, werden sie beschämt, die Person in deinem Dienst aber wird sich freuen. Meine Ankläger werden Scham (kelimmāh) anziehen, sich in ihre Scham (båštām) hüllen wie in ein Obergewand«, heißt es in V.28f. Dreierlei ist hierbei m.E. von besonderer Bedeutung: (1) Gott, so erhofft es der Beter, begegnet dem Fluchen der Feinde, dieser perfidesten Form des »Leicht-Machens«, der Beschämung, nicht mit einem Gegen-Fluch, sondern mit Segen für den Beter. Segen – die liebevolle Zuwendung des Angesichts, die das Gegenüber mit dem göttlichen Glanz zum Aufblicken bewegt, ihm/ihr Würde neu zuspricht, erweist sich darin als wirkmächtiges Gegenmittel gegen ein Übermaß an Scham. (2) Einmal mehr (vgl. auch Ps 69,8; 71,13) begegnet hier im Zusammenhang von Scham die auf den ersten Blick widersprüchliche Bekleidungsme-
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taphorik, werden doch Scham und Beschämung oftmals mit Entblößung und Nackt-Sein in Verbindung gebracht. Grund schreibt hierzu: »Gewöhnlich zielen Bedeckung und Bekleidung ja darauf, die eigene Person vor leiblicher Exposition und Körperscham zu bewahren. Ist es aber Scham, die jemandes Antlitz bedeckt [bzw. die ihn oder sie »bekleidet«, R.P.], wird paradoxerweise die Bedeckung zur rückhaltlosen Enthüllung des entehrten Status vor allen anderen. [...] [D]ie Person [verschwindet] hinter dem zur Maske erstarrten Status der sozialen Degradierung.«47 (3) Durch das Eingreifen der Gottheit Israels kommt die Scham dort an, wo sie hingehört (in diesem Sinne heißt es in V.29 auch båštām, »ihre Scham«; vgl. auch Ps 70,4 und hierzu oben): Bei den Gewalttätern, den Unterdrückern, den Rechtsverdrehern. Gegen die – mir nicht recht verständlichen – Schwierigkeiten, die christliche Auslegende mit dieser vermeintlich rächenden »Rückwendung« der Beschämung auf die Täter_innen haben, heißt es bei Norbert Lohfink:48 »Er [der Beter, R.P.] spricht allein von der öffentlichen Beschämung, die ja eintreten muss, wenn denn Gott ihn rettet und dadurch alles wendet.« Zenger erläutert dies wie folgt: »In der von der ›Kultur der Ehre‹ bestimmten Welt, in der der Psalm ursprünglich beheimatet war, ist dies das Schlimmste, was einem widerfahren kann: dass man sein Gewicht und seine Ehre verliert, weil man als Lügner und Betrüger entblößt und damit als Mitglied der Gesellschaft desavouiert wird.«49 Das betende Ich hingegen imaginiert sich am Ende des Psalms als re-integriert in eine Gemeinschaft, wenn es beteuert: »Ich will JHWH sehr 47 48 49
Grund, Schmähungen, 188. Lohfink, Arten, 332 (zitiert nach Zenger, Psalm 109, 191). Zenger, Psalm 109, 191.
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danken mit meinem Mund, inmitten von Vielen will ich Gott rühmen.« Wer auch immer die »Vielen« sind – seine Isolation, bewirkt durch die erfahrene Entwürdigung, ist damit aufgehoben. Fragt man nach der im Hintergrund stehenden historischen Situation von Ps 109, wird man, so Zenger, in die nachexilische Zeit verwiesen. Denkbar sei ein Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um soziale Reformen im 5. Jh. v.u.Z., wie sie im Nehemiabuch angedeutet sind. Psalm 109 könnte einen Machtkampf zwischen Befürwortern und Gegnern der Sozialreformen widerspiegeln, wobei der Beter als »Reformer« dargestellt ist.50 IV. Kämpfe um Anerkennung Wie können die beschriebenen (und weitere) Scham-Diskurse in den Psalmen eingeordnet werden, was kommt über sie zum Ausdruck, lassen sie sich systematisieren? Dazu hat es in den letzten Jahren vereinzelte Versuche gegeben. Im Rahmen seiner kulturwissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 2011 kommt Kunio Nojima bei seiner Untersuchung der Schambelege in den Psalmen u.a. zu dem Schluss, dass die Wortgruppe bôš (auch kālām und ḥāpār II) »sehr formelhaft verwendet« werde.51 Außerdem hält er fest: »Die ›Shame‹-Vokabeln verbinden sich nur selten mit dem Wort kābôd«,52 d.h. mit dem wesentlichen Begriff für »Ehre«. Rückschlüsse auf im Hintergrund stehende gesellschaftliche Verhältnisse zieht Nojima nicht. Anders Lyn M. Bechtel. Sie deutet – 20 Jahre vor Nojima – die alttestamentlichen Scham-Aussa50 51 52
Vgl. Zenger, Psalm 109, 184. Nojima, Ehre, 334. Nojima, Ehre, 335.
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gen im Rahmen einer »Gesellschaftsanalyse« des Alten Israel,53 dessen gesellschaftliche Struktur sie als in erster Linie »gruppenbezogen« bestimmt. Scham im Sinne einer »sozialen Sanktionierung« habe in diesem Kontext eine, wenn nicht die wesentliche »regulative« Rolle gespielt, und zwar (1) als Mittel, um aggressives oder unerwünschtes Verhalten zu unterbinden, (2) als Druckmittel zur Herstellung sozialen Zusammenhalts und (3) als »Machtmittel« der Herrschaft über andere und zur Manipulation des sozialen Status von Angehörigen der Gemeinschaft.54 Die Schamaussagen in den individuellen Klageliedern verortet Bechtel im Kontext von Konflikten zwischen »frommen«/orthodoxen und »weniger frommen« Mitgliedern der Gemeinschaft: »For the less pious, the extreme righteousness of the pious was an annoyance that could not have dealt with by a guilt sanction. The pious were guilty of nothing. A shaming sanction was the only option. Feeling shamed and afflicted caused the psalmists to need pity and comfort from their community or at least from their friends. Receiving none, they turned to God [...]. [...] [T]hey called on God to take revenge for them by shaming the shamers [...].«55
Ich denke, dass Bechtel richtig liegt, wenn sie die Scham-Aussagen in den Psalmen als Widerspiegelungen gesellschaftlicher Prozesse betrachtet – das scheint mir eine Stärke ihres Ansatzes zu sein. Die Fokussierung auf Auseinandersetzungen zwischen »Orthodoxen« und »weniger Frommen« hingegen 53 54
Bechtel, Shame. Vgl. Bechtel, Shame, 76. Dabei unterscheidet Bechtel drei Formen von Beschämung: Beschämung als formelle Sanktionierung im Rahmen des Rechtswesens (judicial shaming) einerseits, im Rahmen der Politik (political shaming) andererseits, und Beschämung als informelle soziale Sanktionierung (social shaming) (vgl. ebd.). 55 Bechtel, Shame, 71.
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ist m.E. eine Engführung. Hier ist m.E. ein »weiterer« Ansatz vonnöten, der zugleich die Beobachtung von Nojima aufnimmt, dass »Ehre« nicht das zentrale bzw. das einzige »Gegenphänomen« zu Beschämungsphänomenen ist. Ein solcher Ansatz könnte in zeitgenössischen Anerkennungskonzeptionen zu liegen. Dies möchte ich abschließend erläutern. Was ist »Anerkennung«? Alltagssprachlich werden darunter »Lob«, »Beifall« und »Respekt« gefasst; ein bestimmter persönlicher Anspruch oder die Geltung eines bestimmten Sachverhalts werden, wenn sie »anerkannt« werden, nicht nur erkannt, sondern positiv bestätigt. Den »Anerkennungstheoretiker_innen«, allen voran dem Sozialphilosophen und Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M., Axel Honneth, bedeutet »Anerkennung« noch weitaus mehr:56 Hier dient der Anerkennungsbegriff zur Beschreibung einer grundlegenden Verfasstheit der menschlichen Lebensform, die darin besteht, dass menschliche Wesen für die Entstehung von »Identität«, von »gelingendem Selbstsein« auf eine positive Bezugnahme zwischen Menschen angewiesen sind.57 »Anerkennung«, die immer wechselseitige Anerkennung ist, stellt sich hier dar als ein oder sogar das Aufbauprinzip sozialen Lebens, und bringt die unhintergehbare Sozialität der menschlichen Lebensform zum Ausdruck. Bei Anerkennung geht es stets auch um institutionalisierte Praktiken. Historisch bilden sich gesellschaftlich-kulturelle Muster der Anerkennung heraus, durch die erwartbar wird, dass man für ein entsprechendes Verhalten auch die entsprechende Anerkennung erhält. Dabei steht in einer Gesellschaft nicht schon von vornherein oder überzeitlich fest, was anerkannt 56 57
Zum Folgenden vgl. auch Braune-Krickau, Religion, 69–72. Vgl. Honneth, Kampf, 277f.
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werden soll, sondern dies ist Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen58. Entsprechend trägt Honneths grundlegendes Werk zum Anerkennungskonzept aus dem Jahr 1992 den Titel »Kampf um Anerkennung«. Honneth unterscheidet dabei drei Anerkennungsweisen, die in verschiedenen Anerkennungsformen zum Tragen kommen: Erstens die emotionale Zuwendung, vermittelt in den »Primärbeziehungen«, zweitens die kognitive Achtung, die über die Rechtsverhältnisse garantiert wird, und drittens die soziale Wertschätzung, die durch die Wertegemeinschaft und deren »Solidarität« zum Ausdruck kommt.59 Diesen drei Anerkennungsweisen stehen drei Missachtungsformen gegenüber – erstens Misshandlung und Vergewaltigung, die die physische Integrität einer Person bedrohen, zweitens Entrechtung und Ausschließung, die die soziale Integrität einer Person in Frage stellen, und drittens Entwürdigung und Beleidigung, die eine Person in ihrer »Ehre« und »Würde« verletzen können.60 NichtAnerkennung und Missachtung können für die Betroffenen gleichsam tödliche Konsequenzen haben: Denn aufgrund der Angewiesenheit auf die Möglichkeit der steten Rückversicherung im anderen für die eigene Identität und ein positives Selbstverhältnis »geht mit der Erfahrung von Mißachtung die Gefahr einer Verletzung einher, die die Identität der ganzen Person zum Einsturz bringen kann«.61
58
Diese finden, so Braune-Krickau (ders., Religion, 71f), »auf mindestens zwei Ebenen« statt: »Erstens im Einfordern gesellschaftlich bereits erwartbarer Anerkennung und zweitens in der Auseinandersetzung um die zu Grunde liegenden materialen Standards [...].« 59 Vgl. Honneth, Kampf, 148–210. 60 Vgl. Honneth, Kampf, 212–229. 61 Honneth, Kampf, 212.
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In den Kontext von Scham und Beschämung passt das Honnethsche Anerkennungskonzept nicht zuletzt deshalb besonders gut, weil Honneth die nach außen sichtbar werdenden Konsequenzen der beschriebenen Missachtung bei den Betroffenen in erster Linie in Gefühlsreaktionen der Scham sieht. Diese können »tödlich« sein, sie können auch bestimmte Abwehrreaktionen hervorrufen, sie können aber auch – und dies beschreibt Honneth – motivieren, in einen praktischen Kampf oder Konflikt einzutreten: »In solchen Gefühlsreaktionen der Scham kann die Erfahrung von Mißachtung zum motivationalen Anstoß eines Kampfes um Anerkennung werden. Denn die affektive Spannung, in die das Erleiden von Demütigungen den einzelnen hineinzwingt, ist von ihm jeweils nur aufzulösen, indem er wieder zur Möglichkeit des aktiven Handelns zurückfindet; daß diese neueröffnete Praxis aber die Gestalt einer politischen Gegenwehr anzunehmen vermag, ergibt sich aus den Chancen der moralischen Einsicht, die in jenen negativen Empfindungen unverbrüchlich als kognitive Gehalte eingelassen sind.«62
Inwiefern könnte es fruchtbar sein, das vorgestellte Anerkennungsmodell auf die Psalmen und deren »Schamdiskurse« anzuwenden? Dazu einige »ausblickende« Überlegungen: (1) Vor dem Hintergrund des Anerkennungsmodells kann der Psalter als Textkorpus betrachtet werden, der gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt und trotz aller Schwierigkeiten bei der historischen Einordnung der einzelnen Texte sozialgeschichtlich »auswertbar« ist. Der Psalter kann in diesem Rahmen auch »politisch« gelesen werden. (2) Das Anerkennungsmodell ermöglicht die Einbettung der Psalmen- und Psalterexegese in die Sozialgeschichte des Alten Israel. Hier ist vor allem 62
Honneth, Kampf, 224.
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auf die Entstehung der antiken Klassengesellschaft im Israel des 8. Jh.s v.u.Z. und die damit verbundene Zunahme sozialer Ungleichheit zu verweisen, wie sie sich in der prophetischen Sozialkritik und der Sozialgesetzgebung widerspiegeln.63 (3) Vor dem Hintergrund des Anerkennungsmodells können individuelle und kollektive Ebene als miteinander verwoben betrachtet werden. Anthropologisch spiegelt das Ringen um Anerkennung das Ringen um »Subjektwerdung«, vielleicht sogar um »Individualisierung« im Sinne einer Einzigartigkeit des/der Einzelnen wider. (4) Das Anerkennungsmodell ermöglicht eine »ganzheitliche« Betrachtung, die alttestamentlichen Menschenbildern nahe steht. So werden etwa Gefühle und Körpererfahrungen der Einzelnen nicht ausgeklammert, sie spielen vielmehr in den »Kämpfen um Anerkennung« eine zentrale Rolle. (5) Vor dem Hintergrund des Anerkennungsmodells lassen sich auch die semantische Breite und Uneindeutigkeit des »Psalmenhebräisch« einbeziehen – in Bezug auf das Wortfeld »Scham«, das ja an sich schon nicht ganz leicht zu differenzieren ist, in Bezug auf die bei Honneth breit gefasste Missachtung (»Vergewaltigung«, »Entrechtung«, »Entwürdigung«, für die es auch im Hebräischen weite Begriffsfelder gibt), und in Bezug auf Anerkennung, die ebenfalls durch ganz unterschiedliche Formulierungen und Begrifflichkeiten zum Ausdruck gebracht werden kann. (6) Das Modell kann aufnehmen, dass die »eigentliche Not« der Beter_innen in den meisten Psalmen nicht auszumachen ist, dass es sich vielmehr um ein »Netz von Nöten« handelt, das vielfältige Ursachen und Folgen hat64 – diese aber 63
Vgl. hierzu Kessler, Sozialgeschichte, 114–126 (»Die Ausbildung einer antiken Klassengesellschaft«). 64 Vgl. Crüsemann, Netz, passim.
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können mit den Dimensionen von Missachtung, die Honneth benennt, recht breit erfasst werden. (7) Der Aspekt der Re-Integration in die Gemeinschaft und das politisch-visionäre Moment, die in vielen Psalmen mit »Beschämungsprozessen« enthalten sind, lassen sich in dieses Konzept gut integrieren. Literatur Bail, U., Art. nakam (hebr.) – rächen, vergelten, ahnden; nekama (hebr.) – Vergeltung, Rache, in: dies. u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 42011 (2006), 1821f – u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 42011 (2006) [BigS] Bechtel, L.M., Shame as a Sanction of Social Control in Biblical Israel: Judicial, Political and Social Shaming, JSOT 49 (1991), 47–76 Braune-Krickau, T., Religion und Anerkennung. Ein Versuch über Diakonie als Ort religiöser Erfahrung (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 17), Tübingen 2015 Crüsemann, F., Im Netz. Zur Frage nach der ›eigentlichen Not‹ in den Klagen der Einzelnen, in: Schöpfung und Befreiung (FS C. Westermann), hg. von R. Albertz u.a., Stuttgart 1989, 139–148 – Was ist und wonach fragt die erste Frage der Bibel? Oder: das Thema Scham als »Schlüssel zur Paradiesgeschichte«, in: Fragen wider die Antworten (FS J. Ebach), hg. von K. Schiffner u.a., Gütersloh 2010, 63–79 Der babylonische Talmud, neu übertragen durch L. Goldschmidt, Band 7: Baba Qamma und Baba Mezia, Berlin 1933 Dietrich, J., Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten Israel, ZAW 127 (2015), 224–243 Gamberoni, J. / Botterweck, J., Art. ḥāpār, ThWAT 3 (1982), 116– 121 Grund, A., Art. Scham, in: M. Fieger / J. Krispenz / J. Lanckau (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013, 347–350 – »Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen«. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69, EvTh 72 (2012), 174–193
»Ja, auf die Armen hört ydie Lebendigey ...«
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Ruth Poser
Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg i.Br. 1998 Psalm 70, in: F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2000, 282–289 Psalm 109, in: F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101–150 (HThKAT), Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2008, 176–195
Sabine Föllinger
Die Bedeutung der Scham für die Moral in Platons Philosophie
I. Einführung Der Begriff der ›Scham‹ ist in der Klassischen Philologie in besonderer Weise mit Eric Robertson Dodds verbunden. Er hat in seinem berühmten Buch »Die Griechen und das Irrationale«1 die Dichotomie der Anthropologin Ruth Benedict übernommen und zwischen einem Handeln, dessen Kriterium die Scham vor anderen ist, und einem Handeln, das sich nach dem eigenen ›Gewissen‹ ausrichtet, unterschieden. Er vertrat die Auffassung, die Homerische Welt stelle eine ›Shame Culture‹ dar, und meinte eine Entwicklung von der archaischen Zeit bis zur klassischen Zeit Griechenlands nachzeichnen zu können, innerhalb derer die ›Shame Culture‹ von einer im 5. Jh. v.Chr. sich herausbildenden ›Guilt Culture‹ abgelöst worden sei. Dodds’ Ansatz, bei dem eine – vermeintliche – Homerische ›Schamkultur‹ im Mittelpunkt stand, ist inzwischen, etwa von Cairns, zurückgewiesen worden.2 Aber dennoch bilden die Kategorien Scham und Schuld ein heuristisches Instrumentarium, das weiterhin gerne gebraucht wird und für die Erklärung menschlichen Handelns unterschiedlicher Zeiten und Kulturen – wenngleich mit jeweiligen Modifikationen – fruchtbar gemacht werden kann. 1 2
Vgl. Dodds, Griechen. Cairns, AIDÔS.
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Die Basis für das Gefühl von Scham ist die Interaktion mit anderen, vor denen man sich aufgrund eines bestimmten Verhaltens oder einer Bloßstellung schämt. Das eigene Selbstbild und die Bewertung des eigenen Handelns hängen davon ab, wie andere einen selbst bewerten. Im Griechischen wird diese Art der Selbstbewertung mit den Begriffen αἰσχύνη (aischýne) und αἰδώς (aidós) ausgedrückt.3 Übersetzt man diese ins Deutsche, so erweist sich, dass das semantische Spektrum weit ist. Denn sie können Ehrfurcht, Respekt, Scheu, Rücksicht, Ehrgefühl, Scham bezeichnen.4 Aber vor allem αἰσχύνη kann auch ›Schande‹ bedeuten, drückt also das Resultat eines Verhaltens, für das man sich schämen muss, aus. Scham ist ein wichtiges Motiv für menschliches Handeln. Diesem Umstand wird auch in Platons Philosophie Rechnung getragen. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Denn gerade Platons Sokrates plädiert für eine Moral, die nicht Traditionen und eine von außen kommende Bewertung zum Maßstab nimmt, sondern deren Richtschnur das als gut Erkannte bilden soll, die also so etwas wie Autonomie besitzt. Demgegenüber soll dieser Beitrag zeigen, dass auch innerhalb von Platons Konzeption die Scham eine zentrale Rolle für die Motivierung menschlichen Handelns spielt. Dabei steht sein Spätdialog Nomoi im Zentrum, der lange Zeit ein Schattendasein in der Forschung führte, aber in den letzten ca. 15 Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfährt.5 3 Liddell-Scott-Jones s.v. αἰδώς: »as a moral feeling, reverence, awe, respect for the feeling or opinion of others or for one’s own conscience, and so shame, self-respect …, sense of honour«, auch »regard for others, respect, reverence«; LiddellScott-Jones s.v. αἰσχύνη: »shame, dishonour«. 4 Vgl. auch Ruhnau, Scham/Scheu, 1208f. 5 Vgl. beispielsweise Horn (Hg.), Gesetze.
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II. Die Nomoi Der Dialog Nomoi, Platons letztes Werk, stellt die Frage, welche Gesetze ein optimaler, neu zu gründender Staat haben müsse. Der Anlass ist die (fiktive) Gründung einer kretischen Kolonie, Magnesia6. Denn einer der drei Gesprächspartner ist ein Kreter, Kleinias, der – in der Fiktion – die Möglichkeit hat, bei der Gründung der Kolonie mitzuwirken, und darum die Chance nützen kann, Einfluss auf die Gestaltung der neu zu entwerfenden Gesetze auszuüben. Die beiden anderen Gesprächspartner sind ein namenloser Athener und der Spartaner Megillos. Der Athener ist der überlegene Gesprächsführer und ähnelt in manchem dem Sokrates der übrigen Platondialoge. Das Ziel des Staates ist die Eudaimonie, ein ›gelungenes Leben‹, für Individuum und Staat (III 701D–702B). Aber anders als in der – besser bekannten – Politeia wird die beste Möglichkeit, die Eudaimonie zu verwirklichen, nicht in einer Herrschaft von Philosophenkönigen gesehen. Vielmehr sollen an höchster Stelle Gesetze stehen, die von reflektierten und umsichtigen Gesetzgebern überlegt und von einem ausgeklügelten Beamtenwesen durchgesetzt, weiterentwickelt und optimiert werden.7 Dementsprechend entwerfen die Nomoi eine Verfassung, die an der athenischen Demokratie orientiert ist: Alle Bürger haben aktives und passi6
Der Name Magnesia taucht in den Nomoi nicht auf, aber es ist von der »Stadt der Magneten« (z. B. IX 860E6) die Rede, und die moderne Forschung hat Verbindungen zu einer Stadt gleichen Namens auf Kreta, die zu Platons Zeit nicht mehr existierte, gezogen. Zu der – letztlich nicht lösbaren – Frage nach der Historizität vgl. Schöpsdau, Platon, Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII, 140–142. 7 Die Überarbeitung der Gesetze ist also nötig (VI 769D–E), gleichzeitig rechnen die Gesprächspartner damit, dass diese innerhalb absehbarer Zeit abgeschlossen sein kann.
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ves Wahlrecht und können Ämter innehaben. Allerdings modifiziert Platon Regelungen der athenischen Demokratie insofern, als diejenigen, die Ämter innehaben, höheren Anforderungen als den im realen Athen üblichen genügen müssen (III 690B; VI 757C; XII 961A–969D).8 Vor allem werden Erkenntnisfähigkeit und Wissen gefordert. Um richtig zu handeln, muss man Einsicht in das Gute haben. Zwar wird anders als in der Politeia nicht angenommen, es gebe Menschen mit perfektem Wissen, die Philosophenherrscher, sondern es wird vom Durchschnittsmenschen als Einwohner der neuen Stadt und Adressat der zu entwerfenden Gesetze ausgegangen. Aber gegenüber der Politeia sind die Nomoi insofern radikaler, als nun der Erwerb von Wissen eine wichtige Aufgabe für alle Bürger Magnesias ist, mit der sie viel Zeit verbringen sollen (Nomoi VII 807D). Dass Platon den Wert von Erkenntnis, Wissen und moralischer Integrität so hoch ansetzt, beruht auf seiner Kritik an der athenischen Demokratie. In ihr wurden die Ämter politischer Funktionsträger zum großen Teil per Los besetzt, die Volksversammlung hatte weitreichende Befugnisse, und die Gerichte bestanden nicht aus Fachleuten, sondern aus Laienrichtern. Aber Platons Werke zielen nicht darauf, eine bestimmte politische Verfassung zu empfehlen, sondern den Diskurs über den Zusammenhang von Vernunftwissen und politischer Verantwortung anzuregen. Dies konnte vor allem Pradeau überzeugend zeigen.9 Allerdings sieht sich der Platonische Gesetzgeber mit dem Problem konfrontiert, dass, wenn überhaupt, nur ganz wenige Menschen erkennen, was wahrhaft gut und damit gut für die einzelnen Menschen und für die Gemeinschaft ist (Nomoi IX 8 9
Vgl. Knoll, Status, 163. Pradeau, Platon. Vgl. Gill, Foreword, xiii.
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874E7–875D5). In der Politeia erwerben sich die Philosophenherrscher diese Expertise durch eine lange und anspruchsvolle Ausbildung. In den Nomoi mit ihrem eher demokratischen Staatsmodell werden an die Gesetzgeber, die Gremien und die politisch Verantwortlichen, aber auch an die Wähler relativ hohe Anforderungen gestellt. Denn alle Bürger werden als politische Akteure in die Verantwortung einbezogen. Dabei ist die Frage: Wie ist es möglich, durch die Gesetzgebung alle Bürger des Staates zu motivieren, das Richtige zu tun? Platon stellt also die Gesprächspartner seines Dialogs vor das Problem, wie diejenigen, die die Erkenntnis haben, die anderen, welche nicht über sie verfügen, motivieren können, dennoch entsprechend zu handeln. Auf welche Weise also kann man es erreichen, dass die Bürger eines Staates sich so verhalten, dass individueller Nutzen und Gemeinnutzen gefördert werden? Dieses Problem wird von zwei Seiten eingekreist: Die Qualität der individuellen Bürger muss optimiert werden, und es müssen möglichst gute staatliche Parameter geschaffen werden. Dies geschieht, indem die Gesprächspartner eine Verfassung überlegen, die den Anforderungen gerecht wird, und ein umfassendes Regelwerk erarbeiten, das für die vielen Einzelbereiche des Lebens motivationssteuernd wirkt. Die Areté des einzelnen und die Qualität der staatlichen Organe und der Institutionen10 gehören also zusammen. Dementsprechend weisen die Nomoi eine Vielzahl von Regelungen auf, deren Detailliertheit verwundert, zumal sie auch Bereiche betreffen, die auf den ersten Blick banal erscheinen. Dies ist etwa der Fall, wenn die Gesprächspartner sich überlegen, wie man Nachbarschaftsstreit bei Wasserscha10 Eine institutionenökonomische Analyse von Platons ökonomischen Vorstellungen bietet Föllinger, Ökonomie.
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den verhindert (VII 844C1–D3).11 Sieht man aber genau hin, so steht hinter diesen unwichtig erscheinenden Regelungen die Erkenntnis, dass man auch den kleinsten Unstimmigkeiten vorbeugen müsse, um die Harmonie und Freundschaft der Bürger und damit die Einheit des neuen Staates nicht zu gefährden. Die ›Einheit‹ der Bürger ist ein Leitbegriff, weil sie nach Platon die conditio sine qua non eines gelingenden gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ist. Dabei hat er in den Nomoi eine Art ›face to face‹Gesellschaft vor Augen, die es in Athen im 4. Jh. v.Chr. nicht gab.12 Dafür entwirft er das Konstrukt eines geschlossenen Staates, der möglichst wenig Beziehungen nach außen hat. Auf diese Weise sollen Einflüsse, die die als leitend angesehenen Werte und die mühsam zu erarbeitende Einheit gefährden könnten, ausgeschaltet werden. Darüber hinaus sollen verschiedene Maßnahmen, wie etwa die Veranstaltung gemeinsamer religiöser Feste, dem Ziel dienen, dass die Bürger sich gegenseitig kennenlernen und Vertrauen zueinander haben (V 738E2–8). III. Die Bedeutung der Scham Eine Voraussetzung dafür, dass ein Staat die Eudaimonie verwirklichen kann, ist die Qualität (Areté) der politischen Akteure. Hier steht der Gesetzgeber vor folgendem Problem: Eigentlich wäre es das Beste, jeder Bürger sähe den Sinn von Gesetzen ein und würde aus Einsicht in das Gute und Richtige handeln. Aber dieser Erfordernis entspricht die Realität nicht, weil nur die wenigsten zu solcher Einsicht fähig sind und weil die, die dazu fähig 11 12
Vgl. Föllinger, Ökonomie, 141f. Zu Athen vgl. Ober, Mass, 31–33.
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sind, mit großer Wahrscheinlichkeit durch Macht korrumpiert werden (Nomoi IX 874E7–875D5). Aus diesem Grund müssen die Gesetzgeber als Ergänzung Strategien entwickeln, die die Menschen dazu anhalten, richtig zu handeln, und das heißt hier: sich an den Werten, an denen sich die Gesetzgebung in Form von Verfassung und untergeordneten Regeln ausrichtet, zu orientieren. Deshalb arbeiten die Nomoi mit einer Vielzahl von Regeln, die mit Sanktionen unterschiedlicher Art versehen sind und die als Motivation für diejenigen dienen, die nicht aus Einsicht handeln – und das ist nach Auffassung der Platonischen Gesprächspartner bei weitem die Mehrheit.13 Das Innovative an der Platonischen Konstruktion besteht nun darin, dass nicht nur staatliche Strafen für Fehlverhalten in Aussicht gestellt werden, sondern dass gezielt die Scham, also ein gesellschaftliches Sanktionierungsverfahren, eingesetzt wird. Die Angst vor Scham soll eine Motivation für die Bürger des neuen Staates bilden. Die Furcht vor Schande und damit vor der Scham wird gleich im Einleitungsgespräch der Nomoi als positive Form der Furcht genannt (I 646E4– 647B2):14 »Ath.: Und so sage mir: Können wir zwei Arten von Furcht wahrnehmen, die einander so ziemlich entgegengesetzt sind? Kl.: Welche denn? Ath.: Folgende. Wir fürchten doch die Übel, wenn wir ihr Eintreten erwarten. Kl.: Ja. Ath.: Oft fürchten wir aber auch die Meinung der Leute, weil wir glauben, daß wir für schlechte Menschen gehalten werden, wenn wir etwas Unschö13 14
Vgl. Föllinger, Ökonomie, 89–150. Die Übersetzung der Nomoi ist hier und im Folgenden von Schöpsdau. Vgl. Nomoi II 671B; I 646Eff.; III 699C.
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nes tun oder sagen; diese Furcht nun bezeichnen wir und auch alle andern, glaube ich, als ›Scham‹. Kl. Gewiß. Ath.: Diese beiden Arten von Furcht also meinte ich. Von ihnen widerstreitet die zweite den Schmerzen und den anderen Arten der Furcht, sie widersteht aber auch den meisten und stärksten Lustgefühlen. Kl.: Du hast ganz recht. Ath.: Also hält doch auch ein Gesetzgeber und überhaupt jeder, der nur im mindesten etwas taugt, diese Furcht in höchsten Ehren; und während er diese als ›Scham‹ bezeichnet, nennt er die ihr entgegengesetzte Zuversicht ›Schamlosigkeit‹ und betrachtet diese als das größte Übel für alle, für den einzelnen wie die Stadt? Kl.: Du hast recht.« {ΑΘ.} καί µοι λέγε· δύο φόβων εἴδη σχεδὸν ἐναντία δυνάµεθα κατανοῆσαι; {ΚΛ.} Ποῖα δή; {ΑΘ.} Τὰ τοιάδε· φοβούµεθα µέν που τὰ κακά, προσδοκῶντες γενήσεσθαι. {ΚΛ.} Ναί. {ΑΘ.} Φοβούµεθα δέ γε πολλάκις δόξαν, ἡγούµενοι δοξάζεσθαι κακοί, πράττοντες ἢ λέγοντές τι τῶν µὴ καλῶν· ὃν δὴ καὶ καλοῦµεν τὸν φόβον ἡµεῖς γε, οἶµαι δὲ καὶ πάντες, αἰσχύνην. {ΚΛ.} Τί δ' οὔ; {ΑΘ.} Τούτους δὴ δύο ἔλεγον φόβους· ὧν ὁ ἕτερος ἐναντίος µὲν ταῖς ἀλγηδόσιν καὶ τοῖς ἄλλοις φόβοις, ἐναντίος δ' ἐστὶ ταῖς πλείσταις καὶ µεγίσταις ἡδοναῖς. {ΚΛ.} Ὀρθότατα λέγεις. {ΑΘ.} Ἆρ' οὖν οὐ καὶ νοµοθέτης, καὶ πᾶς οὗ καὶ σµικρὸν ὄφελος, τοῦτον τὸν φόβον ἐν τιµῇ µεγίστῃ σέβει, καὶ καλῶν αἰδῶ, τὸ τούτῳ θάρρος ἐναντίον ἀναίδειάν τε προσαγορεύει καὶ µέγιστον κακὸν ἰδίᾳ τε καὶ δηµοσίᾳ πᾶσι νενόµικεν; {ΚΛ.} Ὀρθῶς λέγεις.
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Dass die Aussicht auf Scham und die Furcht vor Schande nur die zweitbeste Wahl darstellen, wenn es darum geht, Menschen zum richtigen Verhalten zu motivieren, ist ein Gedanke, der in der Politeia diskutiert wird. Die beste, nachhaltige Motivation ist, so sind sich Sokrates und Glaukon einig, die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen erstrebenswert sei. Aber für die meisten Menschen bilde die Aussicht auf Belohnung und Ansehen den eigentlichen Beweggrund, sich richtig zu verhalten (Politeia II 357D–358A). Dieser Unterscheidung liegt die Platonische Anthropologie zugrunde. Denn ebenfalls in der Politeia werden verschiedene Instanzen im Menschen unterschieden, die der Platonische Sokrates »Seelenteile« nennt. Diese sind das ἐπιθυµητικόν (epithymetikón), die begehrende Instanz, die auf körperliche und materielle Lust aus ist, und das λογιστικόν (logistikón), der vernünftige Seelenteil. Zu ihnen gehört aber auch das θυµοειδές (thymoeidés), der ›muthafte‹ Seelenteil. Er bezeichnet die Instanz im Menschen, die mehr als die anderen für die soziale Dimension des Menschen zuständig ist, indem sie etwa bestimmte Erfahrungen als Kränkung der eigenen Person interpretiert.15 Dementsprechend ist auch die Scham nichts von außen Aufgesetztes, sondern ein Verhalten, das in der Disposition des Menschen begründet ist. Sie wird in den Nomoi als seelisches Pendant zur körperlichen Kraft und Gesundheit bezeichnet (II 672D7–9): »Die von uns jetzt vertretene Ansicht aber behauptet, dass er [der Wein] uns als Heilmittel zum entgegengesetzten Zweck gegeben worden ist, damit die Seele Scham und der Leib Gesundheit und Kraft erwirbt.« 15
Vgl. Schriefl, Kritik, 181f mit weiterer Literatur; Schmitt, Moderne, 97; Erler, Platon, 384. Grundlegend zum thymós ist die Studie von Brinker, Ethik.
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ὁ δὲ νῦν λεγόµενος ὑφ' ἡµῶν φάρµακον ἐπὶ τοὐναντίον φησὶν αἰδοῦς µὲν ψυχῆς κτήσεως ἕνεκα δεδόσθαι, σώµατος δὲ ὑγιείας τε καὶ ἰσχύος. Die Macht, die die Scham für den einzelnen hat, verdeutlicht der Dialog Gorgias. In ihm übt Platon Kritik an der zeitgenössischen Rhetorik und an einer Auffassung von Rhetorik, wie sie die Sophisten vertraten. Bekannt geworden ist der Dialog, weil in ihm der Sophist Kallikles das Recht des Stärkeren vertritt. Es entspreche der Natur, so Kallikles, dass der Stärkere jede Lust ungezügelt ausleben könne. Gesetze und andere Maßnahmen, die dies verhindern sollen, seien in Wirklichkeit Strategien der Schwächeren, um die von Natur aus Stärkeren unter Kontrolle zu halten. Platon benutzt nun die Dialogdramaturgie, um Sokrates demonstrieren zu lassen, dass die Scham (aischýne) für das menschliche Verhalten eine grundlegendere Rolle spielt, als die Sophisten ihr zugestehen wollen.16 Denn durch Sokrates’ geschickte Argumentation werden seine Opponenten gezwungen, an einem bestimmten Punkt der Diskussion der geläufigen Moralvorstellung zu folgen. So vertritt Gorgias eigentlich die Position, dass Rhetorik moralisch neutral sei. Aber als er im Folgenden gezwungen wird, zu konzedieren, dass in diesem Fall ein geschickter Redner auch zu Schlechtem raten dürfe, will er dies nicht zugeben. Daraufhin wirft Polos Gorgias vor, aus verkehrter Scham nicht bei seiner Meinung geblieben zu sein. Polos selbst wiederum scheut sich einzuräumen, dass die Moralvorstellung ›Unrecht tun sei schändlicher als Unrecht leiden‹ verkehrt sei. Kallikles schließlich kritisiert beide, weil sie aus Scham vor bestimmten kulturellen (athenischen) Vorstellungen Sokrates klein beigegeben hätten, und stellt die Behauptung auf, Scham sei nur eine 16
Zum Folgenden vgl. Race, Shame.
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Folge bestimmter Gesetze, existiere aber nicht von Natur aus. Aber auch er selbst weicht von seiner Position in dem Moment ab, als er Sokrates zugeben müsste, dass für denjenigen, dem dies aufgrund seiner Machtstellung erlaubt sei, jede Lust, selbst die der Kinderschändung, eine gute Lust sei. Die Dialogdramaturgie verdeutlicht also die Macht der Scham – wenn selbst ein Gesprächspartner wie Kallikles ›sich schämt‹ zuzugeben, dass die Lust eines Kinderschänders gerechtfertigt sei. Damit wird die Macht gesellschaftlicher Konventionen, die Gorgias für seine Person gerade leugnen wollte, bewiesen. IV. Scham als Motivation in den Nomoi Den Umstand, dass Menschen ›sich schämen‹, setzen die fiktiven Gesetzgeber, deren Rolle die Gesprächspartner von Platons Spätdialog spielen, im normativen Kontext zur Verhaltenssteuerung ein. Zusammen mit positiven Anreizen des Lobens sollen Angst vor Scham und Furcht vor Schande eine zur richtigen Einsicht führende Erziehung und eine auf Erkenntnis zielende Belehrung flankieren und absichern, dass möglichst viele Menschen sich richtig verhalten. Denn in dem neu zu gründenden Staat sollen nicht nur möglichst zielführende Gesetze erlassen werden, sondern auch eine Vielzahl ungeschriebener Regeln soll für eine möglichst große Stabilität sorgen. Ihre Einhaltung soll weniger durch staatliche Organe als durch gesellschaftliche Kontrolle erfolgen. So zielt das Projekt auch darauf, Gewohnheiten so zu steuern, dass die Bürger die Werte und Normen, die dem Staatsziel der Eudaimonie dienen, internalisieren. Denn nur dann, wenn die Bürger nicht nur aus Angst vor staatlichen Sanktionen Gesetze befolgen, sondern andere Motivationen haben, die Normen, an denen
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sich diese ausrichten, zu befolgen, ist eine Einheit der Gesellschaft, die Platon zufolge konstitutiv für das Gelingen eines Staates ist, stabil. Deshalb sollen die Bürger durch ›soziale‹ Belohnungen motiviert werden, indem man etwa Richtigtun explizit belobigt.17 Aber auch ›soziale Strafen‹ werden eingesetzt, die in dem Verlust gesellschaftlicher Positionen oder in der Minderung des ›sozialen Standing‹ bestehen (Nomoi VIII 847A–B). Der Scham kommt in diesem System sozialer Strafen und Belohnungen eine zentrale Position zu,18 und das Einsetzen von Verfahren, die mit dem Hervorrufen von Scham das soziale Leben regulieren, wird sogar gesetzlich verankert (Nomoi VIII 841B1). Dabei wird dem Druck der ›öffentlichen Meinung‹ (VIII 838C8–D1 φήµη / phéme) vertraut. Damit rekurriert Platon auf ein Element, das das öffentliche Leben Athens maßgeblich bestimmte. Denn die öffentliche Meinung war auch im historischen Athen der klassischen Zeit ein Steuerungselement, das etwa politische Redner sich zunutze machen konnten, gegen das sie gegebenenfalls aber auch angehen mussten.19 Aber vergleicht man insgesamt die in den Nomoi vorgesehenen mit den aus den Gesetzgebungen seiner Zeit bekannten Strafarten, so fällt auf, dass die den sozialen Status betreffenden Strafen viel wichtiger sind als im historischen Athen.20 Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung kann dazu beitragen, einen Druck zu erzeugen, der zur Einhaltung bestimmter Regeln aus Angst vor Scham motiviert. Auch gegenwärtig sind die Aussicht auf Ansehen, das mit der Befolgung sozialer 17
Nomoi V 730D; VI 784D–E; VII 829C; VIII 921E–922A; XII 953D; XII 964B. 18 Zum Folgenden vgl. Föllinger, Ökonomie, 103f. 19 Ober, Mass, 148–151. 20 Vgl. Knoch, Strafbestimmungen, 129.
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Normen verbunden ist, und die Angst vor Reputationsverlust, der bei Nichteinhaltung droht, wichtige Anreize. Aufgrund der Möglichkeiten, die die Sozialen Medien bieten, können diese Anreize besonders wirksam sein. Sie führen dazu, dass Menschen auch Normen, die sie eigentlich nicht einsehen, einhalten.21 Die Angst vor Scham kann so von Individuen und Organisationen gezielt eingesetzt werden, um ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass in einer geschlossenen Gesellschaft, wie sie die Nomoi entwerfen und in der sich möglichst alle Bürger kennen sollen, Scham eine größere Rolle spielt als in einer mehr pluralistisch orientierten. Ein Beispiel für die Rolle der Scham ist die Regelung des Sexuallebens (Nomoi VIII 835B–842A).22 Denn in dem intendierten Staat soll unter anderem die Monogamie durchgesetzt werden. Mit einem solchen Gesetz kann der Platonische Gesetzgeber nicht an Bestehendes anknüpfen, und überhaupt dürfte die Einführung der Monogamie für den athenischen Rezipienten etwas Unerhörtes gewesen sein, weil dauerhafte Beziehungen mit Nebenfrauen, in der Regel Sklavinnen, in Athen legal waren, auch wenn die einer solchen Verbindung entsprungenen Kinder kein Bürgerrecht hatten. Der athenische Gesprächspartner entwickelt nun verschiedene ineinandergreifende Strategien, um das Ziel wenigstens annähernd zu erreichen. Denn er und seine Mitstreiter sind sich bewusst, dass es nicht leicht sein wird, die Bürger zu sexueller Zurückhaltung zu bewegen. Zwar entwerfen sie eine argumentative Strategie, die die Bürger überzeugen soll, doch haben sie schon im Gespräch 21 22
Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 60f. und 163–165. Zu dem Gesetz, das das Sexualleben der Bürger regulieren soll, vgl. die sorgfältige Interpretation von Schöpsdau, Regelung; siehe auch Föllinger, Ökonomie, 107–109.
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Zweifel daran, dass sie erfolgreich sein wird. Darum überlegen sie, sozusagen für den ›worst case‹, eine zweitbeste Lösung: Wenn das beste Gesetz, die Verordnung der Monogamie, nicht durchführbar sei, dann müssten die ›Gesetzeswächter‹ – ein aus 37 Personen bestehendes staatliches Organ, das für die Gesetzgebung und -kontrolle zuständig ist23 – ein neues Gesetz erlassen. Dieses solle anordnen, dass Bürgern Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe nur mit Nicht-Bürgerinnen erlaubt sei und dass er geheimgehalten werden müsse (Nomoi VIII 841A6–B5): »Die Kraft der Lust läßt sich ja weitgehend außer Übung setzen, wenn man ihren Zufluß und ihre Nahrung durch harte Anstrengungen in andere Teile des Körpers leitet. Das dürfte zu erreichen sein, wenn beim Liebesverkehr keine Schamlosigkeit waltet. Denn wenn sie ihn aus Schamgefühl nur selten vollziehen, dann werden sie wohl an ihm einen schwächeren Zwingherrn haben, eben weil sie ihn seltener vollziehen. So etwas also nur heimlich zu tun – nicht jedoch, es überhaupt nicht zu tun – soll bei ihnen als ehrbares Verhalten gelten, das durch die Gewohnheit zum festen Brauch geworden ist und durch die ungeschriebene Satzung Gesetzesgeltung erlangt hat, es aber nicht heimlich zu tun als schimpflich.« {ΑΘ.} Ἀγύµναστον ὅτι µάλιστα ποιεῖν τὴν τῶν ἡδονῶν ῥώµην ἦν, τὴν ἐπίχυσιν καὶ τροφὴν αὐτῆς διὰ πόνων ἄλλοσε τρέποντα τοῦ σώµατος. εἴη δ’ ἂν τοῦτο, εἰ ἀναίδεια µὴ ἐνείη τῇ τῶν ἀφροδισίων χρήσει· σπανίῳ γὰρ αὖ τῷ τοιούτῳ δι’ αἰσχύνην χρώµενοι, ἀσθενεστέραν ἂν αὐτὴν δέσποιναν κτῷντο ὀλιγάκις χρώµενοι. τὸ δὴ λανθάνειν τούτων δρῶντά τι καλὸν παρ’ αὐτοῖς ἔστω, νόµιµον ἔθει καὶ ἀγράφῳ νοµισθὲν νόµῳ, τὸ δὲ µὴ λανθάνειν αἰσχρόν, ἀλλ’ οὐ τὸ µὴ πάντως δρᾶν. 23 Vgl. Piérart, Platon, 122; Schöpsdau, Platon, Nomoi (Gesetze) Buch I–III, 113.
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Es ist also die Macht der Scham (αἰσχύνη / aischýne), die das ›zweitbeste Gesetz‹ implementieren soll. Dabei wird darauf gesetzt, dass sich aus der Gewohnheit ein fester Usus entwickelt und so die Regelung durchgesetzt wird. Die der Gewöhnung zugrundeliegende Satzung wird als eine Institution betrachtet, die, ohne kodifiziert zu sein, Gesetzesgeltung hat.24 V. Scham und Selbstliebe Bisher wurde Scham als ein Verhalten aufgefasst, das Teil einer sozialen Interaktion ist, insofern man sich als Reaktion auf eine – wirkliche oder vermutete bzw. gefürchtete – Außensicht schämt. Doch darin erschöpft sich die Scham bei Platon nicht. Vielmehr gibt es auch eine Scham vor sich selbst. Wie erwähnt, entwickelt Platon in der Politeia ein Modell des Menschen, das verschiedene Instanzen unterscheidet: Das Logistikón, die Vernunft, ist die höchste Instanz und soll die Leitung innehaben. Dies bedeutet aber nicht, dass damit die anderen Instanzen ausgeschaltet sind. Vielmehr hat auch das Thymoeidés seine Funktion für ein richtiges Verhalten des Menschen, indem es das Logistikón dabei unterstützt, die richtigen Ziele zu verfolgen. Dies illustriert der Platonische Sokrates am Beispiel von Leontios’ ›Katastrophentourismus‹ (Politeia IV 439E–440E): Als Leontios an einem Ort mit Leichen vorbeikommt, packt ihn die Begierde, die Leichen zu betrachten, obwohl er weiß, dass 24 Hinzugefügt sei aber, dass man doch nicht allein auf die Macht der Scham vertrauen will, denn sie wird im Folgenden durch eine staatliche Sanktion ergänzt: Falls jemand gegen das Gebot, eine außereheliche Beziehung geheim zu halten, verstößt, soll er die Bürgerrechte verlieren und keine staatlichen Auszeichnungen erhalten (Nomoi VIII 841E4), vgl. Föllinger, Ökonomie, 107–109.
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dies nicht richtig ist. Die Tatsache, dass er in einen Zwiespalt gerät, bei dem die Begierde gegen den Verstand kämpft, und er sich deswegen Vorwürfe machen kann, weist auf die Existenz einer dritten Instanz im Menschen hin. Dies ist das Thymoeidés. Es ist verantwortlich dafür, dass ein Mensch auf ein Verhalten ihm gegenüber, das er als ungerecht einstuft, mit Entrüstung reagiert. Aber offensichtlich reagiert es auch auf ein Verhalten des Menschen selbst, das dieser mittels seines Logistikón als falsch erkennt. Darum zürnt Leontios sich selbst, als er feststellt, dass er wider besseren Wissens von seiner voyeuristischen Begierde übermannt wird. In diese Psychologie ist die Scham einzuordnen. Denn Scham entsteht als Resultat eines Verhaltens, das der Mensch selbst als negativ betrachtet, weil es dem Bild, das er von sich hat und dem er entsprechen möchte, nicht gerecht wird. Bernard Williams hat genau darauf hingewiesen:25 Scham gründet auf einem bestimmten Selbstbild, und man schämt sich nicht vor irgendeinem, sondern vor einem idealisierten Beobachter. Damit aber ein wirkliches Selbstbild möglich ist, bedarf es, wie Christof Rapp in seiner kritischen Stellungnahme zu Williams’ Buch betont, der Auseinandersetzung mit den von außen herangetragenen Erwartungen sowie der freiwilligen Zustimmung.26 Dabei bedeutet die Existenz eines ›idealisierten Beobachters‹, dass man das eigene Verhalten nicht nach irgendeinem Bild, sondern nach einer bestimmten Wertvorstellung bemisst. Platons Anthropologie zufolge ist ein Selbstbild das Resultat eines Entwicklungsprozesses, bei dem die Erziehung grundlegende Bedeutung hat.27 Denn zuerst lernt ein Kind richtige Verhaltenswei25 26 27
Williams, Shame. Vgl. Rapp, Moralität, v.a. 270. Zur Erziehung bei Platon vgl. Erler, Platon, 506–510; Föllinger, Ökonomie, 110–113.
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sen habituell, erst mit der Zeit, wenn sich der Verstand entwickelt, wird es erkennen können, dass es das, was es sich habituell angeeignet hat, auch kognitiv befürworten kann.28 Damit erfolgt der Akt, den Rapp die »freiwillige Zustimmung« nennt und der ein wichtiges Moment für die Verinnerlichung des idealisierten Beobachters darstellt. Bei diesem Prozess der Herausbildung einer Selbstinstanz, die die eigenen Verhaltensweisen beurteilt, weist Platon guten Vorbildern eine wichtige Rolle zu. Dies wird an einer merkwürdigen und bemerkenswerten Stelle der Nomoi deutlich, in der es um die Selbstliebe geht (V 731D6–732B4): »Das allergrößte Übel aber ist den meisten Menschen in die Seele eingepflanzt, und weil jedermann sich dieses selbst verzeiht, sinnt er nicht auf Mittel, um ihm zu entrinnen. Es ist das, was man mit der Behauptung meint, daß jeder Mensch von Natur aus sich selbst lieb sei und daß es richtig sei, daß er so sein muß. In Wahrheit aber wird dies wegen der übermäßigen Selbstliebe für jeden immer wieder zur Ursache aller möglichen Verfehlungen. Der Liebende wird nämlich blind gegenüber dem, was er liebt, so daß er das Gerechte, das Gute und das Schöne verkehrt beurteilt, weil er meint, er müsse das Eigene stets mehr als das Wahre ehren; denn weder sich selbst noch das Eigene darf derjenige lieben, der ein großer Mann werden will, sondern das Gerechte, einerlei ob dies bei ihm selbst oder bei einem anderen mehr geübt wird. Von eben diesem einen Fehler rührt es auch her, daß die eigene Ungewissheit jedem als Weisheit erscheint; die Folge ist, daß wir, obwohl wir genaugenommen so gut wie nichts wissen, dennoch alles zu wissen glauben, und weil wir nicht anderen das auszuführen auftragen, was wir nicht verstehen, begehen wir zwangsläufig Fehler, wenn 28
Vgl. Föllinger, Ökonomie, 95f.
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wir es selbst ausführen. Darum soll jeder Mensch die übermäßige Selbstliebe meiden und sich stets an den anschließen, der besser ist als er, ohne hierbei irgendeine Scham vorzuschützen.« Πάντων δὲ µέγιστον κακῶν ἀνθρώποις τοῖς πολλοῖς ἔµφυτον ἐν ταῖς ψυχαῖς ἐστιν, οὗ πᾶς αὑτῷ συγγνώµην ἔχων ἀποφυγὴν οὐδεµίαν µηχανᾶται· τοῦτο δ' ἔστιν ὃ λέγουσιν ὡς φίλος αὑτῷ πᾶς ἄνθρωπος φύσει τέ ἐστιν καὶ ὀρθῶς ἔχει τὸ δεῖν εἶναι τοιοῦτον. τὸ δὲ ἀληθείᾳ γε πάντων ἁµαρτηµάτων διὰ τὴν σφόδρα ἑαυτοῦ φιλίαν αἴτιον ἑκάστῳ γίγνεται ἑκάστοτε. τυφλοῦται γὰρ περὶ τὸ φιλούµενον ὁ φιλῶν, ὥστε τὰ δίκαια καὶ τὰ ἀγαθὰ καὶ τὰ καλὰ κακῶς κρίνει, τὸ αὑτοῦ πρὸ τοῦ ἀληθοῦς ἀεὶ τιµᾶν δεῖν ἡγούµενος· οὔτε γὰρ ἑαυτὸν οὔτε τὰ ἑαυτοῦ χρὴ τόν γε µέγαν ἄνδρα ἐσόµενον στέργειν, ἀλλὰ τὰ δίκαια, ἐάντε παρ' αὑτῷ ἐάντε παρ' ἄλλῳ µᾶλλον πραττόµενα τυγχάνῃ. ἐκ ταυτοῦ δὲ ἁµαρτήµατος τούτου καὶ τὸ τὴν ἀµαθίαν τὴν παρ' αὑτῷ δοκεῖν σοφίαν εἶναι γέγονε πᾶσιν· ὅθεν οὐκ εἰδότες ὡς ἔπος εἰπεῖν οὐδέν, οἰόµεθα τὰ πάντα εἰδέναι, οὐκ ἐπιτρέποντες δὲ ἄλλοις ἃ µὴ ἐπιστάµεθα πράττειν, ἀναγκαζόµεθα ἁµαρτάνειν αὐτοὶ πράττοντες. διὸ πάντα ἄνθρωπον χρὴ φεύγειν τὸ σφόδρα φιλεῖν αὑτόν, τὸν δ' ἑαυτοῦ βελτίω διώκειν ἀεί, µηδεµίαν αἰσχύνην ἐπὶ τῷ τοιούτῳ πρόσθεν ποιούµενον. Eine zu große Selbstliebe führt zu einem Mangel an Selbstkritik. Daraus resultiert die Unfähigkeit, die Überlegenheit anderer zu akzeptieren, die man eigentlich nachahmen sollte, weil sie besser das Richtige erkennen. Darum ist das Gegenteil von zu großer Selbstliebe die Nachahmung eines Besseren, »ohne sich zu schämen«. Damit dürfte die Scham vor anderen und vor sich selbst gemeint sein.29 Diese positive Form der Imitation wird an anderer Stelle als Wesen der timé (Ehre) bezeichnet (Nomoi V 728C), also als Gegensatz zu Scham und Schande. 29
Zu dieser m.E. richtigen Deutung siehe Schöpsdau, Platon, Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII, 269.
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Damit hat Platon die traditionellen Begriffe αἰδώς, αἰσχύνη und τιµή übernommen, ihnen aber eine neue Wendung gegeben. Denn die Instanz, gegenüber der die Scham einsetzt, ist nun die Verinnerlichung eines ›idealen Beobachters‹, der besser als man selbst das Gute erkannt hat, und damit die Scham vor sich selbst. Vor diesem Hintergrund wird das – auf den ersten Blick merkwürdig anmutende – Urteil des Atheners verständlich, dass Lob und Tadel für einen Mensch mit Vernunft schlimmer als eine hohe Geldstrafe seien (Nomoi XI 926D6f.).30 Literatur Kommentar Schöpsdau, K., Platon, Nomoi (Gesetze) Buch I–III, Übersetzung und Kommentar von K.S. (Platon, Werke, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. v. E. Heitsch / C.W. Müller, IX 2, 1. Teilbd.), Göttingen 1994 – Platon, Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII, Übersetzung und Kommentar von K.S. (Platon, Werke, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. v. E. Heitsch / C.W. Müller, IX 2, 2. Teilbd.), Göttingen 2003 – Platon, Nomoi (Gesetze) Buch VIII–XII, Übersetzung und Kommentar von K.S. (Platon, Werke, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. v. E. Heitsch / C.W. Müller / K. Sier, IX 2, 3. Teilbd.), Göttingen/Oakville 2011
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Sekundärliteratur Brinker, W., Platons Ethik und Psychologie. Philologische Untersuchungen über thymetisches Denken und Handeln in 30
Zur Bedeutung von Lob und Tadel innerhalb des Platonischen Gesetzeswerks vgl. auch Schütrumpf, Gesetze, 189–191.
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den platonischen Dialogen (EHS 95), Frankfurt a.M. / Berlin 2008 Cairns, D.L., AIDÔS: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993 Dodds, E.R., Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970 (Übersetzung von 1966 [1951]) Erler, M., Platon (Philosophie der Antike 2/2), Basel 2007 Föllinger, S., Ökonomie bei Platon, Berlin 2016 Gill, Ch., Foreword, in: J.-F. Pradeau, Plato and the City: A New Introduction to Plato’s Political Thought, Exeter 2002, xi–xvi Horn, Ch. (Hg.), Platon, Gesetze – Nomoi (Klassiker Auslegen 55), Berlin 2013 Kirchgässner, G., Homo Oeconomicus – Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 42013 (1991) Knoch, W., Die Strafbestimmungen in Platons Nomoi (KPS 23), Wiesbaden 1960 Knoll, M., Der Status der Bürger, der Frauen, der Fremden und der Sklaven in Magnesia, in: Ch. Horn (Hg.), Platon, Gesetze – Nomoi (Klassiker Auslegen 55), Berlin 2013, 143–164 Ober, J., Mass and Elite in Democratic Athens: Rhetoric, Ideology, and the Power of the People, Princeton/Chichester 1989 Piérart, M., Platon et la cité grecque. Théorie et réalité dans la constitution des ›Lois‹, Brüssel 1974 Pradeau, J.-F., Platon et la cité, Paris 22010 (1997) Race, W.H., Shame in Plato’s Gorgias, Classical Journal 74 (1979), 197–202 Rapp, Ch., Die Moralität des antiken Menschen, ZPhF 49 (1995), 259–273 Ruhnau, J., Art. »Scham/Scheu«, HWP 8 (1992), 1208–1215 Schmitt, A., Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart/Weimar 2003 Schöpsdau, K., Die Regelung des Sexualverhaltens (VIII 835c1– 842a10) als ein Exempel platonischer Nomothetik, in: F. Lisi (Hg.), Plato’s Laws and Its Historical Significance: Selected Papers of the I International Congress on Ancient Thought – Salamanca 1998 (Studies in Ancient Philosophy 1), Sankt Augustin 2001, 179–199 Schriefl, A., Platons Kritik an Geld und Reichtum (BzA 309), Berlin 2013 Schütrumpf, E., Gesetze und Strafrecht, in: Ch. Horn (Hg.), Platon, Gesetze – Nomoi (Klassiker Auslegen 55), Berlin 2013, 189–207 Williams, B., Shame and Necessity, Berkeley u.a. 1993
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»Ich schreibe das nicht, um euch zu beschämen« (1Kor 4,14) Beschämung und Scham im Kontext antiker Genderdiskurse und in den paulinischen Gemeinden I. Die Präsentation hegemonialer Männlichkeit im Römischen Reich Die Schriften des Neuen Testaments sind im Kontext des Imperium Romanum entstanden. Sie spiegeln an vielen Stellen die Auseinandersetzung mit römischer Herrschaftsideologie und deren Konzepten von Macht und Identität wider. Genderfragen waren in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung.1 Die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit2 bildete eine zentrale gesellschaftskonstituierende Kategorie. Denn Geschlecht wurde in der Antike nicht nur biologisch über körperliche Geschlechtsmerkmale, sondern darüber hinaus auch über gesellschaftliche Abgrenzungen bestimmt. Medizinhistorische Studien zeigen, dass bis ins 17. Jh. hinein von einer biologischen Ein-Geschlechtlichkeit ausgegangen wurde. Mannsein und Frausein wurden anatomisch analog gedacht und mussten deshalb gesellschaftlich umso deutlicher abgegrenzt werden: durch den sozialen Rang, die Herkunft und kulturelle Rolle. »Es gab viele soziale 1 Zur aktuellen Diskussion vgl. z.B. Elliott, Paul; Larson, Masculinity; Mayordomo, Konstruktionen; Lopez, Apostle, 6–17, 119–163; Kahl, Maskulinität; Leutzsch, Männlichkeit; Moore/ Anderson, Masculinities; Eisen u.a., Gender; Burke, Eunuch, 67– 94. 2 Zur Definition von Männlichkeit(en) und zum Begriff »hegemoniale Männlichkeit« vgl. Connell, Mann, 119–141; Bourdieu, Herrschaft.
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Geschlechter [gender], aber nur ein einziges, anpassungsfähiges biologisches Geschlecht [sex].«3 In seiner Analyse der Annalen des Tacitus zeigt der Historiker Thomas Späth, dass in diesem Werk soziale Faktoren für die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit entscheidend sind: »Die Definition von Männlichkeit ist eine Festlegung von Abstufungen […], ist eine gewertete Abstufung, ist eine Hierarchie.«4 Die Männlichkeit römischer Männer messe sich an ihrer sozialen Rolle und an ihrer Stellung in der Familie. So sei der pater familias das Modell von Männlichkeit schlechthin, auch über den häuslichen Bereich hinaus. Macht zu besitzen und auszuüben sei das zentrale Merkmal von Männlichkeit, aber nicht jeder Mann habe sie deshalb natürlicherweise: Ein Mann muss eine Machtposition erringen und sie verteidigen, sie ist ihm nicht allein mit der Biologie gegeben.5 Die Untersuchungen des Neutestamentlers Moisés Mayordomo Marín zu Männlichkeitskonstruktionen in der römisch-hellenistischen Antike bestätigen diese Ergebnisse. Er hat weitere Literatur und bildliche Darstellungen analysiert. Sozial konstruierte Männlichkeit bildet ihm zufolge in der griechisch-römischen Antike eine zentrale Kategorie zur Deutung der Wirklichkeit.6 Männlichkeit müsse durch öffentliche Selbstdarstellung in Konkurrenz zu anderen erworben werden. Kontrolle und Herrschaft werden als entscheidende Ausdrucksformen des Mannseins definiert, das sich vor allem auch körperlich zeigen müsse. Der männliche Körper sollte vollkommen, nach außen gerichtet, stark und kontrolliert sein. Im Blick auf die Menschen, die den Kriterien hegemonialer Männlichkeit nicht ent3 4 5 6
Laqueur, Leib, 49. Späth, Tacitus, 306. Vgl. Späth, Tacitus, 313f. Vgl. Mayordomo, Konstruktionen, 99–115.
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sprachen, wird deshalb von unmen, »Nicht-Männern«, gesprochen. »The category ›unmen‹ could include women, foreigners, slaves, children, all of whom were defined as passive, submissive, violable, penetrable, sexually receptive, and ruled by emotions.«7 Sklaven und Barbaren, d.h. Männer eroberter Völker, wurden im Gegensatz zu römischen Männern oft körperlich kleiner oder feminisiert dargestellt. Die Beschämung der Unterlegenen war ein wichtiges Mittel, sich von ihnen abzugrenzen und die eigene Überlegenheit herauszustellen. Exemplarisch lässt sich dies an der Statue des Augustus zeigen, die in der Villa der Livia bei Prima Porta gefunden wurde (Abb. 1). Der historische Hintergrund, der zur Erschaffung dieser Statue geführt hatte, war die lang andauernde kriegerische Auseinandersetzung mit dem parthischen Reich, der mit Rom konkurrierenden Großmacht im Osten. Der konkrete Anlass war die Rückgabe der Feldzeichen (signa) im Jahr 20 v.u.Z., die im Jahr 54/53 v.u.Z. vom parthischen Heer erobert worden waren. In den signa konzentrierte sich die Macht des Siegers.8 Sie verloren zu haben, war aus römischer Sicht eine große Schmach. Seit Mitte der 20er Jahre wurde die Bevölkerung auf einen neuen Partherkrieg vorbereitet. Der Feldzug selbst, den Augustus anführte, verlief dann relativ unspektakulär.9 Nach diplomatischen Verhandlungen gab der Partherkönig Phraates IV. die Feldzeichen und Legionsadler heraus. Augustus ließ sie in einem extra errichteten Tempel, der Mars Ultor geweiht wurde, ausstellen. Drei Jahrzehnte später erwähnt er dies in seinem Bericht über die Tätigkeiten seiner Regentschaft, in den res gestae:
7 8 9
Burke, Eunuch, 71. Vgl. Eck, Rom, 53f. Zum Folgenden vgl. Zanker, Augustus, 188–196.
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»Zahlreiche Feldzeichen, die durch andere Feldherren verloren worden waren, habe ich durch die Niederringung der Feinde aus Spanien und Gallien sowie von den Dalmatern wiedererlangt. Die Parther habe ich veranlaßt, die Beute und die Feldzeichen dreier römischer Heere mir zurückzugeben und demütig die Freundschaft (amicitia) des römischen Volkes zu erbitten. Diese Feldzeichen aber ließ ich im innersten Heiligtum des Tempels des Mars Ultor aufbewahren.«10
Abb. 1: Marmorkopie nach Bronzeoriginal 20 v.Chr. 10
Augustus, Taten, 37–39.
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Die ursprüngliche Statue des Augustus wurde in Bronze gefertigt. Die Auftraggeber ließen ihn als strahlenden Sieger mit göttlichen Attributen erscheinen. Im Zentrum der Abbildungen auf dem Brustpanzer steht die Übergabe der Legionsadler und Feldzeichen durch den Partherkönig an eine Person, die die römischen Legionen repräsentiert und möglicherweise Mars Ultor selbst darstellt. Der Vorgang steht im Mittelpunkt zwischen Himmel und Erde, die durch Himmels- und Erdgöttinnen repräsentiert werden. Diese Statue erhebt damit eine eher unspektakuläre diplomatische Vereinbarung zwischen zwei Großmächten, die sich auf Waffenstillstand statt Krieg geeinigt haben, zu einem Weltereignis mit geradezu kosmischen Dimensionen. Die Rückgabe der Feldzeichen wird zu einem Ereignis hochstilisiert, das die Ehre des ganzen Volkes nach der Schande des Verlustes der signa wiederherstellt. Die erlittene Scham wird abgewehrt und kompensiert.11 Die Überlegenheit der siegreichen Römer wird damit herausgestellt, dass die besiegten Feinde erniedrigt und gedemütigt werden. Auf dem Brustpanzer erscheint der Partherkönig als Sinnbild eines unzivilisierten Barbaren, der unterwürfig die signa zurückgeben muss.12 Auch auf Münzen, die der Senat anlässlich dieses Ereignisses prägen ließ, findet sich das Bild des demütigen Parthers. »Der kniende Barbar blieb auch künftig eine außerordentlich erfolgreiche Bildformel und prägte weitgehend die Vorstellung der Römer von ihrem Verhältnis zu den an den Grenzen wohnenden Völkern: Nachdem sie Roms Macht
11
Zu den Mechanismen der Schamabwehr vgl. Marks, Scham, 110. 12 Zur Darstellung des Parthers als unzivilisiertem und damit »unmännlichem« Mann vgl. Lopez, Apostle, 40f.
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kennengelernt hatten, sollten sie die Herrscher verehren und um amicitia bitten.«13
Ein weiteres Mittel, um die Überlegenheit Roms auszudrücken, ist es, die besiegten Völker als Frauen darzustellen und sie damit zu beschämen: Auf dem Brustpanzer rahmen trauernde weibliche Gestalten die Szene. Sie repräsentieren die unterworfenen Völker (hier: vermutlich Spanien und Gallien). Eine vergleichbare Szene zeigt auch die Münze »Iudea capta«, die nach dem jüdischen Krieg (nach 70 n.Z.) geprägt wurde.
Abb. 2: Münze »Iudea capta«
Auf der einen Seite ist Kaiser Vespasian abgebildet. Judäa erscheint auf der anderen als leidende Frau, neben der ein römischer Soldat steht. Er ist überlebensgroß (im Vergleich zur Dattelpalme) dargestellt und drückt so die Überlegenheit Roms durch übersteigerte Männlichkeit aus. Das Gegenüber von Soldat und Frau enthält deutlich sexuelle Konnotationen und versinnbildlicht das Verhältnis zum unterlegenen Volk. Münzen gingen von Hand zu Hand, damit war die Botschaft im Alltag allen präsent. Davina Lopez hat römische Statuen und Münzen unter Genderaspekten untersucht. Sie zeigt, dass es ein sich durchziehendes Muster in der Darstellung fremder Völker in der römischen imperia13
Zanker, Augustus, 191.
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len Ideologie gibt: Römischer Frieden entstehe durch Eroberung und Unterwerfung, und Geschlecht sei das Mittel, um die Machtbeziehungen und Hierarchien verständlich zu machen: Die Unterwerfung der Nationen ἔθνη (éthne) werde durch die Unterwerfung von Frauen symbolisiert.14 Von den Eroberten wurde diese Darstellung verstanden, sie hatten es zum Teil am eigenen Körper erfahren, was konkret mit einer solchen Unterwerfung verbunden ist. Bei den Eroberungen kam es zu Massenversklavungen und damit auch zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegen Frauen, Männer und Kinder in großer Zahl. Die Menschen in den von den Truppen eingenommenen Städten zählten als »bewegliche Beute«.15 Georg Doblhofer beschreibt in seiner Studie zu Vergewaltigungen in der Antike, dass diese auch gezielt eingesetzt wurden, um die Besiegten zu demütigen: »Aus der Sicht des Siegers war der Geschlechtsverkehr mit erbeuteten Frauen eine demonstrative Siegesgeste, die dem Besiegten seine Unterlegenheit nachdrücklich vor Augen führte.«16 Viele der von ihm untersuchten Texte zeigen auch die Perspektive der besiegten Männer, die die Gefangennahme der Frauen nicht verhindern und den Schutz der Familie nicht gewährleisten konnten und aus Scham Selbstmord begehen.17 Die Demütigung bzw. Beschämung geschieht hier durch die Zerstörung der körperlichen Integrität der Opfer und zugleich der Familien- und Sozialstrukturen, in die sie eingebunden sind. 14 Lopez, Apostle, 32: »Ethnic stereotyping through gender constructs served the purpose of historicizing and legitimating hierarchical relations of conquest and assimilation on patriarchal terms.« 15 Vgl. Volkmann, Massenversklavungen, 7–9. 16 Doblhofer, Vergewaltigung, 26. 17 Quellenverweise in Doblhofer, Vergewaltigung, 25.
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Die Augustus-Statue und die Münzen sind programmatisch für die Präsentation Roms, nachdem Augustus die Alleinherrschaft im Römischen Reich übernommen hatte. Er hatte eine neue Bildsprache entwickelt, die seine Macht auf verschiedenen Ebenen manifestierte: in Staatsakten, religiösen Ritualen, in der Kleidung, durch Statuen und Fresken in den öffentlichen Bauten, die überall im römischen Reich errichtet wurden. »Der römische imperator ist nicht nur ein Militär-, sondern auch ein Propagandaexperte. Er begnügt sich nicht damit, seine Feinde zu besiegen, sondern muss auch seine Gegner und seine eigenen Truppen überzeugen können. Unter den unzähligen Propagandamitteln, die der imperator ge- und missbraucht, nimmt die Architektur eine besondere Stellung ein. Sie erlaubt, den verschiedenen ideologischen Themen eine dauerhafte Form zu verleihen, die noch dazu eine schlüssige und leichtverständliche Lesbarkeit garantiert.«18
Diese Demonstration der Überlegenheit war ein wichtiger Faktor, seine Macht zu stabilisieren, ohne permanent direkte Gewalt anzuwenden: Die Sieger demonstrieren ihre Macht. Die Besiegten werden beschämt.19 Die Darstellungen der Unterlegenheit der unterworfenen Völker bestätigen zugleich die Männlichkeit Roms, die auf Statuen, Münzen und Fresken zum Vorbild für Männlichkeit schlechthin wurde.20 An ihr sollten sich alle orientieren – auch diejenigen, die nach römischer Definition als »nichtmännlich« galten. Die Darstellungen meißeln Beziehungen in Stein fest, sodass sie sich als unvermeidlich, natürlich und universal präsentieren. Durch die im Alltag überall präsente Demonstrati18 19 20
Gros/Gilles, Programm, 65. Vgl. Marks, Scham, 140. Vgl. Lopez, Apostle, 37.
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on von römischer Männlichkeit, der sie nicht entsprechen konnten, waren die Unterlegenen struktureller Erniedrigung ausgesetzt, mit dem Ziel, dass diese verinnerlicht und Teil ihres Selbstbildes wird.21 Der demütig kniende Parther oder die feminisierten Darstellungen der besiegten Völker stehen sinnbildlich dafür. Nach Stephan Marks ist strukturelle Beschämung eine bewusste Herrschaftsstrategie, um Menschen in einem Zustand politischer Apathie zu halten.22 Sie fühlen sich ohnmächtig und unfähig, an ihrer Situation etwas zu verändern. II. Die Letzten in der Arena (1Kor 4,9) Paulus war in den Städten des römischen Reiches unterwegs. Die Menschen in den messianischen Gemeinden, mit denen er dort zusammen gelebt, gearbeitet und das Evangelium verkündet hatte, gehörten zu ganz unterschiedlichen Völkern, die von Rom besiegt worden waren.23 Sie zählten aus römischer Perspektive zu den ethnē, den Unterworfenen. Viele von ihnen waren Versklavte oder Freigelassene und gehörten zu den rechtlosen und zu weiten Teilen bitterarmen Menschen, die oftmals unter entwürdigenden Bedingungen lebten.24 Was bedeutete das für die Frage nach ihrer Identi21 22 23
Vgl. Lopez, Apostle, 19. Vgl. Marks, Scham, 128. Die Analyse der Namen in der Grußliste in Röm 16 zeigt, dass zur römischen Gemeinde Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft gehörten, von denen etwa ein Drittel einen Sklavereihintergrund hatte, vgl. dazu Lampe, Christen, 135–153. 24 »Solange nicht das Gegenteil bewiesen werden kann, sollten wir davon ausgehen, dass die meisten oder auch alle Rezipienten eines bestimmten Textes nahe am Existenzminimum lebten«, so Friesen, Ungerechtigkeit, 275.
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tät? Wie haben sie das Geschlechterverhältnis in ihren Gemeinschaften definiert und gestaltet? Im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth geht Paulus mehrfach auf die konkrete Situation in der Gemeinde ein. In Kap. 4 äußert er sich zu Konflikten, von denen er durch die Korrespondenz mit Gemeindemitgliedern Kenntnis erhalten hatte. Er wendet sich gegen jedwede Konkurrenz und erinnert die Menschen daran, dass ihre Kraft in ihrem Zusammenhalt durch ihre Zugehörigkeit zu Christus und ihrer Orientierung an der Tora liege (V.6). Im darauffolgenden Abschnitt fordert er zur Solidarisierung mit den Letzten der Gesellschaft auf. Dazu wählt er ein drastisches Bild. Er vergleicht diejenigen, die sich dazu gesandt sehen, das Evangelium zu verkünden ἀπόστολοι (apóstoloi)25 mit denen, die zum Tode verurteilt sind ἐπιθανάτιοι (epithanátioi)26. Luise Schottroff ergänzt in ihrer Übersetzung von Vers 9, zum Wort ἔσχατοι (éschatoi; »Letzte«) »der Prozession in die Arena«,27 um das Bild sichtbar zu machen, das hier im Hintergrund steht: Der Zug der Todgeweihten, die in der Arena vor dem Publikum hingerichtet werden: »Mir kommt es aber so vor, als habe Gott uns Gesandte ans Ende der Prozession in die Arena gestellt, an den Platz derer, die zum Tode verurteilt sind; so werden wir zum Schauspiel für die Welt, für Engel und Menschen.« Die offiziellen Spiele in den Arenen hatten oft drei Teile: Am Morgen die Tierhetzen, dann kamen 25 apóstoloi bezieht sich hier nicht allein auf eine kleine Gruppe, sondern in prophetischer Tradition auf alle diejenigen, die das Evangelium verkünden, vgl. dazu Ehrensperger, Paul, 81– 97; Schottroff, Korinth, 69. 26 Vgl. 1Kor 15,31; 2Kor 4,10f; Röm 8,36. Conzelmann, Korinther, 108, führt dazu aus: »Ihm schwebt nicht der Kämpfer vor, den Gott wegen seines Heroismus bewundert, sondern die römische Theatervorführung mit zum Tode Verurteilten.« 27 Vgl. Schottroff, Korinth, 66.
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Hinrichtungen zum Tode Verurteilter und am Nachmittag die Gladiatorenkämpfe. Die Hinrichtungen waren oft aufwändig szenisch gestaltet – die Verurteilten »spielten« Rollen in Stücken aus der griechisch-römischen Mythologie oder stellten historische Schlachten nach.28 Im Gegensatz zu Schauspielen in den Theatern waren die Tötungen real, Menschen wurden hingerichtet oder von wilden Tieren zerrissen. Wesentlicher Teil der Strafe war die öffentliche Erniedrigung und das Zufügen von Schmerzen, beides sollte auch der Abschreckung dienen.29 Thomas Wiedemann beschreibt die Funktion der öffentlichen Hinrichtung von »Verbrecher_innen« darin, dass hier symbolisch Bedrohungen des zivilisierten Lebens überwunden wurden. Mit den Hinrichtungen wurde den Zuschauenden die Sicherheit gegeben, dass die gesellschaftliche Ordnung garantiert sei. Zwar habe auch in der Antike die Tötung von Menschen ambivalente Gefühle ausgelöst, doch wurde deren Inszenierung oft so kostspielig und pompös gestaltet, dass diese Empfindungen zurückgedrängt werden konnten: »Der Schrecken, den die Hinrichtungen so in der Gesellschaft hervorrufen, kann gemindert werden, wenn das Opfer gar nicht als Person wahrgenommen wird, als nicht der Gesellschaft zugehörig, sondern als ›fremd‹ oder unmenschlich oder einfach – wie in der modernen Kriegsführung – als Objekt, deren Zerstörung ein technisches und kein moralisches Problem darstellt.«30
Auch Brigitte Kahl versteht diese Inszenierungen als wichtigen Faktor zur Aufrechterhaltung römi28
Vgl. Augustus, Res gestae, 22f; zur Inszenierung von Seeschlachten in den Arenen. Vgl. Wiedemann, Gladiatoren, 86, 98ff. 29 Vgl. Wiedemann, Gladiatoren, 79f. 30 Wiedemann, Gladiatoren, 100.
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scher Macht und zur Formung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der jeder Person ein Platz in der Hierarchie zugewiesen wurde – durch Kleidung, die Sitzordnung in den Rängen und den Zwang, die Hinrichtungen ansehen zu müssen. Sie zeigt, dass die Spiele deutlich politische und religiöse Dimensionen hatten und nennt die Arenen »Megachurches of Imperial Religion«.31 Der römische Volkskörper, der hier konstituiert werde, reflektiere die kosmische Ordnung und universales Recht, das in den aufwändigen Choreographien allen ins Bewusstsein gerufen werde: »The arena taught people that this strictly hierarchial, competitive, and violenceobsessed order of inclusion and exclusion is not only universal but also beneficial: after a day of games even the lowest ranking and most marginalized spectator had been elevated above someone more inferior and outcast: the victims in the arena.«32
Die Letzten in der Arena werden entmenschlicht und aus der römischen Gesellschaft ausgeschlossen. Das römische »Wir« werde dadurch konstituiert, dass sich die Menschen auf den Rängen von den Verurteilten in der Arena äußerlich und innerlich distanzieren, sie zu Objekten, zu »den Anderen« machten.33 Paulus hingegen fordert dazu auf, genau hinzuschauen (V.10): »ἡµεῖς δὲ ἄτιµοι« (hemeis dè átimoi; »Wir werden verachtet«). Die da unten, das sind wir. Damit entlarvt er das »Wir« der Arena als Pseudogemeinschaft, die die Zuschauenden zu Mittäter_innen macht. Der Abschnitt 1Kor 4,6–21 lebt von der Gegenüberstellung der Größen »Ihr« und »Wir«. Die »Ihr-Gruppe« mache sich wichtig in der Gemeinde und spiele nach Ansicht des Paulus die 31 32 33
Kahl, Galatians, 156. Kahl, Galatians, 155. Vgl. Elliott, Performance, 78.
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einen gegen die anderen aus (V.6). Paulus richtet eine Reihe von rhetorischen Fragen an sie: »Seid ihr schon satt, reich, stark, angesehen …?« In V.10 wird deutlich, dass sich die »Ihr«-Gruppe wie die »Wir«-Gruppe zu Christus gehörig fühlt.34 Zwischen Paulus, der sich zur »Wir«-Gruppe zählt, und ihnen gibt es unterschiedliche Einschätzungen der Situation der Gemeinde in ihrem politischen und gesellschaftlichen Umfeld in Korinth. Paulus hält ihnen vor, dass sie sich von dem, was sie an angeblichen Wohltaten bekommen, blenden lassen: Was habt ihr, was ihr nicht von anderen bekommen habt? (V.7) Der Illusion von Stärke setzt er das Bild der Letzten in der Prozession in die Arena entgegen. Für Paulus gleicht die »Ihr«Gruppe den Zuschauenden in den Rängen der Arena, die sich innerlich und äußerlich von den Opfern distanzieren und sich damit auf der sicheren Seite wähnen. Diese aus seiner Sicht nur scheinbare Sicherheit stellt er in Frage, indem er sich und alle diejenigen, die das Evangelium vom Gekreuzigten und Auferstandenen (vgl. 1Kor 1,18; 2,2) verkünden, mit den Erniedrigten und Verachteten identifiziert (V.12–14): Wir hungern, laufen in Lumpen, werden geschlagen, sind obdachlos, arbeiten hart, werden beschimpft, verleumdet und verfolgt: »Wie Kehrdreck der Welt sind wir geworden, Abschaum in den Augen der Leute, bis jetzt!« (V.13) Ab V.11 gibt es kein »Ihr« mehr, Paulus bezieht auch diejenigen, die sich von dieser Situation distanzieren wollen, in das »Wir« mit ein. Die Verachtung, die in dem Bild der Arena zum Ausdruck 34 Der Konflikt zwischen den »Wir« und den »Ihr« ist als ein innergemeindlicher zu verstehen, vgl. Schottroff, Korinth, 68f: »Das ›Ihr‹ ist ein fiktives Gegenüber in der Gemeinde. Es sind nicht die Gegner, sondern einzelne kleine Gruppen in der Gemeinde, die sich zu einem Verhalten verleiten lassen, von dem sie sich mehr Sicherheit versprechen als von der Nähe zu einem Gekreuzigten.«
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kommt, entspricht den Alltagserfahrungen, die die Menschen in der Gemeinde machen. Er benennt deutlich die Beschämung und strukturelle Erniedrigung. Dazu gehört Armut in all ihren Facetten. Die Bilder des Kehrdrecks und Abschaums, die in der öffentlichen Meinung über sie existieren, beschreiben diesen Blick von außen, der sie ausgrenzen und ihnen die Würde nehmen will. In V.14f gibt er dann Auskunft darüber, warum er die Situation so eindringlich schildert: »Nicht, um euch zu beschämen, schreibe ich das.« In der Auslegung wird die erzieherische Absicht des Paulus hervorgehoben, seine Adressat_innen mit dem Gesagten nicht beschämen zu wollen. Die Worte zeigten sein »liebevolles Bemühen, die Korinther auf einen anderen Weg zu bringen« 35 bzw. »seinen vorangehenden Worten die Schärfe zu nehmen.«36 Paulus verstehe sich als »väterlicher und mütterlicher Erzieher, der ermutigen will, nicht beschämen und strafen.«37 Doch bezieht sich die Aussage, die Angesprochenen nicht beschämen zu wollen, tatsächlich auf die Art und Weise, wie er seine Inhalte vermitteln möchte, damit sie als Ermutigung und Motivation aufgefasst werden können, um das Verhalten zu verändern? Hinter dieser Sichtweise steht letztlich ein Bild des Paulus, der über der Situation steht und das Beispiel des grausamen Geschehens in der Arena als drastisches Mittel für die Erziehung der Menschen in Korinth wählt, dann merkt, dass er sich etwas im Ton vergriffen hat und sie nun wiederaufbauen will. Doch Paulus sieht sich als Teil des »Wir«, deren Alltagserfahrungen er in den vorangehenden Versen beschrieben hat. Neil Elliott versteht sie als Darstellung einer grundlegenden Beschämung und 35 36 37
Lindemann, Korintherbrief, 113. Schrage, Korinther, 354. Schottroff, Korinth, 76f.
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Erniedrigung der apostolischen Gesandten: »The overall effect of Paul’s language is to cast himself and his apostolic colleagues as those who consistently are humiliated, ritually mistreated, and expelled in public events that represented the prevailing order of power, and distinguished citizens from subjects.« Die Aussage, dass er die Angesprochenen nicht beschämen wolle, kann vor diesem Hintergrund auch so gedeutet werden, dass er zum einen wahrnimmt, dass all das zuvor Beschriebene gesellschaftlich dazu genutzt wird, Menschen strukturell zu beschämen. Zum anderen weiß er auch, dass er an ein tiefes Tabu rührt, indem er die Scham benennt, die diese Situationen auslösen und den Blick auf diejenigen richtet, die sichtbar erniedrigt und beschämt werden. Er will sie nicht erneut beschämen, indem er die erniedrigenden Szenen schildert, sondern Menschen darin unterstützen, sich von den verinnerlichten Selbstbildern der Erniedrigung und Demütigung zu befreien.38 Er fordert zum Hinsehen auf und unterläuft damit die römische Strategie, die Erniedrigten zu »den Anderen« zu machen, um sie nicht mehr als Personen wahrzunehmen. Paulus will so die entsolidarisierende Wirkung der strukturellen Beschämung sichtbar machen und ihnen neue Handlungsmöglichkeiten erschließen. Schon in der Beschreibung der Alltagssituationen zeigt er Strategien auf, die die Mechanismen von Beschämung, Gewalt und Gegengewalt überwinden können: segnen, durchhalten, die Verleumdungen sachlich richtigstellen (V.12f). Doch er will noch mehr. Er will die Menschen in Korinth dazu bringen, ihre Wahrnehmung zu verändern (V.14): … ὡς τέκνα µου νουθετῶ / … hos tekna mou 38
Stephan Marks bezeichnet den Versuch, die Situation der Beschämung zu überwinden und handlungsfähig zu werden, als »Schamfreiheit«, vgl. Marks, Scham, 174.
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nouthetō. Das Verb nouthetō setzt sich zusammen aus νοῦς (vous; »Einsicht, Verstand, Absicht, Empfindungsvermögen«) und τίθηµι (títhemi; »setzen, [her-]stellen, legen«). Die häufig gewählte Übersetzung »ermahnen« (so z.B. Luther 2017) vermag es m.E. nicht, den Prozess zu beschreiben, den Paulus hier initiieren will: die Wahrnehmung und das Empfindungsvermögen so zu verändern, dass sich die Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Maßstäben verändert, die auf Konkurrenz und Hierarchien beruhen. Paulus präsentiert sich als »Vater«, der39 die Menschen als geliebte Kinder ansprechen und zu einem Sinneswandel bewegen will: Streitigkeiten zu überwinden und solidarisch mit den Letzten zu sein. III. Gotteskraft und imperiale Macht Paulus geht es hier nicht allein um ethische Anweisungen für ein tolerantes Miteinander der Menschen in den Gemeinden untereinander. In 1Kor 4,19f beschreibt er die Erfahrung, zu Christus und zur Gottesherrschaft βασιλεία τοῦ θεοῦ (basileía tou theou) zu gehören, als Kraftquelle. Gott gibt den Menschen Kraft δύναµις (dýnamis), und hilft ihnen damit, ihr Empfindungsvermögen zu verändern und handlungsfähig, d.h. solidarisch zu werden. Damit steht Paulus mit seiner Argumentation in der biblischen Tradition der Erhöhung der Erniedrigten, die insbesondere in den Psalmen und ihrer Thematisierung von Scham und Beschämung zum Ausdruck kommt.40 39 Zur oft auf Schlägen basierenden Erziehungspraxis der Pädagogen, von der sich Paulus abgrenzt, vgl. Schottroff, Korinth, 77–80. 40 Poser, Scham, 148–154, beschreibt die Auseinandersetzung mit Scham und Beschämung in den Psalmen als »theopolitisches Geschehen«. Den Betenden wird durch ihre Beziehung
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Theologisch begründet er die von ihm gelebte Haltung mit dem Anbruch der basileía tou theou (V.20): Diese beruhe nicht auf dem, was die »Wichtigtuer« / die »Aufgeblasenen« sagten, sondern auf göttlicher Kraft (dýnamis). Bis jetzt ἕως ἄρτι (héos árti) habe deren Sicht die Wirklichkeit bestimmt (V.13). Beschenkt mit der Kraft des Messias, haben sich nun für ihn neue Wege aufgetan, die Paulus alle Gemeinden lehren will (V.17). »Bis jetzt!« ist eine eschatologische Zeitansage. Luzia Sutter Rehmann versucht, die messianische Erfahrung, die für Paulus die Gewissheit begründet, dass die Leidens- und Unrechtszeit begrenzt ist, in Worte zu fassen: »Hier kommt apokalyptische Sehnsucht zur Sprache, in der es Raum gibt für die Heilung der Welt, [das] Ende der Gewalt und [den] Anbruch einer neuen Zeit, in der keine Kreuze mehr aufgerichtet werden, weder auf Golgata, noch in den Arenen.«41 »In Christus« beschreibt den Lebensraum, in dem Gottes dýnamis wirkt.42 Paulus will ihn den Menschen in Korinth eröffnen, die er als seine geliebten Kinder durch das Evangelium geboren habe (V.15.20). Das Evangelium umfasst für ihn zentral die Botschaft der Kreuzigung und Auferstehung Christi, in der sich Gottes Kraft zeigt.43 Auf dieser Kraft beruhe sein apostolisches Wirken und das Glaubensfundament der Gemeinde (vgl. 1Kor 1,18; 2,5; 4,20). Durch die Auferweckung des Gekreuzigten habe sie sich mächtiger als die Gewalt des römischen Imperiums erwiesen. Neill Elliott bezeichnet diese Demonstration der Gotteskraft als »counter-diszu Gott ein Ausweg aus Schuld, Scham und Beschämung gewiesen, der es ihnen ermöglicht, neu handlungsfähig zu werden und damit auch Gott die Ehre zu geben. 41 Sutter Rehmann, Bis jetzt, 159. 42 Zur Vorstellung von Lebens- und Todesräumen in der Theologie des Paulus vgl. Janssen, Schönheit, 117–130. 43 Vgl. Elliott, Performance, 82.
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play«.44 Paulus stelle sie ganz bewusst den imperialen Macht-Ritualen gegenüber: »The ekklesia’s ›proclaiming the Lord’s death until he comes‹, and the apostolic ›carrying about the dying of Jesus in the body‹, are alike representations of the power of God because the crucified one so shown forth is the resurrected Jesus.«45 In dem Schicksal derjenigen, die das Evangelium verkünden, werde Christus gegenwärtig (vgl. 2Kor 2,14; 4,8–12; 6,4–10; 11,23–27; Gal 6,17), an ihren Körpern zeige sich die (Aufweckungs-)Kraft Gottes: »That is, precisely the body exhibited by the Empire as tortured and crucified has been decisively counter-exhibited by God’s act in raising Jesus from the dead; and that counterdisplay continues to be re-presented by apostolic and ecclesial performance as the locus of God’s life-giving power.«46
Deshalb ist es für Paulus so wichtig, die Leidensund Erniedrigungserfahrungen zu benennen und auf die Letzten im Zug in die Arena zu schauen. Sie zeigen den gequälten Körper des Messias. Im Moment des Hinschauens geschieht die Veränderung: In den Erniedrigten wird Gottes dynamis sichtbar. Sie erlangt Wirksamkeit, indem der Gewalt das Ende angesagt wird: bis jetzt! – und die geschundenen Körper durch Gottes Auferweckungskraft verändert werden (vgl. 1Kor 15,42–44).47 In Christus, im σῶµα Χριστοῦ (soma Christou) (vgl. 1Kor 12,12–27), sind die imperialen Gewalt- und Unrechtsstrukturen überwunden, hier erfahren die Menschen ihre Würde (vgl. 1Kor 6,19; 15,44).
44 45 46 47
Elliott, Performance, 82. Elliott, Performance, 83f. Elliott, Performance, 84. Zur Körpertheologie des Paulus im Kontext seiner Auferstehungsvorstellungen vgl. Janssen, Schönheit, 283–306.
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IV. Anti-imperiale Theologie und hegemoniale Männlichkeit Die Untersuchung von 1Kor 4,6–21 hat gezeigt, dass Paulus die Herrschaftsstrukturen und Machtmechanismen der römischen Herrschaft gut kennt und einen imperiumskritischen theologischen Gegenentwurf dazu bietet. Im Blick auf die eingangs dargestellte wichtige Funktion von Genderfragen, vor allem der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit für die Konstitution der römischen Gesellschaft ist nun zu fragen, ob und wie er in seinen theologischen Argumentationen auf diese Aspekte eingeht. In 1Kor 4 betont er mehrfach, dass es in der Gemeinde kein Erheben über andere geben soll und dass die gesellschaftlichen Hierarchien hier nicht gelten. Er fordert die Solidarität mit den Erniedrigten ein, identifiziert sich und die anderen, die sich für die Verkündigung des Evangeliums engagieren, mit den »Letzten [in der Arena]«. Er selbst beschreibt sich als jemand, der mit den Händen arbeitet (V.12) – aus Sicht der römischen Elite ist das eine verachtenswerte Tätigkeit.48 In 1Kor 2,1–5 spricht Paulus persönlich von sich selbst und seiner körperlichen Konstitution:49 Er sei »in Schwäche« ἀσθένεια (asthéneia) zur Gemeinde gekommen (vgl. auch 2Kor 10,10), die »Schwäche« beeinträchtige ihn körperlich und belaste ihn auch psychisch.50 Wahrscheinlich handelt es sich um eine schwere chronische Krankheit oder posttraumatische Belastungsstörung – nach Folter oder erlittener Gewalt. In einer Umwelt, in der Männlichkeit durch Überlegenheit über andere, Gewalt, körper48 49 50
Vgl. Cicero, Off, I,42,150f. Zum Folgenden vgl. Janssen, Schwäche. Zur Formulierung »mit Furcht und Zittern/Bangen« vgl. Schottroff, Korinth, 49.
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liche Kraft und Herrschaft definiert wurde, bedeutet das Sichtbarmachen von psychischer und physischer Schwäche und die Identifikation mit den Besiegten das (rhetorische und körperlich-erfahrene) Gegenbild dazu. In Gal 4,19 übernimmt er das oft zur Herabwürdigung eingesetzte weibliche Körperbild einer leidenden Mutter zur Beschreibung seiner Person im Verhältnis zur Gemeinde. Davina Lopez führt aus, dass sich Paulus geradezu als Personifikation der Unterlegenen präsentiere, indem er seine Schwäche und sein Leiden herausstelle und sein Schicksal mit dem Gekreuzigten identifiziere: »Paul models a defeated, and not a heroic male body. […] Instead of ravaging and persecuting, Paul performs as a man for and with, and not against and above, others, including the nations.«51 Paulus präsentiert sich somit selbst als »unman«, eine im Kontext römischer Männlichkeitsdiskurse außergewöhnliche Position. Theologisch begründet er seine Autorität, die er in der Gemeinde als Lehrer und Verkündiger des Evangeliums einnimmt, mit der dýnamis Gottes, die durch ihn wirksam werde (vgl. 1Kor 2,5; 4,15). In der aktuellen Diskussion über Männlichkeitsvorstellungen bei Paulus wird deshalb oft auf eine gewisse Ambivalenz in seinem Verhalten hingewiesen: Kritisch gegenüber griechisch-römischen Männlichkeitskonstruktionen, ohne jedoch in der Gemeinde mit den herrschenden Deutungsvorgaben völlig zu brechen, so resümiert z.B. Moises Mayordomo Marín.52 Die in diesem Zusammenhang oftmals angeführten Stellen, in denen er sich als Vater (1Kor 4,14f.; 2Kor 11,2f.; 12,14), Soldat (2Kor 10,3–5) oder siegreicher Athlet (1Kor 9,24–27) präsentiert, seine Ausführungen zu Sexualität (1Kor 6,9; 6,12–20; 7,1–40) oder zum Verhalten von Frauen und Männern im 51 52
Lopez, Apostle, 138f. Vgl. Mayordomo, Konstruktionen, 39.
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Gottesdienst (1Kor 11,1–16)53 wären nun neu daraufhin zu befragen, ob und wie sich hier antihierarchische Gegenbilder zur herrschenden Geschlechterordnung entdecken und bleibende Widersprüche aufdecken lassen. Beschreibt sich Paulus als Vater der Gemeinde (1Kor 4,14), um die Autorität des pater familias einzufordern oder dekonstruiert er das herrschende Vaterbild, in dem er es antihierarchisch neu definiert? Die Herausforderung solcher Untersuchungen ist es, zu verstehen, wo Paulus gesellschaftlich gängige Sprach- und Ausdrucksformen aufnimmt, um sie zu destruieren oder zu bestätigen. Dafür ist es notwendig, detailliert römisch-imperiale Machtmechanismen, die oft kaum sichtbar und subtil in Alltagszusammenhängen wirksam werden, zu analysieren, um eine mögliche »counter-performance« zu erkennen. Eine der wenigen Stellen, an denen explizit Kategorien der griechisch-römischen Gesellschaft aufgegriffen werden, um sie »in Christus« zu dekonstruieren, ist Gal 3,28. Hier wird die gesellschaftliche Vision eines Miteinanders von Menschen, die ihre Identität in Christus haben, in eine Formel gefasst und ein »Wir« konstruiert, das dem römischen »Wir« entgegengestellt wird: »Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich: denn alle seid ihr einzig-einig im Messias Jesus.« Ethnische Herkunft, sozialer Status und Geschlecht sollen keine Abwertungen und Hierarchien begründen oder dazu genutzt werden, um andere zu beschämen. Gal 3,28 beschreibt Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit und Anerkennung
53 Hier bietet Schottroff, Korinth, 195–211 eine neue These, die die Ausführungen im Kontext der imperialen Präsentation von Frömmigkeit und der Praxis in den römischen Haushalten deutet.
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beruhen und damit die Grundlage einer Kultur der Menschenwürde und Wertschätzung schaffen. Literatur Augustus, Meine Taten. Res Gestae Divi Augusti, herausgegeben und übersetzt von Ekkehard Weber, München, 31975 (1970) Bourdieu, P., Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005 Burke, S.D., Queering the Ethiopian Eunuch. Strategies of Ambiguity in Acts, Minneapolis 2013 Connell, R., Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 42015 Conzelmann, H., Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 1969 Doblhofer, G., Vergewaltigung in der Antike, Stuttgart/Leipzig 1994 Eck, W., Rom und Judaea. Fünf Vorträge zur römischen Herrschaft in Palaestina, Tübingen 2007 Ehrensperger, K., Paul and the Dynamics of Power: Communication and Interaction in the Early Christ Movement, London / New York 2009 Eisen, U. / Gerber, Chr./ Standhartinger, A. (Hg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013 Elliott, N., The Apostle Paul’s Self-Presentation as Anti-Imperial Performance, in: R.A. Horsley (Hg.), Paul and the Imperial Order, Harrisburg 2004, 67–88 Friesen, St.J., Ungerechtigkeit oder Gottes Wille: Deutungen der Armut in frühchristlichen Texten, in: A. Horsley (Hg.), Die ersten Christen. Sozialgeschichte des Christentums Bd. 1, Gütersloh 2007, 271–292 Gleason, M.W., Making Men: Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995 Gros, P. / Sauron, G., Das politische Programm der öffentlichen Bauten, in: Antikenmuseum Berlin (Hg.), Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Berlin 1988, 48–68 Janssen, C., Anders ist die Schönheit der Körper. Paulus und die Auferstehung in 1 Kor 15, Gütersloh 2005 – Ich komme in Schwäche mit Kraft (1 Kor 2,1–5). Die Selbstinszenierung des Paulus und der Menschen in den messianischen Gemeinden im Gegenüber zur Propaganda des Imperium Romanum, BiKi 70 (2015), 136–141
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Kahl, B., Galatians Re-Imagined. Reading with the Eyes of the Vanquished, Minneapolis 2010 – Nicht mehr männlich? Gal 3,28 und das Streitfeld Maskulinität, in: C. Janssen / L. Schottroff / B. Wehn (Hg.), Paulus: umstrittene Traditionen – lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 129–145 Lampe, P., Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, Tübingen 21989 (1987) Laqueur, Th., Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 Larson, J., Paul’s Masculinity, JBL 123/1 (2004), 85–97 Leutzsch, M., Männlichkeit im Neuen Testament wahrnehmen. Beobachtungen, Problemstellungen, Hypothesen, in: Reiner Knieling / Andreas Ruffing (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung. Impulse für die Praxis, Göttingen 2012, 121–158 Lindemann, A., Der erste Korintherbrief (HNT Bd. 9,1), Tübingen 2000 Lopez, D.C., Apostle to the Conquered. Reimagining Paul’s Mission, Minneapolis 2008 Marks, St., Scham – die tabuisierte Emotion, Ostfildern 52015 (2007) Mayordomo Marín, M., Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und der paulinischen Korintherkorrespondenz, EvTh 68 (2008), 99–115 – Paulus und die Korinther im Netz antiker Männlichkeit, BiKi 63 (2008), 149–155 Moore, St.D. / Anderson, J. (Hg.), New Testament Masculinities (Semeia Studies 45), Atlanta 2003 Poser, R., Scham in der Hebräischen Bibel, in: U. Link-Wieczorek (Hg.), Verstrickt in Schuld, gefangen von Scham? Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung, Neukirchen-Vluyn 2015, 137–154 Schrage, W., Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/4), Neukirchen-Vluyn 1991 Schottroff, L., Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 7), Stuttgart 2013 Späth, Th., Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt a.M. / New York 1994 Sutter Rehmann, L., »Bis jetzt!« (1 Kor 4,13). Gewalt- und Todesstrukturen wird das Ende angesagt, BiKi 70 (2015), 156–160 Volkmann, H., Die Massenversklavungen der Einwohner eroberter Städte in der hellenistisch-römischen Zeit, Stuttgart 21990 (1961)
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Wiedemann, Th., Kaiser und Gladiatoren. Die Macht der Spiele im antiken Rom, Darmstadt 2001 Zanker, P., Augustus und die Macht der Bilder, München 31997 (1987)
Abbildungen Abb. 1: S. 162 Abbildung und Rechte: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Statue-Augustus.jpg Abb. 2: S. 164 Abbildung und Rechte: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sestertius__Vespasiano_-_Iudaea_Capta-RIC_0424.jpg?
Christian Strecker
»Ich schäme mich des Evangeliums nicht …« Ehre, Scham und Schuld in der kulturwissenschaftlichen und neutestamentlichen Forschung »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«1 So lautet der erste Satz in Franz Kafkas berühmtem Roman »Der Proceß«. Die Hauptfigur sieht sich darin unversehens einer seltsam undurchdringlichen Gerichtsbehörde gegenübergestellt. Die zentrale Frage nach der möglichen Schuld des Protagonisten bleibt jedoch bis zuletzt ungeklärt. Aus der fortwährenden Offenheit dieser Frage, dem wiederholten Aufkeimen und Verdrängen von Schuldgefühlen, zieht der Roman seine beklemmende Stimmung. Mit Recht erblicken viele im »Proceß« ein Schlüsselwerk des zwanzigsten Jahrhunderts, und man ist geneigt, dieses epochale Schlüsselwerk als untrügliches Zeugnis für die verbreitete These heranzuziehen, die moderne westliche Welt sei – nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer jüdisch-christlichen Herkunft und Prägung – im Kern eine Schuldkultur. Allerdings schließt »Der Proceß« nicht mit einer Reflexion über Schuld. Die brutale Hinrichtung des Protagonisten durch zwei offizielle Herren, mit welcher der Roman endet, gibt Kafka mit folgenden, wahrlich ins Mark schneidenden Worten wieder: »[A]n K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und 1
Kafka, Proceß, 9.
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zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinander gelehnt die Entscheidung beobachteten. ›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«2
Wie auch immer der letzte Satz zu deuten ist – ob er eine Transformation prinzipiell tilgbarer Schuld in unaufhebbare, über den Tod hinauswährende Scham andeuten will oder ob sich darin womöglich im Gegenteil so etwas wie Hoffnung abzeichnet3 –, wie auch immer man überhaupt den ganzen Roman aufzuschließen sucht, deutlich ist in jedem Fall eines: Kafkas Roman handelt von Schuld und Scham. Nicht erst am Ende, durchgängig begegnen in dem Roman Situationen und Bekundungen der Scham, der Entehrung und Entwürdigung.4 »Kafkas Werk erkundet« mithin, wie es Hans-Thies Lehmann einmal treffend formulierte, »die Schwelle, das Hinüber und Herüber zwischen Schuld und Scham«5. Dieses Changieren zwischen Schuld und Scham findet sich samt einer Anspielung auf den zitierten Schlusssatz des Romans nicht zufällig auch in Kafkas »Brief an den Vater«, einem Schlüsseltext in Kafkas Gesamtwerk.6 Vielsagend heißt es darin: »Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewusstsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemandem einmal richtig: ›Er fürchtete, die Scham werde ihn noch überle-
2 3
Kafka, Proceß, 241. Letzteres erwägt Kalka, Scham; zu weiteren Deutungen s. Heidgen, Inszenierungen, 87–89. 4 Vgl. dazu Wurmser, Identität, 13–22. 5 Lehmann, Welttheater, 831. Auch Wurmser, Identität, 22 versteht das Werk als »eine großartige Darstellung der tragischen Dialektik zwischen Scham und Schuld«. 6 Vgl. dazu Heidgen, Inszenierungen, 72–89.
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ben.‹).«7 Unverkennbar stehen in Kafkas Werk Scham und Schuld in einer schillernden Wechselbeziehung.8 Was aber ist Scham, und in welcher Beziehung stehen Scham- und Schuldgefühle zueinander? Mittels welcher Codes und sozialer Mechanismen werden Ehre und Schande in einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur verteilt bzw. zugeteilt? Gibt es paradigmatische Unterschiede in den soziokulturellen Ausformungen und Bewertungen von Scham und Schuld? Ist es mit anderen Worten möglich, zwischen Scham- und Schuldkulturen zu unterscheiden? Angeregt durch die wissenschaftlichen Neuorientierungen im Zuge des sog. cultural turn und befördert durch ein intensiviertes Bewusstsein für kulturelle Differenzen infolge der allgemeinen Globalisierungsdynamik werden all diese Fragen in jüngerer Zeit unter Rekurs auf einschlägige ältere Studien verstärkt debattiert. Die weithin interdisziplinäre Erforschung dieser Fragen ist allerdings äußerst komplex und nur mehr schwer zu überschauen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen zumindest groben Überblick über zentrale Thesen und Kontroversen der inzwischen breiten Forschungsdebatte zu geben, um am Ende in aller Kürze und keineswegs erschöpfend auf einige ausgewählte Applikationen und Implikationen dieser Debatte im Bereich der neutestamentlichen Forschung einzugehen. Die in der besagten Debatte bisweilen etwas einseitige Fokussierung auf die Gegenüberstellung von Scham und Schuld soll da7 8
Kafka, Brief, 184. Bereits im frühesten uns erhaltenen Text Kafkas, einem Brief an Oskar Pollak aus dem Jahr 1902, findet sich ein Prosastück, das wahrlich »kafkaesk« Entladungen der Scham samt innerer Skrupel vor Augen führt. Gemeint ist »Die Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen«; vgl. Kafka, Briefe, 18f.; s. dazu Heidgen, Inszenierungen, 9–11.
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bei bewusst um das Thema »Ehre« erweitert werden, stehen doch Ehre und Scham/Schande in einem engen Bezugsverhältnis. Zudem spielt das Begriffspaar »honor and shame« in der für die biblische Exegese wichtigen Mittelmeerforschung eine Schlüsselrolle. I. Ehre, Scham und Schuld: Debatten, Konzepte, Thesen Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass Ehre, Scham/Schande und Schuld in ihrer kategorialen Dimension sehr unterschiedlich bestimmt werden können. Die fraglichen Phänomene bewegen sich auf der Schnittstelle von Sprache, Körper und Psyche. Sie stehen zudem im Spannungsfeld von Individuum (Selbstverhältnis), Gesellschaft und Kultur. Im Näheren lassen sie sich mit Gefühlen, Emotionen oder Affekten,9 mit somatischen Artikulationen und Erfahrungen, mit Werten, Urteilen, Normen und Handlungsskripten, mit sog. symbolischem Kapital, mit Diskursen und kulturellen Performanzen assoziieren bzw. identifizieren. Das akademische Feld der über Ehre, Scham/Schande und Schuld Forschenden ist daher äußerst breit gefächert. Es reicht von der Psychologie, über die Literaturwissenschaft, die Philosophie, die Soziologie, die Ethnologie und Geschichtswissenschaft bis hin zu ästhetischen und juristischen Reflexionen.10 Hier können nur einige wenige Einsichten, Konzepte und Thesen kurz angerissen werden. 9
Zu den Differenzen der alltagssprachlich synonym verwendeten Begriffe vgl. Benthien, Tribunal, 26f. 10 Einen Überblick über die Forschungen zur »Ehre« bietet Vogt, Logik, 24–43; zur Erforschung von Scham und Schuld s. Werden, Schamkultur, 25–189; Benthien, Tribunal, 33–104; Heidgen, Inszenierungen, bes. 47–72.
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Zunächst zur Begrifflichkeit. Im Englischen, der dominanten Wissenschaftssprache, steht die Vokabel shame bezeichnenderweise nicht nur für das innere Schamgefühl (frz. pudeur), sondern auch für die äußerliche Beschämung, also die Schande im Sinne der Schmach (frz. honte). Noch komplexer ist der sprachliche Befund im Altgriechischen: Der einschlägige Terminus αἰδώς umfasst dort ein ganzes Geflecht disparater Bedeutungen. Neben Scham und Scheu bezeichnet αἰδώς verschiedenste Arten der Ehrfurcht, des Respekts, der Achtung, der Dignität und überdies die Genitalien. Zudem begegnet in der griechischen Sprache in der Vokabel αἰσχύνη ein weiterer Begriff für Schande und Schmach, der auch für Scham und Scheu stehen kann.11 Der komplexen Phänomenalität der Scham korrespondiert mithin ein über die Kulturen hinweg vielschichtiger, alles andere als einheitlicher Sprachgebrauch.12 Wichtig ist sodann die manifest somatische Dimension der hier diskutierten Phänomene. In vielen Gesellschaften und Kulturen fungiert der Körper als wichtiges symbolisches Medium, um Ehre oder Schande sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Kopf und Gesicht sind dabei von zentraler Bedeutung. Speziell mit Blick auf die antiken Kulturen erläutert Bruce Malina: »Ehre und Unehre werden dargestellt, wenn das Haupt gekrönt wird, gesalbt, berührt, bedeckt, enthüllt, durch Rasieren kahl gemacht wird, wenn es abgeschlagen, geschlagen oder gestoßen wird.«13 Klassische körperliche Gebärden der Scham wie das Verhüllen des Gesichts oder auch der betonte Blick nach unten werden 11 Vgl. zur sprachlichen Problematik umfassend Cairns, Aidos, und Konstan, Emotions, 91–110. 12 Vgl. zur sprachlichen Vielfalt der Thematisierungen von Ehre und Schande/Scham speziell bei Paulus Strecker, Theologie, 285f. 13 Malina, Welt, 50.
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ähnlich noch in unserer heutigen Kultur verstanden. Hinzu kommen unwillkürliche somatische Reaktionen. Bereits Charles Darwin widmete sich eingehend dem Phänomen des Errötens, das er als unwillkürlichen somatischen Ausdruck von Schüchternheit, Bescheidenheit und Scham beschrieb, ausgelöst durch eine Form der Selbstaufmerksamkeit, in der sich ein Individuum darauf fokussiere, wie andere das Selbst sehen.14 Differenzierter noch unterscheidet der israelische Philosoph Avishai Margalit unter Rekurs auf Bernard Williams zwischen »roten« und »weißen Gefühlen«. Er erklärt: »Rote Gefühle lassen uns erröten, weiße Gefühle lassen uns erbleichen. Das Schamgefühl wäre … ein Beispiel für ein rotes Gefühl, das Schuldgefühl für ein weißes. Bei roten Gefühlen sieht man sich mit den Augen der anderen, was einem die Schamröte ins Gesicht treibt. Bei weißen Gefühlen dagegen sieht man sich mit dem ›inneren‹ Auge des Gewissens, was einen erbleichen läßt.«15
Schließlich gehört zur somatischen Dimension der Scham auch die sog. Nackt- und Genitalscham, die bereits Sigmund Freud, dann aber auch der Ethnologe Hans Peter Duerr eingehend untersuchte.16 Im Raum der Philosophie legte Maria-Sibylla Lotter jüngst eine Deutung der Scham als Quelle der Moral vor. Gegenüber der verbreiteten despektierlichen Reduktion der Scham auf ein rundweg der Konvention verhaftetes Gefühl und quer zu der am Ideal der autonomen Person orientierten 14 Vgl. Darwin, Ausdruck; s. dazu Werden, Schamkultur, 27– 34. Paul Ekmans weitergehende These, basale Gefühle seien universal mit bestimmten Gesichtsausdrücken gekoppelt, wird kritisch diskutiert; s. dazu Konstan, Emotions, 11–20. 15 Margalit, Politik, 126. 16 Vgl. Freud, Abhandlungen; Duerr, Nacktheit; ders., Intimität; s. auch Heidgen, Inszenierungen, 59f.
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Philosophie von Locke bis Kant macht Lotter geltend, dass sich der Mensch in Schamphänomenen als sozial konstituiertes Wesen erlebe, um daraufhin zu betonen, Beschämbarkeit habe infolge der intersubjektiven Voraussetzungen der Scham eine grundlegende Bedeutung für die moralische Ansprechbarkeit von Personen.17 Eine Rehabilitation der Scham und der Schuld als moralische Gefühle begegnet auch bei René Majer, der sie als bedeutsamen Ausdruck von Anerkennungskonflikten bestimmt.18 Emmanuel Lévinas führte die Scham dagegen bewusst über den sozialen und moralischen Bereich hinaus auf die unausweichliche Einbindung des Selbstseins in die Gleichgültigkeit des Seins zurück, also auf den Umstand, dem eigenen Selbstsein nicht entgehen zu können. »Was in der Scham zur Erscheinung kommt«, schreibt Lévinas, »ist … genau das An-sich-selbst-Gefesseltsein, die radikale Unmöglichkeit, uns selbst zu entkommen, uns vor uns selbst zu verstecken: die unverzeihliche Selbstgegenwart des Ich. Wir schämen uns unserer Nacktheit, wenn sie unser Sein, unsere letzte Intimität offen preisgibt. Und die Nacktheit unseres Körpers ist nicht die eines materiellen, dem Geist antithetisch gegenüberstehenden Dings, sondern Nacktheit unseres gesamten Seins in all seiner Fülle und Festigkeit, in seinem brutalsten Ausdruck, den wir nicht ignorieren können.«19
Giorgio Agamben führte diesen Ansatz in seinem Buch über Auschwitz auf seine Weise fort, indem er in der Scham die Schwellenexistenz des Menschen gespiegelt sieht: Scham ist für Agamben »nicht weniger als das fundamentale Gefühl, Subjekt zu sein, und zwar in den beiden … entgegengesetzten Bedeu17 18 19
Vgl. Lotter, Scham, bes. 87f. Vgl. Majer, Scham. Lévinas, L’évasion, 86, zit. nach Agamben¸ Auschwitz, 91.
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tungen dieses Wortes: Souverän und sub-iectum: Unterworfenes. Sie ist das, was entsteht in der vollkommenen Gleichzeitigkeit einer Subjektivierung und einer Entsubjektivierung.«20
Von zentraler Bedeutung sind sodann v.a. die vielen psychologischen und allgemein anthropologischen Differenzierungen zwischen Scham und Schuld bzw. Scham- und Schuldgefühlen. Ohne ins Detail gehen zu können, seien einige wichtige Thesen genannt, die wie folgt lauten:21 Während die Scham in der Spannung zwischen dem Ich und dem Ichideal gründe und sich aus der Verfehlung des inneren Selbstbildes ergebe, gründe die Schuld in der Spannung zwischen dem Ich und dem ÜberIch, wie sie sich aus der Verletzung einer äußerlichen Norm, eines Gesetzes ergebe. Während die Scham insofern aus einem konkreten Versagen vor sich selbst resultiere und die Beschädigung der inneren Integrität impliziere, gehe die Schuld aus einer konkreten Handlung hervor, die als solche eine Störung der sozialen Ordnung impliziere. Während die Scham also mit einer Selbstschädigung einhergehe, gehe die Schuld mit einer Fremdschädigung einher. Während die Scham solcherweise selbstbezogen und narzisstisch orientiert sei, sei der Schuld ein Fokus auf einen anderen, der Bezug auf ein Opfer eigen. In der Scham fielen von daher das Subjekt und das Objekt in einer Person zusammen, während in der Schuld Subjekt (Schädiger) und Objekt (Geschädigter) zu unterscheiden seien. Der manifeste Fokus auf das Selbst in der Scham basiere aber gleichwohl auf einer Außenrelation, insofern Scham nämlich die erlebte oder gefühlte Miss20 21
Agamben¸ Auschwitz, 93. Näheres bei Blankenburg, Differenzierung, 48–54; Benthien, Tribunal, 47–64; vgl. zu den wichtigsten Theorien Werden, Schamkultur, 25–152 und speziell zur Psychologie Tiedemann, Scham.
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billigung durch andere voraussetze, während die Fremdorientierung in der Schuld umgekehrt mit Innerlichkeit verbunden sei, insofern Schuld eine Missbilligung durch sich selbst im Gewissen impliziere. Die Scham ankere letztlich im faktischen oder gefühlten Blick der anderen, in der wie auch immer gearteten Entblößung, und sei so mit dem Sehsinn verbunden, während die Schuld im moralischen Angesprochenwerden und der »Stimme des Gewissens« ankere und so gewissermaßen dem Hörsinn verbunden sei. Hinzu kommt: Während die Scham akut aufbreche und insofern gegenwartsorientiert sei, beziehe sich die Schuld auf etwas, das schon geschehen sei; Schuld trete mithin zeitversetzt auf und sei insofern vergangenheitsorientiert. Während Scham primär in einer plötzlichen, unwillkürlichen Überwältigung erfahren werde, trete Schuld primär verstetigt in Form von Gewissensbissen in Erscheinung. Umgekehrt erschwere aber der manifeste Selbstbezug bzw. der Zusammenfall von Subjekt und Objekt in der Scham eine Bezwingung derselben, stehe in der Scham doch die Person als Ganze zur Disposition, sodass Scham im Extremfall allein durch den Tod der Person überwindbar erscheine, während dagegen der Fokus auf Fehlhandlungen in der Schuld eine äußerliche Abspaltung der Schuld vom Selbst durch kompensierende Praktiken wie Reue, Umkehr und Sühne erlaube. Vor diesem Hintergrund wird nicht selten postuliert, Scham gehe sowohl menschheitsgeschichtlich wie auch individualgeschichtlich der Schuld voraus und sei weniger reif und reflektiert. Darüber hinaus wird ein dynamischer Wechselbezug von Scham und Schuld postuliert: Bei einer als unerträglich und unbezwingbar erlebten Scham könne diese durch einen bewusst herbeigeführten, manifesten Normenbruch in prinzipiell sühnefähige Schuld transformiert werden. Umgekehrt könnten Schuldgefühle aber auch wie-
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derum Scham auslösen. Solche Überlagerungen und Transformationen weisen darauf hin, dass sich Scham und Schuld bisweilen nicht trennscharf differenzieren lassen.22 Die Unterscheidung von Scham und Schuld wurde auch als wichtiger Indikator bei der Erforschung kultureller Differenzen herangezogen. Den Grundstein legte diesbezüglich das 1946 erschienene Buch »Chrysantheme und Schwert« der amerikanischen Kulturanthropologin Ruth Benedict. Dabei handelt es sich um eine vom amerikanischen »Office of War Information« während der amerikanischen Großoffensive gegen Japan im Sommer 1944 in Auftrag gegebene Studie, die die Verhaltens- und Denkweisen des als äußerst fremdartig wahrgenommenen Kriegsgegners erhellen sollte.23 Die in der Tradition des »Kulturrelativismus« stehende, notgedrungen ohne Feldforschungen in Form einer »Lehnstuhlethnologie« abgefasste Studie führte insgesamt die Andersartigkeit der japanischen Kultur auf bestechende Weise vor Augen und avancierte so schnell zum Klassiker der Kulturhermeneutik. Die größte Wirkung ging dabei von nur wenigen Seiten im zehnten Kapitel aus. Dort führte Benedict die Differenz von Scham- und Schuldkulturen ein, um sie auf Japan und die Vereinigten Staaten anzuwenden. Dabei nahm sie die Unterscheidung zwischen »inneren« und »äußeren Sanktionen« auf, die ihre Lehrerin Margaret Mead in ihrer Arbeit zur Interdependenz von Kultur und Persönlichkeit in sog. »primitiven Kulturen« eingeführt hatte.24 Der Begriff »Sanktion« steht dabei für jene soziokulturellen Mechanismen, mittels de22 23
Näheres bei Margalit, Politik, 136. Vgl. Benedict, Chrysantheme, 11–14; zur Vereinbarkeit des militärischen Auftrags mit dem humanistischen Engagement Benedicts vgl. Albrecht, Anthropologie, 191. 24 Vgl. Mead, Cooperation, bes. 493–505.
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rer in einer Kultur gewünschtes Verhalten hervorgerufen und nicht gewünschtes Verhalten verhindert wird, was nach Mead entweder durch die Internalisierung kultureller Standards oder durch direkte äußere Einflussnahmen geschehen kann. Vor diesem Hintergrund formulierte Benedict ihre berühmte Definition: »Vom Schamgefühl bestimmte Kulturen vertrauen auf externe Sanktionen, um richtiges Verhalten zu erzielen, und nicht, wie dies vom Schuldgefühl bestimmte Kulturen tun, auf eine von innen kommende Überzeugung der Sündhaftigkeit. Schamgefühl ist eine Reaktion auf die Kritik der anderen. Ein Mensch fühlt sich beschämt, wenn er öffentlich verlacht und kritisiert wird oder sich nur vorstellt, lächerlich gemacht worden zu sein. In beiden Fällen handelt es sich um eine wirksame Sanktion. Aber sie bedarf eines Publikums oder zumindest der Vorstellung, daß es ein Publikum geben könnte. Das Schuldgefühl bedarf dessen nicht. In einem Land, in dem Ehre bedeutet, seinem Selbstbild gerecht zu werden, kann ein Mensch von Schuldgefühlen gepeinigt sein, obwohl niemand von seiner Missetat weiß, und er kann die Schuldgefühle durch die Beichte seiner Sünden tatsächlich lindern.«25
Benedicts Unterscheidung wurde vielfältig appliziert, u.a. auch auf die antike Welt (s.u.), stieß aber auch auf manifeste Kritik.26 Bemängelt wurde u.a. (1) die allzu pauschale Reduktion ganzer Kulturen auf die vermeintliche Dominanz innerer oder äußerer Sanktionen, die weder der Rolle der Scham in der westlichen Kultur noch der der Schuld in Japan gerecht würde, (2) die starke Bindung der Schamphänomene an äußere Sanktionen, die ignoriert, dass Scham bei vielen Völkern als innere Sanktion gelte, und (3) die in der These unterschwellig mitschwingende, letztlich ethnozentri25 26
Benedict, Chrysantheme, 196f. Vgl. dazu Creighton, Revisiting.
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sche Unterstellung, das in Schuldkulturen ausgebildete autonome Gewissen stelle gegenüber den moralisch lediglich außengeleiteten Schamkulturen einen Fortschritt dar.27 Ungeachtet dieser und anderer Kritiken wird Benedicts Unterscheidung mit Variationen im Grundanliegen aber bis heute als wichtiges kulturhermeneutisches Instrument verteidigt.28 Unabhängig vom Diskurs über Benedicts Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen etablierte sich eine weitere wichtige Forschungsdebatte über sog. »honor and shame societies« und über »Ehre« als »Chiffre für Universalien des gesellschaftlichen Lebens«.29 In dieser Debatte ist der Terminus »Ehre« semantisch breit angelegt und überschneidet sich mit Begriffen wie Ansehen, Prestige, Würde, Anerkennung, Reputation, Respekt u.a.m. Eine differenzierte und einflussreiche, wenn auch nicht erschöpfende Definition legte in diesem Zusammenhang Julian Pitt-Rivers vor. Der Ehrbegriff umfasst hier mehrere Facetten, nämlich (1) ein bestimmtes Empfinden hinsichtlich der eigenen Stellung in einem Kollektiv, das sich (2) in einem entsprechenden Verhalten manifestiert, welches wiederum (3) von anderen bewertet wird.30 Ehre hat demnach etwas mit Gefühlen, dem eigenen Selbstverständnis, konkreten Verhaltensweisen, öffentlicher Präsentation, gesellschaftlichen Stratifizierungen und moralischen Bewertungen zu tun. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, Ehre zu erlangen: Sie kann einer Person (aufgrund ihrer Geburt, ihrer Gruppen- oder Standeszugehörigkeit, ihres Geschlechts etc.) zugeschrieben werden oder 27
Vgl. Näheres bei Lotter, Scham, 95.99–103; Werden, Schamkultur, 159f.175–177.180f. 28 Vgl. Benthien, Tribunal, 42–45; Lotter; Scham, 105f; Werden, Schamkultur, 191–225. 29 Vogt/Zingerle, Einleitung, 9. 30 Vgl. Pitt-Rivers, Honour, 503.
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sie kann von ihr (aufgrund bestimmter Leistungen) erworben werden. Sie kann jenseits bestimmter Moralvorstellungen rein auf äußere Qualitäten und Objekte oder moralisch fundiert auf innere Qualitäten (Werte, Einstellungen) bezogen sein. Was die genauere gesellschaftliche Funktion des »Ehrkomplexes« anbelangt, liegen seit den Anfängen der Soziologie zwei basale Auffassungen vor.31 So hob Max Weber auf die das Sozialwesen differenzierende und machtgenerierende Funktion der Ehre ab, indem er soziale Ehre (Prestige) als Quelle sozialer Macht bestimmte und aufzeigte, wie die Verteilung dieser Ehre die soziale Welt hierarchisch ordnet, während Georg Simmel umgekehrt die sozialintegrative Funktion der Ehre herausstellte, indem er die sozialen Wirkungen der Ehre primär auf der von ihm zwischen Recht und Moral angesiedelten intermediären sozialen Ebene der das Verhalten sozialer Gruppen steuernden Sitte verortete und darlegte, wie Ehrvorstellungen auf dieser Ebene das menschliche Verhalten berechenbar machen und regulieren, wie sie gemeinsame Werte und Normen festigen und dergestalt sozial kohäsiv wirken. Auf der Basis von Feldforschungen bei den Kabylen in Algerien unterbreitete Pierre Bourdieu 1972 seine viel beachtete Deutung der Ehre als »symbolisches Kapital«, d.h. als Rechnungseinheit und akkumulierbare Ressource für soziale Anerkennung. Implizit Weber fortführend, akzentuierte Bourdieu dabei den Machtcharakter und die agonale Prägung der Ehre, indem er die Dynamiken des sozialen Kampfes und Wettbewerbs um Ehre und die Rolle der Ehre im Gabentausch erhellte.32 Nur kurz darauf, nämlich 1973, diagnostizierte Peter L. Berger indes einen manifesten Niedergang, ja ein Verschwinden des Ehrbegriffs in der modernen 31 32
Vgl. zum Folgenden Vogt, Logik, 65–224. Vgl. Bourdieu, Theorie; s. auch Vogt, Logik, 104–152.
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Welt. Das Konzept der Ehre besäße gegenwärtig lediglich noch den Status des Altmodischen, Überholten und sei von dem modernen Konzept der Würde des Menschen abgelöst worden.33 Ungeachtet der hier nicht zu erörternden Frage, ob Ehre in der Moderne ein unzeitgemäßes Relikt darstellt oder ob sie als Universalie gesellschaftlichen Lebens34 – z.T. verborgen hinter neuen Labels – auch die moderne Gegenwartsgesellschaft prägt,35 verdient Bergers Unterscheidung von Ehre und Würde Aufmerksamkeit. Auch wenn die Begriffe Ehre und Würde häufig als Synonyme begegnen und in vielen Sprachen ein und demselben semantischen Feld zugehören, lassen sie sich als Konzeptbegriffe nehmen, die für zwei basale soziale Modelle stehen: die Welt der Ehre und die Welt der Würde. Paradigmatisch sind sie wie folgt zu unterscheiden:36 Während in einer Welt der Ehre Unterschiede betont, asymmetrische Ordnungen und Hierarchien produziert und sozialkohäsive Gemeinsamkeiten allein gruppen-, partei- oder ständebezogen befördert werden, wird in einer Welt der Würde die prinzipielle Gleichheit aller postuliert (Menschenwürde). Während Ehre Antagonismen schafft, agonale Strukturen befördert und Gewalt mitnichten ausschließt, beruht Würde auf Ausgleich und Frieden. Während Ehre Menschsein an Status und bestimmte Rollen bindet, bezieht sich die Würde »auf die aller auferlegten Rol33 34
Vgl. Berger, Begriff. Vgl. Vogt/Zingerle, Einleitung, 9: »Jede Epoche und Kultur bildet ihr eigenes, jeweils anders akzentuiertes Verhältnis zu den Sachverhalten aus, auf die sich der Ausdruck ›Ehre‹ bezieht.« 35 Vgl. Vogt, Logik; Burkhart, Geschichte, 105–179; dies., Kapital; s. auch die umfassend dokumentierte Kontroverse in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften 10 (1999), 335–393. 36 Vgl. zum Folgenden Berger, Begriff, 77–81; Wils, Gotteslästerung, 58–76; s. auch Burkhart, Geschichte, 82–84.
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len oder Normen entkleidete, eigentliche Menschlichkeit«37. Während Ehre im Sichtbaren wohnt und allseits erkennbarer, sinnlicher Distinktionsmarker bedarf, bleibt die Würde als wesentlich kognitive Kategorie per se im Unsichtbaren. Während Ehre auf der Grundlage des Partikularismus ein knappes Gut darstellt, erscheint Würde auf der Grundlage des Universalismus als allgemeines Gut. Während Ehre als zugeschriebener oder errungener Status begegnet, erscheint Würde als mehr oder weniger geforderter Status. Während die Moral der Ehre dementsprechend strukturkonservativ ist, eignet einer Moral der Würde der Wille zur Umgestaltung. Während Ehre thymotisch verwurzelt ist (Ehrgefühl) und mit einer extremen Verletzlichkeit einhergeht, insofern hier die Persönlichkeit in ihrer Totalität willkürlich an eine bestimmte imago gebunden wird,38 ist die Würde abstrakt und im Prinzip als letztlich unverlierbarer, unverletzbarer, unantastbarer Status konzipiert. Das in dieser Gegenüberstellung umrissene Konzept der Würde atmet unverkennbar den Geist der Menschenrechtserklärungen und ist nicht zuletzt durch Kants Konzept einer jedem Menschen als Vernunftwesen zukommenden Würde inspiriert. Impulse finden sich aber bereits im Humanismus, so in Pico della Mirandolas 1486 erschienener Schrift De hominis dignitate. Peter Berger selbst nennt noch ältere Vorläufer, nämlich Erzählungen aus der jüdischen Bibel und der antiken griechisch-römischen Literatur.39 Aber auch dem Neuen Testament ist eine Theologie der Würde eingeschrieben (s.u.). Zunächst gilt es aber, die grundsätzliche Bedeutung von Ehre, Scham und 37 38
Berger, Begriff, 79. Vgl. dazu den Rekurs auf Hegels Überlegungen zur romantischen Ehre bei Wils, Gotteslästerung, 74f. 39 Vgl. Berger, Begriff, 79.
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Schuld in der sogenannten Umwelt des Neuen Testaments zu sichten. II. Die Debatte über die antike mediterrane Schamkultur Welche Rolle spielten Ehre, Scham und Schuld in der antiken mediterranen Welt, jener Welt, aus der die Schriften des Neuen Testaments hervorgingen? Seit geraumer Zeit wird in der Ethnologie und in den Altertumswissenschaften kontrovers darüber debattiert, ob und inwieweit die mediterranen Gesellschaften als sog. »honor and shame societies« zu charakterisieren sind und ob die Kultur der griechisch-römischen Antike insgesamt als Schamkultur zu begreifen ist, aus der heraus dann das Christentum den Weg zur Etablierung jener Schuldkultur ebnete, die die westliche Welt vermeintlich bis heute prägt. Die Auffassung, dass das Leben der Menschen in mediterranen Gesellschaften in besonderem Maß an Ehrvorstellungen orientiert und maßgeblich durch Praktiken der Ehrung und Beschämung geprägt sei, scheint nicht nur in populären Filmen, Reiseberichten, Romanen und Theaterstücken durch, sie ist auch Gegenstand der ethnologischen Forschung. Die Entstehung einer speziellen Mittelmeerethnologie geht in die 1950er Jahre zurück. Damals widmeten sich etliche britische Sozialanthropologen erstmals der Erforschung dörflicher Gemeinschaften im Mittelmeerraum.40 Federführend war Julian Pitt-Rivers, der mit seiner 1954 veröffentlichten Ethnographie »The People of the Sierra« den Grundstein der Mittelmeerethnologie legte und sie mit der Publikation des viel beachteten Ta40
Näheres zum Thema bei Dir, Bilder, 7–40; Albera, Anthropology, 110–112.
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gungsbandes »Mediterranean Countrymen« 1963 weiter festigte. Pitt-Rivers und die anderen Mittelmeerethnologen betrachteten den gesamten Mittelmeerraum als mehr oder weniger homogenen Kulturraum, meinten sie doch, in ihm etliche gemeinsame kulturelle Strukturen und Eigenheiten ausfindig machen zu können, nämlich die kollektive Solidarität der Dorfgemeinschaften gegenüber größeren sozialen Einheiten wie dem Staat, ferner die primäre Organisation sozialer Beziehungen auf der Basis echter Verwandtschaften und fiktiver Verwandtschaften wie Patronage oder Freundschaft, die wesentlich auf Regeln der Reziprozität beruhten, und schließlich die Dominanz bestimmter sozialer Werte wie Gastfreundschaft, v.a. aber Ehre und Schande. Das kulturelle Skript »honor and shame« – und zwar in einer massiv an die Geschlechterrollen gebundenen Form, bei der Ehre den männlichen und Scham den weiblichen Pol bildet – wurde in der klassischen Mittelmeerethnologie überhaupt als der primäre bzw. dominante Referenzrahmen identifiziert, innerhalb dessen in den mediterranen Gesellschaften Personen, Handlungen und Situationen beurteilt würden. Drei gewichtige Aufsatzsammlungen buchstabierten diese These detailliert aus: der 1966 von J.G. Peristiany herausgegebene Band »Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society«, das 1992 erschienene Fortsetzungswerk »Honor and Grace in Anthropology« sowie der bereits 1987 von D.D. Gilmore herausgegebene Band »Honor and Shame and the Unity of the Mediterranean«. Die drei Bücher dokumentieren eine zunehmend differenziertere Bewertung der mediterranen Gesellschaften, wobei in den beiden jüngeren Publikationen auch vereinzelte kritische Stimmen begegnen, die vor einem allzu pauschalen Umgang mit dem EhreSchande-Konzept warnen.
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In den 1980er und 1990er Jahren stießen die Mittelmeerethnologie und die pauschale Kennzeichnung der mediterranen Gesellschaften als »honor and shame societies« im Umfeld der postmodernen Wende der Ethnologie und der sog. Writing-Culture-Debatte41 indes auf massive Kritik.42 Folgende Vorbehalte wurden laut:43 (1) Homogenisierung. Die Zeichnung der Mittelmeerwelt als homogener Kulturraum und die postulierte Invarianz des Ehre/Schande-Codes ebne in unzulässiger Weise die lokalen kulturellen, sozialen und religiösen Differenzen ein und blende überdies historisch gewachsene Differenzen aus. Komplexe Gesellschaften würden dergestalt – nicht zuletzt auch angesichts der einseitigen Fokussierung der Forschung auf Dorfgemeinschaften – »tribalisiert«. (2) Ethnozentrische Exotisierung und Archaisierung. Die britischen und amerikanischen Mittelmeerethnologen würden die der europäischen Kultur zugehörigen mediterranen Gesellschaften mittels stereotyper Charakterisierungen wie dem starren Ehre/Schande-Skript gezielt als fremd und »anders« präsentieren (Othering), um so ihre Arbeit als »ethnologische« Forschung zu rechtfertigen. Durch die konsequente Assoziierung der mediterranen Welt mit einem rigiden, z.T. als archaisches Relikt gezeichneten Ehrkodex würden die Mittelmeerethnologen zudem implizit die eigene Herkunftskultur als moralisch überlegen und fortschrittlich ausweisen. Analog zu der unter dem Label »Orientalismus« von Edward Said verhandelten ideologischen Konstruktion der Fremdartigkeit des Orients, würde hier eine Art »Mediterranismus« etabliert. (3) 41 42
Näheres bei Fuchs/Berg, Kultur. Als Kritiker traten v.a. die Sozialanthropologen Michael Herzfeld und João Pina Cabral hervor; vgl. Herzfeld, Looking; Cabral, Mediterranean; s. dazu Dir, Bilder, 71–84. 43 Vgl. Albera, Anthropology, 113f; Giordano, Ehrkomplex, 177f; Horden/Purcell, Sea, 486f.522.
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Schließlich wurde auch die Ignorierung einheimischer Forschender moniert. Dieser manifesten Kritik steht nun seit einigen Jahren eine Renaissance der am Ehre/SchandeCode orientierten Mittelmeerethnologie gegenüber.44 Als Schlüsselwerk gilt diesbezüglich das im Jahr 2000 erschienene Buch »The Corrupting Sea« von Peregrine Horden und Nicholas Purcell.45 Darin wird der Mittelmeerraum konsequent als zwar polymorpher, gleichwohl aber über viele Netzwerke verknüpfter und insofern einheitlich analysierbarer Natur-, Kultur-, Sozial- und Geschichtsraum präsentiert. Gegen Ende des Buches verteidigen die Autoren nachdrücklich die These der soziokulturellen Schlüsselrolle des Ehre-Schande-Konzepts in der mediterranen Welt. Horden und Purcell sind nun freilich keine Ethnologen, sondern Historiker. Ihr Werk trägt den Untertitel »A Study of Mediterranean History«. Kühn nehmen sie einen Zeitraum von drei Jahrtausenden in den Blick, wobei ein Schwerpunkt auf der Antike und dem Mittelalter liegt. Die beiden Historiker demonstrieren dabei immer wieder die Zweckdienlichkeit und Ergiebigkeit einer differenzierten und reflektierten Verwertung ethnologischer Beiträge in der historischen Arbeit – namentlich der ethnologischen Forschungen zur Rolle von Ehre und Scham/Schande – und rechtfertigen diese eigens.46 »Honor and shame« sind aber auch jenseits der Mittelmeerethnologie vielfältig Gegenstand der Altertumsforschung geworden. Bekanntlich ist das Sinnen und Handeln der Menschen in der homerischen Welt maßgeblich durch Ehrgefühl, Scham44
Vgl. nur Albera, Anthropology, 119–123 und v.a. Bromberger, Towards, der die Mittelmeerwelt aufgrund der Komplementarität gelebter Differenzen als Einheit konstituiert sieht. 45 Vgl. Horden/Purcell, Sea. 46 Vgl. bes. Horden/Purcell, Sea, 463–484.637–641.
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furcht, Beschämungen und Schändungen geprägt. In der Ilias und der Odyssee bestimmen und regulieren diese Phänomene sowohl die äußere Werteordnung wie auch das Innenleben der Helden. In besonderem Maß prägen sie das Verhalten der Geschlechter. Für die großen Werke der Tragiker und viele andere klassische Werke der griechischen Literatur gilt Ähnliches. Die diesbezüglich vorgelegten Einsichten, Thesen und Perspektiven der altertumswissenschaftlichen Forschung können und müssen hier nicht vollständig erörtert werden.47 Genannt werden soll aber die Untersuchung des Philologen David Konstan über die Emotionen bei den Griechen. Es widmet sich wesentlich der Erörterung der Gefühle in Aristoteles’ Rhetorik, in der auch die Scham begegnet (Rhet II,6).48 Konstan macht deutlich, dass Gefühle in der antiken griechischen Welt anders als bei uns nicht als innere Regungen, sondern als kognitiv geprägte Reaktionen in der sozialen Interaktion betrachtet wurden, wobei Aristoteles in seiner Rhetorik zumal die Beeinflussung der Urteile der Menschen bei forensischen oder deliberativen Reden im Blick hatte. Für die römische Welt liegt eine vergleichbare Studie des Altertumsforschers Robert Kaster vor, der sich insbesondere dem »interplay between emotions and the ethics of the Roman upper class … in the late Republic and early Empire«49 widmet. Kaster geht dabei u.a. auf die emotionalen Zustände der verecundia (Scheu, Scham, Achtung) und des pudor (Schamgefühl, Schamhaftigkeit) ein, wobei er bei dem letztgenannten Begriff sechs emotionale Szenarios unterscheidet.50 Insgesamt sucht Kaster die 47
Vgl. dazu in aller Kürze nur Meyer, Scham; Steger, Scham; Stenger, Ich. 48 Vgl. Konstan, Emotions, 91–110. 49 Kaster, Emotion, 4. 50 Vgl. Kaster, Emotion, 13–64.
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sozial-kohäsive Kraft der Emotionen in der römischen Oberschicht aufzuzeigen. Was die spezielle Rolle der Ehre anbelangt, arbeitete J.E. Lendon bereits vor Jahren in einer beachtenswerten Studie die These heraus, dass die Regierung des römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit im Kern über personale Beziehungen reguliert wurde, die wesentlich auf dem Ehrkonzept gründeten, sodass sich das römische Imperium insgesamt als »Empire of Honour« beschreiben lasse.51 All diese Studien unterstreichen auf ihre Weise die hohe Relevanz von Ehre und Scham/Schande in der antiken griechisch-römischen Welt. Begegnet uns also in der antiken Welt gemäß Benedicts Unterscheidung eine Schamkultur? Woher stammt dann aber die westliche Schuldkultur? Ungeachtet aller Einwände gegenüber Benedicts Modell ist bis heute die These verbreitet, es sei das Christentum, ja das frühe Christentum gewesen, das maßgeblich für das Ende der antiken Schamkultur und das Aufkommen der westlichen Schuldkultur verantwortlich zeichne. Angedacht ist diese These in der wichtigen, 1951 erschienenen Studie »The Greek and the Irrational« des Altertumswissenschaftlers Eric Robertson Dodds. Dodds postulierte darin unter explizitem Verweis auf Benedict, die homerische Gesellschaft sei als Schamkultur zu begreifen, während die klassische Zeit den Übergang zu einer Schuldkultur markiere, wobei sich dieser Übergang jedoch nur allmählich und unvollständig vollzogen habe.52 Auch wenn Dodds dies nicht ausdrücklich notiert, denkt er, was den »vollständigen« Übergang von der Scham- zur Schuldkultur anbelangt, 51
Vgl. Lendon, Honour. Verschiebungen in dem politisch aufgeladenen römischen Ehrkonzept postuliert in einer äußerst eigenwilligen Studie Barton, Honor. 52 Vgl. Dodds, Griechen, 17–37; Adkins, Merit, baute die These noch konsequenter aus.
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wohl an das frühe Christentum. David Konstan bringt das wie folgt auf den Punkt: »[T]he warrior society represented in the Homeric epics – a shame culture, according to E.R. Dodds … – slowly gave way to a guilt culture, which began to emerge in fifthcentury democratic Athens but did not achieve a fully developed expression in the classical world until the advent of Christianity.«53
Gegen Dodds These wurden nun freilich etliche Einwände erhoben.54 Einer der gewichtigsten Kritiker war der britische Philosoph Bernard Williams. In seiner 1993 publizierten Untersuchung »Shame and Necessity« geht Williams zwar kaum auf die Rolle des Christentums ein, wendet sich aber mit Nachdruck gegen die an Dodds Übergangsmodell festgemachte Idee eines moralischen Fortschritts von einer vermeintlich kindlich selbstzentrierten, an Wettbewerb und äußeren Konventionen ausgerichteten Moral in der frühgriechischen Schamkultur zu einer auf den Mitmenschen fokussierten, an Kooperation orientierten und im Gewissen verankerten Moral in der modernen Schuldkultur. Williams lehnte die Bestimmung der frühgriechischen Kultur als Schamkultur allerdings keineswegs ab, er wertete sie aber unter Verweis auf Texte Homers und der Tragiker moralisch auf, indem er die verbindenden, interaktiven Wirkungen der Scham herausstellte, indem er betonte, die griechische Vorstellung von Scham könne Vorstellungen von Schuld integrieren, und indem er zeigte, dass die Griechen selbst zwischen einer konventionell außengeleiteten und einer auf persönlichen Überzeugungen beruhenden, innengeleiteten Scham unterschieden hätten.55 Bereits etliche Jahre zuvor cha53 54 55
Konstan, Emotions, 91. Vgl. nur Hooker, Society; Cairns, Aidos, 27–47. Vgl. insgesamt Williams, Scham, 88–119.
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rakterisierte der britische Altphilologe Hugh Lloyd Jones unter Rekurs auf zahlreiche antike Autoren das gesamte griechisch-römische Altertum bis in die Kaiserzeit hinein als Schamkultur, betonte aber ebenfalls, diese habe zugleich Elemente einer Schuldkultur integriert. Jones nahm jedoch das frühe Christentum explizit davon aus, und zwar mit folgenden Worten: »Das Christentum ist, zumindest in seiner ursprünglichen Form, so weit wie überhaupt möglich von der Ethik der Ehre und Schande entfernt; alle Menschen sind im Angesicht Gottes gleichermaßen schuldig und alle gleichermaßen der Erlösung durch das Blut Christi bedürftig.«56 Jones distanzierte das frühe Christentum dergestalt rundweg von der antiken Schamkultur, um ihm eine gänzliche Fixierung auf Schuld und Erlösung zuzuschreiben. Die These, dem Christentum sei die gemeinantike Orientierung an Ehrvorstellungen fremd gewesen, begegnet bis heute auch außerhalb der Altertumsforschung, so etwa bei der Slawistin Dagmar Burkhart und der Soziologin Ludgera Vogt, die meinen, der Ehrbegriff sei im Christentum allein auf Gott konzentriert worden.57 Eine konsequente Identifizierung des Christentums mit schuldkulturellem Denken nimmt die Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien vor, die als Kontrast allerdings nicht auf die griechisch-römische Antike, sondern auf das Judentum rekurriert. Benthien schreibt: »Während das Alte Testament grundsätzlich schamkulturell ist, beruhen das Neue Testament und die neuzeitliche, insbesondere lutherische Theologie eher auf einem schuldkulturellen Denken.«58 Die 56 57 58
Lloyd-Jones, Ehre, 27. Vgl. Burkhart, Geschichte, 24; Vogt, Logik, 54. Benthien, Macht; s. auch dies., Tribunal, 67f., wo Benthien den Gedanken mit folgenden, theologisch vielfältig hinterfragbaren Sätzen präzisiert: »Durch die Kollektivschuld des Mordes an Jesus Christus, der durch seinen Opfertod die Schuld
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Philosophin Maria Sybilla Lotter betont dagegen unter Berufung auf das Alte und Neue Testament, das Christentum erscheine, »in Anbetracht der häufigen Thematisierung der Scham in beiden Testamenten (während nur sehr selten von Schuld die Rede ist), … keinesfalls als Prototyp einer reinen ›Schuldkultur‹ (im Gegensatz zu einer Schamkultur)«59. Gleichwohl macht Lotter das gemeinhin der Schuldkultur zugerechnete und auch von ihr selbst der Scham gegenübergestellte Gewissen an der »Lehre des Paulus« fest.60 Vor dem Hintergrund all dieser komplexen und zugleich kontroversen Thesen stellt sich die Frage: Wie steht die ntl. Forschung zur Verortung des frühen Christentums in der antik-mediterranen Schamkultur? Welche Einsichten lassen sich überhaupt aus der breiten interdisziplinären Debatte über Ehre, Scham und Schuld für das Verständnis des Neuen Testaments gewinnen? III. »Ich schäme mich des Evangeliums nicht …« Schamkulturelles Denken und schamkulturelle Praktiken können sich grundsätzlich auf drei Ebenen in den ntl. Schriften widerspiegeln und dementsprechend auf dreierlei Art eruiert werden: (1) Es werden Texte untersucht, die das einschlägige griechische Vokabular aufweisen. Die Ein- und der Menschen stellvertretend auf sich nimmt, wird die schuldkulturelle Struktur im Neuen Testament (und im Christentum) gegenüber dem Alten Testament (und Judentum) einerseits noch verstärkt. Andererseits hat die im Kreuzigungsgeschehen exemplifizierte modellhafte Fähigkeit zur Übernahme von Schuld auch eine entlastende Funktion … Es gibt im Christentum (wie auch im Judentum) zwar ausgeklügelte Rituale der ›Entschuldung‹, aber keine kulturellen Techniken der ›Entschämung‹.« 59 Lotter, Scham, 101. 60 Vgl. Lotter, Scham, 70.
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Abgrenzung dieses Vokabulars ist freilich an den Rändern durchlässig. (2) Es werden Texte untersucht, die bestimmte Interaktionsweisen schildern, die mit Ehre und Schande/Scham zu tun haben, obwohl das einschlägige Vokabular nicht begegnet. (3) Es werden Stellen untersucht, die auf der rhetorischen Ebene, d.h. in der in die Texte eingelassenen kommunikativen Interaktion zwischen Autor und Adressaten, mit Ehre, Ehrverlust und Scham zu tun haben. In der ntl. Wissenschaft liegen Untersuchungen auf allen drei Ebenen vor. Als maßgeblicher Begründer einer kulturanthropologischen Exegese, die gezielt die Dynamiken des antiken EhreSchande-Codes berücksichtigt, ist der nordamerikanische Neutestamentler Bruce Malina zu nennen. In seinem 1981 publizierten Buch »The New Testament World. Insights from Cultural Anthropology« machte er die Forschungen der Mittelmeerethnologie der ntl. Forschung zugänglich und legte ausführlich dar, in welch beträchtlichem Umfang Ehre und Schande/Scham als Grundwerte der mediterranen Welt des 1. Jahrhunderts n.Chr. die Texte des Neuen Testaments prägen.61 Malinas Forschungen führten zur Konstituierung einer eigenen Forschungsgruppe, der »Context Group«. Deren Mitglieder – unter ihnen John H. Elliott, Jerome Neyrey und Halvor Moxnes – pochten und pochen darauf, dass ein sachgemäßes Verständnis der ntl. Schriften nur dann gelingen kann, wenn die zentrale Bedeutung der sozialen Dynamik von Ehre und Schande/Scham in der antik-mediterranen Welt berücksichtigt wird.62 Ihren konkreten Untersuchungen legten und legen die Mitglieder der Context Group dabei jeweils das gleiche, relativ 61 62
Vgl. Malina, Welt, 40–66. Vgl. nur Elliott, Conflict; Neyrey, Honor; Moxnes, Honor; s. auch die Beiträge in Semeia 68 (1994).
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schematische Verständnis von Ehre und Schande/ Scham zugrunde. Nach diesem Modell, das in wesentlichen Punkten Bourdieus Forschungen über die Kabylen (s.o.) entlehnt ist, waren in der mediterranen Antike soziale Interaktionen von Personen wesentlich durch einen impliziten oder expliziten Wettstreit um soziales Prestige gekennzeichnet. Dieser Kampf um Ehre konnte verbal, durch symbolisches Handeln oder auch mittels physischer Gewalt geführt werden und wies in etwa folgende Grundstruktur auf: Herausforderung des Ehrstatus durch einen sozial gleichgestellten, ebenbürtigen Angreifer; Beurteilung der Herausforderung durch den Angegriffenen; Reaktion des Angegriffenen; öffentliches Urteil, das den Ehrgewinn oder Ehrverlust mit Blick auf die Betroffenen feststellt. Ehre wurde so als umkämpfte und begrenzte Ressource (»limited good«) wahrgenommen. Darüber hinaus war das Verständnis von Ehre und Schande grundsätzlich an die Geschlechterrollen gebunden, wobei Ehre den männlichen, Scham den weiblichen Pol bildete.63 Dieses abstrakte, eine rundweg antagonistisch geprägte Gesellschaft voraussetzende Modell wurde von verschiedener Seite hinterfragt. Die bereits oben dargelegte generelle Kritik an der pauschalen Klassifizierung der mediterranen Gesellschaften als »honor and shame societies« fortführend, erhoben namentlich Louise Lawrence und Gerald Downing u.a. folgende Einwände:64 (1) Die Bedeutung von Ehre und Schande sei in der Welt des Neuen Testaments zwar groß, aber nicht derart zentral gewesen, dass es erlaubt sei, mit der Context Group alle möglichen Texte von diesen Werten her aufzuschlüsseln. Letzteres sei nur dort angezeigt, wo die 63
Vgl. dazu insgesamt die Ausführungen über Bourdieu bei Vogt, Logik, 104–116. 64 Vgl. Downing, Honor; Lawrence, Reward.
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besagten Werte auch explizit thematisiert würden. (2) Die Uniformität des Modells der Context Group ebne die Komplexität und die klaren Differenzen im Umgang mit Ehre und Schande in der Antike unzulässig ein. So stünden der vermeintlich durchgängig auf das Private und auf Schamverhalten reduzierten Rolle der Frau Quellenbelege entgegen, in denen Frauen für politischen Mut oder öffentliche Präsenz und sogar für Aggressivität Anerkennung erfuhren. Ebenso seien Ehrkämpfe unter Ungleichen inklusive erfolgreicher Ehrangriffe von sozial Niederstehenden auf sozial Höherstehende belegt. (3) Ehre und Schande gründeten nicht zwangsläufig in antagonistischen Praktiken. Ehre und Reputation verdankten sich nämlich nicht nur einem männlich-aggressiven Verhalten, sondern auch einem tugendhaften Leben und der praktischen Orientierung an affiliativen Werten wie Gastfreundschaft, Güte und Gerechtigkeit. Namentlich in der jüdischen Tradition, in der Jesusbewegung und bei den Kynikern existierte neben der sozial hierarchisierenden Ehre (»honor precedence«) eine Art Ehrtugend (»honor virtue«), die man im Herzen verankert sah, die von der Sorge um den Nachbarn und den Fremden getragen war und die sich weniger auf ein soziales Kollektiv denn auf das Göttliche bzw. Gott als wesentliche Beurteilungsinstanz berief. Zeba Crook, Mitglied der Context Group, ging all diesen Anwürfen vor einigen Jahren genauer nach und verteidigte das von Malina entwickelte Modell u.a. wie folgt:65 (1) Die große Bedeutung der Werte Ehre und Schande sei in den Quellen derart breit belegt, dass man kaum umhin komme, sie als »pivotal values« der griechisch-römischen Antike zu bewerten. Das Argument, zentrale Werte einer Gesellschaft spielten nur in solchen Texten 65
Vgl. zum Folgenden Crook, Honor.
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eine Rolle, in denen sie auch explizit zur Sprache kämen, beruhe auf einem unterkomplexen Textverständnis, sei doch die gesellschaftliche Dimension und Relevanz von Texten häufig auf sehr subtile Weise in diese eingelassen. (2) Die Malinas Modell zuwiderlaufenden Belege sowohl für Ehrkämpfe über soziale Statusgrenzen hinweg wie auch für Frauen, die Männern im männlich dominierten öffentlichen Raum Ehre abspenstig machten, erklären sich aus dem allenthalben bekannten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit: »social ›laws‹ and social practice do not always correlate.«66 (3) Die an affilliativen Werten festgemachte Ehrtugend widerlege die grundsätzliche Einbindung des Ehre-Schande-Codes in antagonistische Strukturen keineswegs, da sich die Propagierung und Umsetzung affiliativer Werte eben auch als ein letztlich auf Konkurrenz beruhender Beitrag in einem Ehrwettbewerb betrachten lassen. Bei alledem ist für Crook eines entscheidend, und darin geht er über Malina hinaus: In Fragen von Ehre und Schande hänge alles daran, wer als Beurteilungsinstanz, d.h. wer als »public court of reputation« in Erscheinung trete. In der antiken Mittelmeerwelt hätten verschiedenste Arenen existiert, die in Fragen der Verteilung von Ehre und Schande bis hin zu Gott unterschiedliche »Schiedsrichter« voraussetzten. Mit anderen Worten: »[W]hat ist honorable in one arena will not always be honorable in another. These different arenas can be geographical (the Greek East vs. Roman West), ethnic (Egyptian vs. Roman), ›religious‹ (Cynic vs. Judean vs. imperial cult).«67
Auch außerhalb der Context Group unterstreichen inzwischen etliche Exegeten und Exegetinnen, dass sich in den neutestamentlichen Texten allenthal66 67
Crook, Honor, 609. Crook, Honor, 597.
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ben ein maßgeblich an den Kategorien Ehre und Schande orientiertes Denken und Handeln spiegle. Allen voran ist David deSilva zu nennen, der sich dem Thema in mehreren Publikationen widmete.68 Anders als die Context Group erschließt er die Bedeutung der Kategorien Ehre und Schande nicht auf der Basis eines konkreten sozial- bzw. kulturanthropologischen Modells, er beruft sich vielmehr allein auf antike Quellen (Aristoteles, Isokrates, Plutarch). Vor deren Hintergrund untersucht er in seiner neutestamentlichen Exegese, wie er betont, »the many ways in which honor is described and represented as well as the many ways in which authors might use considerations related to honor as part of a strategy of persuasion«.69
Im Endergebnis macht deSilva jedoch hinter all den verschiedenen Facetten der Repräsentationen von Ehre und Schande/Scham im Neuen Testament im Kern die stets gleiche rhetorische Strategie aus: Die neutestamentlichen Autoren würden die in der Mehrheitsgesellschaft geltenden Vorstellungen von Ehre und Schande/Scham samt den daraus resultierenden negativen Bewertungen der christlichen Führungsfiguren verwerfen, um Ehre und Schande im Sinne einer alternativen, die klassischen Bestimmungen des Ehr- und Schandhaften invertierenden Werteordnung neu auszurichten. Die ntl. Schriften stünden dergestalt im Dienst der Konstruktion eines »alternate court of reputation« und würden darin dem Aufbau einer christlichen »counter-society« zuarbeiten. Eine im Grundanliegen ähnliche Argumentation begegnet auch bei Joseph Hellerman, der postuliert, Paulus führe in Phil 2,6–11 den Philippern den Weg Christi im 68 69
Vgl. nur deSilva, Hope; ders., Shame. deSilva, Hope, 26.
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Kontrast zum römischen cursus honorum bewusst als eine Art cursus pudorum vor Augen, den Gott mit einer alle weltlichen Ehrmaßstäbe übertreffenden Erhöhung beantwortete. Paulus wolle über dieses Vorbild den Umgang mit Ehre und Macht in der Gemeinde neu ausrichten.70 Wie auch immer man zu der Frage stehen mag, ob und inwieweit den neutestamentlichen Schriften tatsächlich eine als »gegengesellschaftlich« zu bezeichnende Inversion des klassischen antiken Ehre-Schande-Codes eingeschrieben ist, klar ist in jedem Fall eines: Im Neuen Testament spielen die Themen Ehre und Schande/Scham auf vielfältige Weise eine beachtliche Rolle, und zwar nicht nur im Bezug auf Gott, sondern zumal auch hinsichtlich der Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Arbeiten der Context Group und anderer Exegeten und Exegetinnen führen – ungeachtet aller Anfragen, die man diesbezüglich im Detail wie auch hinsichtlich der jeweiligen Gesamtdeutungen stellen mag – vor Augen, dass es schwerlich angeht, das Neue Testament rundweg aus dem antiken schamkulturellen Denken und Handeln herauszulösen, um in ihm eine Art Magna Charta der westlichen Schuldkultur zu erblicken. Und auch wenn – was hier nicht zu entfalten ist – die Themen Sünde und Erlösung im Neuen Testament zweifelsohne von Beginn an, d.h. schon in den ältesten Zeugnissen, den Paulusbriefen, eine gewichtige Rolle spielen, so wäre es doch verfehlt, das Denken des Apostels deshalb auf ein im Kern schuldkulturelles Denken zu verkürzen, zumal z.B. solch ein vermeintlich klar schuldkulturell definierter Begriff wie der des »Gewissens« bei Paulus eben nicht nur ein autonomes Selbstbewusstsein im Sinne eines inneren Zeugen indiziert, sondern 70
Vgl. Hellerman, Honor.
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auch eine interpersonelle, soziale bzw. interaktive Dimension aufweist.71 Vor allem begegnen im Neuen Testament mit Blick auf den Tod Jesu keineswegs nur schuldkulturell geprägte Deutungen,72 vielmehr wird dieses für den christlichen Glauben so wichtige Fundamentalereignis in bemerkenswerter Weise gerade auch schamkulturell ausgeleuchtet. Dies zeigt die Kreuzestheologie des Paulus. »Ich schäme mich des Evangeliums nicht«, schreibt der Apostel in Röm 1,16. Warum sollte er sich aber des Evangeliums schämen? Die Antwort findet sich in 1Kor 1,18–25. Dort legt Paulus dar, dass das Evangelium in Form der Verkündigung des Wortes vom Kreuz den Griechen eine Torheit und den Juden ein Anstoß war. Die Scham hing folglich am Kreuzestod Jesu. Das Kreuzigungsritual galt im Altertum als eine der grausamsten Hinrichtungsformen. Das öffentlich inszenierte Schauspiel des Todes rief allenthalben Entsetzen und Abscheu hervor. So berichtet Josephus, der römische Feldherr und spätere Kaiser Titus habe im jüdisch-römischen Krieg während der Belagerung Jerusalems einen Gefangenen kreuzigen lassen, um die Gegner in Schrecken zu versetzen (Bell 5,289). Zu dem in der körperlichen Qual gründenden Grauen trat nun aber der Aspekt der extremen Entehrung hinzu. Der Tod am Kreuz wurde als besonders schändlich und demütigend empfunden. Der Autor des Hebräerbriefes bestätigt dies, wenn er ausdrücklich hervorhebt, dass Jesus die Schande missachtete und das Kreuz erduldete (12,2; vgl. Hebr 6,6; s. auch 2Tim 1,8). Die besagte Schande rührte zum einen daher, dass die Kreuzesstrafe vornehmlich Sklaven (servile supplicium) und politischen Aufrührern vorbehalten war, während römische Bürger in der Re71 72
Vgl. dazu im Näheren Wagner, Gewissen. Vgl. dazu Frey/Schröter, Deutungen.
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gel von dieser Strafe ausgenommen waren. Vor allem aber verletzte die am Kreuz vollzogene öffentliche Zurschaustellung des entblößten und gequälten Leibes des Delinquenten das Schamgefühl tiefgehend. Das Opfer wurde am Kreuz erbarmungslos erniedrigt. Und so nimmt es nicht wunder, dass Cicero in einer Verteidigungsrede für den Senator C. Rabirius aus dem Jahre 63 v.Chr. anmerkt, nicht nur der Kreuzestod selbst, sondern der bloße Begriff des »Kreuzes« sei angesichts seiner Assoziation mit Unfreiheit, Schande und Schrecken den Gedanken, Augen und Ohren römischer Bürger vorzuenthalten (Pro Rabirio 16). Durch die Zurschaustellung des totalen Kontrollverlustes und den ostentativen Ausschluss aus der Menschheit qua Hinrichtung war die Kreuzesstrafe eine Extremform der Demütigung und Entwürdigung.73 Vor diesem Hintergrund führt Paulus in 1Kor 1,18–25 eine Art theologische »Entschämung« der Kreuzigung Jesu vor. Dem Apostel gelingt dies, indem er die herkömmlichen weltlichen Maßstäbe in einen Kontrast zu den göttlichen stellt und dabei selbstredend Gott als entscheidende Beurteilungsinstanz (»court of reputation«) voraussetzt: Während die Welt Weisheit und Stärke als Ausweis von Ehre beurteilt, offenbart das Kreuz, dass Gott das Törichte und Schwache ehrt und somit das vermeintlich Schandhafte mit Ansehen ausstattet. Gott hat insofern am Kreuz Christi alle Weisheit der Welt verworfen und seine Dynamis wider alle irdische Konvention an den »gekreuzigten Christus« und seine Proklamation gebunden. Der göttliche Maßstab, die göttliche Weisheit, konterkariert solcherweise die herkömmlichen Distributionen von Ehre und Schande. Dies hat Konsequenzen: Paulus legt im Anschluss dar, dass sich diese im 73
Vgl. zur Dynamik der Demütigung durch Ausschluss und Kontrollverlust Margalit, Politik, bes. 113–125.
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Kreuz Christi konzentrierte Inversion der geltenden Maßstäbe auf der sozialen Ebene in der göttlichen Erwählung jener Mehrzahl von korinthischen Gemeindegliedern reflektiert, die von niederem sozialen Ansehen sind (1,26–31), und auf der individuellen Ebene in seinem eigenen schwächlichen Auftreten vor der Gemeinde (2,1–5). Auch sonst begegnen in den Paulusbriefen immer wieder vom Hergebrachten abweichende Distributionen von Ehre und Schande, so etwa in 1Kor 4,8–13 oder auch in Phil 3,2–11, wo Paulus augenfällig schandvolle Charakteristika ehrenvoll auf sich bezieht bzw. allgemein anerkannte Ehrattribute prinzipiell für sich entwertet. Die an all diesen und etlichen weiteren Stellen erkennbar werdende Theologie der »Entschämung« bildet nun bei Paulus zugleich die Grundlage für die Etablierung einer Art Theologie der Würde im Sinne der oben unter Punkt I entfalteten Gegenüberstellung von Ehre und Würde.74 So ist den Paulusbriefen klar zu entnehmen, dass der Apostel die im Christusglauben verankerte Lebensform der Getauften nicht an der die soziokulturelle Differenzen und Hierarchien betonenden weltlichkonventionellen Welt der Ehre festmacht, sondern an der prinzipiell gleichen Würde aller Christusgläubigen. Was die christusgläubige Existenz mithin trägt, ist nicht die Ausrichtung am weltlichen Status und an sozialen Rollen, sondern die alle Christusgläubigen als Communitas vereinende Teilhabe am Christusgeschehen. So gibt der Apostel in Gal 3,27f. zu verstehen, dass die Taufe auf Christus und die darin vollzogene Christusbindung (»ihr habt Christus angezogen«) mit einer Relativierung bzw. Minimierung der tief in das gesellschaftliche Gefüge eingeschriebenen ethnischen, sozialen und 74
Vgl. zum Folgenden Näheres bei Strecker, Theologie; ders., Körper; s. auch Bammel, Augen, 149–170.
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geschlechtlichen Unterschiede einhergeht (s. z.T. auch 1Kor 12,13). Vom Gesamtbild der paulinischen Theologie her ist klar, dass sich diese Relativierung nicht lediglich auf den Taufakt beschränkt oder etwa nur vor Gott gilt, sondern eine über den Taufakt hinausgehende faktische Transformation des alltäglichen Miteinanders gemeint ist. Mit Blick auf das Abendmahl spricht Paulus in 1Kor 10,17 explizit von dem »einen Leib«, zu dem die »vielen« während des Rituals zusammengeschlossen werden. Dieser Leib ist die soziale Gemeinschaft der Gemeinde im Sinne einer Communitas, in der alle die gleiche Würde haben (vgl. 1Kor 12). Das gilt zumal auch für die in besonderer Weise der Demütigung und Schmach ausgelieferten Sklaven, wie der Philemonbrief zeigt. So zielt die an Philemon gerichtete radikale Aufforderung, Onesimos als geliebten Bruder (ἀδελφός) und als Partner (κοινωνός) anzunehmen (Phlm 16f), unverkennbar auf eine Umformung des hierarchischen Verhältnisses zwischen Sklave und Herrn in eine ebenbürtige Beziehung, wie auch immer dies realisiert werden sollte. Von daher steht bei Paulus der schmachvolle, der endgültigen Exklusion dienende Kreuzestod Jesu, vermittelt über die Rituale der Taufe und des Herrenmahls, letztlich im Dienst einer sozial inklusiven Lebensform der Würde, in der sich jenes gänzlich neue Leben vorweg abschattet, das Jesu Auferstehung verbürgt. »Es war, als sollte die Scham ihn überleben«, schreibt Franz Kafka am Ende des »Proceßes« über Joseph K. »Ich schäme mich des Evangeliums und des darin verkündigten Kreuzestodes Jesu nicht«, gibt Paulus dagegen zu verstehen. Der schmachund schamvolle Kreuzestod Jesu wird bei ihm zum Quellgrund einer heilvollen Lebensform der Würde.
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Maria-Sibylla Lotter
»What dost thou know me for?« Stanley Cavell über die Dynamik der Scham in der Spannung zwischen dem Streben nach sozialer Anerkennung und der Anpassungsverweigerung
I. Scham gehört wie Stolz zu den Gefühlen, die uns unserer selbst bewusst werden lassen. Im Unterschied zu dem Modell des Selbstbewusstseins als »Ich denke« der modernen Philosophie, das ein Selbstbewusstsein suggeriert, das keiner Sozialität bedarf, erleben wir uns im Bewusstsein der Scham jedoch als Wesen, die ihre Selbstwahrnehmung und ihr Selbstwertgefühl nicht isoliert von den Mitmenschen bilden und aufrechterhalten können. Wir erfahren uns auf eine Weise von ihrer Anerkennung abhängig, die äußerst schmerzhaft und demütigend sein kann. Wer sich schämt, verliert die Kontrolle über seinen Körper und dessen Ausdruck; mitunter wird man rot, kann dem Anderen nicht mehr in die Augen blicken oder fühlt sich wie gelähmt; man würde am liebsten in den Boden versinken und ganz aus der sozialen Welt verschwinden. Andererseits können Beschämungserlebnisse aber auch Entwicklungsprozesse in Gang setzen, die durch rein kognitive Formen der Selbsterkenntnis schwerlich ausgelöst würden, und somit die moralische Autonomie stärken. Die mit der Scham verbundenen menschlichen Selbstverhältnisse in Verbindung zu Fremdverhältnissen scheinen daher sehr vielfältig: Die Angst vor Beschämungen kann Menschen von Regelbrüchen abhalten, aber auch zur Anpassung nötigen; umgekehrt
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Maria-Sibylla Lotter
hält sie manche aber auch davon ab, aufgrund von sozialem Druck Dinge zu tun, die ihre eigenen Werte verletzen würden. In Anbetracht der Macht, die die Schamangst über uns hat, und der heftigen Auswirkungen von Beschämungen kann man sicher ohne Übertreibung sagen, dass wir uns selbst und die soziale Welt sehr viel besser verstehen würden, wenn wir wüssten, warum sich die Schamfähigkeit bei verschiedenen Menschen unterschiedlich herausbildet, warum die Scham sowohl als sozialer Zwang als auch als Schutz davor auftreten kann und unter welchen Umständen sie sich destruktiv oder konstruktiv auf die Fähigkeit zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Lebensgestaltung auswirkt. Leider sind wir davon jedoch weit entfernt. Mit der Scham scheint es sich zu verhalten wie mit der Religion: man kann sie mit gleichem Recht auf eine konventionelle und heteronome Form des Selbstverständnisses beschreiben wie als Ausdruck tiefer eigener Erfahrung und Quelle intellektueller und emotionaler Selbstständigkeit. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Einschätzungen der ethischen Bedeutung der Scham im Laufe der Kulturgeschichte viel extremer schwanken als etwa die der in allen kulturellen Kontexten geschätzten Vernunft. Während Scham in der griechischen Antike und in China als unverzichtbare Quelle der Moral und als Schutz der persönlichen Integrität hochgeschätzt wurde,1 gilt sie in der modernen Philosophie als Ausdruck einer unerwünschten Sozialabhängigkeit. Kant beschreibt sie als »Angst aus der besorgten Verachtung einer gegenwärtigen Person«,2 die der persönlichen Autonomie abträglich sein kann. Auch das berühmt-berüchtigte Konzept der »Schamkultur« der Kulturanthropo1 2
Vgl. hierzu Rappe, Scham. Kant, Anthropologie, 255.
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loginnen Ruth Benedict und Margaret Mead reduziert die Scham auf ein Gefühl, das ausschließlich in Gesellschaft anderer Personen auftritt, als Angst, wie man wohl wahrgenommen werden könnte.3 Dementgegen deuten Bernard Williams und Gabriele Taylor die Scham als Ausdruck einer normativen Identität von Personen, die durch Internalisierung von Selbstbildern und Rollenidealen entsteht und sie vor der vorschnellen Anpassung an soziale Erwartungen schützt.4 Entsprechend weit divergieren die Einschätzungen, wie sich die Scham zur moralischen Autonomie verhält. Für die einen ist Scham Ausdruck und Instrument von Heteronomie schlechthin: Scham steht für die Weise, wie die Gesellschaft in die Tiefen unserer Psyche hineinreicht und uns nötigt, Dinge zu tun, die wir nicht wollen. Für andere hingegen ist sie unmittelbarer Ausdruck einer je persönlichen Moral. Diese extreme Divergenz wirft Rätsel auf. Handelt es sich in Wirklichkeit um verschiedene Phänomene, für die eigentlich unterschiedliche Begriffe gefunden werden sollten? Allein schon diese extreme Divergenz der Schambeschreibungen und -bewertungen zeigt an, dass wir von einem Verständnis der Schamphänomene, das ihrer Komplexität gerecht wird, heute noch weit entfernt sind. Ich kann an dieser Stelle kein überzeugenderes Modell anbieten, sondern nur eine Vermutung äußern, in welche Richtung es gehen müsste. Da sich sowohl die Deutungen der Scham als einer moralischen Heteronomie, als auch die entgegengesetzten Interpretationen auf Phänomene berufen können, die es zweifelsfrei gibt, ist zu vermuten, als dass sich die Differenzen aus der extremen Variationsbreite der Schamphä3
Vgl. Benedict, Chrysanthemum, 493. Zur Problematik dieser Ansätze vgl. Lotter, Scham, 89–122. 4 Vgl. Williams, Shame; Taylor, Pride.
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nomene ergeben, die nicht nur kulturell, sondern auch individuell stark variieren und sich daher nicht in ein vereinfachtes Schema pressen lassen. Damit meine ich, dass nicht nur die Anlässe der Scham individuell verschieden sind. Denn die Schamanfälligkeit entspringt der persönlichen Geschichte, dem Charakter, der Erziehung und den Erfahrungen von Personen und weisen entsprechend große Unterschiede auf, wie wir aus Erfahrung wissen. Der eine schämt sich über Dinge wie eine fleckige Hose, die eine andere Person vollkommen unberührt lassen; oder er verbirgt aus Schamhaftigkeit nichtkonforme Meinungen, die sein provokationsfreudiger Cousin bei jeder Gelegenheit heraus trompetet. Nicht weniger unterschiedlich scheinen aber auch die Voraussetzungen der Scham und ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu sein: Während die einen in Anbetracht eines eigenen Fehlverhaltens, von dem niemand weiß, vielleicht ein vages Gefühl des Unbehagens verspüren, während sie in Panik geraten, wenn ein unzutreffendes Gerücht über sie im Umlauf ist, verhält es sich bei anderen genau umgekehrt. Und mindestens ebenso verschieden scheinen wir mit Blick auf die aktiven oder passiven Einstellungen zu sein, die wir gegenüber uns selbst einnehmen, und die mit Schamerlebnissen durchzogen sind: lösen Schamerlebnisse eher Erstarrungen und Rückzüge oder aktive Selbstveränderungsprozesse aus? Welche Erkenntnisprozesse oder Formen des Selbstbetruges werden durch die mit einer Beschämung verbundene Selbstverachtung ausgelöst? Die erwähnten einander ausschließenden Erklärungen und Wertungen von Schamphänomenen werden m.E. einerseits durch ein zu statisches Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft und der Selbstverhältnisse von Personen nahegelegt, andererseits durch die
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mangelnde Berücksichtigung der individuellen Variationsbreite der Schamphänomene. Im Folgenden möchte ich daher einen Autor in diese Diskussion einführen, der die Schamphänomene immerhin sehr viel dynamischer versteht als es in den klassischen Theorieansätzen üblich ist: den Philosophen und Kunsttheoretiker Stanley Cavell. Leider sieht es nicht so aus, als ob aus Cavells Überlegungen zur Scham schon ein kohärentes Modell zu gewinnen wäre, geschweige denn Lösungen für alle aufgeworfenen Fragen. Cavell ist aber allein schon deswegen interessant, weil er die Scham mit Blick auf die ethisch relevanten Aspekte der Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Herausbildung (oder den Verfall) von Persönlichkeiten thematisiert, also in den in ihr angelegten Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für das Selbstverhältnis als auch die Beziehung zu anderen. Da er psychoanalytische Herangehensweisen mit philosophischen verbindet, hat er zudem ein vertieftes Problembewusstsein für die je unterschiedlichen individuellen Dynamiken der Scham und ihre psychosozialen Voraussetzungen entwickelt. Er hat mit seiner Rezeption von Emerson und Nietzsche aber auch Perspektiven in die Diskussion gebracht, die sich eignen, eine zu statische Gegenüberstellung von Privatheit und Öffentlichkeit, individuellen und sozialen Faktoren aufzubrechen. Cavell verwendet für seine Perspektive auch den Begriff des moralischen Perfektionismus. Das ist nicht mit Perfektionismus im alltagsprachlichen Sinne zu verwechseln; es geht weder um einen zwanghaften Drang nach Perfektion, noch überhaupt um die Orientierung an einer festen Vorstellung von Vollkommenheit, sondern eher um das, was im Deutschen mit dem Begriff der moralischen Bildung ausgedrückt wird. Cavell führt den Gesichtspunkt des moralischen Perfektionismus expli-
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zit zwar erst in seinen Untersuchungen zu Emerson5 ein, wo er mit dem Konzept eines ständig über sich hinauswachsenden Selbst verbunden ist; man kann dies das Konzept des moralischen Perfektionismus im engeren Sinne nennen. Cavell schreibt aber auch schon Platon eine perfektionistische Perspektive in einem etwas weiteren Sinne zu, die besonders im Mythos vom ER gegen Ende der Politeia zum Ausdruck kommt.6 Eine perfektionistische Perspektive in diesem weiteren Sinne einzunehmen bedeutet, von der Verantwortung der Protagonisten für ihr eigenes Leben auszugehen und die persönlichen und sozialen Gründe für das Verfehlen und Gelingen ihrer Lebensziele zu untersuchen. Dabei stellt sich stets heraus, dass die Person sich selbst in ihrem Selbstverständnis und ihrer Haltung gegenüber anderen verändern müsste, um ihr Leben zu verstehen und es ihren Wünschen gemäß zu gestalten. Daraus ergeben sich methodische Konsequenzen. Betrachtet man die Scham aus perfektionistischer Perspektive, dann liegt es nahe, sich den verschiedenen Schamphänomenen auf narrativem Wege zu nähern, indem man unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten von Schamerfahrungen bestimmter Personen in bestimmten Situationen und in Beziehung zu bestimmten anderen Personen untersucht. Scham ist kein gleichbleibendes Phänomen, sondern wandelt sich, etwa von der Schamangst zum Sündenstolz, zur Dreistigkeit und anderen Formen der vermeintlichen Schamlosigkeit. Solche Phänomene werden erst als Schamphänomene erkennbar, wenn man die Entwicklung der Gefühle aus ihrer je besonderen psychosozialen Si5 6
Vgl. Cavell, Conditions. Vgl. den Mythos vom ER gegen Ende von Platons Politeia, auf den sich Cavell in Cities of Words beruft, vgl. Cavell, Cities, 473– 476.
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tuation heraus verfolgt. Denn es ist nicht ein und dieselbe Gefühlsqualität, die aufgrund derselben stereotypen Ursachen in unterschiedlichen Kontexten vorkommt und dieselbe Entwicklung nimmt; Scham kann sich bei verschiedenen Personen auch anders anfühlen, sich auf andere Weise weiterentwickeln und sich anders auf das Gelingen bzw. Verfehlen ihrer Lebensziele auswirken: »Welche Relevanz eine Annahme besitzt, welches Gewicht eine Überzeugung gewinnt, welche Handlungsfolgen Scham, Eifersucht oder Ekel nach sich ziehen – all das sind Fragen, die nur mit Verweis auf narrativ zu explizierende Selbstverständnisse beantwortet werden können,« stellt Martin Hartmann mit Blick auf die sozialen Gefühle fest.7 II. Scham als Leitmotiv von King Lear Die Geschichte einer vor allem destruktiven Entwicklung des Selbstverhältnisses aufgrund einer Veränderung der Beziehung zu anderen, die durch eine nur indirekt zu Tage tretende Tiefenscham bedingt ist, arbeitet Cavell in seiner Interpretation von Shakespeare’s King Lear heraus. Cavell geht davon aus, dass die Scham den Schlüssel zum Verständnis der Handlung abgibt.8 Ich werde mich im Folgenden auf diejenigen Aspekte von Cavells Interpretation beschränken, die mir überzeugend erscheinen,9 und sie durch eigene Überlegungen er7 8
Hartmann, Emotionen, 279. Vgl. Cavell, Avoidance, 286. Diese Einschätzung hat sich mittlerweile auch bei anderen Shakespeare-Kennern durchgesetzt, auch wenn sie nicht allen psychoanalytischen Suggestionen Cavells folgen. Vgl. hierzu Zak, Shame. 9 Dazu gehört etwa nicht Cavells psychoanalytisch inspirierte Suggestion eines inzestuösen Verhältnisses zwischen Lear und seiner Tochter, die mir durch den Text nicht ausreichend gestützt scheint.
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gänzen.10 Beginnen wir also mit der Abdankungszeremonie, in der der alt gewordene König Lear seine Funktionen und Verantwortlichkeiten an seine Töchter und ihre Ehemänner überträgt, dabei aber eine ungewöhnliche Forderung an sie stellt. Er verlangt von seinen Töchtern, ihm öffentlich ihre Liebe zu erklären, mit dem Ziel: »That we our largest bounty may extend where nature doth with merit challenge«.11 Das wirft zwei Fragen auf. Die eine betrifft die subjektive Absicht des Protagonisten: Was will er damit erreichen? Die zweite betrifft die Problematik, um die es hier geht: Was will uns Shakespeare mit der merkwürdigen Abdankungsszene vermitteln? Wie sollen wir das Anliegen Lears verstehen? Beruft sich Lear auf die Verpflichtung der Untertanen, den König zu lieben und zu ehren? Mit Blick auf Lears Interesse, sich trotz der Entmachtung seinen Status als König zu erhalten, liegt der Gedanke nahe, dass er sich nicht allein auf die Unwägbarkeiten der natürlichen Gefühle seiner Töchter für ihn verlassen möchte. Er erhofft sich vielleicht mehr Sicherheit durch eine öffentliche Liebeserklärung, die quasi einer Liebesverpflichtung wie in einer Ehe gleichkäme. Hierfür wäre allerdings eine konventionelle, zeremonielle Liebeserklärung der richtige Ausdruck. Lear scheint allerdings auch noch ein weiteres Anliegen zu verfolgen, und darin liegt das Problem. Er möchte offenbar seinen Liebling – die jüngste Tochter – bei der Aufteilung des Reiches bevorzugen. Daher soll nicht der gleiche Anspruch der Kinder, noch sonstige Verdienste, sondern die natürliche Liebe zu einem Rechtsgrund für den politischen Anspruch werden. Lear versucht beide Anliegen zu verbinden, indem er aus der zeremoniellen Liebeserklä10
Dabei stütze ich mich auch auf die ausgezeichneten Analysen von Montes Sanchez, Shame, und Trüstedt, Art. 11 King Lear, hg. v. Muir, 6.
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rung und Verpflichtung zur Altersversorgung, die er zum Dank für die Übergabe der Macht erwarten kann, einen Liebeswettstreit macht. Das geht nur durch ein Täuschungs- oder Selbsttäuschungsmanöver: Er muss so tun, als gäbe es keinen relevanten Unterschied zwischen der wirklichen, natürlichen Liebe und einer einforderbaren zeremoniellen Erklärung der Liebe. Das kann nicht gut gehen, wie sich schnell herausstellt. Während die älteren Töchter sich ihren Anteil am Reich mit bombastischen Liebeserklärungen sichern, die aufgrund der unterstellten »Natürlichkeit« der Liebe den Hörern zwangsläufig als Lügen erscheinen müssen, bringt Lears Ansinnen die jüngste Tochter, mit der ihn wirklich eine innige Zuneigung verbindet, in große Verlegenheit und Beklemmung; ihr ist auch nach langem Drängen nur eine konventionelle Erklärung ihrer Liebe als Liebespflicht zu entlocken: »I love your Majesty according to my bond; no more no less.«12 Darauf reagiert Lear mit heftigem Zorn, bezeichnet sie als lieblos, enterbt sie und verbannt sie endgültig aus seiner Gegenwart. Diese extreme Reaktion stellt die Zuschauer gleich in der Anfangsszene vor ein Rätsel. Was will uns der Autor damit sagen? Dass Lear an Cordelias Liebe zweifelt? Dass er so töricht ist zu glauben, durch einen Liebeswettbewerb diese Liebe ermitteln zu können? Das kann man sich bei einem Protagonisten, der nicht als hoffnungslos weltfremd konstruiert wird, schwer vorstellen. Könnte sein Zorn dann mit der Enttäuschung über Cordelias Verweigerung der Kooperation bei einer Prozedur zu erklären sein, die doch allein ihrem Vorteil dienen sollte? Also als Ärger über ein – wie er es vielleicht sieht – törichtes, trotziges und »undankbares« Benehmen? Auch diese Erklärung kann 12
Cavell, Avoidance, 286.
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jedoch bei einem Autor vom Niveau Shakespeares nicht befriedigen, denn Cordelias abrupte und endgültige Verbannung erscheint ganz unverhältnismäßig mit Blick auf den Anlass. Innerhalb des Stücks wird dem Zuschauer gleich in der anschließenden Szene eine Erklärung aus der Sicht seiner älteren Töchter angeboten: sie führen Lears Verhalten gegenüber der meistgeliebten Tochter auf altersbedingte Demenz, schlechte Urteilskraft und einen Mangel an Selbstkenntnis zurück.13 Aber auch mit mangelnder Urteilskraft ist schwerlich die Demütigung, Enterbung und Verbannung ausgerechnet der Lieblingstochter zu begreifen, bei der er eigentlich seinen Lebensabend verbringen wollte. Was treibt den Protagonisten dazu an, ohne Not seine eigenen Lebenspläne zu durchkreuzen? Die extreme Reaktion Lears wirft gleich in der ersten Szene die Frage nach einem verborgenen Beweggrund auf. Cavell beantwortet diese Frage mit seiner These von der Scham als tieferem Beweggrund Lears. Er führt dafür an, dass Scham sich willkürlich, unflexibel und in ihrer Wirkung extrem äußere – und eben das charakterisiere bei Shakespeare den Handlungsverlauf. Lear versuche von Anfang an, nicht erkannt zu werden, sich vor den Augen der anderen zu verbergen.14 Das aber sei charakteristisch für Scham, verstanden als »das spezifische Unbehagen, das durch die Wahrnehmung ausgelöst wird, von anderen angeschaut zu werden, und das den Reflex auslöst, den Blick der anderen zu vermeiden.«15 Die destruktive Dynamik der Scham ergibt sich nach Cavell daraus, dass die Vermeidung des Blicks der anderen zur Unfähigkeit führt, sie anzuerken13 14 15
King Lear, hg. v. Muir, 21. Cavell, Avoidance, 274. Cavell, Avoidance, 278.
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nen. Scham könnte zwar gar nicht entstehen, würde man die anderen nicht als Subjekte anerkennen, d. h. als Wesen, die einen wahrnehmen und beurteilen. Insofern ist die Anerkennung der anderen als Subjekte Voraussetzung der Scham. Anders ist es jedoch mit der Anerkennung der anderen in dem, was sie in Beziehung zu einem selbst sind (etwa Tochter im Verhältnis zum Vater, oder noch spezieller: eine ihren Vater liebende Tochter). Wer sich aus Scham verbergen will, richtet die Aufmerksamkeit ganz auf sich, weicht den anderen aus und wird insofern unfähig, ihre relative Position, ihre Persönlichkeit und ihre Einstellungen einem selbst gegenüber wahrzunehmen und angemessen zu würdigen. Wenn Cavell hier von (einem Mangel an) Anerkennung spricht, meint er nicht dasselbe wie (einen Mangel an) Erkenntnis. Die Verweigerung von Anerkennung ist auch da möglich, wo durchaus Wissen vorhanden ist, man sich aber weigert, dieses Wissen praktisch zu bezeugen, indem man entsprechend darauf reagiert. Wenn Lear nicht wirklich an Cordelias Liebe zweifelt, sie aber gleichwohl so behandelt, als bezeuge ihre Weigerung, sein Spiel mitzuspielen, ihre Lieblosigkeit, dann verweigert er ihr die Anerkennung. Diese Anerkennungsverweigerung wird von Shakespeare im Handlungsverlauf als Unfähigkeit, jemanden zu erkennen, thematisiert; erst gegen Schluss der Tragödie, und nachdem er ihr zunächst ausgewichen ist, erkennt Lear seine Tochter wieder. Wie Cavell zeigt, durchzieht das Motiv der Wahrnehmungsunfähigkeit infolge von Anerkennungsverweigerung aber auch die anderen wichtigen Beziehungen und spielt eine zentrale Rolle im Handlungsverlauf. So erkennt Lear den von ihm verstoßenen loyalen Gefolgsmann Kent nicht mehr und verfällt zwischenzeitlich dem Wahnsinn. Das Motiv der Unfähigkeit, die Person wiederzuerkennen, mit der man eigentlich in Liebe verbunden ist,
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dominiert auch eine Nebenhandlung, die Beziehung zwischen Gloucester und seinem Sohn Edgar; nachdem Gloucester Edgar verstößt, ist er später aufgrund seiner Blendung unfähig, ihn wiederzuerkennen, und auch Edgar gibt sich ihm nicht zu erkennen. Die Handlung parallelisiert somit zwei männliche Personen, die ihre geliebten Kinder nicht mehr sehen wollen, sie verstoßen und sie über lange Zeiträume nicht wiedererkennen. Dass Scham nicht notwendig einen solchen destruktiven Verlauf haben muss, macht Shakespeare deutlich, indem er dem für Lear charakteristischen Selbstverhältnis und Verhältnis zu anderen die Selbstachtung und unbedingte Zuneigung Cordelia gegenüberstellt. Auch Cordelia verbirgt sich aus Scham in der Abdankungsszene, aber aus anderen Gründen und mit anderen Folgen als Lear und Gloucester. Diese für den Handlungsverlauf ebenso wichtige Schamreaktion wird merkwürdigerweise von Cavell nicht als solche berücksichtigt, weil er die Scham hier nur auf die Angst vor dem, was die anderen sehen könnten, zurückführt und zur verweigerten Anerkennung in Beziehung setzt. Scham kann jedoch mit Blick auf den Wert dessen, was die anderen sehen könnten, zwei unterschiedliche Motive haben: Entweder eine Person möchte dem Blick einer wichtigen anderen Person ausweichen, weil sie Angst vor der Enthüllung der eigenen Schwäche oder Nichtigkeit hat, wie es bei King Lear und Gloucester der Fall ist; der Drang, sich zu verbergen, entspringt dann einem Selbstzweifel. Der andere Grund ist, dass etwas Wertvolles durch die öffentliche Enthüllung oder gar eine damit verbundene Instrumentalisierung an Bedeutung und Wert verlieren würde. Dies ist bei Cordelia der Fall, wenn sie sich nicht auf die beschämende Forderung einlässt, ihre Liebe zum Vater öffentlich zu erklären, als Teil eines Wettstreits, der dazu dient, sich zum Nachteil ihrer Schwestern einen Löwen-
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anteil am Erbe zu sichern. Wenn ihre Zuneigung dem Vater selbst gilt und nicht seinen Gütern, und wenn sie ihm wohl will und seine Selbsttäuschung nicht noch bestärken möchte, hat sie allen Grund, sich dem Liebeswettbewerb zu entziehen. Die ihren Lauf nehmende Katastrophe ist also in mehrfacher Hinsicht durch Scham motiviert, aber durch unterschiedliche Formen der Scham, in denen sich verschiedene Selbstverhältnisse kundtun: nicht nur von Lears Versuch, etwas ihn Beschämendes hinter dem öffentlichen Zelebrieren von Liebesbekundungen zu verbergen, sondern auch von Cordelias Versuch, ihre Liebe vor dem Missbrauch als Argument im Wettstreit um Macht und Reichtum zu schützen. Damit ist jedoch noch nicht die Frage nach der tieferen Scham Lears beantwortet, die nach Cavell ja die Ursache dafür ist, dass er Cordelia in eine beschämende Situation bringt, die dann auch für ihn etwas Beschämendes bekommt. Bei Gloucester lässt der Text keinen Zweifel, wofür er sich schämt: er hat ein uneheliches Kind gezeugt, was nicht mit seinem Selbstverständnis zu vereinbaren ist, woraufhin er erst versucht, diesen Sohn fernzuhalten, dann, offen mit der Sache umzugehen, wobei seine vermeintliche Schamlosigkeit jedoch nur ein Unbehagen verbirgt, das auch die Beziehung zu seinem ehelichen Sohn Edgar belastet. Hingegen wird die Frage, wofür Lear sich eigentlich schämt, im Stück nicht eindeutig beantwortet. Nach Cavell dient schon der Liebeswettbewerb dazu, der Liebe in ihrer nichtkonventionellen Form auszuweichen. Aber warum sollte jemand das vermeiden wollen, was allgemein als das Schönste im Leben gilt? Eine mögliche Antwort wäre, dass Liebe mit Erwartungen und Anforderungen verbunden ist, denen man vielleicht lieber ausweichen möchte, aus einer Art Liebesfaulheit heraus. Ein durch Faulheit motiviertes Ausweichen vor Anfor-
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derungen erklärt jedoch schwerlich Lears heftigen Zorn und seine Verbannung Cordelias. Näherliegender scheint die Vermutung, dass Lear der echten Liebe nicht vertraut, sich ihrer schämt, weil er nicht mehr weiß, wer er ist und was er verdient. Lear fühlt sich nicht liebenswert ohne die Zeichen seiner Macht, so Cavell.16 Man kann sich Cavells Interpretation von Lears Verunsicherung ganz gut mit einer Kategorie Sartres verständlich machen, nämlich als Mauvaise Foi, als eine Form der falschen Überzeugung oder Selbsttäuschung.17 Das klassische Beispiel Sartres ist der Kellner, der so mit seiner Rolle verschmilzt, dass er quasi nur noch Kellner ist. Auch bei Lear hat es den Anschein, als habe er sich so mit seiner Rolle als König identifiziert, dass sein Selbstwertgefühl ganz an diese Rolle gebunden ist. Auch wenn er nicht an Cordelias Liebe zweifelt, kann er sie nur auf sich als König beziehen, da er sich selbst voll und ganz mit seiner Königsrolle identifiziert – aber diese Person ist er nicht mehr. Ohne die Anerkennung seiner Königswürde durch andere verliert er das Bewusstsein seiner selbst, wie in einer späteren Szene mit seiner Tochter Goneril zum Ausdruck kommt: Lear: Doth any here know me? This is not Lear: Doth Lear walk thus? speak thus? […] Who is it that can tell me who I am? Fool: Lear's shadow.18
Lear schämt sich also, weil er infolge seines Ansehensverlustes nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und er ist nur noch ein Schatten seiner selbst, weil er nicht mehr als König respektiert wird. Dies erklärt auch den Widerspruch, dass er in der Abdankungsszene zwar die Aufgaben abgeben, 16 17 18
Vgl. Cavell, Avoidance, 289. Vgl. Sartre, Sein, 120–160. King Lear, hg. v. Muir, 45.
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aber gleichwohl den Titel und Status des Königs behalten wollte. Dieser Titel wird jedoch zu einer leeren Phrase, wenn er nicht mehr durch wirkliche Macht und Verantwortung gestützt wird. Wenn wir davon ausgehen, dass Lear insgeheim wissen muss, dass er nicht abdanken und gleichzeitig König bleiben kann, auch wenn er öffentlich so tut, als sei dies möglich, dann wäre seine Scham mit einer Identitätskrise zu erklären: dem Wissen um seine Altersschwäche, seine zunehmende Unfähigkeit, weiter seine Aufgaben als König wahrzunehmen und somit im echten Sinne König zu sein. Dann ging es in der Abdankungsszene nicht um die Absicherung seiner Macht, sondern die Wahrung des Scheins, bei der er auf Kooperation angewiesen ist. Die Verbannung von Cordelia vermeidet die Gefahr der Entdeckung, dass er nicht ist, was er zu sein vorgibt, und somit des Liebesverlustes, allerdings um den Preis der Vermeidung der Liebe selbst. Wenn diese Deutung zutrifft, dann stünde Lears Verunsicherung als Extremfall für die menschliche Verunsicherung schlechthin, denn Lear wechselt von der Rolle des mächtigen Souveräns in die eines von der Liebe anderer abhängigen alten Mannes. Seine Scham geht daher weit über eine gewöhnliche Altersscham hinaus und scheint sich auf die menschliche Fragilität und Sterblichkeit schlechthin zu beziehen. Diese Deutung wird jedenfalls von einer Szene nahe gelegt, in der der schon von seinen Töchtern ausgestoßene Lear auf Gloucester stößt, der den König erkennt und ihm die Hände küssen will, was bei Lear einen Impuls des Widerwillens auslöst – er müsse seine Hände abwischen, sie röchen nach Sterblichkeit, sagt er.19 Wenn die These von der Scham als Hauptmotiv zutrifft, dann lässt sich Lears und Gloucesters Ver19
King Lear, hg. v. Muir, 167f.
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halten mit einem bekannten psychologischen Muster deuten: Wer sich seiner selbst unsicher ist, kann die Liebe anderer nicht mit Freude annehmen, aus mehreren Gründen. Zunächst weil sie nicht verdient erscheint, weswegen zu befürchten ist, dass man sie verlieren wird, wenn die anderen einen erst richtig kennenlernen. Daher ist es Selbstschutz vor der eigenen Enttäuschung, die anderen zu vertreiben, bevor sie Gelegenheit haben zu begreifen, was für eine verächtliche Kreatur man ist. Wer sich selbst als wertlos wahrnimmt, neigt aber auch dazu, denjenigen zu verachten, der ihm gleichwohl Zuneigung und Wertschätzung entgegenbringt. Was Cavell an der Scham interessiert, ist jedoch nicht primär die Störung des Selbstwertgefühls, die zwangläufig durch die Abhängigkeit von der Anerkennung anderer irgendwann eintreten muss, sondern der dadurch bedingte intersubjektive Vorgang der Verweigerung von Anerkennung, der bei Shakespeare durch die Symbolik der Blindheit und des Nicht-Wiedererkennens dargestellt wird. Der Wunsch sich zu verbergen führt dazu, dass man den anderen die Anerkennung in gerade der Beziehung verweigert, die man selbst vermeiden will. Daher ist Gloucester, der sich vor Edgar schämt, schnell bereit, seinem anderen Sohn Edmund Glauben zu schenken, als dieser Edgar denunziert. Und Lear ist schnell bereit, Cordelias Verhalten als einen Affront zu deuten, obgleich – oder eher: weil – er in Wirklichkeit an ihrer Liebe nicht zweifelt. Dieses psychologische Muster ist auch aus Kontexten unterdrückter Homosexualität bekannt, in denen die Leugnung der eigenen Homosexualität nicht selten zu einer besonders aktiven Verfolgung von Homosexuellen führt. Selbstakzeptanz. Selbst-
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erkenntnis, so Cavell, muss der Anerkennung vorausgehen.20 Kurz, wenn wir uns an den Grundzügen von Cavells Deutung des King Lear orientieren, dann entspringt eine hochgradig destruktive Entwicklung der Scham einer Form des Selbstverhältnisses, das ganz auf der Anerkennung durch andere aufbaut und gerade deswegen zur Anerkennungsverweigerung führt. Lear ist unfähig, auf die Zuneigung seiner jüngsten Tochter zu vertrauen, weil er sich nur noch als Schatten seiner selbst wahrnehmen kann, und er kann sich nur noch als Schatten seiner selbst wahrnehmen, weil er aufgrund der Abdankung die Anerkennung seiner sozialen Rolle als König, also als Objekt allgemeiner Wertschätzung und Liebe, verliert. Daher begeht er den Fehler des Liebeswettbewerbs, der seine Liebesansprüche durch materielle Gegenleistungen absichern soll. Cavell versteht seine Auslegung Shakespeares jedoch keineswegs im Sinne eines allgemeinen Automatismus von Identitätskrise, Scham und Anerkennungsverweigerung, der das Schicksal von King Lear als quasi unvermeidbar erscheinen ließe. Narrative wie diese zeigen exemplarische Zusammenhänge auf, die nicht zufällig so verlaufen, ohne im strengen Sinne notwendig zu sein. Es stellt sich die Frage, wie denn im Kontrast zu den Auswirkungen der Scham in King Lear die andere Möglichkeit zu denken wäre, sich von den identitätsstiftenden Rollen zu unterscheiden und auf sich selbst zu vertrauen. Cavell hat sich auf der Suche nach einem 20 In dem Stück deutet sich ein solcher Prozess der Selbstakzeptanz aber erst an, nachdem Lear quasi in der wilden Natur einem Sturm ausgesetzt wird. In dieser Situation des Zurückgeworfenseins auf die schiere Existenz beginnt er Anteil am Leiden anderer Menschen wie seinem frierenden Narren und dem scheinbar verrückten und der Kälte am meisten ausgesetzten Edgar zu nehmen.
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anderen Verständnis von Personalität und Intersubjektivität vor allem an dem amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson und dessen Rezeption bei Nietzsche und Heidegger orientiert. Dabei bezieht er sich vor allem auf Emersons Essay Self-Reliance, den man wie ein Gegenprogramm zu der im King Lear skizzierten Modell der Verschränkung von Selbstverhältnis und Beziehung zu anderen lesen kann.21 Emersons Essays drehen sich immer wieder um die Möglichkeit eines Selbstverhältnisses, das von Zwang zur Konvention befreit ist, den er als Konformismus oder Moralismus bezeichnet. Dabei geht es nicht nur um die Frage moralischer Selbstbestimmung, sondern auch um die Kritik der gegenwärtigen politischen und sozialen Verhältnisse als solcher, die diesen Konformismus hervorbringen und reproduzieren. Immer wieder kündigt sich der Wunsch nach einer Transformation des eigenen Selbst an, das die Verantwortung für das eigene Denken und Handeln übernehmen soll.22 In Emersons Überlegungen zum hierfür erforderlichen Selbstvertrauen kommt daher ein grundlegend anderes Personenverständnis zum Ausdruck als das der Anerkennungstheorie. Wo man gegen die Anerkennungstheorie einwenden könnte, dass sie zu wenig Raum für unabhängige individuelle Selbstbestimmung lasse, wird hier der Bereich des Sozialen tendenziell als der Bereich des Konformismus abgewertet, sodass die Selbstentwicklung hin zum Selbstvertrauen sich quasi gegen die Gesellschaft vollziehen muss. Ich möchte nicht behaupten, dass dieses Konzept des Verhältnisses von Selbst und sozialer Welt unproblematisch sei, möchte mich hier aber auf die Frage nach der Funktion konzen21
Der Essay ist unter dem Titel Selbstvertrauen in mehreren deutschen Ausgaben von erschienen. 22 Vgl. Cavell, Conditions, 46.
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trieren, die in diesem Kontext die Scham mit Blick auf die Transformation des Selbst bekommt. Denn Cavell liest Emersons Essay Self-Reliance als eine Studie über die in der Scham angelegten Entwicklungsmöglichkeiten; dabei berücksichtigt er auch Nietzsches Rezeption Emersons, die u.a. in der Abhandlung Schopenhauer als Erzieher in den Unzeitgemäßen Betrachtungen zwischen den Zeilen durchscheint. Die Spannung zwischen den Selbstverhältnissen, für die auf der einen Seite King Lear und auf der anderen Seite Emersons Modell des Selbstvertrauens und Nietzsches Ideal des Erziehers stehen, kommt in der Verwendung des Motivs der geisterhaften oder schattenhaften Existenz zum Ausdruck. Während Shakespeares Lear sich seiner selbst schämt, weil ihn der Verlust seiner sozialen Identität zu einem bloßen Schatten seiner selbst gemacht hat, ist es bei Emerson die soziale Identität selbst oder genauer: die distanzlose und konformistische Einstellung zu den jeweils angebotenen sozialen Identitäten, die als eine bloß schattenhafte bzw. geisterhafte Existenz beschrieben wird und derer man sich schämen sollte. Die Frage »Wer bin ich?« kann daher nicht mit Verweis auf eine anerkannte soziale Rolle beantwortet werden. Sie bezieht sich gar nicht mehr auf ein vorgegebenes, sondern ein mögliches anderes, vielleicht nächstes, jedenfalls noch nicht erreichtes Selbst.23 Der Scham wird hierbei eine dynamische, transformierende Kraft zugeschrieben, die den Einzelnen von der Gebundenheit an die sozialen Erwartungen anderer löst, die scheinbar seine Identität ausmachen, und eine Veränderung des Selbstverständnisses in Gang setzt. Damit soll nicht behauptet werden, dass Emerson und Nietzsche alle Schamphänomene als Pro23
Vgl. Cavell, Conditions, 12.
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zesse der Selbstveränderung interpretieren; dass Gefühle der Beschämung rein konventioneller Natur sein und auch destruktive Entwicklungen nehmen können wie im Falle King Lears, wird von ihnen nicht geleugnet. Sie unterscheiden jedoch zwischen einer der persönlichen Entwicklung hinderlichen Scham im Sinne der sozialen Beschämtheit, der Angst vor mangelnder Anerkennung, und fördernden Formen der Beschämung. Der Unterschied letzterer gegenüber den Formen der Scham, in denen sich eine unmittelbare Abhängigkeit des eigenen Selbstverständnisses von der Anerkennung anderer ausdrückt, ist nun nicht mit einer autarken Selbstbeziehung zu verwechseln. Auch sie bedarf einer Selbstverständigung, die notwendigerweise eine Beziehung zu anderen einschließt, entspringt jedoch nicht dem Bedürfnis nach Anerkennung. In seiner pseudobiographischen Reflexion »Schopenhauer als Erzieher« beschreibt Nietzsche, wie die Bewunderung Schopenhauers ihn zugleich tief beschämte und sein Selbstverhältnis prägte: er nennt dort das exemplarische Vorbild eines Menschen, der durch das, was ihn von anderen unterscheidet, den Wunsch nach Selbstveränderung weckt, den »wahren Erzieher«. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang auch von der Liebe, die uns in den »Zustand einer unverzagten Selbsterkenntnis« versetzt und die Begierde weckt, »über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgenen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen.«24 Auch das Streben nach Selbstveränderung ist also paradoxerweise nur realisierbar in der Orientierung an Vorbildern.25 Was unterscheidet sie dann genau von der in King Lear dargestellten Abhängigkeit des eigenen Selbst von der Anerkennung durch andere? 24 25
Nietzsche, Schopenhauer, 385. Vgl. hierzu auch Lotter, Nietzsche, 35–54.
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Lears Selbstverständnis wird nicht dadurch gestützt, dass ihm andere ein Vorbild abgeben, sondern dass sie umgekehrt seinen höheren Status anerkennen: König kann man nur solange sein, wie andere bereit sind, sich einem unterzuordnen. Die von Emerson und Nietzsche diskutierte Selbstbeschämung hingegen ist von dem Wunsch nach Selbstveränderung geleitet; daher sucht man nach Personen, die sich unterscheiden – was freilich voraussetzt, dass man schon einen Geschmack für die Unabhängigkeit entwickelt hat. Es geht nicht darum, von den bewunderten Personen anerkannt zu werden, sondern sie als Repräsentanten der eigenen, bislang zurückgewiesenen Möglichkeiten zu erkennen: »another represents for us our rejected self, our beyond; causes that aversion to ourselves in our conformity that will constitute our becoming, as it were, ashamed of our shame.«26 Unter dem Gesichtspunkt der moralischen Selbstbestimmung betrachtet, erscheint der Zustand der konformistischen Beschämtheit als ein Zustand der Schamlosigkeit, der verhindert, dass wir uns unserer mangelnden moralischen Autonomie schämen könnten. Erst diese Scham über die eigene (soziale) Beschämtheit löst den Wunsch aus, anders zu sein. Nietzsche spricht in Schopenhauer als Erzieher von dem Selbsthass »gegen die eigne Enge und Verschrumpftheit«, aber auch von »Selbstbeschämung ohne Verdrossenheit«.27 Die beschämende Beziehung zu dem bewunderten Anderen ist also von ganz anderer Art als die Beschämungen, die einer (gescheiterten) Suche nach Anerkennung und dem Versuch entspringen, sich an die Vorstellung vom Normalen, Üblichen und Angesagten anzupassen. Schon die Bewunderung für eine Person, die ich als anders wahrneh26 27
Cavell, Conditions, 58. Nietzsche, Betrachtungen, 285.
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me, geht von meinem Wunsch nach Selbstveränderung aus. Sie verhilft mir nicht zu einem verstärkten Selbstwertgefühl wie in wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen, sondern fordert mich heraus, eine eigene Stimme zu entwickeln. Freilich stellt sich auch hier die Frage, ob man sich wirklich selbst verändert oder nur einen anderen oder gar ein konventionelles Klischee von Originalität und Selbstständigkeit nachgeahmt hat; sie lässt sich nur mit Blick auf den Einzelfall beantworten. Natürlich kann die Verehrung anderer Personen als vermeintlich »großer Einzelner« selbst ein konformistischer Akt sein, ein Geniekult, der nicht vom Konformismus, sondern von der eigenen Verantwortung »befreit«. III. Die Verbindung der Schamkonzepte in Cavells Filmanalysen Die beiden Schamkonzepte liefern m.E. den Schlüssel zu Cavells Deutungen der Genres der Wiederverheiratungskomödien und Melodramen der unbekannten Frau im Hollywood-Film der dreißiger und vierziger Jahre, mit denen er neue Paradigmen in den Filmwissenschaften gesetzt hat.28 Beide Genres sind Cavellsche Entdeckungen: Während es in dem melodramatischen Genre um Liebesbeziehungen geht, in denen die Anerkennung der Frau durch den Mann nur scheitern kann, führt das komödiantische Genre die Entzweiung und Versöhnung eines Ehepaars vor, das sich selbst verändern muss, um sich wechselseitig anzuerkennen. Es sieht ganz so aus, als experimentiere Cavell in seiner Interpretation der Wiederverheiratungsko-
28 Zu den Genres vgl. meine Einleitung zur deutschen Ausgabe von Cities of Words.
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mödien29 mit einer Synthese beider Schamkonzepte, indem er das Wechselspiel der beiden Protagonisten einerseits als einen Emanzipationsprozess und eine Veränderung des Selbstverhältnisses der Frau deutet, diesen Veränderungsprozess aber gleichzeitig als einen versteht, der nur durch wechselseitige Anerkennung gelingen kann: die Veränderung muss durch den anderen anerkannt und bestätigt werden. Explizit wird dieses Thema gegen Ende der Wiederverheiratungskomödie The Awful Truth, wo die Protagonistin darauf hinweist, dass wohl nichts mehr so sein könne wie es war, weil ihr Mann ja immer noch derselbe sei, was seinen Protest hervorruft, dass er inzwischen ein ganz anderer sei, weswegen also alles wieder so sein könne wie früher.30 In den Melodramen der unbekannten Frau31 hingegen scheitert der Versuch wechselseitiger Anerkennung, was entweder zum Scheitern der Frau führt wie in Letter from an Unknown Woman32 oder – und hier spielt in der Tat das Emersonsche Motiv hinein – zu ihrer Transformation, ihrer Unterscheidung von ihrem früheren Selbstverständnis. Es wäre spannend, einmal das Melodrama Stella Dallas33 unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen, das traditionell als eine Geschichte sozialer Beschämung interpretiert wird, während Cavell es als eine Emanzipationsgeschichte versteht, in der die Frau sich gezielt beschämen lässt, um sich selbst von einem falsch verstandenen Perfektionismus zu kurieren.
29 30 31 32 33
Vgl. hierzu Cavell, Pursuits. Vgl. Cavell, Cities (dt.), 409. Vgl. hierzu Cavell, Tears. Vgl. Cavell, Tears, 81–114. Vgl. Cavell, Tears, 197–222.
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Maria-Sibylla Lotter
IV. Zusammenfassung In Schamphänomenen, so wurde argumentiert, kommt die Abhängigkeit des eigenen Selbst(miss)verständnisses von dem (Miss)Verständnis der Mitmenschen zum Ausdruck. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie allesamt konventioneller Natur wären oder eine Abhängigkeit von der Meinung anderer ausdrücken. Noch kann Scham allein im Ausgang von einem statischen Verständnis des Selbst verstanden werden. Wie Stanley Cavell am Beispiel von King Lear zeigt, hat die Scham, die einem statischen Selbstverständnis entspringt, vielmehr tendenziell selbstdestruktive Züge, da sie von der Anerkennung anderer abhängig ist, die nie voll kontrolliert werden kann. Aber auch die verbreitete These von der Internalisierung einer sozialen Identität, die dann von der Scham auch unabhängig von der Meinung anderer behütet wird, greift zu kurz, da sie ebenfalls von einen fixen Selbstverständnis ausgeht. Wie Cavell im Rückgriff auf Emerson und Nietzsche zeigt, sind jedoch auch dynamische Formen der Beschämung denkbar, die der eigenen Suche nach Selbstveränderung entspringen und zur Entwicklung eines neuen Selbstverhältnisses führen können. Literatur Benedict, R., The Chrysanthemum and the Sword: Patterns of Japanese Culture, London 1967 (1946) Cavell, S., Cities of Words (dt.), Zürich 2010 – Conditions Handsome and Unhandsome: The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago/London 1988 – Contesting Tears: The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman, Chicago/London 1992 – Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge 1981
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The Avoidance of Love:A Reading of King Lear, in: ders. (Hg.), Must we mean what we say?, Cambridge 1969, 276– 353 Emerson, R.W., Selbstvertrauen, in: ders. (Hg.), Von der Schönheit des Guten, Zürich 1992, 39–74 Hartmann, M., Emotionen der Skepsis, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007) 261–288 Kant, I., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Erster Teil, § 76, Kants Werke VII, Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 Lotter, M.-S., Scham, Schuld, Verantwortung, Berlin 2012 – Nietzsche in Amerika. Über menschlichen und unmenschlichen Perfektionismus, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 2. Die Suche nach der eigenen Stimme, hg. v. D. Gugerli u.a., Zürich 2006, 35–54 Mead, M., Cooperation and Competition among Primitive Peoples, New York / London 1937 Nietzsche, F., Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Unzeitgemässe Betrachtungen, Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. v. G. Colli / M. Montinari, Berlin 1988, 335–427 Rappe, G., Die Scham im Kulturvergleich. Antike Konzepte des moralischen Schamgefühls in Griechenland und China, Bochum / Freiburg i.Br. 2009 Sanchez, A.M., Shame, Recognition and Love in Shakespeare’s King Lear, Azafea. rev. filos. 16 (2014), 73–93 Sartre, J.P., Das Sein und das Nichts, Hamburg 101993 (frz. Orig. 1943) Shakespeare, W., King Lear, hg. v. K. Muir, The Arden Shakespeare, London 1975 Taylor, G., Pride, Shame and Guilt, Oxford 1985 Trüstedt, K., An Art Lawful as Eating: King Lear und das Theater der Konvention, in: dies. / K. Thiele (Hg.), Happy Days. Lebenswissen nach Cavell, München 2009, 107–130 Williams, B., Shame and Necessity, Berkeley u.a. 1993 Wurmser, L., Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin/Heidelberg 1981 Zak, W.F., Sovereign Shame: A Study of King Lear, London 1984 –
Ulrike Wagner-Rau
Religiöse Spielarten der Scham
Praktisch-theologische Perspektiven Scham spielt in der Religionspraxis der Gegenwart auf unterschiedliche Weise eine Rolle. Nicht nur Friedrich Nietzsche hat dem Christentum vorgeworfen, eine Sklavenmoral zu fördern, also eine Religion zu sein, die das Selbstbewusstsein der Menschen untergrabe.1 Man wird – wie sich auch im Folgenden zeigen wird – nicht leugnen können, dass dieser Aspekt Anhaltspunkte in der Realität hat. Gleichwohl würde eine Reduktion auf diese Sichtweise eine Verengung der Perspektive darstellen. Denn die religiösen Spielarten der Scham sind vielfältiger. Ehe hier das Thema der Scham im engeren Sinn in praktisch-theologischer Perspektive zur Sprache kommt, sollen einige Überlegungen zum Zusammenhang von Religion und Gefühl eine theoretische Basis dafür schaffen. Darauf aufbauend wird der Zusammenhang von Religion und Scham im Spannungsfeld zwischen destruktiver Erniedrigung und konstruktiver Herausforderung behandelt. Überlegungen zur Scham als konstitutivem Moment spätmoderner Religionspraxis schließen sich an. Schließlich erinnert die Relecture einer religiösen Rede Paul Tillichs daran, dass Beschämung und gütige Anerkennung als paradoxe, aber zugleich notwendig aufeinander bezogene Seiten des Gottesbildes verstanden werden können. 1
Vgl. Nietzsche, Moral, 321–331.
Religiöse Spielarten der Scham
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I. Religion und Gefühl Auf religiöse Praktiken, in die sie verwickelt sind, reagieren Menschen nicht nur kognitiv, sondern – und dies ist für die Relevanz dieser Praktiken sehr bedeutsam – auch emotional. Die Scham kann dabei eine erhebliche Rolle spielen. Wenn man zum Beispiel Psalm 139 einer Gruppe von Menschen vorlegt und sie nach ihrer spontanen Reaktion auf diesen Text fragt, kann man mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine geradezu idealtypische Zweiteilung der Gruppe beobachten: Ein Teil der anwesenden Menschen reagiert mit Zustimmung. Gesehen zu werden und umhüllt, begleitet zu sein bis an das äußerste Meer – die Metaphern einer umfassenden Präsenz Gottes werden von diesen Menschen ausgesprochen positiv aufgenommen. Sie treffen auf die Sehnsucht nach Bewahrung und Begleitung und vermögen offenkundig Lebensgewissheit und Vertrauen zu bestärken. Der andere Teil der Gruppe hingegen reagiert abwehrend: Schrecklich sei es, auf diese Weise bis in die geheimsten Regungen hinein beobachtet zu werden. Ein Blick, der einen nie aus dem Auge lässt, sei übergriffig. Die Unmöglichkeit, sich dem Gegenüber zu entziehen, mache aggressiv und ängstlich. Ohne ihren Hintergrund in der Geschichte der einzelnen Menschen ausleuchten zu können, legt es sich nahe, die divergierenden Reaktionen als Ausdruck unterschiedlicher emotionaler Dispositionen zu verstehen: Das Hören vom nachgehenden Blick Gottes kann sich mit Erfahrungen freundlicher Zuwendung und den damit einhergehenden Gefühlen verbinden, aber es kann ebenso Furcht und Schrecken auslösen. Während die einen sich akzeptiert und bestätigt fühlen, sehen andere sich bedroht, verfolgt und beschämt. Religiöse Praxis wirkt zuweilen auf eine überraschende, ja überwältigende Weise emotional. Eine
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solche emotionale Reaktion verweist nicht selten auf eindrückliche Erfahrungen in der Vergangenheit. Was man – besonders in der prägenden Zeit der Kindheit – im Kontext von religiöser Kommunikation in der Familie oder der Kirche erlebt hat, ist als ein bis in den Körper hinein spürbares Empfinden abrufbar. Denn von starken sinnlichen Wahrnehmungen und Gefühlen besetzte Erfahrungen bleiben im Körpergedächtnis haften. Auch für die Orientierung und Gestaltung des Lebens der Erwachsenen ist vor allem das wirksam, was sich mit sinnlicher und emotionaler Besetzung einprägt.2 So sind mit den religiösen wie mit allen unseren Erfahrungen gute wie schlechte Empfindungen verbunden, die oft mit Szenen der Vergangenheit in Verbindung stehen. Deren emotionale Qualität kann – obwohl sie vielleicht Jahrzehnte zurück liegen – in der Gegenwart aufwachen, als wäre ihr Ursprung heute. Religion ist eine soziale Praxis, eine Lebensform, die die körperliche, die emotionale und die geistige Seite des Menschen einbezieht.3 Nicht zuletzt deshalb ist es auch schwer, eine religiöse Sozialisation, die sich in Körper, Geist und Seele eingeschrieben hat, vollständig hinter sich zu lassen. Oder umgekehrt: Empirische Studien zeigen regelmäßig, dass eine religiöse Sozialisation in der Kindheit der stärkste Hinweis darauf ist, dass auch Erwachsene eine Bindung an ihren Glauben behalten.4 Religiosität ist nicht allein gedanklich einzuholen, sondern braucht die Dimension des gefühlsbetonten Erlebnisses, um in der Person verankert zu sein.
2 3 4
Vgl. Fuchs, Leibgedächtnis, 10–37. Vgl. Reckwitz, Theorie, 282–301; Laube, Religion, 35–49. Diese Tatsache zeigt sich durchgehend in den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD. Vgl. Pollack/Pickel/Spieß, Sozialisation, 131–141.
Religiöse Spielarten der Scham
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Dieser Aspekt hat besonders in der neuzeitlichen Theologie Aufmerksamkeit erfahren, nachdem die gewandelten erkenntnistheoretischen Grundlagen theologischer Reflexion die Konzentration auf die subjektive Seite des religiösen Bewusstseins nahe legten. So hat Friedrich Schleiermacher das Gefühl als zentrale Kategorie der religiösen Subjektivität eingeführt, dies freilich nicht im engeren Sinn als Emotion, sondern im Sinne eines umfassenden Bewusstseinszustandes.5 Besondere Aufmerksamkeit für die emotionale und erlebnisbezogene Dimension der Religion entwickelte die in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstehende Religionspsychologie. Verschiedene Wissenschaftsbereiche hatten an der Geburt dieser neuen Disziplin Anteil:6 Zum einen die Medizin, zum anderen die noch neue junge Wissenschaft der Psychologie. Nicht zuletzt waren es phänomenologisch orientierte Theologen wie Rudolf Otto7 und religiös interessierte Psychologen wie William James8, die sich mit den Mitteln moderner Humanwissenschaft der Frage nach der subjektiven Innenseite der Religion, also der Religiosität des Menschen zuwandten. In dieser Wendung spiegelt sich auch eine Auseinandersetzung mit den religionskritischen Stimmen der Philosophie, der politischen Theorie und der Psychoanalyse. Diese hatten zu einer Abnahme der rationalen Plausibilität christlicher Wirklichkeitsdeutung geführt. Die Selbstverständlichkeit eines christlichen Selbstverständnisses bröckelte. Die Kirchen verloren an Einfluss. Die Erfahrungs- und Empfindungsseite der Religion ist als wesentliches Moment ihrer Plausibilisierung seither immer wichtiger geworden. 5 6 7 8
Vgl. Die zweite Rede, in: Schleiermacher, Religion, 185–326. Vgl. Heine, Religionspsychologie, 32–66. Vgl. Otto, Das Heilige. Vgl. James, Vielfalt.
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In theologischer wie religionspsychologischer Perspektive wird also spätestens seit dem 19. Jahrhundert Religion unter Berücksichtigung ihrer emotionalen Anteile reflektiert. Die emotionale Resonanz auf ein Erleben, das als von außen herkommend wahrgenommen wird, ist wesentlich für die subjektive Dynamik der religiösen Identität; ohne diese Resonanz verlören Riten, Lehren und Wertorientierungen der Religion ihren vitalen Kern. Aber auch umgekehrt gilt, dass die alltäglichen Routinen eines religiösen Lebensstils unweigerlich emotionale Bindungen erzeugen. In der Gegenwart erhält das theologische Nachdenken über den Zusammenhang von Glaube und Gefühl Aktualität durch neurowissenschaftliche Theorien und Forschungen über die Entstehung des Bewusstseins. Gefühle, so zeigt es die Forschung, spielen für die Entscheidungs- und Orientierungsfähigkeit eines Menschen eine wesentliche Rolle. Auch vermeintlich rationale Entscheidungssituationen können nur produktiv gelöst werden auf der Basis unbewusst verlaufender sinnlich-emotionaler Prozesse, mit denen der Mensch spontan auf das reagiert, was ihm begegnet, und durch die er lernt, solche Begegnungen möglichst lebensdienlich zu verarbeiten. Diese Neubewertung des Gefühls als einer komplexen Bewusstseinsleistung, die der gedanklichen Orientierung im engeren Sinn vorausliegt, hat eine Fülle philosophischer Reflexionen über Gefühle ausgelöst und wirkt auch in die Theologie hinein.9 Martha Nussbaum, eine der wichtigsten Vertreterinnen einer Philosophie der Gefühle, versteht diese als eine andere, nicht rationale Art des Denkens, in der weniger die aktive Weltgestaltung als das unverfügbare Widerfahrnis des Wirkli-
9
Vgl. Barth (Hg.), Theologie; Charbonnier/Mader/Weyel (Hg.), Religion.
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chen verarbeitet wird.10 Emotional reagiert der Mensch auf das, was ihm unvorhersehbar und oft undurchschaubar widerfährt, und bringt es damit in eine grundlegende Ordnung, die sein Bewusstsein und damit ebenso sein Handeln orientiert. Dass die frühen Grundlagen des menschlichen Bewusstseins in der Welt der Gefühle liegen, beschreiben auch die Vertreter der ethologischen Babyforschung. Der Säugling wird in eine Welt hineingeboren, in der zunächst keinerlei Orientierung und keine Symbolisierung vorhanden ist, die die sinnlichen Eindrücke ordnet und deutet. Als Resonanz auf seine körperlichen Wahrnehmungen entstehen die Gefühle als erste Bewusstseinsleistungen, die das Erlebnis der Wirklichkeit strukturieren. Daniel Stern, Psychoanalytiker und bekannter Babyforscher, rekonstruiert das Erleben des kleinen Jungen Joey im Alter von sechs Wochen. Er schreibt: »Joey erlebt Objekte und Ereignisse vor allem als die Gefühle, die sie in ihm wachrufen. Für ihn existieren sie weder als das, was sie an und für sich sind, noch kennt er ihre Funktion oder ihren Namen. Nennen ihn seine Eltern ›Schatz‹, dann weiß er noch nicht, daß ›Schatz‹ ein Wort ist und sich zudem auf ihn bezieht. […] Allerdings ist er schon sehr empfänglich für die Art und Weise, wie dieser Klang ihn umfängt. … Alles, was das Kind erlebt … hat seinen besonderen Gefühlston – und bei Erwachsenen ist das genauso.«11
Am Anfang der Bildung des Bewusstseins, so macht dieses Zitat deutlich, steht die emotionale Resonanz auf sinnliche Widerfahrnisse. Stern beschreibt die frühen Erfahrungen in der Metapher einer wechselnden Wetterlandschaft, die über das Kind hinwegzieht und der es ausgeliefert ist. Über 10 11
Vgl. Nussbaum, Upheavals. Stern, Tagebuch, 21.
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die Gefühle ordnen sich die verschiedenen »Wetter« allmählich zu einem Bild der Wirklichkeit. Dies ist ein Prozess, der schließlich in die Fähigkeit zur Symbolisierung und damit in die Sprachfähigkeit einmündet. Vor diesem neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Hintergrund wird es verständlich, dass auch in der Theologie die Aufmerksamkeit für das Gefühl sich erhöht; denn bedeutsam werden auch religiöse Erfahrungen und Ausdrucksformen nicht zuletzt durch ihre gefühlsmäßige Intensität. Hans Joas, dessen religionssoziologische Schriften seine Nähe auch zu theologischen Denkweisen verraten, versteht Religion im Zusammenhang mit Widerfahrnissen, die er »Erfahrungen der Selbsttranszendenz« nennt.12 Diese sind für Religion und Glauben konstitutiv. Joas bezieht sich hier auf »Erfahrungen, in denen eine Person sich selbst übersteigt … im Sinne eines Herausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst.«13 Im Erleben der Natur, der Kunst, des Eros, in der erschütternden Begegnung mit einem Anderen kann dies geschehen. Allerdings ist es nicht zwingend, dass das Erlebte als eine Gotteserfahrung verstanden und gedeutet wird. Aber die Religionen, so Joas, bieten mit ihren Sprachen, Mythen und Geschichten, Bildern, Musik, Gesten, Bauten ein großes Reservoir für die Artikulation von Widerfahrnissen der Selbsttranszendenz an. Die Deutungen bringen die Erlebnisse zur Sprache, machen sie mitteilbar. Auch Joas also sieht den Kern des Glaubens in einem emotional spezifisch getönten Erleben. Die 12 13
Joas, Mensch. Joas, Mensch, 17.
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Sprachen der Religionen bieten Ausdrucks- und Verarbeitungsmöglichkeiten für dieses Erleben. Erfahrungen der Selbsttranszendenz, so könnte man sagen, sind etwas wie Wetterlandschaften, die dem Menschen begegnen und in denen er – wenn er in diesem Deutungszusammenhang lebt – Gott erkennen kann. II. Religion und Scham im Spannungsfeld zwischen Destruktion und konstruktiver Herausforderung des Selbst Auf welche Weise ordnet sich nun das Gefühl der Scham diesen Vorüberlegungen zu? Die differenten Resonanzen auf Psalm 139 machen deutlich, dass dieser Psalm auf sehr verschiedene emotionale »Wetter« stoßen kann. Während einerseits Menschen die stete Zuwendung und den aufmerksamen Blick mit einem erwünschten und angenehmen Erleben verbinden, gibt es andererseits solche, die mit einer erschreckenden, deutlich negativ getönten emotionalen Resonanz reagieren. Angesehen zu werden und dies auf spezifische Weise zu erleben, ist für die Scham ein entscheidendes Moment. Scham ist ein Augengefühl, ein Gefühl, das mit dem Blick entsteht, den man auf sich ruhen fühlt. Léon Wurmser ist der viel zitierte Theoretiker der destruktiven Seite dieses Gefühls.14 Wer im Blick der bedeutsamen Anderen, besonders in der empfindsamen und bildbaren Zeit der frühen Kindheit, vor allem Missachtung und Missfallen, Desinteresse, Ablehnung und ähnliche bedrohliche, das eigene Sein grundsätzlich in Frage stellende Ausdrücke liest, reagiert darauf mit existenzieller Angst, mit dem Empfinden, eigentlich nicht da sein zu sollen. Die Scham stellt in solcherart ge14
Vgl. Wurmser, Maske.
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prägten Interaktionsmomenten die Reaktion auf den »bösen Blick« dar, dem man auszuweichen sucht. Wenn der Blick des Interaktionspartners die eigene Existenzberechtigung auszulöschen droht, wird alles daran gesetzt, sich dieser Interaktion zu entziehen. Gesehen zu werden kann also insgesamt primär als Bedrohung erlebt werden, vor der man sich schützen muss. Léon Wurmser präsentiert eindrückliche Fallbeispiele dafür, wie die Schamangst Selbstwert und Interaktionsmöglichkeiten der Betroffenen einschränkt. In milden Formen sind ähnliche Empfindungen wohl allen Menschen vertraut. Ertappt und entdeckt zu werden in dem, was man gerade verbergen möchte, löst Irritation und Angst aus. Umgekehrt ist der anerkennende, bestätigende Blick ein Lebenselixier, aus dem Kinder wie Erwachsene Lebensmut und Selbstvertrauen ziehen. Scham ist also ein Gefühl, das im intersubjektiven Raum entsteht. Günther H. Seidler, Psychoanalytiker und Psychiater, nennt sie deshalb einen »Schnittstellenaffekt«:15 Sie erwacht, wenn ein Mensch einen Blick seines Gegenübers auffängt, der die Selbstwahrnehmung kritisch korrigiert. Aber nicht die Wahrnehmung des fremden Blickes ist bereits beschämend, sondern die Scham entsteht, indem man sich mit diesem Blick identifiziert: Man sieht sich mit den Augen des Anderen, und zwar beunruhigend anders, als man es vom Selbstbild her erwartet hat. Scham ist ein Affekt, der aufmerksam macht dafür, dass zwischen Innen und Außen und zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine Differenz besteht, die das Selbstbewusstsein mehr oder weniger stark verunsichert. Solche Verunsicherung kann destruktiv sein, wenn sie starke Ängste oder Wertlosigkeitsgefühle erzeugt. Sie hat aber auch produktive Effekte, indem sie da15
Vgl. Seidler, Blick, 4.
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zu anreizt, die Differenz zwischen Selbstbild und Blick des anderen als Entwicklungsherausforderung zu verstehen und entsprechend zu verarbeiten.16 Mehr oder weniger beschämende Irritationen ereignen sich auch im Kontext religiöser Praktiken, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Wie man gesehen wird in den sozialen Beziehungen und Handlungen der religiösen Gemeinschaft, stellt eine Ebene in diesem Zusammenhang dar. Sie ist verbunden mit der Frage des »richtigen«, angemessenen Verhaltens, und zwar sowohl im Kontext der religiösen Vollzüge im engeren Sinn – weiß ich zum Beispiel, wie ich mich beim Abendmahl wohin bewegen muss, wie ich die Hände halte, den Blick orientiere, die Elemente empfange usw. – als auch im Hinblick auf den gesamten Lebensstil. Noch unausweichlicher aber dürfte die Irritation dadurch sein, dass sich die Glaubenden mit dem Blick eines Gottes identifizieren, der auch ihre geheimsten Regungen und Nöte wahrnimmt. Denn je nachdem, in welcher Qualität ein solcher Blick imaginiert wird, wird sich dieser auf das Selbstbild auswirken. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass ein religiöses Selbstverständnis und die damit implizierte Gottesbeziehung geprägt sind durch Menschen, die einen in die religiösen Praktiken einführen, und insofern eingebunden sind in einen größeren Beziehungszusammenhang. Die psychoanalytische Theorie der Objektbeziehungen bietet ein Modell an, um zu verstehen, wie sich die unterschiedlichen Ebenen der Beziehungsaufnahme im menschlichen Leben verschränken, sich wechselseitig beeinflussen und darum nicht unabhängig
16
Vgl. auch Hilgers, Scham, 32.
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voneinander gesehen werden können.17 Die Beziehungen zu mir selbst, zu den bedeutsamen Anderen und zu den Objekten der religiösen Praxis sind miteinander vernetzt. Insofern sind auch die Gottesbeziehung und ihre emotionale Qualität verknüpft mit anderen Beziehungserfahrungen, ohne dass man diese Verknüpfung als eine simple Kausalität auffassen könnte. Aber da die Erwartungen des Kindes in den emotionalen »Wettern« der Beziehung zu den wesentlichen Bezugspersonen Gestalt annehmen und die Erwartungen an weitere Beziehungserfahrungen prägen, kann auch der Charakter der Gottesbeziehung sich nicht völlig von diesen Erwartungen lösen. Wenn ein Mensch davon überzeugt ist, dass er in den Augen Gottes nicht bestehen kann, wird er sich vermutlich auch selbst nicht akzeptieren können, findet sich ein ähnliches Muster mit großer Wahrscheinlichkeit auch in seinen sozialen Bezügen – und umgekehrt. Vor wenigen Jahren hat der Regisseur Michael Haneke mit seinem Film »Das weiße Band« eindringlich die Verbindung zwischen einer autoritären, die Würde und das Geheimnis des Gegenübers missachtenden Pädagogik zu einer elementar an die Beschämung geknüpften protestantischen Frömmigkeit in Szene gesetzt.18 Der Film kreist um ein Dorfleben in Norddeutschland und stellt dabei das Leben im Pfarrhaus am Vorabend des Ersten Weltkrieges in den Mittelpunkt. Das weiße Band, das die Kinder des Dorfpfarrers in diesem Film tragen müssen, wenn sie gegen das Verbot der Eltern verstoßen, ist sprechendes Symbol der Beschämung, mit der diese Traditionslinie der Frömmigkeit aufs
17
Vgl. zum Folgenden Morgenthaler/Schibler, Beratung, 186– 208. 18 Vgl. auch Wagner-Rau, Scham, 184–197. Vgl. zum Film und seinen historischen Hintergründen Scheurer, Band.
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engste verbunden ist.19 Die Kinder werden durch das Band stigmatisiert und öffentlich als unrechte Personen gekennzeichnet. Für alle ist ihre Verfehlung sichtbar, so dass sie diese weder vor den Augen des Vaters noch vor denen der Dorfbevölkerung, ihrem eigenen Empfinden nach aber auch nicht vor den Augen Gottes verbergen können. Gewalttätigkeit und fehlender Respekt sind die signifikanten Merkmale der Religiosität dieses Vaters, dessen Blick den Kindern – unter dem Deckmantel einer angeblichen Liebe – ihre kleinen Geheimnisse entreißt und sie in der Dorföffentlichkeit zur Schau stellt. Beschämung im Namen Gottes ist ein dominierender Teil dieser Religiosität. Auch bei den Betrachtern des Films kommt in vielen Szenen das Gefühl der Scham an. Die Situationen sind quälend, man möchte sich ihrer latenten und offenen Gewalttätigkeit entziehen. Deutlich wird: Beschämung ist hier ein Herrschaftsmittel. Es erwächst aus Machtmissbrauch und es erzeugt seinerseits wiederum – autodestruktive oder gegen andere gerichtete – Gewalt. Bestimmte protestantische Milieus haben Scham und Schuldgefühle besonders im Hinblick auf Sexualität, Begehren und Leiblichkeit geradezu gezüchtet. Was der Film zeigt, ist – glücklicherweise – wesentlich Vergangenheit. Aber religiös überhöhte Beschämung spielt – besonders im Blick auf die sexuelle Orientierung – in evangelikalen Milieus eine auch heute nicht zu unterschätzende Rolle.20 Auch die Praktizierung exorzistischer Rituale im evangelikalen Kontext hat unweigerlich beschämende Anteile.21
19 20
Vgl. Scheurer, Band, 7. Dieses wird von Betroffenen im Zusammenhang evangelikal motivierter »Therapie« von Homosexualität berichtet. 21 Vgl. Hempelmann (Hg.), Exorzismus.
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Solche destruktive Beschämung in der christlich-religiösen Praxis ist nun freilich alles andere als zwingend. Vielmehr ist es die lebensstärkende Präsenz des freundlichen Gottes, die in vielen biblischen Bildern ausgedrückt wird, die die Kernaussagen der reformatorischen Theologie prägt und auch in den christlichen Ritualen zur Darstellung kommt. Am deutlichsten wird dies vielleicht im Aaronitischen Segen, der die Anerkennung und das Existenzrecht des gesegneten Menschen ausdrücklich macht.22 Die Metapher des zugewandten Angesichts, die aus diesem alten Text spricht, erreicht auch in der Gegenwart den Menschen als eine tröstende und stärkende Aussage. In einer qualitativen Untersuchung zum gottesdienstlichen Erleben wird kein anderes Element der Liturgie als so »wichtig« und unverzichtbar bezeichnet wie der Segen. Er ist Geschenk, Stärkung, Begleitung im Alltag, Schutz und er vermittelt Wohlbefinden.23 Freilich wäre es angesichts tief in die Lebensgeschichte eingezeichneter destruktiver Prägungen, wie sie der oben erwähnte Film darstellt, naiv anzunehmen, dass man diese mit einer schlichten Korrektur durch Gegenbilder auslöschen könnte. Eine Veränderung von Beziehungsmustern und -erwartungen kann sich nach menschlichem Ermessen nicht dadurch ereignen, dass einem – z.B. durch das Ritual des Segens oder durch den Satz »Gott liebt dich« – eine andere Realität zugesprochen wird. Auch der Zuspruch der Vergebung in der Beichte, heute ein sehr selten eingefordertes Ritual, kann nur wirksam werden, wenn eine emotionale Resonanz dafür vorhanden ist.24 Im Fall schwerer Beschämungsgeschichten kann eine solche Resonanz sich allenfalls im Laufe von Be22 23 24
Vgl. Wagner-Rau, Blick; dies., Unverbrüchlich angesehen. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst, 161–167. Vgl. Klessmann, Seelsorge, 234–244.
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ziehungserfahrungen entwickeln, die negative Erwartungen und Ängste relativieren. Man darf also vom Vollzug eines Rituals nicht zu viel erwarten. Dennoch stellt die Ritualisierung der freundlichen Zuwendung Gottes, die in vielen Elementen der christlichen Praxis zu finden ist, eine affirmative Gegenwelt gegen die Beschämung dar, die entsprechend verletzte Menschen in ihrem Selbstwertgefühl stützen kann. Eine besondere Qualität erhält diese Gegenwelt im Christentum dadurch, dass im Bild des Gekreuzigten Gott selbst als durch diese schändliche Todesart Beschämter erscheint. »Das Evangelium«, so die pointierte Formulierung der Theologin EvaMaria Bammel, »durchkreuzt die durch Scham herbeigeführte Existenzbedrohung.«25 Denn mit der Aufwertung des Todes am Kreuz als ein Zeichen der Rettung und des Heils wird eine Umkehrung aller gültigen Werte vollzogen. Indem Jesus Christus, zu dem Paulus sich bekennt, die schandbarste Todesart erleidet, die in der Antike denkbar ist, werden die Erniedrigten, Gedemütigten und Beschämten in den Zusammenhang des Heils einbezogen. Als Gekreuzigter – und darin liegt der einzigartige Charakter dieses Gottesbildes – erscheint Gott nicht einfach als ein positives und freundliches Gegenbild zum beschämenden Gegenüber, sondern lädt zur Identifikation mit einer Gestalt ein, die dem oder der Beschämten in seiner Gebrochenheit nahe kommt, aber sich ebenso mit einer Hoffnung verbindet: Die Beschämung wird als real anerkannt und sie hat nicht das letzte Wort. Nun wären freilich der Glaube und die Religionspraxis letztlich harmlos, eine illusionäre Bestätigung kindlicher Bedürfnisse, wenn sich in ihnen nur die Zuwendung des freundlichen Gottes dar25
Bammel, Augen, 155.
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stellen würde. Vielmehr ist es so, dass der religiöse Mensch daneben mit bestimmten Anforderungen und Maßstäben für seine Lebenspraxis konfrontiert ist, deren Inbegriff in der jüdisch-christlichen Tradition das Liebesgebot darstellt. Weil aber mit diesem Gebot auch das Scheitern daran gegeben ist, ist das beschämende, den Narzissmus kränkende Eingeständnis eigener Grenzen und die Bitte um Vergebung ebenso Teil der religiösen Praxis. Aber Scham, so wurde oben bereits erwähnt, ist nicht nur destruktiv, sondern unter Umständen ist mit der unangenehmen Seite ihres Erlebens ein wesentlicher Impuls verbunden. Als Schnittstellenaffekt entsteht dieses Gefühl, wenn sich unterschiedliche Sichtweisen berühren, nämlich die eigene und die eines Gegenübers. An dieser Schnittstelle kann das innere Bild von mir selbst bestätigt werden, es kann destruktiv zunichte gemacht werden, aber es kann auch durch eine erträgliche, zu verarbeitende Differenz zwischen meinem Selbstbild und dem Blick des Gegenübers produktiv herausgefordert werden. Das Erleben eines gewissen Maßes von Scham ist ein unabdingbares Moment der psychischen Entwicklung und der emotionalen und geistigen Reifung. Denn nur, wenn der Mensch erfährt, dass er nicht einfach nur gut ist, sein Selbstbild in vielfältiger Weise durch die Sicht anderer herausgefordert und kritisiert wird, entsteht der Anreiz, sich weiter zu entwickeln. Differenzerfahrungen an der intersubjektiven Schnittstelle zwischen zwei Menschen haben unvermeidlich ein Moment der Beschämung. Dieses aber motiviert dazu, sich auseinanderzusetzen und sich zu verändern.26 In diesem Sinne, so stellt es Martha Nussbaum am Beispiel einer Reportage der investigativen Journalistin Barbara Ehrenreich dar, kann die 26
Vgl. dazu Seidler, Blick, 221–223 und Hilgers: Scham, 19–23.
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Scham erwachsene Menschen zu einem von Mitgefühl und Verantwortung geprägten Verhalten anstiften.27 Ehrenreich war am Anfang des 21. Jahrhunderts für einige Zeit als Angestellte im schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich der USA tätig, um die Lebensbedingungen der dort durch unwürdige Arbeitsbedingungen geschädigten Menschen authentisch beschreiben zu können. Sie erfuhr am eigenen Leib die entsprechenden Härten und erlebte, dass sie trotz harter Anstrengung von dem Lohn nicht leben konnte. Im Gedanken an diejenigen, deren Leben beständig in solchen Umständen gefangen ist, schreibt sie: »Guilt doesn’t go anywhere near far enough; the appropriate emotion is shame.«28 Dies, so Nussbaum, sei konstruktive Scham im Leben einer Erwachsenen. Es werde unabweisbar deutlich aus Ehrenreichs Beschreibungen, dass das Wohlergehen in der US-amerikanischen Gesellschaft im Wesentlichen nicht das Ergebnis eigener Tüchtigkeit ist, sondern aus glücklichen Umständen im Kontext höchst ungerechter Verhältnisse resultiert. Sich dessen bewusst zu werden, kann, ja: muss beschämen. Denn es ist offenkundig, dass die krasse Ungerechtigkeit im Widerspruch steht zu den Werten, die man teilt: Demokratie, Gerechtigkeit, Humanität. Durch das Buch rückt einem das Schicksal einer working poor auf die Haut, das eigene Wohlergehen und Wohlleben wird fragwürdig. Die Scham, die daraus resultiert, so Nussbaum, könne ein Impuls dafür sein, sich umeinander zu kümmern und die Werte der Gesellschaft im eigenen Handeln aktiv zu vertreten. Allerdings müsse diese konstruktive Seite der Scham achtsam gegenüber den Gefahren der Beschämung abgewogen werden. Speziell im Macht27 28
Vgl. Nussbaum, Humanity, 211–216. Zit. Ehrenreich in Nussbaum, Humanity, 211.
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gefälle zwischen Eltern und Kindern zum Beispiel sei eine Beschämung nicht angebracht. Hingegen sei es in einer selbstkritischen Perspektive heilsam, ein Schamempfinden als Anstoß zur Veränderung anzunehmen. Ähnlich wird man auch von im produktiven Sinn herausfordernden Beschämungserfahrungen im Zusammenhang des christlichen Glaubens sprechen können. Nicht wenige Gleichnisse Jesu arbeiten mit Momenten der Beschämung, die eine Umkehr intendieren: Man denke etwa an die Worte des Vaters, die dieser an seinen älteren Sohn richtet (Lukas 15,11–32), an das Gleichnis vom reichen Kornbauern, das aufmerksam macht dafür, dass man angesichts des Todes falsche Prioritäten setzen kann (Lk 12,16–21) oder an das vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37), das zur Nächstenliebe anreizt, indem es Situationen bewusst macht, in denen man Leidenden nicht gerecht wird. Diese Geschichten zielen auf eine unmittelbare emotionale Resonanz der Hörenden; denn sie erleben die Differenz zwischen den Maßstäben des Erzählers, denen sie zustimmen, aber sich zugleich in ihrem eigenen Denken und Handeln herausfordernd unterscheiden. Ein geradezu klassischer Augenblick der Beschämung zeigt sich in der Reaktion des Petrus auf den Hahnenschrei, der auf die dreimalige Verleugnung Jesu folgt (Mk 14,66–72par). Auch in Röm 7,14–24 beschreibt Paulus eine beschämende Differenzerfahrung: Das Gute, was ich will, tue ich nicht, aber das Böse tue ich, was ich nicht will. Zwar ist es für die christliche Tradition charakteristisch, dass solche Beschämung von Gott her in ewiger Liebe aufgehoben ist. Dennoch bleibt der Stachel in der Religionspraxis beständig erhalten, der die Menschen dazu bringt, sich im Blick auf ihre eigene Lebensgestaltung kritisch zu befragen; es ist nicht gleichgültig, wie man lebt. Sei es durch die Kenntnis der biblischen Texte, durch liturgische
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Formen wie das Sündenbekenntnis, das Kyrie eleison, die Bitte um Vergebung oder durch die großen Glaubensvorbilder: Die Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten lässt sich auch in einer liberalen Religionspraxis nicht vermeiden. Das Christentum balanciert hier auf einem schmalen Grat: Einerseits steht es in der Gefahr, die Glaubenden in eine Art Dauerschuld und Dauerscham zu versetzen, weil die vollkommene Liebe als höchstes Gebot stets ein unerreichbares Ziel bleibt. Andererseits ist es aber auch eine problematische Reduktion, die Zuwendung Gottes zum allein dominierenden Thema zu machen und den herausfordernden Aspekt der Scham zu umgehen. III. Diskrete Religion Einen weiteren Aspekt der Scham, der im kirchlichen Handeln Beachtung finden will, hat Kristian Fechtner kürzlich in seinem Buch zum Thema »Diskretes Christentum« entfaltet.29 Dieses legt einen wesentlichen Akzent darauf, die Scham im Sinne eines diskreten Umgangs mit der eigenen Religiosität als integralen Teil der Religiosität in der Spätmoderne zu markieren. Die eigene religiöse Überzeugung wird heute von vielen Menschen nämlich nicht gern zur Schau gestellt, sondern weitgehend als Privatsache behandelt, über die man nicht mit jedem spricht. Religiosität drückt sich nicht in öffentlichen Bekenntnissen aus, sondern beiläufig, z.B. in der Gestalt eines kleinen Engelanhängers am Schlüsselbund.30 Sie ist in ihren diskreten Manifestationen durchaus präsent und wichtig, aber eben auf eine eher unauffällige Weise. In vielen Milieus gehört es heute zur selbstver29 30
Fechtner, Christentum. Vgl. Fechtner, Christentum, Titelbild.
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ständlichen Erwartung, dass man mit der eigenen Glaubensüberzeugung in der Kirche nicht bloßgestellt, sondern im Bedürfnis nach Zurückhaltung respektiert wird. Dafür lassen sich zahllose Beispiele anführen. Beim Gottesdienstbesuch schätzen zum Beispiel gerade die Menschen, die sich der Kirche eher lose verbunden fühlen, solche Beteiligungsformen, die keine äußerlich sichtbare Aktivität oder gar eine Kontaktaufnahme zum fremden Sitznachbarn erfordern. Was die Einzelnen beschäftigt und bewegt, wie sie das gottesdienstliche Geschehen auf ihr eigenes Leben beziehen, bleibt im Verborgenen. Dies heißt nicht, dass das Erlebte bedeutungslos wäre. Auch eine primär rezeptive Haltung stellt eine – unter Umständen sehr intensive und existenzielle – Aktivität dar.31 Besonders in den Gesprächen, die der Pfarrer oder die Pfarrerin zur Vorbereitung der lebensbegleitenden Gottesdienste, der sogenannten Kasualien, führt, ist der Wunsch nach Diskretion spürbar. Die direkte Frage des Pfarrers oder der Pfarrerin nach dem eigenen religiösen Engagement oder der theologischen Überzeugung bleibt meist ohne Antwort. Vielmehr geht es in diesem Feld kirchlicher Praxis meist darum, die Zeichen der impliziten Religiosität der Menschen, die im Gespräch angeboten werden, zu erkennen, sie sensibel aufzunehmen und im christlich-theologischen Horizont zu deuten. Nicht zuletzt die wachsende Beliebtheit individualisierter Religionspraktiken in den Kirchräumen kann man in den Zusammenhang diskreter Religiosität stellen. Die Möglichkeit, eine Kerze zu entzünden und auf den dafür bereitgestellten Leuchter zu stellen, wird von zahllosen Menschen wahrgenommen – vielleicht zuweilen, ohne dass diese genau zu sagen wüssten, warum sie diese 31
Vgl. Roth, Theatralität, 222–237.
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Handlung ausführen.32 Die Deutungsoffenheit des Vollzuges, mit dem man sich nicht zu etwas Bestimmtem bekennen muss, macht gerade die Attraktivität der Handlung aus. Ihr Motiv bleibt im Verborgenen. In derselben Kirche in einen Gottesdienst zu gehen gehört hingegen für viele Kirchenmitglieder höchstens noch im Zusammenhang des Festtags- und Lebenszyklus zur mehr oder weniger selbstverständlichen Praxis. Fechtner trägt mit seinem Buch dazu bei, diese Art der Religionspraxis als einen selbstverständlichen Bestandteil des protestantischen Religionsstils zu würdigen. Der diskrete Umgang mit der religiösen Überzeugung entspricht der Subjektivierung der Religion, die seit der Aufklärung in immer stärkerem Maß besonders die protestantische Frömmigkeit geprägt hat. Die protestantische Theologie und Glaubensbewegung hat ja selbst die Individualisierung mit hervorgebracht, indem die Begegnung mit dem Wort Gottes dem priesterlichen Handeln entzogen und in das Herz der Gläubigen verlegt wurde. Was im Herzen geschieht aber ist unsichtbar. Es unterliegt dem subjektiven Ausdruckswillen, was davon in die Kommunikation mit anderen eingeht und in welchem Kontext dies geschieht. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele Kirchenmitglieder, die sich selbst durchaus als Christinnen und Christen verstehen, den Gottesdienst nur an den hervorgehobenen Daten der Lebensgeschichte oder des Jahreslaufs besuchen.33 Die diskrete Frömmigkeit nimmt die Angebote der institutionalisierten Religionspraxis nur sporadisch in Anspruch, wenn besondere Ereignisse dies nahelegen. Dem gegenüber steht in einer gewissen Spannung die feste Überzeugung der weit überwiegenden Mehrzahl der Kirchenmitglieder, dass 32 33
Vgl. Wagner-Rau, Glaube. Vgl. Pompe, Gottesdienst.
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es unbedingt die Aufgabe der Kirche sei, das Angebot des Sonntagsgottesdienstes aufrecht zu erhalten. Dass regelmäßig Gottesdienst gefeiert wird und damit gewissermaßen auch die eigene Religiosität repräsentiert, ist erwünscht. Sich selbst in diesem Zusammenhang zu zeigen, ist eher nicht selbstverständlich. Interessant ist hier freilich noch die Tatsache, dass in den Selbstauskünften der Kirchenmitglieder die Frequenz ihres Gottesdienstbesuches regelmäßig deutlich höher ausfällt als es die Zahlen der Gottesdienstbesucher hergeben.34 Sollte doch eine gewisse Scham darüber vorhanden sein, dass die Kirchenmitgliedschaft nur so vorsichtig realisiert wird? Vielleicht aber ist diese Differenz auch nur den Resten der Konventionalität geschuldet, die noch vor wenigen Jahrzehnten die religiöse Praxis in Deutschland nicht unerheblich gesteuert hat. Aber noch ein weiterer Aspekt kann gerade im Kontext einer sich an liberalen Überzeugungen orientierenden Frömmigkeit dafür sprechen, mit der eigenen Glaubensüberzeugung mit einer gewissen Diskretion umzugehen. Man weiß es ja, dass diese Überzeugung längst nicht mehr von allen Menschen in der Gesellschaft geteilt wird, sondern dass viele mit guten Gründen auch andere religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen verfolgen. Wer sich heute einem religiösen Lebensstil verbunden fühlt und diesem keine fundamentalistische Gestalt gibt, wird dies unter Umständen auch deshalb diskret tun, weil man nicht auf ein selbstverständliches Einverständnis rechnen kann. Vielleicht befürchtet man, auf Befremden oder gar Ablehnung zu stoßen, wenn man seinen Glauben zu erkennen gibt. Man könnte sich dann sogar dafür schämen, dass man sich als religiöser Mensch gezeigt hat. Wahrscheinlich aber sind viele Menschen 34
Vgl. Pompe, Gottesdienst, 158.
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eher deshalb vorsichtiger und tastendender im Ausdruck religiöser Überzeugungen, weil man sich des kontingenten Charakters der eigenen Religiosität im Kontext der globalen Gesellschaft deutlich bewusst ist. Freilich kann eine weitgehende Zurückhaltung im Blick auf die eigenen Überzeugungen dazu beitragen, diese immer mehr zu marginalisieren. Eine verschämte Religion ist nicht attraktiv und ausstrahlungsstark. Dieses Bedenken steht aber nicht der Einsicht entgegen, dass der Glaube in der modernen Gesellschaft in vieler Hinsicht ganz selbstverständlich mit offenen Fragen und dem Wissen um die Grenzen der eigenen Antworten verbunden ist. Hans Joas gebraucht in diesem Zusammenhang die paradoxe Begrifflichkeit der »kontingenten Gewissheit«,35 die spannungsvoll die subjektive Religiosität bestimme: Man vertraue und baue auf den eigenen Glauben – aber wisse zugleich um seine Kontingenz und Fraglichkeit. Insofern kann ein nicht verschämter, wohl aber diskreter Glauben ein konstruktiver Beitrag dazu sein, in einer religiös pluralen Gesellschaft andere neben sich leben zu lassen und den Wert ihres Glaubens anzuerkennen, ohne dabei den eigenen Grund und die Orientierung zu verlieren. IV. Die paradoxe Einheit von Beschämung und Anerkennung in religiöser Perspektive Eine berühmte Predigt Paul Tillichs von 1948 über den eingangs erwähnten Psalm 139 – ihr Titel lautet »Flucht vor Gott«36 – verbindet die widersprüchlichen Reaktionen, die dieser Psalm auslöst, in einer die Ambivalenz der Gotteserfahrung notwendig umspannenden theologischen Deutung. 35 36
Vgl. Joas, Glaube, 126. Tillich, Flucht.
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Der Widerspruch zwischen dem verfolgenden und dem bestätigenden Blick wird in diesem Text als paradoxe Einheit gefasst, die der religiösen Perspektive auf die Wirklichkeit notwendig zu eigen ist. Sich schämen zu müssen, so arbeitet Tillich heraus, ist eine unausweichliche Erfahrung des Menschen im Angesicht Gottes. Aber dieser Erfahrung ist die Hoffnung zur Seite gestellt, dass das Leben dennoch in Gott vollendet ist. Zwar gebe es im modernen Leben vielfältige Versuche, so entfaltet der Prediger im Anfangsteil seiner Rede, dem inneren Wissen um ein letztes Erkanntsein auszuweichen, aber letztlich sei dies dem »ernsthaften Menschen« unmöglich. »Wir sind immer gehalten und umfangen«, so schreibt Tillich, »durch etwas, das größer ist als wir, das einen Anspruch an uns hat und das Antwort von uns erheischt. Die verborgensten Regungen in der Tiefe unserer Seele sind nicht ganz die unseren, denn sie gehören auch unseren Freunden, der Menschheit, dem Universum und dem Grund alles Seins, dem letzten Ziel unseres Lebens. … Kann jemand auf den Gedanken kommen, daß er der Verantwortung für das, was er im Geheimen getan und gedacht hat, entgehen könnte? Allwissenheit bedeutet, daß unser Geheimnis offenbar wird. Allgegenwart bedeutet, daß unsere Verborgenheit erkannt wird.«37
Kein Mensch, so Tillich, könne letztlich der »Scham vor dem ewigen Zeugen« und der daraus erwachsenden Verzweiflung darüber, der zugemuteten Verantwortung nicht gewachsen zu sein, entgehen. In diesen Formulierungen wird deutlich, wie sehr Tillichs Theologie mit einem offenen, auch dem nicht im engeren Sinn dem kirchlichen Menschen zugänglichen, Transzendenzbezug arbeitet. Ein letztes Erkanntsein ist zwar nur denkbar, wenn man ein transzendentes Gegenüber voraussetzt. Aber 37
Tillich, Flucht, 46.
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dieses Erkanntsein ist zugleich präsent in der unabweisbaren Forderung, die sich im Miteinander der Menschen wie im kosmischen Zusammenhang abbildet. Der Mensch – und damit auch die geheimste Regung in ihm – lebt nicht nur für sich, ist sich nicht nur selbst durchschaubar, sondern seine Verantwortung wie sein Geheimnis liegen im Zusammenhang des Ganzen so auf der Hand, dass er sich diesem Wissen nicht entziehen kann. Der Psalm 139, so setzt Tillich fort, belasse es allerdings nicht bei der kaum zu ertragenden Beschämung durch den aufdeckenden Blick, sondern setze sie in spannungsvolle Beziehung zum Staunen über die göttliche Weisheit, die sich als Grund des Seins immer wieder gütig und wunderbar zeigt. Ja, nicht nur der Grund des Seins, sondern auch der Sinn jedes einzelnen Lebenstages, so liest Tillich im Psalm, sei in Gott als dem letzten Grund und Zentrum jeglichen Sinnes eingeschrieben. Es ist diese Spannung zwischen einer unausweichlichen Scham angesichts des eigenen Ungenügens auf der einen und der Erlösung von diesem quälenden Gefühl auf der anderen Seite, die den Menschen zum Menschen mache, so beendet Tillich seine religiöse Rede. Er kann dem Scheitern an seiner Verantwortung nicht entfliehen, aber ebenso kann er der Güte und Gnade im Grund der Wirklichkeit gewiss sein. »Die unentrinnbare Gegenwart Gottes ist beides, ein radikaler Angriff auf sein [des Menschen] Dasein und der letzte Sinn seines Daseins. Wir sind erkannt in den Tiefen, in die wir kaum hineinzusehen wagen. Und zugleich werden wir gesehen in einer Vollendung, die unsere höchste Hoffnung übersteigt. Diese unendliche Spannung ist die Atmosphäre, in der die Religion lebt.«38
38
Tillich, Flucht, 49f.
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Verzeichnis der Beitragenden
Jan Dietrich, geb. 1974, Dr. theol., ist Associate Professor für Altes Testament an der Universität Aarhus, Dänemark. Alexandra Grund-Wittenberg, geb. 1971, Dr. theol., ist Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg. Sabine Föllinger, geb. 1963, Dr. phil., ist Professorin für Klassische Philologie/Gräzistik an der Philipps-Universität Marburg. Maria-Sibylla Lotter, geb. 1961, Dr. phil., ist Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr- Universität Bochum. Claudia Janssen, geb. 1966, Dr. phil., ist Professorin für Feministische Theologie / Theologische Geschlechterforschung und Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Martina Kepper, geb. 1966, Dr. theol., ist Oberstudienrätin im Hochschschuldienst an der Philipps-Universität Marburg. Stephan Marks, geb. 1951, Dr. rer. soc., ist Sachbuchautor, Supervisor und Fortbildner. Thomas Naumann, geb. 1958, Dr. theol., ist Professor für Biblische Exegese und Biblische Theologie (Altes Testament) an der Universität Siegen. Ruth Poser, geb. 1970, Dr. theol., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Altes Testament an der PhilippsUniversität Marburg. Christian Strecker, geb. 1960, Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Ulrike Wagner-Rau, geb. 1952, ist Professorin für Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg.